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German Pages 375 Year 2008
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 152
Der Staat als „geistige Wirklichkeit‘‘ Der philosophisch-anthropologische Aspekt des Verfassungsdenkens Rudolf Smends
Von
Thomas Notthoff
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
THOMAS NOTTHOFF
Der Staat als „geistige Wirklichkeit‘‘
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 152
Der Staat als „geistige Wirklichkeit‘‘ Der philosophisch-anthropologische Aspekt des Verfassungsdenkens Rudolf Smends
Von
Thomas Notthoff
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Philosophische Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster hat diese Arbeit im Jahre 2007 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
D6 Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 978-3-428-12873-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Danksagung Mein Dank gilt den in unterschiedlichem Sinne „hauptamtlich“ am Entstehen dieser Arbeit Beteiligten: Prof. Dr. Barbara Stollberg-Rilinger für den initiativen Hinweis auf Rudolf Smends staatsrechtliches Werk sowie für ihre Offenheit hinsichtlich der interdisziplinären Herangehensweise; Prof. Dr. Karl Hahn für Anregungen, die Motivation und Zuschnitt späterer Textbearbeitungen nicht wenig beeinflusst haben; Prof. Dr. Wilhelm Hennis für die Wegweisungen auf dem vorerst fremden Boden der Politikwissenschaft sowie für die lebendigen Einblicke in die Lehrtätigkeit Rudolf Smends; Gisela und Karsten Notthoff für alle großzügigen Hilfestellungen und Catrin Daub-Dieckhoff, die sich in ihrer geduldigen Begleitung nie über Gebühr beeindrucken ließ. Münster, im Sommer 2008
Thomas Notthoff
Inhaltsverzeichnis Vorsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
1. Teil Die Untersuchungsperspektive
17
Befund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
II. Bemerkungen zur Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur wissenschaftsgeschichtlichen Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zur Problematik des Hauptwerkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur Smend-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38 38 40 45
III. Fragestellung und Movens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
I.
2. Teil Das Verfassungsdenken Rudolf Smends in seinem staatsrechtlichen Werk I.
67
Rudolf Smends staatsrechtliche Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 1. Die Entwicklung eines Staats- und Verfassungsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 a) Die Dissertation (1904) – Die Unzulänglichkeit rechtsdogmatischen Verfassungsdenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 b) Ungeschriebenes Verfassungsrecht (1916) – Gefahren mangelnder Fühlung mit Staat und Verfassungsleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 c) Der Kriegs-Vortrag (1915) – Der Staat als sittliche Verpflichtung . . . . . 78 d) Die Wahlrechts-Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 aa) Wahlrechtsprinzipien des 19. Jahrhundert (1911) – Die Beurkundungsfunktion der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 bb) Mehrheitswahl contra Verhältniswahl (1919) – Der Erlebnischarakter demokratischen Wahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 e) Die politische Gewalt im Verfassungsstaat (1923) – Die Objektlosigkeit des Regierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 f) Das Münchner Grundrechte-Referat (1927) – Verpflichtende Freiheit zum Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 g) Verfassung und Verfassungsrecht (1928) – Die repräsentative, performative und symbolische Konstituierung der Verfassungswirklichkeit . . 105
8
Inhaltsverzeichnis aa) Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zum Typus persönlicher Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zum Typus funktioneller Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Zum Typus sachlicher Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Der Mensch im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unterwegs zu dem Menschenbild des neuen Staats- und Verfassungsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht (1933) – Sorge um die Republik, Sorge um den Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Curtius vs. Mannheim. Der Streit um die Wissenssoziologie . . b) Politisches Erlebnis und Staatsdenken (1943/57) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Staat und Politik (1945) – Der Hinblick auf höhere Normen und Ordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die großen staatsrechtlichen Beiträge der bundesrepublikanischen Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Öffentlichkeits-Aufsatz (1955) – Auf dem Weg zu einem normativen Öffentlichkeitsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der Institutionen-Aufsatz (1956) – Staat als Beruf . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Bundesverfassungsgerichts-Rede (1962) – Verfassungsaneignung als Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
105 105 110 121 126 130 130 142 147 157 160 160 169 176
II. Zwischenbetrachtung – Eine Philosophie des öffentlichen Rechts . . . . . . . . . . . 181
3. Teil
I.
Fortführungen des Verfassungsdenkens Rudolf Smends
188
Schüler und Nachfolger – Der Amtsgedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wilhelm Hennis – Repräsentative Amtsdemokratie contra plebiszitäre Willensdemokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Arnold Köttgen – Würde des Amtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ulrich Scheuner – Erweiterung des Regierungsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Horst Ehmke – Rekurs auf den Begriff des government . . . . . . . . . . . . . . . .
188
II. Die Problematik der repräsentativen Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Siegfried Landshut – Der Widerspruch von Repräsentation und Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ernst-Wolfgang Böckenförde – Die Frage nach einem übergreifenden Bezugspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Peter Graf Kielmansegg – Der Amtsgedanke als notwendige Ergänzung der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Josef Isensee – Demokratie, Amtsgedanke und Gemeinwohl . . . . . . . . . . . .
188 194 199 203 205 205 210 215 220
III. Zwischenbetrachtung – Der Amtsgedanke und seine ethisch-normative Bestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
Inhaltsverzeichnis
9
4. Teil Verortung des Verfassungsdenkens Rudolf Smends in der Politischen Wissenschaft
230
Staatsrechtslehre und Politische Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Smend vs. Kelsen – Kelsen vs. Smend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Souveränitätsfrage und Legitimitätsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Machtgeschichte und Rechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Spätkonstitutionelle Staatsrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Wege der Politischen Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Abkehr von der sittlich-praktischen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Platons politische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Bewegungsprinzip der platonischen Dialoge . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der Gerechte: Philosoph und Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
230 230 232 235 237 242 242 255 255 258
II. Smends Max Weber-Kritik: „Wirklichkeitssinn“ und „Staatsfremdheit“ . . . . . . 1. Die Frage nach dem „menschlichen Typus“ und die Tragik des Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inkurs 1: Charakterologisches Leitmotiv und autonome Wertwahl . . . . . . . . Inkurs 2: Max Webers Staats- und Legitimitätsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inkurs 3: Politik als Mittel „innerweltlicher Erlösung“? . . . . . . . . . . . . . . . . . Inkurs 4: Dualismus als „erziehliches“ Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Exkurs: Die Umdeutung des Charisma – Eine Weiterbildung der Weberschen Legitimitätstypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
260
I.
260 265 272 278 283 288
III. Zwischenbetrachtung: Das ethisch-politische Erbe im Verfassungsdenken Rudolf Smends . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
5. Teil Der geistige Ort des Verfassungsdenkens Rudolf Smends I.
297
Das Kulturproblem der Moderne: Extensivität – Instrumentalismus – Autonomie – Immanenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297
II. Antworten auf das Kulturproblem der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die „überempirische“ Orientierung des Verfassungsdenkens Rudolf Smends . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Goethes Krisenphänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gefährdungen gelingender Individuation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Geschichtstheologie und Geschichtsskepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Tragödie der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Goethes Symbolbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Proust und die ethische Qualität der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
301 301 304 304 306 308 311 315
10
Inhaltsverzeichnis 4. Thomas Manns politische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 a) Ironischer Konservatismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 b) Ein philosophischer Regierungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
Denn jeder, der sein innres Selbst/ Nicht zu regieren weiß, regierte gar zu gern/ Des Nachbarn Willen, eignem stolzen Sinn gemäß . . . Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil, V. 7015–7017 Denn wenn die menschliche Moral höher als die bürgerliche stehen will, dann muß sie allerdings auch auf eine tiefere umfassendere Kenntnis vom Wesen der Welt und des Menschen gegründet sein. Frank Wedekind: Vorwort zu Die Büchse der Pandora „,Die Menschheit hat ein fein Gehör, Ein reines Wort erreget schöne Taten. Der Mensch fühlt sein Bedürfnis nur zu sehr Und läßt sich gern im Ernste raten.‘ Laß ich mir gefallen. Gott selber, das Positive, die schöpferische Güte könnte im Vorspiel dem Teufel so erwidern, und mit ihm halt ichs, mit dem Positiven halt ichs“. Thomas Mann: Lotte in Weimar, Das siebente Kapitel (Faust-Paralipomenon 68)
Vorsatz Die Befassung mit dem Staatsrechtler Rudolf Smend (1882–1975) geht auf eine Anregung Barbara Stollberg-Rilingers (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) aus dem Sommersemester 2002 zurück, die „symbolische Dimension“ in dessen Werk in wissenschaftsgeschichtlichen Augenschein zu nehmen. Maßgeblich für die inhaltliche Ausrichtung vorliegender Untersuchung waren zudem Gespräche mit dem Freiburger Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis, bis 1951 Mitglied des Staatstheoretischen Seminars Rudolf Smends in Göttingen. Besonders frappierend wirkte bereits bei erster Durchsicht der Smendschen staatsrechtlichen Schriften der ihnen eigene „unzeitgemäße“ Aspekt hinsichtlich der Auffassung von Staat und Demokratie – unzeitgemäß im Hinblick sowohl auf die Weimarer als auch auf die Bonner Republik. Für den Smend der zwanziger Jahre, der das Augenmerk der gesetzespositivistisch eingefahrenen Staatsrechtslehre auf die weckenden „Effekte“ von Verfassungsrecht und also auf die Verfassungswirklichkeit zu lenken trachtet, für den Empiriker und Verfassungsphysiologen Smend ist der Staat doch zugleich eine „überempirisch aufgegebene geistige Wirklichkeit“1. Dem Staat als „geistiger Wirklichkeit“ ist eine Vgl. Smend (31994), S. 139 und 369 („überempirisch aufgegeben“), S. 131, 134 und 136 („geistige Wirklichkeit“). 1
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Vorsatz
merkwürdige Freiheit von externen Zwecken eigentümlich. Hier zeigt sich eine besondere Auffassung verfassungsmäßiger Institutionen, von Smend unterstrichen mit dem Verweis auf eine Passage aus Thomas Manns Roman Königliche Hoheit, die die repräsentative und performative Selbstzweckdienlichkeit eines Staatsaktes erzählerisch nachvollziehen lässt.2 Auffallend anti-instrumentell betrachtet Smend das von den Regelungen des Verfassungsrechts her angeregte Staatsleben noch in den Aufsätzen der fünfziger Jahre. So, wenn er alle mechanistischen und verräumlichenden Vorstellungen vom Staat als eines Bereichs des Gebens, Nehmens, Habens, Verfügens, Anordnens und Gewährens zurückweist3 und geradezu als kulturkritischer Kläger gegenüber dieser Sichtweise auftritt. Denn sie sei versucht, den Staat als einen „Omnibus zu einer Fahrt ins Blaue unbegrenzter Möglichkeiten“ zu nutzen, und trete darin „nicht ohne eine gewisse polytheistische Note“ auf.4 Zu diesem Staats- und Demokratiebegriff gehöre der entsprechende Menschentypus – der, wenn er noch nicht da ist, innerhalb der Staatsfremdheit sozialtechnologischer Anreizsysteme doch „emporgezüchtet“ (Max Webers Ausdruck) wird –, ein Menschentypus, den Gustav Radbruch als „intelligenten Egoisten“ bezeichnet habe5, der Bourgeois, mit Smend selbst zu reden, der die Grundrechte in liberaler Staatsferne auslegt und ihm gewährte Freiheiten als Abwehrrechte zu „rücksichtslosem wirtschaftlichem Kampf“ nutzt, sie ausfüllt mit „der Flucht in des Herzens stille Räume“ oder einfach zusieht, seine „Schäfchen ins Trockene“ zu bringen.6 An „instrumentellen Leistungen“ habe es der Staat nicht fehlen lassen, schreibt Smend in einem seiner gehaltvollsten Texte, dem Institutionen-Aufsatz von 1956, versagt habe er hingegen „vor dem Herzen der Menschen“.7 Diese an Schillers Erziehungsbriefe angelehnten Worte8 vermitteln den ethisch-politischen Sinn für die Tragik, die den Gefährdungen des regulierenden Regierens im modernen Staat inhärent ist. Wer so in staatsrechtlichen Angelegenheiten schreibt, den bekümmert zugleich die „Sorge um die Seele des Einzelmenschen“ und die „Rettung der Republik“. Im Dezember 1945, zur Eröffnung einer historisch-politischen Vortrags- und Diskussionsreihe der Universität Göttingen, hat Rudolf Smend für den Staat die Aufgegebenheit einer Gerechtigkeit 2
Vgl. ebd. S. 145 und GW 2, S. 112 f. Vgl. Smend (31994), S. 508. 4 Ebd. S. 515. 5 Vgl. Radbruch, Gustav: Der Mensch im Recht. Heidelberger Antrittsvorlesung, Tübingen 1927, S. 8 ff. 6 Smend (31994), S. 314 und 323. 7 Ebd. S. 504. 8 Vgl. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Mit den Augustenburger Briefen, hg. v. Klaus L. Berghahn, Stuttgart 2000, S. 24 (Sechster Brief). 3
Vorsatz
13
angemahnt, die Beziehungen unterhalte zu „letzten, über Staat und Staatsmacht stehenden Normen und Ordnungen“9. Zum Smendschen Verfassungsdenken gehört – in Hinsicht auf die republikanische Demokratie und analog zu der mahnenden Konditionalität des berühmten Satzes vom Philosophenkönigtum ebenso wie zu den von klassenspezifischen Normvorstellungen freien verfassungssoziologischen Betrachtungen Alexis de Tocquevilles – eine Konditionalitätsthese, welche besagt, institutionelle Verfasstheit sei nicht hinreichend für das Leben der Republik, entscheidend sei vielmehr die kulturelle und ethische Verfassung ihrer Bürger. Auf Grund des Signal- und Valenzcharakters solcher Passagen zeichnete sich für den Gang vorliegender Untersuchung die Grundfrage nach der charakterlichen Eigenart des Kulturbewusstseins ab, in dem dieser unzeitgemäße staatstheoretische Wirklichkeitsbezug beheimatet ist. Wenn es bei Rudolf Smend heißt, die den Staat als Idee – als „geistige Wirklichkeit“ – konstituierenden Momente politischen Erlebens10, die sich als Typen persönlich-repräsentativer, funktionell-performativer und konkretisierend-symbolischer Integration begreifen lassen11, hätten als „zeitlich-reale“ Verschränkungen dialektischen Lebens immer auch Teil an „ideell-zeitlosem Sinn“12, dann sind hier Spuren einer Wertbezüglichkeit zu entdecken, die der eigentümlichen Staats- und Verfassungsbegriffsbildung Smends als zu Grunde liegend erachtet werden muss. In dem Zeitraum der entscheidenden Erwägungen hinsichtlich Fragestellung und Vorgehensweise der Untersuchung lag der briefliche Nachlass Rudolf Smends noch nicht vor. Eine biographisch ausgerichtete Herangehensweise kam aber auch aus dem Grunde nicht in Betracht, weil die Aussicht, den geistesgeschichtlichen Kontext des Smendschen Verfassungsdenkens zu erschließen, von ungleich größerer Attraktivität war. Die in Gesprächen mit den ehemaligen Smend-Schülern Wilhelm Hennis und Horst Ehmke erhaltenen Anregungen bestärkten diese Richtungnahme. Bei der Durchsicht des (bis dato einsehbaren) Nachlasses fiel der Blick insbesondere auf eine dem Institutionen-Aufsatz von 1956 zuzuordnende Materialiensammlung13, die darauf aufmerksam macht, wie Smend (31994), S. 369. Der Begriff des politischen Erlebnisses begegnet bei Smend zuerst in der zweiten Wahlrechts-Studie von 1919, in der die Effekte des Verhältniswahlrechts auf die Verfassungswirklichkeit als eine „Einbuße an politischem Erleben“ bezeichnet werden (Smend (31994), S. 65). Der Erlebnisbegriff wird dann titelbildend für die Akademierede von 1943. Siehe hierzu die Kapitel I. 2. b) des Zweiten Teils. 11 Der Integrationsbegriff taucht zunächst in der einen dezidiert politischen Regierungsbegriff entwickelnden Schrift von 1923 auf. Vgl. Smend (31994), S. 80 und 85. Die genannten Integrationstypen werden dann 1927/28 in der Monographie ,Verfassung und Verfassungsrecht‘ ausformuliert. Siehe hierzu Kapitel I. 1. g) des Zweiten Teils. 12 Smend (31994), S. 138. 13 NStUB Cod. M. Rudolf Smend B 17–18. 9
10
14
Vorsatz
sehr Smends Staatsverständnis mit seinem – nach einem zu erörternden Kulturbewusstsein geprägten – Menschenbild zusammenhängt. Es vermag somit kaum zu überraschen, dass der für das Verfassungsdenken Rudolf Smends zu Recht als zentral herausgestellte, wissenschaftsgeschichtlich sowie methodologisch vielfach erschlossene Begriff der „Integration“ nicht zum Ausgangs- und Kernpunkt vorliegender Untersuchung erhoben wird. Jedenfalls nicht, insofern der eigentlich relevante Aspekt des Smendschen Verfassungsdenkens nicht in einer rein verfassungs- oder institutionentheoretischen Bedeutung gesucht wird, sondern in seiner grundlegenden ethisch-politischen und normativ-praktischen Auffassung vom Staatsleben als einer dem Menschen gestellten Aufgabe. Verfassungshistoriker werden sich eventuell kritisch wundern über Smends „harmonistisches“ Kontinuitätsdenken bezüglich einer sowohl geschichtlich als auch sittlich verpflichtenden Kette vom Allgemeinen Landrecht über die Verfassungen der deutschen Einzelstaaten des 19. Jahrhunderts bis zu den Verfassungen des Deutschen Reiches, der des monarchischen Bundesstaates sowie derjenigen der Weimarer Republik. Verwunderung könnte ebenso aufkommen bei Vertretern der kulturalistisch-performativen Wende der Verfassungsgeschichtsschreibung hinsichtlich der „überempirischen“ Tendenz des Smendschen Verfassungsdenkens zu „normativer Verkündigung“14, so zurückhaltend und wenig affirmativ diese auch stets geblieben sein mag. Die Staatsrechtslehre soll darauf hingewiesen werden, wie sehr Rudolf Smend bemüht war, seine Disziplin in das „Boot“ der Geisteswissenschaften (zurück) zu holen. In diesem Zusammenhang mag sie angeregt werden, zu überprüfen, inwiefern Smends scharfe Kritik an der formaljuristischen Verfassungslehre als eines Gemischs „ethischer Skepsis“ und „theoretischen Agnostizismus’“15, der bekannte Vorwurf Hans Kelsens, Smend sei im Grunde ein „Staatstheologe“16, sowie die Kritik Erich Kaufmanns, das Verfassungsdenken Smends sehe als „ein Modell radikalen politischen Immanenzdenkens“ „von der Wesensbestimmung und Legitimierung des Staates durch andere Werte“ und von der „Frage nach dem metaphysischen Sinn des Staates“ ab17, eigentlich zusammenpassen. Die politische Theorie, insofern sie normativ-praktisch orientiert ist, mag in Smend einen Bundesgenossen begrüßen. Insbesondere die von einer linkshegelianisch getönten Kultursoziologie inspirierte Politik-, Geschichts- und Literaturwissenschaft, deren Untersuchungsansatz mit Bourdieu die relative Unabhängigkeit des Symbolischen gegenüber dem Ökonomischen vertritt, könnte hier auf einen liberalSmend (31994), S. 384. Ebd. S. 123. 16 Kelsen, Hans: Der Staat als Integration. Eine prinzipielle Auseinandersetzung, Wien 1930, S. 31. 17 Kaufmann, Erich: Gesammelte Schriften, hg. v. A. H. Scherpenberg, Göttingen 1960, Bd. 3: Rechtsidee und Recht. Rechtsphilosophische und ideengeschichtliche Bemühungen aus fünf Jahrzehnten, S. XXX ff. 14 15
Vorsatz
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konservativen Autor aufmerksam gemacht werden, in dessen Denken die Dimension des Symbolischen und der Kontemplation als zweckentbunden vom Bildungsbürgerlichen und zurückgeführt auf das Gravitationszentrum nichtinstrumentellen Verhaltens gelten kann. Auffällig ist, dass nirgendwo in der Literatur, die sich mit dem Verfassungsdenken Rudolf Smends beschäftigt und aus seinem Werk zitiert, die staatsrechtlichen Schriften in ihrer Gesamtheit in Augenschein genommen werden. Bei aller (berechtigten) Fokussierung des performativen Zuges der Smendschen Schriften bleibt doch der sie durchziehende platonische Einschlag – nämlich auswegsuchende und eudaimonie-orientierte – ihrer leitmotivartigen Valenzen unberücksichtigt. Nicht selten hat dies dazu geführt, disparate Werkstücke aus ihrem Kontext herauszunehmen, um sie „operationalisierbar“ zu machen. Dieser Vorwurf soll aber nicht bedeuten, mit dieser Untersuchung ein großes Restaurierungsprojekt einleiten zu wollen. Jedenfalls nicht, solange Restaurierung meinen würde, im Sinne der Aktivitäten einer philologischen Bürokratie Smends Verfassungsdenken „rekonstruieren“ zu wollen. Dies wäre eine problematische Form von Mimesis, die dem Verständnis des Verfassers entgegenstünde. Die angemessene Art, sich mit Rudolf Smend zu befassen und zu versuchen, sein Verfassungsdenken zu erfassen, ist m. E. von Hanns Mayer in einer Dissertation des Jahres 1930 gekennzeichnet worden, indem dort bemerkt wird, Smends oft „aphoristische, andeutende Schreibweise“ nötige zu einer „verstehenden Untersuchungsweise“, welche „selbsttätig die vorhandenen Andeutungen ergänzt, den geistigen Wurzeln (. . .) nachspürt und aus eigener Kraft versucht, das Gesamtbild (. . .) zu gewinnen.“18 Eine nachspürende Aktivität und gewissermaßen „rezeptionsästhetische“ Erschließung des Verfassungsdenkens Rudolf Smends muss sich insbesondere an den eigentümlichen Valenzen seines staatsrechtlichen Werkes orientieren, die eine hypothesen- und abduktionsfreudige Epistemologie wie diejenige von Charles S. Peirce als „surprising facts“ auffassen würde.19 Diese Vorgehensweise versteht sich hier jedoch nicht nach der Weise des dekonstruktionistischen Paradoxons von der unfehlbar sich einstellenden Fehldeutung, sondern durchaus als Logos-Bewegung im Sinne der lecture bien faite Charles Péguys,
18 Mayer, Hanns: Die Krisis der deutschen Staatslehre und die Staatsauffassung von Rudolf Smend, Köln 1931, S. 32 f. 19 Siehe dazu Ginzburg, Carlo: Spurensicherung, in: ders.: Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin 1995, S. 7–57, Eco, Umberto: Die Grenzen der Interpretation, München/Wien 1992, insb. S. 283 ff., Eco, Umberto/Sebeok, Thomas A. (Hg.): Der Zirkel oder Im Zeichen der Drei. Dupin, Holmes, Peirce, München 1985, insb. S. 7 ff. und 35, Oehler, Klaus: Sachen und Zeichen. Zur Philosophie des Pragmatismus, Frankfurt a. M. 1995, insb. S. 254 sowie Sebeok, Thomas A./ Umiker-Sebeok, Jean: You know my method: A Juxtaposition of Charles S. Peirce and Sherlock Holmes, in: Semiotica 26 (1979), S. 203 ff.
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Vorsatz
die alles Interpretieren mitnichten bloß als diskursives Spiel („anything goes“), sondern als beunruhigende, antwortend-verantwortliche Zuständigkeit begreift.20
20 Vgl. Steiner, George: Der ungewöhnliche Leser, in: ders.: Der Garten des Archimedes, München/Wien 1997, S. 9–36, insb. S. 34 sowie ders.: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?, München/Wien 1990, S. 13 f., 19 f., 60 ff., 123 ff., 137 und 160 ff. Eine solche Vorgehensweise lässt sich nicht von dem Verbot tyrannisieren, das über die vermeintliche „Überinterpretation“ verhängt ist. Nach Ernst Blochs Begriff der Symbolintention überdauert Bedeutung oft dort, wo sie sich verbirgt. Jede Regung von interpretierendem Ausdruck gefährdet für den wissenschaftlichen Instinkt die Objektivität, die, wie Adornos Essay-Essay kritisch anmerkt, „erst nach Abzug des Subjekts herausspringt“. Vgl. AGS 11, S. 10 ff. Indifferent und nicht von der Sache gefordert aber möchte vorliegende Darstellung durchaus nicht sein.
1. Teil
Die Untersuchungsperspektive I. Befund § 1 Was „dahinter steckte“. Ein verborgenes Kernanliegen? – Im März 1967 führt Rudolf Smend in einem Brief an den Göttinger Politikwissenschaftler Manfred Friedrich aus, der juristische Rationalismus, Idealismus und Formalismus habe geglaubt, „juristische Systeme auf einem Zentraldogma der Aufklärung oder der klassischen Philosophie oder einer Rechtsbegrifflichkeit aufbauen zu können, welch letztere die Einzelentscheidungen im Regreß auf axiomatische, in einem Zentraldogma verwurzelte Prinzipien finden zu können meinte.“ Er, Smend, gehöre zu denen, die das für irrtümlich hielten. Anders stehe es indessen mit einer „Gesamthaltung, die die Einzelarbeit durchgehend bestimmt.“ Die Polemik gegen Hans Kelsen seitens einer Gruppe innerhalb der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer in den zwanziger Jahren habe sich „gegen dessen Ignorierung der Wirklichkeit“ gerichtet. Und anschließend kommt Smend offensichtlich darauf zu sprechen, was in jener Zeit seine auf die „Wirklichkeit“ bezogene „Gesamthaltung“ ausgemacht habe. „Mir erschien die politische Einheit des deutschen Volkes 1918 ff. wie eine umgefallene Mauer aus Lehm: daher die Integrationstheorie, die sich freilich nicht in ihrem Prinzip, sondern in ihrer Anwendung rechtfertigen sollte.“ Dass es ihm dabei um den „Staat als Lebensprozess“ gegangen sei, sei „freilich ein Grundprinzip, aber doch zunächst auch eine praktische Anschauung“ gewesen. Dass „im Grunde noch Anderes dahinter steckte“, sähe er selbst „erst neuerdings klarer.“1 Um Einsicht in die „Gesamthaltung“, welche die staatsrechtliche „Einzelarbeit“ Rudolf Smends „durchgehend bestimmt“, um das, was „im Grunde“ hinter der „praktischen Anschauung“ des Staates „als Lebensprozess“ „steckte“, um den das Verfassungsdenken Smends ausmachenden Wirklichkeitsbezug in staatsrechtlichen Angelegenheiten, muss die vorliegende Untersuchung bemüht sein. Denn wenn Smends Aufmerksamkeit sich auf das Staatliche als auf einen „Lebensprozess“ richtet, er zugleich den Staat aber als eine „geistige Wirklichkeit“
1 Zitiert nach Friedrich, Manfred: Rudolf Smend. 1882–1975, in: AöR 112 (1987), S. 25 f.
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1. Teil: Die Untersuchungsperspektive
begreift2, so erzeugt dieses Doppelverständnis eine geistesgeschichtliche Valenz, die zu füllen Smends staatsrechtliche Texte durch ihre Hinweise und Andeutungen einer verstehenden Untersuchungsweise aufgeben. § 2 Ansatz zu einer Synthese. – In dem für die zweite Auflage des Evangelischen Staatslexikons verfassten Artikel ,Integration‘3, dem letzten Text, den er publizierte, hat es Rudolf Smend unternommen, die Quintessenz seiner Integrationslehre zu hinterlassen. In vier Schritten lässt sich dieses Resümee nachvollziehen: Smend betont (zum Ersten), die Integrationslehre sei, insofern ihr der staatliche Integrationsvorgang nicht bloß als empirischer und theoretischer Faktor gelte, keine soziologische, sondern eine juristische Theorie, die a) Sinn und Aufgabe der Verfassungsinstitute in ihrer „Öffentlichkeitswirkung“ liegend begreife und b) dementsprechend den Staat unter „normativen Gesichtspunkten“ betrachte. Zum Zweiten stelle die Integrationslehre den Einzelmenschen voran und ordne ihn in das Verfassungsleben ein; in diesem Sinne verstehe sie sich als „ein Modell streng demokratischen Denkens“. Dieses Verständnis erfolge (zum Dritten) vor dem Hintergrund genereller Infragestellung aller Ganzheitsordnungen, „der Welt der überkommenen Bindungen, Gemeinschaften, Verbände, Gruppen“. Zum Hauptproblem des Staatsrechtsdenkens werde damit (zum Vierten) die sittliche Einordnung, nämlich die sinnvolle Beteiligungsmöglichkeit des Einzelnen am Staatsleben. In allen vier Aspekten ist stets dieselbe Sequenz einschlägig: das als Einordnung gekennzeichnete problematische Verhältnis des Einzelnen zum Staat. Es ist anzunehmen, dass über diese Problematik sich dem, was „im Grunde“ hinter der „praktischen Anschauung“ des Staates „als Lebensprozess“ „steckte“, also dem das Verfassungsdenken Smends ausmachenden Wirklichkeitsbezug, zu nähern sein wird. § 3 Maßgebliche Anregung der Untersuchungsperspektive. – Zum Abschluss des Kapitels über „Methodenstreit und Staatskrise“ im dritten Band seiner Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland schreibt Michael Stolleis, „in der Retrospektive der Bundesrepublik“ habe man die Weimarer Staatsrechtslehre „verkürzt gesehen.“ Als Verkürzung erscheint Stolleis das Verschwinden des historischen Kontexts, zumal des ideengeschichtlichen; genannt werden „das Zerbrechen der im 19. Jahrhundert geprägten Formen des Rechtsstaats“, der „intellektuelle Massenaufschrei gegen den Rationalismus der modernen Welt“ und „der Niedergang der Epoche des Bürgertums“. „Im scheinbar fachgebundenen Methoden- und Richtungsstreit der Staatsrechtslehre“, konstatiert Stolleis, „steckt dieses verzweifelte Ringen nach festen Grundlagen in einer als instabil und bedrohlich erscheinenden Welt von Staat und Politik.“ Nie zuvor 2
Vgl. Smend (31994), S. 131, 134, 136, 145, 166, 188, 205, 223, 228, 234, 266
u. a. 3
EvStL2 Sp. 1024–1027.
I. Befund
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sei so viel über „geistige Not“ geschrieben worden: überall finde sich die „Sehnsucht nach Überwindung der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Krise, nach Wiedergewinnung ungebrochener Identität und nach nationaler Wiedergeburt.“4 Es kann hierin geradezu die Aufforderung gesehen werden, das Augenmerk einmal von den Eigenheiten des Schulstreites bewusst abgleiten zu lassen. In der Fußnote eines späten Aufsatzes hat Wilhelm Hennis vorgeschlagen, Rudolf Smends Verfassungsdenken und Demokratieverständnis einmal aus dem Umfeld des Weimarer Richtungsstreits zu lösen und nach ihrem Verhältnis zu Kultur- und Lebenswerten zu befragen.5 Angeführt werden hier Thomas Manns bis heute nicht vollständig als gültiger politik-anthropologischer Standpunkt anerkannte Betrachtungen eines Unpolitischen. „Dies Buch“, so zitiert Hennis nach Dirk Hoeges’ Studie über die Intellektuellen-Kontroverse zwischen Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim6, „war eine Revolte gegen die ,Versklavung des Geistes‘ durch die Politik – nichts weiter“. Eine solche „Position“, so Hennis, müsse auch „mit einer freiheitlichen Demokratiekonzeption kompatibel sein.“ Was Thomas Mann nur dem Tagebuch anvertraue, könne als „Fragestellung für eine Neubewertung der spezifisch deutschen liberal-konservativen – allen ,Revolutionismus‘ ablehnenden ,bürgerlichen‘ Demokratiekonzeption dienlich sein“7. Hennis’ gesprächsweise sowie brieflich geäußerter Kommentar zu dieser Smend, Mann und Curtius in Beziehung setzenden Stelle lautet dahin, dass hier vor allem die Wertschätzung und der Schutz bestimmter Kulturwerte gemeint seien, die von keiner anderen Staatsform so sehr bedroht würden als eben von der Demokratie. Sehr empfindlich habe der alte Smend auf seiner Ansicht nach ungerechte, weil aus Unverstand resultierende Kritik gegenüber seiner Auffassung des Begriffs – besser: der Sache – des „Lebens“ und des „Lebensprozesses“ reagiert. Wenn er vom „Leben“ spricht, spricht Smend zugleich von dem 4 Stolleis, Michael: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 3: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914–1945, München 1999, S. 200 f. 5 Hennis, Wilhelm: Integration durch Verfassung? Rudolf Smend und die Zugänge zum Verfassungsproblem nach 50 Jahren unter dem Grundgesetz, in: JZ 54, 1 (1999), S. 493 Anm. 41. 6 Vgl. Hoeges, Dirk: Kontroverse am Abgrund. Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim. Intellektuelle und ,freischwebende Intelligenz‘ in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1994, S. 187. 7 Hennis (1999), Integration durch Verfassung?, S. 493. Entgangen ist sowohl Hennis als auch Hoeges, dass Thomas Mann seine „Position“ nicht nur dem Tagebuch anvertraut hat, sondern dass sie als Antwort auf die französischen Kritiken an den Betrachtungen wörtlich im Januar 1922 im Neuen Merkur gedruckt wurde. Vgl. TME 2, S. 103 f. Mit Das Problem der deutsch-französischen Beziehungen kommentierte Mann die Auseinandersetzung zwischen Ernst Robert Curtius und André Gide über die Problematik einer aktivistischen Internationalisierung.
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1. Teil: Die Untersuchungsperspektive
Individuum, dass sich der „Wertgesetzlichkeit des Geistes“ entsprechend in die Lebenstotalität einordne8, auch von der „nicht als starre Substanz zu denkenden geistigen Monade“9. Zugleich schreibt Smend dem Staat selbstzweckhaften Charakter zu. Staatliche Institutionen sind ihm nicht ihrer zweckrationalen Leistung nach Lebenswert, sondern bereits in ihrem bloßen Dasein, den „verfassungsmäßigen Eigentümlichkeiten“ und Spannungen, vermöge deren der Kirchenrechtler Hans Dombois den politischen Lebensprozess geradezu als „Sexus der Nationen“ bezeichnet habe.10 Es geht Smend um das „subjektive Gestimmtsein im Reich der sittlichen Institutionen“11 – und deutlich wird dabei, dass man vom Staat spricht, wie man den Menschen sieht. Die Struktur allen menschlichen Gruppenlebens vollzieht sich Smend zufolge im Wesentlichen in zwei Elementen, indem ihre „zeitlich-realen Verschränkungen“ immer Teil hätten „am Reich des ideell-zeitlosen Sinnes.“12 Das Problematische in dem Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft liegt in Smends Perspektive nicht in erster Linie in den Schwierigkeiten eines sozialpolitischen Interessenausgleichs, vielmehr stellt es sich ihm als ein strukturelles Kulturproblem dar. Im Sinne des Verfassungsdenkens Rudolf Smends ist anzunehmen, dass in diese Richtung weisende philosophisch-anthropologische Reflexionen mehr wissen über das Verhältnis zwischen Einzelmensch und Staat, das Smend als problematisches Kernstück moderner Staatslehre erkannte, über „Stand und Staat des Menschen“ also, wie es im Zauberberg sowie in einem Brief Thomas Manns vom 5. Februar 1925 an Josef Ponten bezüglich Hans Castorps „Regierungsgeschäften“ heißt13, als Hans Kelsens Gesetzespositivismus, Carl Schmitts dezisionistischer Begriffsrealismus, als die moderne Pathetik des Kampf- und Führungsmechanismus Max Webers, mehr auch als die gegenwärtige Institutionentheorie. § 4 Smend vs. Schmitt. Eine ausführliche Konfrontation des Verfassungsdenkens Rudolf Smends mit demjenigen Carl Schmitts ist im Rahmen dieser Untersuchung nicht zu führen. Smend war der Auffassung, Schmitts Verfassungslehre habe uns angesichts des modernen Staates und der Aufgaben und Probleme moderner pluralistischer Massendemokratie nichts zu sagen.14 In der Weise, nach Vgl. Smend (31994), z. B. S. 162 und 190. Ebd. S. 132. 10 Ebd. S. 507 und Dombois, Hans: Strukturelle Staatslehre, Berlin 1952, S. 21. 11 Smend (31994), S. 353. 12 Ebd. S. 138. 13 Zitiert nach Dichter oder Schriftsteller? Der Briefwechsel zwischen Thomas Mann und Josef Ponten 1919–1930, hg. v. Hans Wysling, Bern 1988, S. 64. Vgl. GW 3, S. 646. 14 Als gleichgestimmt siehe zunächst Kaufmann, Erich: Carl Schmitt und seine Schule, in: Kaufmann (1960), Bd. 3: Rechtsidee und Recht. Rechtsphilosophische und ideengeschichtliche Bemühungen aus fünf Jahrzehnten, S. 375 ff., sodann Simson, 8 9
I. Befund
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der die „antikisierende Betrachtungsweise“ von Schmitt „in glänzender Form (. . .) repristiniert“ werde – so der sich trotz aller Gegensätzlichkeit stets aufgeschlossen gegenüber den Schriften des anderen verhaltende Smend über Schmitt – treffe sie überall da zu, „wo die normale Ordnung (. . .) eine bloße Ausübungsbeschränkung der quod jus im Herrscher vereinigten Gewalt, also eine Trübung der reinen, eigentlichen staatlichen Form“ sei, passe also für die „römische Kirche“, auch für die „Monarchie vor der konstitutionell-nationalstaatlichen Periode“, nicht aber für den modernen Staat.15 Die Wirklichkeit des Staates „derivativ“ von einem immanenten sachlichen Zentralwert sich herleitend systematisch zu erfassen – das bedeutete für Smend einen nicht hinzunehmenden metaphysischen Positivismus, der zudem die Tendenz zeigte, in einen politik-soziologischen Positivismus umzuschlagen.16 Es liege auf der Hand, dass für eine Denkweise, die das kategoriale Wesen des Staates darin finde, dass in ihm eine formale letzte Dezisionsgewalt bestehe, „der Ausnahmefall das Wesen der staatlichen Autorität am klarsten“ offenbare17 und diese Gewalt in der Diktatur am reinsten hervortrete.18 Carl Schmitts Ausführungen zum Begriff des Politischen begründeten keine eigentliche Staats-, sondern eine eigentümliche Rechtstheorie.19 Verfassungsgeschichte scheint bei Schmitt die Abfolge von politischen Systemen zu sein, die in der Reinheit ihrer Idee zu erschließen sind. Smends Rede zur Reichgründungsfeier im Januar 1933 merkt dazu an: „Es ist aber nicht der Sinn einer Verfassung, ,Entscheidung‘ im Sinne irgendeines sachlich folgerichtigen politischen Denksystems zu sein, sondern lebendige Menschen zu einem politischen Gemeinwesen zusammenzuordnen.“20 Dieser Satz, der als Motto
Werner von: Carl Schmitt und der Staat unserer Tage, in: AöR 114 (1989), S. 185– 220; Mehring, Reinhard: Carl Schmitts Lehre von der Auflösung des Liberalismus – Das Sinngefüge der „Verfassungslehre“ als historisches Urteil, in: Zeitschrift für Politik 38 (1991), S. 200–216; Meier, Heinrich: Carl Schmitt, Leo Strauss und der „Begriff des Politischen“. Zu einem Dialog unter Abwesenden, Stuttgart 1988 und Vesting, Thomas: Erosionen staatlicher Herrschaft. Zum Begriff des Politischen bei Carl Schmitt, in: AöR 117 (1992), S. 4–45. 15 Smend (31994), S. 213. 16 Vgl. die dahinlautende Kommentierung des Smend-Schülers Ehmke, Horst: Buchbesprechung von Peter Schneiders Ausnahmezustand und Norm, in: ZgS 115 (1959), S. 187–192, insb. S. 189. 17 Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München/Leipzig 1922, S. 15. 18 Vgl. Smend (31994), S. 212. 19 Vgl. ebd. S. 174 und 180. 20 Ebd. S. 320 Anm. 15. Im Tagebuch vom 23. Januar vermerkt Schmitt: „Frau Ehrick erzählte von Smends elendem Vortrag“. Zitiert nach Noack, Paul: Carl Schmitt. Eine Biographie, Berlin 1993, S. 156. Wilhelm Hennis berichtet, im Göttinger Staatstheoretischen Seminar habe Smend sein Missfallen an Schmitt deutlicher ausgedrückt als in der Universitätsrede, wenn er, eventuell etwas großbürgerlich von oben herab,
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1. Teil: Die Untersuchungsperspektive
über jeder neuen Befassung mit Smends Verfassungsdenken stehen könnte, impliziert gleichsam schon genannte Leitmotive seines staatsrechtlichen Werkes – die Auffassung des Staates als Orientierung stiftende Einheit sowie als Aufgabe und Beruf des Menschen – und spricht zugleich Smends so schwierig unterzubringendes Eingenommensein für den dynamischen „Lebensprozess“ des Staatlichen, die institutionell-verflechtende Einordnung der Einzelnen in ihr Verfassungsleben an. § 5 Rudolf Smend und Max Weber. – In einen spannungsvollen Zusammenhang ist das Verfassungsdenken Rudolf Smends mit demjenigen Max Webers zu bringen. Beide interessierten sich für die Wechselwirkung der charakterlichen Eigenschaften von staatlicher Lebensordnung und menschlichem Typus und damit für die Erziehungsmacht, welche das Hineingestelltsein in das politische Gemeinwesen auf die Einzelnen, auf die Regierenden und die sie Berufenden, ausübt.21 Beide interessierten sich für Staatsrechtsfragen unter dem Gesichtspunkt ihrer Wirklichkeitswirkung, insofern sie als normative Rechtssätze (aus denen die Formaljurisprudenz Dogmengebäude erstellen mochte) die Ausbildung empirischer Rechtsregeln anregten.22 Beider Blick auf die Verfassung wäre also „nomothetisch“ zu nennen, insofern sie sich in erster Linie für den anregenden, weckenden „Effekt“ des Rechts interessieren. Beide sind geleitet von der Frage, auf welche Weise eine politische Ordnung verfassungsrechtlich anzuregen wäre, in der freie Menschen „wachsen“ können. Es ist darauf hingewiesen worden, dass Smend, der Webers verfassungspolitischen Schriften in einer Art Hassliebe verbunden war23, mit seinen Integrationstypen – persönliche, funktionelle und sachliche Integration24 – auf eine neue Möglichkeit ethischer Ausdeutbarkeit des von Weber so detailliert beschriebenen „Anstalt“-Staates gezielt und damit den bei Weber eingeforderten „Legitimitätsglauben“25 dynamisierte und expressiv ausgeweitet habe.26 sagte, Schmitt sei zur Auffindung der von ihm vertretenen politischen Theorie in den Plettenberger Kramladen seiner Mutter zurückgegangen. 21 Dass Max Webers Fragestellung dahin lautet, ist eindrucksvoll herausgestellt worden von Hennis, Wilhelm: Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1987 sowie ders.: Max Webers Wissenschaft vom Menschen. Neue Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1996. Vgl. außerdem Jaspers, Karl: Max Weber. Deutsches Wesen im politischen Denken, im Forschen und Philosophieren, Oldenburg i. O. 1932; Scaff, Lawrence A.: Max Weber’s Politics and Political Education, in: APSR 67 (1973), S. 128–141; ders.: Fleeing the iron cage. Culture, Politics, and modernity in the thought of Max Weber, Berkeley (Cal.): University Press 1991 und Eden, Robert: Political Leadership and Nihilism. A study of Weber and Nietzsche, Tampa: University Presses of Florida 1983. 22 Für Weber siehe insb. die Streitschrift über die Rechtsphilosophie Rudolf Stammlers (WL S. 291–359), hier v. a. das Kapitel über die Problematik der Rechtsregel (ebd. S. 322 ff.). 23 Siehe Smends Besprechung von Webers ,Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland‘ in Schmollers Jahrbuch 42, 2 (1918), S. 369–373. 24 Siehe dazu Smend (31994), S. 80, 85 f., 142 ff.
I. Befund
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In seiner Besprechung von Verfassung und Verfassungsrecht bemerkt bereits Otto Hintze27 eine gewisse Verwandtschaft zwischen Smends Integrationsbegriff und dem in Webers soziologischen Kategorien entwickelten Staats- und Verfassungsverständnis: „Nach der Auffassung Smends ist der Staat nicht ein Mittel zur Verwirklichung irgendwelcher Zwecke, sondern er ist Selbstzweck, er ist Verwirklichung der Werte, die als Zweck erstrebt werden. Sehr abfällig wird die Ansicht Max Webers beurteilt, der den Staat als einen ,Betrieb‘ auffaßte. Aber was ist diese Auffassung anderes als die ,dynamische‘ Ansicht dessen, was man sonst gerade auch in juristischen Kreisen in der gewöhnlichen ,statischen‘ Ansicht als ,Anstalt‘ bezeichnet?“28 „Smends Verhältnis zu Max Weber – das wäre ein Thema für sich“, so Wilhelm Hennis, der seinerseits die These „wagen“ möchte, nirgends bestehe „bei allen Differenzen des Temperaments und der politischen Position im LinksRechts-Schema eine so große Verwandtschaft wie zwischen Weber und Smend.“ Beide interessierten sich nicht für die im Verfassungsrecht normierten Verfassungsfragen als solche, „nicht Paragraphenauslegung und rechtsbegriffliche Systembauten“ – so von Smend 1919 schneidend formuliert29 – „sondern die Wirklichkeit des politischen Lebens, zu der Verfassungen anregen oder eben nicht anregen.“30 Was Weber ebenso wie Smend am Rechtspositivismus beunruhigte, war nicht in erster Linie der erkenntniskritische Aspekt, der „Methodenmonismus“, sondern die von der formaljuristischen Sichtweise geförderte Gefahr einer völligen Entleerung der Rechtsregeln und die folgende Verarmung des politischen Lebens bei gleichzeitiger Ermutigung zur dezisionistischen Rechtspervertierung. Alle Verfassungstheorie bei Smend hat ihre Motivation in einer „politischen Ethik“31, einem Berufs- und Amtsgedanken, am deutlichsten wird das in Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht (1933).32 Bürger 25
Vgl. die entsprechende Stelle in WuG S. 122 ff. Göhler, Gerhard: Der Zusammenhang von Institutionen, Macht und Repräsentation, in: Institution – Macht – Repräsentation. Wofür politische Institutionen stehen und wie sie wirken, hg. v. Gerhard Göhler u. a., Baden-Baden 1997, S. 55. 27 Zuerst erschienen in HZ 139 (1929), S. 557 ff. Hier zitiert nach dem Wiederabdruck in Hintze, Otto: Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen zur Soziologie, Politik und Theorie der Geschichte Bd. 2, hg. u. eingel. v. Gerhard Oestreich, Göttingen 21964, S. 232 ff. 28 Ebd. S. 237. 29 Smend (31994), S. 67. 30 Hennis (1999), Integration durch Verfassung?, S. 493. Ebd. Anm. 41 schlägt Hennis vor, das „Thema für sich“ auszuweiten auf eine Befragung „des Verhältnisses zwischen Kulturwerten und Demokratie im neueren deutschen politischen Denken zwischen 1917 (. . .) und 1932“. Als Eckpunkte genannt werden Thomas Manns ,Betrachtungen eines Unpolitischen‘, Karl Jaspers ,Die geistige Situation des Zeit‘ sowie ,Deutscher Geist in Gefahr‘ von Ernst Robert Curtius. 31 Smend (31994), S. 131. 32 Vgl. ebd. S. 309–325. 26
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1. Teil: Die Untersuchungsperspektive
und Bourgeois im deutschen Staatsrecht – ein Titel, der seiner inneren Anlage nach, der Zusammenordnung von Typen der Lebensführung und äußerer Lebensordnung, fast von Max Weber stammen könnte. Doch immer wenn Smend auf Weber zu sprechen komme, so sieht es Wilhelm Hennis, „preist er ihn zunächst in den höchsten Tönen, um dann gleich einige, m. E. ganz deplazierte, Bemerkungen dranzuhängen.“33 Auf die Problematik des Verhältnisses auf Grund der Vorbehalte Smends gegenüber Weber ist aufmerksam zu machen. § 6 Max Weber und das Kulturproblem der Moderne. – In seiner Besprechung von Webers Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland (Mai 1918) moniert Smend, die Schrift beschränke sich zu sehr auf die anstehenden staatstechnischen Änderungen, klammere die dringlichen „inhaltlichen Kulturprobleme“ aus und verfehle somit die „politisch-ethischen Maßstäbe“ der verfassungsmäßigen Einrichtungen.34 Worin aber bestand das dringlichste Kulturproblem der Zeit, worin wurde es von Max Weber gesehen? In dem Münchner Vortrag Wissenschaft als Beruf wird dies Kulturproblem mit dem Wort von der „Entzauberung der Welt“ benannt. „Es ist wie in der alten, noch nicht von ihren Göttern und Dämonen entzauberten Welt, nur in anderem Sinne: wie der Hellene einmal der Aphrodite opferte und dann dem Apollon und vor allem den Göttern seiner Stadt, so ist es, entzaubert und entkleidet der mythischen, aber innerlich wahren Plastik jenes Verhaltens, noch heute.“ Heute, so Weber im November 1917, sei diese Entzauberung religiöser Alltag. Die weitgehend rationalisierten und disziplinierten Lebensordnungen haben für „Seele“ oder auch nur „Gesinnung“ keinen Bedarf mehr. „Die alten Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf. Das aber, was gerade dem modernen Menschen so schwer wird, und der jungen Generation am schwersten, ist: einem solchen Alltag gewachsen zu sein.“35 Die zentrale charakterologische Fragestellung in Webers Werk betrifft die Entwicklung des Menschentums unter den Bedingungen der Moderne. Das Kulturproblem, von dem Weber spricht, ließe sich als die Aufgabe der Ponderation zwischen Selbst und Welt unter den Schwierigkeiten moderner Autonomie und moderner Abhängigkeitsverhältnisse bezeichnen. In dem Fragment über das Religiöse (1931) bezeichnet Thomas Mann, an Scheler angelehnt, dies als das eigentlich „humane Problem“: „Die Stellung des Menschen im Kosmos, sein Anfang, seine Herkunft, sein Ziel, das ist das große Geheimnis, und das religiöse Problem ist das humane Problem.“36 33
Hennis (1999), Integration durch Verfassung?, S. 493. Vgl. Smends Rezension, abgedruckt in Schmollers Jahrbuch 42, 2 (1918), S. 369– 373, insb. S. 372 f. sowie GPS S. 310. 35 WL S. 604 f. 36 TME 3, S. 297. 34
I. Befund
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Wer um das „humane Problem“ besorgt ist, stellt die Frage nach den möglichen und tatsächlichen Erziehungswirkungen der den Menschen prägenden „Circumstantien“37. Für Max Weber sind die Götter der neuen Zeit total (im vollsten Wortsinne) profan. Sie erscheinen uns in unterschiedlichster Gestalt, als Bergbauwerke, Kanalschleusen, Eisenbahnen, Schiffskrähne, Bankhäuser, Versicherungsanstalten, Verwaltungsbüros und Giftgaswaffen. Diese säkularen Götter werden herrschen, bis der Zeus einer neuen Zeit sich in der Atmosphäre aufgelöst hat, nämlich „bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist.“38 Dieser Zustand ist nach Webers Auffassung nüchtern ins Auge zu fassen; in allen dynamischen sowie in allen persistenten Momenten ist die Welt der Immanenz bei Max Weber stets eine große Unentrinnbarkeit. Alles Glücks- und Ausgleichsbestreben erscheint ihm hinsichtlich des Nur-noch-Immanenten der modernen Lebenswelt, deren Entzauberung nicht rückgängig zu machen sei, als unredlich, denn über dem Eintrittstor in die Moderne werde dem Menschen unerbittlich verkündet, als ob er nicht in eine neue Zeit, sondern in den Hades einzöge: lasciate ogni speranza.39 Weber figuriert sich den modernen Menschen als Heros des Materialismus, der die Transzendenzlosigkeit mit zusammengebissenen Zähnen auszuhalten gewillt ist. Nach dem Zusammenbruch metaphysischer Weltordnungen stellt er jedem Versuch von Transzendenz mit der Geburtsurkunde auch gleich den Totenschein aus. Rudolf Smend spricht sich entschieden gegen das aus, was er als die „politische Erfolgsethik Max Webers“ bezeichnet, gegen die Auffassung, die staatliche Ordnung bestehe wesentlich aus „Erfahrungssätzen und Klugheitsregeln der Machtausübung“, das Verfassungsleben erschöpfe sich in den „Erfahrungen dämonischer Zuchtmeister und Bändiger der Masse und erfolgreicher Kämpfer im internationalen Ringen der Mächte und Staaten“.40 Es wird zu erörtern sein, inwiefern das so bezeichnete, in erster Linie das Menschenbild betreffende Kulturproblem der Moderne auch für den das Verfassungsdenken Rudolf Smends ausmachenden Wirklichkeitsbezug in staatsrechtlichen Angelegenheiten als prägend anzusehen ist. § 7 Die Sorge um den menschlichen Typus. – Als eine entscheidende Anregung für die Untersuchung, in Richtung des bezeichneten Kulturproblems und dessen Niederschlag im Verfassungsdenken Rudolf Smends, ist der Einblick in den Göttinger Nachlass Smends anzuführen. In „Institutionen-Gespräch“ und „Institutionen-Problem“ betitelten Mappen41 finden sich hier unter anderem zwei
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Vgl. Bien, Guenther: „Circumstantien“, in: HWP 1, Sp. 1019–1022. RS 1, S. 203 (Schlussansprache im 2. Teil der PE). Vgl. GPS S. 12 (Freiburger Antrittsrede 1895). Smend (31994), S. 379 und 369. NStUB Cod. M. Rudolf Smend B 17–18.
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1. Teil: Die Untersuchungsperspektive
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung entnommene Artikel sowie Ausschnitte aus verschiedenen Kirchenblättern: a) Walter Dignath über die Bibelstelle Römer 13, 1–7, in: Der Weg. Evangelisches Sonntagsblatt für das Rheinland Nr. 43 vom 21. Oktober 1956. Dieser Text stellt die Entgegnung auf einen Beitrag Günther Dehns in Der Weg Nr. 40 dar, der sich aber in Smends Sammlung nicht findet. Es scheint sich hierbei um eine über mehrere Folgen sich erstreckende Kontroverse zu handeln, die von Smend mit verfolgt worden ist. b) Friedrich Sieburg: Die Jungen und die Alten, in: FAZ Nr. 70, Wochenendausgabe vom Samstag, 23. März 1957 c) Kurt Sontheimer: Die Welt der vielen Gleichen, in: FAZ Nr. 40, Wochenendausgabe vom Samstag, 16. Februar 1957. Alle in dieser Materialsammlung befindlichen Texte kreisen um die Frage nach dem Typus des Menschen unter den Bedingungen der Moderne, alle handeln sie von einer Problematik, die von Smend als eines der Hauptprobleme moderner Staatswissenschaft bezeichnet worden ist: von dem Problem (oder der Aufgabe) der Einordnung. Eine besondere Anziehungskraft scheint auf Smend eine Kontroverse um die Auslegung von Römer 13 gehabt zu haben. Von dem Theologen Walter Dignath wird die Behauptung aufgestellt, der Prophet habe, wenn er in seinem Brief von Ordnungen spreche, nicht die Einrichtung als solche gemeint, sondern konkrete Menschen, die in bestimmten Positionen oder Ämtern stehen. Dagegen führe der abstrakte Ordnungs- und Institutionenbegriff zur Gefahr blinder Anbetung. Zum Problem der Unterwerfung des Einzelnen unter die Obrigkeit sei anzumerken, dass „unterwerfen“ hier im Sinne ethischer Ausdeutbarkeit gemeint sei, im Sinne von sich unterziehen, sich einordnen. Nicht um Unterwerfung gegenüber einer starren Ordnungsmacht also gehe es hinsichtlich der bekannten Briefstelle, sondern um Verwirklichung des Ordnungsgefüges der Welt sowie um die menschliche Verantwortlichkeit für den Bestand dieser Ordnung. Die beiden der Frankfurter Allgemeinen Zeitung entnommenen Artikel befassen sich mit dem Problem der Einordnung des modernen Menschen angesichts der zunehmenden Standardisierung von Lebensführung und Lebensläufen. So schreibt Friedrich Sieburg, Publizist und damaliger Leiter der Literaturbeilage der FAZ: „In einer auf Gleichheit und breit verteilte Konsumkraft abzielenden Organisation, wie sie unser heutiges Leben nun einmal darstellt, verliert die menschliche Existenz das dynamische An- und Abschwellen, sie ist nicht Ablauf, sondern Situation. Überraschungen sind nach Möglichkeit ausgeschaltet. Die modellartige Fixierung macht einen Lebensbegriff sichtbar, der nicht mehr auf Wandlung und Entwicklung angewiesen ist, sondern von Anfang an festliegt. Abstürze und Aufschwünge nehmen sich wie ein privater Luxus aus. Da
I. Befund
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die Jugend möglichst früh bei der Güterverteilung bedacht werden soll und will, tritt sie denn auch früh in den Dienst der Marktverbreiterung.“ Erfasst von einem alles überschattenden Nachahmungstrieb „wollen sie nun einmal nicht verschieden sein (. . .), sie kämpfen mit Klauen und Zähnen darum, zur Masse zu werden. (. . .) Nie war Uniformierung der jungen Leute durch etwas, was der Uniform stark zu widersprechen scheint, strikter und vollständiger als heute. Die gleichmachenden Gewalten stoßen hier auf keinen Widerstand, ja, es ist, als ob sie sich des scheinbar revolutionären Kostüms bedienten, um daraus die Uniform des Nonkonformismus, des Fortschritts und der Ungebundenheit zu machen. (. . .) Die Jugend (. . .) drängt sich zur Unterwerfung. Es ist, als ob sie das Leben außerhalb des Massenstils keine Sekunde ertragen könnte. Sie kennen nicht Meister noch Lehrer, sie liefern sich der Verlockung aus, die vom Leben in der Masse ausgeht, ruunt in servitudinem, und damit werden sie zu den eifrigsten Hilfskräften einer ungegliederten Gesellschaft, die keinen Platz für den Machtfaktor ,Jugend‘ mehr bietet. (. . .) Die Versuche, die neue Generation zum Ankläger der Väter zu machen, ihr den Geist des Aufstandes zuzusprechen und sie zum Träger eines neuen Zeitabschnittes zu erklären, erweisen sich als aussichtslos, wenn nicht gar reaktionär.“ Zu einer Vertiefung dieser Problematik kommt es in dem einen Monat früher erschienenen Text Kurt Sontheimers. Smends Markierungen beginnen mit einem von Sontheimer eingeschalteten Zitat des deutsch-amerikanischen Theologen Paul Tillich: „,Die westliche technisierte Gesellschaft hat zur Anpassung der Personen an ihre Forderungen in Konsumtion und Produktion Methoden hervorgebracht, die weniger brutal, aber auf die Dauer wirksamer sind als die totalitäre Unterdrückung. Sie entpersönlichen nicht durch Befehl, sondern durch Bereitstellen – Bereitstellen dessen, was individuelle Kreativität überflüssig macht.‘ (Tillich).“ Sontheimer fährt daraufhin fort: „Bemerkenswerterweise entspringt die den Konformismus begründende Praxis der Anpassung aus einer Erziehung, die, verglichen mit autoritären Praktiken von einst, das Kind weit mehr seiner Spontaneität und Freiheit überläßt.“ Jedoch bestehe diese Freiheit nur scheinbar, denn die Autorität der gesamtgesellschaftlichen Verhaltensmuster sei dermaßen übermächtig, dass sie nahezu jeden Spontaneitätsfreiraum ausfülle. „Die Hingabe des Individuums an seine soziale und technische Umwelt, das Aufgehen in ihr, das krampfhafte Bestreben, alles von außen, von den anderen zu übernehmen, drängen den einzelnen dazu, sein Ich an den populären Vorbildern der Stunde zu orientieren, machen ihn zum Konformisten. Das individuelle Gewissen wird schließlich zum Seismographen, der nur noch die Abweichung von der Generallinie zu registrieren hat. (. . .) Es ist charakteristisch für den Menschen in der industriellen Arbeitswelt unserer Gegenwart, daß sich sein Daseinssinn vornehmlich in der Freizeit erfüllt. Die Sphäre der Arbeit ist weitgehend rationalisiert und versachlicht (. . .). Gegenüber den früheren sozialen Bindungen an die
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Nachbarschaft, die Dorfgemeinschaft oder die ständische Lebensform ist der Mensch heute trotz seiner zahlreichen gesellschaftlichen Berührungen viel isolierter, aber er überwindet diese Vereinzelung scheinbar durch das Teilhaben an den Massenkonsumgütern der vielen anderen. Die Macht der Konsumsphäre, die immer neue Wünsche durch psychologische Manipulation des Geschmacks hervorbringt, schafft eine große Anzahl Gleichgesinnter und bewirkt jene tiefgehende Sozialisierung des Interesses und der Meinungen, die wir als Konformismus ansprechen.“ Wir seien es gewohnt, so Sontheimer, diesen Prozess der Angleichung aller an alle unter negativen Vorzeichen zu betrachten. Auch das mute schon fast wie eine konformistische Übereinstimmung an. Aber die Entwicklung, die den Konformismus hervorbringe, habe auch positive Züge: erst die moderne Industriegesellschaft westlichen Typs habe es möglich gemacht, dass viele Menschen aus der Enge ihrer sozialen Umwelt heraustreten, dass einst so unversöhnliche Gegensätze sich abschleifen, dass der Lebensstandard ein Minimum zur Erhaltung der bloßen Existenz überschreitet, dass Selbstentfaltung durch die Freizeit gegeben ist. Die Industriegesellschaft habe nicht nur Vermassung, sondern auch die Möglichkeiten einer gerechteren Sozialordnung zur Folge. „Das eigentliche Problem des Konformismus für den Menschen liegt nicht in der äußeren Angleichung an seine Partner, sondern in der inneren Bereitschaft, mitzutun, was immer auch komme. Indem er sein Inneres ausfüllen läßt von den wechselnden Gestalten der gängigen Konsumproduktion, überantwortet er sich dem gesellschaftlichen Prozeß und ruiniert seine Personhaftigkeit, in der menschliche Eigenständigkeit gründet. Dies ist umso schwerer klarzumachen, als der Betroffene (und dazu gehören in verschiedenen Abstufungen die meisten von uns) sich der konformistischen Abhängigkeit gar nicht bewußt ist und seine Reaktion auf die Reizsuggestionen der Konsumsphäre vermeintlich für freie Entscheidungen hält.“ Nicht aber romantische Heimwehstimmung sei die richtige Antwort, in ihr werde zu leicht die Zwiespältigkeit alter Ordnungen übersehen. „Wie in unserer arbeitsteiligen Welt mit ihren Nivellierungstendenzen dennoch menschliche Autonomie erhalten bleiben kann, wird dann zur entscheidenden Frage. Die Bestimmung des Menschen erschöpft sich nicht im bloß Sozialen. Erst wenn der gesellschaftliche Rahmen und seine Inhalte für den einzelnen verbindlich transzendiert werden, gewinnt er den nötigen Abstand zu seiner Welt, von dem her er dann beurteilen kann, wann er sich anpassen soll und wann nicht. Wird die reine Anpassung zum Gesetz der industriellen Gesellschaft, wie das moderne Soziologen auch als Forderung schon betont haben, dann kreist die Gesellschaft letztlich um sich selbst und überantwortet sich einem blinden Prozeß.“ Das Dilemma bestehe letztlich darin, dass hier alle Ratschläge jenseits der Soziologie lägen. Die Forderung der Autonomie sei schließlich stets ein Appell an Religion oder Metaphysik.
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§ 8 Der Amtsgedanke. – Es ist auffällig, dass unmittelbar von Rudolf Smend beeinflusste Autoren, insbesondere vier seiner Schüler, Ulrich Scheuner, Wilhelm Hennis, Horst Ehmke und Herbert Krüger, sowie Smends Nachfolger auf seinem Göttinger Lehrstuhl, Arnold Köttgen, Smends Auffassung von der Verfassung als einer Ämterordnung besonders stark betont haben. Dies zeigen nicht zuletzt ihre Beiträge zu den Festschriften anlässlich Smends siebzigsten und achtzigsten Geburtstages 1952 und 1962.42 Zu beobachten ist hier, dass insbesondere Hennis, Scheuner und Ehmke auf solche Ämter ihr Augenmerk richten, welche Leitungs- und Koordinierungsfunktionen, also Regierungsaufgaben innehaben, und dass es diesen Autoren, namentlich Hennis, zugleich immer auch um Einsichtnahme in das Verhältnis der regierten Bürger zu den Regierenden geht.43 Smend selbst betont den Amtsgedanken vor allem in seiner Rede zur Reichsgründungsfeier der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin am 18. Januar 1933.44 Die Verfassung als eine Ordnung von Ämtern ist dann wieder ein Hauptgesichtspunkt des Institutionen-Aufsatzes von 1956.45 Von hier aus lässt sich die Überzeugung gewinnen, dass überall dort, wo Smend von Institutionen spricht, eigentlich von Ämtern die Rede ist. Der Amtsgedanke bildet schließlich auch einen zentralen Aspekt in der von Smend stark rezipierten Verwaltungslehre Lorenz von Steins, in Sonderheit in dem ersten Band über die Regierung.46 Und vom Amt – sozusagen „in beiderlei Gestalt“ – ist unstreitig auch die Rede, wenn Smend mit den Worten des Staatsrechtlers und Abgeordneten im preußi-
42 Siehe Rechtsprobleme in Staat und Kirche. Festschrift für Rudolf Smend zum 70. Geburtstag, 12. Januar 1952, Göttingen 1952 (hier insb. den Beitrag von Scheuner, Ulrich: Der Bereich der Regierung, ebd. S. 253–301) und Staatsverfassung und Kirchenordnung. Festgabe für Rudolf Smend zum 80. Geburtstag am 15. Januar 1962, hg. v. Hesse, Konrad/Reicke, Siegfried/Scheuner, Ulrich, Tübingen 1962 (hier insb. die Beiträge von Ehmke, Horst: Staat und Gesellschaft als verfassungstheoretisches Problem, ebd. S. 23–49, Hennis, Wilhelm: Amtsgedanke und Demokratiebegriff, ebd. S. 51–70 und Köttgen, Arnold: Das anvertraute öffentliche Amt, ebd. S. 119–150). 43 Vgl. Ehmke (1962), S. 48 f.; Scheuner (1952) und ders.: Das repräsentative Prinzip in der modernen Demokratie, in: Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit. Festschrift für Hans Huber zum 60. Geburtstag 24. Mai 1961, Bern 1961, S. 222–246 sowie Hennis, Wilhelm: Das Modell des Bürgers (1957), in: ders.: Regieren im modernen Staat. Politikwissenschaftliche Abhandlungen I, Tübingen 1999, S. 24–36; ders.: Aufgaben einer modernen Regierungslehre (1965), in: ebd. S. 142–168; ders.: Regierbarkeit. Zur Begründung der Fragestellung (1977), in: ebd. S. 274–286; ders.: Motive des Bürgersinns (1962), in: ders.: Politikwissenschaft und politisches Denken. Politikwissenschaftliche Abhandlungen II, Tübingen 2000, S. 148–160. 44 Vgl. Smend (31994), S. 322 f. 45 Vgl. ebd. S. 507. 46 Vgl. Stein, Lorenz: Verwaltungslehre. Bd. 1, 1 (Allgemeiner Theil. Das verfassungsmäßige Verwaltungsrecht, Besonderer Theil. Erstes Gebiet. Die Regierung und das verfassungsmäßige Regierungsrecht), Stuttgart 1869, S. 204 ff.
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schen Landtag Friedrich Julius Stahl ein amtsmäßiges Selbstverständnis sowohl der Regierenden, als auch der Regierten beschreibt. Smend hat niemals einem Pluralismus das Wort geredet, sobald dieser in Staatsangelegenheiten die Dynamik der Meinungs- und Stimmungsdemokratie annähme, das Politisch-Sein der Bürger sich, als quasi im Konstitutionalismus steckengeblieben, in Vorteilserwartungen und Nachteilsbefürchtungen erschöpfte. An entscheidender Stelle seines staatsrechtswissenschaftlichen Werkes hat Smend sich dagegen verwahrt, die Verfassungsordnung als eine Halbheit, als etwas ewig Unfertiges, in jeder Hinsicht immer Offenbleibendes und bloß Kompromisshaftes zu sehen, das einem reinen Sollzustand fortwährend hinterherhinke.47 Da für ihn die Verfassungsordnung aber auch keine prästabilierte Harmonie darstellt, so liegt der dynamische Zug innerhalb des Verfassungsdenkens Smends wohl eher in einer (amtsmäßig aufgegebenen) Bewusstseinsleistung, Ganzheit und Einheitlichkeit der Verfassungsordnung als „geistige Wirklichkeit“ fortwährend zu erzeugen. Theoretischer und praktischer Staatsfremdheit, so sah Smend die deutsche Verfassungslage (als Bewusstseinslage!) im Grunde schon 191648, erwüchsen gleichmäßig „die beiden politischen Hauptmängel der Deutschen: unpolitische Staatsenthaltung und ebenso unpolitische Machtanbetung.“ Immer seien es zwei Seiten derselben Sache, des Auseinanderfallens politischer Ethik in Privatmoral und Staatsmoral: „die innere Unsicherheit dem Staat gegenüber, die so zwischen Unter- und Überschätzung des Staates“ schwanke.49 Der rücksichtslosen Privatisierung in eine Staatsferne entspricht der bourgeoise Bürgertypus, dem die Philia und das politische Gemeinwesen als Solidargemeinschaft fremd sind, weil er, wie Rudolf Smend 1933 in Bürger und Bourgeois bemerkt, nur danach trachtet, seine „Schäfchen ins Trockene“ zu bringen.50 Diesem Typus liegt aber, sobald eine Notlage zu drohen scheint, der Ruf nach einer die schleifenden Zügel ergreifenden starken Staatsmacht bedenklich nahe. Wollte man alle öffentlichen Einrichtungen auf diesen Bürgertypus zuschneiden, würden die staatlichen Institutionen leicht Gefahr laufen, auf eine kundenorientierte Dienstleistung reduziert zu werden. Ein normativer und verantwortlicher Begriff von Öffentlichkeit drohte dann abhanden zu kommen.
Vgl. Smend (31994), S. 322 f. Siehe Smends Wort von der Gefahr des Unpopulären der Verfassung in ,Ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat‘ in Smend (31994), S. 39– 59. 49 So Smend dann 1927/28 in ,Verfassung und Verfassungsrecht‘ (Smend (31994), S. 123). Vgl. auch, dieselbe Stelle zitierend, die von Smend betreute Dissertation von Wilhelm Hennis des Jahres 1951: Das Problem der Souveränität. Ein Beitrag zur neueren Literaturgeschichte und gegenwärtigen Problematik der politischen Wissenschaften, Tübingen 2003, S. 47. 50 Smend (31994), S. 323. 47 48
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Friedrich Julius Stahl, so Smends Ausführungen, habe die öffentliche Meinung als Kontrolle der Regierung gerühmt – sofern sie im Stande sei, die Regierung dahin zu zwingen, ihr entweder zu genügen oder aber ihr moralisch überlegen zu sein – und damit auch die amtsmäßige Aufgabe des Staatsbürgers zu würdigen gewusst. Das, was Stahl unter Öffentlichkeit verstehe, bedeute für ihn ein „sittliches Reich“, eine „höhere Realisierung der Idee des Staates“ und ein „wahrer Fortschritt der Zeit“51. Seit der staatsrechtswissenschaftlichen Ära Laband, so Smend 1955, habe „kein noch so demokratischer deutscher Jurist mehr dergleichen gewagt.“52 § 9 Der Staat als Erlebnis. – Der aus der Sicht des Weimarer Methoden- und Richtungsstreits staatsrechtswissenschaftlich relevante Kern der Verfassungslehre Smends ist von ihm selbst wohl am bündigsten in Das Recht der freien Meinungsäußerung, dem Mitbericht auf der vierten Tagung der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer (München, 24. März 1927), beschrieben worden.53 Nicht nur diese Bündigkeit hat wesentlich zu dem hohen Grad an Missverständlichkeit beigetragen54, sondern zudem die von der sich um Smends Verfassungsdenken bemühenden Forschung selten zugegebene Einfachheit. Smend besteht auf dem „im Vergleich mit den einzelnen technischen Rechtsgebieten spezifisch Andere[n], das den Gegenstand des Verfassungsrechts“ bilde, nämlich dem „Lebensvorgang des Staates.“ Diesen fortlaufenden Vorgang praktischer Hervorbringung des Staates als Ganzes regle die Verfassung. Dieses Ganze, die „Erzielung“ einer „Gesamthaltung“, so hatte Smend zuvor in Die politische Gewalt im Verfassungsstaat und das Problem der Staatsformen (1923) konstatiert, sei die eigentlich positive Aufgabe des Bereichs der Regierung.55 Bereits in dem Beitrag Smends zu einer Festgabe der Bonner Juristischen Fakultät, seiner zweiten Wahlrechts-Studie von 1919, hatte Smend in diesem Sinne davon gesprochen, die Verfassungslehre solle sich nicht bloß der „Anatomie“, sondern insbesondere der „Physiologie“ des Staates zuwenden.56 51 Stahl, Friedrich Julius: Die Philosophie des Rechts. Heidelberg 31856, Bd. II: Rechts- und Staatslehre auf der Grundlage christlicher Weltanschauung, Abt. 2, S. 488. 52 Smend (31994), S. 474. 53 Ebd. S. 91. 54 Siehe bereits die Aussprache über die Berichte vom 24. März 1927 in VVDStRL 4, S. 74–97, hier insbesondere die Äußerung des Heidelberger Staatsrechtlers Richard Thoma, Erich Kaufmanns die Rückkehr zur „Substanzialisierung“ des Rechts forderndes Plädoyer (S. 77–82) für die Ausführungen Smends sei für ihn „sozusagen chinesisch.“ Weiter heißt es: „Ich verstehe es einfach nicht und bin durchaus nicht der einzige in diesem Saale, der es nicht versteht. Ich spreche das aus, weil es doch ein beunruhigendes Symptom der gegenwärtigen wissenschaftlichen Situation ist, daß selbst in einem so engen Kreise spezialisierter Fachgelehrter sich eine solche Kluft des Nichtverstehens der Problematik und der Terminologie der einen Gruppe durch die andere Gruppe auftut.“ 55 Smend (31994), S. 83. 56 Vgl. ebd. S. 60.
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Die medizinische Begrifflichkeit war der Staatsphilosophie Schleiermachers geschuldet57; gemeint war: nicht um Statik, sondern um die von der Verfassung angeregten dynamischen Vorgänge müsse es dem Staatsrechtler zu tun sein.58 Denn in einer möglichst großzügigen Klarheit und Deutlichkeit der staatlichen Lebensvorgänge, insbesondere der Regierungspraxis, ist für die Wahrnehmung der aktiv und passiv am Verfassungsleben Beteiligten das Moment „politischen Erlebens“ enthalten.59 Man verkenne die Verfassung, so Smend im Münchner Referat von 1927, sich auf die Weimarer Reichsverfassung beziehend, wenn man sie dahin auslege, dass sie den Staat „als eine unbegreifliche feste Wirklichkeit voraussetze und ihm nun bestimmte rechtsgeschäftliche Willensorgane gebe und bestimmte grundrechtliche Schranken ziehe.“ Fließendem, selbstzweckhaft sich immerfort erneuerndem Leben und Erleben als der eigentlichen Substanz des Staates gebe der erste Hauptteil der Verfassung Formen, in deren „Aktualisierung“ die „alleinige Wirklichkeit“ des Staatslebens bestehe und zu dem die Staatsangehörigen immerfort in Beziehung gesetzt würden; dieses Leben sei ein durch die sachlichen Inhalte des zweiten Hauptteils der Verfassung (insbesondere in Gestalt der Grundrechte) normiertes.60 Ein wesentliches Element des Verfassungslebens moderner politischer Ordnungen, so geht aus der Wahlrechts-Studie von 1919 hervor, bilde „die Verlegung der parlamentarischen Entscheidungen in das Licht der Öffentlichkeit“, denn, so klingt es hier bereits an, die Wirklichkeit des Massenstaates werde erzeugt durch „die wahrhafte Anteilnahme der Staatsbürger, soweit überhaupt möglich, an diesen Entscheidungen.“61 Das in Gestalt der Verhältniswahl und der von den Fraktionen beherrschten Organisation und Verfahren des Parlaments auf „die beiden entscheidenden Stadien des politischen Lebensprozesses“, Parlamentswahl und Parlamentsverhandlung, sich ausdehnende „Proportionalisten“-Denken führe zu einer erheblichen „Einbuße an politischem Erleben“62. Smends politisches Erleben hat nichts von einem erlebnishaft-begeisterungsvollen Nachvollziehen etwa der Taten Friedrichs des Großen63; und Max Webers Mockerie über „das Jagen nach dem ,Erlebnis‘“64 und sein bekannter Vor-
57 Vgl. Wolfes, Matthias: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit, Berlin 2004, Bd. 2, S. 391–417, insb. S. 413 mit Anm. 61. 58 Vgl. Smend (31994), S. 60 und 67. 59 Vgl. ebd. S. 62 f. und 65. 60 Vgl. ebd. S. 91. 61 Ebd. S. 63. 62 Ebd. S. 65 f. 63 Vgl. ebd. S. 346. 64 WL S. 605.
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wurf gegenüber Scheler – „Wer ,Schau‘ wünscht, gehe ins Lichtspiel“65 – trifft Smend durchaus nicht – wenn er überhaupt auf Schelers Denkart passt. Denn von einem passiven Genießen der Taten des „politischen Zauberers“66, einem verpflichtungslosen Zuschauerdasein kann hinsichtlich des Smendschen Erlebnisbegriffs nicht die Rede sein. In Verfassung und Verfassungsrecht gilt die Aufmerksamkeit „der Person des bewußten, aktiven Staatsbürgers“, dessen Problematik in dem Zugehörigkeitsgefühl bezüglich der politischen Gemeinschaft bestehe. Angesichts der Unübersehbarkeit ihres politischen Gehalts fällt es dem Einzelnen schwer, die Totalität des Verfassungslebens in ihrem Zusammenhang zu begreifen. Smend spricht hier von „Techniken der Verstehensermöglichung“, insbesondere von den „Berichten über den Sachgehalt des politischen Gemeinschaftserlebens (. . .), die sich beständig elastisch dem Verstehensbedürfnis des Einzelnen anpassen und ihm das perspektivisch überhaupt mögliche Bild des Gesamtzusammenhanges und damit die Möglichkeit des aktiven Miterlebens geben“. Auch auf den noch so passiv verbleibenden, ja sogar auf den zwischenzeitlich im Schlaf bewusstlosen Bürger erstreckten sich die Möglichkeiten des Erlebens und Verstehens, denn „der aktuelle Erlebnisgehalt [enthält] in sich auch das Vergangene noch als Moment (. . .), ebenso wie die schon angebahnte Zukunft.“67 1943, in der Akademierede Politisches Erlebnis und Staatsdenken seit dem 18. Jahrhundert, konstatiert Smend: Seitdem das Leben in einer politischen und sozialen Welt nicht länger unbezweifelt sei und nicht mehr aus einer unbewussten „Selbstverständlichkeit inneren Lebens in und aus diesen überkommenen Ordnungen und Formen“ vor sich gehe, sei „neben der gedanklichen und willensmäßigen Kritik an diesen Ordnungen auch das seelische Problem der Einordnung in sie entstanden“. Das politische Erleben sei seitdem „bewußt und problematisch.“68 Auch in bundesrepublikanischer Zeit reißt dieses Leitmotiv des verfassungstheoretischen Denkens Smends nicht ab: durch eine „falsche ontologische, statisch-objektivierende Sicht des Staates“ einerseits, durch die Gefahr, „den Menschen dem Staat gegenüber isoliert zu sehen“69 andererseits, werde die Möglichkeit des politischen Miterlebens erschwert und damit der politische Berufsgedanke überhaupt bis nahe an sein völliges Erlöschen verdunkelt. Als Wirkungsstätte des politischen Erlebens erörtert Smend das Problem des Öffentlichen und der Öffentlichkeit (1955). Die „Sozialität der Öffentlichkeit“ sei als 65
RS 1, S. 14. Smend (31994), S. 143. 67 Ebd. S. 132 ff. 68 Ebd. S. 348 f. 69 Politisches Erlebnis und Staatsdenken, in: Gesellschaft – Staat – Erziehung. Zeitschrift für politische Bildung und Erziehung 2 (1957), S. 319. 66
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„wertvoller Selbstzweck“ und „Freiheitssphäre der Einzelnen“ in Deutschland nicht so sehr eine „begriffliche Fahne“ wie etwa, bedingt durch „geschichtliches, lateinisches Erbe“, in Frankreich.70 Der in dem Festvortrag zur Feier des zehnjährigen Bestehens des Bundesverfassungsgericht im Januar 1962 ausgesprochene Gedanke der „Publizitätswirkung“ des höchsten Gerichts im Sinne einer virtuellen Einübung in das Staatsleben stellt eine Kontinuität des spezifischen verfassungstheoretischen Topos Smends her: die Teilnahme des Einzelnen am Verfassungsleben, die bei Smend jedoch nicht an dem Prozess der politischen Willensbildung, sondern auf eine Teilhabebeziehung der Menschen und Bürger an der Idee des Staates orientiert ist. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nach der Paulskirche, so Smend 1943, habe das Staatsdenken, das die Epoche des deutschen Staatserlebens begleitete, vor allem seinen Ort gewechselt: es sei als Aufgabe auf die „betrachtende Arbeit“ der politischen Historiker übergegangen. Die Staatsrechtslehre der Zeit wurde zu einem „positivistischen Formalismus, der im Grunde nur als Denktechnik für Bürokraten brauchbar ist.“ So förderte sie die Neigung, die politische Erziehung allein unter dem Aspekt der „Einsicht in den Machtcharakter von Staat und Politik“ zu gestalten, und begünstigte damit eine Haltung passiver „Bescheidung“ dem Staat gegenüber.71 Diese innere Passivität macht Smend in der Karlsruher Rede von 1962 noch dem Verfassungsleben der Bundesrepublik zum Vorwurf. Das Bedauern hinsichtlich der Schwäche der nationalen Symbole und des Fehlens eines verpflichtenden Geschichtsbildes, die Forderung nach einem normativen Begriff von Öffentlichkeit sowie die Hoffnung auf erlebnishaft-virtuell erfolgende Verfassungsaneignung und Einsicht in den evokativen Charakter der Demokratie erscheinen hier als Wesensmerkmale eines Ethos, dessen Bestimmtheit Rudolf Smend in seinem Göttinger Vortrag Staat und Politik von 1945 angemahnt hat. Kraft einer Ordnung und mit einer Ordnung entstehe und bestehe der Staat, er habe ein Gesetz, das als Recht „mit letzten, über Staat und Staatsmacht stehenden Normen und Ordnungen in Beziehung steht, in Beziehungen, die vielleicht geheimnisvoll, aber jedenfalls tiefgewurzelt sind und nicht ungestraft auf die Dauer verleugnet und verachtet werden dürfen.“72 Mit der Anschauung, als eine Rechtsordnung unterhalte die staatliche Struktur Beziehungen mit „über Staat und Staatsmacht stehenden Normen und Ordnungen“, ist bereits eine Auskunft über die die staatsrechtliche „Einzelarbeit“ Smends „durchgehend bestimmende“ „Gesamthaltung“ gegeben.73 Smend (31994), S. 464, 466 und 468. Ebd. S. 356 f. Erzählerische Beispiele dieser Passivität finden sich im Spätwerk Wilhelm Raabes, so etwa in den Romanen ,Stopfkuchen‘ (1891), ,Die Akten des Vogelsangs‘ (1895) und ,Altershausen‘ (1911). 72 Smend (31994), S. 369. 73 Siehe erneut oben I. Befund § 1, den Brief Smends an Manfred Friedrich vom März 1967 wiedergebend. Vgl. Friedrich (1987), S. 25 f. 70 71
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§ 10 Der Staat als geistige Wirklichkeit. – Erwähnenswert ist das Auftauchen des Namens Rudolf Smends in einem heute – auch auf dem Boden der politischen Wissenschaften – nicht mehr sehr populären Zusammenhang, nämlich in Max Imbodens Buch über die Staatsformen.74 Imbodens zuerst 1959 erschienener Versuch einer psychologischen Deutung staatsrechtlicher Dogmen hat einen klar zu benennenden Ausgangspunkt. Die Preisgabe der klassischen Staatsformenlehre sei gleichbedeutend mit der Preisgabe einer entscheidenden Erkenntniskategorie, an die weder die Christianisierung des antiken Staatsdenkens noch die Aufklärung zu rühren gedacht hätten. Der radikale Bruch mit dem Vergangenen erfolgte nicht zuletzt, weil das Verständnis für das Grundbemühen der klassischen Staatslehre mehr und mehr verschüttet worden sei.75 Der Staat als Abbild der menschlichen Seele und die Wissenschaft vom Staat als eine politische Theorie des menschlichen Individuums – dies, so Imboden, sei der Kern der platonischen Politeia. Er impliziere die Verankerung alles Institutionellen im menschlichen Bewusstsein. Dementsprechend sei auch noch die aristotelische Staatsformenlehre zu verstehen.76 Die von Aristoteles aufgestellten Antwortmöglichkeiten auf die Frage „Wer herrscht?“ – Einer, Mehrere, Viele –, seien nicht rein formal als bloße Anzahlbezeichnungen zu deuten, vielmehr beschrieben sie Bewusstseinsstufen oder Bewusstseinslagen.77 Auf dem Boden dieses Denkens stehe noch der Federalist, in dem Alexander Hamilton (No. 51) die Frage stellt: „But what is government itself, but the greatest of all reflections on human nature?“78 Seit den 1920er Jahren, bemerkt Imboden, seien mehrere Autoren – unter verschiedenen Bezugnahmen und in verschiedener Ausprägung – auf diese wegleitende Grundauffassung zurückgekommen, darunter Rudolf Smend, Dietrich Schindler, Erich Fechner und Hans Marti.79 Martis Studie macht die Ergebnisse der modernen Psychologie für die Deutung der schweizerischen Verfassung fruchtbar.80 Erich Fechners Rechtsphilosophie vermutet in gewissen Archetypen Carl Gustav Jungs den Wahrnehmungsgrund verfassungsmäßiger Ordnungen.81 Dietrich Schindler bemerkt 1932: „Die autokratischen Staatsformen bieten dem 74 Imboden, Max: Die Staatsformen. Versuch einer psychologischen Deutung staatsrechtlicher Dogmen, Stuttgart/Basel 1959, S. 12. 75 Vgl. ebd. S. 9. 76 Vgl. ebd. S. 10 f. 77 Vgl. ebd. S. 15, 25. 78 Zitiert nach The Federalist Papers by Alexander Hamilton, James Madison, John Jay, eingel. u. komm. v. Garry Wills, New York: Bantam Classic 1982, S. 316. 79 Vgl. Imboden (1959), S. 12 f. 80 Marti, Hans: Urbild und Verfassung. Eine Studie zum hintergründigen Gehalt der Verfassung, Bern 1958. 81 Vgl. Fechner, Erich: Rechtsphilosophie. Soziologie und Metaphysik des Rechts, Tübingen 1956, S. 165 ff.
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Volk Halt von außen, die Demokratie verlegt die haltgebenden Momente in die Psyche des Einzelnen“82. Darin klingt auch der zentrale philosophisch-anthropologische Aspekt des Verfassungsdenkens Rudolf Smends an, in einem philosophischen Bemühen das Hauptaugenmerk auf den Erlebnisgehalt staatlicher Ordnungen zu richten. Hier zeigt sich Smends Staatsbegriff, in Sonderheit aber auch sein genuines Verständnis der republikanischen Demokratie, das in keiner Weise die Einzelnen von der Verantwortlichkeit eines „mitlebenden Denkens“ zu entlasten gedenkt.83 § 11 Der symbolische Modus. – Die Problematik legitimierender Leistungsfähigkeit von Symbolisierungen oder symbolischer Repräsentation erscheint wie gemünzt auf die beklagten Legitimationsdefizite moderner Staatlichkeit und interstaatlich sich organisierender politischer Ordnungsgefüge. Das Symbol erscheint in diesem Denken immer als Teil eines rationalen Diskurses, als ein geradezu strategisches Moment der Legitimitätsherstellung. Doch ist nicht zu vergessen, dass Smend „gesteigerte Integrationskraft eines symbolisierten Sachverhalts“ nicht für den Staat – sozusagen als allegorisches Wappenschild – beansprucht und aus dessen Perspektive – quasi als „symbolistische“, rationalkonstruierte Legitimation „von oben“ – „nutzbar“ zu machen trachtet, sondern die von ihm benannten Faktoren symbolischer Integration – die obersten Verfassungsinstitutionen und ihr Zusammenspiel, Staatsfarben, Hymne und Festtage – vielmehr als wertrationale Fülle denkt, die von den Einzelmenschen „mit besonderer Intensität erlebt wird.“84 Kraft des Symbolischen werden Zugehörigkeit zum und Inanspruchnahme des Einzelnen durch den Staat überhaupt erst „tatsächlich möglich“ sowie „sittlich erträglich“.85 Die ethische Eindringlichkeit dieser Formulierung sollte zu denken geben. Der „symbolische Modus“86 speist sich aus Quellen, die keine genuin politisch-staatliche Veranstaltung sind, sondern ein kulturelles Phänomen bedeuten, dessen Gravitationszentrum in der Fähigkeit der Kontemplation (und somit in einer dezidiert nicht bildungsbürgerlich, eher intuitionsartig verstandenen Bildung) liegt.
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Schindler, Dietrich: Verfassungsrecht und soziale Struktur, Zürich 1932, S. 145. Wilhelm Hennis in einem Brief vom 4. August 2005 an d. Verf., Bezug nehmend auf Smends kurzen, die Akademierede von 1943 gleichen Themas zusammenfassenden Aufsatz ,Politisches Erlebnis und Staatsdenken‘ (1957): „Sontheimer – die Demokratie der BRD zum Maßstab aller Dinge nehmend – hatte wirklich kein Verständnis für das ,mitlebende Denken‘ Smends.“ Besonders eindringlich wird die Inaugurierung einer solchen „politischen Anthropologie“ in der Akademierede von 1943 über ,Staatsdenken und politisches Erlebnis‘ gefordert. Vgl. Smend (31994), S. 346 und 361. 84 Smend (31994), S. 163, vgl. ebd. S. 260 ff. 85 Ebd. S. 164. 86 So der Ausdruck Umberto Ecos, um die Verschränktheit symbolischer Zeichen mit ihrem Kontext und dem Umstand ihrer Deutung zu erfassen. Vgl. Eco, Umberto: Über das Symbol (1994), in: ders.: Die Bücher und das Paradies. Über Literatur, München/Wien 2003, S. 150–169. 83
I. Befund
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§ 12 Der Staat als Aufgabe. – Zu den am häufigsten, nicht selten aus dem Kontext gelöst wiedergegebenen Sentenzen aus dem staatsrechtlichen Werk Rudolf Smends gehören die an Günther Holstein und Erich Kaufmann angelehnte Bemühung um die Konstituierung einer „geisteswissenschaftlichen Methode“ für die deutsche Staatsrechtslehre87, die Auffassung von der „Integration als Sinnprinzip der Verfassung“88, die ganz gegen Smends Absicht zu verräumlichenden Vorstellungen einladende bildhafte Äußerung, das „Gefüge“ des Staates befinde sich „in einem fortlaufenden Flusse“89, sowie die die ersten beiden Aussagen verbindende These, dieser andauernde Integrationsprozess sei unter einem dialektischen Gesichtspunkt zu betrachten, dahingehend, dass er den Staat als Ganzes, als eine Einheit, fortwährend neu hervorbringe.90 Seltener dagegen findet sich ein intensiveres Eingehen auf die Diagnose von der Unüberschaubarkeit der Totalität modernen Lebens, insbesondere des modernen politischen Lebens91, auf das damit in Zusammenhang stehende „Hauptproblem“ der Einordnung des Einzelnen in die Fülle des Staatslebens92 sowie auf die These von der „Aufgegebenheit“ des Staates, die beinahe das ganze staatsrechtliche Werk Rudolf Smends durchzieht93 und an zwei Stellen sogar die dringliche Formulierung des „überempirisch aufgegebenen Wesens des Staates“ annimmt94, an anderer Stelle in den Gedanken vom „Staat als Beruf“ eingeht.95 Vgl. Smend (31994), S. 119 und 123–127. Die Einführung des von Herbert Spencer übernommenen Begriffs erfolgt zuerst 1923 in ,Die politische Gewalt im Verfassungsstaat und das Problem der Staatsform‘, siehe Smend (31994), S. 80, dann mehrfach 1928 in ,Verfassung und Verfassungsrecht‘ (siehe Smend (31994), 136–142, insb. S. 120, 189) sowie ebd. S. 475–486 für die von Smend verfassten Lexikonartikel ,Integrationslehre‘ (1956 für das Handwörterbuch der Sozialwissenschaft) und ,Integration‘ (zuerst 1966 für das Evangelische Staatslexikon). Deutlich relativiert in seiner soziologischen Bedeutung wird der Begriff seitens Smend erst in der zweiten Fassung des Art. Integration (vgl. EvStL2, Sp. 1025 f.). 89 Vgl. Smend (31994), S. 91, 129, 132, 145, 165, 167, 190 f., 474. 90 Vgl. ebd. insb. S. 79 ff., 91, 126, 132, 505. 91 Vgl. ebd. insb. S. 132 f., 162 f., 173. 92 Am prägnantesten ebd. S. 505 f. und S. 525: „Die Einordnung des einzelnen in den Staat ist das tiefste Problem der politischen Theorie und Praxis.“ 93 Vor ,Verfassung und Verfassungsrecht‘ andeutungsweise schon in der Tübinger Antrittsrede von 1911 und in der Studie von 1916 über ,Ungeschriebenes Verfassungsrecht‘ (vgl. Smend (31994), S. 36, 37 f. Anm. 18, S. 39 f.), dann in der Monographie von 1928 (vgl. ebd. S. 165, 170, 189 f., 230 ff., 235, 249); als zentrales Thema wieder in dem Vortrag ,Staat und Politik‘ (1945), im Institutionen-Aufsatz von 1956 (vgl. ebd. S. 363–379, 500–516) sowie in dem Art. Staat (1959) im Evangelischen Kirchenlexikon (vgl. ebd. insb. S. 520), schließlich in den beiden Fassungen des Art. Integration im Evangelischen Staatslexikon (vgl. ebd. S. 484 sowie EvStL2, Sp. 1025). 94 Ebd. S. 139 (1928 in ,Verfassung und Verfassungsrecht‘) und S. 369 (1945 in ,Staat und Politik‘). 95 Als Untertitel des Institutionen-Aufsatzes von 1956, ebd. S. 500–516. 87 88
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1. Teil: Die Untersuchungsperspektive
Festzuhalten bleibt, dass gerade diese letzten hier genannten Elemente des Verfassungsdenkens Rudolf Smends, die Unüberschaubarkeit der Totalität modernen Staatslebens und der Berufsgedanke, aufs engste zusammengehören, dass hier, zumal in der These der Aufgegebenheit, eine ungewisse oder ungenau formulierte, jedenfalls nicht leicht bestimmbare, staatstheoretische Wirklichkeitsbezugnahme vor dem Hintergrund eines (zeitbedingt wahrgenommenen) Kulturproblems96 vorliegt, die zugleich die Frage nach ihrer Konstitution sowie nach der ethisch-normativen Bestimmtheit dieser Auffassung staatlichen Lebens aufgibt. Der Schlüssel zu dieser Auffassung ist im Falle Smends nicht in dem diskursiven Feld des Weimarer Methoden- und Richtungsstreits zu finden, und Smends „geisteswissenschaftliche Methode“ hat weniger mit der zeittypischen Universitätsphilosophie zu tun, als vielmehr mit der besorgten, nicht zuletzt dem menschlichen Typus einer neuen Staatsform geltenden Frage des im April 1919 das Zauberberg-Manuskript wiederaufnehmenden Autors nach der „geistigen Zeitbestimmtheit“, der aporetischen „geistig-sittlichen Indifferenz, Glaubenslosigkeit und Aussichtslosigkeit“ der Zeit.97
II. Bemerkungen zur Forschung 1. Zur wissenschaftsgeschichtlichen Perspektive Die Stationen des Lebens Rudolf Smends sowie sein vielschichtiges Werk sind häufig gewürdigt worden.98 Beschäftigungen mit dem Smendschen Verfassungsdenken seitens der Rechtswissenschaft interessieren sich in erster Linie für Smends Rolle in der Staatsrechtslehre und im Methoden- und Richtungsstreit der Weimarer Republik: für die fachspezifischen Anregungen der Integrationslehre sowie für deren Um- und Fortsetzung innerhalb der juristischen Disziplin.99 Zwei von juristischen Fakultäten angenommene Dissertationen haben 96 Bezüglich des alten Goethe schreibt Thomas Mann unter dem Titel ,Das Problem der Freiheit‘: „Schwere sein Alter trübende Kultur-Besorgnisse knüpfen sich ihm an das Zeitalter der Verkehrsfazilitäten, der Geldherrschaft und der Massen, das er heraufkommen sieht“. Zitiert nach TME 5, S. 56. 97 TMT 1918–1921, S. 261 (9. Juni 1919). 98 Vgl. etwa Campenhausen, Axel Frhr. v.: Zum Tode Rudolf Smends, in: JZ 1975, S. 621–625; Huber, Ernst Rudolf: Rudolf Smend. 15. Januar 1882–5. Juli 1975, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen für das Jahr 1976, Göttingen 1977, S. 105–121; Leibholz, Gerhard: Rudolf Smend. Gedenkrede, in: In memoriam Rudolf Smend, Göttingen 1976, S. 15–43. Für eine Zusammenfassung der Smend-Rezeption bis 1945 siehe Kaegi, Werner: Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates. Untersuchungen über die Entwicklungstendenzen im modernen Verfassungsrecht, Zürich 1945, S. 142. 99 Vgl. Badura, Peter: Staat, Recht und Verfassung in der Integrationslehre. Zum Tode von Rudolf Smend, in: Der Staat 16 (1977), S. 305–325 und Korioth, Stefan: Integration und Bundesstaat. Ein Beitrag zur Staats- und Verfassungslehre Rudolf Smends, Berlin 1990.
II. Bemerkungen zur Forschung
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sich bemüht, mittels eines gedankenvollen Nachzeichnens der lebensphilosophischen Bezüge Smends die Integrationslehre vor allem als die Begründung einer neuartigen Staats- und Rechtsphilosophie herauszustellen.100 Die wissenschaftsgeschichtlich ausgerichtete Forschung hat sich bislang darauf verlegt, Smends Rolle im Weimarer Richtungsstreit, sein Verhältnis zu anderen Staatsrechtlern wie Hans Kelsen, Erich Kaufmann, Hermann Heller und Carl Schmitt sowie sein Fortwirken in der bundesrepublikanischen Zeit minutiös darzulegen.101 Hinsichtlich der Rolle Rudolf Smends innerhalb der deutschen Staatsrechtslehre braucht man sich nicht mehr in „wissenschaftsgeschichtliche Unkosten“ zu stürzen. Smends Verhältnis zu der rechtspositivistischen Denkschule des Spätkonstitutionalismus von Carl Friedrich von Gerber über Paul Laband bis zu Georg Jellinek sowie zu der sogenannten Reinen Rechtslehre Hans Kelsens, seine Anleihen bei der materialen Staatslehre Albert Hänels – hierüber besteht Klarheit.102 Smend lehnte es ab, sich als Jurist nur mit dem Staat als Rechtsordnung zu befassen und alle vermeintlich außerjuristischen Argumente – geschichtlicher, politischer, philosophischer, ethischer Art – auszuklammern. Ihm ging es verfassungstheoretisch nicht um den Staat als einen vorausgesetzten festen Bestand, sondern um das Verfassungsleben, einen Prozess, der den modernen Staat als geistige Wirklichkeit fortlaufend neu entstehen lässt. Es kann m. E. heute nicht Aufgabe einer historischen Beschäftigung mit Smends Verfassungsdenken sein, nochmals die verhärteten Positionen des Weimarer Methoden- und Richtungsstreits zu befragen. Es geht also nicht darum, 100 Bartlsperger, Richard: Die Integrationslehre Rudolfs Smends als Grundlegung einer Staats- und Rechtsphilosophie, Univ.-Diss. Erlangen 1964 und Pöschel, Jürgen: Anthropologische Voraussetzungen der Staatstheorie Rudolfs Smends. Die elementaren Kategorien Leben und Leistung, Berlin 1978. 101 Siehe hierzu zunächst Rudolf Smends eigenen Rückblick von 1973 in Smend (31994), S. 620–635, sodann Scheuner, Ulrich: Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in der Zeit der Weimarer Republik, in: AöR 97 (1972), S. 349–374, zudem: Friedrich, Manfred: Der Methoden- und Richtungsstreit. Zur Grundlagendiskussion der Weimarer Staatsrechtslehre, in: AöR 102 (1977), S. 161–209; Rennert, Klaus: Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik. Untersuchungen zu Erich Kaufmann, Günther Holstein und Rudolf Smend, Berlin 1987; März, Wolfgang: Der Richtungs- und Methodenstreit der Staatsrechtslehre, oder der staatsrechtliche Positivismus, in: Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik, hg. v. Nörr, Knut Wolfgang/Schefold, Bertram/Tenbruck, Friedrich, Stuttgart 1994, S. 75–133; Schefold, Dian: Geisteswissenschaften und Staatsrechtslehre zwischen Weimar und Bonn, in: Erkenntnisgewinne, Erkenntnisverluste. Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaft zwischen den 20er und 50er Jahren, hg. v. Acham, Karl/Nörr, Knut Wolfgang/Schefold, Bertram, Stuttgart 1998, S. 567–599; Günther, Frieder: Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970, München 2004. 102 Vgl. Stolleis, Michael: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 2: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800–1914, München 1992, S. 330– 348 (zu Gerber u. Laband), 355–358 (zu Hänel) sowie Stolleis (1999), S. 153–202.
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1. Teil: Die Untersuchungsperspektive
erneut die fachspezifischen, Methodenlehre und formale Probleme der Staatsund Rechtstheorie betreffenden Fragestellungen anzugehen, insofern sie sich auf damalige fachinterne Spaltungen und auf die Versuche bezogen, die Einheit der Disziplin zu wahren oder zu erneuern. Nicht selten verstellte sich die zeitgenössische Diskussion den Zugang zu dem alles Staatsdenken beeinflussenden Kulturproblem der Moderne durch im Methodischen verharrende erkenntnistheoretische Problemaufrisse selbst. Auffällig bleibt, wie sehr die wissenschaftsgeschichtliche Forschung nahezu ausschließlich den methodologischen Ort Smends innerhalb der staatsrechtswissenschaftlichen Disziplin zu benennen versucht, um von dem so bestimmten Standpunkt aus Smends Verfassungstheorie abzuleiten, ohne intensiver der Frage nachzugehen, ob Smends auf die Lebenswirklichkeit bezogene erkenntnistheoretische Auffassungen nicht vielmehr von einer spezifischen philosophisch-anthropologischen Denkart geprägt sind. 2. Zur Problematik des Hauptwerkes Die Monographie Verfassung und Verfassungsrecht von 1928 gilt bis heute als Rudolf Smends gewichtigste, ja definitive Aussage hinsichtlich staats- und verfassungstheoretischer Fragen. In seiner Gedenkrede umreißt Gerhard Leibholz Entstehungsumstände und Rezeption des Buches: „Berlin war in Deutschland zu jener Zeit das Herz der Welt. So erklärt es sich wohl auch, warum Smend später des Öfteren geäußert hat, daß im Grunde genommen die Zeit in Berlin ihn während seines Lebens am tiefsten befriedigt hat. Vielleicht war es auch kein Zufall, daß dieser von Natur aus Gehemmte, Zögernde, immer Tastende, jedes Wort Abwägende gerade in Berlin auf vielfaches Drängen, das ganz verschiedenen Motiven seine Entstehung verdankte, sich damals plötzlich – man könnte fast sagen: abrupt – entschloß, sein Buch: Verfassung und Verfassungsrecht in wenigen Wochen im September/Oktober 1927 auf Grund seiner Zettel-Vorlagen niederzuschreiben. Damit sollte der wartenden und etwas unruhig gewordenen Zunft und darüber hinaus auch einer weiteren Öffentlichkeit die erwartete Aussage zu den Grundsatzfragen gemacht werden, die er zuvor schon in einer Reihe von Einzeluntersuchungen unter verschiedenen Aspekten ,ominös‘ anvisiert hatte. Dieses Buch hat ungeachtet der Kritik, die es erfahren hat, Smend allein in der deutschen Rechtswissenschaft seinen Platz gesichert.“103 Das erwartungsvolle Bedürfnis nach dem klärenden Buch ist Smends Verfassungsdenken vielleicht zu einem rezeptionsgeschichtlichen Verhängnis geworden. Denn das Bedürfnis, das Denken eines prominenten Autors auf ein bestimmtes Werk reduzieren und festlegen zu können, besteht offenbar nach wie vor. Nahezu die gesamte Rezeption des Staatsrechtlers Smend bezieht sich in 103
Leibholz (1976), S. 18.
II. Bemerkungen zur Forschung
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ostentativer Weise primär auf Verfassung und Verfassungsrecht, davor und danach entstandene Schriften werden immer an dem Buch von 1928 abgeglichen, d. h. ihrem Verhältnis zum Hauptwerk nach bewertet. Gerade wenn die Integrationslehre als systematische und apodiktische Theorie aufgefasst wird, gerät man in die Gefahr, den falschen Maßstab an Smends Verfassungsdenken anzulegen. Von dem Buch gänzliche und eindeutige Klärungen akuter und genereller staatsrechtlicher Problematiken zu erwarten, hat zur Folge, dass gerade die Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten des Buches, welche die Smend-Forschung herausgearbeitet hat, überbetont werden, und der Blick auf die philosophischanthropologische und ethisch-normative Essenz verstellt bleibt. Allein der Begriff der Integrationslehre habe Smend seinen Platz in der Rechtswissenschaft gesichert, konstatiert Leibholz. Das soll auch hier nicht bestritten werden. Vermieden werden soll allerdings, das Buch von 1928, in dem die Integrationslehre recht eigentlich entwickelt wird, als vollkommen geschlossenes, keiner Fortentwicklung bedürftiges Werk zu begreifen. In dieser Hinsicht weist die zitierte Passage aus Leibholz’ Gedenkrede aufschlussreiche Details auf. Sie berichtet von der für Smend atypischen Abruptheit der Niederschrift, von der eiligen Zusammenfügung unterschiedlichster, rasch notierter Gedankengänge, zu der Smend „freundschaftlich gedrängt“ wurde, dann von der unruhigen Atmosphäre innerhalb der Staatsrechtslehre, für deren Zunftangehörige das Buch in erster Linie bestimmt war. Die gliederungstechnische Klarheit und Geschlossenheit des Werkes104, zudem sein stets sicher geführter Tonfall vermögen die Entstehungsweise des Buches beinahe vergessen zu machen. Smend selbst verweist auf den wissenschaftlichen Entstehungszusammenhang, die fachinterne Motivation des Buches, den Schulstreit um die Einbeziehung der bereits von Georg Jellinek durchaus gesehenen, aber nicht unbedingt zum Aufgabenfeld der juristischen Staatswissenschaft gerechneten soziologischen Realität des Staates, sowie auf den vehementen Widerspruch gegenüber der neukantisch geprägten gesetzespositivistischen Lehre Kelsens, welche die politische Wirklichkeit des Staatslebens vollkommen negiere. Der für Smends Arbeitsweise und Temperament ungewöhnliche Anspruch, die systematische Darstellung einer geschlossenen und entschiedenen Staats- und Verfassungstheorie vorzulegen, ist also wissenschaftsgeschichtlich bedingt, d. h. durch die strukturelle Eigentümlichkeit des staatsrechtlichen Richtungs- und Methoden104 ,Verfassung und Verfassungsrecht‘ ist in drei größere Abschnitte eingeteilt, der erste Abschnitt wiederum in neun, der zweite und dritte Abschnitt in jeweils sechs Unterpunkte. Die Abfolge der drei großen Abteilungen ist ebenso lapidar wie einleuchtend: nach einer methodischen und staatstheoretischen Grundlegung folgt die Beschäftigung mit der Verfassungstheorie. In der dritten Abteilung, den positivrechtlichen Folgerungen, werden dann die sechs Unterpunkte der zweiten Abteilung der Reihe nach wieder aufgenommen. Es kann also, auch bedingt durch die Zahlenkombination 3 – 6 – 9, von einer gewissen Symmetrie gesprochen werden.
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1. Teil: Die Untersuchungsperspektive
streits. Zentrale Aspekte des Smendschen Denkens könnten sich jedoch als nicht ausschließlich aus wissenschaftsendogenen Entwicklungen verstehbar erweisen. Zu sehr in dem Rahmen des Methodenstreits verbleiben m. E. Untersuchungen der Rekurse Smends auf die Dilthey-Schule, namentlich auf die Kulturphilosophie Theodor Litts. Litt scheint für die Smend-Forschung zum unvermeidlichen Geßler-Hut geworden zu sein, beinahe so wie Rickert für die Weber-Forschung.105 Anlass zu derartigen Untersuchungen bieten vor allem die ersten drei Kapitel von Verfassung und Verfassungsrecht („Die Krisis der Staatslehre“, „Methodische Grundlagen“ und „Der Staat als realer Willensverband“)106, die sich um die Erarbeitung einer Grundlage für die Staatsrechtslehre, einer „geisteswissenschaftlichen“ Staatstheorie, bemühen. Universitäts- und wissenschaftsgeschichtlich ist diese Bezugnahme sicherlich von Interesse, hinsichtlich der Rezeption der speziellen Ausprägung des Smendschen Verfassungs- und Demokratieverständnisses wirkt sie eher verschleiernd. Bezeichnend für die Form der Geistesgeschichte, wie die Lebensphilosophie der Dilthey-Schule sie versteht, ist ja die Betonung der Gesamtheit der verschiedenen Aspekte des kulturellen Lebens – sozialer, ökonomischer, politischer, religiöser, künstlerischer Art. Bei Litt ist diese Einheit jedoch eine aprioristische Forderung, die immer in der Gefahr steht, abstrakte Auffassungen von der Welt und vom menschlichen Leben zu hypostasieren. Der von Smend entwickelte Begriff der individuellen Erlebbarkeit des Politischen ist allerdings geprägt von der Vorstellung einer potenziell vorhandenen Vernetztheit kultureller Vorgänge. Diese Vernetztheit erscheint hier jedoch nicht als strukturelle Voraussetzung, sondern als eine spezifisch moderne Bewusstseinsleistung des Menschen. Insbesondere Smends Beschreibungen des politischen Erlebnisses und Symbols sind aus einer aporetischen Notlage erwachsen; der Erlebnisbegriff, als ein Ausdruck der Aufgegebenheit und der gewissermaßen schöpferischen Teilhabe der Einzelnen am Staat, bleibt ethisch gebunden an „höhere“, „über Staat und Staatsmacht stehende Normen und Ordnungen“.107 Theodor Litts Denkweise vom „geschlossenen Kreis“ ist dagegen ein Konzept unproblematischer kulturtheoretischer Immanenz. Um sich dem Bereich des Politischen aus verfassungsrechtlicher Sphäre zu nähern, bedurfte es eigentlich keines philosophischen „Vorspiels im Himmel“, wie Wilhelm Hennis ironisch unterstrichen hat. Hennis hebt zudem hervor, dass Litt keinerlei Rolle in Smends Göttinger Lehre unmittelbar nach dem Neubeginn des Universitätslebens gespielt habe.108 Dem entsprechen nicht nur Smends Selbstkorrekturen und die hierbei eingestandenen Mängel der Integra105 106 107
Vgl. Hennis (1987), S. 183 ff. sowie Hennis (1996), S. 204 ff. Vgl. Smend (31994), S. 121–135. Ebd. S. 369.
II. Bemerkungen zur Forschung
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tionslehre109, sondern darüber hinaus die Tatsache, dass Smends übrige Schriften völlig frei sind von Rekursen auf die universitätsphilosophische Sprache (nicht jedoch von philosophischen Reflexionen!) und den damit verbundenen erkenntnistheoretischen Legitimationsbemühungen „geisteswissenschaftlicher“ Forschung. Warum aber dann die Bezugnahme auf Litt? Sie ist verständlich im Hinblick auf die oben geschilderten Entstehungsbedingungen der Monographie von 1928. Smend wünschte mitzusprechen in der prinzipiellen Auseinandersetzung um die methodische Grundlegung einer sich wandelnden Staatsrechtswissenschaft. Gleich die erste Fußnote in Verfassung und Verfassungsrecht, der Verweis auf Günther Holsteins Bericht von der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 1926 in Münster110, macht die Motivation der methodischen Kapitel deutlich. Holsteins Bericht geht weit über eine bloße Zusammenfassung der Münsterschen Referate hinaus, erkennbar wird dies sogleich in der Art der Präsentation, dem für die Veröffentlichung gewählten Ort111 sowie in der für einen Tagungsbericht ungewöhnlichen Hauptüberschrift Von Aufgaben und Zielen heutiger Staatsrechtswissenschaft. Holstein versucht hier, nicht nur „die all108 Hennis (1999), Integration durch Verfassung?, S. 494. Hennis ist der Überzeugung, dass Smend sich mit dem Rekurs auf Litt eine weitreichende Anerkennung der Integrationslehre versperrte. Wenn er sein Verfassungsdenken stattdessen mit der Soziologie Max Webers in Verbindung gebracht hätte – konsequent modifiziert und weitergedacht – „wäre er heute vermutlich ein weltweit diskutierter Autor der Staats- und Verfassungstheorie“. Auf Grund seiner Beziehungen zur Familie Smends ist Hennis in der Lage, in diesem Zusammenhang eine ebenso amüsante wie aufschlussreiche Anekdote zu berichten. Zitiert wird aus einem an ihn gerichteten Brief Rudolf Smends jr., des Göttinger Alttestamentlers und ältestem Sohn (Jg. 1932) Smends, vom 23. 8. 1998: „Meine Eltern besuchten mich in Bonn, wohl 1960. Ich habe die Szene so in Erinnerung. Wir wandelten alte Wege, wobei mein Vater im Traum nicht auf den Gedanken kam, Litt aufzusuchen, den er wohl bei ,Bonn‘ überhaupt nicht assoziierte. Als wir durch den sonnigen Hofgarten schlenderten, sah ich plötzlich Litt auf einer Bank sitzen. Ich sagte es meinem Vater, der ihn möglicherweise gar nicht erkannt hätte, und der vorsichtig kehrt machte und ungefähr sagte: ,Das ist ja nicht nett von mir, aber er ist für mich doch sehr lange her, und richtig interessiert hat er mich wohl nie.‘ Am Abend dann noch eine Anmerkung der Art: wie schön doch der Tag gewesen sei und wie gut, daß er nicht durch eine mühsame Unterhaltung mit Litt verdorben worden wäre. Auch das ja nicht nett!“ Er, Hennis, fände es auch „nicht nett“, dass „sein Smend“ die Verständnisbemühungen um sein Werk auf derartige Umwege geschickt habe. 109 In dem 1956 für das Handbuch der Sozialwissenschaften verfassten Artikel ,Integrationslehre‘ schreibt Smend (31994), S. 480 f.: „Hier bedarf sie nachdrücklicher Richtigstellung des Mangels schon im Ansatz, daß sie im Anschluß an die Denkweise Theodor Litts die gegenständliche Verschiedenheit problematisch aufgegebenen Verfassungslebens von Litts kategorialer und zunächst am unproblematischen geschlossenen Kreise der Sprachgemeinschaft ausgerichteter Darlegung nicht genügend berücksichtigt.“ 110 Ebd. S. 121. 111 Der Bericht erschien in der ersten Neuen Folge des Archivs des Öffentlichen Rechts (bis 1921 Archiv für Öffentliches Recht), das Smend ab 1926 mit herausgab.
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1. Teil: Die Untersuchungsperspektive
gemeine geistige Situation der Tagung“, sondern „die wissenschaftliche Situation der Jurisprudenz unserer Tage“ überhaupt zu umreißen. Das Gefühl des Ungenügens gegenüber der positivistischen Methode müsse zu ihrer Überwindung führen, und zwar „durch eine andere Methode höherer Ordnung“112. Die in Erich Kaufmanns bekenntnishaftem Referat113 ausgedrückte Forderung einer naturrechtlich-inhaltlichen Wendung „vom Rechtspositivismus zum Rechtsidealismus“ bezeichnet Holstein als „gleichbedeutend mit der Wendung von der begrifflichen Formalistik zur geisteswissenschaftlichen Methode“. Angelegentlich ihrer genaueren Kennzeichnung beließ es Holstein dabei, dass sie „die ideengeschichtlichen Zusammenhänge unserer Rechtskultur bewußt als Erkenntnisquelle für die Erfassung des politischen Rechts und die Herausarbeitung seiner tragenden Rechtsgedanken fruchtbar zu machen“ versuchen solle.114 Von der Forderung eines grundsätzlichen Methodenwandels fühlte sich beinahe die gesamte Zunft angesprochen. Angeregt durch Holstein bemühten sich unter anderen Hermann Heller115, Heinrich Triepel116, Richard Thoma117, Hans Kelsen118, Erich Schwinge119 und Gerhard Leibholz120 um Antwort und Lösung. Und gerade dadurch zerfiel die Disziplin in individuelle Zugangsmöglichkeiten zu ihrem gemeinsamen Gegenstand. Denn auf Grund der angespannten Lage blieb eine gewisse messianische Stilisierung nicht aus und sorgte erst recht für die Unvereinbarkeit und Gespaltenheit der Zunft.121 Auch Smend fühlte sich wohl verpflichtet, Holsteins Forderung ein eigenes Konzept folgen zu lassen. Es lag nicht fern, die Valenz, welche die knappe Charakterisierung der „geisteswissenschaftlichen Methode“ in Holsteins Bericht erzeugt hatte, mit einer Art systemphilosophischem Ansatz zu füllen; es bestand die Aussicht, dass ein solcher am ehesten eine allgemeine Akzeptanz finden würde. Aus universitätsinternen 112 Holstein, Günther: Von Aufgaben und Zielen heutiger Staatsrechtswissenschaft, in: AöR 11 (1926), S. 28. 113 Vgl. VVDStRL 3 (1927), S. 2 ff. 114 Holstein (1926), S. 31. 115 Vgl. die ersten Reaktionen in Heller, Hermann: Die Souveränität. Ein Beitrag zur Theorie des Staats- und Völkerrechts, Berlin/Leipzig 1927, S. 78 und in den dreißigseitigen Bemerkungen zur staats- und rechtstheoretischen Problematik der Gegenwart, in: AöR 16 (1929), S. 321 ff., dann die erneute Aufnahme von Holsteins Forderung in der ,Staatslehre‘, Leiden 1934, S. 259 ff. 116 Vgl. Triepel, Heinrich: Staatsrecht und Politik. Rede beim Antritte des Rektorats der Friedrich Wilhelms-Universität zu Berlin am 15. Oktober 1926, Berlin/Leipzig 1927, S. 37. 117 Vgl. HStR I, S. 5. 118 Vgl. Kelsen (1930), S. 3. 119 Vgl. Schwinge, Erich: Der Methodenstreit in der heutigen Rechtswissenschaft, Bonn 1930, S. 6. 120 Vgl. Leibholz, Gerhard: Zur Begriffsbildung im öffentlichen Recht, in: Blätter für Deutsche Philosophie 5 (1931), S. 175 ff. 121 Vgl. die ausführlichen Schilderungen bei Stolleis (1999), S. 171 ff. und Friedrich (1977), S. 191 ff.
II. Bemerkungen zur Forschung
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und, wenn man so will, „wissenschaftskommunikativen“ Gründen also fiel die Wahl auf Theodor Litts Individuum und Gemeinschaft (21924/ 31926). Freilich: Die formgebende Idee eines dialektischen, in fortlaufendem Flusse befindlichen Gefüges, war ein für Smend anziehendes Element der Diltheyschen Hermeneutik. Aber sie war darin ein einzelner Aspekt, eine in der Philosophiegeschichte seit langem vorhandene Denkweise, die Smend auch der Wissenschaftslehre Fichtes122 oder der Phänomenologie Husserls hätte entnehmen können. Die über kultursoziologisches Systemdenken hinausgehende, mehr lebens- und berufsethisch zu deutende These Litts vom „wesensgestaltenden Zusammenhang“123 mag Smend zusätzlich ermutigt haben, vom „überempirisch aufgegebenen“ Wesen des Staates sowie von dem fortdauernden Flusse, in dem sich das Staatsgefüge befinde, zu sprechen. Die in dem Bild zum Ausdruck kommende Prozesshaftigkeit sollte jedoch nicht überbetont werden, von Interesse ist diese zu dauerndem Prozess anregende Organisationsform für Smend allein als Lebensordnung, in der der Mensch die Aufgegebenheit des Staates als „geistiger Wirklichkeit“ erfahren kann. Die Universitätsphilosophie wäre eine unzureichende Gewähr für diese Anschauung; ihr kulturgeschichtlicher und philosophischer Boden ist an anderem Ort zu suchen. 3. Zur Smend-Forschung Was hat die neuere Smend-Forschung zu dem eigentümlich wertorientiert staatliche Wirklichkeit erfassenden Aspekt des Verfassungsdenkens Rudolf Smends zu sagen, zu dem also, was sich in der These der Aufgegebenheit des Staates zusammenfassen ließe? Besonders zwei sich mit Smend beschäftigende jüngere Publikationen sind hier heranzuziehen: das aus dem DFG-Schwerpunktprogramm „Theorie politischer Institutionen“ hervorgegangene, von dem Berliner Politologen Gerhard Göhler herausgegebene Buch Institution – Macht – Repräsentation (1997) sowie der Sammelband Die Integration des modernen Staates. Zur Aktualität der Integrationslehre Rudolf Smends (2005), herausgegeben von dem Hamburger Soziologen Roland Lhotta. Es ist allerdings zu bemerken, dass von den hier gesammelten Abhandlungen im Hinblick auf den oben angesetzten Versuch einer Synthese der Leitmotive des staatsrechtlichen Werkes Rudolf Smends unter Berücksichtigung der gekennzeichneten zeittypischen Konstatierung des Kulturproblems der Moderne nur begrenzt Anregungen ausgehen.
122 Tatsächlich spricht Smend – ohne konkrete Bezugspunkte zu nennen – bereits 1919 (Smend (31994), S. 64) im Hinblick auf das Wesen des Politischen von der ,Unterredungskunst‘ und ,Logik des Widerspruchs‘ im Sinne ihrer immanent-schöpferischen Prägung. 123 Litt, Theodor: Individuum und Gemeinschaft. Grundlegung der Kulturphilosophie, Leipzig 31926, S. 239.
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1. Teil: Die Untersuchungsperspektive
Die Begründung des Interesses für Rudolf Smend seitens interdisziplinär ausgerichteter Projekte historisch-soziologisch-politologischen Charakters liegt auf der Hand. Gerade die leicht herzustellende Nähe des Verfassungsdenkens Smends zum Legitimitätsproblem lässt die Integrationslehre in einem Licht außerordentlicher „Aktualisierbarkeit“ erscheinen. Und dennoch kann sich aus diesem Ansatz m. E. bereits die Gefahr eines Missverständnisses ergeben. Bedenklich würde es in dem Moment, in welchem die geschichtswissenschaftliche und die politologische Forschung daran gingen, Smend zu „operationalisieren“, d. h., ihn vordergründig zu rezipieren, ihn auf „Anschlussfähigkeit“ hin abzuklopfen und sich disparate Werkstücke in ihr „Netzwerk“ von Kategorien unterschiedlichster Provenienz einzuverleiben. Einen frühen Fall stellt die Rezension des Verfassungshistorikers Otto Hintze von Smends Verfassung und Verfassungsrecht dar. Hintze vermisst in dem Buch eine Erörterung zu „der eigentlichen historischen ,Staatsbildung‘“. Dieser Umstand mache Smends Theorie „für die historische Betrachtung des Staates und seiner Verfassung ziemlich unfruchtbar; denn dem Historiker kommt es gerade auf die ,Staatsbildung‘ an, auf die in größeren Zeiträumen sich vollziehenden Veränderungen, durch die aus kleinen, vielleicht noch gar nicht seßhaften Stämmen ein großes Volk mit einem festen Staatsgebiet wird; dieser äußeren Staatsbildung aber entspricht (. . .) auf Schritt und Tritt die innere Verfassungsentwicklung. Solche Zusammenhänge werden durch die Integrationstheorie Smends kaum berührt.“124 Pointiert wiedergegeben ist hier das eigene verfassungsgeschichtliche Forschungsprogramm, und erstaunlich bleibt, wie selbstverständlich Hintze die Erwartungen an Smends Buch ganz nach den eigenen disziplinären Bedürfnissen ausrichtet und dabei, verführt sicherlich durch den unklar formulierten Anspruch, die qualitativen Fragestellungen Smends verfehlt. Besteht aber die absichtsvolle Durchsicht des Smendschen Werkes auf „Operationalisierbarkeit“ hin, mehr oder weniger deutlich ausgesprochen, von Anfang an, bedeutete das letztlich immer ein Loslösen des Verfassungsdenkens Smends aus seiner historischen Umgebung, aus den entscheidenden „biographischen“ Momenten des Werkes; es wäre kein Verstehen im eigentlichen Sinne mehr. Kaum ein anderes Gebiet heutiger Wissenschaft hat sich einen Fortschrittsglauben (in seiner Selbstreferenzialität) naiver Art so sehr bewahrt wie die Wissenschaftsgeschichte.125 Überall meint die Rezeption, oft unter weitgehender Ausblendung des historischen Kontexts, das Feld schon für die eigenen Forschungsinteressen bereitet, überall meint sie „Anschlussfähigkeiten“ finden zu können. Mit seiner Anleihe bei Herbert Spencer hinsichtlich des IntegrationsbeHintze (21964), S. 236. Zu dieser Problematik siehe Collini, Stefan/Winch, Donald/Burrow, John: That noble Science of Politics. A study in nineteenth-century intellectual history, Cambridge: University Press 1983, S. 3 ff. 124 125
II. Bemerkungen zur Forschung
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griffs hat Smend es der wissenschaftsgeschichtlichen Rezeption freilich leicht gemacht, sein Verfassungsdenken in einen Zusammenhang mit der Entwicklung der modernen Soziologie zu bringen, ihn ohne weiteres, wenn auch nicht explizit, als staatsrechtswissenschaftlichen Baustein in der Linie Comte, Spencer, Durkheim, Luhmann unterzubringen. Die politologische Auseinandersetzung mit Smend ist, neben der rein wissenschaftshistorischen Darstellung, die aktivste Beschäftigung in dieser Richtung. Sie ist in erster Linie an der Begrifflichkeit der Integrationslehre interessiert, es geht ihr um die Systematisierung des Smendschen Verfassungsdenkens im Hinblick auf die Bandbreite der politischen Theorie.126 Sicherlich ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass, um eine Anmerkung Max Webers zu paraphrasieren, die Wissenschaft politischer Theorien sich gegenüber der von Smend gebrauchten Terminologie nicht ebenso verhält „wie etwa gegenüber seiner Zahnbürste“127. Dennoch darf die aus dem oben beschriebenen Befund hervorgehende ideengeschichtliche Befassung mit Rudolf Smend, die mit dem Vorhaben antritt, sein Verfassungsdenken insbesondere unter dem als „anthropologisch“ gekennzeichneten Gesichtspunkt der Aufgegebenheit zu untersuchen, sich nicht scheuen, eine allzu freie, vom historischen Zusammenhang losgelöste Rezeptionsweise kritisch zu hinterfragen. Kaum zulässig wäre es, Rudolf Smend mit Theorien in engste Beziehung zu setzen, die sich im Hinblick auf das heutige Verfassungsleben nicht mehr für die Beschaffenheit und Qualität Regierender und Regierter überhaupt zu interessieren scheinen, sondern versuchen, Legitimationsmöglichkeiten einzusetzen und auszuschöpfen, die sie als irgendwo im gesellschaftlichen „System“ vorrätig glauben. Inwieweit führt die Umschau nach Legitimationsformen, seien es „Verfahren“, „Symbole“ oder „Rituale“, die Analyse dieser Formen, ihr ständiges Hochgehalten- und Hinzugestelltwerden und das gleichgültige Geschehenlassen verschiedenster Beschlüsse in ihrem Namen, inwiefern also führt diese Vorgehensweise, den sittlich-praktischen Charakter des Symbolischen außer Acht lassend, nicht zu Aushöhlung und Veralltäglichung der legitimierenden Kraft, darüber hinaus zu tragischen Ermächtigungen Einzelner oder politischer Gruppierungen unter dem Schutzmantel des Institutionell-Symbolischen und letztlich zu dem, was Smend, der der Auffassung war, das Subjekt lasse sich keinen Inhalt aufzwingen, der nicht ihm selber einsichtig wäre, die „letzte innere Unbeteiligung am Staat“128 nannte? Im Zusammenhang mit der Institutionenforschung129 wird Smends Verfassungsdenken mit sozial- und zeichentheoretischen Texten von Ernst Cassirer, 126 So schon Mols, Manfred: Integrationslehre und politische Theorie, in: AöR 94 (1969), S. 513–553. 127 GPS S. 64 Anm. 1. 128 Smend (31994), S. 122. 129 Vgl. insb. die folgenden Beiträge aus Institution – Macht – Repräsentation. Wofür politische Institutionen stehen und wie sie wirken, hg. v. Gerhard Göhler u. a.,
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1. Teil: Die Untersuchungsperspektive
Arnold Gehlen, Hannah Arendt, Norbert Elias, Pierre Bourdieu und Umberto Eco kombiniert130, um „analytische“ Begrifflichkeiten im Hinblick auf die Wirkung politischer Institutionen zu gewinnen. Auf diese Tendenz zur „Operationalisierung“ ist bereits verwiesen worden, und erst auf den zweiten Blick zeigt sich, dass Smend der Institutionenforschung vielleicht weniger entgegenkommt, als diese annimmt.131 Die Auseinandersetzung mit der institutionstheoretischen Rezeptionsweise Rudolf Smends kann an dieser Stelle nur eine kritische sein, insofern diese Richtung der Smend-Forschung intendierte, in der „Integration des Staates“ oder der „Integration zum Staat“ etwas „Herzustellendes“ zu sehen, eine „autopoietische“ Leistung der Institutionen, und nicht eine Aufgabe, einen Lebenswert. Wenn politische Institutionen als „Regelsysteme“ begriffen werden132 und wenn die „Funktionsweise“ der Repräsentation darauf reduziert wird, Institutionen „auf Dauer zu stellen“, basiert diese Anschauung auf dem gängigen techne-Begriff, vom „Herstellen“ staatlicher Einheit als eines politischen Legitimationszusammenhangs ist hier die Rede. „Hergestellte“ Integration als positive Legitimität ist bei Smend durchaus keine Voraussetzung für die politische Einheit, wie Gerhard Göhler annimmt, sondern mit dem Begriff der Integration wird versucht, das verfassungsrechtlich angeregte Lebensprinzip dieser politischen Einheit zu erörtern. Göhler scheint sich in diesem Punkt nicht ganz sicher zu sein, denn er widerspricht seiner eigenen Einschätzung, wenn es einige Sätze später heißt, die politische Einheit konstituiere sich im Integrationsprozess, sie setze diesen also keineswegs voraus. Zutreffend ist somit die Feststellung, dass Integration immer wieder neu vollzogen werden müsse, eben als Aufgabe.133 Problematisch ist der symbol-
Baden-Baden 1997: Göhler, Gerhard: Der Zusammenhang von Institutionen, Macht und Repräsentation, in: ebd. S. 11–64, insb. S. 35 f., 54 f., 57; Berthold, Lutz: Die beiden Grundbedeutungen des Repräsentationsbegriffs, dargestellt an Autoren aus dem Umfeld der Weimarer Staatslehre, in: ebd. S. 363–375, insb. S. 368 f.; ders.: Der Beitrag der Integrationslehre Rudolf Smends zur Theorie politischer Institutionen, in: ebd. S. 563–576; Speth, Rudolf: Die symbolische Repräsentation, in: ebd. S. 433–475, insb. S. 447 f. 130 Vgl. Göhler (1997), S. 35 f., 54 ff. 131 Siehe schon Smends eigene Einschätzung im Institutionen-Aufsatz von 1956, Smend (31994), S. 516. Zuweilen tendiert die politologische Annäherung an die Integrationslehre zu einer gewissen Inkongruenz, indem sie Smends Verfassungsdenken an aktuellen Politik- und Demokratietheorien misst, um zu dem Ergebnis zu gelangen, Smends Thesen seinen mit „modernem Demokratieverständnis“ weitgehend nicht vereinbar. Siehe Bauer, Wolfram: Wertrelativismus und Wertbestimmtheit im Kampf um die Weimarer Demokratie. Zur Politologie des Methodenstreits der Staatsrechtslehrer, Berlin 1968; Lehnert, Detlev: Die Weimarer Staatsrechtsdebatte zwischen Legendenbildung und Neubesinnung, in: APuZ 51 (1996), S. 3–14 sowie z. T. auch Lhotta, Roland: Rudolf Smend und die Weimarer Demokratie Diskussion. Integration als Philosophie des „Als-ob“, in: Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, hg. v. Christoph Gusy, Baden-Baden 2000, S. 286–325. 132 So bei Berthold (1997), Beitrag der Integrationslehre, S. 563.
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und institutionstheoretische Ansatz, weil offen bleibt, ob der Staat allein schon in dem Symbol besteht; aber selbst die Annahme, der Staat als „geistige Wirklichkeit“, wie Smend sagt, liege in der Interpretationstätigkeit, der „Kommunikation“, liefe an Smends Verfassungsdenken vorbei, insofern nicht nach dem „subjektiven Gestimmtsein“134 in solchen Kommunikationsformen und darüber hinaus nach deren ethisch-normativer Bestimmtheit gefragt werden würde. Bei Lutz Berthold kommt es zu einer Verkürzung des Verfassungsdenkens Smends auf den Faktor sachlicher Integration.135 Berthold spricht zusammenfassend von „symbolischer Integration“; diese soll aus dem „Gesamt der Integrationslehre“ – das allerdings nirgendwo vorzustellen versucht wird – herausgelöst werden.136 Die Auffassung von der bloßen symbolischen Darstellung gemeinsamer Werte bleibt vollkommen statisch; wie diese Wertvermittlung konkret aussehen soll, darüber schweigt die Institutionenforschung sich aus. Berthold erkennt auch, dass das, was in dieser Weise aus Smend „herauszuholen“ ist, nichtssagend bleibt, denn im weiteren Sinn können alle politischen Vorgänge als „symbolisch“ wirkend angesehen werden, „da in ihnen immer irgendwie ein Wertgehalt zum Ausdruck kommt.“ Eben hier liegt die Gefahr, vermeintliche politische Symbole zu kreieren, um auf diesem Weg unterschiedliche Legitimationsgeltungen einzuholen. Berthold interessiert sich ausschließlich für den „analytischen Gehalt“ des Integrationsbegriffs; es geht der Rezeption erklärtermaßen um die Funktionsweise von politischen Institutionen, nicht um ihren Wert.137 Als bloße „soziologische Kategorie“138, als unbeteiligtes Beschreibungsmittel empirischer Wirklichkeit, hatte Smend Integration ausdrücklich nicht verstehen wollen.139 Aber bezüglich der Frage, ob Integration „aufgegeben“ sein könne, ob Integration bei Smend somit als juristische Kategorie „normative[r] Verkündigung“140 zu verstehen sei, bekundet die Institutionenforschung ihre Probleme. Es lässt sich der Eindruck gewinnen, sie hielte alles, was kulturgeschichtlich zur conditio humana, der „geistigen Not der Zeit“ in der Phase nach 1918/19, gesagt werden könnte, geradezu für unwissenschaftliche Rührseligkeit: es gebe, 133
Vgl. Göhler (1997), S. 35. Smend (31994), S. 353. 135 Berthold (1997), S. 369. 136 Berthold (1997), Beitrag der Integrationslehre, S. 564. 137 Vgl. ebd. S. 563, 574. 138 Ebd. S. 566 und 567. 139 Vgl. EvStL 21975, Sp. 1026. 140 So Smend in der meist wenig beachteten Erörterung ,Das Problem der Presse in der heutigen geistigen Lage‘ (1946), siehe Smend (31994), S. 380–390, Zitat S. 384. Aufgabe der Wissenschaft, so heißt es hier, sei nicht nur „Konstatierung“, sondern ebenso „eine richtungsweisende Stellungnahme, nicht zuletzt auch zur politischen Wirklichkeit.“ 134
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1. Teil: Die Untersuchungsperspektive
so heißt es, „kaum eine überzeugende Begründung“ für die „normative Aufladung des Integrationsbegriffs“.141 Von der Auffassung, „soziale Gestaltungen“ – nicht bloß als Begriff, sondern als die lebendige Sache einer Freundschaft, einer Ehe oder eben auch des Staates – trügen ihren Wert in sich selbst, sie seien ein An-Sich-Wertvolles, möchte Berthold nichts wissen. Woher erhalten aber „soziale Gestaltungen“ ihren Wert? Der sich selbst als „wertkritisches Bewusstsein“ bezeichnenden Position, die sich gegen die von Smend vertretende „Selbstzweckdienlichkeit“142 politisch-institutionellen Handelns wendet, ist hinsichtlich des eigenen Maßstabes eine Unklarheit eigentümlich, derer man sich nur nicht bewusst werden möchte, um nicht auf naturrechtliche Abwege zu geraten.143 Kaum verwunderlich, dass an dieser Stelle die Smend-Kritik Kelsens herbeizitiert wird.144 In der Tat werden bei Smend – auf „staatstheologische“ Weise, wie Kelsen meint – politisch-praktische Grundanschauungen in die Staatsrechtslehre hineingetragen – eben darum drehte sich ja der Weimarer Richtungsstreit –, aber als eigentlicher materialer Gehalt des öffentlichen Rechts, nicht um Handeln extra legem zu rechtfertigen. Das „wertkritische Bewusstsein“, dass sich dagegen ausspricht, ist nichts anderes als die kulturtechnologisch verdrückte „Frage nach dem metaphysischen Sinn des Staates“145 und damit das Ergebnis der „Staatsfremdheit“ und der „letzten inneren Unbeteiligung am Staat“, von der Smend gesprochen hat. Indem der geistesgeschichtliche Nexus der Aufgegebenheit verworfen wird, gelangt die Rezeption doch wieder nur zur Nachfolge des konstruktivistischen Politikverständnisses: der Staat wird in gesellschaftlicher „Selbstorganisation“ „hergestellt“ und der Gesellschaft „funktional“ zugeordnet, alles reduziert sich auf die Legitimitätsfrage und auf ein bereitzustellendes „Symbol“. Den Staat in positiv gegebenen Symbolen zu verorten, ist schließlich auch viel bequemer, als ihn in „mitlebendem Denken“ (Hennis) tragen zu müssen. Auch Gerhard Göhler spricht das Verfassungsdenken Smends betreffend von „Symbolbeziehungen“146 und „symbolischer Repräsentation“147 – im Gegensatz zur Repräsentation durch Mandat148. Zutreffend wird bemerkt, dass es Smends Blick auf politische Institutionen nicht so sehr um Verfahren der Willensbildung
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Berthold (1997), Beitrag der Integrationslehre, S. 566. Vgl. Smend (31994), S. 468 und Smend 1957, S. 318. 143 Vgl. ebd. S. 37. 144 Berthold (1997), Beitrag der Integrationslehre, S. 567, vgl. Kelsen (1930), S. 31 ff. und 91. 145 Vgl. Kaufmann (1960), Bd. 3, S. XXX ff. 146 Göhler (1997), S. 35, 54. 147 Ebd. S. 57. 148 Vgl. ebd. S. 46–52. Vgl. schon ders.: Politische Repräsentation in der Demokratie, in: Die politische Klasse in Deutschland. Eliten auf dem Prüfstand, hg. v. Leif, Thomas/Legrand, Hans-Josef/Klein, Ansgar, Bonn/Berlin 1992, S. 108–125. 142
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und Entscheidungsfindung gehe, sondern vielmehr darum, dem einzelnen Bürger über das politische Erlebnis innerliche Teilnahme zu ermöglichen.149 Rudolf Speth merkt dazu an, dass bei einer Teilnahme durch Interpretation zentraler politischer Wertgehalte a) es einen Kampf um die legitime Interpretation der Symbole gebe, b) der symbolisierte Gehalt den Erfahrungen der Interpreten entsprechen müsse, c) die fundamentale Bereitschaft vorhanden sein müsse, sich auf die symbolisierten Gehalte einzulassen.150 Problematisch wären diese Hinweise nur, wenn Smend Integration als einen von vornherein harmonisch ablaufenden Prozess verstünde. Die Elastizität151 „symbolischer Repräsentation“ sorgt aber dafür, eine gewisse Stabilität gerade in der Dynamik immer wieder aktivierter Konflikte zu erhalten.152 Die staatliche Ordnung und Einheit, so Göhler, werde über „symbolische Repräsentation“ erlebbar; es gehe also darum, das Bewusstsein für eine Art „Dazwischen“, einen Spielraum „intransitiver Macht“ präsent zu halten. In dieser „minimalistischen Fassung“153 des Smendschen Verfassungsdenkens sieht Göhler „symbolische Repräsentation“ und „intransitive Macht“ als Korrelate der „Integration“.154 Die institutionstheoretische Rezeptionsweise des Verfassungsdenkens Rudolf Smends krankt daran, in der Smendschen „Integration“ einen alternativen und, wie sie nicht selten befindet, allzu harmonisierenden Begriff für Legitimation und Legitimierungsvorgänge glaubt erblicken zu müssen. In Verfassung und Verfassungsrecht gibt Smend jedoch deutlich zu verstehen, in seiner Darstellung trete „das für Carl Schmitt im Vordergrund stehende Legitimitätsproblem“ zurück.155 Das Legitimitätsproblem wird der Politikwissenschaft in Zeiten skeptischer Staatsverdrossenheit geradezu zur Obsession. Nicht unproblematisch ist diese Tendenz, durch wissenschaftlich fundiertes Können Legitimität institutionell „auf Dauer stellen“ zu wollen. Zu sehr lässt die Politikwissenschaft sich hier in die Rolle eines Krisen- und Qualitätsmanagers des Staates – und zwar 149
Vgl. Göhler (1997), S. 54. Vgl. Speth (1997), S. 448. 151 Vgl. Smend (31994), S. 163 f., 186, 190 f., 250 f. 152 Vgl. dazu Anter, Andreas: Die Macht der Ordnung. Aspekte einer Grundkategorie des Politischen, Tübingen 2005, S. 54. 153 Göhler 1997, S. 57 Anm. 50. 154 Vgl. ebd. S. 52. Über die Hinzunahme des Machtverständnisses Hannah Arendts – d. h. des Miteinander-Redens-und-Handelns der Menschen als Gegenbegriff zur Gewalt (vgl. Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben (dt. Erstausg. 1960, zuvor ersch. als The Human Condition 1958), München 1981, S. 192 sowie dies.: Macht und Gewalt, München 1970, S. 42) – gelangt Göhler (1997), S. 55 zu der weiter oben bereits erwähnten These, die Integrationstheorie Smends sei als „dynamisierte und zugleich expressiv ausgeweitete Fassung des schon von Max Weber eingeforderten Legitimitätsglaubens“ zu verstehen. Das klingt anregend, bleibt aber inhaltsleer, so lange nicht geklärt wird, worin Webers Legitimitätsverständnis und worin dann Smends angebliche „expressive“ Ausweitungen eigentlich bestehen. 155 Smend (31994), S. 186. 150
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1. Teil: Die Untersuchungsperspektive
des seinen besonderen Leistungs- und Machtcharakter betonenden Parteienstaates! – abdrängen. Der Band Institution – Macht – Repräsentation weist auf die zentrale Bedeutung der symbolischen Dimension im Verfassungsdenken Rudolf Smends hin. Aber auch wenn sie den Gedanken wenigstens streift, eine symbolische Bedeutung politischer Institutionen könne gerade mit der interpretierenden Bewusstseinsebene der Staatsangehörigen zusammenhängen, so hat die Institutionenforschung doch keinen Sinn für das Aufspüren der dem historischen Kontext des Smendschen Staats- und Verfassungsverständnisses zugehörigen Welt- und Menschenbildern und bleibt somit in der Nähe des politologischen Technizismus und Begriffsrealismus. Ähnlich gelagert ist der Fall des von Roland Lhotta herausgegebene Bandes Die Integration des modernen Staates. Auffällig ist wiederum die Scheu gegenüber einem konsequenten Eingehen auf die den kulturproblematischen historischen Kontext betreffenden Aspekte des Verfassungsdenkens Rudolf Smends. Alle Elemente, die der neueren Forschung „merkwürdig harmonisierend-romantisierend“ erscheinen, namentlich der „partielle Duktus eines Sinngedichts“156 im Verfassungsdenken Smends, werden sogleich mit der Formel des Unzeitgemäßen belegt. Der „Gestus des persönlichen Bekenntnisses und Berufes“ bleibt dem heutigen sozialwissenschaftlich geprägten „Theorieverständnis normativer Abstinenz“ fremd.157 Lhotta geht es darum, Smend in das Feld der politischen Theorie der Gegenwart zu holen. Sein Ausgangspunkt ist dabei dem sich in der Institutionenforschung Gerhard Göhlers bekundenden Interesse für das „Symbolische“ des Smendschen Denkens sehr nahe, und in diesem Gedanken liegt auch für die vorliegende Arbeit eine Bewegung in Richtung des philosophisch-anthropologischen Aspekts des Smendschen Verfassungsdenkens. Der „historische“ sowie der „soziologische Institutionalismus“, so Lhotta, interessierten sich gleichermaßen für Institutionen als „sinngebende Schnittstellen von Ideen und Verhaltensstrukturierungen und damit für Leit- und Orientierungsideen, die den Institutionen innewohnen“.158 Dass Lhotta sich Smend in dieser Sache unter Rekurs auf Hegels Philosophie des Rechts nähert, ist bedenkenswert, weil diese Herangehensweise sich wenigstens ansatzweise mit der Aufgegebenheits-These auseinanderzusetzen bereit ist. Jedoch verharrt die Betrachtung zu sehr auf der institu156 Lhotta, Roland: Rudolf Smends Integrationslehre und die institutionelle Rückgewinnung des Politischen im modernen Staat des permanenten Übergangs, in: ders. (Hg.): Die Integration des modernen Staates. Zur Aktualität der Integrationslehre von Rudolf Smend, Baden-Baden 2005, S. 39, mit dem Wort vom Sinngedicht Ernst Koellreutters Buch ,Integration und Reichsreform‘ von 1929 zitierend. 157 Ebd. S. 58. 158 Ebd. S. 59. Diese Sequenz taucht wieder auf in Roland Lhottas zweitem Beitrag zu dem genannten Band, siehe ders.: Ethischer Institutionalismus und sittliche Pflicht zur Integration: Der Schatten Hegels in der Integrationslehre, in: ders. 2005, S. 91, 95 und 98.
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tionellen Ebene, indem die ethische Pflicht gegenüber der politischen Gemeinschaft – aus dem Pflichtverständnis evangelischer Ethik herrührend –, der Dienst im Staat, die Orientierungsleistung politischer Institutionen und die sittliche Verpflichtung auf Werte159, indem all das nun der Institution der Verfassung aufgebürdet wird, um sie damit aber zu einer Art „Vergatterung der Nation zum Grundrechtsvollzug“160 zu machen. Es ist aber fraglich, ob Smend die Verfassung als Institution autopoietischer Legitimitätsherstellung begrüßt haben würde, ist sie für ihn doch keine Einrichtung, die das gewünschte Pflichtethos einfordern oder allein aus sich heraus herstellen könnte. Aus den staatsrechtlichen Schriften Smends geht hervor, dass Verfassung (als rituell-kommunikative Vorgänge anregendes Dokument) bestimmte Ethos und Menschentypus prägende Kulturbedingungen voraussetzt, auf Grund derer dieser Menschentypus überhaupt erst die Verfassung „symbolisch“ auffasst. Smend hat Hegels „kühle Großartigkeit“, seine Abschätzigkeit gegenüber dem „subjektiven Gestimmtsein im Reich der sittlichen Institutionen“ abgelehnt.161 Auf Grund seiner Staatsphilosophie und deren Konzeption von Sittlichkeit repräsentiert die Wirklichkeit der staatlich-politischen Welt bei Hegel letztlich die höhere Instanz gegenüber dem ethisch-politischen Erleben des Einzelnen. Für Smend dagegen kann das Ethos des Staatsbürgers niemals ein solches sein, das dem Dienst an einer sich in staatlicher Wirklichkeit manifestierenden Vernünftigkeit des Geschichtsverlaufs verpflichtet wäre. Der kritische Blick auf Lhottas Ansatz wäre allerdings zu verkürzt, wenn er nicht auch die Wendung registrieren würde, welche mit der Nennung von Husserls Phänomenologie verbunden ist. Ob mit Hegel gesprochen „göttliches Wirken in staatlichen Institutionen nachzuweisen“ ist, soll hier in Bezug auf Rudolf Smends Verfassungsdenken vorläufig unbeantwortet bleiben. Als unbestritten jedoch nimmt auch der Ausgangsbefund vorliegender Untersuchung an, dass in einer als krisenhaft empfundenen Wirklichkeit, deren Krisenhaftigkeit nicht zuletzt in der wahrgenommenen Entzweiung von Individuum und Staat, von Mensch und Welt besteht, es gerade in der „geisteswissenschaftlich“ motivierten Staatsrechtslehre darum gehe, eine Art „Sanatorium der Evidenzen“ einzurichten, „indem der Blick auf ein höheres Ganzes zurückgewonnen wird“.162 Nur wirkt es in Lhottas Darstellung so, als habe Smend den Begriff des Politischen auf den der aufgegebenen Integration kondensiert, um, in klarer Nähe zu Hegel, mit den staatlichen Institutionen (auch denen der Republik) den störrischen Zeitgenossen et159
Vgl. ebd. S. 92 f., 97, 99 f. So bereits von Wilhelm Hennis befürchtet in seiner Freiburger Antrittsvorlesung von 1968, Verfassung und Verfassungswirklichkeit, hier zitiert nach ders.: Die mißverstandene Demokratie. Demokratie – Verfassung – Parlament. Studien zu deutschen Problemen, Freiburg: Herder 1973, S. 63. 161 Smend (31994), S. 353. 162 Lhotta (2005), Institutionalismus, S. 100 f. 160
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1. Teil: Die Untersuchungsperspektive
was Verpflichtendes, ja Irdisch-Göttliches vorzuhalten. Indem Lhotta sich dergestalt auf das weite Feld der Sein-Sollen-Problematik begibt, gelangt er nicht zu der Einsicht in das durchschimmernde platonische Erbe des Staats- und Verfassungsdenkens Rudolf Smends. Infolgedessen wird dieses Denken zu einer „Verstaatlichung des Bürgers“, der „Integrationsdienst“ – ein von Lhotta frei gebildeter Begriff, der bei Smend nicht vorkommt – zum „Gottesdienst“ verfremdet.163 Bemerkenswert bleibt dieser Ansatz dennoch, indem er die Frage nach der Wesensdifferenz zwischen dem Ethisch-Politischen und dem MachtDynamischen aufwirft. Das – durchaus fatal zu nennende – Erbe Hegels besteht schließlich in der Identifikation von Machtwirklichkeit und einer normativen ethisch-politischen Idealität. Aufgrund der Hegelschen Konzeption von Sittlichkeit repräsentiert in seiner Staatsphilosophie der Bereich des Staatlich-Politischen die letztlich höhere Instanz zur Welt der ethisch-politischen Orientierung des Einzelnen.164 Rudolf Smend ganz zum Hegelianer zu machen, auf Grund der Tatsache, dass er des Öfteren von der „großen Dialektik des Lebensprozesses“ spricht165, erscheint unzulässig, weil eine solche Etikettierung vollkommen an seiner ethisch gestimmten Aufmerksamkeit für „überempirisch“ Aufgegebenes vorbeisehen muss. Eine Ehe als aufgegeben, ein Geschichtsbild als verpflichtend, einen Staat als sinnvoll anzuerkennen bleibt im Smendschen Gedankenkreis eine Zuschreibung, die sich in Kontakt weiß mit über den Lebensprozess hinausweisenden „höheren Ordnungen“166. Auch der Beitrag von Andreas Anter über Smends Verhältnis zu Max Weber bleibt unergiebig für die Fragestellung nach der geistigen Herkunft der Aufgegebenheits-These, da Anters Fazit darauf hinausläuft, Smend sei auf Grund von Textunkenntnis hinsichtlich Webers Werk über kaum vertretbare Äußerungen nicht hinausgelangt. Anter ist sich so sicher, dass Smends Perspektive von den „zeittypischen Mißverständnissen“ des gängigen Weber-Bildes – gemeint ist insbesondere der Vorwurf des technizistischen Staatsverständnisses – getrübt gewesen sei167, dass er nicht erwägt, ob Smend, der gerade Webers Einsicht in das Zusammenspiel der großen Verfassungsinstitutionen beinahe überschwänglich lobend herausgestrichen hat168, mit dem Technizismus-Vorwurf gar nicht Webers inhaltliches Politikverständnis, sondern vielmehr dessen Menschenbild und Ansatz zu einer politischen Anthropologie zu treffen beabsichtigte. Der Weber163
Ebd. S. 103. Vgl. dazu Glockner, Hermann: Hegel-Lexikon, Stuttgart 21957, S. 2597, 2238 ff., 1854, 2276 und 2281 f. 165 Smend (31994), S. 505. 166 Ebd. S. 369. 167 Anter, Andreas: Hermeneutische Staats- und Verfassungslehre: Rudolf Smend, Max Weber und die soziologische Wirklichkeit des Staates, in: Lhotta 2005, S. 85. 168 Siehe die oben bereits erwähnte Rezension Smends zu Max Webers verfassungspolitischer Schrift ,Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland‘, Smend (1918), S. 372 f. 164
III. Fragestellung und Movens
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Passus des im Dezember 1945 gehaltenen Göttinger Vortrags Staat und Politik deutet in diese Richtung.169 Für die vorliegende Untersuchung und ihre an Hand des oben stehenden Befundes zu bildende Fragestellung bleibt die Beschäftigung mit der neueren Smend-Forschung begrenzt ergiebig, weil sie die Hypothese, für ein Verständnis des Smendschen Verfassungsdenkens sei die Einsicht in ihre ethisch-praktische Grundausrichtung unentbehrlich, entweder zurückweist oder ihr nicht konsequent nachgeht und folglich nicht bereit ist, sich mit dem Kulturproblem des Menschen zu befassen, in eigenartiger Wertscheu verharrend, indem sie sich für die „geistige Not der Zeit“ unempfänglich zeigt, in der Smend seine Schriften verfasste.
III. Fragestellung und Movens Rudolf Smends Staats- und Verfassungsbegriff denkt immer beides zugleich: Den Staat als Integrationsprozess, als fließendes, stets sich erneuerndes Leben – und als „geistige Wirklichkeit“, als „überempirische“ Aufgegebenheit; Verfassung als differenzierte Ämterordnung – und ein die staatliche Einheit konstituierendes, integrierend wirkendes Erlebnis; unüberschaubare Fülle modernen (politischen) Lebens – und diese Fülle zusammendrängende, Totalität repräsentierende Symbole. Angesichts dieser (bislang nur angerissenen) Leitmotive des Smendschen Denkens erscheint die Synthese durch eine „verstehende Untersuchungsweise“, die selbsttätig die vorhandenen Andeutungen ergänzt“ und „den geistigen Wurzeln (. . .) nachspürt“170, um herauszufinden, was hinter der „praktischen Anschauung“ des Staates „als Lebensprozeß“ „steckt“171, als dringlich: Auf welche Weise konstituiert sich staatliche Wirklichkeit bei Smend? Welchen menschlichen Typus und welche Art ethisch-normativer Bestimmtheit involviert dieser Verfassungsbegriff und seine spezielle Form der Staatsauffassung als eines geordneten Rechtszustandes? Hinsichtlich des ersten Teils der Fragestellung sind die staatsrechtlichen Schriften Smends auf eine sie tragende verfassungstheoretische Konstanz hin durchzusehen. Für die Beantwortung der Frage nach menschlichem Typus und normativer Bestimmtheit wird der geistige Ort des Smendschen Verfassungsdenkens aufzusuchen sein. Auf diesem Weg werden sich auch Grund und Herkunft von Smends Eingenommensein gegen die machtpolitische, teleologisch-dialektische Auffassung staatlicher Wirklichkeit und seine Besorgnis hinsichtlich des tragischen Entscheidungs-, Anordnungs- und Verfügungspotenzials des modernen Sozial- und Regulierungsstaates klären. Vgl. Smend (31994), S. 370–377. Mayer (1931), S. 32 f. 171 Siehe erneut den im März 1967 an Manfred Friedrich gerichteten Brief, zitiert nach Friedrich (1987), S. 25 f. 169 170
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1. Teil: Die Untersuchungsperspektive
Sich in dieser Weise dem Staats- und Verfassungsdenken Rudolf Smends zu nähern, ist getragen von prüfender Sympathie – dahingehend, dass hier Auffassungen vorliegen könnten, die auch heute noch zu überdenken, ja gegebenenfalls gegenüber abschlägigen Urteilen zu verteidigen, es sich lohne. Leibholz und von Campenhausen berichten, seine staatsrechtswissenschaftliche Tätigkeit sei Smend zugleich staatsbürgerliche Pflicht gewesen.172 Die Maske gesinnungsloser Forschung wäre dem Gegenstand vorliegender Untersuchung nicht angemessen. Max Webers so häufig missverstandenes Postulat von der „Wertfreiheit“ der Wissenschaften173 meint ja nichts anderes, als dass der Wissenschaft – in Webers Augen – nicht der Rang eines „letzten“ Wertes zukomme; sie ist keine (Ersatz-)Religion. Ihre Aufgabe – zumindest die derjenigen Wissenschaften, die Weber als „Kulturwissenschaften“ bezeichnet – ist es, historisches Geschehen sowie gegenwärtige Äußerungen auf solche „letzten“ Werte zurückzuführen, also die „Wertbezüglichkeit“ von Verhalten aufzudecken.174 Sicherlich liegt dieser Auffassung selbst wiederum eine „Wertidee“ zu Grunde: eben diejenige, dass die Wissenschaft selbst keine unbedingt verbindlichen Idealrezepte zu formen im Stande und somit auch nichts sei, an dem wir „den Sinn unseres Daseins verankern“175. Sehr wohl kann sie aber Instrument sein, Klarheit zu schaffen. Der „Oberwert“ des Forschers Weber wäre demnach die fortlaufend auszubildende Urteilskraft.176 Denn in der Meinung, dass die Wissenschaft auch nicht beurteilen dürfe und könne, liegt ja das eigentliche Missverständnis der sogenannten Wertfreiheit.177 Es geschieht also durchaus, dass der Gang der wissenschaftlichen Untersuchung selbst „wertbezüglich“ motiviert ist und sich gerade deshalb für einen ganz bestimmten „Stoff“ unter einem ganz bestimmten Gesichtspunkt interessiert. Dies zum Bewusstsein zu bringen und die „Wertidee“ nicht mit dem heuristischen Mittel zu verwechseln, das ist es, was das Postulat der Wertfreiheit fordert. Vorliegende Annäherung an das Verfassungsdenken Rudolf Smends kann „historisch“ genannt werden, indem sie eins ist mit der Frage nach einem 172
Vgl. Leibholz (1976) und Campenhausen (1975). Siehe dazu v. a. „Der Sinn der ,Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften“ (1913/17) in WL S. 489–540. 174 Dazu bereits der Objektivitäts-Aufsatz von 1904, Webers eigentliche erkenntniskritische Grundlegung. Vgl. WL S. 146–214, insb. S. 151, 154 und 175. 175 WL S. 213. 176 Vgl. Hennis (1987), S. 195 f. und 223–230. 177 Vgl. WL S. 150–157. Gesinnungslosigkeit und wissenschaftliche Objektivität haben für Max Weber keinerlei innere Verwandtschaft. Erst die Geltung von Werten und ihre Verbindlichkeit zu beurteilen, sei Sache des Glaubens. Im Sinne Webers äußern sich auch Gadamer, Hans-Georg: Platos dialektische Ethik. Phänomenologische Interpretationen zum Philebos, in: ders.: Platos dialektische Ethik und andere Studien zur platonischen Philosophie, Hamburg 1968, S. 177 sowie Hayek, Friedrich A. von: Die Irrtümer des Konstruktivismus und die Grundlagen legitimer Kritik gesellschaftlicher Gebilde, Tübingen 1975, S. 24 f. 173
III. Fragestellung und Movens
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eigenartigen – unserem heutigen Verfassungsleben ferngerückten – Freiheitsund Politikverständnis und sich um die Wiederauffindung einer (partiell) versunkenen geistigen Welt bemühen muss. Die Annäherung an Smend und dessen Versuch, die Aufgabe staatlicher Ordnung in einem prinzipiell bejahenden, wenn auch kaum affirmativ zu nennenden Sinne erlebensfähig und somit lebenswert zu sehen, den Staat also nicht bloß als den „Bereich des Habens, Verfügens, Veranstaltens“178 wahrzunehmen, mögen letztlich auf eine Neubewertung bürgerlich-konservativer Staatsauffassung hinauslaufen.179 Eine solche Sympathiebekundung fordert – im Sinne der in gekennzeichneter Weise verstandenen Wertfreiheit – offenlegende Bemerkungen zur Triebfeder der Untersuchung. Die Achillesferse des Projekts der Moderne ist in der (nahezu konsensuellen) These zu sehen, die Lösung der menschlichen Probleme sei – nach der Niederwerfung des Faschismus – am Ende nur noch abhängig von einem ausgedehnteren Studium der erforschbaren Wirklichkeit sowie einem stetig nachbessernden Regulieren der Vorteilserwartungen und Nachteilsbefürchtungen genannten Stellschrauben eines regierungsweisen Pluralismusmanagements. Regieren in modernen Demokratien erschöpft sich so in dem Austarieren zwischen den individuellen Entfaltungswünschen verschiedener Einzel- und Gruppeninteressen. Hinzu kommt der solchem administrativen Regieren allenfalls noch mögliche – jedoch durch das instrumentelle Staatsverständnis zu unterschiedlichen Gradabstufungen der Pervertierung tendierende – Zugang zur Gemeinwohlperspektive: eine der Hypochondrisierung, Hysterisierung und Paranoiisierung des öffentlichen Lebens geschuldete Sicherheitspolitik. Ohne Weiteres lässt sich eine Erfolgsgeschichte des Parlamentarismus schreiben, insofern sich ihre Autoren in eigenartiger Anknüpfung an die formaljuristische Staatsauffassung mit ihrer Fixierung auf das Problem rechtlicher Willensmacht auf die faktische Expansion parlamentarisch-gesetzgeberischer Tätigkeit berufen. Wollte man aber nach dieser Weise darauf bestehen, zwischen Entscheidungsprozess und Entscheidungsverfahren zu unterscheiden, Ersterem alle Etappen der tatsächlichen Willensbildung zuschreibend – Debatten hinter verschlossenen Türen, nächtliche Telefongespräche, Kaminrunden und Absprachen mit Beteiligten aller Art – und Letztere als jenen vorausgehenden Prozess mit dem Erlass eines Rechtsaktes abschließenden Vorgang begreifend, um dann in einer zweiten These die Wahlbeteiligung des Bürgers an der Zusammensetzung des Parlaments als genügend demokratisch gehaltvoll zu bezeichnen, so wäre dieser an rückfällig-konstitutionalistischer Reduzierung kaum mehr zu überbietenden Verkennung des von der Verfassung vorgesehenen Charakters des Parlaments als Forum politischer Ge-
178 179
Smend (31994), S. 508. Vgl. Hennis (1999), Integration durch Verfassung?, S. 493.
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1. Teil: Die Untersuchungsperspektive
meinschaft nicht energisch genug zu widersprechen.180 Rudolf Smend hat sich wiederholt warnend gegen die Fassadenfunktion sowohl parlamentarischer Abläufe als auch zur Schau gestellter parlamentarischer Würde ausgesprochen.181 Dass vielerorts ein Bewusstsein vorliegt, welches „Politik“ heute ausschließlich als eine – oft schon auf die alte Idee der civitas maxima ausgedehnte – das Nicht-zu-Verwaltende im Menschen unberücksichtigt lassende Maschine zur künstlichen Herstellung eines an ökonomischem Interessenausgleich festgemachten Konsenses begreift, liegt auf der Hand. Wenn hier noch eine Vorstellung Smendscher „Aufgegebenheit“ waltet, dann allenfalls in der losgelassenen Variante, nach der die unbedingt durchzuführende Konstruktion von Regelwerken verwaltungstechnischer Beglückungsapparaturen „aufgegeben“ sei. Dazu werden freilich nivellierende Standards kulturellen Stillhaltens benötigt. Der kulturkritische Kern des Wiesbadener Vortrags Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit (1959) Theodor W. Adornos182 hebt mit der Behauptung an, der Faschismus lebe in der Demokratie nach – nicht so sehr in den sich neu formierenden NS-Organisationen, die ein Oberflächenphänomen seien, sondern die Bereitschaft zum Faschismus wese fort in den Verhältnissen. Dies hänge mit dem Erinnerungsverlust hinsichtlich des Zustandekommens des Faschismus zusammen, das notwendig verknüpft sei mit der sogenannten Fortschrittlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft. Das in ihr herrschende universelle Gesetz des Tauschs bedeute Liquidierung der Erinnerung183, indem es unreflektierte Anpassung an das je Gegenwärtige fordere, ein Sich-einig-Wissen mit dem Zeitgeist, das sich scheue, Sand ins Getriebe zu streuen. Somit könne aber die Demokratie nicht als eigene Sache erlebt werden. Eingeschätzt werde sie vielmehr nach dem Erfolg oder Misserfolg, an dem auch die Einzelnen partizipierten.184 Man glaube sich objektiven Konstellationen ausgeliefert, und das Unvermögen, diese zu verändern, werde dann subjektiviert.185 Diese kritischen Betrachtungen seien nicht als Spenglereien aufzufassen, sondern als Beleuchtung einer durch die glatte Alltagsfassade verdeckten Tendenz, von der gesagt werden müsse, dass sie im Stande sei, die institutionellen Dämme zu überspülen.186 Nach den Krisenerfahrungen der Zeit habe der NS-Volksstaat das Gefühl vermittelt, es werde gesorgt; der Volksstaat versprach und gewährte „selektiv“ 180 Siehe immer noch Hennis, Wilhelm: Der deutsche Bundestag 1949–1965. Leistung und Reformaufgaben (1966), in: ders.: Auf dem Weg in den Parteienstaat. Aufsätze aus vier Jahrzehnten, Stuttgart 1998, S. 21–48. 181 Vgl. etwa Smend (31994), S. 148 ff. und 218 f. 182 Vgl. AGS 10.2, S. 555–572. 183 Vgl. ebd. S. 557. 184 Vgl. ebd. S. 558 f. 185 Vgl. ebd. S. 560. 186 Vgl. ebd. S. 567 f.
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Schutz, er war das gewalttätige Mittel zum Zweck der Krisenbewältigung, „ein barbarisches Experiment staatlicher Lenkung der krisenanfälligen Industriegesellschaft.“187 Mit großer Klarheit dekuvriert Adorno den NS-Staat als den Interventions- und Sozialstaat einer losgelassenen Moderne. Dass der als ein Ergebnis der formaljuristisch-technizistischen Begriffswelt zu begreifende Daseinsvorsorgestaat sich mittels Geschichtsklitterung einen mythologisch überhöhten Anstrich gab und sich zugleich mit der Ideologie des Antisemitismus verband188, dafür gibt es eine Erklärung, die, wie der britische Gelehrte George Steiner gezeigt hat, nicht auf dem Gebiet einer empirischen Sozialwissenschaft liegt.189 Zeitgleich mit der der Moderne eigenen radikalen Wendung nach außen, die alle Beziehung zu Transzendentem, Meta- oder Hyperphysischem auslöscht und sich in den abgeschlossenen Immanenzzusammenhang verrennt, musste doch – und zwar auf dem Boden der abendländischen Logos-Kultur, die im Bund mit der Ratio eine potenzierte Mächtigkeit (und erhöhte Gefährdung!) der Menschen bedeutet – ein Schutz gegen die universelle Angst innerhalb der bürgerlichen Leistungs- und Industriegesellschaft aufgebaut werden. Dieser Schutz bestand im Fall des NS-Staates in der grauenerregenden Komplizität von wahnhaft extremisierter Daseinsvorsorge und Anstachelung des nationalen Narzissmus. Das Wirtschaftswunder, so Adorno, fungierte als neue Projektionsfläche jenes Narzissmus, so dass eine kollektive Panik im Sinne Freuds ausgeblieben sei.190 Der Zusammenhang von Wohlstand, Konjunktur und der Hoffnung auf eine starke Staatsmacht halte jedoch das Misstrauen wach; inmitten der Prosperität fühlten die Menschen sich als potenzielle Arbeitslose, als Empfänger von Wohltaten und damit als Objekte der Gesellschaft.191 Rückwärts gestaut bleibe der Wahn, der als Ersatz für den Traum, dass es auch anders gehe, gelten könne, für den Faschismus nutzbar; der Anpassungsdruck erzeuge ein totalitäres Potenzial. Selbsterhaltung innerhalb des Verblendungszusammenhangs der ökonomischen Ordnung als Abhängigkeit von Gegebenheiten sei nur möglich, wenn man auf sein Selbst verzichte. So müsse gerade die Idee durchstrichen werden, an welche die Demokratie doch appelliere.192
187
Ebd. S. 562. Siehe dazu bei Smend die andeutende, sorgfältige Auslegung erfordernde Passage in seinem bilanzierenden Kommentar zu den Einflüssen und Auswirkungen der formaljuristischen Staatsbetrachtung Smend (31994), S. 339 f. 189 Siehe Steiner, George: Das lange Leben der Metaphorik. Ein Versuch über die „Shoah“, in: Akzente 34 (1987), S. 194–212, insb. S. 196, 207 und 209 sowie Steiner, George: Durch einen Spiegel in einem dunklen Wort, in: Steiner (1997), S. 280–308, insb. S. 299–302. 190 Vgl. AGS 10.2, S. 563 f. 191 Vgl. ebd. S. 565. 192 Vgl. ebd. S. 567. 188
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1. Teil: Die Untersuchungsperspektive
Nirgends ist m. W. bislang der anti-positivistische Integrationsbegriff Rudolf Smends mit der „negativen Dialektik“ Adornos in Verbindung gebracht worden. Von hier aus lässt sich zeigen, was Smend auf keinen Fall gemeint hat. Adornos Negative Dialektik (geschrieben 1959 bis 1966) verstößt bewusst gegen die Überlieferung, indem sie ihre Aufgabe nicht darin sieht, als das Denkmittel der Negation ein Positives herzustellen; sie nennt sich, in Analogie zum „Antidrama“ und „Antihelden“ der ästhetischen Debatte, ein „Antisystem“. Dennoch geht es ihr, „ohne an Bestimmtheit etwas nachzulassen“, um „Konkretion“. Gegenüber dem Einheitsprinzip und der Allherrschaft des übergeordneten Begriffs trachtet sie nach dem, „was außerhalb des Banns solcher Einheit wäre.“193 Aus diesem Impuls heraus wendet sich Adorno gegen Integration, insofern er sie als totalitäre „Enteignung“ begreift: „Der Völkermord ist die absolute Integration, die überall sich vorbereitet, wo Menschen gleichgemacht werden, geschliffen, wie man beim Militär es nannte, bis man sie, Abweichungen vom Begriff ihrer vollkommenen Nichtigkeit, buchstäblich austilgt.“194 Eigen ist diesen geharnischten Worten zwar ein Affekt gegen das „positive Denken“, gegen die Zwangskonformisten, die zu dem ja sagen, was ohnehin der Fall ist. Doch hegt Adornos Negativität Sympathie für die „Abweichung“. Was Adorno an „affirmativer Positivität“ empört, ist die tyrannische Kälte des hervorgebrachten Ganzen. In der Verhältnismäßigkeit zum Ganzen, dem „Integral“, ist alles immer nur Exemplar. Wer es verneine, „irgend dem Dasein positiven Sinn zuzuschreiben“195, dem gelte stets die traditionsreiche „Entrüstung über Nihilismus“. Das „Ideal des Nichts“, den abstrakten Nihilismus, der, gleich dem wertfreudigen Nihilismusverdikt, mit dem „Anspruch totaler Subsumtion“ auftritt – der unter das „absolut Negative“ –, lehnt Adorno hingegen ab. „Auf den Namen Sinn“ habe nur das Offene Anspruch. So räumt Adorno der „imago des Nirwana“ eine gewisse Attraktivität nur ein, insofern die Möglichkeit besteht, dass es sich um eine Idee des „Nichts als eines Etwas“ handelt.196 Und so macht es sich sein mikrologischer Blick zur Aufgabe, „die Schalen des nach dem Maß des subsumierenden Oberbegriffs hilflos Vereinzelten“ zu zertrümmern. „Kein Absolutes ist anders auszudrücken als in Stoffen und Kategorien der Immanenz, während doch weder diese in ihrer Bedingtheit noch ihr totaler Inbegriff zu vergotten ist.“ Das Denken negativer Dialektik ist „solidarisch mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes.“197 Thomas Mann hat bekanntlich das Fehlen eines positiven Kerns in den Schriften Adornos beklagt.198 Jedoch ist in ihnen ein philosophisches Zentrum 193 194 195 196 197
Vgl. AGS 6, S. 9 f. Ebd. S. 355. AGS 7, S. 229. AGS 6, S. 369 ff. Ebd. S. 399 f.
III. Fragestellung und Movens
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auszumachen, das überall dort anzutreffen ist, wo Adorno eine kontemplative Erfahrung „anerkennender Erkenntnis“ als Gegenmodell zu der instrumentellen, von ökonomischen Imperativen beherrschten Praxis des alltäglichen Lebens und damit als die normative Grundlage seines Philosophierens aufbietet.199 Die Kontemplation als nicht-instrumentelle, ungezwungene Seinsweise erweist sich als der Ort meta- oder hyperphysischer Erfahrungen, insbesondere wenn mit Repräsentanten gnostischer Verneinung der sinnfälligen Welt, eines bedürftigen Vom-Fleck-Kommens – Kierkegaard, Dostojewskij, Nietzsche, Proust, Mahler, auch Beckett – von der „Möglichkeit einer anderen, noch nicht seienden“ gesprochen200 und mit ihnen über den Rand des bildungsbürgerlichen Kanons hinaus gedrungen wird.201 In seiner 1960 verfassten Habilitationsschrift Politik und praktische Philosophie schreibt Wilhelm Hennis, in die Kulturkritik habe sich verlagert, was einst Sache der Staatsformenlehre gewesen sei und legitimerweise auch sein müsse.202 Der Vorgang einer solchen Verlagerung ist zu konstatieren, sobald die politische Wissenschaft es vorzieht, wissen zu wollen um zu wissen und nicht, wie es Gerhard Krüger in seinen Grundfragen der Philosophie ausgedrückt hat, „um das gemeinsame Leben zu führen“203. Gegen Ende des Amerikabuches Alexis de Tocquevilles findet sich – als Antwort auf die den ersten Band einleitende Forderung einer „science politique nouvelle à un monde tout nouveau“ – ein entsprechender Appell an die „Gesetzgeber“ und „Lenker der Gesellschaft“.204 Ihm komme es vor, „als suchten die Träger der Staatsgewalt unserer Zeit mit dem Menschen nur große Dinge zu machen. Ich möchte“, schreibt Tocqueville, „daß sie ein wenig mehr daran dächten, große Menschen zu machen; daß sie weniger Wert auf das Werk als auf den Arbeiter legten und sich stets daran erinnerten, daß eine Nation nicht lange stark bleiben kann, wenn jeder als einzelner zu schwach ist, und daß man bisher weder die Gesellschaftsform noch die politischen Gestaltungen gefunden hat, die aus kleinmütigen und schwachen Bürgern ein tatkräftiges Volk bilden könnten“205. 198 Vgl. Theodor W. Adorno–Thomas Mann. Briefwechsel 1943–1955, hg. v. Christoph Gödde, Frankfurt a. M. 2002, S. 121. 199 Siehe dazu Seel, Martin: Adornos Philosophie der Kontemplation, Frankfurt a. M. 2004, insb. S. 12 f., 24 ff., 33 ff., 39 f. und 42 ff. 200 AGS 6 S. 370. 201 Siehe insb. ebd. S. 366–374, AGS 13, S. 287 ff., 309 (,Mahler. Eine musikalische Physiognomik‘), AGS 16, S. 349 f. (,Quasi una fantasia‘, II Vergegenwärtigungen). 202 Vgl. Hennis (2000), S. 74. 203 Krüger, Gerhard: Grundfragen der Philosophie. Geschichte, Wahrheit, Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1958, S. 183. 204 Tocqueville, Alexis de: Über die Demokratie in Amerika, übers. v. Hans Zbinden, 2 Bde., Stuttgart 1959/62, Bd. 1, S. 9. 205 Ebd. Bd. 2, S. 353.
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1. Teil: Die Untersuchungsperspektive
Im Sinne einer solchen politischen Kulturkritik kann eine Passage in Erhart Kästners Nachlassband Der Hund in der Sonne gelesen werden, die dem Buch seinen merkwürdigen Titel verleiht: „Es gibt einen wunderbaren Satz von Seneca: ,Calamitosus animus futuri anxius, tief unglücklich die Seele, die sorgend die Zukunft bedenkt.‘ Wohl wahr! Wer die Zukunft bedenkt ist nicht glücklich. Aber sorgend die Zukunft bedenken ist menschlich. Es ist eine Wahrheit ersten Ranges, mit der gelebt werden muß: Erst durch den Blick auf das Ungewisse, die ängstliche Sorge, die Vorschau, die Hoffnung an der Schwelle der Sorge, die Angst vor der Zukunft, erst da beginnt, was den Menschen auszeichnet. Ohne Bedenken der Zukunft, das ist der Hund in der Sonne. Kein Zweifel, der Hund in der Sonne ist in der Neuzeit zu unerwarteten Ehren gekommen, er wurde zum großen Versprechen. So lange haben die Führer der Völker Gequälten und Ungequälten den Hund in der Sonne versprochen, in einigen Ländern ist er dann schon zum Typus geworden. Allmählich wird deutlich, was dem zugrunde lag. Eine unbändige Menschenverachtung.“206 In diesem Sinne heißt es in Botho Strauß’ Essay Anschwellender Bocksgesang (1993)207, in Hinsicht auf das „Wohl der größtmöglichen Zahl“ hätten Totalitarismus und Theokratie sicherlich nichts „Besseres“ zu Wege gebracht als die „Beständigkeit des sich selbst korrigierenden Systems (. . .) der abgezweckten Freiheiten“. Mit Bewunderung könne dies zivilisatorische System betrachtet werden, aber auch mit Zweifeln und Bedenken hinsichtlich der „Blindheit, mit der uns schlug der Erfolg: daß wir nicht sehen, wie viel Erlöschen er mit sich brachte.“ Denn zu Konflikten, die sich nicht ökonomisch befrieden ließen, pflege dieses System gar keine Beziehungen mehr.208 Die menschliche Würde – „Leihfloskel vom Fürstenhof“ – müsse man doch wenigstens einmal gesehen haben, um sie grundgesetzlich zu verankern; im Falle seines „vergnügungslärmigen Landsmannes in der Gesamtheit seiner Anspruchsunverschämtheit“ suche man sie meist lange, wenn nicht vergeblich.209 Das „Regime der telekratischen Öffentlichkeit“ sei die „unblutigste Gewaltherrschaft und zugleich der umfassendste Totalitarismus der Geschichte.“ Es brauche keine Köpfe rollen zu lassen, es mache sie überflüssig. Es kenne keine Untertanen und keine Feinde: „Es kennt nur Mitwirkende, Systemkonforme.“210 Zu ausschließlich habe die politisierte Gesellschaft der Bundesrepublik sich mit „korporierten Minderheiten“ beschäftigt. Damit formuliert Botho Strauß das eigentliche, vom thymos 206 Kästner, Erhart: Der Hund in der Sonne und andere Prosa. Aus dem Nachlaß hg. v. Heinrich Gremmels, Frankfurt a. M. 1975, S. 5. 207 Strauß, Botho: Anschwellender Bocksgesang, in: ders.: Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit, München/Wien 1999, S. 57–76. 208 Ebd. S. 57 ff. 209 Ebd. S. 61. 210 Ebd. S. 68 f.
III. Fragestellung und Movens
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der freien Rede inspirierte, angeblich „elitär“ angelegte Kernanliegen seiner Kritik: „Diese Demokratie benötigte von Anfang an mehr Pflanzstätten für die von ihr Abgesonderten. Abschnitte, Orte, wo ihre Rede nicht herrscht und die inzüchtige Kommunikation unterbrochen ist.“211 Das „Gesonderte“ gelte es gegenüber dem Allgemeinen, das „stark und schwächlich zugleich“ sei, in „Denkund Empfindungsreservaten“ zu stärken.212 Somit wird die mehrheitlich „rechtskonservativ“, auch „unpolitisch“ genannte Kulturkritik Botho Strauß’ zu einem Plädoyer des kontemplativen Außenseiters213, die in der Nachfolge von Kleists Prinz Friedrich von Homburg sowie der Betrachtungen eines Unpolitischen Thomas Manns die Züge einer genuin politischen Denkart annimmt: „Unvereinbarkeit besteht heute im Grunde nur noch zwischen dem Reich, das die politisch-gesellschaftliche Hegemonie über Geist, Moral, Wissenschaft und Glaube erstrebt, und, auf der anderen Seite, der entschiedenen Bestreitung solcher Hegemonialansprüche. Es gibt gewissermaßen ein politisches Externum zur Bekämpfung und Leugnung der Allmachtsansprüche des Politischen.“214 Nicht nur den Betrachtungen eines Unpolitischen, welche die Ansicht vertraten, der Mensch gehe nicht im Staate auf, und niemals werde die Politik des maschinellen Verwaltungsstaates den Menschen „besser“ machen, nähert sich Botho Strauß hier, sondern auch der skeptischen Haltung Tocquevilles gegenüber dem „Großen“ (dem in Wahrheit „Kleinen“), das die Politik stets „projektierend“ mit dem Menschen vorhabe. Zudem aber scheint diese gründliche Skepsis mit beiden Beinen auf dem Boden der grundgesetzlichen Überzeugung zu stehen, dass der Mensch nicht für einen auf teleologische Nutzeffekte abgezweckten Staat da sei. Das Wort vom „politischen Externum“ erinnert an den von Rudolf Smend in dieser Sache zitierten emphatischen Öffentlichkeitsbegriff Friedrich Julius Stahls.215 Denn die Sache, um die es Botho Strauß sowie den anderen angeführten Autoren – Tocqueville, Mann, Adorno, Kästner und Hennis – geht, ist die eines ethisch-normativen Verständnisses von Öffentlichkeit. Dieses „politische Externum“ – dem Georg Büchner noch den Ausdruck des der Volkspoesie entnommenen Absurden verleiht – möchte ja nicht extern, nicht ein ins Private zurückgezogener Außenseiter bleiben, es begreift sich nicht als bürgerlich im Sinne des Bourgeoisen, es möchte politisch, öffentlich, mitteilend, verständigend und allgemein werden. Es ist aber danach zu fragen, woher diese Haltung Aufgabe und Bestimmung bezieht. Bei Strauß wird es so deutlich wie bei
211
Ebd. S. 66. Ebd. S. 71. 213 Der auf irritierende Weise ins öffentliche Leben inkludierte Außenseiter ist der eigentliche – unheldische – Held des Essays. Vgl. ebd. S. 62, 65 f., 69, 70 f. und 74. 214 Ebd. S. 74. 215 Siehe erneut Smend (31994), S. 471 und 474. 212
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1. Teil: Die Untersuchungsperspektive
Adorno: ein Bildungsbürgerliches wirft hier die Schalen des Bürgerlich-Bourgeoisen ab, um den Blick freizugeben auf den philosophisch-anthropologischen Kern der alten Bildungsidee und deren politische Bedeutung. Es sind Erfahrungen von Unmittelbarkeit, die – wie in Goethes prägnantem Moment, Hölderlins Innigkeit, Prousts mémoire involontaire, Walter Benjamins erfülltem Augenblick, Mahlers auratischen Durchbrüchen und erinnerungsreichen Erfüllungsfeldern – in der Zeit auffindbar, in sie eingeflochten ist, jedoch außerhalb der Zeit liegt, aus ihr hinausführt und so ihre nicht umkehrbare Eingleisigkeit aufhebt. Die bildungsbürgerlich Erzogenen organisieren sich nicht zur Revolution, aber sie lassen in einer – im Hinblick auf gängige gesellschaftliche Praxis – revolutionär zu nennenden Art die normative Kraft ihrer Bildungserfahrungen durchblicken, ohne jedoch das blitzartig beschenkte Individuum oder die Stofflichkeit der Erfahrung selbst zu vergotten. Denn die normative Kraft des Unmittelbarkeitserlebnisses bezieht sich in henologischer Differenz auf die Einsicht in die Transzendenz des „Einen“ und „Guten selbst“216 – eine Positivität, die nicht eine solche der Welt selber, nicht Affirmation ihres bloßen Daseins und ihrer Einrichtungen ist, sondern glückvoller Augenblick eines Jenseits von Position und Negation, weniger gesetzte Erhabenheit, als vielmehr ein Zugelassenes, Zugefallenes, Plötzlich-Erreichtes. Was hier, in Momenten gnostischer Objektivation, erreicht wird, ist die Teilhabe an jener überräumlichen Dimension des Geistigen und der universellen Zeit, deren Halbschatten wir als ,Zeit‘ wahrzunehmen gewohnt sind. Zwar ist das im Medium „schöner“ Sinnlichkeit erfahrene unsinnliche „Gute“ darin immer schon im Zurückweichen begriffen, wie im Kästchen von Goethes Neuer Melusine217, dennoch bleibt jene Sphäre platonischer Anamnesis und Eudaimonie künftigen Erfahrungen, künftigem Denken und Handeln als ein Bestimmendes. Die politische Bedeutung solcher Momente der Unmittelbarkeit und Evidenz besteht in der Wendung ins Öffentliche und Kulturelle: in distanzfähiger Freiheit soll wiederkehren, was als Verzauberung des (Wieder-)Findens begann. Es ist das „Wunder“ des öffentlichen Wohls, wenn sich individuelles ethisch-ästhetisches Erleben und artikuliertes Fragen mit dem Bedürfnis des politischen Gemeinwesens nach Zusammenhalt und Stabilität vereinbaren lässt.218 Stets sind hier gefahrvolle Spannungen zu vernehmen zwischen der individualisierten Erwachsenenexistenz und ihren Intimisierungstendenzen. Die ausdifferenzierte Arbeits- und Konfliktfähigkeit einer Gesellschaft muss Hand in Hand gehen mit einer ausgearbeiteten Freiheit zur
216 Siehe dazu Wyller, Egil A.: Platons „Parmenides“ in seinem Zusammenhang mit dem „Symposion“ und „Politeia“. Interpretationen zur Platonischen Henologie, Oslo 1960. 217 Vgl. AGS 6, S. 399 (,Negative Dialektik‘ III, „Meditationen zur Metaphysik“), AGS 6, S. 289 (,Mahler‘, „Der lange Blick“) und MA 8.1, S. 388 (Goethe an Schiller, 12. August 1797). 218 Vgl. Steiner (1997), S. 312.
III. Fragestellung und Movens
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Regression.219 Das kontemplative Gravitationszentrum so verstandener Bildung impliziert einen sich von jeder individualistischen Verabsolutierung fernhaltenden Blick auf das Subjekt, welches sich – in einiger Nähe zu Adornos wesentlichen Bezugs- und Gewährsquellen Proust und Mahler – als intermittierende Einheit verschiedener Momente höchsten, ja transzendierenden Realitätsgefühls und philosophisch-theologischen Wissens, als seelenhaftes Traum-Subkjekt also, begreifen ließe.220 Von hier aus gelingt der Brückenschlag zu der für das allgemeine Klima der Zeit ungewöhnlichen Atmosphäre des Göttinger Staats- und Verfassungstheoretischen Seminars Rudolf Smends, in dem, wie Horst Ehmke berichtet, „ein Geist von Liberalität, Toleranz und literarischer Gelehrsamkeit“ herrschte. In dieser Atmosphäre sollte jeder Einzelne nicht nur Gesetze, Formeln und enzyklopädisches Wissen aufnehmen und anwenden, sondern sich über staatsrechtliche und politikwissenschaftliche Epistemologie hinaus vom „eigentümlich Traumhaften“ zur staatsrechtswissenschaftlichen Arbeit anregen und leiten lassen.221 Aber nicht nur dem Staatsrechtler, auch dem Staatsbürger scheint die Paränese der Schriften Smends aufzugeben, den Staat „mit der Seele“ zu suchen, wenn dieser als eine zwar in der sozialen Realität des Verfassungslebens aufgehende, doch über die Sinnfälligkeit dieser Realität hinausgehende „geistige Wirklichkeit“ begriffen wird, die „überempirisch aufgegeben“ sei. Bereits hinsichtlich der dem Smendschen Denken eigenen zurückhaltenden Tendenz gegenüber affirmativer Selbstinszenierung gelingt der bezeichnete Brückenschlag hin zu einem philosophisch verstandenen Bildungsbürgertum, das die Erkenntnisinstanz der Seele in seinen Bildungsbegriff zurückgeholt hat. Smend verheimlichte nicht sein (durchaus nicht unfreundliches) Befremden sowohl gegenüber den „Fanfaren des Selbstlobs“, wie sie bezüglich der „nationalen Kardinaltugenden“ gelegentlich in der französischen Kammer zu hören seien, als auch im Hinblick auf die hymnisch-affirmativen Selbststilisierungen der US-amerikanischen Rhetorik. Dennoch sah Smend in solchen ritualhaften Vorkommnissen wohl mehr als bloße Rhetorik, nämlich – sofern die Einsicht in die Konditionalität der republikanischen Demokratie nicht ausgeblendet bleibt – bisweilen notwendige Konkretionen des „politischen Ethos von Volk und 219 Vgl. Sloterdijk, Peter: La musique retrouvée, in: ders.: Der ästhetische Imperativ. Schriften zur Kunst, hg. v. Peter Weibel, Hamburg 2007, S. 8–28, hier S. 13–16. Siehe außerdem Safranski, Rüdiger: Nietzsche. Biographie seines Denkens, München/ Wien 2000, S. 203 f. zu Nietzsches Überlegungen zu einem Zweikammersystem der Kultur. Vgl. dazu den Aphorismus 251 „Zukunft der Wissenschaft“ im ersten Teil von ,Menschliches, Allzumenschliches‘ (KSA 2, S. 208 f.). 220 Vgl. Geck, Martin: Von Beethoven bis Mahler. Die Musik des deutschen Idealismus, Stuttgart: Metzler 1993, S. 422 ff. Siehe auch die Beiträge von Hans Wollschläger und Claus-Steffen Mahnkopf in Gustav Mahler. Der unbekannte Bekannte, MusikKonzepte 91 (1996), S. 5–13 und 34–45. 221 Zitiert nach Günther (2004), S. 159.
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1. Teil: Die Untersuchungsperspektive
Staat“222. Thomas Mann, von Rudolf Smend hochgeschätzt223, war 1921 in seiner Berliner Rede Von deutscher Republik so weit gegangen, in Anlehnung an Novalis’ politische Aphorismensammlung Glauben und Liebe oder Der König und die Königin zu verkünden, das Wesen der Republik bestehe darin, dass in ihr „alle König“ seien sollten. Auf dieselbe Stelle bei Novalis bezieht sich Rudolf Smend, von der Problematik des staatsbürgerlichen Amtes handelnd, in der Göttinger Akademierede Politisches Erlebnis und Staatsdenken.224 Ohne eine übertrieben aktualistische Argumentation führen zu wollen, musste die Darlegung des Movens der hier zu Grunde gelegten Untersuchungsperspektive bemüht sein zu zeigen, dass in dem „unzeitgemäßen“ Sinn für die Konditionalität der Staatsformen bezüglich des sie tragenden menschlichen Typus, wie er sich in Rudolf Smends Sorge um geistige Verbundenheit der Menschen und Bürger mit ihrem Staatsgrundgesetz und dessen kulturellen Voraussetzungen äußert, der eigentliche Grund für das interpretierende Aufgreifen seines Verfassungsdenkens liegt.
222
So Smend in der Weber-Rezension, siehe Smend (1918), S. 373. Dahin lauten mündliche und briefliche Mitteilungen von Wilhelm Hennis, Horst Ehmke und Rudolf Smends jüngerem Sohn Friedrich Smend gegenüber dem Verfasser. 224 Vgl. Smend (31994), S. 349 f. 223
2. Teil
Das Verfassungsdenken Rudolf Smends in seinem staatsrechtlichen Werk I. Rudolf Smends staatsrechtliche Schriften 1. Die Entwicklung eines Staats- und Verfassungsbegriffs a) Die Dissertation (1904) – Die Unzulänglichkeit rechtsdogmatischen Verfassungsdenkens Zu Recht sind in Rudolf Smends Dissertation des Jahres 1904, einem Vergleich der preußischen Verfassungsurkunde von 1850 mit der belgischen von 1831, Ansätze eines sich von den gängigen gesetzespositivistischen Staats- und Verfassungslehren Gerbers und Labands entfernenden Verfassungsverständnisses gesehen worden. Ein sich in immanenter Textinterpretation und begrifflichen Konstruktionen und Systematisierungen erschöpfender Verfassungsvergleich erschien Smend unzureichend.1 Tatsächlich kommt bereits in der Dissertation eine gewisse Unzufriedenheit gegenüber der vorgegebenen rechtsdogmatischen Methode zum Ausdruck. Gleich in der Einleitung heißt es: „Die Anerkennung einer Wahrheit aber ist das zweifellose Ergebnis dieser Kontroversen: die Sätze des belgischen Rechts brauchen, wenn das preussische Staatsgrundgesetz sie auch übernommen hat, deshalb im Zusammenhang des preussischen Staatsrechts doch durchaus nicht dieselbe Bedeutung zu haben, wie im Rahmen der belgischen Verfassung, und wenn die preussische Verfassungsurkunde auch äusserlich die Anordnung der belgischen nachahmt, so darf man daraus doch noch nicht auf innere Gleichheit in der Struktur der verfassungsrechtlichen Systeme beider Staaten schliessen.“2
1 Vgl. Korioth (1990), S. 204 sowie ders.: Erschütterungen des staatsrechtlichen Positivismus im ausgehenden Kaiserreich, in: AöR 117 (1992), S. 212–238. 2 Smend, Rudolf: Die Preussische Verfassungsurkunde im Vergleich mit der Belgischen. Eine von der juristischen Fakultät der Universität Göttingen gekrönte Preisschrift in erweiterter Form, Göttingen 1904, S. 3. Annähernd fünfzig Jahre später bezieht sich Smend noch auf die These seiner Dissertation, gleichlautende Verfassungssätze müssten nicht notwendigerweise von gleicher Bedeutung sein. 1951 schreibt er bezüglich Art. 140 GG, Übernahme der Weimarer Kirchenartikel, Smend (31994), S. 411: „Aber wenn zwei Grundgesetze dasselbe sagen, dann ist es nicht dasselbe.“
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2. Teil: Verfassungsdenken in Rudolf Smends staatsrechtlichem Werk
Im Hinblick auf die Volksvertretung und Stellung des Monarchen betreffenden Rechtssätze der beiden Verfassungen führt der positivistische Vergleich zu verzerrenden, ja unsinnigen Darstellungen. Zur Gegenüberstellung der die Konstituierung des Parlaments regelnden Rechtssätze schreibt Smend: „Die Fülle dieser zum guten Teil wörtlich übernommenen Bestimmungen, deren Abweichungen meist ganz zufälliger Natur sind, bietet keinen für die Vergleichung irgendwie fruchtbaren Gesichtspunkt. Bemerkenswert ist lediglich der schon berührte Gegensatz hinsichtlich der Zusammensetzung der Kammern; die Einzelheiten sind aber auch hier lediglich von politischem, nicht von juristischem Interesse.“3 Lediglich von politischem Interesse – Smend bedauert offensichtlich, an dieser Stelle nicht weitergehen zu können. Zur Erörterung der rechtlichen Stellung des Monarchen, des Rechtsgrundes, auf dem das Königtum beruht, heißt es: „Die Eigentümlichkeit des preussischen Monarchenrechts könnte darin liegen“ – Smend gibt hier eine in der Forschung vertretende Auffassung, wie er sagt „patrimonialen Charakters“, wieder –, „dass es auf einer Rechtsordnung beruhte, die über der staatlichen stände.“4 Da aber eine solche Rechtsordnung, wie etwa diejenige des reichsrechtlichen Lehnsverbandes, nicht mehr bestehe, bleibe nichts anderes übrig, „als bezüglich der in Frage stehenden Rechtssätze einen Unterschied dahin anzunehmen, dass diese durch die Art ihrer Entstehung in besonderer Weise qualifiziert wären“.5 Aus dem rechtsdogmatisch beschränkten Blickwinkel ist die Qualität des Rechts „ganz unabhängig von dem historischen Entstehungsgrunde der Rechtsordnung, auf der es beruht.“ Mit dem „Gegensatz von Volkssouveränität und monarchischem Prinzip“, so Smend, werde dann „kein rechtlicher Unterschied bezeichnet“.6 Wenn für die juristische Argumentation kein Gegensatz hinsichtlich des Rechtsgrundes zwischen parlamentarischem System und monarchischem Prinzip zu konstatieren ist, so sei aber doch ein Gegensatz historisch-politischer Art zu beobachten.7 „Diese Art der Betrachtung überschreitet aber das Gebiet, das der juristischen Erfassung zugänglich ist; das Staatsrecht hat es lediglich mit den formalen Bedingungen der staatlichen Willensbildung zu thun, und diese sind nach beiden Verfassungen im wesentlichen die gleichen.“8 Sich auf eine Passage in Otto Mayers Verwaltungsrecht beziehend9, begründet Smend den Gegensatz des monarchischen Prinzips, der parlamentarischen 3
Smend (1904), S. 25. Ebd. S. 47. 5 Ebd. S. 47 f. 6 Ebd. S. 49. 7 Vgl. ebd. S. 50. 8 Ebd. S. 51. Das ist ja gerade die Maxime einer nicht-materialen Verfassungsbetrachtung! Und in Reverenz gegenüber dieser Denkschule verweist Smend auf Gerbers ,Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts‘. Der Verweis auf Gerber ebd. Anm. 2. Vgl. Gerber (21869), S. 221 ff. 4
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Monarchie und der Volkssouveränität mit dem „historisch bedingten Unterschied zwischen dem öffentlichen Recht in Deutschland“ und in den „romanischen Staaten“. Smend schließt mit den Worten: „Mit der in den letzten Ausführungen versuchten Beleuchtung des Verhältnisses der beiden Verfassungsurkunden sind aber die Grenzen, die der rein dogmatischen Vergleichung gezogen sind, bereits überschritten; diese Seite des Gegensatzes hat allerdings noch ein grosses rechtshistorisches Interesse, führt aber zugleich schon auf das Gebiet der historisch-politischen Individualität der beiden Staaten hinüber, deren Charakterisierung nicht mehr im Rahmen unserer Aufgabe liegt.“10 Mit seiner Dissertation weist Smend auf die Unfähigkeit der formaljuristischen Verfassungsbetrachtung hin, eine differenzierte Staatsformenlehre zu begründen, da sie nicht in der Lage ist, die „historisch-politische Individualität“ des Staates und somit auch nicht einen Begriff der Regierung, eine Vorstellung von der aufgegebenen Bestimmung (telos) eines Staates und eines entsprechenden Menschentypus zu erfassen. Die wirklichen Verhältnisse, die realen Kräfte und Mächte, – die überpersönlicher Tradition sowohl als auch die individueller Konkretion – müssen, insoweit sie für den Staatsrechtler von Interesse sind, zu den weithin identischen Texten der miteinander verglichenen Verfassungen hinzugedacht werden, um ihren rechtlichen Gehalt zu erkennen, ebenso wie nicht direkt aus den Rechtsvorschriften entnehmbare Normvorstellungen. Nur im Zusammenhang mit der empirisch-politischen Welt, die sie normativ zu regeln beanspruchen, lassen sich Verfassungen angemessen verstehen. Anhand der Dissertation lässt sich bereits der künftige Schritt ersehen, den Smend in der Folgezeit in Richtung eines Verständnisses vom Charakter des öffentlichen Rechts machen wird. Die außerdeutsche Verfassungstheorie beschäftigte von jeher eine Frage, die der deutschen spätkonstitutionellen Staatsrechtslehre vergleichsweise fern lag: das Problem der sozialen und kulturellen Voraussetzungen der Staats- und Regierungsform, also das, was sich unter dem Begriff einer Verfassungssoziologie oder -anthropologie zusammenfassen ließe.11 Insbesondere in den Passagen, in denen Smend von dem „historisch 9 Vgl. Smend (1904), S. 83 ff., Zitat S. 85, der Verweis auf Otto Mayer ebd. in Anm. 2. Vgl. Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht Bd. 1, München 1895, S. 55. 10 Smend (1904), S. 85. 11 In dieser Tradition, deren Kern – die Aufmerksamkeit für das Verhältnis von Mensch und (Staats-)Recht – in der platonischen ,Politeia‘ begründet liegt, stehen etwa die ,Discorsi‘ Machiavellis, Montesquieus Lehre von den Prinzipien der Staatsformen, die Schriften und Reden von Edmund Burke, Tocquevilles Amerikabuch, Walter Bagehots Werk über die englische Verfassung, insbesondere über die sozialen Voraussetzungen des englischen Kabinettsystems, sowie Max Imbodens Versuch einer psychologischen Deutung der Staatsformen. Hinzu kommt eine auch in Deutschland existierende Tradition verfassungssoziologisch orientierter Staatsformenlehre – etwa bei Robert von Mohl, Johann Caspar Bluntschli, Rudolf von Gneist und Franz von Holtzendorff. Als „deutsch“, im Gegensatz zu verfassungssoziologischen Betrachtungen, kann zweierlei gelten: entweder das Absehen von den sozialen und kulturellen
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bedingten Unterschied zwischen dem öffentlichen Recht in Deutschland“ und in den „romanischen Staaten“ spricht12, schwingt in der Dissertation von 1904 auch der Gegensatz zu dem anglo-amerikanischen Verständnis der Sphäre des Öffentlichen mit. Die Geschichte der geschriebenen Verfassungen der deutschen Staaten lässt sich dahingehend kennzeichnen, dass bereits vorhandene, aus eigenem Recht heraus fest etablierte Regierungsinstanzen, die Fürsten der deutschen Einzelstaaten, qua Verfassung denjenigen Teil der Bevölkerung an der Ausübung gewisser Regierungsaufgaben beteiligen, den sie für geeignet erachten, in den Vorgang staatlicher Beratung, Willensbildung und Entscheidungskompetenz eingebunden zu werden. Den deutschen Verfassungen fällt also eine Art Anerkennungs- und Beurkundungsfunktion zu: „Die Verfassung wird so zu einem Instrument der Konstitutionalisierung von zur Mitbestimmung zugelassenen gesellschaftlichen Kräften.“13 Gegenüber diesem statisch-etatistischen Prinzip ist dem westlichen Verfassungsbegriff die Idee der Volkssouveränität inhärent, dahingehend, die repräsentative Demokratie so zu begreifen, dass bestimmte um ihrer sachlichen Aufgaben notwendige und von der Verfassung geschaffene Ämter an das Vertrauen einer Repräsentativkörperschaft gebunden werden. Dieses weitgehend dynamische Verfassungsdenken kann sich weder mit bloßer Staatsrechtstechnik zufrieden geben noch ausschließlich auf legitimierende Verfahren setzen. Das Prinzip treuhänderischer Überantwortung von Macht fußt auf metajuristischen kulturellen Voraussetzungen. Eben dies bringt einer der zentralen Sätze der Federlist Papers zum Ausdruck (Nr. 76): „The institution of delegated power implies that there is a portion of virtue and honour among mankind, which may be a reasonable foundation of confidence.“14 Im deutschen Verfassungsdenken beteiligt ein vorkonstitutionelles Amt, der Monarch, über die Verfassung einen anerkannten Teil der Gesellschaft an einem begrenzten Bereich des Verfassungslebens. In seiner ersten Wahlrechts-Studie, der Tübinger Antrittsrede von 1911, sollte Smend aufzeigen, wie auch die zentrale Bemühung der Wahlrechtsprinzipien der konstitutionellen Theorie des 19. Jahrhunderts dem Gedanken galt, dem Staat die wichtigsten gesellschaftlichen Kräfte zuzuführen. Ein Gedanke, der ein demokratisches Wahlrecht in einer konstitutionellen Monarchie entscheidend – nämlich „innerlich“, also im Hinblick auf „subjektives Gestimmtsein“ in einer staatlichen Institution15 – von
Voraussetzungen des Verfassungsrechts, die Absicht also, die Norm „rein“ zu halten, frei von materieller Beimengung, mit der Folge unvermittelter Gegenüberstellung von Sein und Sollen; oder aber der Versuch der unvermittelten Identifikation von Verfassungsrecht und sozialer Struktur, mit der Tendenzfolge der Inkorporation der sozialen Kräfte in die geschriebene Verfassung. 12 Smend (1904), S. 85. 13 Hennis (1973), S. 59. 14 Siehe Federalist (1982), S. 464. 15 Smend (31994), S. 353.
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dem in ganz anderer Art auf Regierungsweise und Staatsform bezogenen Sinn des Wahlrechts in der republikanischen Demokratie unterscheidet. Das Wort von der „historisch-politischen Individualität“ des Staates, mit dem Smend seine Dissertation abschließt, weist bereits voraus auf das lebhafte Interesse für den spezifischen charakterlichen Typus politischer Ordnungen und damit für den problematischen Bereich der Regierung, auf engste zusammenhängend mit der Staatsformenlehre und dem Dogma der Gewaltenteilung. Denn die historisch-politische Individualität, die nicht nur der Staatslehrer beschreiben, sondern an der der Staatsbürger teilhaben kann, tritt vornehmlich zu Tage im Bereich der gubernatio – des government, gouvernement, governo –, der Ausübung von Führungs-, Koordinierungs- und Lenkungsfunktionen. Die spätkonstitutionelle Staatsrechtslehre ließ diesen Bereich in einer formalistisch missverstandenen Gewaltentrennung verschwinden. So teilte Otto Mayers Verwaltungsrecht die Staatsgewalt in Gesetzgebung und Justiz ein, definierte dann die Verwaltung negativ als das, was nicht Gesetzgebung und nicht Justiz sei, und erklärte schließlich, für die Regierung sei „nichts übriggeblieben als das Allgemeine, das darüber steht“. Dies, so erklärt sich in positivistischer Folgerichtigkeit, sei rein geistiger Natur: „Uns geht es weiter nichts an“.16 Verfassungssoziologisches Denken und mit ihm der Sinn für den ethisch-politischen Charakter der verfassungsrechtlichen Institutionen mussten darüber für Staatsrechtslehre und Staatsbewusstsein verloren gehen. b) Ungeschriebenes Verfassungsrecht (1916) – Gefahren mangelnder Fühlung mit Staat und Verfassungsleben Mit dem Problem „charaktervoller“ Einheit eines konkreten Staatswesens befasst sich die Studie Ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat von 1916. Sie handelt davon nicht nur im Sinne eines Problems der politischen Empirie, sondern auch als von einer auf geltendes Verfassungsrecht bezogenen Bewusstseinsproblematik. In dem letzten von ihm publizierten Text, der veränderten Fassung des Artikels ,Integration‘ in der zweiten Auflage des Evangelischen Staatslexikons von 1975, hat Rudolf Smend diese Schrift als ersten Schritt zu seiner Integrationstheorie bezeichnet.17 Der Hinweis ist ernst zu nehmen. Folgt man ihm, so stellt sich heraus, dass Smend in dem Festschriftbeitrag von 1916 die sorgenvolle Frage nach einer metajuristisch gültigen Staatsidee des monarchischen Bundesstaates stellt. Dazu wirft er einen kritischen Blick auf die Verfassungspraxis des Kaiserreichs. Diese Praxis zeigte mehr und mehr die Tendenz, sich von den Normierungen der Verfassungsurkunde zu entfernen, zum Teil stand sie sogar im Widerspruch zum Wortlaut der 16 17
Mayer (1895), S. 3 ff. Vgl. EvStL 21975, Sp. 1027.
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Verfassung. Vor allem aber war sie von Prinzipien geleitet, die gar keinen Niederschlag im Text der Verfassung gefunden hatten. Der Beobachtung vermeintlicher Diskrepanzen zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit stand die gesetzespositivistische Staatsrechtslehre nahezu ohnmächtig gegenüber. Auch Laband diagnostizierte Verfassungswandlungen, diese lägen jedoch außerhalb des Gegenstandes juristischer Dogmatik.18 Diese Wandlungen der Verfassung werden von ihm als „politische Notwendigkeiten“19 gesehen, und auch für Jellinek sind sie durchaus „höchst bedeutsame Fragen der Politik“. Resignierend wird resümiert: „Die realen politischen Kräfte bewegen sich nach ihren eigenen Gesetzen, die von allen juristischen Formen unabhängig sind.“20 Die Schriften Jellineks und Triepels nehmen zwar die Bezeichnung der „politischen Abhandlung“ in ihre Titel auf21, zeigen sich aber letztlich unbeeindruckt von den Eigentümlichkeiten der Verfassungspraxis, indem sie sie als rechtlich irrelevant zurückweisen. Im Falle der kurzen Schrift Rudolf Smends über die Wirkmächtigkeit ungeschriebenen Verfassungsrechts handelt es sich um eine Art rechtshistorisch-soziologische Vorgehensweise – also letztlich um den Schritt, den Georg Jellinek nicht vollziehen wollte: eine von den ausschließlich im Rechtsmaterial angesiedelten Gerberschen „Kunstregeln des juristischen Denkens“22 abgesetzte Form des Entdeckens, die sich im Spannungsfeld von juristischer Norm und politischer Wirklichkeit bewegt. Angebahnt ist hier bereits Smends Auffassungsweise von der Verfassung als anregender und einschränkender Regelung des dialektischen Spiels der politisch-institutionellen Kräfte.23 Es ist der verfassungstheoretische Versuch, Verfassungsnorm und Staatspraxis in ihrer sich gegenseitig konstituierenden Bedingtheit darzustellen. Smend zeigt sich dabei nicht von der Seite eines reinen Verfassungsempirikers. Denn eine vermeintliche Übermächtigkeit sogenannter Verfassungswirklichkeit, der realen Kräfte und Mächte, wird nicht behauptet; die Smendsche Staatslehre bleibt durchaus eine normativ ausgerichtete. In der politischen Praxis anerkannte Prinzipien erweisen sich als verfassungsrechtlich gewollt: Smends Entdeckung von ungeschriebenen bundesstaatlichen Rechten und Pflichten gipfelt in dem zentralen Begriff der Bundestreue.24 Der Begriff war freilich nicht erst von Smend, son18 Vgl. Laband, Paul: Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung. Vortrag gehalten in der Gehe-Stiftung zu Dresden am 16. März 1895, Dresden 1895. 19 Laband, Paul: Die geschichtliche Entwicklung der Reichsverfassung seit der Reichsgründung, in: JöR 1 (1907), S. 27. 20 Jellinek, Georg: Verfassungsänderung und Verfassungswandlung. Eine staatsrechtlich-politische Abhandlung, Berlin: Häring 1906 S. V f. und 72. 21 Siehe ebd. und Triepel, Heinrich: Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche. Eine staatsrechtliche und politische Studie, Tübingen 1907. 22 Gerber (21869), S. 28. 23 So dann in der Schrift von 1919, vgl. Smend (31994), S. 66 f.
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dern bereits von Bismarck eingeführt worden, um den vor der Gründung des Norddeutschen Bundes und dann des Deutschen Reiches souveränen Einzelstaaten die Einordnung in das bundestaatliche Ganze zu erleichtern.25 Zugleich verwies der Begriff auf das geschichtliche Zustandekommen der Einigung und hielt damit, als in dem Moment der Reichsgründung denkbar wirkungsvollste Legitimationsgrundlage, nach dem militärischen nun auch zu einem politischen bundesfreundlichen Verhalten an. Die föderative Idee, ganz bewusst derjenigen einer Parlamentarisierung auf Reichsebene entgegengesetzt, gibt der geschriebenen Verfassung erst ihre eigentliche politische Farbe und Wirkungskraft, bedeutet darüber hinaus aber auch eine notwendige Bereicherung der geschriebenen Sätze um wichtige ungeschriebene. Erst mit der Anerkennung dieses sich in der politischen Mentalität offenbarenden grundlegenden Verfassungsrechts erhalten „einige magere Abschnitte der Reichsverfassung ihr eigentliches Leben“26. Den Bruch mit der rechtspositivistischen und formaljuristischen Verfassungsbetrachtung hatte Smend bereits 1904 mit seiner Dissertation vollzogen. War der Festgabenbeitrag für Otto Mayer, dem Smend Anregungen zu jenem Schritt verdankte, eine bloße Vergewisserung des neuen staatswissenschaftlichen Selbstverständnisses? Weit über einen bloßen Schulstreit hinaus geht 1916 Smends Veranlassung, in Sachen Verfassungssprache, Verfassungstechnik und Verfassungsgrundlagen das Wesen des monarchischen Bundesstaates zu erörtern.27 Vielmehr lässt sich von einem nicht nur fachlich begründeten Bedürfnis sprechen, sich als Staatsrechtler zu der Problematik der unter anderem durch das „persönliche Regiment“ angestoßenen Verfassungswandlungen zu äußern.28 Vgl. Smend (31994), S. 49 ff., insb. S. 51 und 56. Siehe etwa Bismarcks Ansprache an den Bundesrat am 1. April 1885 bei Mayer, Otto: Republikanischer und monarchischer Bundesstaat, in: AöR 18 (1903), S. 370. Nach Bismarcks Anschauung war das Reich ein Bund der Fürsten. Diese Idee bildete eine Verfassungsfiktion von stetig abnehmender Wirkmächtigkeit. Die Sache der Bundestreue betrifft somit den Kern der Bismarckschen Verfassung sowie den der von ihm beabsichtigten und gehandhabten Regierungspraxis. Dieser Kern bestand darin, dass zum einen die Reichsleitung (von einer Reichsregierung sprach Bismarck grundsätzlich nicht) in den Bundesrat integriert war, zum anderen das preußische Staatsministerium im Zentrum der Reichspolitik stand, sie vorbereitete und koordinierte. Es war dies eine ganz besondere, schwierig auszutarierende Handhabung eines Föderalismus unter zwar unumgänglicher, jedoch (besser noch: deswegen) rücksichtsvoller, „bundesfreundlicher“ preußischer Hegemonie. Das Amt des Reichskanzlers verstand Bismarck nicht als Stellung des ersten Beamten eines den Einzelstaaten übergeordneten Gemeinwesens, sondern als die eines von ihnen gemeinsam Beauftragten. Von der organisatorischen Rechtsstellung des Kanzlers als eines gemeinsamen, beinahe „staatenbündischen“ Beamten der Bundesfürsten ist auf das gemeinte funktionelle Verhältnis zu schließen. Vgl. Smend (31994), S. 51. 26 Smend (31994), S. 52. 27 Vgl. ebd. S. 40. 28 Die von Bismarck stets gefürchtete unitarisierende Tendenz der „Verreichung“ vollzog sich im Wesentlichen über zwei Einfallstore der Verfassungsumwandlung: zum einen ist hier das Wachsen der Staatsaufgaben zu nennen, zum anderen das soge24 25
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Die dringliche und generelle Feststellung, dass das Deutsche Reich „keine volkstümliche Verfassung“ besitze, dass die Reichsverfassung in ihrem diplomatischen Stil dem deutschen Volk wohl „stets fremd und unverständlich bleiben“ werde29, bildet den sorgenvollen Gravitationspunkt der Untersuchung. Den „föderativen Stil unseres gesamtstaatlichen Verfassungslebens“ zu beschreiben, die „politischen Wirklichkeiten“ und „funktionellen Verhältnisse“30 hervorzukehren, die hinter der Sprache der Verfassung stehen – darin besteht Smends Anliegen, um einen Beitrag zur Verständlichkeit des Verfassungslebens zu leisten. Für den passiven Betrachter würden die Grundlagen dieses Lebens nicht nur durch die „mageren“ Rechtssätze der Verfassung verdunkelt, sondern zudem dadurch, dass „Theorie und Parlament sich an die geschriebene Reichsverfassung halten und ihre ungeschriebene Ergänzung verkennen, während die verbündeten Regierungen diese letzte Seite eher zu überschätzen geneigt sein werden.“31 Es bestehe somit nicht nur eine gewisse „Rechtsunsicherheit“32, sondern auch eine Bewusstseinsunklarheit, verursacht durch die unvollkommene Deckung von formellem und materiellem Verfassungsrecht, weitergetragen durch eine Auslegungsweise, welche die tatsächlichen Verhältnisse ausblende. Auf Dauer müsse dies zu einer mangelhaften Fühlung der Menschen zu ihrem Staatsleben führen. Ein dermaßen unverstandenes Grundgesetz könne niemals Grundlage verfassungspolitischer Überzeugungen eines Volkes und „Ausdruck
nannte „persönliche Regiment“ Wilhelms II. Die Wendung zum modernen Sozial- und Interventionsstaat, zum Staat umfassender Daseinsvorsorgefunktionen, begann spätestens ab 1890. Die fortschreitende Normierung und Regulierung immer weiterer Lebensbereiche brachte die Notwendigkeit von Gesetzen oder gesetzlicher Ermächtigungen zu Verordnungen mit sich, diese wiederum einen Ausbau der Reichsverwaltungsbehörden und eine deutliche Zunahme der Bedeutung des Reichstages als gesetzgebender sowie steuerbewilligender Institution. Gegen oder auch nur ohne den Reichstag zu regieren wurde zunehmend schwieriger. Ab 1899 wurde der Zusammenschluss von Parteien auf Reichsebene möglich, 1906 kam es zur Einführung von Diäten, ein Berufspolitikertum konnte sich von nun an deutlich besser entwickeln. 1908 wurde das Versammlungsrecht ausgeweitet, 1912 die Geschäftsordnung des Reichstages dahingehend verändert, dass es den Parlamentariern möglich wurde, im Anschluss an die Behandlung von Interpellationen an den Reichskanzler Missbilligungsvoten zu verabschieden. Infolge der Bestrebungen eines „persönlichen Regiments“, d. h. der Entscheidung des schwebenden konstitutionellen Dualismus zwischen Kanzler und Kaiser zu Gunsten des letzteren, erhielten das Geflecht informeller Ratgeber um Wilhelm II., zudem die Chefs der kaiserlichen Sekretariate, des Zivil-, Militär- und Marinekabinetts, zunehmende Bedeutung für die tägliche Regierungspraxis. 29 Smend (31994), S. 39. Dieser Mangel an einem „populären Staatsgeist“ ist während des Krieges auch von Friedrich Naumann beklagt worden. Vgl. ders.: Die deutsche Sache. Die deutsche Seele. Zwei Vorträge gehalten in Kristiana am 3. und 5. Februar 1917, Berlin 1917. Vgl. außerdem ders.: Der Kaiser im Volksstaat, Berlin 1917. 30 Smend (31994), S. 49 und 51. 31 Ebd. S. 52. 32 Ebd. S. 53.
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seines politischen Selbstbewusstseins werden, wie das den älteren republikanischen Vorbildern gelungen ist und einer Verfassung in der Art der Frankfurter auch in Deutschland gelungen wäre.“33 Es ließe sich von einer konzentrierten Diagnose der „Verfassungslage“ sprechen, um die Smend sich hier bemüht. Ihn beunruhigt die von ihm beobachtete Tatsache, dass Verfassung und Verfassungsleben des Kaiserreichs weitgehend unverstanden und somit „unpopulär“ seien – unpopulär des Sinnes, dass es einen Bruch im Kulturellen bedeutet, wenn die Art von – nicht zuletzt kommunikativer – Führung des Verfassungslebens nicht als tonangebend, verbindlich und nachahmenswert empfunden wird. Die mangelhafte Fühlung der Menschen zu dem Leben ihres politischen Gemeinwesens und die damit zusammenhängende Gleichgültigkeit diesem gegenüber seien nicht zuletzt bedingt durch die fehlende Einsicht in die Verfassungsgrundlagen; in der Folge blieben auch die gesamte Struktur der Verfassungsordnung, die Verfassungssprache und die politische Praxis fremd. In einer Zusammenschau von historischem Zustandekommen und politischer Verfassungspraxis „entdeckt“ Smend die rechtlich nicht positivierte normative Aufgabe des „bundesfreundlichen Verhaltens“. Eine charakterliche Bestimmung und Aufgabe des Staates, die in den unterschiedlichen Momenten seines Lebensprozesses erlebbar werden muss, ist es, was Smend hier nahezubringen versucht. Ansonsten bliebe die Verbindung der Staatsbürger zu ihrem politischen Gemeinwesen rein rechtsgeschäftlich, ein von allen Leistungen der Daseinsvorsorge abgesehen schwach gerechtfertigtes, als hinzunehmende Tatsache, als mehr oder weniger notwendig, mehr oder weniger erträglich angesehenes Übel, und Schillers Wort würde weiterhin gelten: „. . . und ewig bleibt der Staat seinen Bürgern fremd, weil ihn das Gefühl nirgends findet.“34 Die Fiktion des Reichsföderalismus als Verfassungsföderalismus konstituierte zunächst, gepaart mit moderner Nationalstaatsbewegung, ein eigentümliches Gebilde konservativer Staatlichkeit, einen Schutzschirm des monarchischen Prinzips gegen jegliche Verfassungsentwicklung, insbesondere gegen ein Vordringen des Reichsparlamentarismus. Als ein kompliziertes Gefüge sollten die Verfassung und ihre Verhüllungsformeln ein Neben- und Gegeneinander von Bundesrat, Reichskanzler und Reichstag anregen, ein Staatsleben geprägt von gegenseitigen Abhängigkeiten und Hemmungen. Infolge der sich vollziehenden Verfassungsumwandlungen auf dem Wege staatsrechtlich nicht vorhersehbarer Imponderabilien des politischen Lebens hatte sich diese Verfassungsfiktion als wegleitende Staatsidee nahezu aufgelöst. Die unitarische Tendenz der „Verreichung“ führte aber im Rückblick auf diese Staatsidee als ungeschriebener Verfassungsnorm zu einer Inkongruenz verunklarenden Ausmaßes. Der Reichstag 33 34
Ebd. S. 54 f. Schiller (2000), S. 24 (,Über die ästhetische Erziehung des Menschen‘, 6. Brief).
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gewann an Bedeutung für die Regierungspraxis, doch in dieser gab es auf Reichsebene kein dem Zentralparlament verantwortliches Ministerkollegium.35 Das gültige Wesen eines Bundesstaates, so Rudolf Smend 1916, beruhe stets auf dem letzten Prinzip, durch das er die Beziehungen der Gesamtheit zu den Einzelstaaten regle. Der republikanische Bundesstaat kenne in seiner Sphäre keine Einwirkung der Einzelstaaten, wirke aber seinerseits bestimmend auf das Wesen der Bundesglieder, indem er ihnen die Grundprinzipien ihrer Verfassung 35 In den Jahren zwischen 1876 und 1914 gewannen, infolge des starken Anwachsens der Reichsbürokratie, die formal als kanzlernachgeordnete Behörden angesehenen Staatssekretariate ihre Unabhängigkeit von Preußen – das persönliche Regiment sowie die fallengelassene Personalunion von Reichskanzler und preußischem Ministerpräsidenten während der Amtszeit Caprivis trugen dazu bei. Vor allem aber sahen sich die Reichsämter mit ständig wachsenden Aufgaben konfrontiert; ihr Apparat verdreifachte sich in dem angegebenen Zeitraum. Sie wandelten sich schleichend zu eigenen Reichsministerien, ohne doch ein wirkliches Ministerkollegium zu bilden. Das Verhältnis zwischen Reich und Preußen veränderte sich; die unter Hohenlohe und Bülow wieder statthabende Personalunion von Reichsleitung und preußischem Ministerium diente nicht länger zur Sicherung der Führung Preußens. Der Bundesrat als vormalige Regierungsinstitution wurde deutlich geschwächt. Diese Schwächung hing auch mit den Tagungsgewohnheiten des Bundesrats zusammen: er wurde unregelmäßig mit unterschiedlichen, instruktionsmäßig gebundenen Bevollmächtigten beschickt, zuweilen mit Landesministern, dann wieder mit den in Berlin ansässigen Gesandten der Bundesstaaten. Der Bundesrat besaß keinen Apparat, war in Sachen der Information und der Vorbereitung somit den Berliner Ministerialen hoffnungslos unterlegen. Zudem besaß der Bundesrat kein eigenes Gebäude, sondern tagte (nichtöffentlich) im Reichskanzleramt. Die Versuche Bismarcks, die Zersplitterung zu verhindern, das Stellvertretungs- und Ausschusswesen einzudämmen und die Verhandlungen des Plenums zu beleben, misslangen. Die reellen Möglichkeiten schwanden zusehends, den Bundesrat über den Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten, die Einflussnahme auf die Ernennung der Reichsbeamten und die Verpflichtung zur Reichsaufsicht als ein wirkmächtiges Regierungsorgan in das Verfassungsleben einzubinden. Die Umfunktionierung der preußischen Hegemonie, der Aufstieg der Reichsbürokratie und der Reichsleitung, ihre Angewiesenheit auf das Reichsparlament führten zu einem fundamentalen Wandel des föderalistischen Elements der Verfassung. Die Bismarcksche Rhetorik, aber auch ihr sachlicher Gehalt, die in der Verfassungsinstitution des Bundesrates zusammentretenden verbündeten Regierungen (mit dem Kaiser in der Funktion des Bundespräsidiums) als das eigentliche Regierungsorgan anzusehen, entsprach spätestens ab 1900 nicht länger dem politischen Bewusstsein und der Regierungspraxis. Im Gegensatz zur Reichstagsauflösung von 1893 lief diejenige von 1906 bereits ohne jede Vorlage und Einschaltung des Bundesrates ab. In dem Zustandekommen der von ihnen eingeleiteten Gesetze bestand das vornehmliche Interesse der Staatssekretäre und Reichsbeamten, und somit wurde die Kooperation mit den Parteiführern und den jeweiligen Parlamentsmehrheiten immer entscheidender. Der Verselbstständigung der Reichsämter gegenüber den preußischen Ministerien entsprach die Zurücksetzung des Bundesrates gegenüber den die Öffentlichkeit immer stärker beschäftigenden Erfolgen des Reichstages. Die sich somit herausbildende Praxis, nach einer Verständigung mit dem Zentralparlament zu suchen, unterwanderte die klassische formale Trennung von Exekutive und Legislative; der Reichstag konnte sich in der tatsächlichen Verfassungspraxis immer mehr als ein Regierungsorgan neben Kaiser, Kanzler und Staatssekretären verstehen. Vgl. Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866–1918. Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, S. 471–497, auch S. 85–109.
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vorschreibe. Dies sei der Fall in den USA sowie im schweizerischen Bundesstaat. Der monarchische Bundesstaat dagegen lasse die Einzelstaaten durch ihre Beteiligung am Bund das Leben der bundesstaatlichen Gesamtheit in prägender Weise bestimmen, vermeide aber jedes Hineinregieren in die Angelegenheiten der Einzelstaaten. Hier wie dort bedeute das Prinzip bundesstaatlicher Verfassung Grundverschiedenes: Schranke gegen übermäßige Einwirkung des ohnehin die Gesamthaltung bestimmenden republikanischen Gesamtstaates zum einen, umgekehrt die Gewähr einer angemessenen Einwirkung der Einzelstaaten auf bundesstaatlicher Ebene zum anderen.36 Nicht explizit, aber unterschwellig konstatiert Smend die in der Verfassungspraxis des Deutschen Kaiserreichs unreflektiert gebliebene schleichende Verfassungswandlung, besonders befördert noch durch den Krieg, hin zum republikanischen Bundesstaat und zu einer Annäherung an dessen Prinzip, die auf Gesamtstaatsebene gewonnene Gesamthaltung als bestimmend für das ganze Verfassungsleben zu begreifen. Diese Überlegung steckt in dem äußerst geschmeidigen Satz, der einer der letzten der Studie von 1916 ist: „Da wird in Zukunft die Verkennung dieser Dinge, in denen die ausschließliche Eigentümlichkeit unseres monarchischen Bundesstaatsrechts liegt, gegenüber dem, was wir mit den republikanischen Bundesstaaten gemeinsam haben, noch näher liegen als bisher.“ Smend macht mithin auf drei ineinandergreifende Probleme aufmerksam: zum Ersten auf das Unverständnis für das bisherige Verfassungsleben des monarchischen Bundestaates (vor der „Verreichungs“-Tendenz) mit seinem ungeschriebenen Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens; zum Zweiten auf die weithin fehlende Aufmerksamkeit für die angesprochene Verfassungswandlung. Zum Dritten gibt Smend implizit zu verstehen, dass der Dynamik des Politischen auch eine metajuristische Kulturbedingung zu entsprechen habe: die Verlagerung der bundesstaatlichen Verfassungspraxis auf die Reichsebene muss einhergehen mit einem Wandel staatsbürgerlichen Geistes. Die Sorge gilt somit nicht einer (absehbaren) Demokratisierung, sondern der mangelnden Fühlung mit den der neuen Staatsform wesentlichen Verfassungsdingen und ihren kulturellen Voraussetzungen, ohne die alle Demokratisierung immer schon naheliegenden Tendenzen zur bürokratisierten Sozialstaatlichkeit folgen würde. Ausdruck politischen Bewusstseins kann ein Staatsgrundgesetz nicht werden, wenn in der von ihm angeregten Verfassungspraxis der Charakter des institutionellen Zusammenspiels und der ihm eigene Sinn unverstanden bleiben und zugleich eine Zusammenhalt stiftende Staatsidee, der Zweck (telos) eines konkreten Staatwesens, nicht erkennbar wird. Die Inauguralschrift der Integrationslehre erweist sich demnach als empfänglich für die Einsicht in die Unzulänglichkeit staatsrechtlicher Techniken; diese Einsicht in die Konditionalität verfassungs36
Vgl. Smend (31994), S. 57 f.
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mäßiger Institutionen kann als der dem philosophisch-anthropologischen Aspekt der Smendschen Verfassungstheorie eigentümliche Ausgangspunkt gelten. c) Der Kriegs-Vortrag (1915) – Der Staat als sittliche Verpflichtung In der Reihe der Tübinger Kriegsschriften Durch Kampf zum Frieden erschien der im Februar 1915 gehaltene Vortrag Smends über Krieg und Kultur.37 Smend umreißt hier die Positionen „überschwänglichster Verherrlichung des Krieges vom Standpunkt der Kultur (. . .) und seine leidenschaftliche Ablehnung ebenfalls vom Standpunkt der Kultur“38. Eine Denkweise wie diejenige des Romans Die Waffen nieder! (1889) Bertha von Suttners, dessen Protagonistin, nachdem sie ihre beiden Männer und fast ihre ganze Familie im deutsch-österreichischen Krieg oder durch die unmittelbaren Folgen des Krieges verloren hat, aus Abscheu vor der Zerstörung so vielen Lebensglücks durch den Krieg zur Anhängerin der Friedensbewegung wird, scheine mit der Auffassung der materialistischen Geschichtsphilosophie nur auf den ersten Blick nichts gemeinsam zu haben. Diese sehe alle Geschichte rein wirtschaftlich bedingt: die Staaten sind Veranstaltungen zur Ausbeutung, Kriege dienen der Verteidigung oder Erweiterung dieser Ausbeutung; die fortschreitende Demokratisierung, die Annäherung an die sozialistische Ordnung schaffe aber diese Ausbeutung und mit ihr die Kriege aus der Welt. Beiden Anschauungen gemeinsam sei ein „schroffer Individualismus.“ Für beide gibt es in der Welt nur die Einzelmenschen: im Suttnerschen Roman die Menschen „mit ihrem gerechten Anspruch auf recht viel Lebensfreude – daß es in der Welt auch noch andere und sehr schwerwiegende Dinge gibt, die diesen individuellen Lebensgütern gegenüber in die andere Waagschale geworfen werden können“, sei dieser Auffassung ein fernliegender Gedanke. Für den historischen Materialismus wiederum gebe es nur die Menschen, die ausbeuten oder die ausgebeutet werden.39 Eine zweite Gruppe von Pazifisten bekämpfe den Krieg wegen seiner angeblichen „Unvereinbarkeit mit obersten und letzten Gütern der Menschheit.“ In diesem Sinne hätten sich 1815 die Kaiser von Österreich und Russland sowie der König von Preußen zu einer Allianz zusammengeschlossen, in der Überzeugung, dass Gebote der Religion „nicht nur das Privatleben, sondern auch das Verhältnis der Staaten zueinander beherrschen sollen.“40 37 Smend, Rudolf: Krieg und Kultur, in: Durch Kampf zum Frieden. Tübinger Kriegsschriften. Heft VIII, Tübingen 1915. 38 Ebd. S. 10. 39 Ebd. S. 11. 40 Ebd. S. 12.
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Die Verteidiger des Krieges stünden oft auf demselben Boden wie seine Ankläger: ihre Argumente gingen dahin, dass das, was die christliche Begründung der Friedensidee geschützt sehen wolle, das religiöse, künstlerische, wissenschaftliche Leben, gerade im Krieg durch die Entladung aufgestauter Spannungen in einzigartiger Weise gefördert werde. Die besten Gründe für die Verteidigung des Krieges, so Smend, lägen allerdings nicht hier, sondern „im Wesen des Kulturwerts, ohne den es gar keinen Krieg im heutigen Sinne gäbe, nämlich des Staats.“41 Krieg habe wohl als einer der wesentlichen Faktoren der Staatsbildung überhaupt zu gelten; jedenfalls sei „das Gefaßtsein auf den Krieg das große Schwungrad eines gesunden politischen Lebens“. Die „Schwäche der Theorien vom Ewigen Frieden“ – Smend nennt Tolstois Verurteilung des Patriotismus – liege in der „Unterschätzung des Staats und seines Wesens und seiner Lebensnotwendigkeiten“42. Diese Stelle ist bereits die Beachtung des in der Literatur zu Smend bislang vernachlässigten Vortrags wert. Smend nimmt sicherlich keine pazifistische Haltung ein; zugleich empfindet er aber die Äußerung des jungen Hegel, der Staat müsse „im Interesse der Gesundhaltung“ seines inneren Lebens von Zeit zu Zeit einen Krieg herbeiführen, als „frivol“.43 Alles kommt in dieser mittleren Position auf das „Gefaßtsein“ an, auf eine sorgenvolle Bewusstseinslage, die den Übergang von der politischen Verhandlung zur militärischen Auseinandersetzung für prinzipiell möglich hält, nicht etwa absichtsvoll mit dem Feuer spielt, jedoch der Gefährdung vermeintlich friedlicher und sicherer Zustände stets eingedenk ist. Die Redensart vom „Krieg für die Kultur“ gehöre dagegen in den Gedankenund Wortschatz des Chauvinismus. Sein Ruf dringe vor allem „aus dem feindlichen Lager“ und laute dahin, „daß wir Barbaren sind und daß man die Kultur gegen uns verteidigt.“44 Der Glaube, der eigene Staat sei Träger der höchsten Kultur, zur Missachtung anderer Nationalitäten und letztlich zur Verkennung übernationaler Kulturwerte führend, ist für Smend „Massenstimmung“, und als solche „sittlich wertlos“.45 In der Überschätzung der eigenen und der Missachtung fremder Kultur liege aber insbesondere die Gefahr, einen falschen Maßstab an das eigene Staatsleben zu legen und in der Folge durch Ungenügen enttäuscht zu werden: die Staatstreue des Chauvinisten sei rasch erschüttert. Die Frage, ob nun der Krieg, als „geschichtliche Katastrophe“ und letztlich auch als geschichtliches „Rätsel“46, kulturwidrig oder kulturfördernd wirke, 41 42 43 44 45 46
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
S. 13. S. 14. S. 18. S. 19. S. 16, vgl. S. 20.
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lasse sich nicht beantworten. Kulturgewinne und Kulturverluste ließen sich für eine theoretische Betrachtung „nicht voneinander abziehen wie Rechenpfennige“47. Praktisch könne allein die Besinnung jedes Einzelnen auf die sittliche Pflicht das Kriegführen rechtfertigen, „nicht irgendeine Meinung vom Nutzen und von der Kulturaufgabe des Krieges“. Sterben und Tod jedes Gefallenen seien durch keinen Gewinn für die Kultur oder für die politische Macht der Nation aufzuwiegen, sie seien allenfalls darin zu rechtfertigen, in der Pflichterfüllung erlitten worden zu sein. Diese „sittliche Gewißheit“ sei von einem „kulturphilosophischen Rechenexempel“ ganz unabhängig.48 Im Tübinger Kriegs-Vortrag von 1915 zeigt sich, wie zentral für Smend das „Wesen der sittlichen Verpflichtung des Einzelnen gegen den Staat“ ist – fern allen nationalistischen Selbstlobes und durchaus nicht von einem als starre, machtvolle Größe aufgefassten Staat her gedacht, der nur pflichtschuldige Unterwerfung duldet, sondern verstanden als eine ethisch ausdeutbare Fasslichkeit im Bezug des Einzelmenschen zum Staat. Im Hinblick auf ein kraft seiner Eigenschaften den Einzelnen verpflichtendes Staatsleben besteht die Frage nach der Erträglichkeit der Inanspruchnahme und nach der Bestimmtheit staatsbürgerlicher Verpflichtung. Entscheidend für eine solche Frage nach dem Sinn einer politischen Ordnung ist es, dass die Einzelnen eine Vorstellung von der höheren Aufgabe ihres Staates gewinnen und dass diese Aufgabe im Verfassungsleben fortlaufend erlebbar wird. Somit lautet eine staatswissenschaftliche Grundfrage für Smend: Auf welche Weise erleben die Einzelnen staatliche Wirklichkeit und damit zugleich ihre Zugehörigkeit zu dieser Wirklichkeit? Drei für den Staatsrechtler relevante „Schnittstellen“ dieser Möglichkeit des Miterlebens untersucht Smend in den Schriften und Vorträgen der Jahre 1911 bis 1927: Prinzipien des Wahlrechts, den Bereich der Regierung, den Sinn der Grundrechte. d) Die Wahlrechts-Studien aa) Wahlrechtsprinzipien des 19. Jahrhundert (1911) – Die Beurkundungsfunktion der Verfassung Die beiden Wahlrechts-Studien aus den Jahren 1911 und 1919 führen das Thema sittlicher Einordnung des Einzelnen in den Staat anhand eines scheinbaren Spezialfalles näher aus. Wenn die Bemühung um Aufdeckung ungeschriebener Verfassungsgrundsätze mit ihrer Sorge um die Teilhabe der Angehörigen an den Aufgaben ihres Staatswesens als die eigentliche Inauguralschrift des Smendschen Verfassungsdenkens, seiner Integrationstheorie, anzusehen ist, so 47 48
Ebd. Ebd. S. 17.
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lassen sich die Wahlrechts-Studien als ein konkretes Angehen dieser Problematik begreifen. Die beiden Erörterungen greifen ineinander, ohne dass Smend den wesentlichen Unterschied benennen würde. Den Wandel der Bedeutung des Wahlrechts vom monarchischen zum republikanischen Bundesstaat gilt es namhaft zu machen, da diese entscheidende Veränderung der Verfassungslage in engem Zusammenhang mit dem anthropologischen Interesse für den Menschen im Staatsrechts steht. Die erste Studie, die Tübinger Antrittsrede von 1911, die ein Jahr später auch als gesonderte Broschüre erschien, kreist um Maßstäbe des parlamentarischen Wahlrechts in der deutschen Staatstheorie des 19. Jahrhunderts. Sie könnte zu Recht einen der Untertitel tragen, die einige Jahre zuvor Jellinek und Triepel ihren Schriften hinzufügten: eine staatsrechtlich-politische Studie.49 Seit der Revolution von 1848 ist „die Verteilung des parlamentarischen Wahlrechts eine der umstrittensten Fragen unserer Verfassungspolitik.“ Freilich sei es „nicht Sache der Staatswissenschaft, sich in die Austragung dieses Streits einzumischen.“ Aber ihre Aufgabe könnte es sein, „die Voraussetzungen klarzustellen, von denen aus eine richtige Entscheidung allein gefunden werden kann, Voraussetzungen ziemlich einfacher Natur, deren sich aber die Streitenden doch zumeist nicht mit genügender Klarheit bewußt zu werden pflegen.“50 Für seine Antrittsrede stellt Smend sich die Aufgabe, einen Überblick über die Wahlrechtstheorien im Deutschland des 19. Jahrhunderts zu liefern. Die bibliographischen Daten, die er dazu anführt, sind für einen Text von knapp zwanzig Seiten äußerst reichhaltig. Die Menschen- und Bürgerrechte der französischen Revolution hätten die naturrechtliche Gleichheit der Individuen als Ausdruck des allgemeinen Willens postuliert, ohne dass dieser in den Verfassungen der Revolutionszeit praktisch verwirklicht worden wäre. Und auch die Kantische Rechtsphilosophie habe das allgemeine Stimmrecht nur unter Ausschluss des Gesindes, der Handwerksge49
Siehe erneut Jellinek (1906) und Triepel (1907). Smend (31994), S. 19. Smend hätte auch schreiben können, die Wissenschaft vom Staat sei eine „politische Wissenschaft“, insofern sie „Dienerin der Politik“, wenn auch „nicht der Tagespolitik der jeweils herrschenden Machthaber“ sei (GPS, S. 14). Die Nähe der Tübinger Antrittsrede zur Freiburger Antrittsrede Max Webers von 1895 in dieser Hinsicht ist kaum zu übersehen. Im Objektivitäts-Aufsatz von 1904 hat Weber sich bezüglich eines „kulturwissenschaftlichen“ Programms in eben dem Sinne geäußert, in dem Smend den Aufgabenbereich der Staatswissenschaft sieht: „Denn es ist selbstverständlich eine der wesentlichen Aufgaben einer jeden Wissenschaft vom menschlichen Kulturleben, diese ,Ideen‘, für welche teils wirklich, teils vermeintlich gekämpft wird, dem geistigen Verständnis zu erschließen. (. . .) Diese letzten Maßstäbe, welche sich in dem konkreten Werturteil manifestieren, zum Bewußtsein zu bringen, ist nun allerdings das letzte, was sie, ohne den Boden der Spekulation zu betreten leisten kann.“ (WL, S. 150 f.) Bis in Sprachduktus und Wortwahl hinein ist hier Verwandtschaft zu bemerken. 50
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sellen und Tagelöhner gefordert.51 In Deutschland hätten erst die Träger verfassungspolitischer Ideen des frühen Liberalismus eine ausgereifte Wahlrechtstheorie entwickelt. Karl von Rotteck52, ihr wohl populärster Vertreter, sah in Fürsten, ihren Ratgebern und den Ministern „Mängel“, die durch eine Volksvertretung zu korrigieren seien. Diese Voraussetzung bestimmte für Rotteck die Zusammensetzung der Parlamente. Das Wahlrecht, meinte Rotteck, müsse so geartet sein, dass es die „Elite des Landes an Charakterfestigkeit und politischer Einsicht“ herausfiltere und auslese.53 Politische Rechte werden hier nicht gewährt, weil jemand Bürger ist, sondern nur insofern er zur Ausübung dieser Rechte qualifiziert ist. Das gilt sowohl für aktives als auch für passives Wahlrecht. Aber das aktive Wahlrecht wird zusätzlich noch an einen Vermögenszensus geknüpft, denn Besitz macht abkömmlich, unabhängig und ermöglicht somit die „charaktervolle Entwicklung der Persönlichkeit“54. Die erste Stufe deutscher Wahlrechtstheorie, so Smend, enthalte die typischen Züge rationalistischer Staatstheorie. Sie denke a) räumlich-mechanisch: Die Staatsspitze kann ihrer Aufgabe nicht immer gerecht werden, also wird ihr ein Korrektiv beigefügt. Von einer geschichtlich notwendigen Verfassungsänderung ist nicht die Rede. Sie denke b) „schroff individualistisch“: Die politischen Machtverhältnisse werden aufgelöst in die Beziehungen zwischen Herrschenden und den Mitgliedern der Volksvertretung, zudem werden diese Beziehungen zurückgeführt auf die rationalistischen Maßstäbe von gut und böse, wahr und falsch. Vor allem beruhe die rationalistische Theorie c) auf dem Vertrauen, „daß ein richtig bemessenes Selektionsprinzip mit Notwendigkeit zur Wahl der besten Individuen führen müsse.“55 Die volkstümlich-romantische Bewegung habe dann zunächst das Geschichtliche, aus ihrer Sicht Elementare und Überindividuelle dagegen gesetzt.56 Vor
Vgl. Smend (31994), S. 19 f. Vgl. im Staats-Lexikon. Encyclopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, 12 Bde., hg. v. Rotteck, Karl von/Welcker, Carl, Altona 1834–48 die Art. „Constitution“ (Bd. III, S. 773), „Abgeordnete“ (I, S. 104 ff.) und „Census“ (III, S. 372 ff.). Außerdem Rotteck, Karl von: Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaft. Bd. II: Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 1830, S. 252 ff. sowie Zachariä, Karl Salomo: Vierzig Bücher vom Staate (1820). Bd. 2: Allgemeine Politische Naturlehre, Heidelberg 1839. 53 Smend (31994), Ebd. S. 21. 54 Ebd. S. 22. 55 Ebd. S. 23. 56 Smend bezieht sich vornehmlich auf folgende Autoren: Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1, Leipzig 21847, S. 151 ff., 129 ff.; Görres, Joseph von: Teutschland und die Revolution, Koblenz 1819; Hegels ,Grundlinien der Philosophie des Rechts‘ § 301; Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Staatslehre (1852), 5. Aufl. Stuttgart 1874, S. 288. 51 52
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allem der Begriff der Volksindividualität führte sie zu dem Schluss, eine wahrhafte Volksvertretung dürfe „nicht beruhen auf dem Willen der atomisierten einzelnen Individuen.“57 Der eigentliche Wille der Volksindividualität, so die romantisch-organische Wahlrechtstheorie, könne nicht durch das Zusammenzählen noch so vieler Einzelwillen gefunden werden. Erst wenn die „Organe der Gesamtheit“ zusammenwirkten, komme der „Wille des lebendigen Volksganzen“ zustande. Die organische Wahlrechtstheorie setzt auf die „geschichtliche Differenzierung des Volkes in seine Stände. (. . .) [A]llerdings nicht, sofern sie geschichtlich, sondern sofern sie lebendig sind“.58 Der Fortschritt des organischen Wahlrechtssystems gegenüber der rationalistischen Theorie, so Smend, sei nur gering, auch seiner Konstruktion fehle „die Anschauung modernen geschichtlichen Verfassungslebens“59. Um eine solche bemühe sich ab den vierziger Jahren vor allen Lorenz von Stein. Aus dem Material der politischen und sozialen Bewegungen in Frankreich leite er seinen Begriff der modernen Gesellschaft ab und mache ihn zum Mittelpunkt seiner Staatsbetrachtung.60 Sich auf Saint-Simon stützend, liegt für Stein das Wesentliche des Staates im Leben der Gesellschaft, insbesondere im Kampf der gesellschaftlichen Klassen, deren hauptsächlicher Gegenstand die Staatsgewalt ist. Für Stein folgt daraus, „daß die Geschichte der Gesellschaft die Grundlage der Geschichte der Verfassungen ist, und zwar so, daß die Umgestaltungen der Gesellschaft den Umgestaltungen der Verfassung voraufgehen, und daß sie, wenn sie Smend (31994), S. 25 Anm. 7. Hier taucht in einer Anmerkung Smends zum ersten Mal ein expliziter Verweis auf Max Weber auf, der in dem sogenannten „Seufzer“Aufsatz über Roscher und Knies die prinzipielle Charakteristik des organischen Denkens in der historischen Juristenschule (C. F. von Savigny et al.) verdeutlicht. Vgl. WL, S. 8 ff.: „Savigny und seiner Schule kam es in ihrem Kampfe gegen den gesetzgeberischen Rationalismus der Aufklärungszeit auf den Nachweis des prinzipiell irrationalen, aus allgemeinen Maximen nicht deduzierbaren Charakters des in einer Volksgemeinschaft entstandenen und geltenden Rechtes an; indem sie dessen untrennbaren Zusammenhang mit allen übrigen Seiten des Volkslebens betonten, hypostasierten sie, um den notwendig individuellen Charakter jedes wahrhaft volkstümlichen Rechtes verständlich zu machen, den Begriff des – notwendig irrational-individuellen – ,Volksgeistes‘ als des Schöpfers von Recht, Sprache und den übrigen Kulturgütern der Völker. Dieser Begriff ,Volksgeist‘ selbst wird dabei nicht als ein provisorisches Behältnis, ein Hilfsbegriff zur vorläufigen Bezeichnung einer noch nicht logisch bearbeiteten Vielheit anschaulicher Einzelerscheinungen, sondern als ein einheitliches reales Wesen metaphysischen Charakters behandelt und nicht als Resultante unzähliger Kultureinwirkungen, sondern umgekehrt als der Realgrund aller einzelnen Kulturäußerungen des Volks angesehen, welche aus ihm emanieren.“ 58 Smend (31994), S. 24. 59 Ebd. S. 25. 60 Vgl. Stein, Lorenz von: Geschichte der socialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage. 3 Bde., Leipzig 1850 sowie ders.: Der Socialismus und Kommunismus des heutigen Frankreichs. Ein Beitrag zur Zeitgeschichte. Bd. 1: Der Begriff der Gesellschaft und die Bewegungen in der Gesellschaft Frankreichs seit der Revolution, Leipzig 21848. 57
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vollendet sind, die letzteren bedingen und erzeugen“61. Folglich musste Stein zum parlamentarischen Wahlrecht als zentralem Stück dieser Abhängigkeit des Staates von der Gesellschaft gelangen. An der jeweiligen Bemessung des Wahlrechts lassen sich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse im Staat ablesen. Diese können als der eigentliche Maßstab für das parlamentarische Wahlrecht gelten. Damit wird aber auch die Bedeutung der Volksvertretung im modernen Staat überhaupt deutlich: sie ist für Lorenz von Stein der Ort, an dem die Gesellschaft auf den Staat einwirkt. Weil der Staat von gesellschaftlicher Anerkennung getragen sein muss, bestimmt das Wahlrecht, auf welche Schichten der Gesellschaft sich der Staat stützen will und welche zur Einflussnahme berufen werden. Der Wähler bestimmt einen Vertreter seiner Gesellschaftsschicht, um die entsprechenden Interessen im Parlament vertreten zu lassen. Diese gesellschaftlich unterschiedlichen Interessen schließen sich zu den politischen Parteien zusammen, und „so beruft das Wahlrecht den Wähler einfach zur Wahl des Kandidaten seiner Partei“62. Aus dem neuen gesellschaftlich bestimmten Maßstab des Wahlrechts, so Smends Darstellung, folgte eine Umwertung der älteren Maßstäbe. Rottecks Wunsch, der Mittelstand möge das Übergewicht erhalten, weil in seinem Fall Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit am ehesten anzutreffen seien – diese Anschauung wird nun zur Ideologie der Herrschaft der Bourgeoisie. Die neue Auffassung wertet den Einzelnen nicht nach seinen individuellen Eigenschaften, etwa nach einem Mindestmaß an politischer Bildung, an Patriotismus oder Charakterfestigkeit, sondern nimmt ihn einfach „als Komponente der Gesellschaft“63 wahr, also gerade so, „wie er voraussichtlich in seinen sozialen Beziehungen ist, nicht wie er nach Charakter und Bildung sein sollte und sein könnte.“64 Eine analoge Umformung registriert Smend hinsichtlich des Maßstabs der romantisch-organischen Wahlrechtstheorie. Der Begriff der Volksindividualität sei für die Romantik und für die historische Schule eine gegebene, bekannte und selbstverständliche Größe gewesen, deren organische Gliederung sie zu erfassen gesucht hätten. Die neue Auffassung gehe in umgekehrter Weise von den sozialen Schichten aus und überlasse die politische Gruppierung dem freien parteibildenden Kräftespiel in der Gesellschaft selbst. Die Resultante dieses Spiels ist nicht von vornherein bekannt: die reale Individualität des Volksganzen ist für die neue Auffassung „lediglich eine metaphysische Konstruktion. Die organische Wahlrechtstheorie geht vom Ganzen zum Einzelnen, die neuere vom Einzelnen zum Ganzen.“65 Die neuere organische Wahlrechtstheorie müsse deshalb 61 62 63 64 65
Stein (21848), S. 63. Smend (31994), S. 27. Ebd. S. 28. Ebd. S. 29. Ebd.
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auch die Wähler nicht mehr gruppieren: sie wisse von deren Fähigkeit, sich selbständig politisch zu formieren, und eher versuche sie, spontane gesellschaftliche Gruppierungen zu schwächen oder sogar zu verhindern. Die ältere Theorie gebe der Gesellschaft eine Gehhilfe in Sachen Organisierung, die moderne lege den gesellschaftlichen Gruppen Zügel an, „weil sie das Gehen besser gelernt hat, als es den Vertretern dieser Anschauungen lieb ist.“66 Hierin sieht Smend den reaktionären Charakter des modernen organischen Wahlrechtsprinzips. Auch auf den „eigentlichen politischen Sitz“ beider Systeme weist Smend hin. Werde das ältere von dem metaphysischen Begriff der Volkssouveränität getragen, so stehe das moderne – in der Grundlegung des konservativen Programms durch die Staatsphilosophie Friedrich Julius Stahls ebenso wie in der Tradition des älteren politischen Katholizismus – letztlich „in Beziehung zu Momenten, die dem gesellschaftlichen Leben an sich transzendent sind.“ Die Legitimitätsidee sowie diejenige des christlichen Staates seien „keine immanenten Produkte des politischen Lebens, sondern sie sollen ihm vermittelst der organischen Gliederung der Wählerschaft gewissermaßen einokuliert werden.“67 Damit wendet sich die Studie den gegenwärtigen Wahlrechtstheorien zu. Ein „echt modernes Wahlrecht“ sei das allgemeine und gleiche. Nicht aber deshalb, weil es der natürlichen Gleichheit der Individuen entspreche – so die rationalistische Begründung –, sondern vielmehr deshalb, weil es alle gesellschaftlichen Gruppen, bis zum einzelnen Wähler berücksichtige und unbeschränkt heranziehe: es sei die „Verwirklichung des wahlrechtspolitischen Laissez-faire-Prinzips.“68 Hinsichtlich des direkten und geheimen Stimmrechts hebt Smend hervor, dass es hier nicht um die Auffindung des objektiv Richtigen gehe; Intention sei es, die „einzelne Komponente der gesellschaftlichen Strömungen möglichst unbeeinflußt und unverfälscht zu Worte kommen zu lassen.“69 Das modernste der gegenwärtigen Wahlrechtsprinzipien sei das Proportionalwahlrecht. Es bedeute vor allem die Auflösung jeder, auch der letzten verbliebenen
66
Ebd. S. 30. Ebd. 68 Ebd. S. 32. Vgl. dazu Schäffle, Albert E. F.: Deutsche Kern- und Zeitfragen. Neue Folge, Berlin 1895, S. 57 f.: „Nicht wegen der Gleichheit, vielmehr wegen der Ungleichheit der Einzelnen, welche sich als führende Elemente der socialen Elementarverbindungen, jeder in seiner besonderen Weise bethätigen und mit eigenartiger Anziehungskraft die Elementargruppierung der vertretungsbedürftigen Kräfte, Interessen, Gefühle und Überzeugungen bestimmen, ist das allgemeine Stimmrecht der erwachsenen Männer begründet.“ Zudem Wittmayer, Leo: Unser Reichrathswahlrecht und die Taaffe’sche Wahlvorlage. Eine politische Abhandlung, Wien 1901, S.14, 109, der hervorhebt, das allgemeine Wahlrecht habe die reinste Auswirkung der verschiedenen sozialen Instinkte zur Folge, es habe also die Neigung, „die Interessenskonflikte zu voller Reife zu bringen“. 69 Smend (31994), S. 33. 67
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organischen Gliederung der Wählerschaft, nämlich der Wahlbezirke. Dafür trete nun die Organisation in Parteien umso stärker in den Vordergrund.70 Mit der Feststellung, dass, wenn ein Wahlrecht modern genannt werden könne, noch nicht bestimmt sei, ob es auch das richtige sei, kommt Smend zur abschließenden Frage nach dem aktuellen Maßstab des Wahlrechts. Ihre Geltung verloren hätten die alten Maßstäbe der Auslese der Besten und der organischen Vertretung einer korporativ gegliederten Wählerschaft. Allenfalls für die Besetzung der Herrenhäuser und Ersten Kammern hätten die ihnen zu Grunde liegenden Gedanken noch Bedeutung. Für die heutigen Wahlkammern dagegen gelte – der Auffassung der deutschen konstitutionellen Staatslehre nach –, „daß sie Vertretungen der gesellschaftlichen Strömungen sein sollen.“ Allerdings nicht nur im Sinne wirtschaftlicher Klassen, wie Lorenz von Stein angenommen habe, denn jede gesellschaftliche Gruppe könne sich zur Vertretung im Parlament organisieren. Stein habe aber auch darin nicht Recht behalten, dass die staatliche Verfassung notwendigerweise immer den gesellschaftlichen Machtverhältnissen entsprechend gestaltet werden müsse. „Der Staat bestimmt seinerseits, in welcher Weise er der Gesellschaft durch das Parlament Einfluß auf sein eigenes Leben gewähren will.“71 Der historische Einblick in die unterschiedlichen Wahlrechtstheorien war notwendig, um die Mittel vorzustellen, die der Staatsverfassung dabei zur Verfügung stehen. Aus dem Denken des 19. Jahrhunderts heraus scheinen jedoch nur zwei sehr beschränkte Möglichkeiten zu bestehen: einerseits die Freigabe schrankenloser Auswirkung der gesellschaftlich-ökonomischen Kräfte im politischen Kampf, andererseits die Beschränkung des Wahlrechts zugunsten bestimmter sozialer Gruppen. Keines der Wahlrechtsprinzipien des 19. Jahrhunderts erfasst den eigentlichen Sinn des Wahlrechts – als Staatsrecht –, so wie Smend ihn in seiner zweiten Wahlrechtsstudie (1919) herausstellen sollte. Das Ziel, welches der Staat hier verfolge, und das den Maßstab für die Beurteilung eines Wahlrechts an die Hand gebe, so Smend 1911, sei die Gerechtigkeit. Wenn Ludwig Windthorst in seiner Rede zur Wahlrechtsfrage im konstituierenden Norddeutschen Reichstag erklärt habe, dass Wahlsysteme nur nach Resultaten der Erfahrung zu beurteilen seien72, wenn Georg Meyer die Frage des Wahlrechts „nicht von vorgefaßten prinzipiellen Gesichtspunkten aus, sondern lediglich nach politischen Zweckmäßigkeitserwägungen“ entschieden wissen will73, wenn Georg Jellinek „das Problem des richtigen, gerechten Wahlsystems 70 Vgl. ebd. S. 34. Die Wahl ist dann, wie Wittmayer (1901), S. 10 konstatiert, „keine Personenfrage“ mehr. 71 Smend (31994), S. 35. 72 Vgl. Below, Georg von: Das parlamentarische Wahlrecht in Deutschland, Berlin 1909, S. 17. 73 Meyer, Georg: Das parlamentarische Wahlrecht, hg. v. Georg Jellinek, Berlin 1901, S. 412.
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für ein absolut unlösbares“ erklärt74, so spricht für Smend aus all diesen Äußerungen „die Vorstellung eines Maßstabes der Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit des Wahlrechts (. . .), dessen man sich nur nicht bewußt werden will, um nicht auf naturrechtliche Abwege zu geraten.“75 Diese Kritik Smends an der staatsrechtswissenschaftlichen Verlegenheit scheint schon Überlegungen zu einem Wahlrechtsprinzip für die republikanische Demokratie anzudeuten. Die Gerechtigkeit oder richtige Verhältnismäßigkeit bemisst sich in den Wahlrechtstheorien des 19. Jahrhunderts jedenfalls nicht nur nach gesellschaftlichen, sondern auch nach staatlichen Rücksichten. Dies jedoch ausschließlich gemäß der im deutschen konstitutionellen Denken vorherrschenden Beurkundungsfunktion des Verfassungsrechts: „Der Staat beruft durch das Wahlgesetz diejenigen Schichten der Gesellschaft, von deren Anerkennung und tätiger Mitarbeit er getragen sein will. Der Staat leitet durch die Volksvertretung gewissermaßen die gesellschaftlichen Wasser auf seine Mühle“76. Die Beurkundungsfunktion der Verfassung steht weiterhin im Vordergrund, wenn es heißt, keine gesellschaftliche Gruppe dürfe vom Staatsrecht unberücksichtigt bleiben, von deren anerkennender Mitarbeit das Verfassungsleben getragen sein müsse. Hinsichtlich der „Unzufriedenheit im Lande“ fungiere das Wahlrecht geradezu als „Sternwarte der Regierung“.77 Unter Umständen könne es im Sinne des Staates und seiner Verfassung sein, wenn der Einzelne im Parlament scheinbar über Gebühr vertreten ist gegenüber gesellschaftlichen Gruppen, die, weil sie „so viel außerparlamentarischen Einfluß auf den Staat haben, (. . .) eine verhältnismäßige Zurücksetzung ertragen können“78. Für die Staatsform der republikanischen Demokratie und eine neue, dem Wahlrecht einen ganz anderen Sinn gebende Staatsrechtslehre haben diese Überlegungen, die die Verfassung mehr oder weniger als das politische Grundbuch eines Landes betrachten, keinen Wert mehr.79
74
Jellinek (1906), S. 63. Smend (31994), S. 37. 76 Smend (31994), S. 36. 77 Ebd. mit dem Zitathinweis auf Wittmayer (1901), S. 7. 78 Smend (31994), S. 36. 79 Zur Aufstellung eines eigenen Maßstabes gelangt Smend in der Studie von 1911 nicht. Doch verweist er hier auf Erich Kaufmanns Feststellung, eine „Subordinationsordnung als Rechtsordnung“ sei möglich, „überall, wo und solange eine staatliche Gemeinschaft möglich ist, der sich unterzuordnen in letzter Linie nicht Verlust sondern Gewinn der Individualität ist: da sie alle individuellen Kräfte weckt, sammelt und zu einem Gesamtplan des menschlichen Kulturlebens zusammenordnet, um diesen in den Gang der Weltgeschichte einzufädeln.“ Nur die „Gerechtigkeitsordnung“, so Kaufmann, „die im Hinblick auf eine Teilnahme an und auf eine Selbstbehauptung der Weltgeschichte entworfen ist, darf jedem zugemutet werden, seitdem der ,Zweck‘ der ,katholischen‘ Kirche nicht mehr als ein allen zumutbarer anerkannt wird und werden kann.“ Zitiert nach Kaufmann, Erich: Das Wesen des Völkerrechts und die Clausula 75
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Waren die Erörterungen der Dissertation aus sich heraus und vor dem Hintergrund ihres Erscheinens verständlich, so ist hinsichtlich der Wahlrechts-Studien die konsultierte Literatur von besonderem Interesse. Smend gewinnt die Einschätzungen seiner ersten Wahlrechts-Studie vor allem in Auseinandersetzung mit zwei Büchern: der schon zitierten Studie Leo Wittmayers80 sowie dem 1864 von August von Haxthausen, Initiator und Träger des mit Jacob und Wilhelm Grimm in Verbindung stehenden Bökendorfer Kreises, herausgegebenen Band Das constitutionelle Princip mit ebenfalls um die Frage des Wahlrechts kreisenden Beiträgen von Rudolf von Gneist, Joseph Held und Georg Waitz.81 Dass der Sinn des Wahlrechts ganz allein darin liege, politisches Leben als Selbstzweck anzuregen, ohne dass sozio-ökonomische Gerechtigkeitsvorstellung zum eigentlichen Inhalt und zur Zielsetzung des öffentlichen Rechts werden sollten, diese Überzeugung von der Bedeutung staatlicher Sozialität für den Menschen konnte Smend dem Aufsatz Rudolf von Gneists über Das Repräsentativ-System in England entnehmen: „Es ist die Gewährung des Gemeindelebens, die sittlich läuternde Kraft jeder ernsten persönlichen Selbstthätigkeit im Staat, die von unten herauf die Fäulniß wieder abstößt.“ Das Entscheidende für „die politische Freiheit der Völker“ sei, so fährt Gneist fort, „die Gestalt der dauernden Institutionen, welche Staat und Gesellschaft verbinden.“82 Dass das Wahlrecht sich – in dem Sinne selbstzweckdienlicher Sozialität – nach dem Gesichtspunkt staatlichen Lebens bemesse, ist auch die Auffassung Georg Waitz’: „Das Wahlrecht ist nicht ein Theil oder Ausfluß eines allgemeinen Menschen- oder Staatsbürgerrechts, sondern es ist ein Theil der Verfassung, und muß nach staatlichen Rücksichten bestimmt werden.“83 Das Wahlrecht sei nichts, was dem Einzelnen „anhänge“, vielmehr als Berufung zu einer Aufgabe sei es zu verstehen, somit auch kein Mittel, „um sociale Veränderungen, die wünschenswerth erscheinen mögen, anzubahnen.“84 In die Richtung einer fortwährenden dynamischen Anregung gegenseitigen Vertrauens gehen die Aussarebus sic stantibus. Rechtsphilosophische Studie zum Rechts-, Staats- und Vertragsbegriffe, Tübingen 1911, S. 145 f. 80 Vgl. Wittmayer (1901). Für Smends Verweise siehe Smend (31994), S. 26 Anm. 8, S. 31 f. Anm. 12, S. 33 f. Anm. 15, S. 36 Anm. 17. 81 Held, Joseph: Die politischen und socialen Wirkungen der verschiedenen politischen Wahlsysteme, in: Haxthausen, August von (Hg.): Das constitutionelle Princip. Seine geschichtliche Entwickelung und seine Wechselwirkungen mit den politischen und socialen Verhältnissen der Staaten und Völker, 2 Bde., Leipzig 1864, Bd. 2, S. 1– 86; Gneist, Rudolf von: Das Repräsentativ-System in England. Eine historische Skizze, in: ebd. S. 87–180; Waitz, Georg: Ueber die Bildung einer Volksvertretung, in: ebd. S. 181–218. Smends Verweise auf dieses Buch Smend (31994), S. 26 Anm. 8, S. 31 Anm. 12., S. 38 Anm. 18. 82 Ebd. S. 125. 83 Ebd. S. 195. 84 Ebd. S. 212.
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gen Joseph Helds, wenn es vom Wahlrecht heißt: „Der Staat erheischt die organische Einheit aller (. . .). Deshalb muß aber auch jeder Wähler und jeder Gewählte in sich selber mit seiner Individualität und den Anforderungen des Allgemeinen transigieren, dann alle Wähler zusammen und endlich sämmtliche Gewählte unter sich und mit den durch die Regierung vertretenen Staatsanforderungen. Wo die Transaction endet, da hört die organische Staatseinheit, die freie Macht des Gesetzes auf. (. . .) Einheit oder Friede zwischen Volk und Regierung auf Grundlage ununterbrochener staatsgemäßer Transaction zwischen aller Freiheit, respective allen Specialitäten und der Ordnung, respective der Gesammteinheit des Staates, muß demnach das Grundprinzip aller Wahlgesetze sein.“85 Das Staatsleben wird hier – im Sinne der alten politica – als ein freundschaftlicher Kommunikationszusammenhang beschrieben, in dem Idee und Zweck des politischen Gemeinwesens überhaupt erst aufzugehen vermögen. bb) Mehrheitswahl contra Verhältniswahl (1919) – Der Erlebnischarakter demokratischen Wahlrechts Mit den bei Gneist, Waitz und Held berührten Fragen des Verhältnis- und Mehrheitswahlrechts, die zu Smends kurzer Streitschrift Über die Verschiebungen der konstitutionellen Ordnung durch die Verhältniswahl, seiner zweiten Wahlrechts-Studie von 1919, überleiten, beschäftigt sich auch das von Smend angezogene Buch Leo Wittmayers. Wittmayer ist der Ansicht, die Proportionalwahl bilde vor allem die „Grundlage für eine vollkommene Entwicklungsfreiheit der Parteien“86. Ein sachlich gearbeitetes Wahlgesetz müsse nun einmal mit den Parteien rechnen.87 Zuweilen fehle allerdings „nicht viel, daß der einzelne Staat zu einer Föderation von Parteien entartet.“88 Ohne Scheu werden die „absprechenden Urtheile“ Friedrich Paulsens wiedergegeben: „Die Parteienmoral ist immer und überall geneigt, den Vortheil der Partei der Wohlfahrt des Volkes oder der ganzen Menschheit gleichzusetzen.“ Aus dieser Perspektive sei das „Parteiwesen (. . .) der Todfeind der Gerechtigkeit“. Betrachte man aber, so heißt es bei Paulsen auch, „die Parteien als Einrichtungen, welche vorhandene Kräfte zwar übertreiben, aber verdeutlichen, unterwirft man die Kundgebungen einer einzelnen Partei als eine unter vielen Prämissen der Urtheilsbildung, so liefert jede einzelne Partei wichtige Bausteine zur Bildung einer umfassenden weiteren Lebensanschauung und so wird sie auch zur Fundgrube für den begabten Politiker“.89
85 86 87 88 89
Ebd. S. 75, 77. Wittmayer (1901), S. 9. Vgl. ebd. S. 10. Ebd. S. 12. Ebd. S. 8 f. Anm. 1.
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Diese Einschätzung der Parteien und der politischen Doxa-Welt liegt Wittmayers Ausführungen zu Grunde, wenn er sagt, in der Partei „klären und summieren sich Wünsche und Instincte der Bevölkerung, die Parteiprogramme enthalten bestimmte geordnete Lösungsvorschläge für die wichtigsten Zeitfragen, sie substanzieren und begrenzen den Wahlstoff“90. Das Parteiwesen sei somit zugleich „die Form, in welcher die öffentliche Kritik“ spiele, im öffentlichen Leben fungiere sie in der wichtigen Rolle des Vorbildlichen. Somit seien die Parteien inzwischen „ein unentbehrliches Correlat des constitutionellen Lebens“. Die Partei sei es, „welche die Verantwortlichkeit der Abgeordneten geltend macht und damit das System der Verantwortlichkeit, auf welchem das constitutionelle Leben beruht, zum Abschluß bringt.“91 In dem System der Verantwortlichkeiten konstituiere sich ein nicht zu verachtendes Moment, „die Verantwortlichkeit der Einzelpartei verwirklicht durch die gegnerische; auf diese Weise werden mittelbar die Wähler der einen Partei berufen, die andere Partei und ihre Wähler zur Verantwortung zu ziehen. Verantwortlichkeit an allen Enden, Gesammtverantwortlichkeit! ist schließlich die innerste Seele des Verfassungslebens und alles positive Staatsrecht hat zu seiner tiefsten Aufgabe das System der Verantwortlichkeit zu entwickeln und auszubauen.“92 Mit der Sache der Verantwortlichkeit gelangt Wittmayer zu einem Punkt, der von zentraler Bedeutung für Rudolf Smends Wahlrechtsverständnis ab 1918/19 ist. Denn mit der Problematik der Verantwortlichkeit des Regierens – aber auch der des Wählens! – ist die Entscheidung zwischen Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht verbunden. Jedes „künstliche Wahlsystem“ bedeutet ein „außerordentliches Maß von Verantwortung.“ Die Problematik des Verhältniswahlrechts93 wird ersichtlich, führt man es an seinen geistig-politischen Sitz zurück: Mirabeau (und nach ihm Prévost-Paradol und Lorimer) vertrat die Anschauung, das Parlament müsse eine Landkarte (einen Spiegel, eine Fotografie) des Landes und seiner gesellschaftlichen Gruppen darstellen. Die Notwendigkeit einer bestimmten Zusammensetzung des Parlaments ist die eigentliche Rechtfertigung der Verhältniswahl.94 Die „Kehrseite der Medaille Mirabeaus“95 ist die unter Umständen lähmende Schwierigkeit der dem Verhältniswahlrecht inhärenten Künstlichkeit, nämlich die zu beobachtende Tatsache, dass eine möglichst verhältnismäßige Darstellung der Interessenlagen und Stimmungen ein steigendes 90
Ebd. S. 7. Ebd. S. 8. 92 Ebd. S. 9. 93 Die Wahlgesetze der Weimarer Republik sahen ein Verhältniswahlrecht vor. Die Verteilung der Sitze auf Wahlkreisebene erfolgte nach der Methode d’Hondt bzw. ab 1920 nach automatischer Methode. Siehe zunächst Art. 22 WRV, dann Reichswahlgesetz (RWahlG) vom 30. November 1918, in: Reichs-Gesetzblatt 1918, S. 1345–1352 und RWahlG vom 27. April 1920, in: Reichs-Gesetzblatt 1920, S. 627–635. 94 Vgl. Smend (31994), S. 60. 95 Wittmayer (1901), S. 50 Anm. 2. 91
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Maß an Verantwortung, an politischem Talent oder eine gewisse Bereitschaft zur Mäßigung seitens der Regierenden fordert. Wittmayers Studie und die Wittmayer-Rezeption Smends beziehen sich noch auf den Zusammenhang staatsrechtlicher und gesellschaftspolitischer Verhältnisse im Konstitutionalismus. Interessenvertretung, Interessenkollision und Interessenkoordinierung sind aber nicht länger der materiale Hauptgegenstand des Wahlrechts innerhalb der republikanischen Staatsform. Smends zweite Wahlrechts-Studie von 1919 nähert sich nicht nur der problematischen Gegnerschaft von Verhältnis- und Mehrheitswahl als bloßer staatsrechtlicher Technik, – die technischen Fragen bezüglich der gesellschaftlichen Interessengruppen haben nun zurückzustehen –, sondern zugleich der eigentlichen Bedeutung des für die Republik wesentlichen Dogmas der Volkssouveränität mit seiner Forderung, dass „alle regieren“ sollen, sowie der Frage nach dem menschlichen Typus, der folglich in der Republik (vor-)herrschen soll. Zu den wichtigsten im Verfassungsstaat vorgesehenen und geregelten Stadien der politischen Auseinandersetzung, der Parlamentswahl und der Parlamentsverhandlung, in deren dialogischer Spannung sich ein großer Teil des Staatslebens konstituiert, bedarf es der Anteilnahme der Staatsbürger. Smends zweite Wahlrechts-Studie insistiert darauf, die „leichte rationalistische Schale“ von der parlamentarischen Verfahrensordnung abzustreifen, um den eigentlichen Sinn dieses Verfahrens in seinem „Selbstzweck“ zu verstehen. Zu Recht habe die „Skepsis der romantischen Staatstheorie“ bestritten, dass das Prinzip der öffentlichen Diskussion „irgendeine Gewähr der Wahrheit oder Richtigkeit in sich“ trüge. Aber die Verfassung wolle, dass politische Diskussion und politischer Kampf in der von ihr geregelten Form stattfinden.96 Zweck dieser Regelungen, so Smend, sei, dass es zu einer möglichst breiten und intensiven Anteilnahme der Staatsbürger komme. Jede Beeinträchtigung der konstitutionellen „Verlegung der parlamentarischen Entscheidung in das Licht der Öffentlichkeit“ bedeute eine „Einbuße an politischem Erleben (. . .), an politisch-ethischem Wert für den einzelnen Staatsbürger“97. Auch bedeute es für den einzelnen Wähler „eine weit stärkere politische Beteiligung, wenn er bei Mehrheitswahl stets vor die Alternative des Siegens oder Unterliegens gestellt und – zumal bei Wahlund Stichwahlbündnissen – an einem durch das Parteiprogramm nicht eindeutig vorgeschriebenen Akt örtlicher Willensbildung beteiligt wird, und damit Hand in Hand geht der viel stärkere Einfluß der örtlichen Wählerschaften auf Abgeordnete, Fraktionen und Parlamentsgeschäfte.“98 Die Proportionalisten würfen dem Mehrheitswahlrecht vor, es lasse Stimmen verloren gehen. Freilich fehle dem der Verhältniswahl eigenen Rationalismus, 96 97 98
Smend (31994), S. 62. Ebd. S. 65, 66. Ebd. S. 64 f.
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der sich von der „guten“, verhältnismäßig „gerechten“ Konstruktion die Auffindung eines „richtigen“ und „wahren“ Ergebnisses erhoffe, jeder Sinn für das – aus seiner Sicht – „irrationale“ Wesen des politischen Kampfes. In Folge dieses Unverständnisses verliere das Wählen seine sowohl dialektische als auch verständigende Bedeutung. Nach dem Muster der im Parlament fraktioneller Absprachen und festgefügtem Fahrplan gemäß abgewickelten und aneinander vorbeilaufenden, „aus dem Fenster hinaus“ gehaltenen Reden gehen die abgegebenen Stimmen aneinander vorbei und auf gesonderten Wegen in die Sammelbecken der Parteilisten, anstatt sich „im Einerwahlkreis gegenseitig zu bekämpfen und aufzuheben“99. In diesem Ablauf spiegelt sich das Bild einer gleichgültigen Gesellschaft, die im Wahlkampf lediglich eine Auseinandersetzung über die „Verlust- und Unbehaglichkeitsquote“ hinsichtlich einer allgemeinen Verteilung sieht. Was hier letztlich nicht mehr verstanden wird, ist die kulturell sublimierte „Kampfhandlung“, die geradezu als eine „Parodie des Krieges“ bezeichnet werden kann, sowie die der Psychologie des Spiels entsprechende Bedeutung des Unterlegenen, dem eine kaum zu überschätzende konstitutive Wirkung gegenseitiger Anerkennung eigentümlich ist, da es ohne ihn auch keinen Sieger geben kann.100 Im Wahlrecht ist das staatsrechtliche Herzstück moderner politischer Ordnungen zu begreifen, indem es die Einzelnen zur folgereichen Beteiligung am Staatsleben „beruft“. So sieht es – in statischer Weise – bereits die Beurkundungsfunktion des Staatsgrundgesetzes im Konstitutionalismus. Das Wahlrecht als Berufungsinstrument ist aber auch schon im monarchischen Bundesstaat nicht einfach nur Verfassungstechnik, sondern zeitigt als solche bestimmte „Effekte“, nämlich spezifische Maße „politischen Erlebens“. Entscheidend für Smends Verständnis ist nicht, dass die unterschiedlichen gesellschaftlichen Strömungen ihre sozio-ökonomischen Interessen mittels Wahlrecht und im Medium des Staates vertreten lassen, friedlich regeln und eventuell durchsetzen können – erschöpfte sich darin der Sinn des Wahlrechts, so bestände der Staat aus unterschiedlichen Lagen im Klassenkampf –, sondern dass der Einzelne überhaupt aufgefordert wird, seine Stimme wirken zu lassen. Diese Auffassung impliziert aber, dass der Charakter der politischen Ordnung danach angetan ist, die eigene Kraft auch wirken lassen, sich überhaupt am Staatsleben beteiligen zu wollen, um sich dabei sowohl in der eigenen Besonderheit als auch in einer gewissen Zugehörigkeit zu erfahren. Dem Staatsmann ebenso wie dem Staatsrechtler sei somit, trotz der unübersehbaren Wucherungen gesellschaftlicher Entwicklung – oder gerade auf Grund 99
Vgl. ebd. S. 65. Vgl. dazu schon jetzt Groos, Karl: Das Spiel. Zwei Vorträge: I. Der Lebenswert des Spiels, II. Das Spiel als Katharsis, Jena 1922, insb. S. 27 ff., 32, 35 ff. Ausführlicheres dazu weiter unten, Kapitel I. 1. g) cc). 100
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dieser Entwicklungen –, bezüglich des Wahlrechts als Verfassungsrecht eine verantwortungsvolle politische Erziehungsarbeit aufgegeben: im Hinblick auf den den Staat tragenden Menschentypus. Aufmerksamkeit, Interesse, sogar leidenschaftliche innere wie äußere Beteiligung fern aller individualistischen Privatisierung und partikularistischen Interessenvertretung vermag das Wahlrecht freizusetzen, und nur dann, insofern es dies leistet, entspricht es dem Maßstab der Gerechtigkeit, die sich, Smend zufolge, nicht nach gesellschaftlich-wirtschaftlichen, sondern nach „staatlichen Rücksichten“ bemisst. Diese Rücksichten sind allerdings nicht identisch mit einem so fragwürdig-etatistischen Oberbegriff wie etwa dem „Staatsinteresse“ oder der „Staatsraison“. Nicht um eine eisern-systematische Bindung sowohl bedeutender Gruppeninteressen als auch widerspenstiger Minderheiten an den Staat geht es, nicht um den Hegelschen Begriff von Sittlichkeit und Staatlichkeit, sondern um die verpflichtende Sozialität des Politischen. Diese Sozialität ist nicht bloß im Sinne möglichst ungehemmter Austragung der Konflikte im formalisierten Kampf zu verstehen, sondern darüber hinaus als Verhinderung eines sich Abwendens von der öffentlichen Sache seitens sozial Privilegierter oder ungenügend gehörter Minderheiten. Was Smend mit der buchstäblich auf den letzten Seiten seiner Staatsrechtlichen Abhandlungen wiederkehrenden Formel „Staat als Leben“101 gemeint hat, ist bereits aus den Wahlrechts-Studien ersichtlich. Auf andere Staatsformen übertragen – oder vielmehr von der Staatsformenfrage zunächst überhaupt unabhängig – lässt sich Smends Anmerkung verstehen, die noch aus dem Jahr 1911 stammt, der „Zweck“ des Wahlrechts bestehe nicht darin, eine größere Richtigkeit politischer Entscheidungen zu garantieren, sondern einzig darin, dass „die Nation überhaupt am Throne gehört werde“. Diese Äußerung befindet sich schon auf der Linie der zweiten Wahlrechts-Studie von 1919, die bezüglich des demokratischen Wahlrechts der Republik das politische Erlebnis weit mehr betont als die parlamentarische Interessenvertretung. Was ist also, Smend zufolge, in dem politisch-öffentlichen Raum, dessen Leben das Wahlrecht anregen soll, zu „erleben“? Ein gesteigerter Bekanntheitsgrad der Parlamentarier, den die Mehrheitswahl mit sich bringen würde? Sicherlich. Ein durch klare Berufungsverhältnisse deutlich hervortretendes Maß an Verantwortlichkeit sowie im Kampf erworbener Gemeinsinn seitens der Wähler und der Gewählten? Auch das. Zudem das auf Wahlkreisebene stattfindende, aber durch Wahlberichterstattungen dann auch weitere Kreise ziehende Erlebnis des selbstzweckhaften Charakterzugs der „Geselligkeit“ des Politischen. Worum geht es aber in dieser selbstzweckhaft verstandenen Geselligkeit des Verfassungslebens? Das republikanisch-demokratische Dogma der Volkssouveränität gibt dem Wahlrecht eine Bedeutung, die über das bloße Mittel, Interessenvertretung zu ermöglichen, weit hinausgeht. Die Sphäre der politischen Öffentlichkeit 101
Smend (31994), S. 634.
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ist nicht unbedingt nur diejenige des politischen Kampfes, des parlamentarischen Diskurses und der übergreifenden, medial intensivierten Kommunikation auf nationalstaatlicher (oder sogar internationaler) Ebene. Diese Faktoren verharren weitgehend auf der Linie politischer Zweckteleologie. Gemäß der Auffassung der älteren Politischen Wissenschaft gilt das Erleben dem die Einzelnen zur Befassung mit der eigentlichen öffentlichen Angelegenheit auffordernden Gespräch über das gemeinsame und „gute“ Leben im politischen Gemeinwesen, also dem Dialegein und Homolegein als einem gemeinsamen Hervorbringen von Eu praxia-Wissen102, das sich auf ein ethisch-politisch bestimmtes Staatsbürgertum bezieht. Diese Gesichtspunkte zeigen die Richtung an, in welche die Wahlrechts-Studie von 1919 weist. e) Die politische Gewalt im Verfassungsstaat (1923) – Die Objektlosigkeit des Regierens Der Begriff der Integration, der in dem Festschriftbeitrag Die politische Gewalt im Verfassungsstaat und das Problem der Staatsform erstmals erwähnt wird, wird von Smend in der Absicht eingeführt, den Bereich der Regierung näher zu bestimmen. Eine „inhaltliche Bezeichnung dieses Bereichs der Staatstätigkeit“103 gelte es zu finden. Nicht nur um eine Abgrenzung der im konstitutionellen Sprachgebrauch sogenannten „vollziehenden Gewalt“ gegenüber den anderen „Stücken“ der Gewaltenteilung ist es ihm zu tun, sondern auch um eine Unterscheidung des Bereichs der Regierung zu demjenigen der Verwaltung. Mit großer Klarheit habe Paul Graf Yorck von Wartenburg dieses Problem erkannt in seiner Kritik des gegenwärtigen Staates, „der sich darauf beschränkt, eine rechtliche und polizeiliche Einheit zu sein“; der Begriff der Regierung, so Yorck, sei verloren gegangen: „Regieren heißt jetzt Administrieren“104.
102 Den letzten hier genannten Aspekt hebt Smend hervor, indem er bedauert, Parlamentarismus in Deutschland sei kaum mehr „government by talking“ zu nennen (Smend (31994), S. 63). Die Gedankenfigur anglo-amerikanischen Verfassungsdenkens, die die Staatsämter aus der Volkssouveränität „emanieren“ lässt – im Gegensatz zu der Auffassung einer Beurkundungs- und Privilegierungsfunktion des Verfassungsrechts – setzt doch voraus, dass in dem in seiner teaching function verstandenen Regierungsprozess (government by discussion) ein das öffentliche Leben in der Republik bestimmendes Menschenbild offenkundig wird, welches regierende Amtsinhaber ebenso verpflichtet wie wahlberechtigte Staatsbürger, und somit eine – etwa in dem Postulat der Eigengesetzlichkeit des Politischen gerechtfertigte – moralische Trennwand zwischen Regierenden und Regierten nicht aufkommen lässt. 103 Ebd. S. 68. 104 Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877–1897, Halle a. d. S. 1923, S. 141 und 170 (Zitate sind Briefen der Jahre 1892/93 entnommen).
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Unzufrieden ist Smend mit der Neigung, sich auf ein rein formales Kriterium zu verlegen, das den politischen Akt in seiner relativen Ungebundenheit, in der Freiheit des Ermessens, begreift. Die Immunität der politischen Gewalt verfließe somit vollkommen in den „Ausschluß der Ermessenskontrolle“105. Gesetzgebung und Praxis müssten eine Abgrenzung der Begriffe „politisch“ und „politische Gewalt“ finden. Die hier liegende Schwierigkeit dürfe aber nicht umgangen werden, indem man die Entscheidung, ob es sich um politische Gewalt handle, der „obersten politischen Spitze“ selbst überlasse.106 Den im Sprachgebrauch lebendigen Begriff des „Politischen“, seinen „sozialen“, „metajuristischen“ Gehalt zu ignorieren, um, auf empirische Inhaltsaufzählungen ausweichend, einer sachlichen Inhaltsbestimmung des „Politischen“ zu entkommen, habe dogmatisch eine Beziehung zum Staat hergestellt und zu einer Gleichsetzung von „politisch“ und „staatlich“ geführt. Der „Erfolg“ zeige sich in der unerfreulichen Ausweitung des Begriffs.107 „Politisch“ ist für Smend ausschließlich der Bereich der Regierung; hier bestimme der Staat seinen Charakter. In dem Bereich der Verwaltung dagegen diene der Staat anderen Zwecken oder schaffe die technischen Mittel für seine politischen Funktionen, letztere allesamt Vorgänge staatlicher „Integration“. Seit jeher habe die deutsche Staatslehre die Vorstellung von der „Einheit, welche die Regierungshandlungen charakterisieren soll“, in einer solchen orientierenden Gegenüberstellung mit der Verwaltung gewonnen: „Bei dem Regieren ist der Blick aufs Ganze gerichtet, bei dem Verwalten ist er auf das Besondere und Einzelne zu richten“.108 Der Begriff der Integration wird also von der Regierungstätigkeit her bestimmt und auf sie bezogen. Indem es die positive Aufgabe der Regierung sei, eine „Gesamthaltung“ des Staates zu erzielen109, also in ihrem bloßen Dasein sowie im selbstzweckhaften Handeln „integrierend zu wirken“, sei den politischen Aktionen eine gewisse Objektlosigkeit eigentümlich. Regieren ist für Smend durchaus nicht gleichzusetzen mit Verfügen. Das „objektlose Dasein der obersten staatsrechtlichen Institutionen“ sei der eigentliche Gegenstand der verfassungsrechtlichen Normen, welche politisches Recht seien Smend (31994), S. 76. Ebd. S. 77. 107 Ebd. S. 78 f. 108 Ebd. S. 79 zitiert Zachariä (21839), Bd. 1, S. 124. 109 Smend (31994), S. 83 zitiert Rothenbücher, Karl: Die Stellung des Ministerium nach bayerischem Verfassungsrechte, München 1922, S. 71: „Die rechtliche Unterscheidung des Verfassungsbaus nimmt als Kern die Staatsgewalt und stellt fest, wer das dem Staate eigentümliche Befehls- und Verfügungsrecht auszuüben berechtigt sei, an welche rechtlichen Voraussetzungen diese Ausübung gebunden sei. Dagegen fragt die politische Betrachtung nach der Regierungsgewalt, d. h. wer unter Berücksichtigung der Gesamtheit aller Umstände in der Lage sei, durch seinen Willen die Gesamthaltung des Staates nach innen und außen zu bestimmen und über die dem Staate eigenen Machtmittel zu verfügen“. 105 106
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im Gegensatz zum technischen Verwaltungsrecht. Staatshäupter, Regierungen, Parlamente finden den „Sinn ihres rechtlichen Daseins“ nicht allein in der „Produktion von möglichst viel rechtsgeschäftlichem Staatswillen“.110 Smend konnte sich bei dieser Bestimmung des Bereichs des Politischen auf den „Klassiker der Lehre von der Regierung“111 stützen, auf Lorenz von Stein. Bei der Betrachtung der gesamten Staatsgewalt erscheint Stein ein gesondertes Interesse für den Regenten oder die Regierung geboten. Als „Politik der Regierung“ bezeichnet er die „Aufgabe der selbständigen Regierung“, die sich als „selbstthätige Vertreterin der Staatsidee“ fühle.112 Im einzelnen Menschen erscheine der Akt der Selbstbestimmung „innig mit dem Leben verschmolzen“, so dass er kaum in seiner spezifischen Funktion herausgelöst werden könne. Im Staat dagegen sei dieses Organ der Selbstbestimmung eigens in der Regierungsgewalt herausgestellt.113 Das führte Stein dazu, auf die Verhältnisse im Konstitutionalismus Bezug nehmend, den Bereich der Regierung sowohl vom monarchischen Staatsoberhaupt als auch von der Gesetzgebung zu trennen: „Das Wesen der Regierung im Gegensatze zur rein königlichen Herrschaft besteht dann darin, daß sie den Geist und den Willen der gesetzgebenden Gewalt in der vollziehenden Thätigkeit des Staats zur Geltung bringt.“114 Aus dem „Einheit erfüllenden Geiste“ gehe die Regierung hervor; das einzelne Organ, als Teil dieses Ganzen, sei das Amt.115 Erst mit dem Auftreten der Verfassungen, so Stein, könne von einem „wahren System der Regierung“ gesprochen werden. Denn die Verfassungen hätten das entscheidende Element der Verantwortlichkeit „in das Leben der vollziehenden Gewalt“ hineingebracht.116 Bezeichnend für die „constitutionelle Regierung“ in England sei, dass es hier „keinen Charakter der Regierung für sich“ gebe, sondern dass dieser Charakter von den jeweils Regierenden abhänge. Gneist habe diesen Umstand, dass das englische government für sich gar keinen Charakter habe, als das eigentliche Unterscheidungskrite-
110 Smend (31994), S. 83. Vgl. den Hinweis auf Treitschke, Heinrich von: Politik. Vorlesungen gehalten an der Universität zu Berlin, 2 Bde., hg. v. Max Cornicelius, Bd. 2, Leipzig 21900, S. 3. Das Staatsrecht, so Treitschke, finde seinen eigentlichen Gegenstand in der Gesamtheit der Einrichtungen, „durch welche der Wille des Staates als Einheit begründet und ausgesprochen wird“; im Gegensatz zum Verwaltungsrecht, der Regelung der Gesamtheit der Einrichtungen und Funktionen, „durch welche der so konstituierte Wille des Staates sich verwirklicht in der Mannigfaltigkeit der Lebensverhältnisse“. In Treitschkes Sätzen sind jedoch auch die Tendenzen zur mechanistischverfügenden Verzerrung der anti-instrumentellen Auffassung zu ersehen. 111 Smend (31994), S. 80. Zu den von Smend angezogenen Passagen aus Steins Buch siehe ebd. Anm. 47. 112 Stein (21869), S. 145. 113 Vgl. ebd. S. 148 f. 114 Ebd. S. 197 f. 115 Ebd. S. 198. 116 Ebd. S. 250.
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rium der Regierung von der Verwaltung, des Ministerialsystems vom Behördensystem, innerhalb der „Parlamentsverfassung“ angesehen.117 Diese Betrachtung der Regierungsgewalt erbringt für Smend auch den Anknüpfungspunkt für eine Staatsformenlehre. In den institutionellen Eigenarten der Regierungsbildung und des Regierungshandelns, die sich als Integrationsfaktoren bezeichnen lassen, konstituiert sich der Staat auf performative Weise. Die in der Empirie des Verfassungslebens jeweils unterschiedliche Gewichtung der Typen staatlicher Integrationsfaktoren bildet die Grundlage für die Klassifikation der Staatsformen. Der Parlamentarismus ist für Smend die typische Staatsform der bürgerlich-liberalen Kultur des 19. Jahrhunderts; sein Integrationsfaktor sei im Wesentlichen dynamisch-dialektischer, das heiße funktioneller Art. Er konstituiere sich in einem Vorgang der permanenten Auseinandersetzung: durch öffentliche Auseinandersetzungen, durch Wahlen, durch parlamentarische Debatten, Abstimmungen und Ergebnissicherungen, „getragen von dem rationalistischen Glauben an die produktive Kraft solcher politischen Dialektik als der Form automatischer Gewinnung der politischen Wahrheit“118. Gegenüber dem Parlamentarismus sei der maßgebende Integrationsfaktor der Monarchie und ihres Gegenstücks, der Republik, „wesentlich statischer Art“. Die Monarchie repräsentiere und symbolisiere die Werte, auf denen die Staatsgemeinschaft beruhe; das politisch Wesentliche sei hier indisponibel, das Königtum selbst, sein Bestand, sei „die Symbolisierung einer im wesentlichen statischen höchsten Wertfülle der Gemeinschaft.“119 Smend gewinnt die symbolische Dimension seines Verfassungsdenkens in enger Anlehnung an bestimmte Prägungen der Literatur. Nachdrücklicher als in der deutschen Staatstheorie, so Smend, sei die eigentliche Funktion der Monarchie in der Dichtung bezeichnet worden, wenn der Sinn dieser politischen Ordnung in ihrer tiefsten Begründung immer wieder durch den Vergleich mit der Fahne anschaulich gemacht werde.120 So etwa in Friedrich Hebbels Agnes Bernauer durch die Rede des Herzogs Ernst, deren handlungsmäßiger Charakter nicht übersehen werden sollte.121 Der Herzog erkennt sein schuldhaftes Han117
Ebd. S. 202. Smend (31994), S. 85. 119 Ebd. S. 87. 120 Ebd. S. 86 Anm. 63. 121 „Du bist nicht, wie ein anderer, der die Gerechtigkeit dadurch versöhnen kann, daß er ihrem Schwert reuig den Hals darbietet, von dir verlangt sie das Gegenteil! Schau dies Banner an, es ist dein Bild und kann dichs lehren! Es ward aus demselben Faden gesponnen, woraus der letzte Reiter, der ihm folgt, sein Wams trägt, es wird einst zerfallen und im Wind zerstäuben, wie dies! Aber das deutsche Volk hat in tausend Schlachten unter ihm gesiegt, und wird noch in tausend Schlachten unter ihm siegen, darum kann nur ein Bube es zerzupfen, nur ein Narr es flicken wollen, statt sein Blut dafür zu verspritzen und jeden Fetzen heilig zu haken! So ists auch mit dem Fürsten, der es trägt. Wir Menschen in unsrer Bedürftigkeit können keinen Stern vom 118
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deln, die Hinrichtung der Baderstochter, und tritt zugunsten seines Sohnes Albrecht ab, indem er ihm aber mit einer reflektierenden „Regierungsrede“ die hohe Schwierigkeit richtigen Handelns überantwortet; denn den Fürsten, die einheitstiftende Institution, muss es weiterhin geben. Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang in der Figur des Kaisers Rudolf in Grillparzers Ein Bruderzwist in Habsburg: „Mathias herrsche denn. Er lerne fühlen, / Daß Tadeln leicht und Besserwissen trüglich, / Da es mit bunten Möglichkeiten spielt; / Doch Handeln schwer, als eine Wirklichkeit, / Die stimmen soll zum Kreis der Wirklichkeiten. / Er sieht dann ein, daß Satzungen der Menschen / Ein Maß des Törichten notwendig beigemischt, / Da sie für Menschen, die der Torheit Kinder. / Daß an der Uhr, in der die Feder drängt, / Das Kronrad wesentlich mit seiner Hemmung, / Damit nicht abrollt eines Zugs das Werk, / Und sie in ihrem Zögern weist die Stunde. / Ihr selbst wart um mein Herrscheramt bemüht, / Mehr fast als gut. Sorgt auch für ihn. / Allein bedenkt: Der auf dem Throne sitzt, / Er ist die Fahne doch des Regiments, / Zerrissen oder ganz, verdient sie Ehrfurcht.“122 Seitens des staatsrechtswissenschaftlichen Textes von 1923 hätte es nahegelegen, die Rede des Kaisers wörtlich wiederzugeben. Denn hier scheinen die wesentlichen Aspekte dessen versammelt zu sein, was Smend unter dem Bereich der Regierung versteht: Zum Ersten ein letztes Unvermögen gut gemeinter, elaborierter Satzungen, die aber zumeist übersehen, dass Handeln als eine Wirklichkeit zu verstehen ist, die es sich gefallen lassen muss, an anderen Wirklichkeiten gemessen zu werden; politisches Agieren darf folglich nie sich selbst absolut setzende Dezision sein, sondern muss stets circumspektives Denken bleiben; sodann die Auffassung, dass nicht in rastloser Arbeit, sondern immer auch in dem Nachdenken über die Qualitäten und Unzulänglichkeiten des Menschen ein wesentliches – aus der Sicht gesellschaftspolitischer Teleologie „objektlos“ zu nennendes – Moment der Regierungstätigkeit liegt, dynamisch zwar als ins Leben gebundene Reflexion, zugleich aber statisch-hemmend in seinem sorgenvollen Charakter und seiner orientierenden Wirkung; schließlich der Amtsgedanke, der besagt, alles Regieren sei stets im Sinne der Verpflichtung übertragene Kompetenz; die Präsenzhaltung einer Einheitsvorstellung kraft des Himmel herunter reißen, um ihn auf die Standarte zu nageln, und der Cherub mit dem Flammenschwert, der uns aus dem Paradies in die Wüste hinaus stieß, ist nicht bei uns geblieben, um über uns zu richten. Wir müssen das an sich Wertlose stempeln und ihm einen Wert beilegen, wir müssen den Staub über den Staub erhöhen, bis wir wieder vor dem stehen, der nicht Könige und Bettler, nur Gute und Böse kennt, und der seine Stellvertreter am strengsten zur Rechenschaft zieht. Weh dem, der diese Übereinkunft der Völker nicht versteht, Fluch dem, der sie nicht ehrt! So greife denn endlich auch in deine Brust, sprich: Vater, ich habe gesündigt im Himmel und vor dir, aber ich wills büßen, ich will leben!“ Zitiert nach Friedrich Hebbel. Werke, 5 Bde., hg. v. Friecke, Gerhard/Keller, Werner/Pörnbacher, Karl, München 1963, Bd. 1, S. 763 f. 122 Zitiert nach Franz Grillparzer. Sämtliche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte, hg. v. Frank, Peter/Pörnbacher, Karl, München 1960–65, Bd. 2, S. 429.
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bloßen Daseins des Regenten oder anderer Regierungsorgane; die Notwendigkeit einer gewissen harmonischen Statik in Form von Symbolisierungen. Insbesondere in ihrem Bezug zu Grillparzers Drama verweisen die hier angeführten Aspekte – die für ein gutes Staatsleben nicht hinreichende Stütze von Satzungen, die Einsicht in die Unzulänglichkeit und Bedürftigkeit des Menschen, der Gedanke amtsmäßiger Repräsentation sowie eine ihren Wert in sich selbst tragende und dennoch nicht absolut gesetzte Selbstzweckhaftigkeit staatsrechtlicher Institutionen – darauf, dass dem Integrationsgedanken Rudolf Smends, bei aller verfassungssoziologischer Betonung staatlicher Wirklichkeit, ein Moment ethisch-normativer Bestimmtheit eigentümlich ist, die als der politisch-empirischen Dynamik transzendent gedacht werden muss. Nicht nur die Monarchie, auch die republikanische Demokratie wird zusammengehalten durch einen „als dauerhaft empfundenen Bestand von Werten und Wahrheiten“ – das „Kronrad“, um mit Grillparzer zu sprechen –, der konkretere Formen annimmt als persistentes Ethos der großen Demokratien.123 Nicht ein Mangel an der Affirmation gesetzter Ziele macht in erster Linie den Mangel an einem solchen Ethos aus, sondern der Mangel an „Leben“, an Erfahrungen, in denen ein solches Ethos sich bewähren kann. Auch das Ethos der Monarchie, namentlich aber das der Demokratie, ist in seinen Erscheinungsformen geschichtlich wandelbar; niemals ist es nur ein Positives, Gesetztes, ein gänzlich unbedingtes „Vorher“, sondern stets ein Konkretes, Wirkliches, ein „Lebendig-Empfundenes“. Die wenig später, 1927/28 in Verfassung und Verfassungsrecht, „funktionelle“ und „sachliche“ Integration genannten Vorgänge und Gegebenheiten werden schon in dem Text von 1923 miteinander verbunden. Denn vermöge der auch in den Staatsformen der Monarchie und Demokratie vorhandenen parlamentarischen Abläufe ist die „Individualitätsbildung durch einen Wertgehalt“124 auch in der funktionell-dialektischen Integrationsweise andauernd zu erneuern. 123 In ihrer plebiszitären Form sei die „Wirkungsweise“ des demokratischen Willens der monarchischen Grundlage entsprechend: national repräsentierend, zusammenschließend, autoritär und unwidersprechlich. Smend (31994), S. 87 Anm. 66 verweist auf Fleiner, Fritz: Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Tübingen 1923, S. 315 f.: „Die reine Demokratie zeigt sich in Bund und Kantonen als eine autoritäre Staatsform. Gegen die Wucht, die in einem Volksentscheid liegt, vermag eine Opposition hinterher nicht mehr aufzukommen. Eine annehmende Referendumsabstimmung sichert dem angenommenen Gesetz von Vornherein Dauer; auch die unterliegende Minderheit muss sich dem Volksentscheid unterwerfen und bei der Vollziehung des Gesetzes mithelfen. Auf der anderen Seite hat ein verwerfender Volksentscheid die Kraft, die Regelung der abgelehnten Materie auf Jahre hinaus unmöglich zu machen. Autoritär ist die reine Demokratie aber auch insofern, als sie alle anderen Gewalten im Land unter die feste Hand des Staates beugt: die Kirchen sowohl wie die Erwerbsgesellschaften und die Individuen. Aus diesem Grund – es muß stets wieder betont werden – ist die Gewährleistung einer möglichst großen staatsgewaltfreien Sphäre zugunsten der Einzelnen und der Verbände eine Notwendigkeit in der Demokratie, soll diese nicht absolutistisch entarten.“ 124 Smend (31994), S. 87.
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Wenn, wie Smend sagt, der Sinn des „rechtlichen Daseins“ der staatlichen Institutionen in ihrer selbstzweckhaften Objektlosigkeit besteht, ihr eigentlicher Zweck somit in der Integration des Staates als politisches Gemeinwesen bestimmten, erlebbaren Charakters liegt, so ist diese Tätigkeit und Leistung, die Erzielung einer verpflichtenden Gesamthaltung, als eine Form amtsmäßiger Repräsentation zu begreifen. Die von Smend später entwickelten Integrationstypen sind von Anfang an auf den so verstandenen Bereich der Regierung ausgerichtet. Hinzu kommt, dass es Smend seit der Dissertation von 1904, der Verfassungsstudie von 1916 sowie den Wahlrechts-Studien von 1911 und 1919 um das Problem des Erlebnisses von Einordnung und Zugehörigkeit geht. Die Frage nach Sinn und Wert staatsrechtlicher Institutionen steht in dem geistigen Raum des Smendschen Verfassungsdenkens unter einem anthropologischen Gesichtspunkt. Das Verhältnis der wählenden Bürger zu den Regierenden – den Regierungsaufgaben wahrnehmende Ämter bekleidenden Bürgern – ist das ausschlaggebende Moment, in dem die Einzelmenschen aus ihrem Dasein als Privatpersonen heraustreten, sich als Staatsbürger verstehen und so – zwar fortlaufend, jedoch nicht selten spontan – eine politische Öffentlichkeit bilden.125 Der Unterschied der Staatsformen besteht für Smend darin, auf welche Weise die Bürger ihre Zugehörigkeit erleben und welchen menschlichen Typus die staatsrechtlichen Institutionen einer Staatsform fordern und prägen. Die Lehre von den Staatsformen wird zur Lehre ihrer jeweiligen Regierungsweisen, und der Unterschied zwischen den Staatsformen muss zugleich in dem Menschentypus gesucht werden, den ihr jeweiliges Staatsrecht voraussetzt. f) Das Münchner Grundrechte-Referat (1927) – Verpflichtende Freiheit zum Staat Im Mitbericht der Verhandlung der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer 1927 in München ist Rudolf Smends Verfassungslehre bündig zusammengefasst. Gegenstand des Verfassungsrechts ist der Lebensprozess des Staates.126 Die Erzielung einer den besonderen Charakter des Staates betreffenden Gesamthaltung ist dem Bereich der Regierung aufgegeben. Der Staat ist somit kein 125 Dieses dialogische Verhältnis, als ein Eu praxia-Wissen sammelndes platonischsokratisches Dialegein, strebt nach Handlungs- und Lebenswissen, das letztlich in der Erkenntnis des Guten begründet ist. Es ist darauf hinzuweisen, dass die deutliche Hervorhebung solcher Bestimmtheit des Selbstzweckhaft-Performativen bei Rudolf Smend 1923 noch fehlt. 126 Berufen konnte Smend sich hier nicht zuletzt auf die schon klassische Darstellung bei Redslob, Robert: Die parlamentarische Regierung in ihrer wahren und in ihrer unechten Form. Eine vergleichende Studie über die Verfassungen von England, Belgien, Ungarn, Schweden und Frankreich, Tübingen 1918. Schon auf der ersten Seite heißt es hier, das „letzte Problem der Verfassung“, ihr eigentlicher Sinn, bestehe in dem „tiefen Gesetz, (. . .) das dem Organismus den Impuls gibt und seine harmonische Arbeit regelt.“ Vgl. Smend (31994), S. 187 und 211.
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vorauszusetzender fester Bestand, der sich zur Durchsetzung bestimmter Interessen instrumentalisieren oder mittels dessen sich über andere verfügen lässt. Seiner Substanz, selbstzweckhaft sich immerfort erneuerndem Leben, gibt der erste Hauptteil der Weimarer Verfassung Formen, in deren Aktualisierung die eigentliche Wirklichkeit des Verfassungslebens besteht. Zu diesem „Leben“, der (sprach-)handlungsmäßigen Hervorbringung der politischen Einheit (Dialegein), werden die Staatsangehörigen immerfort in Beziehung gesetzt. Dieses Leben ist ein durch die Sachgehalte des zweiten Hauptteils der Verfassung normiertes.127 Von herausgehobenem Interesse sind demnach das Verhältnis der Staatsbürger zu ihrem politischen Gemeinwesen, sozusagen ihr „Stand“ in diesem, das Moment politischen Erlebens sowie die staatsrechtlichen Voraussetzungen dieses Moments, zu denen das Münchner Referat insbesondere die Grundrechte zählt. Einem Grundrecht wie dem Recht der freien Meinungsäußerung (Art. 118 WRV) bleibe zwar stets seine schützende Funktion zu Eigen, es sei, so Smend, „zunächst ein Stück sittlich notwendiger Lebensluft für den Einzelnen, die Wahrheit sagen zu dürfen.“ Erschöpft sei der Sinn des Grundrechts damit aber nicht. Die Aufklärung mochte diesen Sinn in den Prinzipien der Freiheit und Öffentlichkeit der Meinungen erblickt haben, als der automatisch wirksamen Organisation der „richtigen“ Meinung und der politischen Sittlichkeit. Weniger rationalistisches Denken sah eher die Grundlage zur Anregung des Gemeinsinns in ihm. Heutige Auffassung müsse das Grundrecht als eine der wichtigsten Voraussetzungen verstehen, dass Formen des politischen Gemeinschaftslebens überhaupt möglich würden; die soziale, gruppenbildende Funktion stehe im Vordergrund.128 Gegenüber den „allgemeinen Gesetzen“, die das nach Art. 118 gewährte Recht der freien Meinungsäußerung einschränken, findet Smend zu der im Nachhinein kanonisierten Leitidee der Güterabwägung. „Allgemeine“ Gesetze im Sinne des Art. 118 seien Gesetze, die den Vorrang vor der gewährten Meinungsfreiheit beanspruchen können, „weil das von ihnen geschützte gesellschaftliche Gut wichtiger ist als die Meinungsfreiheit.“129 Die hier anstehenden Abwägungsverhältnisse könnten schwanken. Die strafrechtliche Verfolgung ungerechtfertigter, auf ungenügender Vorbildung und fehlender sachlicher Information basierender kritischer Berichterstattungen über Gerichtsverhandlungen 127
Vgl. ebd. S. 91. Vgl. ebd. S. 95 f. 129 Ebd. S. 98. Für die Bundesrepublik Deutschland konstitutiv geworden ist das von Smends Grundrechtsdenken nicht wenig beeinflusste Lüth-Urteil von 1958. Vgl. BVerfGE 7, S. 198 = JZ (1958), S. 119. Siehe dazu Schmitt, Carl: Tyrannei der Werte, in: Säkularisation und Utopie. Festschrift für Ernst Forsthoff, Stuttgart/Berlin/Köln/ Mainz 1967, S. 37–62, zudem Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, in: Oikeiosis. Festschrift für Robert Spaemann, hg. v. Reinhard Löw, Weinheim 1987, S. 1 ff. 128
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und Gerichtsurteile sei in früheren Zeiten durchaus als angemessen empfunden worden. Als förderlich erschiene heute wohl eher das Getragensein der Justiz von „vertrauensvollem Gemeinwillen“, der in Kritik und in Bildung öffentlicher Meinung entstehe. Ein Reichsgesetz aber, das etwa die Kritik an der Reichsregierung unter Strafe stellte, müsse unzweifelhaft für verfassungswidrig gehalten werden, auch wenn es als Strafgesetz zunächst einmal als geltend anzusehen wäre. Aber die Unangreifbarkeit der Regierung ist kein Gut, das den Vorzug vor dem Recht der freien Meinungsäußerung verdiente; das Verfassungsleben setzt gerade die Bildung öffentlicher Meinung kraft freier Meinungsäußerung voraus. In der Demokratie erhalten die Grundrechte einen enormen Funktions- und Bedeutungszuwachs, der jedoch nicht ausschließlich in ihrer Rolle als eines gesteigerten Minderheitenschutzes liegt. Ihrer Intention nach übernehmen sie vielmehr einen Teil des monarchischen Verfassungselements. Damit, so Smend, verliere nun aber die „liberale Grundrechtsinterpretation“ vollends an Stimmigkeit, die dort vorhanden gewesen sein möge, wo das monarchische Element noch den „geschichtlichen Charakter der Staatsindividualität in seiner irrationalen Fülle symbolisiert und repräsentiert“.130 Im Verfassungsleben der Demokratie normieren die Grundrechte privatrechtliche, verwaltungsrechtliche, strafrechtliche Verhältnisse nicht mehr des Privatrechts, des Verwaltungsrechts, des Strafrechts, sondern der Verfassung wegen. Sie verfolgen keine individualistisch-technischen Sonderzwecke mehr, wie dies noch in der konstitutionellen Monarchie im Sinne der Beschränkung der Staatsgewalt der Fall gewesen sein mag, vielmehr werden sie, auch wenn das Verfassungsrecht sie wörtlich aus dem technischen Recht abschreibt, in dem Moment, in welchem die „Rolle der Monarchie frei geworden ist“, als ein „politisches Gut“, als „Elemente eines Kultursystems“ zu einem Teil des „konstituierenden Gesamtzweck[s] des Verfassungsrechts.“131 Die Grundrechte bilden als Lebensgefühl das eigentliche politische Ethos der Republik.132 Dass die konstitutive Bedeutung der Grundrechte nicht nur von einer funktionellen, sondern zudem von einer symbolischen Bedeutung ist, welche die Einzelnen ihre geschichtlich begründete starke Stellung erfahren lässt, verdeutlicht Smend an Hand der Einführung der Reichsfarben in das Verfassungsrecht (Art. 3 WRV). Der Artikel über die Reichsfarben besagt nicht einfach nur, die Regierung habe die Verpflichtung zu bestimmten Verwaltungsverordnungen. Er ist eine Verfassungsnorm, die aufgibt, dass „das deutsche Staatsvolk als solches in Smend (31994), S. 93. Ebd. S. 90. 132 Zu erinnern ist an Thomas Manns Berliner Rede ,Von deutscher Republik‘ (1922) und an die dortige Novalis-Anspielung, in der Republik seien gewissermaßen alle Bürger König. Siehe erneut TME 2, S. 148. 130 131
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diesem Symbol und in den durch dieses Symbol repräsentierten Werten von Verfassungs und Rechts wegen eins sein soll – also eine Norm parallel zu den Grundrechten, und ebenso wie diese eine Normierung einheitsbegründenden sachlichen Gehalts, nur daß dieser Gehalt hier symbolisiert, in den Grundrechten dagegen formuliert wird.“133 Die „symbolische Dimension“, auf die Smend hier anspielt, mag im Kontext des Münchner Referats nicht weit über den historisch-rückversichernden Blick auf die Frankfurter Verfassung von 1849 hinaus gehen, wohl bis zum Hambacher Fest von 1832 und den Jenaer Burschenschaften. Für Smends Verständnis könnte in einer solchen Retrospektive jedoch mehr verankert gewesen sein als bloß historische Bildung. Bereits in der Studie über ungeschriebene Verfassungsnormen hatte Smend ausgeführt, mangelhafte Fühlung zu dem Zustandekommen der verfassungsrechtlichen Grundlagen des eigenen politischen Gemeinwesens führe in ein unverstandenes und letztlich unbefriedigendes Staatsleben. Ein Staatsgrundgesetz habe der konzentrierte Ausdruck des politischen Selbstbewusstseins eines Staatsvolks zu sein. Einer Verfassung „nach der Art der Frankfurter“, so hieß es 1916, wäre dies wohl auch gelungen.134 Als Wiederaufnahme der Paulskirchen-Fahne treten die Reichsfarben an die Stelle der Wertfülle, die in der Monarchie auf einzigartige Weise durch die zeremoniellen Traditionen und dynastischen Freundschaften und Solidaritäten symbolisiert wurde,135 deren Gehalt aber eine sich als bürgerlich verstehende Gesellschaft im Hinblick auf ihre staatliche Gemeinschaft auf dem Weg einer staatsbürgerlichen Grundrechtsverwirklichung einzuholen hat. Die normierten Grundrechte eines demokratischen Verfassungsstaates sind also in erster Linie staatsrechtlich auszulegen. Sie sind keine individualistisch verstandenen technischen Abwehrrechte gegenüber dem Staat, sondern Gewährungsgrundlage bürgerlicher Freiheit zum Staat. Als geradezu konstituierende Elemente sollen sie den Staat keineswegs schwächen, vielmehr den Staat als politisches Gemeinwesen stärken. Smend behandelt die Grundrechte als ein das Moment des politischen Erlebnisses erweiterndes – eher statisches – Gegenstück zum allgemeinen und gleichen Wahlrecht. Das politische Leben der Staatsbürger wird nicht auf die bloße Funktion des Wählens reduziert. Der Einzelne erlebt (bei Mehrheitswahlrecht) in Wahl- und Stichwahlbündnissen im Einerwahlkreis seine Zugehörigkeit, sein eigenes politisches Tätigwerden und im Ausgang der Wahl dann die Auswirkung seiner eigenen Stimme. Aber die Institution der Grundrechte, die öffentlich ausgeübte staatsbürgerliche Berufsrechte sind, gewähren ihm darüber hinaus die Möglichkeit, ja sie geben sogar die Pflicht auf, auch mit den Vorgängen der Regierungsbildung und der gesamten folgenden Regierungstätigkeit in Verbindung zu bleiben. Sie sind so zu133 134 135
Smend (31994), S. 94. Ebd. S. 55. Vgl. ebd. S. 86 f.
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gleich Zeichen für die Regierenden, dass sie es hinsichtlich der sie Berufenden nicht mit Empfängern von Wohltaten, einer zu verwaltenden „Schafherde“136, zu tun haben. Diesbezüglich entscheidend ist die Feststellung, dass die Wahl eines Parlaments durch das in Gestalt des Grundrechtskatalogs in die Verfassung der Republik aufgenommenen Wahlvolk etwas grundlegend anderes ist als die Wahl eines Repräsentantenhauses im Rahmen des Konstitutionalismus. Auf Weimar bezogen beinhaltet die konstituierende Bedeutung, die Smend den Grundrechten zuschreibt, dass die Bestimmung eines Wahlkandidaten zum Abgeordneten in staatsrechtlicher Perspektive in ähnlicher Weise statusverleihend wirkt wie die Bestimmung des Reichskanzlers durch den Reichspräsidenten.137 Alle Wirklichkeitserfahrung – und dann auch alle Legitimierung und Legitimitätsgeltung – moderner Staatlichkeit ereignet sich in dem assoziativen Ordnungsverhältnis zwischen „Regierenden“ und „Regierten“. Alles positive Staatsrecht hat somit die Aufgabe, die Formen der „Transaction“ (Georg Waitz) zwischen Regierung und Nation anzuregen. Erneut rückt damit die Lehre von den Staatsformen in die Nähe einer anthropologisch ausgerichteten Bemühung um die Bestimmung des die jeweilige Staatsform ausmachenden Menschentypus. Anders als bei Max Weber und dann bei dem Weber-Schüler Joseph A. Schumpeter geht es bei Rudolf Smend nicht in erster Linie um die Führungsqualitäten der Regierenden, sondern vielmehr um die Fähigkeit aller Staatsbürger, das kompetitive und kooperative Zusammenspiel der staatlichen Ämter wahrzunehmen und sich der ritualhaften Objektlosigkeit dieses Zusammenspiels bewusst zu werden als einer Form des Regierens im Sinne der Reflexion über den Menschen, seines Handelns und seines Umganges miteinander. Die Scheidewand zwischen Regierenden und Regierten scheint damit zu sinken, zumindest hinsichtlich des Regierens als Bewusstseinsakt, nicht jedoch im Sinne der Amtsverantwortlichkeit. Das Ethos des Staatsbürgers in der republikanischen Demokratie, das Smend Mitte der zwanziger Jahre vorgeschwebt haben mag, ist ein solches des Anschauens – „mitlebenden Denkens“ eben –, nicht so sehr des Wollens, etwa im Sinne eines interessegeleiteten Engagements unter dem Deckmantel der Grundrechtsverwirklichung.
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Max Webers Ausdruck. Vgl. die Passage in GPS S. 64. Und dies wäre im Falle des Mehrheitswahlrechts auch in Weimar „erlebbar“ gewesen. Der Frage nach dem staatsrechtlichen Status von Abgeordneten und Beamten ist in der Nachfolge des Smendschen Verfassungsdenkens Arnold Köttgen nachgegangen. Siehe dazu weiter unten Kapitel I. 2. des Dritten Teils. 137
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g) Verfassung und Verfassungsrecht (1928) – Die repräsentative, performative und symbolische Konstituierung der Verfassungswirklichkeit aa) Vorbemerkung Die Schwierigkeiten der Rezeption des verfassungstheoretischen Hauptwerkes Rudolf Smends, seiner einzigen staatsrechtlichen Monographie, sind oben bereits angesprochen worden.138 Es muss nunmehr darum gehen, das „unnötig schwierige Buch“ (Wilhelm Hennis) innerhalb des eingeschlagenen darstellenden Verlaufs der staatsrechtlichen Schriften einzuordnen und die Linie fortzuzeichnen. In Umrissen lassen sich die zwischen 1911 und 1927 untersuchten Momente politischen Erlebens – Wahlrecht, Regierung, Grundrechte – den bereits 1923 in Politische Gewalt im Verfassungsstaat entwickelten Integrationstypen zuordnen. Das Wahlrecht ist eine Form funktioneller Integration und selbst wieder auf weitere Formen dieser Integrationsart, vor allem auf Parlamentsverhandlungen und Abstimmungen, ausgerichtet. Der Bereich der Regierung, ihre Konstituierung – als ein Besetzen von Wahlämtern – und ihre Tätigkeit, gehört, gedanklich gelöst von ihrem funktionell integrierenden Ort, in das Gebiet persönlicher Integration. In den Grundrechten, wie bereits der Münchner Mitbericht von 1927 gezeigt hat, ist ein insbesondere der Demokratie wesentlicher sachlicher Integrationsgehalt zu sehen. In Verfassung und Verfassungsrecht stellt Smend die Faktoren der Integration in unverkennbarer Anlehnung an Max Webers Wissenschaftslehre als Idealtypen vor139; es handelt sich um gedanklich reine Begriffe, gewonnen zwar aus der Beobachtung empirischer Wirklichkeit, gleichwohl in dieser niemals (oder nur äußerst selten) in reiner und ungetrennter Weise vorkommend. bb) Zum Typus persönlicher Integration140 Obrigkeitsstaatliches Denken, so Smend, habe das Problem der staatlichen Führung von je ausschließlich in den Führern und weniger in den zu Führenden gesucht. Das mechanistische Denken, das den Führer als eine Kraft sehe, die von außen auf die Massen wirke, übersehe die potenzielle Spontaneität und Produktivität der Geführten. Jede Führerideologie tendiere zu einer lähmenden Pas-
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Siehe 1. Teil, Kapitel II. 2. Vgl. WL S. 189 ff. und WuG S. 9 ff. Auf die Nähe des Wissenschaftsverständnisses Rudolf Smends zu dem des (richtig verstandenen) Weberschen Postulats der Wertfreiheit (heuristisches Mittel der Klarheit und Beurteilung, ja, „letzter“ Wert und glaubensmäßiger Geltungsanspruch, nein) ist im Zusammenhang mit der ersten Wahlrechts-Studie Smends kurz eingegangen worden. 140 Vgl. Smend (31994), S. S. 142–148, 198–205, 242–252. 139
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sivität, die vom politischen Zauberer alles erwarte, von den zu Führenden aber nichts verlange. Dennoch sei, so Smend, sicherlich kein geistiges Leben ohne Führung möglich, am wenigsten in Hinsicht auf politische Gemeinwesen. Welches ist also das gemeinsame Moment aller staatlichen Führung? Die Theorien der Führung sähen den Führenden als bloßen Techniker außen- oder innenpolitischer Zwecksetzung und Zweckverwirklichung; vernachlässigt werde die Tatsache, dass die Führenden sich auch vor den Blicken der von ihnen Geführten bewähren müssten. Von diesem Standpunkt betrachtet Smend die Institution der parlamentarischen Regierungsweise. Das Kabinett soll eine parlamentarische Mehrheit zusammenführen und zusammenhalten und dadurch, in der Weise, in der es dies vollbringt, nicht nur einen Teil der Staatsbürger zu einer regierenden Koalition, sondern alle Staatsbürger zur staatlichen Einheit verbinden. In gleicher Weise ist die Funktion des Monarchen nicht rein technischer Art. Der Sinn der Institution ist es, die Einheit des Staatsvolkes zu repräsentieren, ein Symbol zu sein. Die Institution des Monarchen fällt schon mit dem Typus sachlicher Integration zusammen. Ihre Wirksamkeit kann rein repräsentierend, aber auch gestaltend, immer sollte sie aber belebender Art sein. Eine solche Belebung vermag oft gar nicht von konkreten Inhalten und Resultaten auszugehen, vielmehr wird sie in einer Aktualisierung des Selbstbewusstseins liegen, so etwa in der Ovation. Smend verweist auf eine beispielhafte Passage aus Thomas Manns Roman Königliche Hoheit, in der die Einstellung des Prinzen in das Regiment der Leibgrenadiere vorgenommen wird. Der Prinz, in Leutnantsuniform, meldet sich im Schloss bei seinem Vater, dem Großherzog; dieser, in Galauniform, führt ihn mit großem Gefolge auf den Platz hinab; das Publikum staut sich hinter der Absperrung, an den Fenstern des Schlosses zeigen sich die Fürstin und die Hofdamen, mehrere fotografische Apparate sind auf die Szene gerichtet; der Prinz tritt vor die vergilbte und schon halb zerfetzte Fahne des Regiments; der Vater redet den Sohn mit „Eure Hoheit“ an und reicht ihm öffentlich die Hand, wozu alles in Hochrufe ausbricht: „Dieser schöne Akt auf dem Albrechtsplatze war ohne praktische Bedeutung, er trug seinen Wert in sich selbst.“141 Vor hier aus wird auch die Notwendigkeit zum Rücktritt führender Politiker deutlich. Der in der Verwaltung tätige Fachbeamte zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er auch „anders können“ muss. Oft wird aber der Charakter des Staatsganzen so sehr von den in Wahlämter Berufenen integrierend bestimmt, dass ein Wechsel des politischen Charakters, falls ein solcher aus welchen Gründen auch immer ansteht, nur als ein (gleichzeitiger) Wechsel der Personen möglich wird. 141
GW 2, S. 112 f. Vgl. dem Hinweis bei Smend (31994), S. 145 Anm. 11.
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Diese Überlegungen bedeuten verfassungstheoretisch die Absage an den formaljuristischen Organbegriff. Für diese Lehre ist die rechtsgeschäftliche Betätigung der staatlichen Organe stets das Erste. Die Organe sind aber, Smend zufolge, nicht dem Recht ihrer Funktionen zu subordinieren. Ganz bewusst stelle die Weimarer Verfassung die Organgruppen voran, ihre Konstituierung ist der Verfassung Selbstzweck, ihr Dasein bereits ein Stück gewollten Verfassungslebens. Integrierende Wirkung geht aus von Bestand, erneutem Bildungsvorgang und fortwährendem Tätigwerden der Verfassungsorgane, soweit ihre Konstituierung Folge politischer Auseinandersetzung ist und die diesbezüglichen Abläufe in die Öffentlichkeit verlegt sind. In diesem eigentümlichen Organverständnis ist – wie bereits zuvor in der zweiten Wahlrechts-Studie von 1919 – die Essenz des Verfassungsdenkens Rudolf Smends fassbar. Die das Organ – als ein Verfassungsamt – vor teleologischer Abschnürung in Schutz nehmende Betonung seines selbstzweckhaften Charakters impliziert eine performative Bezugnahme hinsichtlich der Wirklichkeit staatlicher Ordnung. Um jedoch den Staat als „geistige Wirklichkeit“ zu konstituieren, benötigen Bildungsvorgang, Bestand und funktionelle Wirkung der Verfassungsorgane ein auf die ritualhafte, nicht-instrumentelle Objektlosigkeit gewendete erlebende Aufmerksamkeit des Menschen und Bürgers. Besonders integrierend, so Smend, wirke sich die Verhandlung aus, die nicht unbedingt in einen rechtsgeschäftlichen Willensakt münde. Bedingungen für die integrierende Wirkung seien allerdings einander gewachsene Gegner, das Vorhandensein gemeinsamer Grundlagen – vornehmlich die Bereitschaft zur Sozialität des Politischen – sowie das Erfasstwerden der Bevölkerung durch institutionell ausgetragene Verständigungen. Die schon mit dem Bereich funktioneller Integration zusammenfallende Wirkung sieht Smend dort am stärksten, wo es sich um das Verhältnis mehrerer Organe zueinander handle. Erich Kaufmann habe dargelegt, dass in diesem Verhältnis oft das eigentlich Charakteristische eines individuellen Verfassungslebens liege.142 Jedenfalls ist Smends Auffassung zufolge das verfassungsmäßige Organ nicht nur juristische Veranstaltung zur Erzielung gültiger Staatsakte, nicht nur Vollmachtträger für die Akte der Gesetzgebung und der Vollziehung. Unter diesem Gesichtspunkt stellt sich die Frage nach dem Sinn des Repräsentationsgedankens. Der kontinentale Ausgangspunkt für den Gedanken der parlamentarischen Repräsentation, der Begriff der in der Menge schlummernden Vernunft, sei ideengeschichtlich überholt. Ersetzt werde die Vorstellung des real präexistenten Vernunftbesitzes meist durch eine immerhin vorhandene konkrete Willensindividualität. Damit verliere allerdings der zweite Satz des Art. 21
142
S. 9.
Vgl. Kaufmann, Erich: Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung, Berlin 1917,
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WRV immer mehr an Wahrheit.143 Für eine „gesund-politische“ Auffassung – Smend spricht davon, die Bedeutung des fraglichen Artikels „konvaleszieren“ zu lassen – könne es gelten, die Betonung innerhalb der zweigliedrigen Formel auf den ersten Satz zu verlegen, den zweiten Satz somit als bekräftigende Erläuterung des ersten zu begreifen. Im Sinne des Amtsgedankens entlastet diese Auslegung die Abgeordneten von jeder konkreten Weisungsbefugnis der sie berufenden Staatsbürger, bürdet ihnen aber zugleich die Verpflichtung auf, allen profilierungssüchtigen Eitelkeiten zu entsagen, um ihre Amtstätigkeit circumspektiv nach dem Gemeinwohl auszurichten. Positivrechtlich folgt aus dieser materiellen Organlehre, dass die Auslegung des Verfassungsrechts – auf die Verfassungslage Weimars bezogen – es dem Reichspräsidenten durchaus erlaubt, sich als die Verkörperung des Einheitswillens der Nation zu verstehen. Die Rechtfertigung eines Organs ergibt sich zuweilen ganz allein aus seiner Integrationsabsicht.144 Es ist aber bei dieser Auslegung des Verfassungsrechts auch auf die ethisch-politischen Verpflichtungen der Organe zu achten. Oberstes Gebot ist hier die Zusammenarbeit. Dass bei Differenzen zwischen den obersten Organen in Verhandlungen ein Ausgleich zu finden sei, könne geradezu als eine ungeschriebene Verfassungsnorm gelten, insbesondere in den individuellen Fällen, in denen kein Staatsgerichtshof vorhanden ist. Ohnehin besteht für Smend die grundsätzliche Frage, ob schwerere politische Konfliktfälle überhaupt judiziabel sind. Die staatsrechtliche Lücke, die der Art. 19 WRV lässt, das Fehlen eines obersten Gerichtshofes für alle Reichsverfassungsstreitigkeiten, verweist zunächst auf die umso größere Bedeutung materiellrechtlicher Verpflichtung zu Ausgleich und Verständigung zwischen den verfassungsmäßigen Organen.145 Im Rahmen der persönlichen Integrationsfaktoren ist das Recht der parlamentarischen Kabinette und ihrer Bildung für Smend von besonderem Interesse. Es ließen sich hier drei klar voneinander unterschiedene Haltungen beobachten: 1. Die Forderung der Freiheit für die Auswahl des Reichskanzlers durch den Reichspräsidenten, für die Auswahl der Minister durch den Kanzler sowie für 143 Art. 21 WRV: „Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie sind nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge nicht gebunden.“ 144 So bestand die Aufgabe des Kriegsausschusses des Reichstages sicherlich nicht darin, die Kriegsschuldfrage letztgültig zu klären. Der Sinn des Ausschusses sowie seiner Erörterungen lag allein in dem identitätsbildenden Moment der Selbstreflexion, seiner Befassung mit der Geschichte der Nation, mit dem Schicksal Europas, sowie in der öffentlichen Zugänglichkeit dieser Erörterungen. 145 Jedoch scheint Smends Einschätzung des Art. 19 bereits die Grundannahme der Bundesverfassungsgerichts-Rede von 1962 „vorzubereiten“. Eine Ausfüllung jener Lücke bedeutete nicht unbedingt den Wegfall der Pflicht zu Verständigung; unter historisch gewandelten Umständen könnte die entsprechende Rechtsprechung eines höchsten Verfassungsgerichts gerade auf diese Pflicht hinweisen und mit Hinblick auf die politische Praxis einen unumgänglichen materiellrechtlichen Maßstab herausstellen.
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die Verhandlung und Entschließung des Reichstagsplenums über die Akzeptierung des neuen Kabinetts; 2. die gegenüber Führungsanspruch und Führungsaufgaben des Kabinetts skeptische Behauptung, das Kabinett sei nur der Vollzugsausschuss der Parlamentsmehrheit, letztlich sei die Koalitionsabrede der politisch unausweichliche Ausgangspunkt der Regierungsbildung; 3. der Versuch, das Kabinettsbildungsrecht in einem objektiven Maßstab, dem Staatswohl, zu finden, an den der Reichspräsident bei seiner Ernennung des Kanzlers gebunden sei. Carl Schmitt habe aufgezeigt, dass die Grundlagen zu der ersten Haltung nicht mehr gegeben seien.146 Die skeptische Haltung gegenüber dem Kabinettsbildungsrecht verwirft Smend als juristisch nicht haltbar, denn der Reichspräsident wäre gar nicht zu verurteilen, wenn er den Vorschlag zur Regierungsbildung seitens des Reichstages nicht annehmen würde. Zur dritten Haltung ist aus Smends Sicht zu sagen, dass schlechterdings kein Maßstab sachlicher Objektivität und Überparteilichkeit im Bereich gesellschaftlicher Immanenz existiere. Das parlamentarische System sei nun einmal – was Hans Kelsen zu Unrecht der Demokratie als solcher attestiert habe147 – für sich betrachtet, als in erster Linie funktionelle Integrationsform, ein System des Relativismus. Der Grundgedanke eines materiellen Kabinettsbildungsrechts müsse dahin lauten, dem Reichspräsidenten das Recht und die Pflicht zuzuschreiben, zu tun, was er für sachlich richtig halte. Diese seine Aufgabe sei jedoch nicht zu trennen von der anderen, Reichstag und Wahlvolk für den eingeschlagenen politischen Weg zu gewinnen.148 Der Spielraum fließender Verständigung in Kritik und gegenseitiger Anerkennung sei hier das Wesentliche. In Fragen der Organisation der Regierung sei nicht die Koalitionsgrundlage ausschlaggebend, sondern die immer wieder in Angriff genommene Aufgabe politischer Solidarität und politischer Führung im Kabinett. Nahezu ausgeklammert bleibt bei Smend die Frage nach den Menschen, welche die höchsten Verfassungsämter bekleiden sollen. Joseph A. Schumpeter hat in dem Jahr nach Smends Verfassung und Verfassungsrecht auf eben diesen Umstand, das Fehlen einer politischen Klasse in der Weimarer Republik, aufmerksam gemacht.149 Reflex der wirtschaftlichen Veränderungen, so heißt es bei Schumpeter, sei die zahlenmäßige Zunahme der „Intellektuellen“, insbesondere der Angestellten – Taylorisierung erfordere Bürokräfte –, deren Anzahl sich zwischen 1882 und 1925 verzehnfacht habe, von rund 300.000 auf weit 146 Vgl. Schmitt, Carl: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923). 8. Aufl., Nachdruck der 1926 erschienenen 2. Aufl., Berlin 1996, insb. S. 5–23. 147 Vgl. Kelsen, Hans: Wesen und Wert der Demokratie, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 47 (1920/21), S. 50–85, insb. S. 83 ff. 148 Vgl. dazu insb. Herrfahrdt, Heinrich: Die Kabinettsbildung nach der Weimarer Verfassung unter dem Einfluß der politischen Praxis, Berlin 1927, S. 52 f., 55 ff. 149 Schumpeter, Joseph A.: Das soziale Antlitz des Deutschen Reiches, in: Bonner Mitteilungen 1 (1929), S. 3–14.
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über drei Millionen gestiegen sei. Seit 1907 habe die Arbeiterzahl um 12 %, die Zahl der Angestellten aber um 111 % zugenommen. Wirtschaftlich gesehen sei vielleicht der Unterschied zwischen der Arbeit des Angestellten und der des sogenannten Arbeiters weder begrifflich scharf zu fassen, noch praktisch wichtig. Politisch und hinsichtlich der Taktik ihres Interessenkampfes mögen die Angestellten eher den Arbeitern vergleichbar sein. Aber der soziale Typus und die Mentalität, welche die Angestelltenarbeit hervorzubringen tendiere, grenze eher an jene Gruppe, die man als „Beamte“ und „Zugehörige der freien Berufe“ bezeichne. Über die Trennungslinien hinweg, die diese Masse noch teilen mögen, wachse hier eine soziale Klasse zusammen, welche die zahlenmäßige Vorherrschaft der Arbeiter künftig beenden werde; rein verwaltungstechnisch könne ohne sie dann nichts mehr geschehen. Sicher sei somit eines: Wie immer diese Klasse in Zukunft politisch Stellung nehme, in jedem Fall werde sie dem deutschen Geist den Stempel der Mentalität einerseits des Gehaltsempfängers, andererseits des spezialisierten Fachmanns immer tiefer einprägen. Die Welt der Zukunft werde eine Welt der Bürokratie sein.150 Ohne seinen „Lehrer“ Max Weber zu erwähnen, erinnern Schumpeters abschließende Äußerungen doch unverkennbar an die „Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz“, die Weber in der Schlussansprache der Protestantischen Ethik in Anlehnung an Nietzsches „letzten Menschen“ vorhergesagt hatte.151 Zweifelsohne sah auch Schumpeter diesen in Aussicht stehenden Menschentypus als zur politischen Führung ungeeignet an. Dass diese Auffassung – ebenso im Hinblick auf die die Regierenden berufenden Staatsbürger – auch für Rudolf Smend zutrifft, zeigt seine noch vorzustellende Rede Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht (1933). cc) Zum Typus funktioneller Integration152 Der Typus funktioneller Integration bezeichnet alle Verfahrensweisen und kollektivierenden Lebensformen, die einen geistigen Gehalt gemeinsam machen, eine Verstärkung des Erlebnisses von Gemeinsamkeit bewirken; zu erörtern sind hier insbesondere die Sache der Herrschaft und die des Kampfes. Herrschaft sei, wie Max Weber herausgestellt habe, stets legitimationsbedürftig, stets leite sie sich von anderen Werten und Ordnungen ab. Herrschaft als Form integrierender Funktion ist für Smend durch sachliche Werte bedingt, die ihr Legitimität geben; legitime Herrschaft kann als die Wirklichkeitswirkung dieser Werte angesehen werden. Herrschaft ist jedenfalls eine Lebensform des Ganzen wie auch des Einzelnen, der sie mitträgt und ermöglicht, sie erfährt und in 150 151 152
Vgl. ebd. S. 12 f. RS 1, S. 204. Siehe Smend (31994), S. 148–160, 205–215, 253–260.
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Wechselwirkungen mit dem Ganzen tritt. Allerdings könne es keine Integration durch sachliche Werte ohne funktionelle Form, keine funktionelle Integration ohne sachliche Wertgemeinschaft geben. Dennoch herrsche meist das eine oder das andere deutlich vor. Smend interessiert nicht die Willensbildung in ihrem rechtsgeschäftlichen Sinn, sondern vielmehr als Voraussetzung für die rechtsgeschäftlichen Auswirkungen staatlicher Willensgemeinschaft. Der Vorgang spontaner Willensbildung könne an sich allein auf dem sinnlichen Gebiet liegen, den geistigen Gehalt begleitend und anregend. Das bekannteste Beispiel bleibe hier Karl Büchers Untersuchung über den akustischen oder motorischen Rhythmus gemeinsamer Tätigkeit.153 Alle Wahlen und Abstimmungen seien dagegen in erster Linie geistige Integrationsweisen, Aktualisierungs- und Weiterbildungsvorgänge sachlicher Gehalte. Dennoch hebt Smend hervor, wie entscheidend die „Körperlichkeit“ des Parlaments gerade in romanischen Ländern für ein nachvollziehendes Miterleben sei. In der Bewegtheit der parlamentarischen Verhandlung, ihrer strategischen Gestik und oftmals spontanen Choreographie liege zuweilen das eigentlich integrierende Moment des Parlamentarismus. In Abstimmung und Mehrheitsprinzip sieht Smend ursprünglichere Integrationsformen als in der „reinen“ Herrschaft auf Grund sachlich-statischer Wertordnungen; vor allem der Kampf habe eine starke Integrationstendenz. Das Mehrheitsprinzip werde missverstanden, wenn man in ihm lediglich die rationale Auswirkung des Willens zur Gemeinschaft sehe. Vielmehr sei es geschichtlich zu verstehen als die Formalisierung des Kampfes und der nicht formalisierten, zuweilen geradezu physischen Überwältigung der Minderheit innerhalb einer Gruppe.154 Die Besonderheit aller Aktualisierungs- und Weiterbildungsvorgänge in politischen Gemeinwesen liegt für Smend darin, dass sie nicht selten auch den sachlichen Gehalt der Gemeinschaft ausmachen. Verfassungsmäßig ange153
Vgl. Bücher, Karl: Arbeit und Rhythmus, Leipzig 1897. Nicht übersehen werden sollte an dieser Stelle (Smend (31994), S. 152 Anm. 14) der Hinweis auf die mögliche integrierende Wirkung des geschichtlichen Rückblicks auf den Bürgerkrieg. Siehe hierzu die von Smend benannten, wenn auch nicht wörtlich zitierten, Strophen 3, 5 und 7 aus Gottfried Kellers ,Landessammlung zur Tilgung der Sonderbundskriegsschuld 1852‘: „Das Sprühen ist der Bürgerkrieg, / der Völker Fluch geheißen; / Doch festet es ein gut’ Metall, / wo schwache Ketten reißen. / Gerade weil wir Schmiede sind, / so schmieden wir in der Glut, / Die Pflugschar in der eig’nen Ess’, / das Glück aufs neue gut! – Nicht solcher Thaten rühmen wir / uns, die wir heute leben; / Jedoch, ist leichter uns’re Hand, / ist geistiger auch das Streben. / Und zankten wir, und brauchten wir / die Ratio ultima, / So sind nun alle überzeugt / und alle sind noch da! – Der Raum ist eng, die Seelen fest: / hie alte – hie neue Zeiten! / Erscholl’s und blutig maßen sich / die Mehr- und Minderheiten. / Doch nun der Streit gestritten ist, / so sind wir wie Ein Mann, / Ein Mann, der sich bezwungen hat, / und niemand geht’s was an!“ Zitiert nach Gottfried Keller. Sämtliche Werke in sieben Bänden, hg. v. Thomas Böning u. a., Bd. 1: Gedichte, Frankfurt a. M. 1995, S. 524 f. 154
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regte Abläufe wirken sich innerlich „prägend“ und „formend“ auf die Beteiligten aus. Deswegen spricht Smend vom „Erlebnis“, von „kathartischen Wirkungen“, von „Genugtuung“ und „Befriedigung“ sowie von „emotionaler Beteiligung“, die seitens der „Zuschauer“ nicht selten stärker seien, als auf Seiten der „tatsächlich Aktiveren“.155 Den Formen funktioneller Integration wird dieselbe „kathartische Wirkung“ zugeschrieben wie etwa dem Ausgang des Spiels. Austragung und ritualisierter Ablauf seien die wesentlichen Elemente, zugleich Integration der Gemeinschaft und Erhöhung des Lebensgefühls der Einzelnen; darin besteht der „Lebenswert“ des Politischen. Smend verweist auf den Vortrag Lebenswert des Spiels (1910) des Tübinger Philosophen und Psychologen Karl Groos.156 Groos stellt die Frage, ob das Spiel gegenüber dem „Ernstleben“, der Sphäre der Arbeit, reine „Belustigung“ oder ob ihm ein Lebenswert aus sich selbst heraus eigentümlich sei. Groos bejaht Letzteres, den Sinn des Spiels auf den unterschiedlichen Ebenen der Einübung, der Ergänzung und der Erholung findend.157 Spielerische Formen der Einübung entdeckt Groos vor allem in den Instinkt-, Jagd-, Kampf- und Experimentierspielen der Tiere, aber auch in der Lebenswelt des Kindes. Das Spiel ist hier wesentlicher Teil der „Selbstausbildung“ und befindet sich in fortwährender Relation zur „Fremdausbildung“ durch Erziehung und Umweltbedingungen.158 Die Funktion einer Ergänzung des Daseins sei das Typische der „Erwachsenenspiele“; die Ergänzung mache geradezu den Lebenswert dieser Spiele aus.159 Groos knüpft hier explizit an die bekannte These aus Schillers 15. Brief Über die ästhetische Erziehung des Menschen an: „Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“160 Indem die Smend (31994), S. 151, 156. Ebd. S. 151 Anm. 8. Siehe Groos (1922). 157 Vgl. ebd. S. 1. 158 Vgl. ebd. S. 4–11. 159 Ebd. S. 11 f. 160 Schiller (2000), S. 62 f. Die Feststellung, dass die mit Schillers Freiheitsverständnis zusammenhängende Anschauung vom homo ludens in ihrer stolzen Unschuld heute nicht mehr zu überzeugen weiß, da wir uns dessen bewusst sein müssten, wie hellsichtig Walter Benjamin war, als er sagte, die hohen Werke der Kultur seien auf einem Fundament von Ungerechtigkeit und Barbarei gebaut, ist wohl nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen. In ihr liegt jedoch ein Skeptizismus, der Schiller ebenso fremd war wie Goethe, und wie wohl auch Karl Groos und Rudolf Smend. Ihnen kommt es auf die Öffnung von Freiheitsräumen an, die gerade in den Begrenzungen des Spiels erfahren werden können. Letztlich ist der Skeptizismus nichts anderes als ein Mangel an Fähigkeit zu solcher „spielerischen“ Einfühlung. Zudem ist Benjamins skeptizistischer Sehweise entgegenzuhalten, dass die Beobachtung, die Werke der Kultur prunkten auf Barbarei, in dem damit suggerierten Kausalitätsverhältnis nicht ganz zutreffend sei. Allerdings ist es so, dass Kultur und Barbarei, Zivilisation und Unmenschlichkeit, miteinander verflochten sind, sofern sie letztlich beide auf das Rüstzeug humanistischer Bildung zurückgreifen, insbesondere auf das Logos155 156
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Betonung in dem Schillerschen Satz auf das Wort „ganz“ gelegt wird, meint das Spiel Befreiung von der Einseitigkeit des Berufs- und Stadtlebens. Eine solche Befreiung kann bereits im Kegel-, Karten- und Schachspiel erreicht werden. Das Austragen des Spiels bewirkt eine Freisetzung und Entladung (Katharsis) unterschiedlicher Gefühle: der Spannung, des Wetteifers, der Freude am Können, des harmlosen Lachens über den Zufall sowie über Ungeschicklichkeiten, des Sieges über andere und des Zusammenhaltens mit anderen. Das Spiel bietet damit und darüber hinaus die Möglichkeit eines „Durchkosten[s] von Lebensmöglichkeiten“, und in Letzterem liegt für Groos bereits der Übergang zum ästhetischen Nachvollziehen. Wesentlicher Bestandteil des „ästhetischen Verhaltens“ sei inneres Miterleben, ein „Hineingerissenwerden“161 in die Begebenheiten, innerlich nachahmendes Teilnehmen an Vorgängen. In der Kunst sei es dem Menschen möglich, sich in einer „Erlebnis-Sphäre“ der „Sympathie“ und „Freundwilligkeit“ aufzuhalten. Die Kunst habe das Vermögen der Beseelung der Natur und der gesamten materiellen Welt durch die „spielerische Illusion“.162 Die Sphäre des Spiels kann gegenüber derjenigen der Arbeit eine Befreiung bedeuten; die Erholung wird zu einem konstitutiven Moment der Freiheit. Schopenhauer, fügt Groos hinzu, habe als Platoniker in dem Anblick des Schönen geradezu eine „Erlösung von der Qual des Daseins“ erblickt.163 Die Interesselosigkeit und rigorose Zweckfreiheit des Spiels wird von Groos auch in dem kurzen Aufsatz über Das Spiel als Katharsis betont. Erneut geht es zunächst um den besonderen, von externen Zwecken befreiten Sinn des Spiels. Doch die Verbindung mit der antiken Katharsis-Theorie164 gibt den Blick frei auf einen mit dem Spiel zwar nicht unbedingt beabsichtigten, aber dennoch sich einstellenden, auch nicht unmittelbar am Spiel beteiligte Abläufe betreffenden „positiven Nutzen“165. Die Entladung im Spiel, von Groos vielleicht etwas zu mechanisch mit dem „Entweichen des Dampfes durch ein Sicherheitsventil“ verglichen, erleichtert und besänftigt, baut augenblicklich vorhandene Emotionen ab, die sonst, solange ein Anlass zur „Ernstbetätigung“ fehle, zu „sozial Modell. Die Feststellung wirft ein Licht auf den ambivalenten Charakter von Bildung und Fortschritt überhaupt, auf die als tragisch zu begreifenden Perversionen des Logos. Die Anfänge von Ungerechtigkeit und Barbarei sind aber doch darin zu sehen, dass in ihrem Fall äußere Bildung an inneren Barbaren verloren gegangen ist, da auf Grund des Mangels an einer auch dem Selbstzweck des Spiels aufgegebenen ethischnormativen Bestimmtheit die „prägenden“ Wirkungen ausgeblieben sind. 161 Groos (1922), S. 13. 162 Ebd. S. 15. 163 Ebd. S. 18. 164 Siehe dazu Flashar, Hellmut/Kerferd, George B.: Art. „Gorgias und Leonides“, in: Die Philosophie der Antike Bd. 2/1: Sophistik, Sokrates, Sokratik, Mathematik, Medizin, hg. v. Hellmut Flashar, Basel 1998, S. 44–53. 165 Groos 1922, S. 24.
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schädlichen Äußerungen“ führen könnten.166 Worauf es Groos besonders ankommt, sind die Formen des Spiels mit kathartischer Wirkung. Es werden verschiedene benannt: der Wettkampf, der Tanz, das Lachen, das Necken, die Tändelei, letztere in Bezug auf das erotische Leben, und wiederum das „ästhetische Verhalten“. Die unterschiedlichen Formen der Kunst besitzen für Groos die Eigenschaft der Vermittlung, genauer der „Ableitung“ und „Umsetzung“. Das innerliche Durchleben von Kämpfen und Abenteuern, von Situationen und Verhalten wird in eine Form gebracht, der eigentliche Inhalt wird darin zum „aufgehobenen Moment“. Zum Ausufernden des „Dionysischen“ tritt das Meisternde des „Apollinischen“167, und der Stoff wird, wie Schiller im 22. Erziehungsbrief sagt, „durch die Form vertilgt“168. Der Lebenswert in der „Technik“ des Komischen (Boccaccio) und des Witzes (Freud) besteht in der keineswegs formalistischen Gleichzeitigkeit eines Verdrängens der Inhaltsfülle und des Erlebbarwerdens eines zentralen Gehalts.169 Diesen Sinn für Selbstzweck und Lebenswert des Spiels konnte Rudolf Smend in einer das eigene Anliegen stützenden Weise auch in Georg Simmels Analyse der soziologischen Kategorie der Geselligkeit finden.170 Die immer wieder zur Debatte stehende Realität der Gesellschaft, so führt Simmel aus, sei als eine doppelte zu betrachten: Zum einen als die sinnliche Existenz der Individuen, der Träger der Vergesellschaftungsprozesse, zum anderen als die der 166 Ebd. S. 22 f. Ein solcher „Abbau“ ist auch der tiefere Sinn des „Rechtens mit Gott“, in das Jaakob in Folge der Nachricht von Josephs Tod verfällt (1. Mose 37). Diese Szene wiedererzählend, macht Thomas Manns narrative Paraphrase (vgl. GW 4, S. 630 ff.) deutlich, wie sehr Jaakob sich hier gewissermaßen nach der Schablone grämt, nämlich nach dem Muster der würdevollen Zerknirschung Hiobs (Hiob 3). Es steht ganz und gar nicht im Widerspruch zu Gorgias’ Katharsis-Lehre, wenn der Bund mit Gott gerade dadurch aufrecht erhalten wird, dass Jaakob den Bruch, und zwar den von Gott angeblich provozierten Bruch, namhaft macht und zum Schrecken des Großknechts Eliezer fortwährend ausspricht. Die reinigende Wirkung besteht gerade darin, dass ausgesprochen wird, was der Mensch „jetzt am liebsten täte“, sich aber nur sprachlich zu tun getraut, als bildhafte, sich selbst und anderen vermittelbare Vorstellung, als Drohung und Anmahnung des Tragischen. Die kathartische Sprache stößt damit aber zugleich an die Grenzen der Kommunizierbarkeit: Denn dass man „am liebsten“ etwas täte, es noch lieber aber unterließe, weil man die Voraussetzung des Wunsches und die Folgen der Handlung anzuerkennen sich durchaus nicht bereit sieht, ist kaum noch mitteilbar. Indem Jaakob sich der Form der Hiobs-Klage bedient, oder auch unversehens auf sie verfällt, jedenfalls sich in eine Wiederholung und Steigerung des „Rechtens mit Gott“ hineinbegibt, löst sich das Stoffliche – das schreckliche Ereignis sowie der Gram darüber – darin auf, wird aber auch der Bund mit Gott nur desto grandioser bestätigt. 167 Groos (1922), S. 34. 168 Schiller (2000), S. 88. 169 Vgl. Groos (1922), S. 36 f. 170 Es gibt bei Smend zahlreiche Verweise auf die Schriften Georg Simmels. Der hier in in Rede stehende findet sich a. a. O., S. 159 Anm. 38: Simmel, Georg: Die Soziologie der Geselligkeit, in: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages. Reden und Vorträge (Frankfurt 19.–22. 10. 1910), Tübingen 1911, S. 1–16.
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Interessen unterschiedlichster Art, welche die Individuen zu dem Zusammenschluss motivieren. Ob mit den Begriffen des Spiel- oder Kunsttriebes zutreffend beschrieben, jedenfalls gebe es in jeder spielenden und künstlerischen Betätigung „ein von den Unterschieden ihrer Inhalte nicht berührtes Allgemeines“171. Auch in alle realen Veranlassungen zur Gesellschaftsbildung sei stets ein Gefühl für den Wert der Gesellschaftsbildung als solcher verwoben. Den Formen, in der diese Bildungen stattfinden, gilt die Aufmerksamkeit, und da es hinsichtlich der Kategorie der Geselligkeit zu einem Wegfall der konkreten, an die Zwecksetzungen des Lebens geknüpften Motivierungen komme, so liege die Akzentuierung allein auf der Form, dem freischwebenden, wechselwirkenden Zusammenhang der Individuen. Da es nun in den Gestaltungen der Geselligkeit keinen außerhalb liegenden Zweck gebe, es in ihnen auf keinen Inhalt und auf kein Resultat ankomme, so seien sie gänzlich auf die Persönlichkeiten gestellt, deren Handeln allein den Charakter des rein geselligen Beisammenseins ausmache. Aber aus diesem Grund, also gerade weil hier alles auf die Persönlichkeiten gestellt sei, dürften die Persönlichkeiten sich nicht allzu individuell betonen: „[D]as Allerpersönlichste des Lebens, des Charakters, der Stimmung, hat (. . .) im Rahmen der Geselligkeit keinen Platz.“172 Es kann also in Bezug auf die Individuen von einer oberen und unteren „Geselligkeitsschwelle“ gesprochen werden: das Gestelltsein auf einen objektiven Inhalt und Zweck zum einen, zum anderen das in Erscheinung tretende absolut Personale und Subjektive.173 Simmel geht sogar so weit, die Spielformen der Geselligkeit als die einzig wahrhafte Möglichkeit der „Demokratie“ zu begreifen. Losgelöst von jeder naiv-naturrechtlichen Betrachtungsweise, sei die „Demokratie der Gleichberechtigten“ eine „künstliche Welt“, die aber so wenig Lüge sei, wie das Spiel oder die Kunst mit ihren Abweichungen von der Realität der Zwecke und Interessen Lügen sind. Eine dauerhafte „Demokratie“ muss sich demnach als eine Sphäre der Geselligkeit, als ein nach den Prinzipien der Geselligkeit funktionierender Handlungsspielraum präsent halten, in dem Reden und Tun nicht vollends in die Absichten und Geschehnisse der praktischen Realität eintreten oder hineingezogen werden.174 Die bekannten Wechselwirkungen und Vergesellschaftungsformen zwischen den Menschen – der Tausch, das gegenseitige Übertreffen und einander Abgewinnenwollen, das Überlisten und die Revanche, die Gruppenbildung und der Wechsel zwischen Gegnerschaft und Kooperation, aber auch alle Formen des Gesprächs, der Streit und der Appell an die von beiden Seiten anerkannten Normen, der Kompromiss und die Entdeckung gemeinsamer Überzeugungen, das dankbare Aufnehmen 171 172 173 174
Ebd. S. 2. Ebd. S. 5. Ebd. S. 6. Vgl. ebd. S. 7 f.
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des Neuen und das Ablenken von den Streitpunkten, in denen ohnehin kein Ausgleich zu erzielen ist – all dies führt im Spiel sowie im Gespräch sein zweckfreies, „von dem Reiz dieser Funktionen selbst und allein getragenes Leben.“175 Die Geselligkeit ist auch die Spielform für die der konkreten Gesellschaft inhärenten „ethischen Kräfte“, denen größte Probleme gestellt sind: „[D]aß der einzelne sich in einen Gesamtzusammenhang einzuordnen und für ihn zu leben habe, daß ihm aus diesem wieder Werte und Erhöhungen zurückfließen müssen“176. Bereits zu Beginn seines Vortrags spricht Simmel von der „symbolischen Bedeutsamkeit“, die das Wesen der Geselligkeit ausmache. Aus ihrer Formbeziehung zur Realität, deren Reibungswiderstände ihr erspart seien, gewinne die Geselligkeit eine symbolische Fülle des Lebens, die oberflächlicher Rationalismus immer nur in konkreten Inhalten suche.177 Gewiss sei das Wesen der Geselligkeit ein „luftiges Reich“, indem es aus den realistischen Wechselbeziehungen der Menschen die Realität ausscheide und keine andere Realität zu kennen scheine als die ihrer sinn-immanenten Formgesetze. Es scheine ganz so, als ob aus der Totalität des Seins bestimmte Elemente sich in Abschnürung von dem Leben als Ganzem zu einem eigenen Sinnbereich zusammenschlössen. Dennoch sei der eigentliche Impuls, aus der dieses Reich seine Bewegtheit erhalte, nicht in jenen sich selbst normierenden Formen, sondern nur in der Lebendigkeit der realen Individuen, in ihren Empfindungen, Attraktionen und Überzeugungen zu suchen: „Alle Geselligkeit ist nur ein Symbol des Lebens, wie es sich in dem Flusse eines leicht beglückenden Spieles zeichnet, aber eben doch ein Symbol des Lebens, dessen Bild nur so weit verändernd, wie die hier zu ihm gewonnene Distanz es fordert“.178 In so vielen Bereichen – in der Kunst, in der ganzen Symbolik des religiösen Lebens, sogar in den Äußerungskomplexen der Wissenschaft – finden wir uns Simmel zufolge auf das Gefühl angewiesen, dass „die Eigengesetzlichkeit bloßer Erscheinungsteile, die Kombination ausgewählter Oberflächenelemente eine Beziehung zu der Tiefe und Ganzheit der vollen Realität besitzen“. Das Befreiende und Erleichternde, das kulturell Sublimierte, liege gerade darin, dass im geselligen Spiel „die inhaltbegabten Kräfte der Wirklichkeit“ sich in ihrer Schwere zur Erträglichkeit verdünnten.179 175
Ebd. S. 9, vgl. auch S. 11. Ebd. S. 13. 177 Ebd. S. 3. 178 Ebd. S. 14 f. 179 Ebd. S. 15 f. Damit sollte deutlich geworden sein, was die im Zusammenhang mit der zweiten Wahlrechts-Studie von 1919 aufgestellte These impliziert, Smend habe im Wahlkampf, in der gegenseitigen Bekämpfung und Aufhebung der Stimmen, eine kulturelle Sublimierung in Form einer Parodie des Krieges gesehen. Das hierin sich aussprechende Kulturverständnis lässt Thomas Mann in ,Lotte in Weimar‘ (1939) durch seine Goethe-Figur wie folgt beschreiben: „Nein, auch darin war er [Schiller] nicht deutsch, daß er lächelte über das Vortreffliche. Das tut kein Deutscher. Die 176
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Die Erörterungen bei Groos und Simmel sind für Rudolf Smends Verfassungsdenken von grundlegender Bedeutung. Das Verständnis funktioneller Integration resultiert aus derselben Anschauung, die auch den Smendschen Organbegriff prägt. Auf das Erleben der Sache selbst kommt es ihm an, nicht auf ein bloß instrumentell zu erreichendes Anderes, außerhalb Liegendes. Deutlich wird auch, zumal in Simmels Ausdruck „Symbol des Lebens“, wie sehr, nach Smends Kategorien, funktionelle und sachliche Integration, dynamische Form und symbolischer Gehalt aufeinander angewiesen und zuweilen schon im Begriffe sind, ineinander überzugehen. Als eine der – mit diesen Beobachtungen in Zusammenhang stehenden – „reizvollsten und lehrreichsten staatstheoretischen Kontroversen der letzten Jahre“ bezeichnet Smend den Streit zwischen Carl Schmitt und Richard Thoma über das Wesen des Parlamentarismus.180 Beide hätten in ihrer Auseinandersetzung den eigentlichen Kernpunkt der Frage und damit die Idee des Parlamentarischen aus jeweils anderen Gründen nicht erkannt. Für Schmitt habe das Parlament, wie es sich im Lauf des 19. Jahrhunderts entwickelte, seinen Sinn verloren, weil seine „Idee“, die Prinzipien der Öffentlichkeit und Diskussion und die daran geknüpfte Gewähr von Wahrheit und Gerechtigkeit, im politischen Glauben sowie in der politischen Wirklichkeit abgestorben sei.181 Diese Deduktion, so Smend, habe Thoma zu Recht für allzu ideologisch und literarisch erklärt.182 Eine Institution falle nicht mit ihrer historisch bedingten Ideologie, sondern mit dem, was Schmitt selbst als ihre Vitalität, Substanz oder Kraft bezeichne.183 Diese Vitalität, so bestätigt Smend Thomas Einwand, sei aber durchaus nicht mit der (geschichtlich bedingten) ideologischen Grundlage identisch. Politischer Rationalismus neige dazu, politische Kraft allein in der begrifflichen Gestalt abstrakter Denkmodelle zu erfassen. Er selbst, schaltet Smend ein, habe das in früheren Schriften, den beiden Wahlrecht-Studien von 1911 und 1919, zu zeigen versucht und davon gesprochen, es sei hier nur die leichte rationalistische schauen grimmig drein dabei, weil sie nicht wissen, daß Cultur Parodie ist – Liebe und Parodie . . .“ (GW 2, S. 622). 180 Siehe dazu Smend (31994), S. 152 ff., 218 ff. Mittelpunkt dieser Kontroverse bilden Thoma, Richard: Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff, in: Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber II, hg. v. Melchior Palyi, München/Leipzig 1923, S. 37–64 und Carl Schmitts ,Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus‘ – siehe die zweite Auflage von 1926 in Schmitt (1996) – sowie die im ,Archiv für Sozialwissenschaft‘ 51 (1924) veröffentlichten beiderseitigen Stellungnahmen der Autoren. Siehe ebd. S. 817–823 (Schmitt) und 53 (1925), S. 212–217 (Thoma), zudem die die 2. Aufl. von Carl Schmitts ,Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus‘ ergänzende Vorbemerkung von 1926, die – aus Schmitts Perspektive – den Stand der Debatte zusammenfasst. 181 Vgl. Schmitt (1996), S. 61 und 63. 182 Vgl. Thoma (1923), insb. S. 216. 183 Vgl. Schmitt (1996), S. 22 f.
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Schale zu entfernen, um den eigentlichen Sinn der Institutionen zu erschließen.184 Denn durchaus könne die Ideologie zerfallen und die Integrationswirkung bleiben. Der Glaube an die ausschließliche Bedeutung der Ideologie als einer Literaten-Idee sei Rationalismus oder, wie bei Carl Schmitt, Begriffsrealismus. Thomas Kritik sei somit nicht unbegründet, berechtigt aber auch Schmitts Antikritik, indem sie Thoma ein im Wesentlichen technisches Verfassungsdenken nachweise.185 Zwar sei es zutreffend, so Smend, dass eine politische Institution auch nach einer vollzogenen Strukturwandlung lebensfähig bleiben könne186, aber unzulässig, im Sinne des performativ-erlebnishaften Integrationsgedankens, sei es, die schöpferische Diskussion des liberalen Frühparlamentarismus durch die „schöpferische Diskussion der Fraktionszimmer, des Kabinetts, der interfraktionellen Besprechungen, der Erörterungen mit Sachverständigen und Wirtschaftskreisen“187 ersetzt zu finden. Die Technik zu einem bestimmten rechtsgeschäftlichen Zweck werde hier nicht von der integrierenden Aufgabe des bloßen Daseins der Institution unterschieden. Aus diesen Abwägungen heraus konnte Smend noch von vergleichsweise „trockenen“, dabei aber in sozio-ökonomischer Hinsicht überaus prekären, allgemeine Aufmerksamkeit erhaltenden parlamentarischen Aktionen, wie sie etwa die Haushaltsverabschiedung darstellt, sagen, es gehe dabei nicht in erster Linie um sachgemäße Beschlüsse, sondern um den geistigen Mitvollzug, das Anschaulichwerden in der anteilnehmenden Apperzeption des Verfassungslebens.188 Auf den Charakter der Staatsform bezogen heißt das: ein politisches Bewusstsein, das anlässlich einer Haushaltsverabschiedung nur danach fragte, wer welSiehe erneut Smend (31994), S. 62 und 83. Vgl. Schmitt (1996), S. 7, 12 f. 186 Vgl. Thoma (1923), S. 214. 187 Ebd. 188 Vgl. Smend (31994), S. 257. Siehe auch Heckel, Johannes: Budgetäre Ausgabeninitiative im Reichstag zugunsten eines Reichskultusfonds, in: AöR 51 (1926), S. 420– 471. Siehe insb. den Verweis auf Rudolf Smends Aufsatz ,Die Politische Gewalt im Verfassungsstaat‘ von 1923 S. 438 f.: „Uns soll in erster Linie der Integrationsvorgang beschäftigen, als welcher sich die Budgetverabschiedung darstellt.“ Es gehe, so Heckel weiter, um die Frage, „welche Bedeutung dem Entwurf des Haushaltsplans für die parlamentarische Behandlung des Budgets zukommt. (. . .) Der Haushaltsplan ist zwar nur ein Programm, behaftet mit allen Mängeln und Unsicherheiten eines solchen, aber er ist eben doch das Programm für die gesamte Staatswirtschaft des kommenden Rechnungsjahres und daher von eminenter Bedeutung für das Staatsleben (. . .), denn er ist selbst eine aktuelle politische Willensäußerung und zwar eines bestimmten Kabinetts oder anders ausgedrückt: das ins Finanzielle übersetzte Regierungsprogramm. Ihm eignet also annähernd dieselbe politische Bedeutung wie der Regierungserklärung eines neuen Kabinetts.“ Auf S. 443 heißt es dann ganz im Sinne Rudolf Smends, die Plenarverhandlungen stünden unter einem doppelten Richtpunkt: „Entspricht das von der Regierung entworfene Finanzprogramm überhaupt der vom Parlament gewollten politischen Gesamthaltung des Staates und bejahendenfalls verdienen die Einzelheiten des Programms politisch und technisch Billigung?“ 184 185
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ches Stück des Kuchens erhält und wem etwaige Entbehrungen zugemutet werden189, müsste als im Konstitutionalismus steckengeblieben bezeichnet werden. Für ein republikanisches Bewusstsein ist das jeweilige Zusammenspiel der Ämter entscheidend. Auf welche Weise stellt der zuständige Minister seine Position im Parlament dar? Wie ist es ihm gelungen, sich innerhalb der Regierung durchzusetzen? Musste der Kanzler disziplinierend auf das Kabinett einwirken? Haben die bundesstaatlichen Länder Bedenken angemeldet und das Staatsoberhaupt zu Besonnenheit und Verständigung gemahnt? Bei all diesen Fragen ist nicht entscheidend, worin genau die sachlichen Positionen bestehen, welche sachlichen Vorschläge von der einen oder anderen Seite kamen, sondern entscheidend und die eigentliche staatsrechtliche Sache ist, das die Ämter strukturkonstituierend und strukturgestaltend miteinander in verständigende Beziehung treten. Die finanziellen Sachfragen bilden, staatsrechtlich gesehen, nur den Anlass, das institutionelle Spiel in Gang zu bringen, diese Sachfragen sind bloß zweitrangiger Gegenstand für das Verfassungsspiel, das nur aus Sicht der politischen Parteien „ergebnisorientiert“ sein muss, eben dies aber in der Betrachtung des Staatsrechtlers gar nicht ist. Der eigentliche Wert des Parlaments liegt für Smend in dem selbstzweckhaften Institutionscharakter. Es ist die Körperlichkeit der Institution, auf die es Smend ankommt; nicht bloß als Fassade verstanden, sondern, soweit davon gesprochen werden kann, in dem ganzen physiologischen Dasein ihrer Bewegtheit. Die parlamentarische Verhandlung ist für Smend mit Simmel „Geselligkeit“, das Moment der Abstimmung mit Groos „Spiel“ samt kathartischer Wirkung. Die ritualisierten „Oberflächenelemente“ von „Geselligkeit“ und „Spiel“ sind vom staatsbürgerlichen Bewusstsein in Beziehung zur regierenden Gesamthaltung zu bringen, die erst in diesem In-Beziehung-Bringen ihre volle Realität gewinnt.190 Verfassungstheoretisch folgt daraus für Smend die Lossagung von der herkömmlichen Lehre der Gewaltenteilung. Das integrierende Funktionensystem weicht von der alten Lehre ab, indem es sowohl die Rolle der Justiz als auch den Bereich der Regierung in abweichender Weise zur Geltung bringt und somit die Trennung der Gewalten erst recht eigentlich auf die Spitze treibt. Missverständlich hinsichtlich der inneren Folgerichtigkeit seines Verfassungsdenkens muss Smends Trennung von Rechtsleben und Staatsleben erscheinen. Die Justiz sei gewissermaßen als ein Fremdkörper in der Verfassung zu betrachten, denn sie diene nicht dem Integrations-, sondern dem Rechtswert. Die Verfassung befreie die Justiz von der Integrationsleistung, indem sie sie unabhängig von der 189 Das politische Bewusstsein verharrt dann völlig bei Vorteilserwartungen und Nachteilsbefürchtungen, die Wittmeyer (1901), S. 50 f. als typisch für das konstitutionelle Regierungssystem bezeichnet hat. 190 Siehe erneut Simmel (1911), S. 15 f.
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Staatsleitung mache. Staat und Recht gelten Smend als zwei untrennbar miteinander verbundene, aber doch je in sich geschlossene Sinnbereiche. Die Trennung der Gewalten ist für Smend nicht bloß zweckrationale Arbeitsteilung. Die herkömmliche Gewaltenlehre, insofern sie Verfassungstheorie sein wolle, sei unvollständig, weil ihr eine Funktion fehle, welche die erwünschte staatliche Wesensbestimmung ergebe; es bildet sich aber im staatlichen Leben eine eigene Tätigkeit dieser Art heraus: der Bereich der Regierung. An die Stelle der gewöhnlichen Gewaltenteilung treten bei Smend also drei Funktionssysteme: 1. Der Integrationswert als das politische Zusammenspiel von Legislative und Exekutive, dazu die Regierung als unmittelbar politische, integrierende Funktion; 2. der Rechtswert, die Gesetzgebung und Rechtspflege als Träger des Rechtslebens; 3. der Wohlfahrtswert, die Verwaltung als technische Wohlfahrtsförderung.191 Smend hat sich zunächst nicht darauf eingelassen zu erwägen, dass die spezifische staatliche Tätigkeit, auf die er seit 1923 mit dem Integrationsbegriff zielte, der Bereich der Regierung, in allen drei Abteilungen der herkömmlichen Trennung der Gewalten zu finden sein könnte, insbesondere auch in den ihren aristokratischen Charakter bewahrenden Momenten des Rechtslebens. Wenn es ihm in der Monographie von 1928 um die Hervorbringung einer Gesamthaltung zu tun war, so hätte Smend gerade das Zusammenspiel der unterschiedlichen Weisen des Regierens, der unterschiedlichen Wahrnehmungen von Leitungsund Koordinierungsaufgaben und die Integrierung dieses Zusammenspiels zur Einheit der staatlichen Ordnung hervorheben können.192 In dynamischer und expressiv geweiteter Anknüpfung an Friedrich Julius Stahl193 und der dem Smendschen Verfassungsdenken eigentümlichen performativen Auffassung des Staatsrechts gemäß wäre es folgerichtig gewesen, die Frage aufzuwerfen, ob
191 Dementsprechend behandelt Smend das Problem der Diktaturgewalt (Art. 48 Abs. 2 WRV). Als staatsrechtlicher Begriff sei sie zunächst eine Projektion des Integrationswertes auf die äußere Wirklichkeit. In dieser Modifikation dränge der Begriff jedoch den eigentlichen Integrationswert zurück, um für die verwaltungsähnliche, technische Gewalt der diktatorischen Maßnahmen Raum zu schaffen. Dadurch erhalte die Diktaturgewalt hinsichtlich der Integrationsaufgabe eher den Charakter einer Trübung und nicht ungefährlichen Nothilfe. 192 Diese Kritik übt schon Ehmke (1962), S. 48 f. 193 Vgl. bei Smend (31994), S. 210 den Hinweis auf Stahl (31856), II, 2, S. 609: „Der Gegensatz gegen das Recht des einzelnen Staatsbürgers ist nämlich nicht bloß das Gemeinbeste in dem Sinn von Vortheilen, die der Gesammtheit erst erworben werden sollen, sondern nicht minder die Gemeinordnung, die Erhaltung des öffentlichen Zustandes, der Verfassung in ihren bestehenden Grundverhältnissen, der Verwaltung in ihrem regelmäßigen nothwendigen Gange. Tiefer ausgedrückt, wo die innere Absicht (telos) allein die Gerechtigkeit ist, da ist das Bereich der Gerichte und sonst nirgend. Denn Gerechtigkeit muß zwar in allen Gebieten beachtet werden, im Gebiete der Verfassung und Verwaltung wie der Justiz; aber in dem einen ist sie bloß Schranke, in dem anderen ist sie das positive, das einzige Ziel.“
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Telos der Regierung nicht gerade die politische Grundkategorie der Gerechtigkeit sei, auch wenn ihr Maßstab als stets von Angriffen des Zeitlichen und Veränderlichen bedroht anzusehen ist. In seinen positivrechtlichen Folgerungen beschränkt Smend sich darauf, die Herausstellung des rechtlichen Gehalts aller eigentlichen staatsrechtlichen Institute zu betonen. Zu warnen sei vor der Verkennung des integrierenden Sinnes des Parlamentsrechts, der Regelung des Gesetzgebungsverfahrens und der parlamentarischen Geschäftsordnung, deren dialektisches Gebäude mit eben dieser Dialektik nicht nur auf Erreichung sachgemäßer Beschlüsse, sondern mindestens ebenso sehr auf die funktionelle Integrationswirkung orientiert auszulegen seien. dd) Zum Typus sachlicher Integration194 Dass der Staat allein zur Verwirklichung gemeinsamer Zwecke gegründet oder zumindest durch solche Zwecke gerechtfertigt sei, diese These bedarf nach Smends Auffassung einer Richtigstellung. Der Staat sei kein reales Wesen, das als technisches Mittel benutzt werde, um außerhalb seiner selbst liegende Zwecke zu verwirklichen; er sei keine an sich bestehende Person, die instrumentell objektive sachliche Aufgaben bearbeite. Der Staat ist Smend zufolge nur Wirklichkeit, insofern er Sinnwirklichkeit ist, er ist mit dieser identisch. Als eine solche Sinnwirklichkeit ist er ein dauerhaft zu aktualisierender einheitlicher Erlebniszusammenhang.195 Siehe Smend (31994), S. 160–170, 215–218, 260–268. Vgl. hierzu den Hinweis Smend (31994), S. 162 Anm. 7, auch 163 Anm. 10 auf Rothenbücher, Karl: Über das Wesen des Geschichtlichen und die gesellschaftlichen Gebilde, Tübingen 1926, S. 15 f. Rothenbücher bemerkt, dass „die Menschen derselben Familie erfahrungsgemäß vielfach gewisse Züge tatsächlich gemeinsam haben.“ Jedoch könnten bestimmte „geistige Züge“ nicht allein „durch die Tatsache der Abstammung erklärt werden, – schon deshalb nicht, weil diese nicht überall gegeben ist. Vielmehr sind sie das Ergebnis äußerer, mit den Tatsachen des gesellschaftlichen Lebens gegebener Umstände, und zwar eben jener Lebensgemeinschaft, die durch die Familie gegeben ist, die auch dort, wo die Hausgemeinschaft gelöst ist, doch durch die Pflege der Familienbeziehungen – vielleicht auch durch besondere Einrichtungen bestärkt – noch nachwirkt.“ Hier liegt für Rothenbücher der Punkt, an dem „das Geschichtliche nicht nur in unserer Vorstellung besteht, sondern wo ein in der Vergangenheit Entstandenes, von vergangenen Menschen Hervorgebrachtes gegenwärtig ist. (. . .) Innerhalb der Familie können äußere Güter bestehen, welche die immer wieder neu sich vollziehende Entstehung und Erhaltung geistiger Güter erleichtern oder doch besonders begünstigen. Das Familiengut, das die Verknüpfung einer Familie mit dem Stande oder einer Klasse ermöglicht (. . .); die Familienstiftung oder auch nur das Familiengrab und die Familienbilder, die in den Menschen das Gefühl der Verpflichtung wach erhalten, in bestimmter Weise der Vorfahren würdig sich zu verhalten; das Familienstatut, die Ehrenordnung der Familie, die – geschrieben oder ungeschrieben – Vorstellungen der Sitte, der Pflicht zu einer bestimmten Art von Lebenshaltung usw. wirksam hervorzubringen. (. . .) In der Familie können aber auch jene Ausstrahlungen der 194 195
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Hinsichtlich der Integrationswirkung eines Sachgehalts treten eigentümliche Schwierigkeiten auf. Im modernen Staat, so Smend, wirke gerade die Fülle des Gehalts der Integrationswirkung entgegen. Diese Fülle sei so ungeheuer, dass sie vom Einzelnen nicht mehr übersehen werden könne. Totalität in ihrer Extensivität sei inkommensurabel. Um als eine intensive erlebt zu werden, müsse sie in ein Moment zusammengedrängt, durch dieses repräsentiert werden; das sei der Sinn des politischen Symbols.196 Lord Salisbury habe sich in diesem Sinn gegenüber Herbert von Bismarck über die einzige Möglichkeit geäußert, die Massen im Zeitalter der Demokratie außenpolitisch zu bestimmen: „This generation can only be taught by events.“197 Die gesteigerte Integrationskraft eines Persönlichkeit vergangener Menschen gegenwärtig sein, welche nicht in der eben besprochenen Weise vergegenständlicht sind, sondern die unmittelbar von Mensch zu Mensch stattgefunden haben und vielleicht mittelbar durch Menschen auf diesem Weg weiter übertragen worden sind.“ 196 Zu denken ist an den Hinweis Smend (31994), S. 164 Anm. 14 auf Georg Lukács’ ,Theorie des Romans‘ und das dort Gesagte über die Schwierigkeit, Totalität in einem Zustand „transzendentaler Obdachlosigkeit“ zu erfahren. Vgl. dazu Lukács, Georg: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Neuwied a. R./Berlin 1963, S. 29 ff. Zugleich ist darauf aufmerksam zu machen, dass Rudolf Smend das Symbol mit Goethe als eine aufschließende Kraft begreift: „Das ist wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeine repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen“ (MA 17, S. 775, ,Maximen und Reflexionen‘ Nr. 314). Siehe dazu weiter unten Kapitel II. 2. d) des 3. Teils. Smend akzeptiert wohl Lukács’ geschichtsphilosophische Behauptung hinsichtlich des Gebrochenseins, ja der Unmöglichkeit immanenter Totalitätsschau. Dies erweist sich auch in seiner, Smends, eigener Kritik des Wiederaufgreifens „antiken“ Staatsbewusstseins, welches, so Smend, Gesellschaft, Verfassung und Staat in ontologischer Unbefangenheit gleichsetze. Vgl. dazu etwa Smend (31994), S. 87 f. und 213. Smends eigene Ansicht ginge aber ebenso fehl wie die Platon-Kritik bei Lukács (1963), S. 30, schlösse sie die platonische Wissenschaft vom Staat in ihre Kritik antiker Staatsontologie mit ein. Denn Platons politische Philosophie reicht ja in der plus ultra-Bewegung des das Gute bergenden Logos über die als mangelhaft erkannten gesellschaftlichen Verhältnisse – mangelhaft in dem Niedergang des „guten“ Lebens (eu zen) – hinaus, transzendiert in der Bezüglichkeit zum jenseitigen „Guten selbst“ das Empirisch-Zeitliche in Sorge um die Seele des Einzelnen und zugleich in dem Wunsch, die Polis zu retten. Die zu konstatierende Nähe zum Symboldenken des späten Goethe zeigt, dass Rudolf Smend den modernen Menschen in seinem Staat durchaus nicht als einer „transzendentalen Obdachlosigkeit“ anheimgefallen denkt, sondern dass er vielmehr die Verantwortlichkeit des Menschen gegenüber ihm aufgegebenen höheren Normen und Ordnungen zu unterstreichen beabsichtigt. Diese Normen und Ordnungen sind jedoch im Smendschen Denken nicht nach der Weise gängiger Metaphysik hypostasiert, als starr, abstrakt und letztlich uneinsehbar vorausgesetzt. 197 So in einem Gespräch am 22. März 1889. Zitiert nach Die große Politik der europäischen Kabinette 1871–1914. Die Sammlung der diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes, hg. v. Johannes Lepsius, Berlin 1922, Bd. 4: Die Dreibundmächte und England, S. 405. Bei Salisbury erhält das Wort „event“ allerdings einen pejorativen Charakter, ganz so, als handle es sich um politischen Budenzauber und bunte Bilder fürs Volk. Zu bedenken bleibt aber eine andere Bedeutung des Begriffs. Schließlich liegt in dem ausgeprägten Sinn dafür, was Menschen widerfährt, was sie erleben, die eigentliche Rückbindung der amerikanischen ,Declaration of Indepen-
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symbolisierten Sachgehalts beruhe zum einen darin, dass er als irrationale und individuelle Fülle mit besonderer Intensität erlebt werden könne, zum anderen aber auch darin, dass der Gehalt in symbolisierter Gestalt elastischer sei als in zweckrationalen, wissenschaftlichen oder gesetzlichen Formulierungen.198 Einen symbolisierten Sachgehalt könne jeder so erleben, „wie ich ihn verstehe“, augenblicklich ohne Spannung und Widerspruch. Die Inanspruchnahme des Einzelnen durch den Staat möge oft nur auf diese Weise überhaupt „sittlich erträglich“ sein.199 Die Rationalisierung des Staatsdenkens, die die Erfassung des politischen Gehalts als Glaubensgehalt ausschließe, stelle zugleich jede „politisch verbindliche Gestalt“ in Frage.200 Die Sachgehalte seien aber ebenso im Fluss wie der Staat als Ganzes; nie seien sie ganz und gar starrer Besitz, eher schon ein immer neu aufgegebenes Ziel der Realisierung. Rudolf Kjellén habe „im Gefühl dieser Sachlage“ das Wesen der Nation zutreffend in den Worten des Rütlischwurs ausgedrückt: „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern.“201 Betrachte man den Staat dagegen nur als Veranstaltung im Dienste außerhalb seiner selbst liegender Zwecke, so erfülle er seine Aufgaben stets auf mangelhafte Weise, wie
dence‘. Die scheinbar rational-naturrechtliche Formel, das berühmte „We hold these truths to be self-evident“, erscheint in Wirklichkeit bestimmten Menschen in einem bestimmten Land zu einem bestimmten Zeitpunkt und unter bestimmten Umständen als etwas, das ihnen zu verkünden und zu befolgen aufgegeben ist, nämlich auf Grund bestimmter Erfahrungen. Nur allzu oft wird der Verweis auf den realen Erfahrungsgrund übersehen, mit dem die Erklärung anhebt: „When in the course of human events . . .“. Die Einsicht in zeit- und raumunabhängige Wahrheiten („truths“) geht aus Ereignissen und Erfahrungen („events“) von historischer Qualität hervor. 198 Vgl. wieder Rothenbücher 1926, S. 38 ff. Siehe zudem die Auffassung Ernest Renans aus der Sorbonne-Rede ,Qu’est-ce qu’une nation?‘, an dieser Stelle zitiert nach der Übersetzung von Henning Ritter (Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus, hg. v. Jeismann, Michael/Ritter, Henning, Leipzig 1993, S. 308): „Wie der einzelne ist die Nation der Endpunkt einer langen Vergangenheit von Anstrengungen, von Opfern und von Hingabe. Der Kult der Ahnen ist von allen am legitimsten; die Ahnen haben uns zu dem gemacht, was wir sind. Eine heroische Vergangenheit, große Männer, Ruhm (ich meine den wahren) – das ist das soziale Kapital, worauf man eine nationale Idee gründet.“ Vgl. außerdem die Ausführungen bei Scheler, Max: Nation und Weltanschauung, Leipzig 1923, S. VI: „Die Selbstauffassungen der Nationen brauchen ihrem wahren Wesen und faktischen Geiste nicht genau zu entsprechen, d. h. dem Geiste, der sich ihren typischen Kunstwerken und ihren führenden Persönlichkeiten objektiv einwohnend auffinden läßt, sie sind aber stets selber Ausdrucksformen und zwar fundamentale Ausdrucksformen ihres nationalen Geistes.“ 199 Smend (31994), S. 164 Anm. 13) erinnert an die „liturgische Erfahrung“, dass derselbe dogmatische Gehalt in der Form religiöser Dichtung niemals auf die Schwierigkeiten stoße, die seiner die Gemeinde integrierenden Wirkung dann im Wege stünden, sobald er als das Theologumenon eines formulierten Bekenntnisses erscheine. 200 Yorck an Dilthey am 13. Januar 1887, siehe Briefwechsel (1923), S. 66. 201 Smend (31994), S. 165 Anm. 18 zitiert Kjellén, Rudolf: Der Staat als Lebensform, Leipzig 21917, S. 110. Vgl. ,Wilhelm Tell‘ 2. Aufzug, 2. Szene. Bei Schiller heißt es allerdings „. . . ein einzig Volk von Brüdern . . .“.
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eine schlecht konstruierte Maschine; in der Wahrnehmung der Bürger gehe es dann, wie Friedrich Curtius es auf den Punkt gebracht habe, immer nur „mit Ach und Krach“202. Es liege jedoch im Lebensbereich des Staates nicht anders als in dem des Einzelmenschen; auch dessen Ziele, Ideale, Wünsche und Hoffnungen seien nicht voll erfüllbar, wenngleich die Lebenserfüllung dennoch möglich sei. In der immer neuen Wesensbildung und Wesenserfüllung, im ständigen Ringen mit Teil- und Misserfolgen liegt der Sinn ihres Lebens, der des Einzelmenschen sowie der des Staates, nicht in einem teleologischen Nutzeffekt. Auf welche Weise tritt die integrierende Wirkung von Sachgehalten in die geschichtliche Verfassungsentwicklung ein? Zunächst, so Smend, im Gesetzesbegriff des Naturrechts. Das Gesetz sei hier die Formulierung des ordre naturel als der einzigen und notwendigen Grundlage staatlicher Gemeinschaft. Dieser Gesetzesbegriff fungiere als Nabelschnur zu der Gesamtheit der damaligen Welt der Werte. Dies sei die spezifische Legitimität des Staates des 18. Jahrhunderts; denn noch immer besitze der Gesetzesbegriff die volle materiale Fülle seiner Vorgeschichte. Carl Schmitt habe zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass ohne Legitimität, ohne Geltungsbegründung in (geschichtlich) gültigen, Staat und Recht transzendenten Werten, es keine Anerkennung der positiven Verfassungsordnung selbst gebe.203 Die fortschreitende Positivierung und Formalisierung des Rechts, so Smend, habe aber gerade seine Entleerung zur Folge, durch seine Immanenzerklärung werde seine legitimierende Kraft in Frage gestellt. Es sei daraufhin unternommen worden, den legitimierenden Wertgehalt zu formulieren und diese Formulierung als dem Verfassungswerk übergeordnete Norm zu verstehen. Dies sei der legitimierende Sinn der Menschenrechte. Jedoch reiche eine nur formelle Positivierung nicht aus, die legitimierenden Werte müssten konkretisiert werden, um überhaupt positiv zu werden. Wie kaum ein anderer Kommentar zur Weimarer Reichsverfassung habe derjenige Leo Wittmayers dies erkannt, insbesondere dessen Ausführungen zum Sinn der Präambel.204 Mit dieser korrespondiere der „Epilog“ des Art. 181 WRV, indem er als „metajuristische Untermauerung“ diese von ihrer bloßen Funktion eines Vorspruchs entlaste, so dass sie sich nun auf ihre „vornehmere Aufgabe konzentriert“. Der herkömmliche Sinn und Sitz der Präambel, so Wittmayer, bleibe die demokratische Gedankenwelt: „Nur dann kann sie am Eingang einer Verfassung alles sagen, was sie sagen will, wenn sie über die Entstehung und Grundkonstruktion eines demokratischen Staatswesens aussagen soll.“ Es seien aber keine positiven Rechtssätze, keine Rechtsvorschriften in der Präambel anzutreffen. Sei aber nicht die „Kennzeichnung des Geistes, der das neue 202 Curtius, Friedrich: Hindernisse und Möglichkeiten einer ethischen Politik, Leipzig 1918, S. 6. 203 Vgl. Schmitt (1996), S. 39 ff. 204 Wittmayer, Leo: Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1922.
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Verfassungswerk beseelen soll“ kaum weniger wichtig, als mancher zweifelhafte Rechtssatz? Die Präambel gehöre zum „integrierenden Bestand“ – Wittmayer benutzt tatsächlich in diesem Zusammenhang den bei Smend erst ein Jahr später eingeführten Begriff – des Verfassungstexts und enthalte somit wichtiges „Auslegungsmaterial“. Gerade die Präambel, so Wittmayer, eigne sich zum klassischen Schulfall dafür, wie sehr die auf Rechtssätze eingeschworene positivistische Richtung sich der Möglichkeit beraube, dem großen „Einfluss der neben Rechtssätzen wirksam motivierenden Kräfte, Anschauungen und Imponderabilien“ gerecht zu werden, auf die es umso mehr ankomme, weil doch „das Schicksal einer Verfassung noch weit mehr als sonst durch den mit ihr im öffentlichen Bewußtsein verbundenen Sinn und Vorstellungsgehalt entschieden wird.“ Es verhalte sich hier wohl so wie mit den altüberlieferten Monologen im Drama, die erst der Naturalismus von der Bühne nahm, „so unentbehrlich sie auch waren, um in die Charaktere hineinzublicken.“205 Die verfassungstheoretischen Folgerungen der gewonnenen Einsichten bestehen in der bereits im Münchner Referat dargelegten Auffassung. Der integrierende Sachgehalt der Reichsfarben (Art. 3 WRV) bedeute die feierlicher Absage gegenüber dem bisherigen System und das Bekenntnis zu einem neuen staatsrechtlichen Prinzip. Es ist die Festlegung einer Linie, einer Haltung und Maxime ethisch-politischer Verbindlichkeit. Die Sätze über die Reichsfarben sind Staatsrecht, sie binden die Geltung eines individuellen Staatsgrundgesetzes an einen symbolisierten Gehalt, der dieses Gesetz trägt und legitimiert, und wirken somit in das Leben des Staates hinein. Auf dieser Einsicht gründe jedes demokratisch-republikanische Legitimitätserfordernis innenpolitischer Selbstkonstituierung und außenpolitischer Selbstbestimmung; es komme zu einem Positivierungsversuch oberster politischer und kultureller Werte. Sachliche Gehalte – Präambel und Grundrechte, Festlegung und Symbolisierung des Verfassungstypus in Staatsform und Nationalflagge – diese Momente machten Wesen und Wirklichkeit eines Staatswesens aus, so dass alles Übrige der Verfassung wie eine Ausführungsnorm dazu erscheine. Bereits im Münchner Referat hatte Smend ausgeführt: die Nationalflagge und die Bezeichnung der Staatsform symbolisieren, die Grundrechte formulieren.206 Die Grundrechte sind als Verfassungsrecht und nicht in erster Linie technisch zu verstehen. Dies erfordert eine neue Auslegung ihres stofflichen Inhalts und eine neue Charakterisierung ihres formalen Geltungssinnes. Der Grundrechtskatalog, so Smend, wolle ein Wertoder Kultursystem normieren, und er normiere es als einen materialen Status, in dessen Namen die positive Verfassungsordnung legitim und durch den ein konkretes Staatsvolk sachlich eins sein solle. Im Bereich des technischen Spezialrechts gingen sie bald den Gesetzgeber, bald bestimmte Verwaltungsbehörden, 205 206
Ebd. S. 39–44. Smend (31994), S. 94.
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bald den Einzelnen an; stets seien sie Richtschnur. Nur ethisch-politischer Agnostizismus und Skeptizismus gegenüber dem Staat als geistiger Wirklichkeit könne diese Bedeutung der Grundrechte verkennen, die nach dem Wegfall der Monarchie geradezu an die Stelle ihrer sachlichen Integrationsfunktion getreten seien.207 Smend meldet jedoch selbstkritisch Bedenken an, dass die intendierte integrierende und legitimierende Wirkung ohne Weiteres schon mit dem gewisse Rechte formulierenden, ein bestimmtes Symbol und eine Staatsform festschreibenden Verfassungsparagraphen gegeben sei. ee) Der Mensch im Recht208 Das Wesen der Verfassung als Staatsgrundgesetz liegt, so lässt sich im Sinne des Verfassungsdenkens Rudolf Smends formulieren, zwischen den beiden Polen „streng normativ“ und „empirisch-dokumentarisch“. Das Verfassungsrecht ist keine gesetzespositivistisch aufzufassende normative Regel, aber auch keine detaillierte Beschreibung und Beurkundung politisch tätiger Körperschaften, vielmehr Regelung – im Sinne von „Anregung und Schranke“209 – des staat207 Vgl. ebd. S. 267 Anm. 18. Scharfsichtig erkannt worden sei dies bereits von Friedrich Naumann anlässlich der 18. Sitzung des 8. Ausschusses der verfassungsgebenden Nationalversammlung am 31. März 1919: „Damit sind wir an der Frage angelangt, die mir die Kernfrage der ganzen Grundrechte, wie wir sie heute aufstellen, zu sein scheint: 1. Inwieweit und mit welcher Absicht ist es nötig, alte Stoffe aus der Grundrechtsmaterie jetzt aufzunehmen? 2. Wieweit ist es möglich und nötig, neuen Stoff als neues Grundrecht zu formulieren? (. . .) Nun komme ich zu der wichtigsten Frage: Wie verhalten sich die Grundrechte der Gegenwart zu den sozialen und materiellen Problemen, die sich uns täglich aufdrängen und die wir selbst im idyllischen Weimar als dringend empfinden? Dies führt mich dazu, mit wenigen Worten auf die Gründe der gegenwärtigen Revolution einzugehen. Warum müssen wir jetzt eine Verfassung herstellen? Aus zwei Gründen: Einmal, weil die Monarchie nicht mehr vorhanden ist. Es gehört nicht hierher, über das Wie und Warum zu reden. Die Monarchie ist nicht mehr vorhanden. Wir sind gezwungen, eine neue Verfassung zu machen, weil einer der Grundpfeiler, und zwar einer der allerersten und stärksten Grundpfeiler des Staates dahingesunken ist. Die Architektur muss neu unterbaut werden. Dieser Unterbau geschieht in der verfassungsmäßigen Arbeit, die wir zu leisten haben. Wenn möglich, gehört er auch in den Inhalt des Staatsgrundbekenntnisses hinein. Es ist nun aber wesentlich die Frage, in welcher Art jene Gruppe alten Stoffes, von der ich eben gesprochen habe, verarbeitet werden kann. Mit der Monarchie ist ein gut Teil des – sagen wir einmal – Übersinnlichen, des Mystischen am bisherigen Staat dahingesunken. Den Staat nur auf vorübergehende Nützlichkeitserwägungen zu gründen, ist außerordentlich bedenklich und architektonisch schwierig. Das Bedürfnis nach einem Staatsbekenntnis, nach dem demokratischen Freiheitsstaat Deutschland, der als moralische Notwendigkeit hervorgewachsen ist, scheint mir absolut vorhanden zu sein, ein Bedürfnis, das über Rechtsformulierungen hinwegschreitet, das ein Bedürfnis der Staatsweisheit und der Staatsvorsicht ist.“ Zitiert nach Berichte und Protokolle des 8. Ausschusses der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung über den Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs, Berlin 1920, S. 178 f. 208 Siehe Smend (31994), S. 187–198. 209 Ebd. S. 195.
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lichen Lebens in als Ämtern verstandenen Institutionen. Als rechtlich beschränkende Anregung ist die Verfassung nicht mit dem Staat identisch, dieser wiederum ist nicht gleichzusetzen mit der Doxa-Welt des Politischen. Als „geistige Wirklichkeit“ konstituiert er sich im Erlebnis als einer Art kreativen Aufmerksamkeit inmitten des Verfassungslebens, welches sich in persönlich-repräsentierender, in funktionell-performativer und in sachlich-symbolischer Weise darstellt. Nicht den isolierten Einzelnen erhebt die Integrationslehre zum Ausgangspunkt, sondern den auf das gemeinsame Leben bedachten Menschen und Bürger. Die in Verfassung und Verfassungsrecht vorgestellten Integrationstypen beschreiben demnach Teilmomente politischen Erlebens und staatsbürgerlicher Anteilnahme am Staat. Wenn Regieren bedeutet, das Staatsleben zu einer charaktervollen, durch symbolisierte Sachgehalte normierten Einheit zusammenzufassen, so kann die Aufgabe dieser Einheit mit Smend nicht als die einer verfügenden Selbstermächtigung der Regierenden verstanden werden. Inwiefern passt aber die amtsmäßige Repräsentation zur performativen Auffassung von verfassungsrechtlich angeregten funktionellen Abläufen, und in welchem Sinn entspricht ein selbstzweckhaft-performativ verstandenes Verfassungsleben der normativen Voranstellung von symbolisierenden Konkretionen wie den Grundrechten und Staatsfarben? Auf den ersten Blick erscheint die Verfassungstheorie Rudolf Smends gänzlich empirisch-dynamisch ausgerichtet zu sein. Insbesondere der für alle parlamentarischen Regierungsweisen so wichtige Bereich funktionell-performativer Abläufe ist ein solcher verfassungsphysiologischer Dynamik. Er ist jedoch, in Wahlen, Verhandlungen und Abstimmungen, zugleich Gefäß amtsmäßiger Repräsentation, die wiederum an die integrativen Momente vergleichsweise statischer Symbolik gebunden ist. Bei aller Dynamik ist das Persistente und Haltgebende, das innerhalb, ja kraft der Bewegtheit des Verfassungslebens hervorgehen soll, nicht aus dem Smendschen Verfassungsbegriff heraus zu lösen. Indem die weder konkreten Wählerschaften, noch zu bearbeitenden objektiv sachlichen Aufgaben, sondern dem Staat als Idee und „geistiger Wirklichkeit“ verpflichtete Repräsentation sich als die Substanz aller performativ-funktionellen Abläufe erweist, kann gerade in Hinsicht auf die Republik die Integration durch Wertbezüglichkeit als vorherrschend gelten. Es ist zu bemerken, dass auch bei den Autoren, auf die Smend rekurriert, bei Schiller, Simmel und Groos, der Sinn des ritualisierten Spiels letztlich nicht sein selbstzweckhafter Austrag ist, sondern die Möglichkeit der Bildung des Menschen zur Persönlichkeit – allen widrigen Umständen des im Spiel sublimierten „Stofflichen“ entgegen – sowie zur Verähnlichung mit überpersönlich Höherem. Auch wenn es so erscheinen mag und bisweilen in der Richtung ausgelegt wird, Symbole sachlicher Integration seien ein letztgültiger und unübersteigbarer Horizont im Verfassungsdenken Rudolf Smends, so ist doch zu betonen, dass Grundrechte, Staatsform und Staatsfarben, so sehr sie in verfassungsrechtlicher Hinsicht den Kompetenzen der Regierungsgewalt und dem Par-
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lamentsrecht voranstehen, nicht als das Absolutum eines politischen Immanenzdenkens anzusehen sind, sondern so, wie sie die übrigen Verfassungsnormen bedingen, selbst wiederum bestimmt sind durch das, was sie dem Verfassungsleben vermitteln. Die Folgen des neuen Verfassungsbegriffs für die konventionellen Topoi der Staatsrechtslehre sind erheblich. So kommt es zu einer Absage an den herkömmlichen Organbegriff. Der eigentliche Wert der Staatsorgane liegt nicht in den von ihnen ausgehenden rechtsgeschäftlichen Willensakten, sondern in ihrer verpflichtenden Aufgabe zu fortlaufender Vermittlung und immer neu zu suchendem Ausgleich in der Verständigung. Dies ist die Grundlage eines genuin staatstheoretischen Amtsgedankens, mit dem auch Smends Richtigstellung der Zwecklehre korrespondiert. Indem Smend den Staat als Aufgabe ansieht, möchte seine Verfassungstheorie auch Ansatz zu einer politischen Ethik sein.210 Die These von der Aufgegebenheit impliziert für die Einzelnen die Möglichkeiten persönlicher Gestaltung. So versteht sich auch die Bezugnahme auf Ernest Renans Charakterisierung der Nation als eines plébiscite des tous les jours211, sowohl bei Smend als auch bei Renan selbst eine innere Haltung und geistige Auswirkung kennzeichnend, nicht als ein Beauftragungsverhältnis im Sinne bloßer Interessenvertretung. Der Staat als „geistige Wirklichkeit“ ist keine „soziale Realität“ im mechanistisch-verräumlichenden Sinn212, sondern eine stets zu aktualisierende Orientierungsinstanz, deren Sorge um die Angehörigen des politischen Gemeinwesens weder auf Freiheiten subjektivistischer Privation zielt, noch eiserne Bindung an eine Staatsraison verlangt, sondern die, in freilich wenig nachlassender, vielmehr insistierender Weise, das „gute“ Leben zu ihrer Aufgabe bestimmt. Die Neuordnungen von Organbegriff und Zwecklehre spielen auch in die Neufassung der Gewaltenlehre hinein, hinsichtlich derer es Smend vornehmlich um die besondere Qualität des Verfassungsrechts geht. Hier stößt die SmendRezeption an einen nicht unproblematischen Punkt. Zu bemerken ist, dass Smends Staats- und Verfassungsbegriff sicherlich nicht gesetzespositivistisch, zugleich aber durchaus nicht antinormativistisch zu nennen ist. In Smends Deutung der Gewaltentrennung kommt es zu der eigenwilligen Scheidung des Rechtslebens vom eigentlichen Verfassungsleben. So sehr einerseits den politischen Verfassungsorganen Freiheiten zugestanden werden – Smend spricht davon, dass verfassungsrechtlich Gewolltes auf vom staatsrechtlichen Wortlaut abweichenden Bahnen erfüllt werden könne213 –, so wird andererseits doch die Sonderstellung des Rechts beansprucht. Diese verfassungstheoretische Unter210 211 212 213
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
ebd. S. 131. ebd. S. 136 und Renan (1993), S. 309. Smend (31994), S. 131. ebd. S. 190.
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streichung des Rechtswertes verfällt weder einer Vergötterung der Fakten noch einer Anbetung des Wortlauts. Die besondere Qualität des Rechts besteht für Smend in ihrem evokativ-initiierenden Charakter. Diese Qualität ist nicht in dogmatischer Systematisierung und punktgenauer Befolgung einzuholen, sondern das, was sie bedeutet, ist als gestalterische Antwort aufgegeben. Die aufreibende, die Staatslehre mit der Zwangsläufigkeit zum tragischen Sturz vergiftende Problematik des Gegensatzes von Sein und Sollen, von Verfassungswirklichkeit und Verfassungsnorm, ist nach der Art einer trinitarischen Gedankenfigur zu rekonvaleszieren, indem die Protagonisten der Verfassungswirklichkeit das Verfassungsrecht auslegen in fortwährender Sorge um das „überempirisch Aufgegebene“, welches das Staatsrecht bedeutet. Es widerstrebt dem Verfassungsdenken Rudolf Smends, das im Logos des Staatsrechts präsente Gute natur- und vernunftrechtlich zu hypostasieren; es muss auf empirisch-sinnliche Weise erlebbar werden. Wenn Smend sagt, die „zeitlich-realen Verschränkungen“ des repräsentierenden, performativen und symbolischen Verfassungslebens hätten immer auch Anteil an „zeitlos-ideellem Sinn“214 des Staates als „geistiger Wirklichkeit“, so wird deutlich, dass nach dieser Verfassungstheorie die Güte des Staatsrechts bestimmter Formen der Wiedergabe bedarf, dass durch diese Formen der Wiedergabe der Güte des Rechts geradezu die Zunge gelöst wird, einer Güte, deren Bezug zum Guten beiden, dem Verfassungsrecht und dem von ihm her angeregten und geregelten Verfassungsleben, „überempirisch aufgegeben“215 ist. Mit einem nach ethisch-politischer Normativität geprägten empirisch-dynamischen oder phänomenologischen Staats- und Verfassungsdenken überführt Rudolf Smend den Gesetzesbegriff des Naturrechts in eine zu endgültigen und unüberbrückbaren Spaltungen tendierende Moderne.216 Die Integrationslehre, wie sie in Verfassung und Verfassungsrecht ausformuliert wird, ist eine juristische Theorie.217 Sie nimmt zwar, wie 1919 von Smend ausdrücklich gefordert, eine „soziologisch begründete Verfassungstheorie“218 in sich auf, aber Integration ist bei Smend kein soziologischer Begriff, sondern, wie zuvor das „bundesfreundliche Verhalten“, eine ungeschriebene Verfassungsnorm, die vermittels eines spezifischen Kulturbewusstseins aus der Verfassung, ihrer Entstehung sowie den Bedürfnissen und Defiziten der politischen Wirklichkeit, die sie regeln will, herausgelesen wird. Zweifellos beginnt die Smendsche Lehre damit aus der Sicht des formaljuristischen Positivismus problematisch zu werden, indem sie sich nämlich auf ein „geisteswissenschaftliches“ Argumentieren einlässt, sich auf dem moralphilosophischen Grund der 214
Ebd. S. 138. Ebd. S. 139. 216 Vgl. ebd. S. 221. 217 Dies wird von Smend in dem letzten von ihm publizierten Text, dem Artikel „Integration“ im Evangelischen Staatslexikon, nochmals hervorgehoben. 218 Smend (31994), S. 67. 215
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politischen Staatswissenschaft bewegt und Smend selbst, in den Augen Hans Kelsens, sich geradezu als „Staatstheologe“ zu erkennen gibt. Es ist zu konstatieren, dass die Monographie von 1928 das Problem der Konditionalität der Republik – die Bedingtheit des rechtlichen und empirischen Daseins ihrer Institutionen vom Menschen – zwar anschneidet, aber nicht klar herauszustellen versteht, wie sehr der repräsentative, performative und symbolische Staats- und Verfassungsbegriff, der im Verfassungsleben nicht in erster Linie rechtsgeschäftliche Willensakte zur Erreichung externer Zwecke, sondern selbstzweckhafte Rituale sieht, von einem bestimmten Menschentypus abhängig ist. Dass ein nicht in erster Linie nach seinen instrumentellen Leistungen beurteilter Staat, der Staat als „geistige Wirklichkeit“, einen bestimmten Menschentypus voraussetzt, liegt auf der Hand. Eine epistemologische Voraussetzungslosigkeit und Genügsamkeit wird ja auch gar nicht postuliert. Deutlich genug spricht Smend den edukatorischen Zweck seiner Verfassungslehre aus, wenn er den „beiden politischen Hauptmängel[n] der Deutschen: unpolitische Staatsenthaltung und ebenso unpolitische Machtanbetung“, der „zwischen Unter- und Überschätzung des Staates“ schwankenden „innere[n] Unsicherheit dem Staat gegenüber“ zu steuern wünscht, um die Dissoziation politischer Ethik in Privatmoral und Staatsmoral zu verhindern.219 Aus welchen subjektiven, kulturellen oder topisch-argumentativen Gründen heraus der Staat etwas Aufgegebenes sei und dass der These von der Aufgegebenheit der Integration eine bestimmende Wertbezüglichkeit inhärent ist, spricht das viel beachtete Smendsche Buch noch nicht deutlich genug aus.220 2. Unterwegs zu dem Menschenbild des neuen Staats- und Verfassungsbegriffs a) Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht (1933) – Sorge um die Republik, Sorge um den Menschen Die im Januar 1933 bei der Reichsgründungsfeier der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität gehaltene Rede ist als die bis zu diesem Zeitpunkt deutlichste Offenlegung von Rudolf Smends Verfassungsdenken anzusehen, darüber hinaus aber auch als ein Bekenntnis bürgerlichen und ethisch-politischen Denkens.221 219
Ebd. S. 123. Erst die zu Beginn dieser Untersuchung wiedergegebene Stelle aus dem Göttinger Brief des Jahres 1967, gesteht explizit ein, hinter der Vorstellung vom Staat als Lebensprozess und Aufgabe habe „noch Anderes“ gesteckt als ein bloß methodisches, juristisch-geisteswissenschaftliches Anliegen. Siehe erneut Friedrich (1987), S. 25 f. Dieses „Andere“ ist jedoch in den Schriften und Reden ab 1933 vernehmbar. 221 Diese Einschätzung in aller Deutlichkeit auch bei Scheuner (1952), S. 443, annäherungsweise auch bei Campenhausen (1975), S. 623, dann insb. bei Friedrich (1977) und (1987). 220
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Die Rede handelt ausdrücklich vom Menschen, von dem „Menschentypus“, dem „Menschenbild“,222 das der Verfassung zu Grunde liege. Und insbesondere in Frage steht damit das verfassungsmäßige Bild oder Modell des Bürgers. Gefragt wird nach einem geschlossenen Menschen- und Bürgertypus; ein solcher gehöre zweifelsohne zu den „Denkvoraussetzungen des Rechts einer Zeit“223. Smend erwägt die Möglichkeit, den Gedenktag des 18. Januar 1871 überhaupt noch zu begehen, beziehungsweise die Zulässigkeit, ihn als Festtag noch mit der „sittlichen Anspannung“ geschichtlicher Berufung zu verbinden.224 Dieser Tag sei ja zu Recht als „die Erfüllung der Sehnsucht der deutschen bürgerlichen nationalen Bewegung“225 empfunden worden. Die Reichsgründungsfeier – ein Bürgerfest also. Seien aber die Deutschen der Gegenwart und zumal die deutsche Jugend überhaupt noch willens, dieses bürgerliche Erbe anzunehmen? Die Feier der Reichsgründung, des Versailler Tages von 1871, in einen „Protest gegen jenen anderen Versailler Tag von 1919“ zu kleiden, sei doch wohl ein Zeichen verantwortungsloser Schwäche. Nicht bürgerlich-leistungsethische Schwäche ist es, was Smend hier beklagt, sondern ein Mangel an sittlicher Größe. Damit wird bereits deutlich, in welcher Weise Bürger und Bürgerlichkeit hier verhandelt werden, nämlich unter dem Gesichtspunkt der Kritik der Bürgerlichkeit, der Dissoziation von Mensch und Bürger. Smend spricht von dem „Unwertakzent“, den das Wort mittlerweile angenommen habe: der Bürger werde weithin als Bourgeois angesehen. In dem historischen Verlauf, der sich als Kritik an einer sozialen Klasse, auch als Suche nach neuer Sittlichkeit beschreiben lasse, sei der Begriff des Bürgers vollkommen entwertet worden. Inzwischen meine das Wort den „rechenhaften Egoisten der kapitalistischen Zeit“, aber auch den Typus „unlebendiger, häßlicher, unsittlicher Erstarrtheit und Abgeschlossenheit einer absterbenden Schicht.“226 Die klassische griechische Ethik sei nicht eine des Menschen überhaupt, sondern eine Ethik des Bürgers gewesen. Smend bezieht hier den Standpunkt der platonisch-sokratischen Philosophie, welcher die Sorge um die Seele des Einzelmenschen (epimeleia tes psyches) eins ist mit der um die Rettung der Polis (sozein ten polin). Auch das Neue Testament, fährt Smend fort, spreche vom Lebensinhalt und Lebenssinn des Christen als von seinem politeuma, was wohl nicht bloß auf das Bürgerrecht, sondern auf die gesamte Lebenswirklichkeit, die Lebensführung, abzielte oder auf den „Wandel“, wie Luther übersetzt habe.227 Vgl. Smend (31994), S. 310, 311, 312, 313, 320, 322. Ebd. S. 310. 224 Ebd. S. 309, 320, vgl. S. 324 f. 225 Ebd. S. 310. 226 Ebd. S. 311 f. 227 Ebd. S. 312 wird erwogen, die Stelle Phil 3, 20 werde heute allerdings meist im Sinne des formalen Bürgerrechts wiedergegeben. 222 223
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Setze nun aber das deutsche Staatsrecht den Bourgeois voraus oder den Bürger? Seien die deutschen Verfassungen „Schrittmacher (. . .) des Weges zur Depravation des Bürgers“ und dessen staatsrechtlich geplante Umwandlung zum Bourgeois? Aus dem Menschenbild einer Verfassung, so Smend, werde diese überhaupt erst verständlich. Und da sei es vor allem ein Teil, aus dem dieses Bild sich erschließen lasse: die Grundrechte. Vielerorts habe die Literatur die Bürgerrechte der französischen Revolution in der Tat eher im Sinne des Bourgeois als des antiken Bürgers, also als „Zeugnisse bourgeoisen Geistes“228, verstanden.229 Übrig von dem Gedanken und Institut der Grundrechte bleibe dann allein das Moment einer gewissen Emanzipation des Individuums vom Staat und einer gewissen Sicherung diesem gegenüber.230 Gustav Radbruchs Studie Der Mensch im Recht habe diesen Typus herausgearbeitet, der seines Erachtens Voraussetzung beinahe des gesamten Rechtsdenkens des 19. Jahrhunderts gewesen sei. Mehr als bloß eine fiktive Konstruktion, sei dieses theoretisch entwickelte Vorbild des Bourgeois als der empirische Durchschnittstypus angesehen worden, mit dem auch die klassische Nationalökonomie gearbeitet habe.231 Es ist das Bild des auf seinen Eigennutz bedachten und zugleich klugen Individuums, das Ruhe vor dem Staat haben soll, weil sein intelligenter Egoismus von dieser Freiheit schon den nützlichsten Gebrauch machen werde. Vom Privatrecht, so Radbruch, sei diese Auffassung des Menschen ausgegangen, und auch das öffentliche Recht werde schließlich „in der
228
Ebd. S. 312. Vgl. etwa Planitz, Hans: Zur Ideengeschichte der Grundrechte, in: Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung. Kommentar zum zweiten Teil der Reichsverfassung, 3 Bde., hg. v. Hans Carl Nipperdey, Bd. 3: Artikel 143–165 und „Zur Ideengeschichte der Grundrechte“, Berlin/Mannheim 1930, S. 597–623, insb. S. 607: „Zum ersten Male versuchte ein altes europäisches Volk die tausendjährige politische Tradition zu brechen und seine Verfassung nach den naturgegebenen Rechten neu aufzubauen. Gewiß ist, daß auch in Frankreich die Lehren des Naturrechtes es waren, die die Geister wachrüttelten. Aber eben so sicher haben die Ideen Rousseaus, des geistigen Trägers der französischen Revolution, mit dem Gedanken der Menschenrechte nichts gemein. (. . .) Nicht Rousseaus Geist (. . .) spiegelte sich in den Menschenrechten wider. Es ist der Geist, der sich am deutlichsten in dem art social des Abbé Sièyes dokumentiert. Nicht politische Realitäten, sondern ein deduktives System vernünftiger Sätze bilden die Grundlagen. Sie entsprechen dem normalen Denken des wohlhabenden bourgeois, der hochmütig und mißtrauisch in einsamer Abwehr sich und seine Rechte verteidigt. Die Schaffung einer staatsfreien Sphäre ist das Ziel.“ Vgl. zudem Voegelin, Eric: Der Sinn der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, in: ZöR 8 (1929), S. 82–120. In der paresse ist Voegelin zufolge das „Kernproblem der französischen Nationalpsychologie“ zu sehen. Die Bürgerrechte seien „als Forderung eines passiven, gegen alle Vergemeinschaftung gleichgültigen Individuums“ aufgefasst worden. Damit würden die bürgerlichen Grundrechte zum Ausdruck träger, egoistischer Freiheit, „die den Menschen einem einsamen Epikureismus überläßt“. 230 Vgl. Planitz (1930), S. 613. 231 Vgl. Radbruch (1927), S. 8 f. 229
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Lehre vom Gesellschaftsvertrag als begründet und getragen von dem wohlverstandenen Individualinteresse freier und gleicher Menschen aufgefaßt.“232 Die formalistische Staatsrechtslehre des späten 19. Jahrhunderts sah in den Grundrechten nur noch eine längst gegenstandslos gewordene Abstellung historischer, feudaler oder absolutistischer Schranken individueller Freiheit und in der Hauptsache die bloße Sicherung des privaten Bereichs vor polizeilicher Willkür.233 Nur noch „nüchtern und negativ“ werden die Grundrechte verstanden, als Freiheit des privaten Bereichs. Es geht den Staat nichts an, ob der Einzelne diesen Freiheitsraum nutzt zu einem „Leberecht-Hühnchen-Dasein in Schlafrock und Pantoffeln“ oder zu „rücksichtslosem wirtschaftlichen Kampf“.234 Den folgerichtigen Abschluss dieser Linie stelle die „geistvolle und im öffentlichen Leben und in der politischen Diskussion so viel beachtete Verfassungslehre von Carl Schmitt“ dar. Folgerichtig seien ihre Ausführungen aber nur eben dann, wenn man den Sinn der Grundrechte in der gezeichneten Linie verstehe. Dann seien sie in der Tat, gemeinsam mit der Gewaltenteilung und im Rückblick auf die Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts, als die „Magna Charta des unpolitischen bürgerlichen Individualismus“ zu verstehen, als der unpolitische Teil der Verfassungen des bürgerlichen, schärfer ausgedrückt, des bourgeoisen Rechtsstaates.235 232 Ebd. S. 10. Radbruch zeichnet aber auch das Bild des Gegentypus, das in seinem „Verhältnis zu dem abstrakten Freiheits-, Eigennutz- und Klugheitsschema des liberalen Zeitalters ein viel lebensnäherer Typus“ zu sein habe: „Der Mensch im Recht ist fortan nicht mehr Robinson oder Adam, nicht mehr das isolierte Individuum, sondern der Mensch in der Gesellschaft, der Kollektivmensch. (. . .) Schon wird auch das öffentliche Recht von dieser neuen Auffassung vom Menschen ergriffen. Wir sind mitten in einem Umdenken des Begriffs der Demokratie: der auf das isolierte Individuum eingestellte demokratische Gedanke wird vom Begriffe des Kollektivmenschen aus umgedacht. Schon bedeutet Demokratie uns nicht sowohl mehr die ,Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt‘ als nahezu das Gegenteil davon, nämlich die beste Methode der ,Führerauslese‘. (. . .) Den Menschen im Recht als Kollektivmenschen denken heißt aber schließlich auch ein Stück kollektives Ethos in ihn miteindenken. Eine neue Ethisierung des Rechts vollzieht sich, eine neue Erfüllung des Rechts mit ethischem Pflichtgehalt“ (ebd. S. 12–14). 233 Nachzuvollziehen etwa bei Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. 2 Bde., 5. Aufl. Tübingen 1911, Bd. 1, S. 151 f. Anm. 2. Die Anerkennung der Freiheitsrechte, so ist hier zu lesen, sei im Grunde nur die Negation der früher bestandenen Beschränkungen. Sich auf Anschütz berufend, ist Laband somit der Auffassung, es gebe keine Grundrechte, sondern nur ein Grundrecht, nämlich das Recht auf Unterlassung gesetzwidrigen Zwanges. 234 Smend (31994), S. 314. Leberecht Hühnchen ist der betuliche „Held“ der gleichnamigen Prosaidyllen Heinrich Seidels (die ersten Hühnchen-Erzählungen erschienen 1882, die Gesamtausgabe 1901) und geradezu das Bild des wilhelminischen Kleinbürgers, der sich besonders wohl fühlt, wenn er daran denkt, dass für Tee und Tabak, die er genießt, möglicherweise in demselben Moment an anderer Stelle, in China oder auf tropischen Plantagen, hart gearbeitet wird. 235 Siehe Smend (31994), S. 314 Anm. 9. Vgl. Schmitt, Carl: Verfassungslehre, München 1928, S. 125 f.: Unter der Chiffre „moderne, bürgerlich-rechtstaatliche Ver-
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Erstaunlicherweise legt Carl Schmitt die Grundrechte dermaßen liberal und formal-demokratisch aus, so dass in dieser Perspektive die von Smend auf dem Münchner Staatsrechtslehrertag von 1927 eingebrachte Interessenabwägung236 schwerlich dem Wesen der Grundrechte entsprechen kann. Ein Freiheitsrecht, so Schmitts Tendenz zur begrifflichen Reinheit, sei kein Recht oder Gut, das mit anderen Gütern in eine Interessenabwägung treten könne. Es gebe eben für das Prinzip der Grundrechte nichts Wichtigeres als diese Freiheit, und die Frage bestehe allein darin, den Maßstab zu finden, um staatliche Eingriffe, Gesetze und Verwaltungsakte zu begrenzen, messbar und kontrollierbar zu machen.237 Entsprechend „unpolitisch“ werden die Grundrechte in Schmitts Übersicht zusammengefasst: das Recht der freien Meinungsäußerung, die Rede-, Press-, Versammlungs- und Vereinsfreiheit, auch das Recht auf Eigentumsschutz, all dies zählt Schmitt zu den Freiheitsrechten des „isolierten Einzelnen“, beziehungsweise zu den Rechten des Einzelnen im privaten oder geschäftlichen Umgang mit anderen. Erst die Gleichheit vor dem Gesetz, das gleiche Wahl- und Stimmrecht sind für Schmitts Einteilung politische Rechte, Rechte des Einzelnen im Staat als Staatsbürger.238 Schmitts Ausführungen, konstatiert Smend, seien polemische Zuspitzung und als solche dazu bestimmt, eine Folie für eine grundsätzlich andere, politischere Begriffswelt abzugeben, nämlich derjenigen des „tota-
fassung“ versteht Schmitt folgendes: „1. Die moderne bürgerlich-rechtstaatliche Verfassung entspricht in ihren Prinzipien dem Verfassungsideal des bürgerlichen Individualismus, und zwar so sehr, daß diese Prinzipien oft mit Verfassung schlechthin gleichgesetzt werden und ,Verfassungsstaat‘ mit ,bürgerlicher Rechtsstaat‘ gleichbedeutend wird (. . .). Diese Verfassung enthält in erster Linie eine Entscheidung im Sinne der bürgerlichen Freiheit: persönlicher Freiheit, Privateigentum, Vertragsfreiheit, Handels- und Gewerbefreiheit usw. Der Staat erscheint als der streng kontrollierte Diener der Gesellschaft; er wird einem geschlossenen System von Rechtsnormen unterworfen oder einfach mit diesem Normensystem identifiziert, so daß er nichts ist als Norm oder Verfahren. (. . .) 2. Die moderne bürgerlich-rechtstaatliche Verfassung ist nach ihrem geschichtlichen Werden und ihrem heute noch herrschenden Grundschema zunächst eine freiheitliche Verfassung, und zwar im Sinne der bürgerlichen Freiheit. Ihr Sinn und Ziel, ihr telos, ist in erster Linie nicht Macht und Glanz des Staates, (. . .) sondern liberté, Schutz des Bürgers vor dem Mißbrauch staatlicher Gewalt. (. . .) 3. Aus der Grundidee der bürgerlichen Freiheit ergeben sich zwei Folgerungen, welche die beiden Prinzipien des rechtsstaatlichen Bestandteils jeder modernen Verfassung ausmachen. Erstens ein Verteilungsprinzip: die Freiheitssphäre des Einzelnen wird als etwas vor dem Staat Gegebenes vorausgesetzt, und zwar ist die Freiheit des Einzelnen prinzipiell unbegrenzt, während die Befugnis des Staates zu Eingriffen in diese Sphäre prinzipiell begrenzt ist. Zweitens ein Organisationsprinzip, welches der Durchführung dieses Verteilungsprinzips dient: die (prinzipiell begrenzte) staatliche Macht wird geteilt und in einem System umschriebener Kompetenzen erfaßt.“ Vgl. dazu auch ebd. S. 158 f. 236 Vgl. oben Smend (31994), S. 97 f.: „Allgemeine Gesetze im Sinne des Art. 118 sind Gesetze, die deshalb den Vorrang vor Art. 118 haben, weil das von ihnen geschützte gesellschaftliche Gut wichtiger ist als die Meinungsfreiheit.“ 237 Vgl. Schmitt (1928), S. 167. 238 Vgl. ebd. S. 170.
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len“ Staates in Gestalt der autoritären Demokratie oder der diktatorischen Staatsgestaltung. Die Behauptung aufstellend, der Begriff des bürgerlichen Rechtsstaates, so wie Carl Schmitt ihn entwerfe, als eines „Systems unpolitischer Abwehr und Distanzierung eines innerlich unpolitischen und staatsfremden Bürgertums“239, entspreche durchaus nicht der Wirklichkeit der Geschichte des deutschen Staatsrechts, geht Smend zum Gegenangriff über. Der deutsche Staat, der 1871 seinen „nationalen Abschluß“ gefunden habe, das Reich also, habe durch die Aufstellung der Grundrechte in den Einzelstaatsverfassungen nicht „die Kümmerlichkeit einer Bourgeoisie anerkennen und verewigen wollen“. Die Institutionen des modernen Verfassungsstaates hätten in den deutschen Einzelstaaten auf ganz andere Weise sich „eingebürgert“, als dies in Frankreich der Fall gewesen sei. Keinesfalls revolutionärer Ausdruck egoistischer und laizistischer Emanzipation des Individuums – Smend lässt an dieser Stelle die entsprechende Beurteilung der französischen Verfassungen unkommentiert stehen, um den von ihm beabsichtigten Gegensatz stark zu betonen –, bedeuteten die Grundrechte in Deutschland nur eine Modifikation, nicht aber einen radikalen Bruch mit den „sozialethischen Voraussetzungen“.240 Um dies zu verdeutlichen, bedürfe es nur eines Rückgriffs auf die unferne Vorgeschichte der ersten konstitutionellen Verfassungen. Das preußische Allgemeine Landrecht von 1794 halte bekanntlich an der Dreiständegliederung fest, aber in einer Weise, in der es diese Gliederung zu einem „System von Berufspflichten“ verdichte.241 Diese landrechtlichen Bestimmungen hätten aber niemals vom Staat verfügt werden können, wenn ihr sozialethischer Gehalt nicht bereits durch die christliche Berufsethik vorgebildet gewesen wäre. Die Geltungsvoraussetzungen des Frühkonstitutionalismus liegen Smend zufolge in dieser Sozialethik, die als eine Fortbildung der alten christlichen Lehre von den drei Ständen, dem status politicus, ecclesiasticus und oeconomicus anzusehen sei.242 Somit bedeuteten die Grundrechte des Frühkonstitutionalismus keine raSmend (31994), S. 314. Ebd. S. 315. 241 „Dem Adel liegt, nach seiner Bestimmung, die Verteidigung des Staates sowie die Unterstützung der äußeren Würde und inneren Verfassung desselben hauptsächlich ob.“ (ALR Teil II, 9. Titel, § 35) – „Städte sind hauptsächlich zum Aufenthalte solcher Einwohner des Staats bestimmt, welche sich mit der Verarbeitung oder Verfeinerung der Naturerzeugnisse und mit dem Handel beschäftigen.“ (ALR Teil II, 8. Titel, § 86) – „Ein jeder Landmann ist die Kultur seines Grundstücks, auch zur Unterstützung der gemeinen Notdurft, wirtschaftlich zu betreiben schuldig.“ (ALR Teil II, 7. Titel, § 8). 242 Smend bezieht sich hier auf Troeltsch, Ernst: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912, S. 522 ff. In diesem Zusammenhang sieht Smend sich veranlasst zu vermuten, dass es sich bei der von ihm vorgeschlagenen „Auslegung und Anwendung der Grundrechte im Sinne persönlicher politischer Berufsrechte“ (Smend (31994), S. 319 Anm. 15) eventuell um eine „Auswirkung evangelischer Berufsethik“ (ebd. S. 317 Anm. 13) handeln könnte. „Eventuell“, so formuliert 239 240
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dikale Neuordnung auf revolutionärer Grundlage, vielmehr eine „neue Einordnung der nun zu politischer Mitwirkung berufenen Untertanen in ein schon vorSmend vorsichtig, nicht ohne zuvor darauf hingewiesen zu haben, dass auch die Antike eine Vorstellung vom Bürger und bürgerlicher Lebensführung gehabt habe, die Max Weber in seiner Befassung mit dem Berufsgedanken nahezu ausklammert. Ob Smend Max Webers zweiteilige Abhandlung über die ,Protestantische Ethik‘ (1904/05) genauer gekannt hat, lässt sich nicht ermitteln, zitiert wird sie bei Smend jedenfalls nicht, im Gegensatz zu den verfassungspolitischen Schriften der letzten Lebensjahre Webers. Der bekannte Text von 1904/05 bestreitet jedenfalls, dass dem „antiautoritären asketischen Zug“ der protestantischen Ethik eine politische Qualifikation zukomme. Offen bleibt, wie Smend zu der in Fußnoten stattfindenden Auseinandersetzung Ernst Troeltschs mit den sich zur Berufsidee äußernden religionssoziologischen Forschungen Max Webers stand. Vgl. insb. Troeltsch (1912), S. 656 f. Anm. 344, S. 713 f. Anm. 388 und S. 715 Anm. 389a. Dass die protestantische Ethik, ob nun vornehmlich lutherisch, calvinistisch oder pietistisch geprägt, eine solche der Berufspflicht sei, darin konnten Smend, Troeltsch und Weber zusammengehen. Troeltsch hat angemerkt, Webers Abhandlung arbeite in Wahrheit gar nicht bloß auf eine Erläuterung des „kapitalistischen Geistes“ aus der calvinistischen Berufsidee hin, sondern auf die Erklärung des modern-bürgerlichen Lebensstils überhaupt, innerhalb dessen der „kapitalistische Geist“ nur ein Moment sei. Dass der Kapitalismus aus dem Calvinismus stamme, habe niemand behauptet, weder Weber noch Sombart noch er, Troeltsch, selbst. Weber sei es um eine gewisse „Wahlverwandtschaft“ gegangen, die er darin gesehen habe, dass die calvinistische Berufs- und Arbeitsethik der schon lange vor dem Protestantismus bestehenden kapitalistischen Form des Wirtschaftens ein geistiges Rückgrat verliehen habe. Weber spreche hier von „kapitalistischem Geist“, Sombart von einer spezifischen „Wirtschaftsgesinnung“. Die Gesinnung, die Weber den aus der protestantischen Berufsethik hervorgehenden „Geist“ des Kapitalismus nennt, der für ihn dem „Charakter“ nach den „einer ethisch gefärbten Maxime der Lebensführung“ (PELW S. 13 f.) bedeutet, ist durchaus zu unterscheiden von dem „kapitalistischen Wirtschaftssystem“. Aus dem geschichtlichen Zufall des Zusammengehens beider ergab sich die Herrschaft des Kapitalismus, aber der „Geist“ der protestantischen Berufsidee als „subjektive Aneignung dieser ethischen Maxime“ (ebd. S. 16), dessen der Kapitalismus als System für seine Fortdauer nicht länger bedarf, besitzt ein Eigenleben gegenüber der ihm adäquaten Form kapitalistischen Wirtschaftens. Vgl. dazu Webers Antikritiken im ,Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik‘ 30 (1910), insb. S. 200–202 und 31 (1910), insb. S. 580, 583. Die bekannte Abhandlung Webers untersucht auf einem begrenzten historischen Feld die Herausbildung der Berufsidee und ihre Auswirkungen in der Verbindung mit dem Erwerbsstreben des wirtschaftenden Menschen. Darin wird die Berufsidee zum „kapitalistischen Geist“. Entscheidend ist, dass die protestantische Ethik, gleichgültig welcher Denomination, ihre besondere Tauglichkeit zur rational-planvollen Lebens- und Geschäftsführung aus der Auffassung des unüberbrückbaren Dualismus von Gott und Welt, des religiösen Gnadenstandes und dem paradoxerweise aus der These von der Verworfenheit des Kreatürlichen abgeleiteten Verpflichtung zur Bewährung in der Welt mittels eines spezifisch gearteten Lebensstils erhält. Aus der Intensität des ökonomischen Berufsinteresses aber ergibt sich in Webers Augen die Lenkung „in die Bahn des unpolitischen Berufslebens“ und damit die „Disqualifikation für öffentliche Ämter“. Es ist aber auch eine Berufsethik denkbar, die einen prägenden Einfluss auf das Verhältnis des Menschen zum Staat auszuüben vermag, ja sich in der Eigenart ihrer ethisch-normativen Bestimmtheit im Bürgersein erst erfüllt, und zu fragen wäre, ob sie auch in diesem Bereich notwendigerweise zu einem „stahlharten Gehäuse“ und zur vorherrschenden Ausbildung des „Fachmenschentums“ führen muss oder ob sie nicht auch ein staatsbürgerliches Ethos zu prägen im Stande wäre, das weit davon entfernt ist, „subjektiver
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handenes sozialethisches System.“ Dieser Vorgang ließe sich etwa so ausdrücken, dass nun alle Stände status politicus, politischer Berufsstand, würden: „Und ihre neue Rechtsstellung, insbesondere die Grundrechte, sind sozusagen das Standesrecht dieses neuen Berufs“. Dagegen finde sich in den deutschen Verfassungen der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts kein Hinweis darauf, dass diese Grundrechte vor- oder außerstaatlich gedacht gewesen seien. Das allgemeine Staatsbürgertum erscheine jetzt „als ein einziger Stand, dessen Rechtsstellung grundrechtlich ausgestaltet wird nach Recht, Pflicht und Ehre“. Dieser staatsbürgerliche Rechtsstand bilde jedoch keine staatsferne, vorbehaltene private Sphäre, sondern sei zu verstehen als „grundrechtliche Stellung“ der Einzelnen „im Staat“.243 Die Gewährleistung der privaten Sphäre und insbesondere der Schutz des Eigentums werde also nicht losgelöst vom staatsbürgerlichen Berufsstand eingeführt, sondern als ein Stück politischer Emanzipation. Die persönliche, soziale und auch wirtschaftliche Sphäre müsse unantastbar bleiben, um die Grundlage Aneignungen“ entraten zu können. In eben dieser Frage steckt die noch zu erörternde Frage nach Brücke oder Kluft zwischen Max Weber und Rudolf Smend. 243 Smend (31994), S. 316. Metternich habe diesen Stand die „politische Existenz des Individuums“ genannt, zugleich auch „die Rechte der Teutschheit“, die auf Grund ihrer verfassungsrechtlichen Bedeutung auch Gegenstand der Bundeskompetenz und der Bundesgerichtsbarkeit werden sollten. Smend zitiert nach Gagern, Heinrich von: Mein Antheil an der Politik. Bd. 2: Nach Napoleons Fall. Der Congreß zu Wien, Stuttgart/Tübingen 1826, S. 213 f. Die Geschichtswissenschaft hat Smend in seiner Deutung der Abfolge von Friderizianischem Staat, Allgmeinem Landrecht (ALR) und den ersten Verfassungen deutscher Einzelstaaten gewissermaßen bestätigt. Bei Hintze, Otto: Der preußische Militär- und Beamtenstaat im 18. Jahrhundert, in: ders.: Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen zur Soziologie, Politik und Theorie der Geschichte Bd. 3, hg. u. eingel. v. Gerhard Oestreich, Göttingen 21967, S. 428 heißt es dazu: „Alle Stände waren in den Dienst des Staates gestellt: Der Adel, der die Offiziere und die höheren Beamten lieferte, der Bürgerstand, der die Akzise zahlte, der Bauernstand, der die Kontribution trug und die Kantonisten stellte. Jeder wurde dafür in seiner Weise geschützt und bei seinen hervorgebrachten Nahrungsquellen erhalten“. In seiner Habilitationsschrift hat Koselleck, Reinhart: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 1967, S. 73 f. offensichtlich Smends Deutung, das Allgemeine Landrecht habe die überlieferte ständische Gliederung zu einem System von Berufspflichten verdichtet, aufgenommen und in seiner Analyse das ALR sogar als „Grundlage der preußischen Sozialverfassung mindestens bis zum Jahre 1900“ beschrieben. Sich der von Otto Hintze akzentuierten Umwidmung der Sozialstände von Geburts- zu Dienstständen anschließend, führt Koselleck, ganz im Sinne Smends, weiter aus: „Damit verschob sich (. . .) der Sinn des Ständischen: jeder Stand wurde, auch der Adel, soweit er als überregionaler Stand aller Herrschaftsfunktionen entblößt war, zum staatlichen Berufsstand.“ In der Fußnote bemerkt Koselleck, dieser Ausdruck selber werde im ALR nicht verwendet. Das ist zutreffend, denn es handelt sich um den Ausdruck Rudolf Smends. Vgl. Birtsch, Günter: Die preußische Sozialverfassung im Spiegel des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten von 1794, in: Das Preußische Allgemeine Landrecht. Politische, rechtliche und soziale Wechsel- und Fortwirkungen, hg. v. Jörg Wolff, Heidelberg 1995, S. 133–147, insb. S. 133–136.
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wahrer politischer Freiheit sein zu können. In den persönlichen und sozialen Umständen des Staatsbürgers liegt demnach geradezu seine politische Qualifikation. Dies sei der positive Zusammenhang des Daseins als Mensch und als Bürger, und an ihn knüpfe auch der Nationalerziehungsgedanke der Reformer an. Steins Nassauer Denkschrift (Juni 1807) würdige das Grundeigentum und den Eigentumsschutz unter dem Gesichtspunkt, dass diese den Eigentümer an sein Vaterland binden.244 Zu diesen Überzeugungen hinzu trete etwa Hermann von 244 Wenn auch zu sagen ist, dass es im politischen Denken des Freiherrn vom Stein für Smends Verhältnisse eventuell schon wieder zu sachgesättigt zugeht (und damit auch wohl staats- und verfassungstheoretisch „amusisch“), vgl. die Denkschrift Steins ,Über die zweckmäßige Bildung der obersten und der Provinzial-, Finanz- und PolizeiBehörden in der preußischen Monarchie‘ (Nassauer Denkschrift), in: Freiherr vom Stein. Briefe und amtliche Schriften, bearb. v. Erich Botzenhart, hg. v. Walther Hubatsch, Bd. 2/1, bearb. v. Peter G. Thielen, Stuttgart 1959, Nr. 354, S. 380–398, insb. S. 389 f. Grundeigentum, bürgerliches Gewerbe und geistige Bande sieht Stein als Verknüpfungen des Einzelnen mit dem Staat, somit auch als die eigentliche Grundlage des Rechts auf Repräsentation. Smend wusste zweifelsohne, weswegen er sich auf Steins Denkschrift des Jahres 1807 bezog; seine eigene Position scheint hier bis ins Detail hinein vorgebildet. Wenn in der Nassauer Denkschrift im Zusammenhang mit der Idee der Selbstverwaltung auch von „Ersparung der Verwaltungskosten“ die Rede ist, so geht es Stein doch zugleich immer um die für ihn weit wichtigere „Belebung des Gemeingeistes und Bürgersinns“ (ebd. S. 394). Überaus deutlich wird Steins ziviltheologische Position, wenn er ausführt, es sei ihm darum zu tun, die bürgerlichen Eigentümer „durch Überzeugung, Teilnahme und Mitwirkung bei den National-Angelegenheiten an den Staat zu knüpfen, den Kräften der Nation eine freie Tätigkeit und eine Richtung auf das Gemeinnützige zu geben, sie vom müßigen sinnlichen Genuß oder von leeren Hirngespinsten der Metaphysik, oder von Verfolgung bloß eigennütziger Zwecke abzulenken und ein gut gebildetes Organ der öffentlichen Meinung zu erhalten, die man jetzt aus Äußerungen einzelner Männer oder einzelner Gesellschaften vergeblich zu erraten bemüht ist“ (ebd. S. 391). In diesem Sinne formuliert Stein 1818 das eigentliche erzieherische Ziel seiner politischen Reform: „Teilnahme der Nation an Gesetzgebung und Verwaltung bildet Liebe zur Verfassung, eine öffentliche richtige Meinung über nationale Angelegenheiten und die Fähigkeit bei vielen einzelnen Bürgern, die Geschäfte zu verwalten. Die Geschichte lehrt, wie überwiegend größer die Anzahl großer Feldherrn und Staatsmänner in freien als in despotischen Verfassungen war“ (zitiert nach Pertz, Georg Heinrich: Das Leben des Ministers Freiherrn vom Stein, Bde. 1–6/2, Berlin 1849–1855, Bd. 5, S. 227). Und noch 1828 heißt es: „Was Erziehungsanstalten für die Jugend, das ist Teilnahme an den staatlichen Angelegenheiten für den Älteren; er wird genötigt, seine Aufmerksamkeit und Tätigkeit von dem Persönlichen auf das Gemeinnützige zu wenden, er handelt unter der Aufsicht der Öffentlichkeit; eigennützige Absichtlichkeit oder bare Eitelkeit würden von Umstehenden bald entdeckt und gewürdigt“ (ebd. Bd. 6/1, S. 492). Rudolf Smends Einschätzungen der Denkschrift des Freiherrn vom Stein von 1807 beziehen sich nicht zuletzt auf die zweibändige Stein-Biographie von Gerhard Ritter. Vgl. z. B. ders.: Stein. Eine politische Biographie. Bd. 1: Der Reformer, Stuttgart/Berlin 1931, S. 297. Der Freiherr vom Stein habe, so Gerhard Ritter, von „jener höchsten Kraftäußerung [gewusst], die der Enthusiasmus der Idee entzündet und von der unbedingten Überlegenheit, die der Begeisterte über den bloß Gehorchenden besitzt. Vor allem: auch er weiß von der ,Nationalerziehung‘ als höchster Aufgabe des Staates. Sie nimmt unter den Motiven der Nassauer Denkschrift sogar einen besonders breiten Raum ein. (. . .) Das ist nun freilich eine ganz andere Form der ,Nationalerziehung‘, als die jener philosophisch gerichteten Köpfe. Ein handfester Moralismus offenbart sich hier, der so-
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Boyens militärreformatorischer Gedanke „einer geistig interessierten ethisch verankerten Teilnahme des freien Bürgers am Staatsleben, der daher am Heerwesen nur als bewaffneter Bürger teilnimmt“245. Damit werde die Sphäre der scheinbar privaten Grundrechte nicht zum trennenden Vorbehalt gegenüber dem Staat, sondern zur bindenden Beziehung zu ihm, und sowohl der in Ernst Moritz Arndts Vaterlandslied (1812) beschworene „Zorn der freien Rede“246 als auch die in der zweiten Strophe der inoffiziellen Nationalhymne des Kaiserreichs für dessen staatliche Ordnung in Anspruch genommene „Liebe des freien Mannes“247 bedeuteten nicht private Bedürfnisse, nicht bourgeoise Emanzipation vom Staat, sondern „bürgerliche Grundlegung des Staates“248 in öffentlich geübten Tugenden der „Hingabe“ zugleich und des „Maßhaltens“.249 Vom preußischen Allgemeinen Landrecht über die Gedanken der preußischen Reformer und die Neuordnungen Steins, die in den Verfassungen bundesdeutscher Einzelstaaten gewährten Grundrechte, die parlamentarische Nationalvergleich an die Tugendlehren und den nüchternen bon-sens englischer Popularphilosophen und aufgeklärter Pädagogen des 18. Jahrhunderts erinnert.“ Vgl. desweiteren ebd. S. 300: „So nüchtern, ja beschränkt der altväterliche Moralismus der Nassauer Denkschrift mitten unter dem Ideenreichtum jener Epoche auch anmutet – dahinter steckt eine ungebrochene, tief im Religiösen verankerte Gläubigkeit, ein hartes klares Pflichtbewußtsein, das seinen Ursprung in den Traditionen des Luthertums deutlich erkennen läßt. Wenn Stein die oberste Aufgabe des Staates darin sieht, die Menschen von egoistischer Trägheit zu tätigem, gemeinnützigem Leben zu führen, so ist das letztlich nur eine säkularisierte Neuformung der altlutherischen, patriarchalischen Staatsauffassung, wie sie dem protestantischen deutschen Fürstentum von der Reformation eingeimpft war: daß eine christliche Obrigkeit ihre Untertanen zu einem gottseligen ehrbaren Lebenswandel anzuhalten und zu erziehen habe – nur daß freilich der Begriff der ,Obrigkeit‘ hier ein ganz anderer geworden ist. Moderne Staatsgesinnung, politisches Nationalbewußtsein ist es eigentlich noch nicht, was der Nassauer Denkschrift als Ergebnis der Nationalerziehung vorschwebt. Das Element des Moralischen, des ,Lebens nach kräftigen und edlen Grundsätzen‘, des ,Gemeinnützigen‘ ist darin viel stärker als das eigentlich Politische.“ Vgl. dazu ebd. S. 432 Ritters Kommentar zu der oben zitierten Äußerung Steins von 1818: „Unter ,Nation‘ im politischen Sinn aber verstand er nach wie vor in erster Linie die ,freien Eigentümer‘.“ 245 Wolzendorff, Kurt: Der Gedanke des Volksheeres im Deutschen Staatsrecht, Tübingen 1914, S. 31. 246 Die Freiheit der Meinung wird somit von Smend ganz und gar nicht als eine Freiheit von Privatleuten verstanden, die notwendig sei für die Konkurrenz der Meinungen, in der dann nach dem liberalen Glauben an die produktive Kraft dieser Konkurrenz die beste Meinung siegen müsse. Das sei vielmehr die wiederum allzu literarische Auslegung Carl Schmitts. Vgl. etwa Schmitt (1996), S. 50. Für Rudolf Smend geht es nicht um den Sieg der „richtigen“ Meinung, sondern um den Selbstzweck des Austragens, das Erlebnis des Kampfes der Meinungen und den Eindruck, überhaupt beteiligt zu sein. 247 „Nicht Roß und Reisige / Sichern die steile Höh’, / Wo Fürsten steh’n: / Liebe des Vaterlands, / Liebe des freien Manns / Gründen den Herrscherthron / Wie Fels im Meer.“ 248 Smend (31994), S. 318. 249 Ebd. S. 324.
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sammlung der Paulskirche und die Frankfurter Verfassung, den 1871 gegründeten monarchischen Bundesstaat bis zur Weimarer Verfassung – diese Zeit von 1794 bis 1919 interpretiert Rudolf Smend in seiner Rede zur Reichgründungsfeier 1933 als eine große und sich gewissermaßen steigernde Kontinuität.250 Diese Kontinuität liege zumindest darin, dass es den staatsrechtlichen Ordnungen deutscher Geschichte stets darum gegangen sei, wie Smend sagt, „lebendige Menschen zu einem politischen Gemeinwesen zusammenzuordnen.“251 Das Menschenbild dieser verfassungsmäßigen Ordnungen sei nie das des isolierten, 250 Es ist bereits gesagt worden, dass die Lehre Rudolf Smends Fühlung hält zu dem philosophischen Boden der politischen Staatswissenschaft; ihrer Verfahrensweise, der rhetorisch-topischen Schulung der Moralphilosophie entsprechend, ist stets ein argumentatives Element eigen. Es bedarf keiner Diskussion, dass es sich bei dem Blick auf Geschichte, der Zeichnung eines Geschichtsbildes, stets um eine Interpretation handelt. Thomas Nipperdey hat in seiner Auseinandersetzung mit Hans-Ulrich Wehler eben diese Kontinuität, welche die Perspektive der Smendschen Bürger-Rede heraufbeschwört, betonen wollen und die zwölf Jahre nationalsozialistischer Diktatur als den eigentlichen Kontinuitätsbruch der deutschen Geschichte gesehen. Vgl. Nipperdey, Thomas: 1933 und die Kontinuität der deutschen Geschichte, in: HZ 227 (1978), S. 86–111. 251 Smend (31994), S. 320. Und eben nicht darum, Entscheidung „im Sinne irgendeines sachlich folgerichtigen politischen Denkens“ (ebd. Anm. 15) zu sein, wie bei Carl Schmitt. Vgl. auch die Schmitt nahestehenden Ausführungen, wonach die Grundrechte dem funktionierenden Staatsapparat und der von ihm bedienten Sozialordnung immer nur den Schein der Legalität liefern, bei Kirchheimer, Otto: Weimar . . . und was dann? Entstehung und Gegenwart der Weimarer Verfassung, Berlin 1930, S. 25 ff., insb. S. 46. Auf Grund der dagegen von Rudolf Smend genannten obersten Aufgabe einer Verfassungsordnung ist es entscheidend, die beiden Hauptteile der Weimarer Reichsverfassung, den organisatorischen Teil und die Grundrechte, einander zugeordnet zu sehen. Es sind, so Smend (31994), S. 319 Anm. 15, „persönliche politische Berufsrechte“, welche die Einzelnen in das vom ersten Teil organisierte, also das tatsächliche, soziologisch erfassbare Staatsleben, einzubringen aufgefordert sind. Für einen Nichtjuristen sei diese aufeinander bezogene Aufstellung der beiden Verfassungsteile sogleich ersichtlich. Vgl. die von Smend angemerkten, um auf sein eigenes Verfassungsdenken zu passen aber doch wohl zu hegelianisch geprägten Ausführungen bei Hirsch, Emanuel: Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1929, S. 47 f.: „Der Staat bejaht notwendig sich selbst als eine unabhängige Macht, die das in ihm gehaltene gemeinsame Leben birgt und die darum notwendig sich behaupten muß in ihrer Freiheit und Hoheit nach innen und nach außen. Hört er auf, in diesem Sinne frei und unabhängig zu sein, (. . .) dann hören auch seine Bürger auf, frei und unabhängig zu sein. (. . .) Gerade in diesem seinem Zwecke, in dem er am meisten er selbst ist, (. . .) ist der Staat nun im tiefsten darauf angewiesen, nicht alles selber machen und wirken zu wollen. Er muß gerade in ihm aus der Freiwilligkeit und Liebe seiner Bürger stets neu werden, stets neu die Kraft und das Leben empfangen. Nur soweit sie ihre Pflicht gegen ihn als ihr Vorrecht empfinden, ist sein Machtzweck im Ernste verwirklicht. Ganz verwirklicht er ihn darum allein dort, wo der Gesamtwille nicht zum Herrn wird über den lebendigen Geist der in ihm zusammengefaßten geschichtlich gewordenen Nation, sondern sich ihm beugt als dem, was über ihm ist, wo er die Gerechtigkeit findet gegenüber dem in kein Gefäß, auch nicht das des Staates, zu bannenden Genius der Geschichte. Gelingt ihm das, dann wird er das Wirken des freien Mannes neben dem und über das, das unmittelbar durch den Staat selbst geschieht, als unentbehrlich im Aufbau seines Machtzweckes erkennen.“
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von Einzelinteressen geleiteten Egoisten, sondern stets das des, wenigstens mit einem Teil seines Daseins, auf das gemeinsame Leben gerichteten Bürgers gewesen. Auch sei in diesen Verfassungsordnungen das Auftreten des Bürgers als ein politisches zu sehen, ein Auftreten auf der Bühne der Öffentlichkeit und stets als auf den Staat – den Staat als „geistige Wirklichkeit“ – bezogen und von ihm aus motiviert gedacht. Die staatsrechtlich vorausgesetzte Zivilgesellschaft sei nie eine, die in reiner Selbstorganisation, losgelöst vom Staat und ausschließlich an korporativen Interessen orientiert, handle. Das entscheidendste und für Smend bewahrenswerteste Moment dieser Überlieferungskontinuität ist zweifelsohne der Gedanke eines wie auch immer gearteten Maßes äußerer wie innerer Teilnahme der Einzelnen an ihrem Staatsleben. Ist aber dieser „Rechtsgedanke eines sittlichen Berufs des Staatsbürgers“252 nicht eine leere Ideologie? Ist der empirische Bürger der letzten Jahrzehnte oder des gesamten vergangenen Jahrhunderts nicht auch in Deutschland ein echter Bourgeois gewesen? Hat nicht sein politischer Wille vor der überraschenden nationalstaatlichen Lösung des Bismarck-Reiches kapituliert oder in einer saturierten Weise sich in diese Ordnung gefügt? Hat er sich nicht mit zunehmendem Wohlstand aus Furcht vor dem proletarischen Übergriff immer passiver verhalten und den Schutz des Obrigkeitsstaates gesucht? Smend hat eine ungewöhnlich harte Art, seine eigene Überzeugung in Frage zu stellen. Dass aber „der Gedanke des dem Staat sittlich verpflichteten Bürgers“253 im staatlichen Leben Deutschlands von Rechts wegen vorherrschend sei, davon möchte er sich nicht abbringen lassen. Seine Gewissheit in dieser Sache entnimmt Smend dem „biographischen Material des Jahrhunderts“, und zwar nicht einem statistisch ermittelten „Durchschnittsbild des deutschen bürgerlichen Menschen“, auch nicht einer Reduzierung auf die „Schriften der politischen Literaten“, sondern der „Befragung der für das durchgehende Rechtsund sittliche Gefühl der Zeit repräsentativen Persönlichkeiten.“254 Smends liebstes Beispiel ist hier, wie in anderen Zusammenhängen, der Historiker und Paulskirchenabgeordnete Johann Gustav Droysen.255 Aber ebenso sei an die – von Max Weber immer ein wenig geringschätzig betrachteten – Honoratioren, an all die „Träger der öffentlichen und politischen Kleinarbeit im Lande“ zu Smend (31994), S. 320. Ebd. S. 320. 254 Ebd. S. 321. 255 Vgl. auch Smends Schrift ,Hochschule und Parteien‘ (1930), Smend (31994), S. 277–296, insb. S. 285 und 287. Es ist vor allem Droysens Verdun-Rede von 1843, die Rudolf Smend als beispiel-, auch wohl als vorbildhaft für das Leben eines politisch tätigen Gelehrten anführt. Vgl. Droysen, Johann Gustav: Rede zur tausendjährigen Gedächtnisfeier des Vertrages zu Verdun. Gehalten auf der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel am 10. August 1843, in: Deutsche Akademiereden, hg. v. Fritz Strich, München 1924, S. 89–110. 252 253
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erinnern.256 Die in der Erinnerung belebte Anhänglichkeit bezüglich der politischen Sphäre der „Väter und Urgroßväter“ möchte Smend nicht verkümmern lassen, auch nicht durch „wissenssoziologische“ Versuche einer Dekonstruktion angeblich allzu idealistischer, ausschließlich von Klasseninteressen bestimmter und somit als ideologisch zu entlarvender Bilder und Vorstellungen. Zu der generellen Verdächtigung des Bestandes geistiger Traditionen, so Smend, habe Ernst Robert Curtius das Zutreffende gesagt.257 *** Exkurs: Curtius vs. Mannheim. Der Streit um die Wissenssoziologie In dem „Soziologismus“ überschriebenen Kapitel seines Buches Deutscher Geist in Gefahr (1932) schreibt Ernst Robert Curtius, die politischen Kämpfe der letzten Jahre hätten dem Sprachschatz ein neues Wort und Gebilde hinzugefügt, das „Kollektiv“. Das Kollektiv sei geradezu zum „Wortfetisch“ geworden, dessen „magische Kraft“ die Schwächung des Individuums herbeiführen solle. Möge aber das Wort auch neu sein, dahinter verberge sich jedenfalls ein Problem und eine Gedankenwelt beträchtlichen Alters: die logische Dialektik zwischen Gesellschaft und Einzelwesen, die theoretische Frage, ob der Gesellschaft der Wertvorrang vor dem Individuum gebühre oder umgekehrt. Der Glaube an den Vorrang der Gesellschaft sei vor allem von einer Geschichtsbetrachtung befördert worden, die die gesellschaftlichen Strömungen in ihrer Erhebung gegen den Staat sehe und damit die Politisierung der Gesellschaft konstatiere.258 Die politisierte Gesellschaft versuche, ihre Ansprüche auch wissenschaftlich zu untermauern; sie erzeuge eine Gesellschaftswissenschaft, die Soziologie, die, sobald sie den unbedingten Vorrang vor allen anderen Wissenschaften beanspruche, sich also als neue Generalwissenschaft empfinde (wie etwa schon bei Comte und Spencer), zum „Soziologismus“ werde. Curtius redet nicht gegen die Soziologie als Einzelwissenschaft, jedoch hält er es mit Max Schelers These, auf jedem Erkenntnisgebiet habe der Liebhaber dem Forscher voranzugehen. Dies dürfe man auch von der Soziologie erwarten; Balzac erscheine hierin geradezu als der „Dichter der Gesellschaft“ und als solcher sei er der Wissenschaft von der Gesellschaft vorausgegangen.259 Nach dem politischen Sinn des Soziologismus fragt Curtius in seiner Auseinandersetzung mit Karl Mannheims Ideologie und Utopie (1929). Mannheims Smend (31994), S. 322. Der Hinweis auf Curtius ebd. S. 322 Anm. 19. Vgl. Curtius, Ernst Robert: Deutscher Geist in Gefahr, Stuttgart/Berlin 1932, S. 79–102. 258 Curtius (1932), S. 79 f. 259 Vgl. ebd. S. 81–83. 256 257
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Buch zielt auf die Funktion des Geistes in der heutigen Welt, fragt nach Bestand und Wert geistiger Traditionen.260 Die Situation des modernen Menschen, jene „Lebensverlegenheit, aus der alle unsere Fragen aufsteigen, ist zusammenfaßbar in der einzigen Frage: wie kann der Mensch in einer Zeit, in der das Problem der Ideologie und Utopie einmal radikal gestellt und zu Ende gedacht wird, überhaupt noch denken und leben?“261 Die bisherige Menschheit sei gläubig gewesen; sie glaubte an Offenbarungen oder an Wertmaßstäbe oder an Vernunftsätze, sie bejahte objektive geistige Gehalte. Dies sei nun anders geworden, indem der heutige Mensch diese Gehalte als Täuschungen entlarvt habe; sie sind entweder Ideologien oder Utopien, in jedem Fall Fiktionen.262 Mannheims soziologische Antwort auf die Erscheinungen der Moderne besteht in der Revision aller Ideen: die Einzigartigkeit der Epochenwende sieht er als Chance, als Sternstunde der historischen Bilanzierung, fundamentale Skepsis gilt ihm als Heilmittel gegen verblasste Gewissheiten und falsche Ansprüche. Konkurrierende Weltauslegungen, Kontinuitäten, Traditionen, historische Gesetzmäßigkeiten und Prozesse geraten unter die Generalthese der Seinsgebundenheit allen Denkens und Erkennens. Durch die Brille des prinzipiellen Relativismus betrachtet, wird diese Seinsgebundenheit zur bewussten Verschleierung oder Selbsttäuschung. Mannheims Bewusstseinshaltung, sein Verlangen nach Enthüllung, tendiert zur Destruktion: alle Ideen haben sich blamiert, der völlige Abbau aller Seinstranszendenz ist vollzogen.263 Ideen sind nichts anderes als Konzepte bestimmter sozialer Schichten und Interessen, von diesen bewusst hergestellt und zum Zweck der Scheinlegitimität verfochten.264 Gegen Mannheims „Moral des Dynamismus“265 setzt Curtius den Begriff der Konstanz, der Wechsel und Dauer umfasse, indem er sich einer Erstarrung der Konventionen entgegenstelle und sich zugleich gegen den Relativismus richte. 260 In der Habilitationsschrift Karl Mannheims von 1925 nimmt sich diese Haltung so aus: „Das zentrale Problem jeder Wissenssoziologie und Ideologieforschung ist die Seinsgebundenheit allen Denkens und Erkennens. (. . .) es [ist] gerade die besondere Aufgabe der Wissenssoziologie, die vorhandenen Gedankenmassen in jeder historischsoziologischen Gesamtkonstellation, aus der sie jeweils genuin hervorgetreten ist, zurückzuverankern und ihr Emporkommen vom Totalprozeß her zu verstehen.“ Siehe Mannheim, Karl: Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, hg. v. David Kettler, Frankfurt a. M. 1984, S. 47. 261 Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie, Bonn 1929, S. 3. 262 Curtius (1932), S. 89. 263 Vgl. Mannheim (1929), S. 243, siehe zudem S. 40 ff. und 52. 264 Hierin besteht die große Einigkeit zwischen Mannheim und Carl Schmitt; ihr soziologischer Positivismus plädiert für die Notwendigkeit der Enthüllung von Verkleidungen, Fassaden, Attrappen und simulacra. Siehe dazu Hoeges 1994, S. 98 ff. 265 Curtius (1932), S. 94. Wie bei Georg Lukács wird die Wissenschaft zu einem revolutionären Mittel und kaum mehr unterscheidbar von den gesellschaftlichen Strömungen. So konstatiert Alfred Löwe auf dem 6. Deutschen Soziologentag 1928 in Zürich, die Dynamik des sozialen Geschehens greife in das Reich der Erkenntnis, das damit zu „revolutionärem Wissen“ werde. Zitiert nach Der Streit um die Wissens-
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Die Befreiung von Statik müsse nicht zugleich die Hingabe an als „absolut“ empfundene Wertgehalte treffen.266 Zudem setzt Curtius dem radikalen Relativismus Mannheims den Perspektivismus entgegen, den Ortega y Gasset der Prosa Marcel Prousts attestiert hat.267 Curtius betont, Mannheims Buch nehme selbst die Form eines persönlichen Bekenntnisses an und bleibe somit „partikulare Sicht“. Das Moment sogenannter „Standortgebundenheit“ bleibe stets, auch für die Soziologie, ein „unreduzierbarer ,existenzieller‘ Rest“, sich aus der Situation des Redenden ergebend. Auch Curtius verwirft den retour à l’ordre in Latinität, Thomismus, Gottesgnadentum und Ständestaat; diese seien keine Legitimationsepochen, sie beglaubigten nichts mehr für die Gegenwart. Für den unbedingten Geltungsanspruch von „Absolutheiten“, für eine solche Erstarrung der Kultur, kann auch Curtius nicht optieren. Und dass es hier einige soziologische bestimmbare Attrappen gebe, die zu beseitigen die Wissenschaft sich zur Aufgabe nehmen könne, darin stimmt Curtius mit Mannheim überein. In der Tat hätten Kulturwerte ihre Allgemeingültigkeit verloren, und die Perspektive, die sich in tyrannischer Aufführung für die einzig wahre halte, sei darin immer schon falsch. Jede Erkenntnisform der Wahrheit sei gebunden an einen Ort in Raum und Zeit, und ein großer Fehler liegt Curtius zufolge in einer Wahrheitssuche, deren Erkenntnis keinen Ort mehr habe – oder aber den gesellschaftlichen Ort der Wahrheit ein für alle mal festzuschreiben versuche. Eben dies betreibe aber Mannheims „Enthüllungssoziologie“. Sie sei darum bemüht, sich einen überhistorischen Standort zu wahren, ihrer eigenen Ansicht nach dazu begünstigt durch die analogielose historische Zäsur, die nun den Bühnenraum des Welttheaters bloß gelegt und der soziologischen Wissenschaft die Gelegenheit gegeben habe, ihre entlarvenden Scheinwerfer auf die Illusionstechnik des ideologischen Budenzaubers zu richten. Der „freischwebende Intellektuelle“, der diese Scheinwerfer bedient, muss dabei allerdings vom Ideologieverdacht ausgenommen werden – und so kann das angeblich transzendenzfreie Denken doch wiederum einer Verbindung zu Unbezüglichem nicht entraten. Die Wissoziologie. 2 Bde, hg. v. Meja, Volker/Stehr, Nico, Frankfurt a. M. 1982, Bd. 1: Die Entwicklung der deutschen Wissenssoziologie, S. 386 f. 266 Vgl. Curtius (1932), S. 93. 267 Vgl. Curtius, Ernst Robert: Die Ästhetik Marcel Prousts, in: Die Neue Rundschau 35 (1924), S. 352–366 und ders.: Der Perspektivismus Marcel Prousts, in: Neue Schweizer Rundschau 5 (1925), S. 278–287. Zusammengefasst in Curtius 1955, S. 107–118. Prousts Erzählweise, die seelische Welt zu beschreiben, ist gebunden an ein perspektivisches Sehen im Raum. Aus der doppelten Standortverschiebung des Betrachters und des betrachteten Gegenstandes wird eine Verdichtung der Anschauung gewonnen. Die Korrelation zweier Bewegungen in einem perspektivischen Blick ist offenbar ein Eindruck, dessen optischer Reiz für Proust mit gesteigerter seelischer Erregung verbunden ist Die perspektivische Relativität wird als a priori jedes Habens von Inhalten erkannt. Die innerliche Erregung aber hat damit zu tun, dass der unendlichen Variation der Perspektiven, dem unbegrenzten Relativismus der Erscheinungsarten, das Bewusstsein von einem Beharrenden, Unveränderlichen entgegentritt, ja in der Vielfalt der Perspektiven aufsteigt.
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senssoziologie, so Curtius, befinde sich damit „in der komischen Situation des aristophanischen Sokrates – in Wolkenkuckucksheim.“268 Die Grundlagen seines eigenen, wie er zugibt konservativen Denkens deckt Curtius in dem „Humanismus als Initiative“ überschriebenen Kapitel auf269, indem er sich auf Wjatscheslaw Iwanows Beiträge zu dem kulturphilosophischen Briefwechsel zwischen zwei Zimmerwinkeln beruft. Der Kulturalismus sei die falsche Lehre von der Immanenz der Kultur. Aus den Ideen Platons seien hypostasierte „Werte“ geworden und das „blasse Schema“ eines in einem letztlich „unendlichem Geschichtsprozess zu verwirklichenden Wertreichs“270. Begreife man die Kultur dagegen als „Leiter des Eros“ und Anordnung freier Verehrungen, so sei auch der humanistisch gebildete Geist in ihr nicht mehr nur Intellekt, der die Lösung einer Reihe der technischen Probleme der Zivilisation und die Überfeinerungen des historischen Denkens hervorgebracht habe, sondern er sei Erinnerung als initiatives Pneuma.271 Initiation und Initiative – dies sei das Wort der Mysterienkulte, des platonischen Symposions sowie auch des Staatsrechts, insbesondere der das Zusammenleben der Menschen regelnden Staatsgesetzgebung.272 *** Der „Rechtsgedanke“ des „sittlich an den Staat gebundenen Bürgers“ ist die tatsächliche Voraussetzung des deutschen positiven Staatsrechts, wie es schon im 19. Jahrhundert der Fall gewesen sei.273 Aus Smends Kommentierung dieser These lässt sich ersehen, dass mit der Bindung an den Staat weder die Person eines Monarchen noch die Autorität der Behörde noch der Staat als juristische Person gemeint ist, sondern die Idee des Staates, der Staat als „geistige Wirklichkeit“. Wollte man, wie die sozialgeschichtlichen Betrachtungen Lorenz von Steins oder die Verfassungslehre Carl Schmitts274, die Verfassungsgeschichte ausschließlich als „das Ringen der aufsteigenden gesellschaftlichen Mächte mit Monarchie und Bürokratie um die Macht“275 verstehen, dann erschienen die Verfassungen des Jahrhunderts in der Tat als Halbheiten, als Kompromissverträge, welche die entscheidende Frage offen ließen, wer denn eigentlich Sieger 268
Curtius (1932), S. 101. Ebd. S. 103 ff., insb. 116 ff. 270 Ebd. S. 119 f. 271 Vgl. Gerschenson, Michail/Iwanow, Wjatscheslaw: Briefwechsel zwischen zwei Zimmerwinkeln, übers. u. eingel. v. Nicolai von Bubnoff, Frankfurt a. M. 1946, S. 17 f. und 35 f. 272 Vgl. Curtius (1932), S. 123 f. 273 Smend (31994), S. 320 und 322. 274 Vgl. Schmitt (1928), S. 289. 275 Smend (31994), S. 322. 269
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und souveräner Herr sein solle. Verstehe man die Verfassungen aber als „Nebenordnung verschiedener Ämter, verschiedener Arten von Dienst“, dann sei nichts an ihnen offen, unentschieden oder Kompromiss.276 Vollends sei dies nun bei der Weimarer Reichsverfassung so gemeint. Verstehe man sie im bourgeoisen Sinn als Ordnung einer Lage, in der jeder nur das Seine suche und sich dem Ganzen nicht verpflichtet wisse, dann sei sie nichts anderes als eine „Organisation des Pluralismus“. Mit ihm werde der Staat zu einem Dienstleister degradiert, der Kunden unterschiedlicher Bedürfnisse bediene und aus dem Staatsbürger den Untertan im Sinne eines Empfängers von Wohltaten mache. Der Staat würde zu einem anarchischen Nebeneinander politischer Gruppen, zu einer taktischen Lage im Klassenkampf, zu einem Waffenstillstand und modus vivendi. Der Staatsbürger drohe unterzugehen „im Anhänger der politischen Konfession, in den absorptiven, religionsähnlichen Ansprüchen der großen politischen Bewegungen.“277 Die grundrechtlichen Zusicherungen des zweiten Teils der Weimarer Verfassung erschienen dann bloß noch als das mehr oder weniger gute Geschäft, das der Einzelne mit dem Staat abschließt. Die Beurkundung eines solchen Handelsgeschäfts ist für Smend keine Verfassung, nichts, dem man Treue schwören könnte, wie Staatsmänner, Beamte und Soldaten es tun müssen. Setze man hier hingegen nicht den Bourgeois, sondern den Bürger ein – im Sinne eines der Idee des Staates verantwortlichen Amtsträgers –, dann könnten die Grundrechte als die politischen Berufsrechte verstanden werden, als die sie staatsrechtlich gemeint seien. So trete zudem als Grundgedanke der Verfassung deutlich ihre Aufgabe hervor, Menschen in die Form eines politischen Gemeinwesens zu bringen, in dem es als „handelnde Einheit“ den gemeinsamen „geschichtlich-sittlichen Beruf der Nation“ suchen und ergreifen könne.278 Denn der Staat – und insbesondere die republikanische Demokratie – ist bei Smend nicht für den „Nutzen des Volkes“ da279; der Staat im Smendschen Verfassungsdenken, der Staat als Idee, der die Verfassungswirklichkeit von Rechts und Gerechtigkeits wegen verpflichtet, ist eine Gemeinschaft kommunizierender, solidarischer, sich einander anerkennender Bürger. Das wird in der Bürger-Rede von 1933 so deutlich wie nie zuvor im staatsrechtlichen Werk Smends. Den Aspekt, welcher der Monographie Verfassung und Verfassungsrecht noch fehlte, holt die Bürger-Rede ein, indem sie die Konditionalität der Republik, ihres Staatsgrundgesetzes und ihrer zentralen Institutionen, auf einen bestimmten menschlichen Typus bezieht. Bedeutet dies aber in erster Linie eine Art von Elitenschelte, wie sie sich etwa bei Schumpeter findet?280 Das deutsche Staats276
Ebd. S. 323. Ebd. S. 323 f. 278 Ebd. 279 In dieser Deutlichkeit erst in der Göttinger Rede ,Staat und Politik‘ vom Dezember 1945. Vgl. Smend (31994), S. 369. 280 Siehe erneut Schumpeter (1929). 277
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recht, so Smend, gehe vom Bürger aus, nicht von dessen kümmerlicher Depravation, dem Bourgeois; Hingabe, Hilfsbereitschaft, Solidarität, Verantwortung, Vertrauen, humanes Maßhalten und geistig-lebendige Teilhabe an Verfassungsleben und Staatsidee sind dem Bürger von Rechts wegen aufgegeben. Die Güte des Rechts und seiner Vorschriften allein verbürgen aber nicht auch eine entsprechende gesellschaftliche Entwicklung. Und ebenso wenig kann mit Hegel von der politischen Geschichte, kann vom Weltlauf gesagt werden, er bringe das Rechte und Vernünftige an den Tag; vielmehr ist zuzugeben, dass der reale dynamisch-historische Verlauf der Geschichte einen tragischen Abfall von Amtsgedanke und Bürgeridee herbeigeführt hat; Smend selber wird dies eingestehen. Wiedereingeholt werden kann die Bürgeridee also nicht durch den Blick in die Geschichte, durch die Beschäftigung mit dem, was historisch auf uns gekommen ist, sondern – wie in der Bürger-Rede – allenfalls durch die Paränese pneumatischer Geschichtsaneignung, die nicht den faktischen machtpoltischen Prozess gutheißt und verherrlicht, sondern in ihrer Deutung von Geschichte, sich an höheren ethisch-politischen Maßstäben orientierend, über alle Geschichtlichkeit hinausweist. Dass diese höheren ethisch-politischen Normen auch dem Staatsrecht aufgegeben sind, kann jedoch nicht einfach hypostasiert werden; das Dynamisch-Politische des Verfassungslebens muss eine besondere Qualität aufweisen, um die Idee des Staates aufgehen zu lassen. Von solcher Beschaffenheit sind das Spiel und das Fest. Wenn Rudolf Smend seine Rede vom Januar 1933 mit Hölderlins Gesang des Deutschen schließen lässt281 – „Wo ist dein Delos, wo dein Olympia“ – so ist es nicht der Sieges-Logos des attischen Seebundes, der hier anklingt und der letztlich zum tragischen Untergang von Bürger und Demokratie führte; wenn nämlich Smend auch die folgende Zeile zitiert – „daß wir uns alle finden am höchsten Fest“ –, so ist es die Kraft des Vermittelns und Zusammenhaltens, der Logos der Eintracht, der Philia und des Syndesmos, der hier erklingt. Dass ein solches Wort Wirklichkeit gewinnt, gerade indem es wirkt – und auch das Staatsrecht ist ein solches Wort, indem es solenne Wahlakte zur Besetzung von politischen Ämtern anregt –, diese Auffassung muss mit der Überzeugung (religio) von einer Präsenz des „Guten“ im (staatsrechtlichen und politischen) Logos verbunden sein. b) Politisches Erlebnis und Staatsdenken (1943/57) Die Akademierede des Jahres 1943 führt einen der zentralen Aspekte des Verfassungsdenkens Rudolf Smends bereits im Titel. Die zweite WahlrechtsStudie von 1919 erhebt den Begriff des Erlebens, der kreativen Anteilnahme, zum Hauptargument zu Gunsten der Mehrheitswahl. Die Alternative des Sie281
Smend (31994), S. 325.
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gens oder Unterliegens, vor die sich Wähler und Wahlkandidaten gestellt sehen, erzeuge eine höhere äußere wie innere Spannung und folglich eine durchschlagendere Wirkung hinsichtlich des Ausgangs der Wahl sowie auch eine stärkere politische Verantwortlichkeit und öffentliche Aufmerksamkeit hinsichtlich der Wahlsieger, der durch Wahl Berufenen. War es der Bürger-Rede von 1933 möglich, zur wohl deutlichsten Offenlegung des eigenen Staats- und Verfassungsverständnisses als eines ethisch-politischen Denkens zu werden, so konnte Smend sich zehn Jahre später, inzwischen nach Göttingen versetzt, weniger exponieren. Somit ist der Text von 1943 mit größter Aufmerksamkeit gerade auch in die Richtung zu lesen, die Smend rednerisch voll auszuschreiten zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gegeben war. Ginge politisches Denken von der Frage aus, wie der Einzelne dazu komme, sich in das politische Ganze einfügen zu müssen, so würde die Antwort in einer anderen Sphäre zu suchen sein als zuvor. So beginnt Smend die Akademierede von 1943 über den Zusammenhang von modernem Erlebnisdrang und Staatsdenken. Allein die Frage laute schon nicht mehr ganz so wie vordem, also nicht länger „Warum muss meine natürliche, naturrechtliche Freiheit der Übermacht des Staates weichen?“, sondern inzwischen: „Wie findet sich mein Lebensgefühl mit der ungeheuren Lebenstatsache von Volk und Staat ab?“ Eine politische Anthropologie, so Smend, sei hier wünschenswert. Und ginge sie als politische Theorie auch nicht mehr vom isoliert betrachteten Einzelnen aus, so habe sie doch allen Grund, sich mit ihm zu befassen. Jedoch befasse sie sich meist nur mit dem politisch wollenden und handelnden Menschen. In Smends Augen müsste politische Anthropologie jedoch die Untersuchung der Arten und Weisen bedeuten, in der der Mensch die politische Welt fühlt und erlebt.282 Gerade nicht zu erfassen seien die Gegenstände einer solchen politischen Anthropologie jedoch in der Wirkung und Wahrnehmung der „Taten Friedrichs des Großen“283 oder ähnlicher Ereignisse. Die quasi touristische Bewegung durch die Glanzlichter der nationalen Militärgeschichte, die Höhepunkte politischer Entscheidungskraft und die Sternstunden der Parlamentsrhetorik sind in Smends Perspektive auf das politische Erleben gerade nicht oder zumindest nicht in ihrer Ausschließlichkeit gemeint. Stattdessen liegt für ihn in einem solchen Ansatz bereits der Weg zur Verzerrung des Erlebnisses zum sportlichen Wettkampf, ja zu ideologischer Verengung und politischem Massenwahn. Eine bestimmte Art des bewussten politischen Erlebens sei erst in neuerer Zeit zu beobachten, bedingt wohl nicht zuletzt durch die Französische Revolution, die Freiheitskriege und die Nationalstaatsbewegung. Die Wendung zum politischen Lebensgefühl ist für Smend ein Ergebnis von Entwicklungen, die im 18. Jahrhundert ihren Ausgang nahmen. Die besondere Problematik des Erleb282 283
Vgl. Smend (31994), S. 346 f. Ebd. S. 346.
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nisses sei in anderen Bereichen genau beobachtet worden: so sei der Pietismus als Erlebnisreligion verstanden worden, und die Literaturwissenschaft habe das Erlebnis als Grundlage und Element der Dichtung untersucht. Das Erleben als Begriff und Gegenstand ausdrücklicher und grundlegender Rechtssätze des Verfassungsrechts zu denken, sei dagegen ungewöhnlicher geblieben. Das Verhältnis von Erlebnis und Staatsrecht sei zwar nicht so eng wie dasjenige von Erlebnis und Dichtung, wie es etwa im Falle des Diltheyschen Buches (Das Erlebnis und die Dichtung, 1905) deutlich werde, dennoch bestehe hier ein naher Zusammenhang. Beide Problemfelder, Erlebnis in der Dichtung und im Staatsrecht, seien zur gleichen Zeit und aus denselben Voraussetzungen entstanden. Dies werde deutlich, indem Dilthey den Gehalt der Dichtung in der lebendigsten Erfahrung vom Zusammenhang unserer Daseinsbezüge gesehen habe. Die Erlebnis-Bewegung des 18. Jahrhunderts wendet sich gegen die autoritären, metaphysischen Bindungen und Dogmen der Überlieferung, wendet sich auch von der Aufklärung ab zugunsten immanenter Instanzen, der inneren Seelenkräfte und des persönlichen Erlebnisses. Dieser Vorgang, so Smend, sei zugleich ein politisches und ein rechtsgeschichtliches Ereignis; insgesamt handle es sich um eine Infragestellung überkommener Ordnungen überhaupt. Die bekannten Veränderungen in der Pädagogik könnten hier als Indikator dienen. Die pädagogischen Konzepte der Moderne kalkulierten schon mit dem Verfall aller Autorität, mit der Verdiesseitigung aller Ordnungen. Die Ordnungen lebten jetzt mehr in der Bewusstheit des Einzelnen, forderten damit aber nicht nur kritische Reflexion und Gestaltungswillen ihnen gegenüber und in ihnen selbst heraus, sondern dieser Zustand erzeugt auch ein ganz neues Bedürfnis, die Ordnungen unmittelbarer, persönlicher zu erfahren. Zuvor sei es die unbewusste Selbstverständlichkeit inneren Lebens in und aus diesen überkommenen Ordnungen und Formen gewesen, die sich prägend ausgewirkt habe. Auch in Sachen der Formung und Prägung des Menschen werde jetzt die Seele wach, suche und taste nach Ersatz, setze sich bewusst erlebend, glücksuchend und leidend mit der Geltung der alten Ordnungen auseinander. Damit sei aber das seelische Problem der Einordnung und Zugehörigkeit der Einzelnen entstanden: politisches Leben sei nun bewusst und problematisch.284 Im Weiteren entfaltet Smend eine Kette politischen Erlebnisdenkens, von Lessing, Rousseau und Schiller über Novalis, Schleiermacher, Paul Pfizer und Rudolf Haym zu Hegel, August Ludwig von Rochau und weiter bis zu Nietzsche, Sorel, Max Weber und Karl Jaspers reichend. In der Geringschätzung des Staates bei Lessing sowie bei Herder spreche sich „das Ungenüge des Herzens“285 sowohl an der überkommenen feudalen als auch an einer neuaufkommenden rationalen staatlichen Ordnung aus. Der stärkste Widerspruch gegen 284 285
Vgl. ebd. S. 347 ff. Ebd. S. 349.
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eine Welt der Ordnungen und Institutionen sei den deutschen Autoren allerdings von Rousseau aus dem Mund genommen worden. In durchaus noch vorromantischer und vorklassischer Empfindsamkeit rufe Schiller im 6. Erziehungsbrief aus: „[U]nd ewig bleibt der Staat seinen Bürgern fremd, weil ihn das Gefühl nirgends findet.“286 Was er als romantisch und klassisch hinsichtlich des politischen Erlebnisses erachtet, dazu kommt Smend sogleich. Die Romantik setze den Erlebnisstandpunkt des 18. Jahrhunderts fort – allerdings bejahe sie den Staat, und zwar mehr als ihm, dem Staat, und ihr, der Romantik selbst, gut tue. Denn die Romantik, so Smend, versuche beinahe krampfhaft, gleichsam in abwechselnder Anstrengung und gelöstem Genuss, den Staat für ihren Erlebnishunger zugänglich zu machen. Der romantischen Erlebnistheorie zufolge sollen Herz und Geist befriedigt werden. In Novalis’ Aphorismenreihe Glauben und Liebe, oder der König und die Königin (1798) sowie in Schleiermachers Monologen (1800) wird der Staat zur Geliebten und zum Kunstwerk verklärt.287 Bei beiden findet sich dieselbe begeisterte Gedankenfigur, das eigene, verhältnismäßig unbedeutende Leben an das einer übergeordneten Kraft geknüpft zu sehen, an eine Potenz, die nicht nur einfach da ist, sondern den Einzelnen zudem dazu befähigt, seine Fantasie sowie seinen Verstand auszuweiten. Ein solches Bestreben Schleiermachers sowie der Romantiker überhaupt habe Dilthey zutreffend als „ein grenzenloses Bedürfnis wahlverwandten Verstehens und Genießens“ bezeichnet.288 286
Schiller (2000), S. 26. Charakteristisch für Novalis ist die Mischung aus politik-anthropologischen Betrachtungen, wie sie für Rudolf Smends Verfassungsdenken durchaus vorbildlich geworden sind, und romantischen „Übertreibungen des Herzens“, die vom Staatsleben ähnliche Erfüllungen verlangen wie etwa von der Literatur oder der Musik. Siehe insb. ,Glauben und Liebe‘ Nr. 15 über die Bedeutung der Ämter und der die Ämter bekleidenden Personen: „Ein wahrhaftes Königspaar ist für den ganzen Menschen, was eine Constitution für den bloßen Verstand ist.“ Dazu auch Nr. 17, 22 und 27. Siehe auch Nr. 16 über die Nebensächlichkeit des bloßen staatsrechtlichen Buchstabens: „Zerstäubt wird dann der papierne Kitt seyn, der jetzt die Menschen zusammenkleistert, und der Geist wird die Gespenster, die statt seiner im Buchstaben erschienen und von Federn und Pressen zerstückelt ausgingen, verscheuchen, und alle Menschen wie ein paar Liebende zusammen schmelzen.“ Siehe des Weiteren Nr. 18 über die konstitutive und statusverleihende Bedeutung der politischen Berufsrechte: „Jeder Staatsbürger ist Staatsbeamter.“ Nr. 19 über die Orientierungsleistung des Staates, wenn nur seine Struktur deutlich genug wahrzunehmen ist: „Ein großer Fehler unserer Staaten ist es, daß man den Staat zu wenig sieht.“ Nr. 28 über die Bedeutung politisch-öffentlicher Erziehung: „Von der öffentlichen Gesinnung hängt das Betragen des Staats ab. Veredelung dieser Gesinnung ist die einzige Basis der ächten Staatsreform.“ Nr. 36 über die Ablehnung, den Staat wie eine Maschine, einen Betrieb zu verwalten. Zugleich findet sich hier der für Smend so entscheidende Vergleich der Institution des Staates mit derjenigen der Ehe. Zitiert nach Novalis. Werke in einem Band, hg. v. Mähl, Hans-Joachim/Samuel, Richard, komm. v. Simm, Hans-Joachim/Jais, Agathe, München/Wien 3 1984, S. 488–502. 288 Smend (31994), S. 350. 287
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Ausgeglichen klassisch dagegen – der Gesinnung nach – ist Smend zufolge Goethes Einschätzung des politischen Äußerungsdranges Byrons. Goethe, von dem bekannt ist, wie sehr ihm, nach der Überwindung des Dilettantismus der Sturm-und-Drang-Phase, die Erlebnisfaszination und Großheitsvisionen der Romantiker missfielen, konnte doch auch die „Verdrängung des Triebes zum politischen Leben“ nicht gutheißen. Gegenüber Eckermann habe sich Goethe wie folgt geäußert: „Hätte Byron Gelegenheit gehabt, (. . .) sich all dessen, was von Opposition in ihm war, durch wiederholte derbe Äußerungen im Parlament zu entledigen, so würde er als Poet weit reiner dastehen. So aber, da er im Parlament kaum zum Reden gekommen ist, hat er alles, was er gegen seine Nation auf dem Herzen hatte, bei sich behalten, und es ist ihm, um sich davon zu befreien, kein anderes Mittel geblieben, als es poetisch zu verarbeiten und auszusprechen. Einen großen Teil der negativen Wirkungen Byrons möchte ich daher verhaltene Parlamentsreden nennen, und ich glaube sie dadurch nicht unpassend bezeichnet zu haben.“289 Goethe ähnlich, habe auch Niebuhr, das Phänomen des eigenen politischen Erlebens konstatierend290, doch auch „die Gefahr bewußten Suchens nach dem politischen Erlebnis als Selbstzweck in voller antiromantischer Schärfe gesehen“291: „Im ganzen fürchte ich, daß die Ständeliebschaft der Meisten nur eine neue Erscheinung der nämlichen Krankhaftigkeit eines schwächlichen, unbestimmten, reizbedürftigen Gelüstens ist; woraus das Katholisieren und die Überschwenglichkeit der romantischen Schule hervorgegangen ist“292. Im Geiste der Romantiker steht das Erlebnis großer Ereignisse dann auch im Mittelpunkt der politischen Betrachtungen in Paul Pfizers Briefwechsel zweier Deutschen (1831) und Rudolf Hayms Buch über Reden und Redner des ersten Preußischen Landtags (1847). Die von Smend ausgesuchte analytische, zugleich aber die Resignation schon vorwegnehmende Kernstelle des Buches von Pfizer lautet: „Wir sind verloren, wenn wir auf dem bisherigen Wege weiter gehen. Der Deutsche ist ein Fremdling in der eigenen Heimath, er lebt, der bessere wenigstens, nicht mehr im Leben, sondern außer dem Leben, er hat nichts als seine innere Welt, seine Existenz ist durch und durch eine künstliche geworden. Das ewige gegenstandlose, inhaltsleere Ringen hat uns ausgehöhlt und verzehrt Vgl. Smend (31994), S. 353 und MA 19, S. 153 (25. Dezember 1825). Vgl. Lebensnachrichten über Berthold Georg Niebuhr aus Briefen desselben und aus Erinnerungen einiger seiner nächsten Freunde, Hamburg 1838, Bd. 1, S. 562 (16. Juni 1813): „Schon aus Dresden glaube ich Dir gesagt zu haben, wie unerfreulich die Veränderung meines Aufenthalts und des Umgangs war. Zu Berlin lebten wir in dem Bewußtsein des vortrefflichen Geistes der Nation; hinreichend entfernt von der Anschauung alles dessen, was traurig in der Leitung ist. Man lebte mit allen Kräften der Seele und des Herzens, und ward in sich selbst der unermeßlichen Nationalkraft inne.“ 291 Smend (31994), S. 354. 292 Lebensnachrichten Niebuhr (1838), Bd. 2, S. 108 (15. September 1814). 289 290
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noch täglich unsre edelsten Kräfte. Mit seinen überfliegenden Gedanken, die nirgends zu Hause sind, mit seinen raffinirten Empfindungen, die keine Heimath haben, steht der deutsche Geist auf einer Höhe, wo jede weitere Eroberung ihn ärmer macht, weil sie ihn noch mehr isolirt und die Kluft zwischen ihm und der Wirklichkeit vergrößert. Von Allem, was Kunst und Poesie, Religion und Wissenschaft bietet, ist nichts unversucht geblieben, um die Leere auszufüllen, die der Mangel eines öffentlichen Lebens, eines großen praktischen Interesses, einer die Seele füllenden Vaterlandsidee, bei einem zahlreichen und gebildeten Volke erzeugen mußte; aber nichts hat ausgereicht.“293 Die vorhandene Begeisterungs- und Mobilisierungsfähigkeit, der aufgestaute Erlebnishunger, scheinen sich dann in den enthusiastischen Schilderungen Rudolf Hayms zu entladen: „Das begeisterte Wort unserer Vertreter drang mit erschütternder Wirkung bis hinan an den Kern unserer Lebens, und wir Jüngeren, denen die kriegerische Erhebung der Nation zu Anfang des Jahrhunderts zu sehen nicht vergönnt war, empfanden zum ersten Male die Bedeutung einer sittlichen, das ganze Volk ergreifenden Bewegung. In das ausgesogene Gebiet intellektueller Bestrebungen sahen wir diese Bewegung wie einen frischen Strom geleitet, an dessen Ufern die Gräser sich wieder grünend aufrichteten; wir tranken daraus mit durstigen Zügen wie aus einem Lebensbrunnen.“294 Dem romantischen Erlebnisdenken vom Staat, so Smend, sei „in bestimmtem Sinne ein tiefes geschichtliches Recht“ zuzugestehen. Es sei als Ausdruck und Antrieb eines berechtigten Orientierungsbedürfnisses zu verstehen. Doch zugleich, so Smends kritischer Befund, habe das Erlebnisdenken der deutschen Romantik auch seine fatalen Folgen nach sich gezogen. Die Unzulänglichkeiten des politischen Lebens, so wahrgenommen nicht zuletzt infolge eines übergroßen Verlangens nach Erlebnisnähe, hätten zum einen die Gefahr der Enttäuschung und Erschlaffung schon in sich geborgen, zum anderen die Ausrichtung auf „Volk und Volkstum“ und dessen „politischen Lebenstrieb“295 – oder die Vorstellung eines auf das Volkstümliche projizierten Lebensdranges – angenommen. Dann sei die idealistische Staatsethik – in Gestalt der Hegelschen Rechtsphilosophie – mit ihrer Kritik der romantischen Philosophie eingeschritten und habe sich, wohl nicht zuletzt auf Grund der Tatsache, dass der Gegenstand ihrer Kritik dieses Element der subjektiven Sehnsucht zu sehr betonte, in „kühler Großartigkeit“296 gegen jede ernsthaftere Befassung mit dem „subjektiven Gestimmtsein im Reich der sittlichen Institutionen“ gestellt.297 293 Pfizer, Paul: Briefwechsel zweier Deutschen, hg. u. bearb. v. Georg Küntzel, Berlin 1911, Neudruck Nendeln/Liechtenstein 1968, S. 115 f. (13. Brief). 294 Haym, Rudolf (Hg.): Reden und Redner des ersten Preußischen Vereinigten Landtags, Berlin 1847, S. I. 295 Smend (31994), S. 350 f. 296 Ebd. S. 353. Parallel zu Rudolf Smends Ausdruck schreibt Adorno von Hegels „überlegener Kälte“, die fortwährend dahin tendiere, mit „erledigender Gebärde“ und
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In diesem Zusammenklang von hitziger Erlebnissuche und kühler Entgegnung habe das deutsche Staatsdenken dann eine ganz falsche Geschichtlichkeit produziert. 1869 konstatiere August Ludwig von Rochau im zweiten Band seines Buches Realpolitik die Überreizung des politischen Bewusstseins in der Erlebnissuche, eine Verweichlichung, die zu einer „wesentlich passiven politischen Haltung“ geführt habe. Die Passivität im Politischen, die Wahrnehmung der Reichsgründung in einem „ästhetisch apolitischen Sinne“298, dann die Ernüchterung durch realpolitische Erfahrungen, der systematische Gesetzespositivismus, formaljuristische „Denktechnik für Bürokraten“ als Ausfluss und Ausdruck der politischen Passivität, zudem die lähmenden Wirkungen des Naturalismus sowie des Marxismus – überall habe der „Mut zur politischen Initiative“299 gefehlt; ein befriedigendes und zugleich anspornendes Staatsverständnis sei in diesem Umfeld nicht entstanden, die politische Erziehung bei der „Einsicht in den Machtcharakter von Staat und Politik“ verharrt.300 Letztlich, so Smends Einschätzung, hätten auf diese Weise auch die rechts- und verfassungssoziologischen Betrachtungen Max Webers sich „engere Grenzen gezogen, als es ihrer eigenen inneren Folgerichtigkeit entsprochen hätte“301, indem sie den gekennzeichneten Zusammenhang nicht durchbrochen hätten. Eine „noch radikalere religiöse Krisis“302 sieht Smend in der erneuten Infragestellung überkommener Form und Ordnung, metaphysischer sowie moralischer Setzungen, vorgefundener Institutionen und Autoritäten durch die Lebensphilosophie und die Wissenssoziologie – die Namen Friedrich Nietzsches und
„im Widerspruch zur eigenen Einsicht“, um das Individuelle zu traktieren, um letztlich für die „Liquidation des Besonderen“ zu optieren (AGS 4, S. 15). 297 Smend (31994), S. 353. Hegel sei ja sogar so weit gegangen, so Smend ebd. Anm. 17, die Einleitung der Ehe zunächst durch die Neigung der künftigen Eheleute als den weniger sittlichen Weg zur Ehe zu betrachten (§ 162 der ,Rechtsphilosophie‘). Smends Abneigung ist deutlich zu vernehmen. Es ist ja zutreffend, dass Lhotta (2005) den „Schatten Hegels“ in Rudolf Smends Verfassungsdenken bemerkt; unbemerkt bleibt hier jedoch der Punkt, in dem Smends „Erleben“ sich von Hegels „großartiger“ Gleichgültigkeit unterscheidet. 298 Smend (31994), S. 355. 299 Ebd. S. 356. 300 Ebd. S. 357. Dieser Skeptizismus schlage sich auch in der Literatur nieder, so etwa in der späten Prosa Wilhelm Raabes. Dessen Roman Gutmanns Reisen (1890) lasse sich ein politisches Ereignis wie die Koburger Tagung des Nationalvereins von 1860 völlig entgehen. „Wie anders dagegen“, so Smend ebd. Anm. 27, „das Schützenfest im ,Fähnlein der sieben Aufrechten‘“ (1861) von Gottfried Keller. 301 Smend (31994), S. 358. An dieser Stelle (ebd. Anm. 30) findet sich der Rekurs auf die 1918 von Smend rezensierte Schrift ,Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland‘, die so überaus genau die politische Passivität der Deutschen insbesondere nach 1900 herausgearbeitet habe. Weiteres zu Smends Mutmaßungen über die „innere Folgerichtigkeit“ der Entwicklung des Weberschen Werkes in Kapitel II des Vierten Teils. 302 Smend (31994), S. 357.
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Karl Mannheims bleiben ungenannt, sind hier aber zweifelsohne einzusetzen. Das Programm oder gerade auch die Programmlosigkeit der Lebensphilosophie, wie sie dann in der Jugendbewegung rezipiert worden sei, finde nicht mehr heraus aus dem „Kreislauf immer neuen Erlebens und Erlebenwollens, aus Heimatlosigkeit und Programmlosigkeit, aus Selbstgenuß und Ästhetisieren und unfruchtbarer Diskussion und Literatur.“ Der „Rückzug auf die reinen Grundlagen des Lebens“, so Smend, führe gerade nicht zu Potenz, sondern zum Versagen.303 Und so habe sich das, was eigentlich über alle Maße das Leben gewollt habe, letztlich als Sterilisierung herausgestellt. Zu einem guten Teil auf gemeinsamem erkenntnistheoretischem Boden mit dem formalistischen Rechtspositivismus stehe dann die „Lehre von der Wissenssoziologie“304, die mit ihren vermeintlich entlarvenden Anbohrungen, ihrer These vom bedingenden und verfälschenden Standort allen Denkens, dazu neigte, das Leben in Staat, Kirche, Wissenschaft, Kunst und Literatur vollkommen auszuhöhlen. Von Smend in der Rede von 1943 wohl nicht mehr auszuführen war die dahingehende Analyse, die gezeichnete Entwicklung des deutschen Erlebnisdenkens in Staat und Politik habe das deutsche politische Bewusstsein für die Erlebnisangebote des Nationalsozialismus besonders empfänglich gemacht. Die letzten Abschnitte der Akademierede sind in dieser Hinsicht mehrdeutig lesbar. Der Text ist so angelegt, dass hier verschiedene Problemkreise angeschnitten und ganz gegensätzliche Assoziationen erzeugt werden, die aber im Hinblick auf das Smendsche Verfassungsdenken alle gleichermaßen unwahrscheinlich sind: ein Lob des Nationalsozialismus, der pluralistischen und darin hilflos-subjektivistischen Zersplitterung des Lebens und Erlebens ein Ende gesetzt zu haben (sehr fraglich, denn der NS-Staat oder mit ihm in Verbindung zu bringende Personen werden keinesfalls genannt); die nüchterne Konstatierung, in Zukunft sei in Form politischer Parteien und aktivistischer Eliten mit der ins Riesenhafte gehenden Vergrößerung der Subjekte des staatlichen Lebens zu rechnen; schließlich ein Plädoyer für den Parteienstaat mit parlamentarisch-demokratischer Fassade. Im Gegensatz zu den Veröffentlichungen Gerhard Leibholz’, der bereits Ende der zwanziger Jahre die Zukunft der Demokratie im Parteienstaat zu erblicken glaubte, bleiben die politischen Parteien als die eigentlichen Träger des Staatslebens in Rudolf Smends Schriften der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre unerwähnt. In einem subtilen Schachzug verlegt Smend die eigentliche Fortsetzung der Rede von 1943 in die Fußnoten305, die mit Karl Jaspers’ Die geistige Situation der Zeit (1931/32) einen Text anziehen, der noch schärfstens vor der 303 Ebd. S. 357 f. Eine solche letztlich unfruchtbare Diskussion der zeitgenössischen Jugendbewegung ist von Thomas Mann in dem sogenannten Schlafstrohgespräch des ,Faustus‘-Romans dargestellt worden. Siehe dazu GW 6, 154–168. 304 Smend (31994), S. 358. 305 Ebd. S. 360 Anm. 34 und 37, zuvor schon S. 348 Anm. 2.
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Verflachung der eigentlichen persönlichkeitsbildenden und identitätsstiftenden Substanz des Erlebnisses in der Vermassung und der Wendung ins Spektakuläre gewarnt hatte.306 In dieser Besorgtheit stand ihm Rudolf Smend in nichts nach, wenn er 1933 den Untergang des Staatsbürgers „im Anhänger der politischen Konfession“307 befürchtet. Wenn Novalis noch mit dem „tiefen geschichtlichen Recht“, das Rudolf Smend ihm zugesteht, davon spricht, in der Republik seien „wir alle König“308, so wird deutlich, dass auch die Romantik nicht restlos „vom politischen Zauberer alles erwartet“309, sondern dass die Idee des ästheti-
306 Vgl. die Passagen in Jaspers, Karl: Die geistige Situation der Zeit. 9. Abdr. der 1932 bearb. 5. Aufl., Berlin/New York 1999, auf die Smend verweist, so etwa S. 40 f.: „Suchen also Eigenwille und Existenz ihre Welt, so geraten sie in Widerstreit zu der universalen Daseinsordnung. Diese wiederum sucht der Mächte Herr zu werden, die hier an ihren Grenzen sie bedrohen. Sie kümmert sich daher in außerordentlichem Umfang um das, was nicht selbst der Daseinsfürsorge dient. Dieses, zweideutig als vitales Eigendasein und als existentielle Unbedingtheit, heißt von ihrer ratio aus gesehen das Irrationale. Mit diesem negativen Begriff wird es zwar zum Sein zweiten Ranges herabgesetzt. Aber zugleich wird es entweder zugelassen in eingehegten Gebieten; im Kontrastbedürfnis der ratio gewinnt es ein positives Interesse, z. B. in der Erotik, im Abenteuer, im Sport, im Spiel. (. . .) Indem man das Irrationale rationalisiert, um es sich herzustellen nach Bedarf als eine Weise der Bedürfnisbefriedigung, will man machen, was, wenn es echt ist, grade nie zu machen ist. Was ursprünglich als das Andere gefühlt und gefordert war, wird so in scheinbarer Fürsorge vernichtet. Der Technisierung verfallen, bekommt es die eigentümliche graue Farbe oder eine grelle Buntheit, in welcher der Mensch sich nicht mehr erkennt; das Sein im Menschen als Schicksal des Einzelnen wurde geraubt. Aber als unbeherrschbar wird es sich gegen die Ordnungen wenden, die es zerstören wollen. Der Anspruch von Eigenwille und Existenz ist so wenig aufzuheben, wie nach der Verwirklichung des Massendaseins die Notwendigkeit der universalen Apparatur als Bedingung des Daseins jedes Einzelnen.“ Zudem S. 74 f.: „Mit der Vereinheitlichung des Planeten hat ein Prozeß der Nivellierung begonnen, den man mit Grauen erblickt. Was heute für alle allgemein wird, ist stets das Oberflächliche, Nichtige und Gleichgültige. Man bemüht sich um diese Nivellierung, als brächte sie die Einigung der Menschheit zuwege. (. . .) Auf Weltkongressen fördert man diese Nivellierung, wenn man, statt in die echte Kommunikation des Heterogenen zu treten, sich auf das Gemeinsame in Religion und Weltanschauung einigen will. (. . .) Man sieht jetzt vor allem den unersetzlichen Substanzverlust, der noch unaufhaltsam fortschreitet. (. . .) Die Verwirrung durch den Besitz fast aller Ausdrucksmöglichkeiten der Vergangenheit bringt den Menschen in eine fast undurchsichtige Verschüttung. Gebärde statt Sein, Mannigfaltigkeit statt des Einen, Sprachlichkeit statt echter Mitteilung, Erlebnis statt Existenz, endlose Mimikry ist der Aspekt.“ Liest man Jaspers an Nietzsches Kulturkritik und Webers Rationalisierungsund Bürokratisierungsanalyse geschulte Zeitdiagnose, so wird von ihrem Ort aus die – von Jaspers mit Schrecken erahnte – Attraktivität des nationalsozialistischen Volksstaates und seiner zwei großen Versprechen offensichtlich: Beherrschung und optimale Steuerung der Daseinsfürsorge-Apparatur, freilich nur zugunsten gemäß Ideologie bestimmter Volks- und Rassenzugehöriger, bei gleichzeitiger Wendung dieser synkretistischen Ideologie zum nationalpolitischen Erlebniskult. 307 Smend (31994), S. 324. 308 Erinnert sei an dieser Stelle an Thomas Manns Novalis-Rezeption in der Berliner Rede von 1922 ,Von deutscher Republik‘. Vgl. TME 2, S. 148. 309 Siehe erneut Smend (31994), S. 134.
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schen Staates eine bestimmte sittliche Haltung des Menschen und Bürgers impliziert. Auf Drängen seitens Wilhelms Hennis’ hat Rudolf Smend die gedankliche Sequenz des politischen Erlebnisses 1957 für einen kurzen Artikel in der „Zeitschrift für politische Bildung und Erziehung“ wieder aufgegriffen.310 Gerade einmal vier Seiten umfassend, ist dieser Text, der unverständlicherweise in keine der drei Auflagen der Staatsrechtlichen Abhandlungen aufgenommen worden ist, bei aller Lakonie doch als einer der bedeutendsten unter den Schriften Smends anzusprechen. Hinsichtlich der überblickartigen Darstellung der Geschichte des deutschen Staatsdenkens als einer Suche nach dem politischen Erlebnis in der Akademierede von 1943 kann er als der Versuch des alternden Smend begriffen werden, aus der Bandbreite des Erlebnisdenkens die konvaleszente Haltung Goethes und Niebuhrs als für die Bundesrepublik maßstabsbildend sich herauskristallisieren zu lassen. Der „Erlebnisdrang und Erlebnishunger“ im deutschen Staatsdenken – genannt werden wiederum Schiller, Schleiermacher und Novalis – habe keine „gesunde Ausrichtung und Betätigungsmöglichkeit“ gefunden, sei verdrängt worden, in andere Bereiche abgewandert und letztlich doch wieder erkennbar „in vielen seltsamen Auftrieben noch des Dritten Reichs.“311 Über die staatstheoretische Rekapitulation312 der beiden grundsätzlichen Haltungen skeptizistischer Kritik am Staat und apologetischer Bejahung des Staates, gelangt Smend zur erneuten Vorlage der Frage nach einer Neuordnung der Zwecklehre. „Sinn und Aufgaben“ des Staates – sie seien fraglich und in den Argumenten sozialpolitischer Zweckverwirklichung nur unbefriedigend beantwortet; an Leistungen habe es der Staat nicht fehlen lassen: „Aber er ist mit seiner einseitigen, ja ausschließlichen Arbeits- und Leistungsethik unglaubwürdig geworden. Er ist mit ihr genauso gescheitert wie der Leistungs- und Arbeitsmensch unserer Zeit.“313 In Wahrheit gehe es im Staat aber nicht nur um Leistungs-, sondern auch um Lebenswerte, das politische Leben ringe immer auch um ein „rechtes, gesundes Leben des Staats“, der somit nicht in erster Linie als ein Instrument, sondern „vor allem und zunächst als eine selbstzweckdienliche Lebensform“ zu verstehen sei.314 Mit dieser Gedankenfigur leitet Smend unmittelbar zur Berufsidee über. Der politische Berufsgedanke sei für das Miterleben, für „die Erfassung als Raum politischer Berufspflicht“, im Laufe des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch das „Auf und Ab der Staatsformen und der politischen 310
Vgl. Smend (1957). Ebd. S. 316. 312 Siehe dafür auch den für das Evangelische Kirchenlexikon verfassten Art. ,Staat‘ in Smend (31994), S. 517–526. 313 Smend (1957), S. 317. 314 Ebd. S. 317 f. 311
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Schicksale“ und durch die „zunehmende Unübersehbarkeit der politischen Welt“ verdunkelt worden. Mit dem Berufsgedanken seien genereller noch Sinn und Selbstverständnis von Bürgerlichkeit, von „bürgerlicher Freiheit“315 abhanden gekommen oder doch für das Bewusstsein zurückgetreten. Die „Zuordnung des Einzelnen zum Ganzen“ sei heute wohl das eigentliche Grundproblem des Berufsgedankens. Weder der juristische Positivismus noch Otto von Gierkes „begriffsrealistische Mythologie“ der Genossenschaft noch auch „Max Webers so bedeutende Lebensarbeit“ habe sich dieses „Notstandes“ angenommen.316 Praktisch-pädagogische Erwägungen hätten hier insbesondere „zwei Klippen“ zu vermeiden, die sich bei genauerem Hinsehen als ein und dieselbe Gefahr des Scheiterns an dem Kulturproblem der Moderne herausstellen. Immer sei es die Gefahr der Isolierung des einen oder des anderen, des Individuums oder des Staates, und der Mangel an Vermittlung, der dieses Problem ausmacht. Zum einen die falsche ontologische, statisch-objektivierende Sicht des Staates, seine begriffliche Hypostasierung, die als feststehende behördenmäßige und apparaturhafte Einheit mit den begleitenden moralisierenden Redensarten einlädt zu „einer Fahrt ins Blaue“: der Staat als „Omnibus“. Die zweite „Klippe“, die doch auf demselben Weg der ersten gelegen ist, besteht in der Isolierung des Einzelnen gegenüber dem Staat. Die eigentliche Gefahr liegt in ihrem Fall darin, den Menschen „auch sittlich einsam zu lassen“317. c) Staat und Politik (1945) – Der Hinblick auf höhere Normen und Ordnungen Die Göttinger Rede Staat und Politik, gehalten im Dezember 1945 als Eröffnungsrede einer historisch-politischen Vortrags- und Diskussionsreihe der Universität Göttingen, ist der Text Rudolf Smends, der bislang am deutlichsten und gewagtesten das vornehmlich in Verfassung und Verfassungsrecht formulierte Immanenzdenken eines neuen Staats- und Verfassungsbegriffs ergänzt und übersteigt, folgerichtig einer Tendenz nachgebend, die bereits in den frühen Schriften durchschimmerte und in Bürger- und Erlebnis-Rede (1933 und 1943) auf dem Weg der Transzendierung des Staatsrechts hin zur Frage nach dem seine Wirksamkeit bedingenden menschlichen Typus bis zur Entwicklung einer Kon315
Ebd. S. 318. Ebd. 317 Ebd. S. 319. Hiernach folgen jene Zeilen über Max Weber, die den tieferen Grund der eigentümlichen Abneigung Rudolf Smends gegenüber Webers Staatsdenken, insbesondere gegenüber der Münchner Rede von 1919, ,Politik als Beruf‘, zum Ausdruck bringen. Sittlich einsam lasse auch Weber den Menschen „in der Schilderung des politischen Menschen in der Einsamkeit seiner besonderen Tugenden und seiner besonderen, tragischen Verantwortungsethik, und damit zugleich in der Inanspruchnahme heroischer, altruistischer Tugenden und Leistungen, die uns gar nicht naheliegen.“ Siehe dazu unten 4. Teil, Kapitel II. 316
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ditionalitätsthese bezüglich staatsrechtlicher Institutionen gediehen war. Begriffsgeschichtlich ansetzend, ist Smend zunächst daran gelegen, „Fehlentwicklungen im deutschen politischen Denken“318 aufzuzeigen. So geht er mit Jacob Burckhardt und dessen „für das geschichtliche und politische Weltbild seiner Zeit“ so wirkungsvollen und folgenreichen Buch Die Kultur der Renaissance in Italien (1860) in ein strenges Gericht. Das berühmte Anfangskapitel sei überschrieben „Der Staat als Kunstwerk“, und die „idée-force“319 dieses Schlagwortes sei es gewesen, die dazu geführt habe, den Staat in der Folgezeit als berechnete, bewusste Schöpfung wahrzunehmen, allerdings weniger ästhetisch, als Kunstwerk, sondern vielmehr noch als „vernünftige Tat: beruhend auf sachlicher Berechnung, nüchterner Objektivität“320. Die sich auf tatsächliche Lagen beziehende Lehre von den Techniken der staatlichen Machtbehauptung entspreche dem gängigen Staatsverständnis, dem europäischen Staatsgeist um 1500. Burckhardt und in ähnlicher Weise Ranke behaupten, mit status und lo stato seien vornehmlich die Herrschenden und ihr Anhang gemeint, und diese Bezeichnung habe dann die Bedeutung des gesamten Daseins eines Territoriums usurpieren dürfen.321 Der Staat werde hier als Ableitung von status in der Bedeutung des Zustandes, des tatsächlichen Zustandes, in Sonderheit des Machtzustandes verstanden. Den Staat aus seiner „eigengesetzlichen Schönheit“ oder aus seiner „in ihm beruhenden Zweckvernünftigkeit“, der Staatsraison, heraus leben zu lassen, führe bei Burckhardt dazu, den Staat als „ein schönes, aber unheimliches, dem einzelnen innerlich fremdes Ungeheuer“ erscheinen zu lassen, das man „mit einer Art von altjüngferlichem Gruseln betrachtet“322. Es sei dies, so Smend, jedoch keineswegs die ausschließliche Möglichkeit, der Bedeutung des Wortes status auf die Spur zu kommen. Dem Juristen seien aus dem Lateinischen die drei Rechtslagen geläufig, in denen in der Gedankenwelt des römischen Rechts sich ein jeder befinde: der status libertatis, civitatis und familiae. Eine Stadt befinde sich in einem bestimmten Verfassungszustande, so etwa bei Dante im stato franco. Und bei Dante träten auch die Rechtslagen in den großen göttlichen Ordnungen kraft göttlicher Gerechtigkeit und Entscheidung hinzu. Bei Dante, auch bei Thomas von Aquin, sei das der bei weitem häufigere Sprachgebrauch: status oder stato bedeute bei ihnen „nicht eine rein tatsächliche, faktische Lage, sondern eine Lage vermöge Einordnung in die großen menschlichen und göttlichen Ordnungen, Rechtslage vermöge Einordnung in die Ordnungen der Familie, der Staatsbürgerschaft“323. Wie alle menschlichen Ordnungen sei auch der Staat „nicht als reine Tatsache zu denken“; kraft 318 319 320 321 322 323
Smend (31994), S. 364. Ebd. Ebd. S. 365. Vgl. ebd. S. 366. Ebd. S. 370. Ebd. S. 367.
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einer Ordnung und mit einer Ordnung entstehe und bestehe er. Und er habe ein Gesetz, welches als Recht „mit letzten, über Staat und Staatsmacht stehenden Normen und Ordnungen in Beziehung steht, in Beziehungen, die vielleicht geheimnisvoll, aber jedenfalls tiefgewurzelt sind und nicht ungestraft auf die Dauer verleugnet und verachtet werden dürfen.“324 Der Staat ist demnach nicht ein Kunstwerk und eine Sache berechneter Machtpolitik, sondern er ist eine aufgegebene Ordnung, „über sich beherrscht von den Ordnungen, die für das Zusammenleben der Menschheit im ganzen gelten.“325 Zu einem politischen Gemeinwesen könnten Menschen sich nur durch das Recht zusammenordnen, durch eine Rechtsordnung, die danach strebe, „gerecht“ zu sein. Diese Gerechtigkeit sei jedoch nicht zu verwechseln mit den Allmachtsansprüchen einer Umverteilungswillkür, die, wie der NS-Staat gemeint habe, „dem Volke zu nützen“ suchen müsse. Die wahre gerechte Zusammenordnung des Staates sei, wie die Ehe, überempirisch aufgegeben, der Mensch gehorche mit ihr einer „überempirischen Nötigung“. Denn auch die Ehe, wie Staat und Rechtsgemeinschaft, entspricht einem trinitarischen Bezugsmodell, in dem nicht nur der jeweils andere die oder der Geliebte ersehnt und bejaht ist, sondern bejaht und geliebt ist auch die in der Dialektik des Lebens erfahrene Idee des Zusammenlebens als solche. Diese Art von Aufgegebenheit ist aber eine erkannte, nicht eine dem Menschen durch hegelianische „List der Vernunft“ zufallende. Smend kann nicht meinen, Menschen, indem sie Ehen schlössen und in politischen Ordnungen lebten, verhielten sich „unvermeidlich im Gehorsam gegen höhere Ordnungen“, denn dann wären die Ermahnungen und Gegendarstellungen der Demopädie seiner eigenen Bürger-Rede von 1933 von keinerlei Notwendigkeit gewesen, und dann wäre es auch 1945 keineswegs notwendig, den Begriff des Staates und der Staatsraison zu klären. Das „Lebensgesetz des Staates“ sei mit diesem Begriff zum Ausdruck zu bringen. Die Frage sei aber, ob mit diesem Gesetz „lediglich die Regeln gemeint seien, die sich aus seiner eigenen Macht und seinem eigenen Vorteil“ ergäben und der „Wahrung dieser Macht und dieses Vorteils“ dienten, oder ob es sich so verhalte, dass das Gesetz des Staatslebens und seine „oberste Maxime“ nicht in seinem „immanenten Wesen“ zu finden seien, sondern in einem „ihm übergeordneten Sinn“, dem es verpflichtet sei.326 Diese Auffassung muss zu der Einsicht führen, dass ein Aufscheinen der Idee der Gerechtigkeit im Staatsleben nicht nur an der „inneren Entfremdung des Menschen (. . .) gegenüber der politischen Welt“327 scheitert, sondern dass sich in dieser Entfremdung der Skeptizismus des bürgerlichen 19. Jahrhunderts äußert, dem Kunstwerke nur noch als ästhetisch-poetische Produkte in ihrer technischen Eigengesetzlichkeit gelten 324 325 326 327
Ebd. S. 369. Ebd. Ebd. Ebd. S. 370.
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und der Staat als ein Kunstwerk rational geplanter Machtpolitik, für deren Bereich ganz eigene moralische Regeln zu konstatieren sind; ein verblendeter Skeptizismus und ethischer Agnostizismus, die jeglichen Wissens von einem „übergeordneten Sinn“ ermangeln. d) Die großen staatsrechtlichen Beiträge der bundesrepublikanischen Zeit aa) Der Öffentlichkeits-Aufsatz (1955) – Auf dem Weg zu einem normativen Öffentlichkeitsbegriff Zum entscheidenden Begriff der Karlsruher Festrede Rudolf Smends von 1962 sollte derjenige der „Publizität“ werden, dort stets in direktem Zusammenhang mit demjenigen der politischen Bildung stehend. Die bereits in dem Aufsatz von 1955 gestellte Frage nach dem Begriff des öffentlichen Rechts und seiner Beziehung zur Öffentlichkeit bildet für Smend das „Herzstück der modernen politischen Begriffswelt“328. Publizität sei die eigentliche „begriffliche Fahne“329 gewesen, mit der die Revolution gegen die monarchischen und aristokratischen Erscheinungsformen feudaler Ordnung vorgegangen sei.330 Nun ließen sich aber zwei sehr unterschiedliche Bedeutungen von „Publizität“ feststellen: 1. das tatsächliche Bekanntsein, die Möglichkeit und der Raum allgemeiner Kenntnisnahme, also die Tatsache des Offenliegens, und 2. der Bereich des populus, der organisierten Gemeinde, des Staates also. Die Eigenschaft publicus, publique, public bedeute demnach die Zugehörigkeit zum Lebensbereich des Volkes als Gemeinwesen. Daraus lasse sich Folgendes herleiten: normative Zuordnung (der Einzelnen zum politischen Gemeinwesen), eine von daher begründete Bewertung (des konkreten Staatswesens) sowie ein ebenfalls von daher kommender Geltungsanspruch (des Öffentlich-Repräsentativen). In dem deutschen Ausdruck der „Öffentlichkeit“ sei – neben der bloßen Zustandsbeschreibung – diese Bedeutungsfülle des geschichtlichen, lateinischen Erbes nicht von vornherein erfasst.331 Den Spott, den die Xenien gegenüber dem Begriff des Öffentlichen entfalten332, kennzeichnet Smend als „antirevolu328
Ebd. S. 462. Ebd. S. 464. 330 Es fällt auf, dass Smend nicht einfach „Feudalismus“ einsetzt – die Revolution habe sich gegen den Feudalismus, die feudale Gesellschaftsordnung gewandt –, sondern von monarchischen und aristokratischen Formen feudaler Ordnung spricht. Eine „ständische Lage“ (Max Weber) wäre in gewisser Weise wohl auch mit „Bürgerlichkeit“ und „Demokratie“ vereinbar. 331 Vgl. ebd. S. 463 f. 332 In den ,Zahmen Xenien‘ (MA 11.1.1, S. 211 und 18.1, S. 81) heißt es: „Was euch die heilige Pressfreiheit / Für Frommen, Vorteil und Früchte beut? / Davon habt ihr gewisse Erscheinung: / Tiefe Verachtung öffentlicher Meinung.“ – „Laßt euch mit dem Volk nur ein, / Popularischen! Entschied’ es, / Wellington und Aristides / werden bald beiseite sein.“ Vgl. auch den von Smend angeführten Samuel Gottlieb 329
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tionäre politische Polemik“333 – antirevolutionär zwar, aber eben darin auch politisch und in ihrem Sinne auf Öffentlichkeitswirkung bedacht. Nimmt man diese literarische Anmerkung Smends ernst, so ist es möglich, auf diesem Weg bereits zu seiner „normativen“, „in-Anspruch-nehmenden“ Auffassung von Öffentlichkeit zu gelangen. Es ist dies eine bürgerlich geprägte Auffassung. Die bei Goethe, Schiller und Bürde geäußerte scharfe Kritik am Öffentlichen wendet sich dezidiert gegen ganz bestimmte Aspekte von Öffentlichkeit: gegen die Belästigungen einer bloß veröffentlichten Öffentlichkeit, gegen die Tyrannei des nach Außen gezerrten Privaten und Intimen, gegen das Mittelmäßige und die bloße Parteiparole, gegen die Zurückdrängung und das Kleinreden der Persönlichkeit. Der Ausdruck „öffentlich“ positiv gewendet dagegen, so Smend, begegne in Wilhelm Meisters Lehrjahren (5. Buch, 3. Kapitel, etwa 1795). Wilhelm schreibt an seinen Schwager Werner von den seiner Ansicht nach in der „Verfassung der Gesellschaft“ angelegten qualitativen Unterschieden zwischen Edelmann und Bürger. Ersterem sei eine allgemeine und „personelle Ausbildung“ möglich, der Bürger dagegen könne sich „Verdienst erwerben und zur höchsten Not seinen Geist ausbilden; seine Persönlichkeit geht aber verloren“. Der Edelmann sei „eine öffentliche Person“, während dem Bürger der Versuch, eine solche zu werden, misslinge, „und er müßte desto unglücklicher werden, je mehr sein Naturell ihm zu jener Art zu sein Fähigkeit und Trieb gegeben hätte.“ Der Edelmann solle „tun und wirken“, der Bürger „leisten und schaffen“, jener dürfe und solle „scheinen“, dieser solle nur „sein“, und was er scheinen wolle, wirke lächerlich. Zum Abschluss des Briefes gesteht Wilhelm seinen Wunsch, „eine öffentliche Person zu sein und in einem weiteren Kreise zu gefallen und zu wirken.“334 „Öffentlichkeit“ ist hier Wirkung, Effekt vorbildlichen Auftretens und Handelns eben dazu erzogener Persönlichkeiten; diese normative Auffassung von Öffentlichkeit beklagt den Verlust des Gefühls für Erhabenheit und die Abwesenheit ihres Gegenstücks, des gegenseitigen Respekts, also das Abhandenkommen von Anmut und Demut im öffentlichen Raum. Wilhelms Auffassung scheint dahin zu gehen, dass auch der Bürger, gerade dadurch dass er „sei“ und „leiste“, in dieser Weise wirken könne. Dieses gewissermaßen „ständische“, haltungsethische Element, das in Erziehung, Charakter und Handeln von (Führungs-)Persönlichkeiten liegt, bedeutet eine Art „ständischer Lage“335, die sich Bürde (1789): „Das Große Losungswort, das jetzt ein jeder kräht, / Vor dem in ihren Staatsperücken / Sich selbst des Volkes Häupter bücken, / Horch auf! es heißt: Publicität . . .!!“ 333 Smend (31994), S. 464 Anm. 3. 334 MA 5, S. 288 ff. 335 Max Webers Begriff von der „ständischen Lage“ ist nicht zu verwechseln etwa mit einer ständischen Gliederung der Gesellschaft. Vielmehr ist hier die auch in mo-
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als geradezu typisch und notwendig für die Demokratie herausstellen könnte. Bürgerlicher Rechtsstaat und republikanische Demokratie setzen voraus, dass sich innere und äußere Verfassung zu entsprechen haben. In dem Münchner Grundrechts-Referat von 1927 hatte Smend es angedeutet, 1933 in Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht deutlich ausgesprochen: Indem die Grundrechte geradezu zu einem konstituierenden Ersatz der symbolischen Werte der Monarchie werden, ist nun jeder vormalige Untertan status politicus seiner staatsrechtlichen Bedeutung nach. Nicht im Sinne eines permanenten Grundrechtsvollzugs, sondern im Sinne eines Bewusstseinswandels wird der in die geschriebene Verfassung aufgenommene Grundrechtskatalog, unter der Voraussetzung des richtigen Verständnisses, zum Symbol eines öffentlichen, staatsbürgerlichen Haltungsethos. Dies voraussetzend, nennt Smend drei „untereinander zusammenhängende Sinnkomplexe“, in deren Gesamtheit er das inhaltliche Problem der Öffentlichkeit fassbar zu machen hofft: 1. Verfassungsmäßige Öffentlichkeit, 2. Personifizierte Öffentlichkeit und 3. Materialrechtlicher Gehalt der Öffentlichkeit. Der erste Komplex umfasst die Zugänglichkeit zu den Bereichen von allgemeinem Interesse. Hierher gehören als Mittel zur Bildung eines Trägers von Öffentlichkeit die Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit. Weiterhin aber auch die Öffentlichkeit der staatlichen Gewalten selbst: die Öffentlichkeit der parlamentarischen Verhandlung (Gesetzgebung und Ministerverantwortlichkeit) sowie der Justiz. Diese gewissermaßen formelle Publizität ist wesentlicher Bestandteil moderner Staatlichkeit, getragen allerdings von einer Fülle unterschiedlicher, sich in ihrer Wirkung abwechselnder Motive. Zunächst bedeutete die Publizität die Freiheit zur Anteilnahme am öffentlichen Leben. Dieses Maß an Freiheit, so Smend, erscheine jedoch von der frühkonstitutionellen Epoche bis zur heutigen Zeit weithin nicht als verfassungsmäßige Institution unter dem Gesichtspunkt der Organisation, sondern vielmehr als Grundrecht unter dem Gesichtspunkt des Freiheitsanspruchs und der Freiheitssphäre der Einzelnen. Ein weiteres Motiv ist der Glaube an die Publizität als Vehikel und Gewähr der Wahrheit, Sauberkeit und Richtigkeit der verhandlungsmäßigen Ergebnisse. Gewährsmänner dieser Auffassung seien keine gerindernen Gesellschaften sich abspielende Verteilung „sozialer Ehre“ gemeint, die eine Sache der Erziehungswirksamkeit ist. Siehe dazu in ,Wirtschaft und Gesellschaft‘ das abgebrochene Kapitel über „Stände und Klassen“ (WuG S. 179): „Ständische Lage soll heißen eine typisch wirksam in Anspruch genommene positive oder negative Privilegierung in der sozialen Schätzung, begründet auf: a) Lebensführungsart, – daher [!] b) formale Erziehungsweise“. In kaum einem politischen Denken der Zeit etwa zwischen 1900 und 1920 ist der Bezug von „repräsentativer Demokratie“ zu seinem Ursprung im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ständewesen spürbarer als bei Weber. Abgekoppelt von dem, was sich als ihre „ideologische Basis“ bezeichnen ließe, werden Begriff und Sache der „ständischen Lage“ außerordentlich bedeutsam als Gegenstück der „Fiktion“ eines einheitlichen Volkswillens.
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geren als Milton und Kant. Beide unternehmen den Versuch, durch die Grundrechtsforderung der Gedanken-, Rede- und Pressefreiheit sowie durch das Prinzip öffentlicher Verhandlung die Güte der staatlichen Rechtsbildung, also die Übereinstimmung der Politik mit der Moral, zu gewährleisten. So etwa im zweiten Anhang zu Kants Traktat Zum ewigen Frieden (1795). Für Kant liegt hier geradezu der eigentliche Begriff des öffentlichen Rechts. Nach Abstraktion von aller empirischen Wirklichkeit des öffentlichen Rechts bleibt nur noch „die Form der Publizität übrig, deren Möglichkeit ein jeder Rechtsanspruch in sich enthält, weil ohne jene es keine Gerechtigkeit (die nur als öffentlich kundbar gedacht werden kann), mithin auch kein Recht, das nur von ihr erteilt wird, geben würde“. Öffentliches Recht, auf seine „transzendentale Formel“ gebracht, meint demnach: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht.“336 Smend bemerkt dazu, dass hier nur in die Sprache des Kantischen Kritizismus übersetzt werde, was allgemeiner Glaube der Zeit gewesen sei337 – Öffentlichkeit der Gesetzgebung und Rechtsprechung garantiere ihre inhaltliche Güte –, um den nächsten Absatz zu beginnen: „Nach einem Jahrhundert ernüchternder massenpsychologischer Erfahrungen und Theorien liegen uns solche Erwägungen über den Segen der Öffentlichkeit gründlich fern.“338 Worin liegt aber Smends Auffassung zufolge der in dem „Öffentlichkeitsoptimismus der frühkonstitutionellen Zeit“ dennoch enthaltende „Wahrheitskern“?339 Zugelassene Öffentlichkeit als Formulierung eines Freiheitsanspruchs und zugleich als Gewähr guter politischer Ergebnisse seien nur zwei Rechtfertigungsversuche der „begrifflichen Fahne“ der Öffentlichkeit. Ein dritter bestehe in einem Verständnis des öffentlichen Lebens, einer „Sozialität der Öffentlichkeit, als wertvoller Selbstzweck“: So die 1819 vom Großherzog von Sachsen-Weimar vorgeschlagene „Realisierung konstitutionellen Lebens“340 durch „freie[n] Verkehr zwischen den Vertretern des Volkes und dem Volke selbst“341. Für Carl Joseph Anton Mittermaier, einem weiteren Gewährsmann Smends in dieser Sache, gründet die Wirklichkeit des Rechts überhaupt erst auf einer solchen Reali336
KW 11, S. 244. Vgl. z. B. noch Feuerbach, Anselm von: Betrachtungen über die Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege. Bd. 1: Von der Öffentlichkeit der Gerichte. Von der Mündlichkeit der Rechtsverwaltung, Gießen 1821, S. 89: „Ist im allgemeinen Heimlichkeit die verbergende Hülle des Schlechten und Verworfenen, so ist dieselbe in jeder Beziehung der Natur der Gerechtigkeit an und für sich selbst innerlich zuwider.“ 338 Smend (31994), S. 467 f. 339 Ebd. S. 468. 340 Ebd. 341 Zitiert nach Smends eigener Quelle Pölitz, Karl Heinrich Ludwig: Die europäischen Verfassungen seit dem Jahre 1789 bis auf die neueste Zeit. Bd. I: Die gesamten Verfassungen des Teutschen Staatenbundes enthaltend, Leipzig 21847, S. 777. 337
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sierung342: Öffentlichkeit und Konkretisierung sind ihm bezüglich der Rechtspflege und des Staatslebens Synonyme.343 Von diesem immanenten Sinn der Öffentlichkeit als Selbstzweck ausgehend, gleichsam über ihn hinausweisend, verlaufen vor allem zwei Richtungen, identisch mit den oben von Smend bezeichneten zwei weiteren Sinnkomplexen (2. Personifizierte Öffentlichkeit und 3. Materialrechtlicher Gehalt). Die erste Linie liegt in dem Bereich kollektiven Lebens. Mit der Entstehung moderner Öffentlichkeit formiert sich auch der (schwer fassbare) Träger dieses Lebens, das Publikum, die „personifizierte Öffentlichkeit“344. Dieser vom immanenten Lebensprinzip des Staatsrechts im Bereich der Öffentlichkeit ausgehende Zweig erscheint bei Smend weniger als ein wirklicher Begründungskern der Öffentlichkeit; es ist ihm schlechthin eine historische Tatsache, ein „So-und-nicht-anders-Gewordensein“ (Max Weber), dass Verkörperung und Organisierung politischer Einheit eben nur noch, bei aller eventuellen zeitlichen Verzögerung, „in aller Öffentlichkeit“ möglich sind. Es zeigt sich aber, dass Smend nicht in erster Linie an bloße „Schau“ denkt, nicht an ein völlig passives Publikum, das als indifferente Masse dem politischen Geschehen zusieht und jede Art von Exekutivgewalt und Rechtsprechung über sich ergehen lässt. Vielmehr ist das öffentliche Leben ein Bereich, in dem die Völker „lernen (. . .), ihrer selbst, ihrer Aufgabe bewußt zu werden“345. Von diesem Gedanken aus führt Smend direkt hinüber zu dem Versuch einer eigentlichen und letzten materiellrechtlichen Gehaltsbestimmung des öffentlichen Rechts. Es ist dies nichts anderes als die Erhebung des Begriffs der Öffentlichkeit vom Faktischen zum Normativen, von der bloßen Zustandsbeschreibung zur „Bezeichnung des eigentlichsten aufgegebenen Wesens moderner Staatlichkeit.“346 Die durch die Revolution konstituierte Staatlichkeit sei mit 342 Vgl. Mittermaier, Carl Joseph Anton: Die Mündlichkeit, das Anklageprinzip, die Öffentlichkeit und das Geschwornengericht in ihrer Durchführung in den verschiedenen Gesetzgebungen. Dargestellt und nach den Forderungen des Rechts und der Zweckmäßigkeit mit Rücksicht auf die Erfahrungen der verschiedenen Länder geprüft, Stuttgart 1845. 343 Dem von Rudolf Smend angezogenen Denken von der Öffentlichkeit geht es, mit einer Formulierung Wilhelm von Humboldts gesprochen, die Smend gern zitierte, nicht um „Wissen und Reden, sondern um Charakter und Handeln“. Zitiert nach Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften. Akademieausgabe, Bd. 10, 2. Abt.: Politische Denkschriften I (1802–1810), hg. v. Bruno Gebhardt, Berlin 1903, S. 253. Es handelt sich hier um Humboldts die Universitätsgründung betreffende Denkschrift von 1809/ 10 ,Über die innere und äussere Organisation der höheren Anstalten in Berlin‘. 344 Smend (31994), S. 469. 345 Ebd. S. 470. 346 Ebd. Von seinem Verfassungsdenken lässt sich zwar sagen, es orientiere sich an der Praxis des Verfassungslebens. Es war aber das zu Missverständnissen geradezu einladende Grundversäumnis Rudolf Smends, auf die philosophischen Aspekte der Bewertungsgrundlage des immer wieder formulierten Geltungsanspruchs der „Aufgege-
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dem Anspruch aufgetreten, eine Ordnung immanenter Vernünftigkeit zu sein, ausgerichtet auf die Approbation ihrer offenkundigen Richtigkeit, Gerechtigkeit und Notwendigkeit durch das Publikum. Bezeichnend für eine grundsätzlich positive und doch modifizierende Auseinandersetzung mit dem revolutionären Anspruch in der deutschen Bemühung um den Begriff der Öffentlichkeit sei es gewesen, so Smend, dass sie sich auf konservativem, antirevolutionärem Boden vollzogen habe. Die Einheit des Rechtssystems zu wahren in dem Sinne, den irreversiblen Zerfall in eine öffentliche und eine private Sphäre zu verhindern, sei ihr oberstes Anliegen gewesen.347 Das charakteristische Element dieses Vollzugs mag insbesondere ein gewisser ethischer Vorbehalt des politischen Konservatismus in Deutschland gegenüber der Publizität als „begrifflicher Fahne“ gewesen sein: die Befürchtung, eben diese „Fahne“, die mit ihr einhergehende Rhetorik und mit dieser wiederum die republikanische Staatsform könnten sich zu „extrem rationalistischen Fanatismen“348 entwickeln, die nach der innerlichen Qualität des von diesen Ideen angeblich betroffenen Menschen gar nicht mehr fragen. Die durch die Theoretiker der Revolution rezipierte Aufklärungsphilosophie, so ließe sich der Vorwurf von konservativer Seite auf den Punkt bringen, wirke zwar philanthropisch und gebildet, sei aber seicht – und damit danach angetan, eine Dissoziation von sich-wichtig-nehmendem bürgerlich-privatem Leben und amüsantem öffentlichen Geschehen zu stiften.349 Friedrich Julius Stahl, den Smend als Repräsentanten der konservativen Rezeption anführt, habe in diesem Ringen dem Begriff der materiellen Öffentlichkeit inhaltlich den Aufklärungscharakter, die revolutionäre Zentrierung in der Volkssouveränität zu nehmen versucht. „Öffentlich“ ist somit nicht das, was für das Volk oder durch das Volk und nach seinem Willen besteht und geschieht – dem hatte der NS-Staat ja unter Adaptierung der in der Zeit vorgefundenen Ideologie ausschweifend gefrönt –, „sondern das, was zum Zweck einer höheren Ordnung und kraft eigener innerer Notwendigkeit über dem Volke nicht minder als über dem Fürsten besteht“350. Die Legitimität staatlicher Rechtsordbenheit“ nicht näher eingegangen zu sein. Dieser Geltungsanspruch ist freilich in verfassungsrechtlichen Bestimmungen nur ungenau wiederzugeben. Deutlich wird dennoch, welche verzerrende Wirkung die konventioneller Weise angezogene Unterscheidung in „Normativisten“ und „Antinormativisten“ in Smends Fall hervorrufen muss. Jedenfalls ist Rudolf Smend, im Vergleich mit Hans Kelsen, kein relativistischer Positivist. 347 Vgl. ebd. S. 471. 348 So mit Bezug auf „Menschenrechte“ formuliert von Max Weber, sicherlich keinem Repräsentanten, vielmehr einem Erben gewisser „konservativer“ Anschauungen (WuG S. 2). 349 Der Vorwurf der „amüsanten Republik“ ist auch derjenige der ,Betrachtungen eines Unpolitischen‘ Thomas Manns, die in dem revolutionärem Öffentlichkeitsbegriff, auf den sich die Rhetorik der westlichen Demokratien bezieht, die Tendenz zu unausgesetztem versprecherischen Wahlkampf und (teilweise stillschweigender) Repartierung der öffentlichen Ämter unter den Experten dieser Rhetorik sehen. 350 Stahl (31856), I, S. 566, vgl. Stahl (31856), II, Abt. 1, S. 302.
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nung ist nach dieser Rechtsphilosophie noch „mit ehernen Ketten an den Himmel gebunden“ – so von Smend selbst in Bezugnahme auf Stahl bereits 1911 formuliert.351 An jener Stelle hatte er bereits nach einer „modernen Philosophie des öffentlichen Rechts“ gerufen.352 Eine Neubestimmung des materialen Gehalts des Öffentlichen, so Smend wiederum 1955, sei bislang nicht gelungen. Die Dringlichkeit dieser Aufgabe betont Smend wohl nicht zuletzt aus dem Grunde, weil er befürchtet, die Ernsthaftigkeit des Versuchs angemessener Neubestimmung könnte, unabhängig von ihrer Notwendigkeit, bald schon nicht mehr als zeitgemäß empfunden werden. Ohne jede Überleitung, die deutlich machen könnte, dass er an dieser Stelle bereits einen Wegweiser für eine Neubestimmung des Staatsrechts aufrichtet, hebt Smend Stahls Neigung hervor, das formale Leben moderner Öffentlichkeit durchaus würdigen zu können. Die öffentliche Meinung habe er als Kontrolle der Regierung gerühmt – wenn er sie auch, wie Smend hätte hinzufügen können, sicher nicht, wie etwa Rotteck, im liberal-rationalistischen Sinne als quasi maschinelles Korrektiv fürstlicher Regierungsgewalt verstanden hat. Vielmehr zwinge sie die Regierung dazu, ihr entweder zu genügen oder aber ihr moralisch überlegen zu sein. Das, was Stahl hiermit unter Öffentlichkeit und zugleich unter Staatsbürgertum versteht, wird ihm zu einem „sittlichen Reich“, zu einer in normativem Sinn mobilisierend und organisatorisch wirkenden Institution und „höhere[n] Realisierung der Idee des Staates“, zu einem „wahren Fortschritt der Zeit“353 – auch dies wiederum nicht im Sinne liberalistischen Fortschrittsdenkens misszuverstehen, sondern als eine vom Nützlichen ins Ethische gewendete Wertschätzung der Repräsentation.354 Seit der Ära Laband, so Smend, habe „kein noch so demokratischer deutscher Jurist mehr dergleichen gewagt.“355 Unabdingbar verbunden mit der Frage nach dem besonderen Charakter des öffentlichen Rechts ist und bleibt die Notwendigkeit einer Bestimmung seines materialen Gehalts. Hypostasierte „metaphysische“ Verankerungen des staatsrechtlichen Buchstabens sind aus Rudolf Smends Sicht nicht (mehr) möglich. Diese Sicht versteht sich als ein nüchternes Wissen und Ins-Auge-Blicken gegenüber historischem Gewordensein. Die Frage lautet aber: Was tritt an die Smend (31994), S. 30. Ebd. S. 37. 353 Stahl (31856), II, Abt. 2, S. 488. 354 Diese konservative Spielart einer Wertschätzung der Öffentlichkeit entfernt sich von Goethes „tiefer Verachtung öffentlicher Meinung“ nicht im mindesten, denn die Verachtung gilt hier ja ausschließlich dem aus rein privat verstandenem Freiheitsbedürfnis erwachsenen vermeintlichen „Rechtsanspruch“, dass, um es mit den Worten von Rudolf von Jherings Buch Der Zweck im Recht (1877/83) zu sagen, „der gemeine Mann kannegießern kann“, ohne wirklich die Bürde dauerhafter Verantwortung in Sachen öffentlicher Angelegenheiten tragen zu wollen. 355 Smend (31994), S. 474. 351 352
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Stelle dieser Verankerungen? Smend folgt bei seinem Versuch Stahl so weit, dass er eine Antwort auf dem Gebiet des öffentlichen Handelns sucht, d. h. den staatsrechtlichen Buchstaben beweglich, anschaulich, erlebbar werden lässt. Die von Smend angemerkte Briefpassage aus den Lehrjahren in Erinnerung gebracht, so ließe sich sagen, dass, den kraft geschichtlicher Veränderungen irrelevant gewordenen Unterschied zwischen „Bürger“ und „Edelmann“ ignorierend, die Vorstellung von dem zum öffentlichen Auftreten und Handeln erzogenen Menschen eine genuine, modern-politische Denkungsart begründen helfe: Die Vorstellung (und Realisierung) eines menschlichen Typus nämlich, der nach vormals ausschließlich dem Bürger zukommenden Maßstäben „ist“, zugleich aber, wie der Lehrjahre-Brief formuliert, ganz als „öffentliche Person“ auftritt und wirkt.356 Dass „Öffentlichkeit“ in dieser Weise „als Raum ständiger fließender Auseinandersetzung zwischen Nation und Regierung“ entstehe, wie Smend es unter Rekurs auf den französischen Staatsrechtler Maurice Hauriou formuliert357, daraus ist in der Rezeption Smends eine typische Wendung geworden. In Anbetracht des zuvor Gesagten sollte sie jedoch nicht allzu „unpersönlich“ und „prozedural“ begriffen und der in ihr waltende Gedanke des Berufs zur „öffentlichen Person“ und des bewusst auf sich genommenen Amts nicht vernachlässigt werden. Wie zuvor hinsichtlich des Erlebnis-Begriffs stößt man hier an das staatswissenschaftliche Kernanliegen Rudolf Smends, das die Smend-Forschung als solches deutlich herauszustellen verabsäumt hat. In der ersten Fußnote der Erörterungen Zum Problem des Öffentlichen und der Öffentlichkeit358 bemerkt Smend, eine abschließende Begriffsbestimmung des öffentlichen Rechts sei eventuell von Wilhelm Hennis zu erwarten. Hennis’ Dissertation des Jahres 1951, eine Auseinandersetzung mit der Rechtslehre Hans Kelsens und Carl Schmitts Theorie von der Souveränität, zielte bereits in diese Richtung.359 Vollkommen deutlich wird der Bezug auf Smends Öffentlichkeits-Aufsatz von 1955 dann in Hennis’ Festschriftbeitrag zu Rudolf Smends achtzigstem Geburtstag, Amtsgedanke und Demokratiebegriff (1958/62).360 Hennis spricht hier, auf Smend rekurrierend, von dem „uns aufgegebene[n] Begriff der Demokratie“. Dessen Bestimmung laufe Gefahr, befangen in dem Widerstreit von repräsentativem und ple356 Goethe denkt hier mit den Worten Wilhelm Meisters an den „honnête homme“ Pascals sowie an den englischen „gentleman“, dessen Vorbildlichkeitswirkung auch Max Weber in ,Wahlrecht und Demokratie in Deutschland‘ (1917) und dann wieder in der von Rudolf Smend rezensierten Schrift so sehr herausstreicht, um sie dem deutschen Couleurwesen und den Ehrbegriffen des Beamtenstandes entgegenzusetzen. Vgl. GPS S. 270 ff. und 320 ff. 357 Ebd. Vgl. Hauriou, Maurice: Précis de droit constitutionnel, Paris: Sirey 1923, S. 214 f. 358 Vgl. Smend (31994), S. 462 Anm. 1. 359 Siehe Hennis (1951/2003), insb. S. 104 ff. 360 Siehe Hennis (1973), S. 9–25.
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biszitärem Demokratieverständnis, einen „vermeintlich irrelevant gewordenen geschichtlichen Stoff“ auszuklammern – eben den Gedanken, „daß alle herrschaftliche, politische Gewalt Amtsgewalt“ sei.361 Die Einsicht, dass der zentrale Begriff der repräsentativen Demokratie nicht die Volkssouveränität, nicht eine identitäre Willensrelation, sondern das Amt sei, verbunden mit der an dieses gestellten Anforderung, den Zwecken des Gemeinwesens dienlich zu sein, verdankt Hennis wohl zu gleichem Maße der Schülerschaft bei Smend sowie der intensiven Auseinandersetzung mit den politischen Schriften Max Webers.362 Hennis betont jedoch auch, dass dieses Verständnis zugleich als „Gemeingut der älteren europäischen politischen Vorstellungswelt“363 anzusehen sei. Zu dem sachlichen Komplex des öffentlichen Amtes gehöre untrennbar die Vorstellung vom – im eigentlichen Wortsinn – „Beruf“ zur Politik sowie die sozialen Qualitäten des Vertrauens und der Verantwortlichkeit. Das Dilemma des Smendschen Verfassungsdenkens sowie das seiner Rezeption besteht aber darin, dass das Amt, als materialer Gehalt des öffentlichen Rechts, nur wieder auf sich selbst als Legitimitätsquelle verweist, insofern es nichts gäbe, auf das sich Amt und Amtsträger beziehen könnten. Die normative Bestimmtheit in der Wertschätzung von Öffentlichkeit bezieht sich nicht auf die Öffentlichkeit als entweder anonyme Sphäre oder soziales Klima des Konsenses, sondern auf im öffentlichen Raum die besondere Aufgegebenheit staatlicher Ordnung repräsentierende personelle Qualitäten – Regierender sowie Regierter –, somit auf einen bestimmten Typus des öffentlichen Menschen – und auf das, was wiederum ein qualitativ verstandenes Staatsbürgertum ethisch-normativ bestimmt. Es wäre ein Trugschluss zu meinen, Smend habe sagen wollen, alle politische Regierungsgewalt legitimiere sich selbst, wenn sie nur irgend staatsrechtlich als Amt verfasst sei. Der staatsrechtliche Buchstabe kann allein nicht die Quelle der Güte staatlicher Rechtsordnung sein. Aber auch die Dynamik des von ihm angeregten, repräsentativ und performativ verstandenen Besetzens von politischen Verfassungsämtern bedarf der Inklusion einer Persistenz „höherer Normen und Ordnungen“. Der Öffentlichkeits-Aufsatz von 1955 ist in eins zu lesen mit der Rede Staat und Politik des Dezembers 1945. Das Verfassungsdenken Smends sowie dessen Rezeption dürfen nicht davon absehen, zu erörtern, worauf die Idee der Wahl und des Amtes, die der Verantwortung und des Vertrauens sich ethisch-normativ beziehen. Von woher leiten sich „Würde“ und „Hoheit“ des Amtes und des Amtsträgers ab, sobald sich der Staat nicht länger auf dem kulturellen Boden der Frühen Neuzeit befindet? Dies ist das eigentliche Problem der Öffentlichkeit, des Staatsrechts und seiner Institutionen. 361
Ebd. S. 9. Vgl. Hennis (1987), S. III (Vorbemerkung). Weiter unten (ebd. S. 7 Anm. 12) berichtet Hennis, dass er gerade von Rudolf Smend den Hinweis zur Befassung mit Max Weber erhalten habe. 363 Hennis (1973), S. 11. 362
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bb) Der Institutionen-Aufsatz (1956) – Staat als Beruf Der Aufsatz Das Problem der Institutionen und der Staat mit dem maßgebenden Untertitel Staat als Beruf ist 1956 als historischer Beitrag in den Verhandlungen der Institutionenkommission der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg vorgetragen worden, sollte ursprünglich in einem Bericht über die Arbeiten der Kommission veröffentlicht werden, um schließlich erst 1967 ohne eine Neubearbeitung in der Zeitschrift für Evangelische Ethik zu erscheinen. Der Text beginnt und schließt für die Institutionentheorie unbefriedigend: „Den mir aufgegebenen Weg von der Institution zum Staat habe ich gemeint nicht gehen zu sollen. (. . .) [M]einer vorgetragenen Denkweise (. . .) ist es (. . .) eine Frage, ob sie der Institutionenforschung so weit entgegenkommt, wie diese annimmt“364. Smend gibt zu verstehen, dass ihm Institutionentheorie zu leicht „in die Gefahr ontologischer Spekulationen“ gerate.365 Hans Dombois habe seine Forschungen bewusst mit der Institution Ehe begonnen, und zwar mit einer Beantwortung theologischer Fragen, die er eine „phänomenologisch anmutende Sicht“366 nenne. Es geht also in erster Linie um Wertbeziehungen und deren Träger, um sittliches Bewusstsein, um Ethik, nicht um Systeme und Prozesse. Etwa zehn Jahre zuvor, in Staat und Politik, hatte Smend in diesem Sinne bereits ausgeführt: „Staat soll sein, wie Ehe sein soll, und wie auch im übrigen Rechtsgemeinschaft sein soll – die einzelne Staatsbildung und die Verfassungsordnung, die er sich gibt, geschieht ebenso wie die Ehegesetzgebung, die ein Land sich gibt, und die einzelne Ehe, die geschlossen wird, unvermeidlich im Gehorsam gegen höhere Ordnungen, die uns Menschen aufgeben, in Ehen, aber auch in Staaten zu leben.“367 Smends Auffassung vom Staat setzt offenbar den Bestand von Kulturwerten oder „Sittengesetzen“ als letzte Orientierungen voraus – oder besser gesagt, unter Berücksichtigung des Smendschen Vorbehalts gegen die Hypostasierung sogenannter Werte: bezieht derartige Sinngebungen doch in sein Verfassungsdenken ein. Wie ist daraufhin das Problem der Institution Staat, dieses „Proteus unter den Institutionen“368, zu entwickeln? Die Aufgaben einer modernen Staatslehre Smend (31994) S. 500, 516. Ebd. S. 500. 366 Dombois, Hans (Hg.): Recht und Institution, Witten-Ruhr 1956, S. 62. 367 Smend (31994), S. 369. Seine kritischen Anmerkungen zu Hegel und Kant zeigen, dass Smend die Ehe weder als irdisch-sittliche Pflicht von Staats wegen begreift noch als schwankende Liebe, über die die Rechtsnorm sich Herr macht. Die Ehe hat, mit Walter Benjamin zu sprechen, niemals im Recht ihre Rechtfertigung, als bloße Institution, sondern einzig als ein Ausdruck für das Bestehen der Liebe. Darin liegt die oben bereits angesprochene trinitarische Qualität der Ehe. 368 Ebd. S. 501. 364 365
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könnten an drei besonderen Fragen verdeutlicht werden, die konventionelle Lehrstücke (topoi) der Staatslehre seien: 1. an der Frage der Staatszwecke, 2. an der Frage der Subordination, der persönlichen Einordnung in den Staat, und 3. an der Frage nach Organisation und Herrschaft im Staat.369 Die geschichtliche Reihe der sogenannten Zweckverwirklichungen, die an ihrem Anfang mit dem rationalen Absolutismus den traditionalen Staat abgelöst und ihn „durch ein Gefüge rationaler Immanenz“ ersetzt oder wenigstens als ein solches missverstanden habe, stehe heute, angesichts einer nie geahnten Fülle von Leistungen in Daseinsvorsorge, Wohlfahrt und Dirigismus, „an einem Ende, an dem sie nicht weiter weiß.“ Mit Recht habe man gesagt, dass der Staat zwar nicht instrumental versagt habe, „aber um so mehr vor dem Herzen der Menschen (. . .) – eben vermöge seiner Finalisierung, Instrumentalisierung und damit seiner völligen Substanzentleerung.“370 Man verstehe das politische Leben aber falsch, wenn man in ihm nur Leistungs- und nicht auch Lebenswerte sehe. Dahingestellt sein lassen möchte Smend die Frage, ob das politische Leben in der Demokratie im Schumpeterschen Sinn und damit „ausschließlich in dem ständigen Prozeß der Auseinandersetzung zwischen den politischen Mächten gefunden und die Gewinnung sachlicher Ergebnisse sozusagen nur als ein unmittelbares Produkt der Demokratie verstanden werden“371 dürfe. Jedenfalls verstehe man dieses Leben „als eine Lebenstotalität, in der alle einzelnen Zielsetzungen und Zweckverfolgungen dialektisch zusammengeordnet sind und in die große Dialektik des politischen Lebensprozesses“ eingehen, nur richtig als ein zugleich Aufgegebenes, „das heißt als einen Beruf.“ Dieses sei es, was die politische Gegenwart verloren habe und was sie, „außerhalb aller bewußten Ohne-mich-Haltung, leidenschaftlich und verzweifelt“ vermisse.372
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Vgl. ebd. S. 503. Ebd. S. 504. Smend verweist an dieser Stelle auf Plessner, Hellmuth: Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche, Zürich/Leipzig 1935, S. 140 f. Deutlich wird an dieser Stelle, wie wenig die Weimarer Republik in Smends Retrospektive von 1956, ganz im Gegensatz zu dem bis heute von Historikern sowie von Politikern ostentativ wiederholten Urteil, an ihren „äußeren“ Instabilitäten – „Parteiensplitterung“, „Wirtschaftskrise“ etc. – scheitern musste. Die „Substanzentleerung“ gerade seines eigenen Arbeitsgebietes, des öffentlichen Rechts, so ist bei Smend zu lesen, habe zu der Verarmung des politischen Denkens wesentlich beigetragen. 371 Smend (31994), S. 505 verweist auf die deutsche Erstausgabe von Schumpeter, Joseph A.: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Bern 1946, S. 427 ff. Es ist zu bedauern, dass es hier oder an anderer Stelle nicht zu einer gründlicheren Auseinandersetzung mit dem Max Weber-Schüler Schumpeter kommt. Immerhin flackert hier kurz wieder der noch zu erörternde Technizismus-Vorwurf gegenüber Max Weber auf. Es bleibt hier darauf hinzuweisen, dass dieser Vorwurf sich im Falle Rudolf Smends weniger auf Webers Verständnis politischer Institutionen, sondern auf ein bestimmtes Menschenbild zu beziehen scheint. Verwiesen sei erneut auf das Kapitel II des 4. Teils. 372 Smend (31994), S. 505. 370
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Das zweite „Lehrstück“ betrifft das Problem der Einordnung des Einzelnen in das Ganze des Staatslebens. Er gehöre nicht dazu, weil er zum Staat in einer räumlichen Beziehung stehe, weil er der staatlichen Macht unterworfen sei, also vermöge einer mechanischen oder seelischen Kausalität, auch nicht auf Grund bloßer Normativität staatlichen Rechts, das ihn zum Staatsangehörigen, zum Bürger und Untertan mache, also vermöge einer rechtlichen Mitgliedsstellung, und schließlich auch nicht vermöge vernünftiger Überlegungen von Zweckverfolgung und Entscheidung. Dagegen habe er, Smend, schon früher zu zeigen versucht, „wie alle scheinbar nur zwecktechnischen Einrichtungen im Staat zugleich auch den Sinn haben, diese lebendige Einordnung in den politischen Lebensvorgang anzuregen und zu gewährleisten: am deutlichsten in den politischen Lebensvorgängen der Verfassung“. Und unmittelbar anschließend rekapituliert Smend nochmals die von ihm aufgestellten Integrationstypen: funktioneller Art (Wahlen, parlamentarische Verhandlungen, Abstimmungen, Vorgänge der Regierungsgewalt und der aktiven und passiven Beteiligung daran), persönlicher Art (durch Monarchen, Staatshäupter, Regierungschefs, Minister und Abgeordnete) sowie durch Sachgehalte des politisch-historischen Lebens, vor allem in ihrer symbolischen Präsenthaltung. Diese dialektisch verwickelte Totalität beruhe jedoch „nicht auf einer prästabilierten Harmonie, nicht auf einem soziologischen Gesetz (. . .), sondern darauf, daß es Erfüllung von Aufgegebenem, Erfüllung eines Berufes ist“. Der Einzelne wird aufgerufen, seine Kräfte und Neigungen auch im politischen Ganzen spielen zu lassen, er wird zugleich dem Ganzen eingeordnet, in Gewährung und Begrenzung seiner politischen Freiheit. So werde das Ganze getragen vom Leben der Einzelnen, in den günstigsten Fällen an einseitiger, tyrannischer Machtausübung gehindert, andererseits vor regellosem Kampf bewahrt. Hier, also in der Zuweisung und Limitierung von Herrschaft, liegen für Smend die „wesentlichen Gesichtspunkte für die Fragen der Theorie der Institutionen“.373 Mit dem dritten Lehrstück, der Frage nach Organisation und Herrschaft im Staat, rührt Smend am unmittelbarsten an die Jahrzehnte früher angesiedelten wissenschafts- und geistesgeschichtlichen Voraussetzungen gegenwärtiger Staatslehre. Der Positivismus der jüngsten Vergangenheit, so Smend, habe die Verfassung entweder juristisch verstanden, im Sinne einer Vereinssatzung, also als die Normierung von Zweck und Mitgliedschaft, sowie vor allem als die systematische Ordnung der Organe, der Willensbildung, der Herstellung von Handlungsfähigkeit. Oder er habe sie, wie etwa Max Weber, in soziologischer Wendung instrumental verstanden als technisches Mittel, als mechanische Apparatur für bestimmte Zwecke.374 Beide Denkweisen seien kein Verstehen im eigent-
373 374
Smend (31994), S. 506. Vgl. ebd.
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2. Teil: Verfassungsdenken in Rudolf Smends staatsrechtlichem Werk
lichen Sinne. Beide hätten den Aspekt, dass die Verfassung vor allem Ordnung und Anregung eines politischen Lebensprozesses sein wolle, vollkommen übersehen. Es sollten mit der Verfassung nicht einfach bloß Rechtsakte von Staats wegen juristisch möglich gemacht werden, vielmehr sollten die Anordnungen der Verfassung das politische Leben als solches anregen. Der in Gang gesetzte Lebensprozess mit all seinen wesensmäßigen Eigenarten und Spannungen sei als solcher Selbstzweck, so dass Hans Dombois geradezu vom „Sexus der Nationen“ gesprochen habe.375 Die Verkümmerungen des positivistischen und formalistischen Verfassungsdenkens würden hinsichtlich dieser Inhaltsbestimmung, dass das Staatsrecht eine Recht von Ämtern sei, besonders deutlich, vergleiche man sie mit älterem Verfassungsdenken, das in erster Linie Ämterlehre gewesen sei.376 Diese habe nicht in formalen und quantitativ bemessenen Kompetenzen gedacht, sondern in qualitativ bestimmten Aufgaben und Zuordnungen. Indem sie klar zwischen autoritas und potestas unterscheide, eröffne sie auch den Raum für „die Würde des Gehorchens und die Verantwortlichkeit des Gebietens“377, für die besondere Qualität der Herrschaft und des Herrschaftlichen, für ein Leben in verfassungsmäßigen Ämtern, auch und gerade in der Demokratie. Auf alle drei lehrstückhaften Fragen – nach den Staatszwecken, Einordnung und Organisation – antwortet Smend jeweils mit der Berufsidee. Der Staatsbürger, insbesondere der der republikanischen Demokratie, ist ein Amtsträger. Die drei genannten Topoi der Staatslehre führen gleichermaßen zu dem einen Topos der Konditionalität der Republik hinsichtlich des menschlichen Typus; dies ist bereits das eigentliche Thema der Schrift über ungeschriebene Normen von 1916, dem Grundrechts-Referat von 1927, der Bürger-Rede von 1933 sowie des Öffentlichkeits-Aufsatzes von 1955. Ist aber die Berufsidee etwas, das sich ganz und gar selber trägt? Obwohl seine Andeutungen zu einer „verstehende[n] Lehre vom Staat (. . .) ganz vom Humanum her“378 gedacht seien, so Smend, führten sie dennoch zu denselben Kriterien, wie sie Dombois für die Ehe als Institution entwickelt habe379: „[U]nverfügbar und bedingungsfeindlich, (. . .) das Leben der Men375
Ebd. S. 507 und Dombois (1952), S. 21. Davon zeugt Theodor Mommsens Geschichte des römischen Rechts ebenso wie die Staatslehren Gneists, Bluntschlis, Stahls und Lorenz Steins. Umso erstaunlicher ist es m. E., dass der Begriff des Amtes im Sachregister aller drei Bände von Michael Stolleis’ ,Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland‘ (bis auf eine einzige Eintragung bezüglich des Stichwortes ,Amtshaftung‘ im zweiten Band) gar nicht auftaucht. 377 Smend (31994), S. 507. 378 Ebd. S. 508. 379 Vgl. Dombois, Hans: Das Problem der Institutionen und die Ehe, in: Familienrechtsreform. Dokumente und Abhandlungen, hg. v. Dombois, Hans/Schumann, Friedrich Karl, Witten-Ruhr 1955, S. 132 ff. sowie Dombois (1952), S. 19 ff. 376
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schen in seiner Breite umfassend, statutsbegründend“ in einem Akt, der sich nicht in einer rein rechtsgeschäftlichen Bejahung erschöpfe, sondern „der einer tatsächlich jedenfalls sich immerfort erneuernden Einordnung“ gleichkomme. Der Staat liege „nicht in jenem Bereich des Habens, Verfügens, Veranstaltens, in den ihn das mechanistische und auch das formaljuristische Denken verlegt“. Das entscheidende Vergleichsmoment zur Ehe besteht für Smend darin, dass es sich „beide Male um vorgegebene, unverfügbare Berufe handelt.“380 In diesem „Berufenwerden zu einem tiefstbegründeten Beruf und in seinem Ergreifen“, im Fall des Staates über den gesetzmäßigen Befehl, den Verwaltungsakt, Steuerbescheid, die Polizeiverfügung und den Gestellungsbefehl hinausgehend in Form eines echten Rufes „an die freie, sich sittlich entscheidende Persönlichkeit“ – bestehe das Vergleichbare zwischen Staat und Ehe: „Beide nehmen in einzigartiger Weise in Verantwortung.“381 „Unverfügbar“ ist dies Berufensein jedoch nur zu nennen, insofern das, woher es – „tiefstbegründet“ – seine Bestimmung bezieht, selbst unverfügbar ist. Die Anbetung des eigenen (Berufs-)Erfolgs in Folge des Gefühls, berufen zu sein, wäre keine solche tiefste Begründung. Vor dem Hintergrund fortschreitender Unzulänglichkeit der politischen Welt für das persönliche Miterleben, sei die in der Verfassung liegende Aufforderung zur Freiheit im Sinne des Berufes in der jüngsten deutschen Geschichte missverstanden worden: Entweder in kümmerlicher bourgeoiser Verdrehung des Grundrechtsteils der Verfassung, die zu der „spießbürgerlichen Distanzierung einer Ohne-mich-Gesinnung vom Staat“ geführt habe, oder aber in der „Übersteigerung und Verzerrung des Dienstgedankens (. . .): beruhend auf geschichtlich begründeter Autoritätsgläubigkeit und Unterwerfungs- und Gehorsamsfreudigkeit“382. Das Bild „unserer Großväter und Urgroßväter“ sei in den verschiedensten Formen karikiert, die geistesgeschichtliche Grundlage des Parlamentswesen von Carl Schmitt als der Aberglaube einiger Doktrinäre vorgeführt worden, die die öffentliche und freie Verhandlung als einen selbsttätigen Apparat automatischer Wahrheitsfindung begriffen hätten383 – „als ob unsere Großväter und Urgroßväter solche Narren gewesen seien“ – und das ausgerechnet angesichts leidenschaftlichen Berufsbewusstseins, das gerade für die klassische Periode deutscher Parlamentsgeschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts so bezeichnend gewesen sei.384
Smend (31994), S. 508. Ebd. S. 509 f. 382 Ebd. S. 510 f. 383 Gemeint ist Schmitts Studie über ,Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus‘, deren Thesen, als Teil des Parlamentarismus-Streites zwischen Schmitt und dem Heidelberger Staatsrechtler Richard Thoma, Smend in entscheidender Weise seinen eigenen Parlamentsbegriff haben entwickeln lassen. 384 Smend (31994), S. 510. 380 381
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2. Teil: Verfassungsdenken in Rudolf Smends staatsrechtlichem Werk
In der Geschichte, dem Geschichtsbild, liege aber gerade „das Problem des Berufs des Staats selbst oder besser des Volks in seinem Staat“ begründet, indem es als eine „Leitlinie des politischen Handelns“ verstanden würde, möge man es Mythos, Schicksalsbild oder Legende nennen. Gewinne es „orientierende geschichtliche Gestalt“, so liege hier „der tiefere Grund und die besondere Färbung der Inanspruchnahme bestimmter Pflichten und Verantwortungen“385. Allenfalls die Vollendung des kleindeutschen Nationalstaates mit der Kaiserkrone von 1871 – mit der freilich nicht einmal gekrönt worden war, da ja eine Krönung überhaupt unterblieben war – habe im Falle des deutschen Volkes ein solches Berufsbild dargestellt. Bis 1918 habe die Lähmung im praktischpolitischen Berufsbewusstsein auf obrigkeitsstaatlicher Überlieferung beruht, „seitdem mehr auf dem Zweifel an einer sinnvollen Aufgabe, an irgend etwas wie einer geschichtlichen Sendung.“ Die wissenschaftliche Theorie habe hiermit unmittelbar zusammengehangen: Die Statik des formaljuristischen Positivismus, zugleich die in ihrer Bedeutung überschätzte Überhöhung des rationalen „Anstalt“-Staates386 in Otto von Gierkes Lehre von den realen Verbandspersönlichkeiten und ebenso das „kausal-mechanische Denken der Soziologie, nicht zuletzt Max Webers“ – sie alle seien auf dem Boden einer obrigkeitsstaatlich geprägten Welt gewachsen, der „Auftrieb der fordernden Dynamik eines verpflichtenden Geschichtsbildes“ habe ihnen gefehlt.387 Hans Dombois habe bezweifelt, dass ethische Begriffe in die Theorie der sozialen Erscheinungen hineingetragen werden dürften.388 Dem widerstrebend, möchte Smend doch auf die beiden von ihm herausgestellten Dinge – die Dialektik des Lebensprozesses und die Erfassung der Beteiligten daran als Berufsaufgabe – als Kategorien eines Staatsverständnisses jedenfalls nicht verzichten: „Ohne einen sinngebenden Berufsgedanken steht am Ende der politischen Instanzenreihe immer die normativ indifferente Dezision Carl Schmitts, das heißt die reine, maßstabslose Faktizität. (. . .) Ohne einen solchen Gedanken führt die unbegrenzte Freiheit der parlamentarischen Sphäre der Verfassung zu dem Ungedanken, daß die Repräsentativorgane tun dürfen und können, was sie wollen,
385
Ebd. S. 513. Als in dieser Beziehung immer noch aufschlussreich zu nennen ist Muth, Heinrich: Melchior von Osse und die deutsche Verfassungsgeschichte, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 2 (1953), S. 125 ff. Unter Bezugnahme auf Oestreich, Gerhard: Das persönliche Regiment des Fürsten am Beginn der Frühneuzeit (1935), in: ders.: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969, S. 201 ff. kommt Muth zu dem Ergebnis, dass die Entwicklungsgeschichte deutscher Staatsgestaltung „bis in die jüngste Zeit hinein immer wieder um das von Osse erstmalig gekennzeichnete Dilemma einer persönlichen Herrschaftsgestaltung und einer bürokratisch-anstaltlichen Staatsorganisation kreist“ (ebd. S. 175). 387 Smend (31994), S. 514. 388 Vgl. Dombois (1955), S. 86. 386
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und daß man von da aus auf eine entsprechende sinnlose Freiheit des repräsentierten Volkes selbst schließt.“389 Um klar zu stellen, dass Mächtigkeit nicht Allmacht bedeute, und um auch die Repräsentativorgane in dieser Hinsicht als Amtsträger in Anspruch zu nehmen, „bedarf es des normativen Berufsgedankens als Voraussetzung.“ Die Grenzfälle negativer Orientierung solchen Denkens sieht Smend zum einen in starren Objektivierungen, in den Faktizitäten eines positivistischen Dezisionismus oder anderer naturalistischer, ökonomischer, geschichtlicher Gesetzlichkeiten; zum anderen in einem Skeptizismus und Subjektivismus, der zu einer „ethisierenden Auflösung der Institutionen“ führen müsse. „Mit beiden Grenzfällen ist die Versuchung gegeben, in Ehe und Staat eine Art Omnibus zu sehen, in den man einsteigt zu einer Fahrt ins Blaue unbegrenzter objektiver oder subjektiver Möglichkeiten. Beide sind, soviel ich sehe, nicht ohne eine gewisse polytheistische Note.“390 Sind aber das Geschichtsbild und seine allenfalls legendenhaft zu nennende Legitimationsweise wirklich so entscheidend für Amtsgedanken und Berufsidee? Oder sind sie das lediglich, wie Smend sagt, als „Mythos“, der wiederum nichts anderes ist als ein ebenso notdürftiges wie notwendiges Konkretisieren von Wertbezüglichkeiten „höherer“ Art? Der Vorwurf der „polytheistischen Note“ bildet eine der am stärksten zu einem Respons herausfordernden ideengeschichtlichen Valenz hinsichtlich der Frage nach Welt- und Menschenbild Rudolf Smends und seiner daraus folgenden Auffassung vom Menschen im Verfassungsrecht. Die Einsicht in Berufsidee und Aufgegebenheit des Staates sei verstellt worden durch den Zweifel an Existenz und Gültigkeit „höherer Ordnungen“. Der von Smend so eindringlich herangezogene Vergleich des Staates mit der Ehe, so anschaulich er ist, stellt vor unzeitgemäß wirkende Fragen und Probleme und gehört so wohl zu den Textstellen in seinen Schriften, denen die jüngere Forschung hauptsächlich Ablehnung und Unverständnis entgegenbringt.391 Unverständnis bezüglich des Ehe-Vergleichs musste das Smendsche Verfassungsdenken schon von Seiten des rechtsdogmatischen Positivismus gewärtig sein. Formaljuristisch bleibt die sittliche und zugleich konstitutive Anteilnahme des Einzelnen am Staat immer eine fernliegende, „verschwommene“ Sache. In Smends Augen zeigten sich in dem ethischen Agnostizismus des formaljuristischen Positivismus die dem obrigkeitsstaatlichen Begriff zu Grunde liegende Tendenz zu „Eigenbrödelei, zu „traditionslosem Individualismus“, zudem das „Fehlen der hilfreichen ,Mechanik sozialer Formen‘“392 sowie der „Zweifel an Smend (31994), S. 514 f. Ebd. S. 515. 391 Siehe insb. erneut Berthold (1997), Beitrag der Integrationslehre. 392 Smend (31994), S. 511 f. Den Ausdruck „Mechanik sozialer Formen“ übernimmt Smend von Ernst Robert Curtius, der die Formulierung in seinem großen 389 390
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einer sinnvollen Aufgabe“393 des politischen Gemeinwesens überhaupt. Diese Staatsrechtslehre habe vom Staat als Höchstes auszusagen gewusst, „daß er eine juristische Person sei“; jede Erwähnung „aufgegebener“ Bestimmungen des Staates im Bezug auf „höhere Ordnungen“ „außerrechtlichen“ Charakters galten ihr als „unwissenschaftlich“. Welche „über Staat und Staatsmacht stehenden Normen und Ordnungen“, den philosophisch-anthropologischen Aspekt seines Verfassungsdenkens ausmachend, sind aber bei Rudolf Smend gemeint?394 cc) Die Bundesverfassungsgerichts-Rede (1962) – Verfassungsaneignung als Aufgabe Karlsruhe, 26. Januar 1962: Rudolf Smend hält den Festvortrag anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts. Nach dem Krieg konzentrierten sich Smends Publikationen hauptsächlich auf Bereiche, auf die er sich bereits nach seiner zwangsweisen Übersiedlung von Berlin nach Göttingen 1935 verlegt hatte, nämlich kirchenrechtliche, universitäts- und fachhistorische Studien. Die Einladung zur Karlsruher Rede bildet dann den krönenden Abschluss einer lebenslangen verfassungstheoretischen Beschäftigung. Ist nicht zu vermuten, dass Smend an solch exponierter Stelle seine zentrale Fragestellung, die sein gesamtes Werk durchziehenden Leitmotive klärend artikuliert hat? Beeindruckend sind die Fähigkeit zur realistischen Einschätzung der Situation sowie der optimistische Ausblick, zu denen der achtzigjährige Smend selbst in dem resignativen Wechsel der Position (im Hinblick auf früher Geschriebenes) bereit ist. Beeindruckend und an dieser Stelle von größter Relevanz ist darüber Proust-Essay (1925 zuerst erschienen) gebraucht, um den französischen Gesellschaftsroman von der „Dynamik individuellen Werdens“ des deutschen Entwicklungsromans zu unterscheiden. Siehe Curtius (1955), S. 91. Im ersten Band der Recherche findet sich eine Passage, die recht genau zu dem passt, was sowohl Curtius als auch Smend sich unter „hilfreicher Mechanik sozialer Formen“ vorgestellt haben mögen. Vgl. PWFA 2.1, S. 162 f. 393 Smend (31994), S. 514. 394 Für das Zitat siehe erneut Smend (31994), S. 369. Einstweilen soll der Ansatz zu einer Antwort noch in die Fußnote verlegt werden. In Smends Institutionen-Aufsatz findet sich ein Hinweis (ebd. S. 512 Anm. 30) auf den Proust-Essay von Ernst Robert Curtius, der 1955 bei Suhrkamp wiederaufgelegt wurde. In dieser von Smend offenbar rezipierten Studie erörtert Curtius das Wesen der Kunst, welche vielleicht am reinsten die Gesetze der geistigen Wirklichkeit widerspiegele. Aber dieselben Gesetze seien in allen anderen Sphären des Geistes erfassbar, und jedes tiefere geistige Leben führe näher an sie heran. Jedes geistige Streben höherer Art gebe sich kund als etwas Forderndes und Verpflichtendes – als etwas, das mehr sei als das Leben. Der Tod des Schriftsteller Bergottes im fünften Band der ,Recherche‘ eröffne die Frage nach Tod und Unsterblichkeit, nach der Vorstellung über das Leben hinausgehender Normen und Ordnungen, die zugleich verpflichtend in das Leben hineinwirken. Vgl. Curtius (1955), S. 125 ff. Vgl. die gemeinte Stelle bei Proust, die m. E. für Smends theologisch grundiertes Menschenbild als bezeichnend gelten kann (PWFA 2.5, S. 263 f.). Siehe dazu weiter unten 5. Teil, Kapitel II. 3.
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hinaus, wie Smend eine kaum versteckte, der Sache nach überaus scharfe Anklage gegen die Verfassungspraxis und das politische Bewusstsein der Bundesrepublik in ein freundliches Lob der verfassungsgerichtlichen Arbeit kleidet, deren Integrität ihm jedoch kein Trost über den Tiefstand des politischen Lebens ist. Auf die ihm eigene aphoristische Weise, die wichtigsten Aspekte seiner früher vorgelegten verfassungstheoretischen Schriften berührend, fasst Smend nicht nur die zehnjährige Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts zusammen, sondern zugleich und allgemeiner dreizehn Jahre bundesrepublikanische Erfahrung: „Das Grundgesetz gilt (. . .) so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt, und die Literatur kommentiert es in diesem Sinn.“395 Kraft eigenständiger Mächtigkeit der Justizgewalt besitze das Bundesverfassungsgericht seinen vollen Anteil nicht nur an der Klärung und Festigung, sondern auch „an der Grundlegung unseres Verfassungsrechts im ganzen“396. Sogar die Übernahme „rechtsschöpferischer Funktion“ wird der obersten Jurisdiktion zugetraut.397 Zweifelsohne kommt es hier zu einer Neubestimmung des Orts der Verfassungsjustiz innerhalb der geistig-politischen Welt. Denn die Rechtsprechung wird nun, ausdrücklich unter Rekurs auf die jüngsten geschichtlichen Erfahrungen, mit der „Verfassung in einem tieferen Sinne“, mit dem Ringen um ihre Legitimität in direkte Verbindung gebracht. Gerade ein spezifischer Mangel an Legitimität gehöre aber zum Bild der bundesrepublikanischen Verfassungswirklichkeit. Das Bonner Grundgesetz als positives Verfassungsrecht leide im Gegensatz zur Weimarer Verfassung eher darunter, „daß es zu wenig, als daß es zu sehr in Frage gestellt würde.“398 Die hoch zu achtende gesetzgeberische Leistung ähnle einer Treibhauspflanze399: entstanden nicht in der politischen Freiheit eines eigenständigen Staates, sondern geschützt von den Besatzungsmächten, in seinem Inkrafttreten abgeschirmt durch das Verbot der radikalen Parteien, hingenommen von einer geschichts- und politikmüden Gesellschaft. Mit dieser Müdigkeit hänge aber die unleugbare Schwäche der nationalen Symbole zusammen.400 Denn die Müdigkeit lässt sich diagnostizieren als fehlende Bereitschaft, das politische Geschehen mitzuerleben und sich zur Teil- und Einflussnahme animieren zu lassen. Die Verfassung sei deswegen kein nach Gebühr geschätzter Besitz. Auch die beste Verfassung sei nicht mehr als eine Chance, so Smend, Smend (31994) S. 582. Ebd. S. 584. 397 Vgl. ebd. S. 583 f. 398 Ebd. S. 585. 399 Zweifelsohne eine Anspielung auf Wolfgang Koeppens 1953 erschienen Bonner Roman ,Das Treibhaus‘. 400 Vgl. ebd. S. 585. 395 396
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2. Teil: Verfassungsdenken in Rudolf Smends staatsrechtlichem Werk
den CDU-Politiker Gerhard Schröder (von 1953 bis November 1961 Bundesinnenminister, im vierten Kabinett dann Außenminister) zitierend: „Rechtlich in Kraft gesetzt ist sie, aber nicht verwirklicht. Wirklich ist sie, wenn das Volk sie sich innerlich zu eigen gemacht hat.“401 In der Anmerkung hinzugefügt ist ein Verweis auf einen 1959 im Rahmen der 2. Bundestagung der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen in Kassel gehaltenen Vortrag Adolf Arndts, ohne jedoch dessen Wortlaut genau zu zitieren. Arndt endet seinen Vortrag mit den Worten, er habe darzulegen gewünscht, „daß die Legalstruktur, deren Sinn nicht unmittelbar aus ihr selber ablesbar ist, erst durch ihre Deutung wirklich werden kann (. . .). Ist es das Wesen des Demokratischen, die bewußten Vorstellungsinhalte im gesellschaftlichen Zusammensein der Menschen zur Herrschaft zu bringen, dann erfordert Demokratie, dem Einzelnen zur Bewußtheit zu verhelfen und dadurch den Grad seines Freiseins zu erhöhen. Demokratie, so verstanden, läßt sich durch kein noch so hohes Maß an Geordnetsein im Staate anordnen und weder durch Rechtssicherheit noch durch eine Mißdeutung der Gesetzlichkeit in Befehl und Gehorsam bewahren. Ihrem Wesen nach ist die demokratische Verfassung evokativ und bleibt deshalb unerfüllt, solange ihr nicht die Bereitschaft antwortet, die Eigenverantwortung für die politische Zukunft selbständig und bewußt mitzuübernehmen. Diese Antwort wird von jedermann, aber nicht im Verstande eines Gehorsams, sondern im Sinne des Berufenseins geschuldet (. . .). Dieses Rechtswert-Denken ist nicht illusionärer Art, sondern ist ein auf den wirklichen Menschen bezogenes Wirklichkeitsdenken. Es erkennt den Menschen freiheitsfähig dadurch, daß er durch sein eigenes Handeln etwas in die Wirklichkeit rufen kann, was es zuvor so noch nicht gegeben hat.“ Die ideologischen Unterwanderungen der Verfassung bezweckten alle, diese Freiheitsfähigkeit aus Angst vor ihr zu leugnen. „Darin liegt der Grund, weshalb man die Verfassung so als eine Art von politischer Lyrik oder eine Sammlung programmatischer Phrasen entkräften will, aber sich scheut oder sogar widerstrebt, sie ernst zu nehmen.“402 Das Wort vom evokativen Wesen der Verfassung sowie die Aussage, dass dem Einzelnen zur Bewusstheit verholfen werden soll, damit die Verfassung verwirklicht, also innerlich angeeignet werden könne – diese Gedanken sind für Smends Staatsverständnis entscheidend. Der immer noch zu einigem Optimismus neigende Wechsel der Position, den Smend 1962 in Anbetracht der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit vornimmt, besteht (lediglich) in einer Gewichtsverlagerung der Verfassungsverdeutlichung, der Einheitshervorbringung des Verfassungslebens, von dem spezifisch politischen Regierungsbereich 401 Ebd. S. 586 zitiert Smend einen Artikel Gerhard Schröders in der FAZ vom 7. Juli 1961. 402 Arndt, Adolf: Das nicht erfüllte Grundgesetz. Ein Vortrag, Tübingen 1960, S. 22 f.
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und den parlamentarischen Auseinandersetzungen auf die verfassungsauslegenden Entscheidungen der Justiz. Ihr wird wertvermittelnde, politische Erziehung aufgetragen. Um dem Grundgesetz nicht nur bloße Legalität, sondern auch legitime Geltungskraft zuteilwerden zu lassen, denkt Smend offenbar an eine Art mediatisierter Verfassungsaneignung: „Hier erfährt der Einzelne von Lagen, in derengleichen er auch selbst geraten könnte, an denen er sich virtuell beteiligt fühlt. (. . .) Er erfährt an einer möglicherweise auch ihn einmal betreffenden sehr konkreten Lage, daß er nicht nur ein Sandkorn in einer anonymen Massengesellschaft, sondern eine ganz persönlich in Würde grundgesetzlich geschützte Person ist.“403 Selten hat Rudolf Smend in seinem Werk die Leitmotive seines Verfassungsdenkens klarer herausgestellt. Aneignung (Schröder), evokativer Sinn (Arndt) und virtuelle Erfahrung (Smend) der Verfassung erfüllen sich erst darin, ein Bewusstsein für das staatliche Leben als Beruf auszubilden und somit auf die Qualität des Staatsbürgertums Einfluss zu nehmen. Denn wenn für Smend die Wirklichkeit staatlichen Lebens in einer Weise entscheidend ist, dann eben darin, dass die Verfassungsaneignung kraft eines „Ethos“ geschieht, das zu ständiger Beschäftigung mit öffentlichen Angelegenheiten, insbesondere mit der Frage nach dem Stand des Menschen im Staatsleben anhält. Einem äußeren, rechtmäßig-institutionellem Geordnetsein ist der Bürger verpflichtet zu antworten; indem er sich bezüglich des Staatsrechts responsiv verhält, ruft er etwas ins Leben – den Staat als „geistige Wirklichkeit“ –, das zuvor nicht da gewesen ist. Der Sinnkomplex „Staat als Beruf“ spielt auch in bundesrepublikanischer Zeit mehr als nur die Rolle der Begleitung, er ist Grundmelodie. Wie kann aber dieser „Beruf“ zum Staat wieder eingeholt werden? Das bekannte Wort, dass Völker nur aus Tatsachen lernen, sei eine „nicht ernst genug zu nehmende Infragestellung unserer politischen Bildungsarbeit.“404 Das Bundesverfassungsgericht sei jedenfalls eine solche Tatsache. Was der Bürger aus dem Dasein und der Tätigkeit dieser Institution insbesondere erfahre, sei, „daß das Recht der Bundesrepublik der Politik vorgeht“405. Nun sei aber weder die Verfassungsgerichtsbarkeit noch eine formal gültige Verfassung des legalen Gesetzgebers ein Ersatz für eine gewachsene Demokratie. Demnach ist es die „Publizitätswirkung“406 des Gerichts, auf die Smend setzt. Nicht mehr das freischwebende Spiel des politischen Lebens, sondern die Sphäre des Rechts, das positive Verfassungsrecht und seine fortlaufende Auslegung, sollen nun das Verfassungsleben zusammenfassen und die Möglichkeit der miterlebenden Aneignung garantieren. Und eventuell auch die Bildung einer (neuen) politischen Selbstachtung 403 404 405 406
Smend (31994), S. 587. Ebd. S. 588. Ebd. S. 587. Ebd. S. 586.
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2. Teil: Verfassungsdenken in Rudolf Smends staatsrechtlichem Werk
des Einzelnen, die ihn wieder zur teilnehmenden Gestaltung befähigt. Denn die hoffnungsvolle Sorge des Verfassungsdenkens Smends gilt weiterhin der Erziehung zur Politik als einem mitlebend konstituierten Ganzen, das „für den Einzelnen“ – so heißt es bereits 1928 in Verfassung und Verfassungsrecht – „eine Möglichkeit geistiger Auswirkung und damit zugleich persönlicher Selbstgestaltung“ bedeutet.407 Der Gedanke an die „Publizitätswirkung“ des höchsten Gerichts im Sinne einer „virtuellen“ Erziehung zur Politik stellt somit eine Kontinuität des verfassungstheoretischen Topos Smends her: eine spezifische Art passiv-aktiver Teilnahme des Einzelnen am Verfassungsleben. Bezeichnend ist das in die Verfassungsgerichts-Rede eingeflochtene Zitat des Tübinger Dichters und Rechtsanwalts Ludwig Uhland, 1819 Abgeordneter im württembergischen Landtag und 1848 Teilnehmer der Frankfurter Nationalversammlung, bezeichnend, da hier Smends Sympathie für die Phase des deutschen Parlamentswesens der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich wird, eine Sympathie – am ehesten zu beschreiben als eine gelebte Kontinuitätsbemühung408 – für den leidenschaftlichen, national-demokratischen Berufsgedanken damaliger Parlamentarier. Die zitierten Verse Uhlands – „Noch ist kein Fürst so hoch gefürstet, / So auserwählt kein ird’scher Mann, / Daß, wenn die Welt nach Freiheit dürstet, / Er sie mit Freiheit tränken kann, / Daß er allein in seinen Händen / Den Reichtum alles Rechtes hält, / Um an die Völker auszuspenden, / So viel, so wenig ihm gefällt“ – waren ursprünglich gegen eine einseitig oktroyierte Verfassung gerichtet, weisen aber darüber hinaus auf die prinzipielle „Schwäche einer nur legalen Ordnung ohne tiefere Legitimität.“409 In den Versen Uhlands beschwört Rudolf Smend nochmals die Einsicht in die Konditionalität einer „nur legalen Ordnung“, deren Voraussetzung, wie überhaupt Voraussetzung breiter Akzeptanz aller rechtsgeschäftlichen Auswirkungen des Staatslebens, die Publizitätswirkung des Staatsgrundgesetzes410 und der allgemeine Sinn für die Verfassung als Ordnung verschiedener Arten von Dienst sind, die Einsicht aber auch sowohl in die menschliche Unzulänglichkeit als auch in die Gefährlichkeit eines machtgestützten Entscheidungswillens.411 Intoniert werden damit die Leitmotive des Smendschen (politischen) Menschenbildes: die Bedürftigkeit des Menschen gegenüber dem unverfügbaren „Reichtum alles Rechtes“ (Uhland) sowie die daraus resultierende – durchaus mit den Begriffen der
407
Ebd. S. 131. Etwa in dem Sinne des ebenfalls in der Karlsruher Rede zitierten „Hausgottes Goethe“ (Wilhelm Hennis): „Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, / Erwirb es, um es zu besitzen.“ (Faust I, V. 682 f.). 409 Smend (31994), S. 588. 410 So bei Rudolf Smend bereits 1916, im Aufsatz über ungeschriebene Verfassungsnormen (Smend (31994), S. 39 ff.). 411 So in der Rede zur Reichsgründungsfeier der Berliner Universität. Siehe Smend (31994), S. 323. 408
II. Zwischenbetrachtung – Eine Philosophie des öffentlichen Rechts
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Demut und Frömmigkeit zu bezeichnende – Unterscheidung von autoritas und potestas. Rechtlich vorgesehen sei die angesprochene „Publizitätswirkung“ des Bundesverfassungsgerichts nicht, jedenfalls nicht in dem Sinne wie etwa die des Bundestags. Ihre Wirksamkeit sei aber dennoch mit derjenigen des Parlaments zu vergleichen. Sie könne heute in erster Linie (nur) ein Weg der Werbung, der Interessierung, der Inanspruchnahme der Staatsbürgerschaft für ihr Verfassungsleben sein. Sie müsse auch deswegen die Aufgabe politischer Erziehung annehmen, weil das Staatsbewusstsein der Bundesrepublik die Politik mehr als verwaltende Arbeit und das Zusammenspiel von Parlament, Regierung und Parteien als Zweck- und Routinebetrieb wahrnehme: lediglich als eine „schlecht konstruierte Maschine“, die immer nur „mit Ach und Krach“ funktioniere.412 Freilich: Der Weg zum „Wertepositivismus“ und zur „jurisdiktionellen“ Demokratie scheint hier vorgezeichnet. Die Annahme, Smend habe mit vorbereitet, was Bernhard Schlink 1989 als Verfassungsgerichtspositivismus bezeichnet hat413, wäre aber dennoch irrig. Smend hat die Rolle des höchsten Gerichts hervorgehoben, weil er sich von dessen Tätigkeit anregenden Einfluss auf das politische Bewusstsein oder überhaupt erst konstituierende Wirkung hinsichtlich eines qualitativ verstandenen Staatsbürgertums versprach. Berufsidee und Erziehungsgedanke sind in dieser Art des Staats- und Verfassungsdenkens dicht ineinander verwoben.
II. Zwischenbetrachtung – Eine Philosophie des öffentlichen Rechts § 1 Organbegriff und Amtsgedanke – Es ist an dieser Stelle auf die aus dem anfänglichen Befund hervorgegangene Fragestellung zurückzukommen.414 Klarheit verschaffen lässt sich nunmehr über den ersten Teil der oben gestellten Doppelfrage, nämlich darüber, auf welche Weise sich staatliche Wirklichkeit in Rudolf Smends Verfassungsdenken konstituiert. Anhand der Darstellung seines staatsrechtlichen Werkes kann es kaum als eine Reduktion angesehen werden, die Verfassungslehre Smends auf ihren eigentümlichen Organbegriff zu kondensieren. Einer ersten Phase des Smendschen staatsrechtlichen Werkes (1904– 412 So Smend, Friedrich Curtius zitierend, hinsichtlich der in dieser Art der Politikwahrnehmung liegenden „Staatsfremdheit“ bereits 1928 in ,Verfassung und Verfassungsrecht‘. Siehe Smend (31994), S. 165 f. 413 Siehe Schlink, Bernhard: Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Der Staat 28 (1989), S. 161 ff. 414 Auf welche Weise konstituiert sich staatliche Wirklichkeit bei Smend? Welchen menschlichen Typus und welche Art ethisch-normativer Bestimmtheit involviert dieser Verfassungsbegriff und seine spezielle Form der Staatsauffassung als eines geordneten Rechtszustandes?
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2. Teil: Verfassungsdenken in Rudolf Smends staatsrechtlichem Werk
1928) geht es vor allem um die Herausarbeitung eines eigenen Verfassungsbegriffs. Dieser erfasst das Staatsleben als das einem ritualhaften Selbstzweck gleichkommende Leben staatlicher Organe, deren Dasein ausdrücklich von Seiten des Staatsrechts gewünscht ist. Jede dieser verfassungsmäßigen Institutionen begreift Smend als Amt, als amtsmäßige Aufgabe. Das impliziert, dass dem Menschen die volle Verantwortung für sein politisches Handeln anheimgestellt wird. Staatshäupter, Richter, Regierungschefs, Minister, Abgeordnete und Staatsbürger – in der republikanischen Demokratie bekleiden sie alle verfassungsmäßige Ämter. Vom Standpunkt umfassender staatlicher Daseinsregulierung aus so unzeitgemäß wirkend, findet die staats- und verfassungstheoretische Perspektive Smends ein auffälliges nicht-instrumentelles Genügen an dem bloßen Dasein und selbstzweckhaften Wirken staatlicher Institutionen. Staatliche Institutionen, insbesondere die genuin politischen Verfassungsämter, werden von Smend nichts als Instrumente zur Erreichung außerhalb liegender Zwecke aufgefasst. Es ist eine gewisse Hemmung seitens Smends zu beobachten, Regieren als das Aufstellen von Programmen und deren – unter Zugriff auf dazu vorhandene behördliche Instrumente erfolgende – Implementierung zu verstehen. Wert und Sinn der staatlichen Organe liegen in ihrer Bildung, ihrem Dasein, ihrem untereinander erfolgenden Austausch, nicht in den Zielen, denen sie zuarbeiten und die sie womöglich erreichen. Die Staatsorgane sind nicht die Funktionen gesellschaftlicher Bedürfnisse, sondern die Verfassung als Ämterordnung und das Staatsleben als Zusammenspiel unterschiedlicher Amtskompetenzen und -aufgaben haben eine andere Bedeutung als die steuernder Verfügung. Mit der Behauptung, der Staat sei nicht als Betrieb unter der Kategorie der Leistung zu beurteilen, denn sein Wesen liege nicht in dem Bereich des Gebens, Nehmens, Habens, Verfügens, Anordnens und Gewährens, er sei kein vorauszusetzender, fester Bestand, nicht als eine überragende handelnde Person oder als faktische Machtlage misszuverstehen, wird entschieden ein ethisch-normativer Anspruch erhoben. Amtsmäßig zur Anteilnahme am Staatsleben als eines ritualhaften Selbstzwecks verpflichtet zu sein – eine solche Aufgegebenheit kann nur als sinnvoll gelten, insofern ein höherer Sinn erkennbar wird, dem auch die Selbstzweckhaftigkeit des eigenwilligen Smendschen Organbegriffs untersteht und an dem sie orientiert ist, und insofern diese Orientierung wiederum Auswirkungen auf das Leben der politischen Gemeinschaft zeitigt. Eine zweite Phase des Smendschen Werkes (1933–1962) ist, vermittels des Aufgabe-BerufTopos, auf die ethisch-normative Bestimmtheit des in der ersten Phase geprägten Verfassungsbegriffs gerichtet. § 2 Festivität, Solidarität, Freundschaft – Die Institutionen der republikanischen Demokratie, darunter auch die Grundrechte, sind nicht einfach wirksame Mittel, um eine dem Menschen kalt und statisch gegenüberstehende Regierungsgewalt zu teilen, einzuschränken und kontrollierbar zu machen. Vielmehr
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drücken sie in einer feierlich-offiziellen Weise menschliche Würde und Selbstregierung aus, für die sie symbolisch einstehen. Demokratische Wahlen finden nicht in erster Linie aus dem Grund statt, weil wir wünschen, unsere Stimme habe einen entscheidenden Einfluss auf das Ergebnis sowie auf die Verwirklichung politischer Programme, sondern zu einem nicht geringen Teil als Ausdruck und symbolische Bekräftigung unseres Status als uns selbst regierende Wesen. Staatliche Institutionen entsprechen somit auch dem Bedürfnis nach Ausdruck der eigenen Person. Dialegein und Homolegein der politischen Auseinandersetzung sind nicht einfach dazu da, einzelne Zwecke zu erreichen, Verordnungen zu erlassen oder einzelne Gruppen zu bestimmten Zugeständnissen oder Zahlungen zu veranlassen; feierlich und in jedermanns Namen, im Namen des Gemeinwesens, wird institutionell über das geredet, was die politische Gemeinschaft schätzt und werthält. Gemeinschaftliches politisches Handeln führt nicht nur zu Willensbildung und Interessenvertretung, sondern stellt auch selbst eine relationale Bindung des Interesses für unsere Mitmenschen dar, symbolische, feierlichste und verpflichtende Bindungen von Solidarität und Freundschaft. Demnach manifestiert und verwirklicht sich das „Gute“ des staatsrechtlichen Logos im Fest, in dem gegenseitige Anerkennung innerhalb der Gemeinschaft erfahren wird – so, wie es, von Smend zum Ende der Bürger-Rede zitiert, bei Hölderlin heißt: „daß wir uns alle finden am höchsten Fest“. Was aber wird durch das Fest vermittelt? Was steht hinter oder über der noblen Überflüssigkeit und schönen Gegenstandslosigkeit des Festes? Die relationalen Bindungen der Bürger, ihr dialogisches Verhältnis ist für das Verfassungsdenken Smends nicht schon „alles“ im Staatsleben, vielmehr ist es zu einer trinitarischen Gedankenfigur zu erweitern. Denn dieses Aufeinanderhin-Geordnetsein weist eine Wertbezüglichkeit hinsichtlich eines Dritten auf, das zwar der sinnfälligen Dynamik des die Sozialität des Politischen konstituierenden regierungsmäßigen Dialegein transzendent ist, jedoch nicht als praxisunabhängige externe Legitimation jeder Form von Verfassungswirklichkeit aufzufassen ist. Denn für das staatsbürgerliche Erleben geht die Idee des Staates, Staat als „geistige Wirklichkeit“, auf in der nicht-instrumentellen, staatsrechtlich angeregten institutionellen Praxis des Verfassungslebens, die selbst aber nichts Absolutes, kein Letztwert sein kann. § 3 Integration, Erlebnis, Responsivität – Der These, der Aufstieg zur Totalität und zum Staat als „geistiger Wirklichkeit“ im Zusammenspiel der Ämter ereigne sich augenblicksweise, als Repräsentation, als performatives Streben nach Verständigung und Einigkeit und im Erkenntnismodus des Symbols, entspricht die Anschauung, den Staat aus dem „Lebensprozess“, den sinnlichen Eindrücken der politischen Empirie sich konstituieren zu lassen und Sinnliches und Verständliches in einer Art real-idealistischen Isothenie aufeinanderhin zu ordnen, da der im geistigen Akt vollzogenen Einheitsstiftung der anregende
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2. Teil: Verfassungsdenken in Rudolf Smends staatsrechtlichem Werk
Grund des Lebensstroms sonst fehlen würde und letzterer ohne ideelle Überwölbung ein Chaos statt eines geordneten Rechtszustandes wäre. Die so fortwährend zu aktualisierende Totalität ist folglich keine, derer jemand mächtig wäre. Die Annahme, Smend habe die Einzelnen oder die Gesellschaft in den Staat integrieren wollen, entfernte sich denkbar weit von seinem Verfassungsdenken, indem sie den Staat als gegebene Totalität und Einheit hypostasierte. Totalität wird bei Smend nicht den Hineingezwungenen von außen angeschafft. Die geistige Wirklichkeit des Staates ist keine Vereinheitlichung um den Preis zwanghafter Nivellierung der Einzelnen; vielmehr kann sie gerade Betonung des Einzelnen bedeuten, indem er durch Anteilnahme am Repräsentativen zu mehr wird, als er für sich ist. Mit dem Integrationsvorgang, der Einheit und Totalität des Staates intermittierend zum Einstand anhält, wird ein „kreatives“ Moment in das Smendsche Verfassungsdenken eingeführt; dem Einzelnen wird eine schöpferische Anteilnahme an der geistigen Wirklichkeit des Staates zugedacht. Repräsentation durch politische Verfassungsämter, performativ verstandenes Verfassungsleben in Wahlen, Abstimmungen und parlamentarischen Auseinandersetzungen, symbolische Konkretionen in Fahnen und Festtagen bedürfen des staatsbürgerlichen Erlebens; dies integrative Erleben ist gedacht als antwortende Aufmerksamkeit, als Responsivität. Bei einem Respons, der etwas anderes ist als eine Reaktion, geht etwas im Menschen auf eine Situation ein, indem er aus einer Skala nichtstereotyper Handlungen auszuwählen weiß. Responsivität ist darin nicht nur ein Akt des Vertrauens, sondern darüber hinaus eine Art Glaube an sich selbst und die eigene Fähigkeit zu verantwortlicher Antwort. Dieser Glaube ist davon überzeugt, dass man nicht so tief von etwas berührt sein kann, wenn es nicht eine Manifestation des Ideellen, ja des Göttlichen darstellte. Dieser Glaube wäre aber anfangs nicht ein Glaube daran, sondern ein Vertrauen auf die eigene Responsivität. Es wäre also auch möglich, den anfänglichen Respons eines Menschen, auf den er vertraut, selbst als Glauben zu begreifen und als Vertrauen auf etwas, das erlebbar ist oder es einmal war. In diesem Fall wäre aber der Glaube doch eher ein Glaube an etwas anderes als ein bloßes Vertrauen auf sich selbst und die eigenen Fähigkeiten. Es wäre vom Bedürfnis des Glaubens an den eigenen Glauben zu sprechen, von dem Vertrauen auf den eigenen Respons des Glaubens an etwas, dessen sinnfällige Verhüllung den Respons ausgelöst hat. Die responsive Huldigung, welche Dankbarkeit und Treue bedeutet, wird ausgelöst von der Sinnfälligkeit, welcher sie gilt; sie scheint dem Objekt ihrer Befangenheit subordiniert. Dennoch führt die anthropogene Wertschätzung erst zum eigentlichen Aufgang dessen, dem sie zugedacht wird. Das Ideelle erweist sich als ins Materielle gebunden und doch in seinem Bezug zum „Einen“ und „Guten“ alles Endliche überragend.415 In dieser Einsicht besteht letztlich die Verantwortlichkeit jeder responsiven, schöpferischen Anteilnahme.
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§ 4 Selbstregierung – Regieren in seinem objektlosen, responsiven Sinn in einem nicht-instrumentell verstandenen Staatsleben heißt immer auch sich selbst zu regieren, und richtet ein neues Licht auf das demokratische Dogma der Volkssouveränität. Denn souverän zu sein im Sinne von sich selbst zu regieren bedeutet nun, das eigene Denken und Handeln an dem im staatsrechtlichen Logos präsenten Guten zu orientieren. Der Bürger und menschliche Typus, den das Verfassungsdenken Rudolf Smends impliziert und auf den es angewiesen ist, muss auch noch etwas Anderes kennen, von etwas Anderem Erfahrung und „Wissenschaft“ haben als nur von den Zwangs-, Anreiz-, Beruhigungs- und Abstumpfungssystemen konventioneller Arbeits- und Staatswelt. § 5 Konditionalität der Demokratie – Der Staat als „geistige Wirklichkeit“ geht auf in der sozialen Realität des Verfassungslebens, welches durch das Staatsrecht angeregt wird. Der Staat selbst hat keine soziale Realität. Als eine „gute“ Idee kann er im Verfassungsleben nur aufgehen, wenn dieses Leben antiinstrumentell und als unverfügbarer Beruf verstanden wird. Der Amtsgedanke hat für die gesellschaftliche Praxis eine paradigmatische Wirkung. Wenn der Staat als „gute“ Idee und „sittliches Reich“, wie Rudolf Smend mit den Worten Friedrich Julius Stahls sagt, seinen Bürgern etwas – „gutes“, „gerechtes“ Leben – vermittelt und somit selbst im Bezug zum „Guten“ steht, kann er keine verfügbare Apparatur zur Verfügung über andere sein. Mit seinem eigentümlich unzeitgemäßen Verfassungsbegriff, der ideell-zeitlos orientiert ist, ohne apodiktisch hypostasierend vorzugehen, streift Rudolf Smend die Schalen traditionellen naturrechtlichen Denkens ab, nicht um zu einem genuin modernen und dynamischen Verfassungsverständnis vorzudringen, sondern vielmehr um eine zeitlose Bürger-Idee zu aktualisieren. Wenn aber gesagt wird – und hierin kommt Smend sogar den gesetzespositivistischen Aussagen der Wiener Schule nahe –, der Staat habe als geistige Wirklichkeit keine soziale Realität, so wird deutlich, dass alle Verfassungswirklichkeit in ihrer repräsentierenden Verpflichtung, performativen Dynamik und symbolischen Konkretion der überwölbenden Deutung bedarf. Der staatsrechtliche Logos bedarf der Dynamik des Verfassungslebens, dieses Leben bedarf der Responsivität des Menschen, dieser zuletzt einer ethisch-normativen Bestimmtheit, um seine Fähigkeit zur verantwortlichen Antwort als Amt und Beruf wahrzunehmen. In dieser dreifach gegliederten Konditionalitätsthese zeigt sich eine Philosophie des öffentlichen Rechts, die offenbar auf die Idee des Guten orientiert ist. § 6 Amtsgedanke, Staatsidee und ethisch-normative Bestimmtheit – Können die den Amtsgedanken tragenden ethischen Wertbezüglichkeiten – Vertrauen, Verantwortung, Maßhalten, Gerechtigkeit – einfach vorausgesetzt werden? Und 415 Vgl. Nozick, Robert: Vom guten, richtigen und glücklichen Leben (The examined Life. Philosophical Meditations), München/Wien 1991, S. 49 und 57 f.
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2. Teil: Verfassungsdenken in Rudolf Smends staatsrechtlichem Werk
wenn diese Voraussetzungen – eines „Sittengesetzes“ etwa – gegeben sind, in welchem Selbstverständnis und Kulturwertbewusstsein geschieht das, auf Grund was für eines Menschen- und Weltbildes? Die ethisch-normative Bestimmtheit des Amtsgedankens und des für sein Verfassungsdenken maßgeblichen menschlichen Typus wird in Rudolf Smends staatsrechtlichem Werk nur angedeutet und in valenzartigen Textpassagen evoziert. Hier ist ein ideengeschichtliches Defizit zu konstatieren, welches dazu geführt haben mag, dass die Smend-Forschung sich nicht veranlasst sah, die Bedeutung dieser Passagen auszuloten, und auch den Amtsgedanken durchaus nicht als für das Smendsche Institutionenverständnis leitend erkannt hat. Die hermeneutische Übersetzung des Smendschen Erlebnisbegriffs in den der Responsivität ist zwar „mit Smend“ doch schon „über Smend“ hinausgegangen, und die zweite Teilfrage nach dem den repräsentierenden, performativen und symbolischen Verfassungsbegriff sowie die Staatsidee relationaler, nicht-funktioneller Bindungen zwischen Bürgern bedingenden menschlichen Typus und seiner ethisch-normativen Bestimmtheit noch nicht hinlänglich beantwortet. Es bleibt an dieser Stelle nur anzunehmen, dass es sich dabei um ein irgendwie im Bürgerlichen „gedeihendes“ ethisches Wissen handelt, das jedoch nicht in eins fällt mit den sozialhistorisch herausgearbeiteten Bildungs- und Leistungsidealen der modern-bürgerlichen Gesellschaft. Die „Idee“ des Bürgers, auf die Smend rekurriert, ist nicht der intelligente Egoist des Liberalismus. Es ist im Folgenden danach zu fragen, in welcher Weise der bei Smend in Gestalt der Aufgegebenheit und der Berufsidee auftretende Amtsgedanke in der unmittelbaren Smend-Rezeption aufgenommen und weitergebildet worden ist (siehe 3. Teil). Die eigentümliche, dem zeitgenössischen Gesetzespositivismus fernstehende Wertschätzung des staatsrechtlichen Logos, die These der institutionellen Selbstzweckhaftigkeit, die Betonung der politischen Auseinandersetzung (Dialegein) im Sinne der Verständigung und Einigung (Homolegein), die festliche Beschwörung des politischen Gemeinwesens als einer solidarisch-freundschaftlichen Gemeinschaft (Philia- und Polis-Gedanke) sowie die Sorge um den in der extensiven Fülle modernen Lebens nach Orientierung suchenden Menschen geben die Frage nach Einordnung des Smendschen Verfassungsdenkens in die unterschiedlichen Richtungen und Überlieferungslinien der Politischen Wissenschaft auf (siehe 4. Teil). Wahrzunehmen ist im Verfassungsdenken Smends ein scheinbar widerspruchsvolles Nebeneinander von empirisch-dynamisch orientierter Betrachtung politischen Lebens – der Smendsche Sinn für den performativen Charakter der Verfassungswirklichkeit – einerseits sowie ein eigentümliches Beharren auf persistenten Momenten, auf einer normativen Bestimmtheit der eigenen Verfassungstheorie andererseits. Das Schweben zwischen Dynamik und Persistenz – das Staatsleben vollziehe sich, indem „zeitlich-reale Verschränkung“ teilhabe
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„am Reich des ideell-zeitlosen Sinnes“ – ist die besonders hervorzuhebende Eigenschaft des Smendschen Staats- und Verfassungsdenkens. Wenn der oben stehende Befund der Untersuchungsperspektive nicht nur die Frage nach dem staatstheoretischen Wirklichkeitsbezug dieses Denkens vor dem Hintergrund der Sorge um die Orientierung des Menschen angesichts eines (zeitbedingt) wahrgenommenen Kulturproblems, sondern auch nach der ethisch-normativen Bestimmtheit dieser Auffassung staatlichen Lebens aufgibt, so hat diese Fragestellung nicht nur Amtsgedanken und Berufsidee, sondern ebenso den Valenzcharakter „unzeitgemäß“ heraustretender Textpassagen der Smendschen Schriften zu berücksichtigen. Denn ideengeschichtliche Valenzen sind zu konstatieren, wenn sich in Smends staatsrechtlichem Werk die These ablesen lässt, der instrumentelle, leistungsorientierte und daseinsregulierende Staat als ein Bereich des Gebens, Nehmens, Verfügens und Gewährens habe vor dem Herzen der Menschen versagt, indem, die Einzelnen in sittlich unerträglicher Weise in Anspruch nehmend und nicht ohne eine polytheistischen Note, Beziehungen zu höheren, über Staat und Staatsmacht stehenden Normen und Ordnungen bezweifelt worden seien. Für den zwischen Dynamik und Persistenz schwebenden Aspekt sowie für den damit zusammenhängenden ethisch-politischen Zug des Smendschen Denkens wird der geistige Ort aufzusuchen sein, um die Frage nach der ethisch-normativen Bestimmtheit beantworten zu können (siehe 5. Teil).
3. Teil
Fortführungen des Verfassungsdenkens Rudolf Smends I. Schüler und Nachfolger – Der Amtsgedanke 1. Wilhelm Hennis – Repräsentative Amtsdemokratie contra plebiszitäre Willensdemokratie Der Text, durch den Rudolf Smends Auffassung der Verfassungsordnung als Ämterordnung rezeptiv in die weitere staatsrechts- und politikwissenschaftliche Literatur der Bundesrepublik eingeht, ist Wilhelm Hennis’ Tutzinger Vortrag von 1958, der dann 1962 in der Festschrift anlässlich Rudolf Smends achtzigsten Geburtstages erscheint.1 Es ist der hier entwickelte Zusammenhang von Amtsgedanken und Demokratiebegriff, der einen gemeinsamen Bezugspunkt bildet hinsichtlich der Schriften weiterer Autoren, die an dieser Stelle zu Wort kommen sollen – neben den Smend-Schülern Ulrich Scheuner und Horst Ehmke sowie dem Nachfolger Smends in Göttingen, Arnold Köttgen, des Weiteren Siegfried Landshut, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Peter Graf Kielmansegg und Josef Isensee. Alle politischen Begriffe, insbesondere aber die Bestimmungen der Staatsformen, so Hennis, seien „ein Stück geschichtlicher Erfahrung in Worte gefasst“2. Der Begriff der Demokratie sei bestimmt durch die historische Tradition, die jeweils als wesentlich angesehen werde. Alle Auseinandersetzung um das Verständnis der modernen Demokratie, über ihren mehr repräsentativen oder mehr unmittelbar-plebiszitären Charakter, sei zugleich immer Auseinandersetzung über die Tradition, in deren Licht diese Staatsform gesehen werde. Nicht ausgeklammert werden sollte, so Hennis’ Appell, ein vermeintlich irrelevant gewordener geschichtlicher Stoff, ein entscheidender Bestandteil des Demokratiebegriffs, der allerdings nichts der Demokratie Spezifisches sei, ein Element jedoch, das zu den Bedingungen gehöre, unter denen die Demokratie weiterhin zu den „guten“ Staatsformen zu rechnen sei. Dieses Element besteht für Hennis in dem Gedanken, dass alle politische Gewalt Amtsgewalt sei. Der Amtsgedanke gehe verloren, sobald die Art der Durchsetzung des Volkswillens als das entscheidende konstitutionelle Problem der Demokratie verstanden werde. Die Tradition des Amtsgedankens impliziere die eigentliche Bedeutung aller weiteren 1 2
Siehe Hennis (1962), hier zitiert nach Hennis (1973), S. 9–25. Ebd. S. 9.
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entscheidenden politischen Begriffe: den der Herrschaftspraxis, der Repräsentation, des Gemeinwesens, der Legitimität sowie des Gemeinwohls.3 Die durch den Gedanken der plebiszitären Demokratie verdunkelte Welt des alten Europas sei zu erhellen, um die institutionelle Ausprägung der demokratischen Staatsformen der westlichen Nationen verständlich zu machen. Der individuelle Charakter dieser nationalen Demokratien unterscheide sich weniger durch positive Verfassungsnormen als durch die Art des Verständnisses dieser Normen. Bestimmte Verfassungen mögen auf den ersten Blick plebiszitär erscheinen. Durch die Art jedoch, nach der die Verfassungsnormen glossiert werden, offenbart sich nicht selten der repräsentative Charakter. Der Art. 50 der Verfassung des Kantons Uri beispielsweise nennt Recht und Wohlfahrt des Vaterlandes als Richtschnur der Landgemeinde. Eine sich zu diesem Selbstverständnis mahnende Landgemeinde, so Hennis, verstehe sich nicht als plebiszitäres, sondern als repräsentatives Organ; sie begreife ihre Macht nicht als voluntaristische Kompetenz, als dezisionistischen Anspruch, sondern als „anvertrautes Amt“4. Die repräsentative Demokratie, wie sie sich in der angelsächsischen Welt entwickelt habe, erscheine als eine Fortentwicklung des Ämterstaates, der der politischen Ordnung des feudalen Europas zu Grunde lag.5 Der zentrale Begriff der repräsentativen Demokratie sei nicht die Volkssouveränität, nicht der Wille, sondern das Amt. Alle verfassungsmäßige Kompetenz sei Treuhand, trust, fiduciary power, anvertraute Aufgabe, Amtsgewalt. Die Idee des trust mag als etwas dem angelsächsischen Verfassungsdenken Genuines betrachtet werden, im Grunde ist es der alteuropäische Gedanke, dass alle Herrschergewalt gegeben sei in der Absicht der Realisierung gemeinsamer Zwecke. Dem Amtsgedanken ist der Gedanke des gemeinen Besten stets beigestellt. Edmund Burke, den Hennis in dieser Sache zitiert, hat es so formuliert: „All persons possessing any portion of power ought to be strongly and awfully with the idea that they act in trust; and that they are to account in that trust to the one great master, author and founder of society“6. Die Reflexion auf das Amt sei auch nie ganz verschüttet worden, und beinahe täglich würden Minister, Abgeordnete, Richter, Verwaltungsbeamte, Polizisten, Lehrer an einem uns vorschwebenden Modell des guten, seiner Aufgaben und Pflichten bewussten Inhabers eines solchen Amtes gemessen. Selbst ein Lieblingsbegriff der politischen Wissenschaft, die Kategorie der Funktion, sei letztlich nichts weiter als „plebiszitär verhüllte Verbeugung vor dem Amt.“7
3
Vgl. ebd. S. 10. Ebd. S. 11. 5 Vgl. dazu den immer noch lesenswerten Aufsatz von Hintze, Otto: Weltgeschichtliche Bedingungen der Repräsentativverfassung, in: HZ 143 (1931), S. 1–47. 6 Zitiert nach Hennis (1973), S. 12. 7 Ebd. 4
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3. Teil: Fortführungen des Verfassungsdenkens Rudolf Smends
Die entscheidende legitimierende Basis der Amtsinnehabung, das Band zwischen dem Amtsinhaber und demjenigen, der in das Amt beruft, ist nicht eine identitäre Willensrelation, sondern das Vertrauen. So formuliert es Alexander Hamilton, Federalist Papers No. 76: „The institution of delegated power implies that there is a portion of virtue and honour among mankind, which may be a reasonable foundation of confidence“8. Der Federalist benennt damit den Mittelpunkt der angelsächsischen Theorie der Repräsentation. Die Eigenschaften, die jemanden trust worthy machen, fließen aber nicht aus dem Willen des (fiktiven) Begründers des trust, sondern sie müssen bereits bei dem Bewerber um das Amt vorhanden sein. Vertrauen, so Hennis, sei die seelische Grundlage der repräsentativen Demokratie. Alle politische Auseinandersetzung sei der Kampf – weniger um Macht als vielmehr um Vertrauen. Im Wahlkampf gehe es nahezu ausschließlich darum, Vertrauen zu erwerben und die Vertrauenswürdigkeit des Gegners in Frage zu stellen. Auch die Auffassung der Mandatstheorie, die Wählerschaft erteile der siegreichen Partei oder Koalition den Auftrag, eine bestimmte Politik durchzuführen, deute nicht auf eine Willensbeziehung zwischen Wählern und fortan Regierenden hin. Die Wahlentscheidung lege lediglich die Grundlage für eine Vertrauensrelation zwischen Wählenden und Gewählten. Kein verantwortungsbewusster Politiker könnte versprechen, dass er den Willen der Wähler auszuführen gedenke, den er gar nicht kennen kann, er könnte lediglich sagen, er wolle das ihm erwiesene Vertrauen nicht missbrauchen. Die Mandatstheorie hat Hennis zufolge nichts mit demokratischer Willensbildung im Sinne einer identitär-plebiszitären Auffassung von Regierenden und Regierten zu tun. In einer auf dem Prinzip der Identität aufgebauten Demokratie gibt es keine Verantwortung, da es keine Distanz, keine Gegenüberstellung gibt. Verantwortung ist immer nur vor einem anderen möglich, in der politischen Welt vor dem, der in das Amt beruft. In der „repräsentativen Amtsdemokratie“9 liegt zum einen die Gewährleistung politischer Freiheit – im Sinne der Distanz und klaren Gegenüberstellung von „Befehlenden“ und „Gehorchenden“ –, zum anderen aber auch die Gefahr der unproportionierten Orientierung des politischen Lebens an einzelnen Personen sowie einer allzu großen Distanzierung von Wahlvolk und politischer Führung. Eine Nation hat sich somit fortwährend Gedanken zu machen über die Tugenden und Untugenden der Regierenden – über diejenigen der tatsächlich temporär Regierenden wie auch über die eines Modells oder Gegenbildes potenziell Regierender; dies ganz im Sinne der alten Regentenspiegel. Im Lichte des Amtsgedankens wird auch der entscheidende Unterschied hinsichtlich der beiden großen Wahlprinzipien deutlich.10 Die Mehrheitswahl 8 9
Federalist (1982), S. 464. Hennis (1973), S. 14.
I. Schüler und Nachfolger – Der Amtsgedanke
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zeichnet sich durch größere Nähe zum Amtsgedanken aus – allerdings nicht auf Grund ihres angeblichen Persönlichkeitscharakters oder ihrer mehrheitsbildenden Eigenschaft, obschon hier bereits „der eigentümliche systematische Kern“11 durchschimmert. Das Mehrheitswahlrecht schafft, und das ist das Entscheidende, klare Berufungs- und Verantwortlichkeitsverhältnisse auf allen Ebenen – hinsichtlich der Bundesrepublik für das Verhältnis Kanzler – Abgeordnete – Wähler –, während bei der Verhältniswahl niemand recht eigentlich von einer für die Berufung verantwortlichen, eindeutig benennbaren Instanz ins Amt berufen wird. Es berufe vielmehr, so Hennis, eine prozentuale Umrechnung nach D’Hondt oder Hare. Indem der Amtsgedanke auch und gerade für die Demokratie betont wird, soll damit keineswegs die Freiheit der politischen Willensbildung als wesentliches Element der Demokratie abgestritten werden. Doch bei aller Dynamik, welche die Demokratie so sehr von älteren Ämterordnungen statischen Charakters unterscheide, worauf Rudolf Smend aufmerksam gemacht habe12, bleibe der entscheidende Bezugspunkt doch das System verfassungsmäßiger Ämter und Verantwortlichkeitsverhältnisse sowie die Art ihrer Ausübung. Der consensus, die Zustimmung der „Beherrschten“, sei das Element, das, der älteren politischen Theorie nach, die „guten“ von den „tyrannischen“ Herrschaftsformen unterscheide. Zustimmung und Ablehnung sind im Verfassungsstaat weitgehend in Wahlen und Abstimmungen formalisiert. Der Konsens ist in der repräsentativen Demokratie auf die Ausübung von Ämtern bezogen: sie muss unter ständiger Kontrolle das durch die Berufung in das Amt bekundete Vertrauen rechtfertigen. Ämter und nicht der voluntative Modus, sozio-ökonomische Wünsche zu befriedigen, bestimmen Hennis zufolge das Wesen eines repräsentativ-demokratischen Staates. Der Federalist wisse von dieser Bedeutung amtsmäßig verfasster Institutionen, indem er von den Aufgaben und Zwecken einer guten Regierung des politischen Gemeinwesens ausgehe, diese Aufgaben verschiedenen Ämtern zuweise und ihnen die erforderlichen Kompetenzen gebe. 10 Erinnert sei an Smends Wahlrechts-Studien, insbesondere an sein, in der Perspektive des politischen Erlebnisses begründetes, Eintreten für die Mehrheitswahl. Siehe Kapitel I. 1. d) bb) des 2. Teils. 11 Hennis (1973), S. 15. 12 Vgl. ebd. S. 16 mit dem Verweis auf Smends Artikel „Staat“ für das Ev. Kirchenlexikon. Vgl. die Stelle in Smend (31994), S. 522 f.: „Die antiken, die mittelalterlichen, die vorkonstitutionellen neuzeitlichen Verfassungen waren im Grunde Ämterordnungen von statischem Charakter, Ordnungen einer in sich ruhenden Obrigkeit. Die heutigen Verfassungen sind demgegenüber Träger einer doppelten Dynamik. Einmal der der ständigen parlamentarischen Auseinandersetzung von Regierung und Parteien (. . .). Außerdem aber weiß sich die heutige Ordnung, im Gegensatz zur Vergangenheit, in den geschichtlichen Strom gestellt und durch ihn zugleich legitimiert und in Frage gestellt.“
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3. Teil: Fortführungen des Verfassungsdenkens Rudolf Smends
Die deutsche Entwicklung sei dadurch gekennzeichnet, dass diejenigen, die von der Sache her – wenigstens in erster Linie – nichts anderes als Funktionäre seien und sein sollten, die Fachbeamten, sich mit der Würde des Amtes fast exklusiv hätten schmücken dürfen. Lorenz von Steins Verwaltungslehre13 beschrieb den Monarchen als die Mitte des Amtswesens und gelangte infolge einer zu starken Trennung von Staat und Gesellschaft zu dem Fehlurteil, dass es in England kein Amt im wahrsten Sinne des Wortes gebe, weil kein Beamtenstand existiere.14 Das Amt, so streicht Hennis heraus, habe jedoch zunächst weder etwas mit Königtum, Demokratie oder mit Bürokratie zu tun, sondern mit den notwendig zu erfüllenden Aufgaben der res publica. Über den monarchischen oder demokratischen Charakter des Amtswesens entscheide dann die wirksame Lokalisierung der Souveränität. Die Struktur des Amtes könne davon jedoch unberührt bleiben. Der Vormärz sei noch bestimmt vom Kampf der Leitideen, unter denen eine Demokratisierung erfolgen sollte.15 Die frühkonstitutionellen Verfassungsbestimmungen über die repräsentative Stellung der Abgeordneten entsprächen dem Typus der Steinschen Städteordnung: Repräsentation verstanden als Amt, als politische Bürgerpflicht, als anvertraute Aufgabe um des Gemeinwohls willen. Aber auch das Instruktionsverbot und die ohne die unausgesprochene Bindung an das gemeine Wohl unverständliche Gewissensklausel (Art. 21 WRV, Art. 38 GG) seien nicht in der Lage, den Übergang des Amtes in ein voluntaristisches Mandat aufzuhalten. Liberalismus und Demokratie hätten es vernachlässigt, den Amtsgedanken für sich in Anspruch zu nehmen, gleichsam zu okkupieren, und brächten sich gerade damit um die entscheidende Legitimierung des eigenen Herrschaftsanspruchs. Am 18. Januar 1933, wenige Tage vor der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler, habe Rudolf Smend in seiner Rede Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht auf eine dem älteren deutschen sowie gemeineuropäischen Denken entsprechende Interpretation der Grundrechte hingewiesen. Vierzehn Tage später habe Hitler sich rühmen können, dem deutschen Staatsleben Amt und Obrigkeit wiedergegeben zu haben, „weil die Demokratie es versäumt hatte, diesen unverlierbaren Bestand politischen Gedankenguts für sich in Anspruch zu nehmen.“ Mit dem Staatsakt von Potsdam am 21. März sei dann „die wirkungsvolle Demonstration der Usurpation eines alten und hohen Gedankens“16 begangen worden. Allerdings, so ist hinzuzufügen, in der Weise einer radikal-dezisionistisch ausgelegten Mandatstheorie. In der Weimarer Republik Vgl. Stein (21869), S. 204–247. Vgl. ebd. S. 207 ff., insb. S. 217 f. 15 Hennis (1973), S. 19 verweist auf Conze, Werner: Staat und Gesellschaft in der frührevolutionären Epoche Deutschlands, in: HZ 186 (1958), S. 1–34. 16 Hennis 1973, S. 20. 13 14
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sei es zu einer starken Unproportionalität des Amtsgedankens gekommen. Dazu habe nicht zuletzt die Uneinsichtigkeit in die notwendige Ausgestaltung von Würde und Eigenverantwortung des Reichskanzleramtes gegenüber Reichspräsidenten und Parlament beigetragen. Aber auch der parlamentarische Teil der Verfassung – Reichstag und Kabinett – hätten auf den Rang des Amtes verzichtet. Und alles, worauf sie verzichteten, sei dem Reichspräsidenten zugeflossen. So ist es dazu gekommen, dass sich in Weimar das Amt nur dort als solches empfand und darstellte, wo es sich vom Reichspräsidenten ableiten ließ. Amt blieb, was es in der konstitutionellen Monarchie geworden war: eine Kategorie des Beamtenrechts mit dem Staatsoberhaupt als „Hüter“ dieser „extrademokratischen ,amtlichen‘ Sonderwelt“17. In einem idealtypischen plebiszitären Regierungssystem wird ein einheitlicher Volkswille zur Voraussetzung gemacht, ein Wille, der als mit dem Gesamtinteresse identisch ausgegeben wird. Ein einheitlicher Volkswille ist aber wohl nur da vorhanden, wo alle diejenigen zum Schweigen gebracht würden, für die das Gesamtinteresse nicht gleichbedeutend mit dem jeweiligen Volkswillen ist. Ein Staatswesen, das auf dem Prinzip der Identität beruhen soll, ist nur als System totalitärer Identifikation möglich. Umso erstaunlicher, dass hinsichtlich der Theorie der politischen Parteien die Denkform der Identität, der plebiszitären Struktur, so starke Durchsetzungskraft entwickeln konnte. Die Parteien sind sicherlich die bestimmende Ausdrucksform des politischen Lebens der Gegenwart. Im heutigen Parteienstaat, so Hennis, bleibe aber die Frage seines Verständnisses bestehen: unmittelbar-demokratisch, also identitär, oder repräsentativ, also unter der politisch-ethischen Norm des Amtsgedankens stehend. Gerade für den Demokratiebegriff zeige sich die unzulängliche Enge einer Staatsformenlehre als bloßer Unterscheidung von Modalitäten der Willensbildung. Der älteren politischen Theorie sei dieser Umstand durchaus bekannt gewesen, sie hätte einen viel weiteren Begriff der politeia und der regimines gepflegt. Von erheblicher Bedeutung seien nicht zuletzt die „seelischen, anthropologischen Zustände eines Gemeinwesens“18. Eine Staatsform, die wesentlich auf Vertrauen beruhen soll – einem stets auf Rechtfertigung hin zu überprüfenden Vertrauen – setze bestimmte Haltungen, einen bestimmten Geist des politischen Gemeinwesens voraus. In einer Gesellschaft, die durch die „Stasis antagonistischer Kräfte“ bestimmt wird und in der gegenseitiges Misstrauen eine gewisse Berechtigung beanspruchen kann, verkümmert das Amt zum „Posten“, zu einem strategischen Standort im Kampf der gesellschaftlichen Kräfte. Wenn die Frage nach der finis societas, 17 Ebd. S. 21. Auf Carl Schmitt verweisend, hat Rudolf Smend herausgestellt, dass sich von hier aus auch das Wesen der Diktaturgewalt klären lasse, behördliche Maßnahmen von extremer Expansivität im Dienste eines rigoros gesetzten Sachgehalts in Gang zu bringen. Vgl. Smend (31994), S. 212 f. 18 Hennis (1973), S. 24.
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nach der „aufgegebenen Bestimmung des Menschen“ unbeantwortet, ja ignoriert bleibt, so verbleibt auch der zentrale Begriff politischer Theorie, das Gemeinwohl, offen. Insoweit Hegels Definition der Gesellschaft als eines Systems der Bedürfnisse für den Staat insgesamt gilt, schlägt die repräsentative in die plebiszitäre Demokratie um, in der, laut Wilhelm Hennis, für Amt und Verantwortung kein Raum sei.19 2. Arnold Köttgen – Würde des Amtes Das das Parlamentsrecht prägende Leitbild der liberalen Demokratie sei nicht der Statusinhaber, sondern der freie Bürger gewesen, so Arnold Köttgen, 1952 Nachfolger Rudolf Smends in Göttingen, in seiner Erörterung der Frage, inwieweit Abgeordnete und Minister im staatsrechtlichen Sinne als Statusinhaber anzusehen seien.20 Die Rechtsstellung des Repräsentanten sei dementsprechend auch nicht im Sinne einer statusrechtlichen Sonderqualifikation interpretiert worden. Mit dem Mandat war also kein besonderer Rang verbunden, der Parlamentarier wurde lediglich als Inhaber einer schlichten Rechtsstellung verstanden.21 Auch Carl Schmitts am klassischen Parlamentarismus orientierte Auslegung der Meinungsfreiheit als eine „Freiheit von Privatleuten“, so Köttgen, entscheide sich gegen eine statusrechtliche Qualifikation des Parlamentariers. Rudolf Smend habe sich dem widersetzt, indem er von den Freiheitsrechten als der „bürgerlichen Grundlegung des Staates“ gesprochen habe. Dieser Verfassungsexegese zufolge müssten sich daraus Konsequenzen auch für den Status der Abgeordneten ergeben. Die Schwerpunktverlagerung vom Parlamentarismus auf die Demokratie – es ließe sich auch sagen: das Aufgehen des Parlamentarismus in der demokratischen Staatsform – sieht Köttgen mit Smend als eine inhaltliche Anreicherung der Rechtsstellung des Abgeordneten sowie des Ministers im Sinne statusrechtlicher Vertiefung. In Smends Ausdruck von einer „Nebenordnung verschiedener Ämter, verschiedener Arten von Dienst“22 würden die Parlamentarier – sogar noch rückwirkend für die frühkonstitutionelle 19 Vgl. ebd. S. 25. Ernsthaft aufgegriffen, in Verbindung mit einer Befragung des Staats- und Verfassungsbegriffs, wird der Amtsgedanke auffallend selten. Neben den hier folgenden Autoren siehe noch Kluth, Heinz: Amtsgedanke und Pflichtethos in der Industriegesellschaft, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialpolitik 10 (1965), S. 11–22; Schmidt, Reiner: Lebensgefühl und Legitimation, in: JZ 38 (1983), S. 725–731 und Höfling, Wolfram: Amtsgedanke und Bürgervertrauen, in: ZRP 10, 1988, S. 396–400. 20 Köttgen, Arnold: Abgeordnete und Minister als Statusinhaber, in: Forschungen und Berichte aus dem öffentlichen Recht. Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, hg. v. Bachof, Otto/Draht, Martin/Gönnewein, Otto/Walz, Ernst, München 21955, S. 195– 220. 21 Vgl. ebd. S. 197 f. 22 Beide Smend-Zitate aus ,Bürger und Bourgeois‘, siehe Smend (31994), S. 318 und 323.
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Periode – den traditionellen Staatsämtern gleichwertig als Inhaber eines öffentlichen Amtes sowie eines öffentlich-rechtlichen Status anerkannt. Gegenüber der retrospektiven Würdigung des Mandats werde man Bedenken anmelden können, so Köttgen, während doch Smends Auffassung für die Republik als geltend anzusehen sei.23 Die politische Freiheit sei nur garantiert, wenn Abgeordnete und Minister in nicht-identitärer Distanz zum Wahlvolk gesehen würden. Die statusrechtliche Vertiefung, die Auffassung, dass Abgeordnete und Minister Inhaber eines Amtes sind, ermögliche erst die Kontrolle der Amtsausübung durch die Staatsbürger. Im ausdifferenzierten Parteienstaat, der als Erscheinungsform infolge der Theorie unmittelbarer Demokratie aus dem Strukturprinzip der Identität von Regierenden und Regierten erwachsen ist, drohen die Argumente zu Gunsten einer personenrechtlichen Qualifikation der Volksvertreter außer Sicht zu geraten. Diese Entwicklung sieht Köttgen mit derselben Besorgnis wie wenig später Wilhelm Hennis. Mit der Zerstörung repräsentativer Zusammenhänge entfielen aber die Prämissen jedweden Statusrechts. Die der Repräsentation immanente Duplizität ist Köttgen zufolge eine essenzielle Voraussetzung jener zweiten Dimension, ohne die ein Statusrecht nicht gedacht werden könne, über die aber das eindimensionale Formprinzip der Identität nicht verfüge. Ein rangbegründendes Statusrecht ist auch im republikanisch-demokratischen Staat nicht verfassungsfremd oder gar verfassungswidrig. Das einleitende Bekenntnis des Grundgesetzes zur Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1) ist ja nicht Zugangsmechanismus für Anspruchserhebungen unterschiedlichster Art, sondern dieses Bekenntnis ist zunächst staatsrechtlich zu deuten. Das Grundgesetz entscheidet sich gegen die formaldemokratische Kategorie des qualitätslosen Subjekts sowie gegen die Vorstellung eines Verhältnisses von Auftraggebern und Auftragsempfängern. Ein Statusrecht bedeutet in dem Zusammenhang dieser grundlegenden Entscheidung lediglich eine Differenzierung, die neben der „Menschenwürde“ spezielle „Würdenträger“ anerkennt. Ohne rangverleihendes Statusrecht gibt es keine repräsentative Ordnung. Das Grundgesetz wäre missverstanden, wollte man einen ranglosen Minister auf der „Kommandobrücke der Exekutive“24 annehmen, während gleichzeitig die ihm unterstehende Bürokratie eindeutig statusrechtlich qualifiziert ist. Mit dem parlamentarischen Regierungssystem wird auf den beamteten Ressortchef verzichtet. Dieser Verzicht, so Köttgen, dürfe aber nicht als eine verfassungsrechtliche Deklassierung des Ministers gedeutet werden. Das Gleiche müsse für den an Regierungsgeschäften nicht beteiligten Abgeordneten gelten, denn sonst wäre die zwischen regierenden und nichtregierenden Parlamentariern bestehende Typusaffinität in Frage gestellt. 23 24
Vgl. Köttgen (1955), S. 201 f. Ebd. S. 215.
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Das Bekenntnis des Grundgesetzes zu dem Gedanken materialer Demokratie in Verbindung mit einer ausdrücklichen Bestätigung des Statusrechts im Sonderfall der Beamten sowie der Richter und des Staatsoberhaupts – dieser Umstand muss in Köttgens Augen auch Schlüsse auf eine statusrechtliche Qualifikation der Abgeordneten und Minister gestatten.25 Wahlgleichheit und freier Zugang zu den öffentlichen Ämtern bestätigten diese Auslegung. Wenn die Grundrechte, als „politische Berufsrechte“ der Staatsbürger, wie Smend sage, die „bürgerliche Grundlegung des Staates“ bedeuten, so müsse es der verfassungsrechtlichen Ordnung des politischen Lebens eines demokratischen Staates wünschenswert erscheinen, klare Berufungs- und Verantwortlichkeitsverhältnisse anzuregen. In einem demokratischen Staat, der sich dazu noch als sozialer Rechtsstaat bezeichnet, ist die personenrechtliche Sonderqualifikation der Abgeordneten sogar ein entscheidender Aspekt, und wie Max Weber konstatiert hat, müsste streng genommen alle Verwaltung dem Parlament klar unterstellt sein. Das Statusrecht der Beamten ist in demokratischen Verhältnissen gegenüber demjenigen von Abgeordneten und Ministern nur peripher zu nennen. Lässt man einmal Verwaltung und Beamtenrecht aus dem Blick, so kann jedenfalls eine demokratische Regierung im Sinne der Volkssouveränität (Art. 20 Abs. 2 GG) nur bestehen, wenn das parlamentarische Regierungssystem vom Amtsgedanken geleitet wird. Die von den Parlamentariern gewählte Regierung, insbesondere der das Kabinett bildende Kanzler, ist dem Parlament gegenüber verantwortlich ebenso wie die von ihm ernannten Minister. Die Abgeordneten wählen den Regierungschef und kontrollieren das Regierungshandeln in Verantwortung gegenüber den sie ihrerseits in das Abgeordnetenamt berufenden Staatsbürgern. Die Organisierung und Disziplinierung der politischen Willensbildung mag den politischen Parteien aufgetragen sein, durch Art. 21 GG werden sie zweifelsohne zu verfassungsrechtlich relevanten Institutionen. Sie sind aber keine Körperschaften des öffentlichen Rechts, jedenfalls nicht im Besitz der entsprechenden statusverleihenden Körperschaftsrechte. Im Mehrparteienstaat kann keine Partei ihre Führer oder ihre Bürokratie personenrechtlich qualifizieren. Partei- und Fraktionsvorsitzende sind für das Staatsrecht ranglose Figuren. Der Weg zum Rang führt nur über die staatliche Ämterordnung. Einen verfassungsrechtlichen Status gewinnt ein Politiker nur in Verbindung mit einem Mandat, mit seiner Bestellung zum Abgeordneten, zum Minister oder mit seiner Wahl zum Kanzler. Statusverleihungen dieser Art sind unmittelbarster Ausdruck staatlicher Existenz und erlauben kein statusrechtliches Vakuum. Das Problem des Apparaturstaates, so Köttgen, überschatte nicht nur den Bereich der Verwaltung, auch Sektoren des eigentlich politischen Lebens würden fortschreitend bürokratisiert (parlamentarische Staatssekretäre). Nach dem Verbrauch seiner Tradi25
Vgl. ebd. S. 215 ff.
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tionsreserven liege in einem zum Herrschaftsinstrument denaturierten Beamtentum ein nicht nur unter totalitären Aspekten bestehendes Risiko. Die Heimat des öffentlichen Amtes, so Köttgen in seinem Beitrag zu der Festschrift von 196226, sei die Verfassung. Sie und nicht die Spezialgesetzgebung sei die eigentliche Fundstelle für juristische Aussagen über das Amt. Das Amtsrecht dürfe nicht hinter dem Beamtenrecht verschwinden. In seinem Aufsatz Das Modell des Bürgers habe Wilhelm Hennis darauf hingewiesen, zu dem politischen Begriff der Herrschaft gehöre, dass alle öffentliche Herrschaft nur als Amt, als anvertraute Aufgabe, für die verantwortlich einzustehen ist, zu begreifen sei.27 Es gebe kein Amt, so Köttgen, das nicht anvertraut wäre; hierauf basiere das ethische Wesen des Amtes im Sinne Lorenz von Steins. Der Besitz eines Amtes bedeute niemals Eigentum, auch nicht zusätzliche Möglichkeit freier Entfaltung der Persönlichkeit, sondern Übernahme einer zumeist eidlich bekräftigten Aufgabe. Folgerichtig frage der Begriff des Amtes immer auch nach der Person, die das Amt innehabe, dem Amtsträger also. Aufmerksam zu beobachten und kritisch zu vergleichen sei hier der schleichende Wechsel von der Haltung des
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Köttgen (1962), S. 119–150. Ebd. S. 122. Vgl. Hennis (1999), S. 24–36. Der Aufsatz ,Das Modell des Bürgers‘ erschien 1957 in derselben Ausgabe der ,Zeitschrift für Politische Bildung (Gesellschaft – Staat – Erziehung)‘, in der auch, auf Anregung Hennis’, Rudolf Smend die Wiederaufnahme seiner Akademierede von 1943 über ,Politisches Erlebnis und Staatsdenken‘ veröffentlichte. Hennis greift Smends Ausführungen auf, vergleicht sogar, darin Smends Stil eher ungemäß, die Wahrnehmung des Staatslebens mit dem eines Fußballspiels. Auch im Falle eines Modells des Fußballfans gehe es nicht nur um Begeisterungsfähigkeit und Entladungen von Freude, Unzufriedenheit, Zorn oder Spott. Ebenso gefordert sei hier die genaue Kenntnis dessen, was sich auf dem Spielfeld begibt, nicht nur eine ständige Präsenz der Regeln einschließend, sondern auch die umfassende Erfahrung und das Wissen von einem „guten“ Dribbling, Schuss etc. sowie das Erkennen einer taktischen Aufstellung und der in den Spielfluss integrierten spontanen Veränderungen dieser Taktik. Im Falle des Verfassungslebens ist es die Ämterordnung, die auf ganz ähnliche Weise vom „guten“ Staatsbürger wahrzunehmen ist: die Ordnung der Ämter selbst, ihre Kompetenzen und ihr in gewisser Weise geregeltes Zusammenspiel ebenso wie die individuelle oder auch bewusst traditionelle Gestaltung dieser Aufgaben durch die die Ämter bekleidenden Personen, ihre Eigenheiten, die Zögerlichkeit, die volle Ausschöpfung oder auch eventuelle Übertretung der Amtskompetenzen. Und so, wie es einen Verteidiger geben mag, der auf Grund der Spiellage die eigene Hälfte verlässt, um zu einem Flankenlauf zu starten, so ist auch etwa ein Innenminister denkbar, der sich vehement und wiederholt zu einer geplanten Steuerreform oder zu aktuellen Fragen der Außenpolitik äußert. Auch die Sache des Vertrauens und der Erwartungshaltung ist durchaus vergleichbar: Von dem Spieler, dem die Rolle des sogenannten Spielmachers oder diejenige des Verteidigers, der den torgefährlichsten Stürmer der gegnerischen Mannschaft zu decken hat, anvertraut wird, wird, wenn auch innerhalb eines ganz anderen Bereichs, in gleicher Weise etwas erwartet wie von einem Politiker, Mann oder Frau, der das Amt des Bundeskanzlers oder das des Innenministers durch das Parlament bzw. durch den Regierungschef selbst anvertraut bekommt. 27
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Amtsinhabers zu derjenigen seines haltungsethischen Gegenspielers, des Managers und Funktionärs. Gerhard Leibholz, für den zumindest der Abgeordnete nur noch „technisch-organisatorisches Zwischenglied“ sei, sehe in der durchgehenden Funktionalisierung einstiger Ämter im Zentrum politischer Willensbildung eine notwendige Entwicklung.28 Solche Auffassungen rührten wohl nicht zuletzt daher, dass die amtsrechtliche Qualität des Mandats durch beamtenstaatliche Tradition lange im Unklaren gelassen worden sei. Aber auch „geistig interessierte ethisch verankerte Teilnahme des freien Bürgers am Staatsleben“, wie Rudolf Smend die Einordnung in das Verfassungsleben noch mit den Worten des Reformers Boyen aufgefasst habe29, sei dann nicht länger von Belang. Die soziologische Aussage, dass der Mensch durchaus bereit sei, „Arbeit als austauschbar, als Job und seine soziale Rolle als bloße Maske zu betrachten“30, gebe dem Juristen zu denken, der den Sinn für das Ethos des Amtes noch voraussetze. Der Funktionär sehe seine Aufgabe an keine „Kulturwertidee“31 (Max Weber) mehr gebunden; entscheidendes Kennzeichen der Technik und des technisch-mechanischen Denkens sei es ja, dass sie „von sich aus keine selbständige Wertart begründet“, wie Eduard Spranger es formuliert habe.32 Arnold Gehlen habe darauf aufmerksam gemacht, wie die Institution langsam durch Organisation ersetzt werde, nicht selten mit der Folge allgemeiner Enthemmung des Zwecksetzens und einer Ausdehnung der Willkür.33 Das öffentliche Amt, etwa dasjenige des Ministers, könne aber weder rein funktionell noch lediglich in dienstrechtlicher Perspektive verstanden werden. Die Übertragung eines öffentlichen Amtes setze die Inkorporation seines Inhabers voraus, auf Grund deren sich das Gemeinwesen mit den Qualitäten der Inhaber seiner Ämter identifiziere; oder, wenn dies zu weit gehe, in gewisser Weise mit der Ämterordnung des politischen Gemeinwesens. Der Status solcher Organe könne jedoch nur auf dem Boden des öffentlichen Rechts gewonnen werden. Nur derjenige werde als Amtsträger respektiert, dem sein Amt von einer hierzu legitimierten Instanz anvertraut worden sei. Die Würde des Amtes ist immer und überall eine Frage der staatlichen Mitte. Lorenz von Stein sagte für seine Zeit, das Amt bedürfe des Königtums nicht nur organisch, sondern auch ethisch. Mit dem Wechsel der Staatsform, so Köttgen in Fortsetzung des 28 Leibholz, Gerhard: Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, Berlin: de Gruyter 21960, S. 228. 29 Köttgen (1962), S. 123. Vgl. Smend (31994), S. 317 Anm. 13. 30 Plessner, Helmuth: Das Problem der Öffentlichkeit und die Idee der Entfremdung. Rede anläßlich der Übernahme des Rektorats der Universität am 7. Mai 1960, Göttingen 1960, S. 20. 31 WuG S. 553. 32 Spranger, Eduard: Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit, Halle a. d. S. 5. Aufl. 1925, S. 362. 33 Vgl. Gehlen, Arnold: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Reinbek 1957, S. 116.
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Smendschen Denkens über das problematische Dogma der Volkssouveränität, müsse nicht notwendigerweise ein amtsrechtliches Vakuum entstehen. Die Grundrechtsauslegung Smends habe in dieser Sache eine ernst zu nehmende Richtung gewiesen. Für die Demokratie müsse Steins Diagnose etwa so lauten: Der Abgeordnete bedarf des Wahlvolkes nicht nur organisatorisch – mit Smend gesprochen: funktionell-integratorisch –, sondern auch ethisch – mit Smend: symbolisch. Hier wird der Gegensatz von öffentlichem Recht und Privatrecht deutlich, mit dem Rudolf Smend sich Zeit seines Lebens befasst hat; der Unterschied von politisch-ethischer und öffentlich-normativer Staatsverfassung zu privatrechtlichen Organisationsmodellen. Letztere kennen das anvertraute Amt nicht. 3. Ulrich Scheuner – Erweiterung des Regierungsbegriffs Ein Text, der insbesondere in seiner Anknüpfung an Rudolf Smends Erörterungen über die Politische Gewalt im Verfassungsstaat von 1923 zu sehen ist, findet sich in Ulrich Scheuners großem Aufsatz über den Bereich der Regierung, veröffentlicht in der Festschrift von 1952 anlässlich Rudolf Smends siebzigsten Geburtstages.34 Zu den Errungenschaften des Verfassungsdenkens Smends, so Scheuner, gehöre zweifelsohne seine Erörterung des Bereichs der Regierung. Lange Zeit sei die Diskussion um den Begriff unter einem eng begrenzten Blickwinkel gesehen worden, indem entweder die Verwaltung als eine rechtlich gebundene, tätige Verwirklichung gegebener Zwecke bestimmt oder der Blick nur auf das Problem der richterlichen Prüfung der Regierungsakte gerichtet worden sei. Smend habe, in Anknüpfung an die ältere deutsche Staatslehre, hervorgehoben, dass Aufgabe und rechtliche Stellung der Regierung nur von dem Blick auf das Ganze des Staates zu erschließen seien.35 Jedoch sei Smends Auffassung zugleich der Ausweitung des Begriffs des Politischen entgegengetreten, da diese Erweiterungen eines mobile politique im Sinne des „totalen Staates“ in seinen Augen eher zu einer Verdeckung der eigentlichen Fragestellung nach den staatsleitenden Handlungen führte. Aus diesem Grund habe Smend das Rechtsleben zunächst aus dem von der Verfassung angeregten Bereich politischen Lebens ausgeklammert, um die Rechtsprechung nicht schon im methodischen Ansatz zu politisieren.36 Smend habe gewissermaßen dem Begriff der Regierung das „Heimatrecht“ wiedergegeben, welches dieser Begriff und seine Vorstellungswelt lange Zeit in der deutschen Staatslehre besessen hätten.37 Er sei dabei bis zu der Einsicht 34
Siehe Scheuner (1952). Vgl. ebd. S. 254 f. Siehe erneut Smend (31994), S. 79 ff. 36 Vgl. Scheuner (1952), S. 256 f., auch S. 272 f. zu Carl Schmitts Begriff des Politischen. 37 Ebd. S. 259. 35
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vorgedrungen, dass die eigentliche Aufgabe der Staatsleitung, nämlich die einer einheitlichen und charaktergebenden Zusammenfassung der gesamten Staatstätigkeit, vermittels der herkömmlichen Lehre der Gewaltenteilung sich nur unvollständig wiedergeben lasse. Der liberale Konstitutionalismus sowie die positivistisch-konstruktive Methode hätten in ihrem überwiegenden Interesse für die um Gesetz und Verordnung kreisenden Problematiken die Einsicht in den Bereich der Regierung verkümmern lassen und zugleich die Freiheit des Bürgers ausschließlich im Bereich gesetzesausführender Verwaltung gesehen. Dies habe dann zu einer Überbetonung des Verhältnisses von Gesetzgebung und Exekutive in ihrer ausführenden Funktion als Verwaltung geführt, ja Labands und Jellineks Staatslehre habe die gesamte Staatstätigkeit geradezu auf diesen Bereich reduziert und die Gewaltenteilung somit als eine starre Trennung von Funktionsbereichen erscheinen lassen. Die Vorstellung von einem freiheitlichen Staatswesen nach Art des anglo-amerikanischen Verfassungsverständnisses habe in dieser staatswissenschaftlichen Umgebung kaum aufkommen können.38 Ein Begriff der Regierung, so Scheuner, sei zu gewinnen, indem auf das Ganze des Staates gezielt werde, auf die ineinander verschränkten Momente der Zielsetzung und der Leitung des Staatslebens. Darin werde der Regierungsbegriff wohl über die Grenzen der bekannten Unterscheidung der Gewalten hinausreichen.39 Auf diese Weise sei die alte Bedeutung der gubernatio und die des angelsächsischen government einzuholen.40 Indem Scheuner, unverkennbar an Smends Ausdrucksweise anknüpfend, den Staat als einen geistigen Lebensprozess begreift, in dem menschliches Handeln über den Wechsel der Individuen und der Zeit hinweg zu einheitlichem Wirken zusammengefasst werde, gelangt er zu der Einsicht, „im letzten Grunde“ sei „das Wesen des Staates nur aus einer umfassenden Deutung des menschlichen Lebens“ zu bestimmen.41 Diese Art des Regierens, durchgeführt in unterschiedlichen Gradabstufungen, in verschiedener Eigenart, die sich gerade aus der Weise der Einschränkung ihrer Regierungsbefugnisse ergibt42, findet sich in allen Bereichen der vermeintlich 38
Vgl. ebd. S. 259–268. So nimmt der Bundespräsident im Staatsleben der Bundesrepublik Deutschland sicherlich Regierungsaufgaben wahr, auch wenn er aus dem Bereich des parlamentarischen Regierungssystems ausgeklammert bleibt. Vgl. dazu Ulrich Scheuners Einschätzung ebd. S. 281. 40 Vgl. ebd. S. 268 f., auch 278. 41 Ebd. S. 271. 42 Für die Bundesrepublik gesprochen: Der Kanzler und das Kabinett regieren vergleichsweise stark und aktiv und unter erhöhtem Verantwortungsgrad. Auch der Bundespräsident regiert, wenn auch mit zuweilen völlig anderen Mitteln als Kanzler und Kabinett dies tun können oder müssen und auch unter anderen Voraussetzungen rechtlicher sowie gesellschaftlicher, ja auch wohl medialer Art. Die Verantwortung des Bundespräsidenten ist allein schon durch Bewusstseins- und Erwartungshaltung der Bürger diesem Amt gegenüber eine ganz andere als die des Kanzlers oder eines Ministers. Auch ein der Regierungsfraktion oder -koalition zugehöriger Abgeordneter 39
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rein funktionalen Gewaltenteilungslehre. „Regiert“ wird folglich überall innerhalb der strukturell aufgefächerten staatlichen Ämterordnung, nicht zuletzt auch an der Stelle, an der diese unterschiedlichen Regierungsweisen wahrgenommen werden, im Bewusstsein des Menschen, der gerade in diesem Reflektieren und mitlebenden Denken eigentlich erst Staatsbürger ist. Im Weiteren erörtert Scheuner die Frage des Verhältnisses von Regierungsgewalt und Rechtsprechung. Die Grenze aller Verfassungsgerichtsbarkeit, und nichts anderes sei es, was Smend hier habe sagen wollen, liege darin, dass sie nicht in die politische Auseinandersetzung eingreifen dürfe. Sie könne den streitenden Parteien, etwa zwei in einem Konflikt liegenden Verfassungsämtern, ihre verfassungsrechtlichen Schranken aufweisen, jedoch nicht aktiv neues Recht gestalten. „[I]ndividuelle rechtserzeugende Akte staatsleitender Art“, die zwar „begrenzt“, aber „nicht gebunden“ seien, stünden ihr nicht zu.43 Gegenüber dem, was Smend bereits in Verfassung und Verfassungsrecht zur Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit gesagt hat44, wird hier von Scheuner im Grunde nichts Neues formuliert. In Weimar stellte sich das Problem noch nicht dar, aber für die Bundesrepublik liegt die Problematik vor allem darin, durch die klare Eingrenzung der Rolle der Rechtsprechung im Verfassungsleben die eigentlich politischen Ämter nicht von ihrer Pflicht zu Auseinandersetzung und Verständigung zu entlasten.45 Den Rückfall in ein Staatsverständnis, das demjenigen des Hauptstroms der frühkonstitutionellen Ära, dem literarisch-liberalen Verständnis des repräsentativen Parlamentarismus und dem des formaljuristischen Positivismus der spätkonstitutionellen und auch noch der Weimarer Staatsrechtslehre ähnelte, eine Fokussierung und Reduzierung des Staatslebens auf Gesetzgebung und den anschließenden „Gang nach Karlsruhe“, haben Scheuner und Smend 1952 und 1962 schon vorausgeahnt. regiert mit, auch dann, wenn er zu keinem bestimmten Ausschuss gehört oder sich nicht aktiv an der Tagesordnung beteiligt und nur seine Stimme bei der Parlamentsabstimmung abgibt. Und auch Abgeordnete, die nicht der Regierungskoalition angehören, können sich dennoch, je nach individuellen oder allgemeinen Umständen, für die Zustimmung oder Tolerierung gegenüber Kanzler und Kabinett entscheiden. Darüber hinaus sind die Oppositionsfraktionen ja ohnehin in der Lage, dem Kabinett durch eigene Anträge zu antworten oder sogar zuvorzukommen. Im Bewusstsein des die parlamentarische Auseinandersetzung verfolgenden Staatsbürgers ist auch der rein rednerische Versuch, ein Vorhaben des Kabinetts zu vereiteln, bereits in seiner bloßen Kontrastwirkung eine Form des Regierens. Es ist somit evident, dass auch das Bundesverfassungsgericht „regiert“, schon indem es etwa eine Verfassungsangelegenheiten betreffende Klage als unbegründet zurückweist. Aufmerksam zu registrieren sind die Gradabstufungen des Regierens gemäß der von der Verfassung organisierten Ämter und ihrer Befugnisse, und die Verfassungsbetrachtung kann hierin zu einem großen Teil ganz in dem von Wilhelm Hennis in ,Das Modell des Bürgers‘ beschriebenen Sinn vor sich gehen. 43 Vgl. Scheuner (1952), S. 275, Zitate S. 279 und 282. 44 Vgl. dazu erneut Smend (31994), S. 202 f. 45 Vgl. dazu Scheuner (1952), S. 290 ff.
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Der Regierungsbegriff und das Verhältnis der zu verantwortenden Regierungstätigkeit zur Rolle der Rechtsprechung in Verfassungsangelegenheiten ist das eine Thema, das Ulrich Scheuner in der Nachfolge des Smendschen Denkens in der Zeit der noch jungen Bundesrepublik bearbeitet hat. Ein zweites stellt die Frage nach dem repräsentativen Prinzip und dem Verhältnis der politischen Parteien innerhalb des Verfassungslebens dar.46 Scheuners Ausführungen, ebenso wie diejenigen Wilhelm Hennis’, zeigen, dass das Verständnis der Repräsentation eng mit dem Amtsgedanken zusammenhängt, dieser wiederum unverständlich bleibt ohne die Frage nach dem der Verfassung zu Grunde liegenden Menschenbild. Unter Rekurs auf einen umfassenden begriffsgeschichtlichen Apparat stellt Scheuner heraus47, die Verlagerung der Parlamentarismus-Debatte – die in dem Streit zwischen Carl Schmitt und Richard Thoma, auf den sich ja auch Rudolf Smend in Verfassung und Verfassungsrecht kritisch bezog, indem er auf dessen letztendliche Unersprießlichkeit deutete48, ihren Ausgang genommen habe – auf das Ausspielen plebiszitär-demokratischer gegenüber repräsentativkonstitutioneller Argumentation lasse das Wesen der Repräsentation zu sehr in den Hintergrund treten. Dieses sei nicht mit dem Ende der liberal-konstitutionellen Ära unwiederbringlich untergegangen, denn es sei gar nicht erst in dieser oder mit ihr zusammen hervorgebracht worden. Das Wesen der Repräsentation, so Scheuner, sei gebunden an die Ideen des Gemeinwohls und der Mäßigung politischer Macht, den alteuropäischen Grundsätzen gemäß Obliti privatorum, curate publica und Quod omnes tangit, ab omnibus approbetur.49 Die Entwicklung zum Parteienstaat, die nahezu ausschließliche Konzentration auf die momentane politische Willensbildung, die Befürwortung plebiszitärer Einrichtungen zur Stärkung der Mitwirkung des Wahlvolkes sowie die aufreibenden Diskussionen um diese Angelegenheiten verdeckten, dass Repräsentation und Plebiszit sich durchaus nicht ausschlössen. Vernachlässigt werden sollte jedoch auch nicht der verpflichtende Charakter des repräsentativen Amtswesens, dessen Idee den Unterschied zwischen Regierenden und Regierten aufrechterhalte, insofern dieser Auffassung zufolge Demokratie keinesfalls bedeute, das Volk solle „selbst regieren“ im Sinne permanenter Entscheidungen und Willensdurchsetzung.50 Der Parlamentarismus-Streit und die Debatte um das Wesen der Repräsentation verkürzt vor allem die Breite des Demokratieverständnisses. Der zeit- und entwicklungsbedingten Unmöglichkeit einer Fortsetzung des repräsentativen Parlamentarismus die Notwendigkeit der Entwicklung zum demokratischen 46 47 48 49 50
Siehe Scheuner (1961). Vgl. ebd. S. 227 ff. Vgl. dazu erneut Smend (31994), S. 152 ff. Vgl. Scheuner (1961), S. 229 und 231. Ebd. S. 231.
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Parteienstaat mit plebiszitärer Akklamation der Parteiführer an der Spitze bürokratisch durchstrukturierter Apparaturen vorzuhalten, stellt eine solche perspektivische Verkürzung dar. Die vermeintlich demokratische Verbindung dieser beiden Extreme – weitgehend plutokratische Interessenvertretung bei zwischen Hysterie und Amüsement schwankender pluralistisch-diskursartiger Fassadenbildung im öffentlichen Raum, während staatliche Ämter den politischen Parteien als Beute überlassen werden und die Verdrängung klassischer Amtsaufgaben durch die projektorientierte Hektik der Parteiprogramme sich vollzieht – mag Ulrich Scheuner 1961 allenfalls vorausgeahnt haben. Die Idee der amtsmäßig ausgeübten Fähigkeit zur Verpflichtung der Staatsbürger hat jedenfalls in den engen Grenzen der Konventionalität dieses Demokratieverständnisses keinen Raum. 4. Horst Ehmke – Rekurs auf den Begriff des government Der Gedanke einer gradweisen Abstufung des Regierens ist es, den ein weiterer Smend-Schüler, Horst Ehmke, in seinem Beitrag zu der Festschrift von 1962 aufgreift.51 Ehmke plädiert zunächst einmal dafür, die Grenze zwischen „Staat“ und „Gesellschaft“ fallen zu lassen, mit der Absicht, in der Eigenart der menschlichen Verbände, die im weiteren Sinne Staat genannt würden, diejenige wirklicher politischer Gemeinwesen zu erkennen. Es handle sich dabei um Wirkungs- und Entscheidungseinheiten, wie Hermann Heller es formuliert habe, um einen menschlichen Verband, und zu einer Verdoppelung oder Teilung in „Staat“ und „Gesellschaft“ bestehe keinerlei Anlass. Kein Anlass also, die Selbstorganisation der Gesellschaft fortwährend gegen die Ämterorganisation der Staatsverfassung auszuspielen. Ebenso wenig Anlass bestehe dazu, der Verfassung des politischen Gemeinwesens weitere Verfassungen, etwa die sogenannte „Wirtschaftsverfassung“, gegenüber zu stellen. Es gebe eine Verfassung und das sei diejenige des politischen Gemeinwesens. Verfassungsrechtlich könne es somit nur um die Frage gehen, welche Maßstäbe und Verbindlichkeiten diese Grundordnung für das Zusammenleben der Menschen, auch für die rechtliche Ordnung der Wirtschaft enthalte.52 Ehmke beantwortet die Frage, was die Verfassung eigentlich für eine Aufgabe wahrnehme, folgendermaßen: sie organisiere – soweit sie dies könne – Formen des government. Was aber sei oder gehöre zum government? Solche Institutionen, die Führungs-, Koordinierungs- und Lenkungsaufgaben besäßen und in der Wahrnehmung dieser Aufgaben Einheitlichkeit und Einigkeit erzielten. Das Starren auf den sogenannten Staatsapparat und den Willensbildungsprozess als eine Folge positivistischen Interesses für die Staatsgewalt und das 51 52
Siehe Ehmke (1962). Vgl. ebd. S. 42 ff.
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Willensdogma53 habe übersehen lassen, dass die Institutionen der Meinungsund Willensbildung und auch die Leitungs-Institutionen keineswegs mit dem politischen Gemeinwesen identisch seien noch über ihm stünden. Vielmehr seien sie dessen, wie Rudolf Smend es ausgedrückt habe, „integrierende Bestandteile“.54 Die politischen Parteien seien lange Zeit ein „Stiefkind“ des deutschen Staatsrechts gewesen.55 Erich Kaufmann erschienen sie einst als „unheimliche gesellschaftliche Gewalten“56, Werner Weber bezeichne sie als „Staat im Staate“57. Durch den Art. 21 GG hätten sie inzwischen den Status verfassungsrechtlicher Institutionen erlangt. Vor allem stellten sie ein wesentliches Moment der politischen Willensbildung dar. Ihre Aufgabe könne darin gesehen werden, „unter Einschmelzung und Ausgleich spezieller Interessen Vorstellungen für die Ordnung und Politik des ganzen Gemeinwesens zu entwickeln.“58 Fraglich bleibe dennoch der genaue verfassungsrechtliche Ort der politischen Parteien. Art. 1 Abs. 3 GG erkläre in Aufzählung der drei herkömmlichen Formen der „Staatsgewalt“ – Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung – diese für unmittelbar an die Grundrechte gebunden, lasse die politischen Parteien aber außen vor. Erkläre die Verfassungsvorschrift nicht auch den Bereich des government als an die Grundrechte gebunden? Offen bliebe hier die Ehmke zufolge durchaus sinnvolle Frage, ob und in welcher Beziehung die politischen Parteien government und insofern an die Grundrechte zu binden seien. Nach Ehmke ist das Problem des government mit dem Begriff der Regierung in seinem herkömmlichen Verständnis nur unzureichend wiedergegeben. Verstehe man den Staat schlechthin als „Herrschaft“, so gingen die speziellen Führungs-, Koordinierungs- und Lenkungs-Funktionen in ihm unter. Zum gleichen Ergebnis käme man auch von einer formalistisch missverstandenen Gewaltenteilung her. Otto Mayers Deutsches Verwaltungsrecht habe, woran bereits Rudolf Smend Anstoß nahm, die Staatsgewalt in Gesetzgebung und Justiz eingeteilt, dann die Verwaltung negativ als das definiert, was nicht Gesetzgebung und nicht Justiz sei, und schließlich erklärt, für die Regierung sei „nichts übriggeblieben als das Allgemeine, das darüber steht“. Dieses Allgemeine, so Mayers 53 Horst Ehmke verweist ebd. S. 45 Anm. 78 auf die scharfe Kritik an gegenwärtigen soziologischen Arbeiten zum Verfassungsleben bei Landshut, Siegfried: Zum Begriff und Gegenstand der politischen Soziologie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie 8 (1956), S. 410–414. 54 Vgl. Ehmke (1962), S. 44 f. 55 Ebd. S. 46. 56 Kaufmann, Erich: Die Regierungsbildung in Preußen und im Reiche, in: Die Westmark 3 (1921), S. 205–218, insb. 205 und 207. 57 Weber, Werner: Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, Stuttgart 21958, S. 55 und 59. 58 Ehmke (1962), S. 47.
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Ausführung, sei rein geistiger Natur, um dann mit positivistischer Folgerichtigkeit zu enden: „Uns geht es weiter nichts an“.59 Demgegenüber hätten Rudolf Smend und Ulrich Scheuner den Bereich der Regierung für die Verfassungstheorie wieder aufgenommen.60 Aber auch bei ihnen sei der Begriff nach wie vor überwiegend an der Exekutive orientiert. Für Engländer und Amerikaner sei es selbstverständlich, Parlament und Kongress als zum government gehörig zu denken. Für die Bundesrepublik gelte es, so Ehmke, „die Einheit unserer verfassungsrechtlichen Institutionen besser zu erarbeiten.“61 Bei strenger Beibehaltung der dem Amtsgedanken entsprechenden Nicht-Identität von Regierenden und Regierten sei doch zu überlegen, an welchen Orten im politischen Gemeinwesen überall „regiert“ werde. Öffne man sich der Einsicht, „daß es sich auf seiten der Regierenden nicht anders als auf seiten der Regierten um die eine Frage der guten politischen, und das heißt guten menschlichen, Ordnung handelt“, dann möge man mit James Madison, „einem der großen konservativen Köpfe der amerikanischen Revolution“62, sagen: „It may be a reflection on human nature that (. . .) devices should be necessary to control the abuses of government. But what is government itself but the greatest of all reflections on human nature?“63
II. Die Problematik der repräsentativen Demokratie 1. Siegfried Landshut – Der Widerspruch von Repräsentation und Demokratie Es sind vor allem Erörterungen des Wesens der Repräsentation sowie des repräsentativen Verfassungsstaates, in denen eine Fortführung des Verfassungsdenkens Rudolf Smends, insbesondere in Gestalt des bei Wilhelm Hennis auf den Demokratiebegriff bezogenen Amtsgedankens, stattfindet. Hennis’ Betonung des Amtes, von dem aus die Frage nach Repräsentation und Gemeinwohl 59 Mayer (1895), S. 3 ff. Diese funktionalistische Auffassungsweise der Gewaltentrennung hatte den staatsrechtswissenschaftlichen Hintergrund bereits zu Rudolf Smends Dissertation des Jahres 1904 abgegeben. Hiervon ausgehend war Smend zu der Einsicht gelangt, die formaljuristische Methode sei nicht in der Lage, die historisch-politische Individualität des Staates zu erfassen, und somit unfähig, eine differenzierte Staatsformenlehre zu gestalten. In der oben dargestellten Abfolge der staatsrechtlichen Schriften Smends konnte gezeigt werden, dass in der Erörterung des Regierungsbegriffs, der Regierungsaufgabe, den einheitlichen Charakter des Staatslebens fortlaufend hervorzubringen, der eigentliche Ausgangspunkt des gesamten Verfassungsdenkens Smends zu sehen ist. 60 Ehmke verweist auf Smends ,Die politische Gewalt im Verfassungsstaat‘ (1923) sowie auf Ulrich Scheuners ,Begriff der Regierung‘ (1952). 61 Ehmke (1962), S. 49. 62 Ebd. 63 Federalist (1982), S. 316 (Nr. 51).
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3. Teil: Fortführungen des Verfassungsdenkens Rudolf Smends
erst sinnvoll werde, und die von Siegfried Landshut aufgezeigte verfassungsrechtliche Problematik des Repräsentationsbegriffes64 sind die Hauptbezugspunkte der Bestrebungen von Autoren wie Böckenförde, Kielmansegg und Isensee, in der sogenannten repräsentativen Amtsdemokratie nicht etwa eine praktikable Notlösung und minderwertige Alternative, sondern vielmehr die genuine Form der Demokratie herauszustellen. Spätestens seit dem frühen 19. Jahrhundert, so Landshut, bedeutete Repräsentation – in den üblichen Zusammensetzungen „Repräsentativsystem“ oder „representative government“ – eine Gegenkraft gegenüber der absoluten Souveränität des Fürsten. Ein Repräsentativsystem war demnach eine Verfassungsordnung, die gegenüber der Herrschaftsgewalt des Monarchen ein Organ zur Vertretung der Meinungen und Interessen der Untertanen vorsah. Überall in der Literatur, spätestens seit dem berühmten Kapitel in Montesquieus Esprit des Lois (XI, 6), sei die Überzeugung anzutreffen, dass eine kleinere Versammlung, ein Parlament, das an Stelle des selbst abwesenden Volkes berät und beschließt, notwendig sei, sobald die Versammlung der gesamten Bevölkerung unmöglich werde. Dieser Auffassung nach, so Landshut, sei Repräsentation ein Ersatz für die unmittelbare Selbstanwesenheit der Bürger. Wenn aber, so habe der Widerspruch gegen diese Theorie der Repräsentation in der Nationalversammlung von 1789 gelautet, die Souveränität in dem unmittelbaren und einheitlichen Willen des Volkes, der volonté générale, bestehe und als Wille nicht abgetreten werden könne, ohne damit aufzuhören, Wille des Volkes zu sein, so könnten die vom Volk durch Wahl entsendeten Vertreter nichts tun, beschließen oder auch unterlassen, was ihnen nicht ausdrücklich von ihren Wählern aufgetragen worden sei. Einerseits besteht also die praktische Undurchführbarkeit einer unmittelbaren Regierung und Gesetzgebung durch das Volk, andererseits die prinzipielle Unvereinbarkeit einer repräsentativen Versammlung selbständiger Abgeordneter unter Voraussetzung des Prinzips der Volkssouveränität. Das Resultat der Debatten in der Nationalversammlung lautete schließlich dahin, das Gesetz als Ausdruck des Gemeinwillens zu begreifen (Art. 6 der Déclaration). Aber dieser Versuch einer Vereinigung des Unvereinbaren in einem Artikel, so Landshuts Bedenken, hebe den prinzipiellen Widerspruch zwischen dem „unveräußerlichen“ Willen des Volkes und dem Recht einer Versammlung von Repräsentanten, Entscheidungen ohne Befragung des Volkes zu treffen, nicht auf. Die Aporie des Gedankens einer Repräsentativversammlung auf dem Boden der Volkssouveränität blieb demnach bestehen. Dass ein gewähltes Parlament als ein praktikabler Ersatz für die nicht praktikable Selbstentscheidung des anwesenden Volkes anzusehen und dass somit eine repräsentative Versammlung 64 Landshut, Siegfried: Der politische Begriff der Repräsentation (1964), in: Zur Theorie und Geschichte der Repräsentation und der Repräsentativverfassung, hg. v. Heinz Rausch, Darmstadt 1968, S. 482–497.
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als eine Manifestation, als ein Organ der Volkssouveränität zu verstehen sei, wurde zu einer nicht länger diskutierten Selbstverständlichkeit. Den Entscheidungen des repräsentativen Organs wird ein hypothetischer Volkswille unterstellt; das Parlament agiert fortan als der Souverän im verkleinerten Maßstab. Von diesem Standpunkt aus erklärt sich auch das Votum für die Verhältniswahl: eine „gerechte“ Wahl sei nur eine solche, die es ermögliche, alle Richtungen, Meinungen und Interessen, die im Wahlvolk festzustellen sind (oder dort angenommen werden), maßstabsgetreu im Parlament abzubilden, einem Spiegel, einer Fotografie gleich. In der Folge ist die politische Theorie dazu übergegangen, unter einem „Repräsentativsystem“ eine Verfassungsordnung zu verstehen, in der der Wille des souveränen Volkes durch eine Volksvertretung zum Ausdruck gebracht werde. In dieser Auffassung verbleibt jene Unvereinbarkeit von Repräsentation und Souveränität als ein nicht mehr registrierter Bestandteil parlamentarisch-demokratischer Verfassungen aber bestehen. Von einem gemischt plebiszitär-repräsentativen demokratischen Regierungssystem lässt sich aber nur sprechen, wenn Repräsentation und Souveränität auf einen Volkswillen zurückgeführt werden, auf einen „hypothetischen“ in dem einen, auf einen „empirischen“ im anderen Fall. Das Prinzip der Repräsentation, so Landshut, habe aber mit einem Volkswillen keinen Zusammenhang, sei dieser nun hypothetisch oder empirisch – wobei auch jeder sogenannte empirische Volkswille ja letztlich immer nur ein hypothetischer sein könne.65 Art. 20 GG enthält nun den Grundsatz der Volkssouveränität: alle Staatsgewalt, also die ungeteilte Summe aller Staatsgewalt, die summa potestas, geht vom Volk aus. Art. 20 sagt auch, wer das Volk sei: es sind alle Wahlberechtigten, die Summe derjenigen, die wählen können. Die pauschale Staatsgewalt, die der Summe aller Wähler zukommt, wird laut Verfassung in zweifacher Weise ausgeübt: durch Wahlen sowie durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung. Die gesetzgebende Gewalt, das Parlament, erscheint als ein Organ, durch das der Souverän ausüben lässt, was eigentlich ihm allein zusteht. Das Verhältnis zwischen dem Souverän und seinem Organ kann somit kein anderes sein, als das von Auftraggeber und Beauftragtem. Ganz anders dagegen Art. 38 GG: Die Stellung der Abgeordneten wird hier in dreifacher Weise gekennzeichnet: sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden, in ihren Entscheidungen allein ihrem Gewissen unterworfen. Diese Art der Repräsentation bedingt völlige Selbständigkeit und Unabhängigkeit in Überlegungen und Entscheidungen. Somit kann aber die Körperschaft der Abgeordneten, das Parlament, nicht Organ des Souve65
Vgl. ebd. S. 482–487.
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räns sein, durch das dieser seinen Willen ausübt oder ausüben lässt. Nach Art. 38 gibt es hinter dem Parlament nicht noch eine höhere Instanz, das souveräne Volk, dessen Willen die Volksvertretung zum Ausdruck bringen soll. Es liege auf der Hand, folgert Landshut, dass die Bestimmungen in Art. 20 und Art. 38 GG sich gegenseitig ausschlössen. Die beiden sich widersprechenden Artikel des Grundgesetzes spiegelten die unaufgelöste Problematik wider, die seit der Debatte der Nationalversammlung von 1789 in dem Begriff des Repräsentativsystems (später der parlamentarischen Demokratie) verborgen geblieben sei. Die Bestimmungen in Art. 20 setzten das Volk als eine ungegliederte, homogene Vielheit gleicher Einzelner voraus; Art. 38 dagegen eine Gesellschaft, in der es besondere Personen gibt, Repräsentanten, die geeignet sind, mit einer herrschaftlichen Verantwortung betraut zu werden.66 Mit der Übernahme der Institution des Parlaments habe, im Namen der Volkssouveränität, ein politisches Strukturprinzip Eingang gefunden, das dem der Souveränität entgegengesetzt sei. Die Arbeiten von Carl Schmitt und Gerhard Leibholz67 hätten den Irrtum nur weitergetragen, indem sie weiterhin von dem eingewurzelten Missverständnis ausgegangen seien. Um zu verstehen, was eigentlich ein Repräsentativsystem sei, bedürfe es der Lösung des politischen Prinzips der Repräsentation aus der Koppelung mit dem Begriff der Souveränität und einer erneuten Bestimmung. Repräsentieren, so Landshut, bedeute etwas präsent, das meine gegenwärtig, wirksam, erfahrbar machen, was an sich nicht gegenwärtig, nicht „da“ sei. Die Repräsentation falle somit unter die allgemeinere Kategorie der Stellvertretung. Ein solches Verhältnis der Stellvertretung sei in den verschiedensten Bereichen anzutreffen: im Bereich der Dinge in Form des Modells; im Bereich der Personen in der Vormundschaft, der Vertretung, im Mandat; im Bereich der Ideen in Form der Allegorie oder des Symbols. Die Repräsentation sei nun in keinem der genannten Bereiche vollständig unterzubringen, sie sei ein Verhältnis, das ganz speziell im Öffentlichen, im Politischen seinen Platz habe. Am nächsten stehe dieses Verhältnis demjenigen des Symbols. Der Repräsentant als Person bringe etwas zu gegenwärtiger Wirksamkeit, was ist, aber ohne ihn nicht da wäre, nicht in sichtbarer Erscheinung wirksam sein könnte. Das, was im Repräsentanten gegenwärtig wird, ist Landshut zufolge etwas Ideelles, Geistiges.68 Präsent und erfahrbar gemacht werde jenes besondere Prinzip, das die Einheit und Gemeinsamkeit der politischen Lebensgemeinschaft ausmache, ein regulatives Prinzip, das als ein „Imperativ der Lebensführung“69 die Angehörigen der 66
Vgl. ebd. S. 487–490. Landshut nennt Schmitts ,Verfassungslehre‘ (1928) und Leibholz’ ,Das Wesen der Repräsentation‘ (1929). 68 Vgl. ebd. S. 491. 69 Ebd. S. 492. Johannes Althusius (in der ,Politica Methodice Digesta‘, Kap. 21, 16) spreche in diesem Sinne von der regula vivendi. 67
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Gemeinschaft binde und verbinde und die substanzielle Einheit des Gemeinwesens bewirke. Eine solche gemeinverbindliche Leitidee der Lebensführung vermöge überhaupt erst, die Identität einer politischen Gemeinschaft durch die Zeit, ihre Kontinuität im Wechsel der Zeit zu garantieren. Dennoch sei diese repräsentierte Leitidee nichts Feststehendes, nichts, das gleichsam in höheren Regionen über dem Ganzen schwebe. Das Repräsentierte existiere für das menschliche Bewusstsein nur, sofern es repräsentiert werde, und doch sei es nicht mit der individuellen Subjektivität des Repräsentanten identisch, sondern sei etwas über die Person hinausweisendes Eigenes und den Repräsentanten Verpflichtendes. Niemals können Personen repräsentiert werden, aber nur Personen können repräsentieren, so Landshut.70 Was von ihnen präsent gemacht werde, seien nicht etwa wieder Personen, sondern ein allgemeines Prinzip. Und dies sei es, was der Repräsentation ihre Würde vermittle und ihr den Charakter eines erhöhten Seins verleihe – nicht um ihrer selbst oder gar der Personen willen, sondern mit Hinblick auf die gemeinverbindliche Idee. Das Auftreten der Idee des Allgemeinen in der Öffentlichkeit verlange nach gemäßen Darstellungsformen. Und das Wirksamwerden der für die politische Lebensgemeinschaft verbindlichen Idee der Gemeinsamkeit erfordere Personen, Repräsentanten, deren Verhalten und deren Gesinnung auf die allgemeine Sache, die res publica, gerichtet seien. Was verpflichte, sei niemals Sache bloßen Wollens; aus diesem Grund werde auch niemals ein Wille repräsentiert, schon gar nicht der sogenannte Volkswille. Alle Repräsentation leite sich von einer dem Repräsentanten vorgegebenen sittlichen Idee des Ganzen her. Innerhalb der verfassten Ordnung des politischen Gemeinwesens vollziehe sich Repräsentation in bestimmten Institutionen und Ämtern, in umschriebenen Kompetenzen und dauernden Verfahren. Die Fähigkeit zur politischen Repräsentation aber sei eine menschliche Besonderheit und damit bedingt durch die Subjektivität und Zufälligkeit der Persönlichkeit. Die Übereinstimmung von objektivem Anspruch des Amtes und subjektiver Zufälligkeit der Qualifikation bleibe stets eine offene und gerade deswegen wohl die entscheidende Frage des „Repräsentativsystems“, welches die repräsentative Ämterdemokratie darstellt.71 70 Darin bestehe eines der Missverständnisse der Repräsentation bei Schmitt (1928), S. 210. 71 Es kann an dieser Stelle nicht erörtert werden, inwiefern Landshuts Abhandlung von 1964 über den Repräsentationsbegriff und seine Betonung des gewissermaßen „aristokratischen“ Elements im Wesen der Repräsentation mit dem im Oktober 1963 stattgefundenen erstmaligen Kanzlerwechsel zu tun hat. Hinzuweisen ist auf Hennis, Wilhelm: Richtlinienkompetenz und Regierungstechnik (1964), in: ders. (1999), S. 106–141, mit den Hofmannsthal zitierenden Worten beginnend: „Wenig mehr als ein Jahr ist vergangen, seitdem Dr. Adenauer das Amt des Bundeskanzlers seinem Nachfolger übergab. ,Aber der Richtige, wenn’s einen gibt . . .‘ heißt es in der ,Arabella‘.“ Die Betonung des unverkennbar vorhandenen aristokratischen Elements des
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2. Ernst-Wolfgang Böckenförde – Die Frage nach einem übergreifenden Bezugspunkt Die zentrale Schwierigkeit aller Demokratietheorie, so Ernst-Wolfgang Böckenförde in seiner Erörterung des Verhältnisses von Demokratie und Repräsentation, bestehe in der Frage nach eben diesem Verhältnis, dem von Demokratie und Repräsentation.72 Bedeutet Repräsentation ein Defizit an Demokratie, oder stellt sie erst die eigentliche Vermittlung von spezifisch demokratischer Legitimität dar? Das Wesen der Demokratie werde nicht selten in der Selbstregierung des Volkes gesehen. Nicht etwa andere, die dem Volk gegenüberstehen, ihm gegenüber eine eigene Autorität haben, sondern die Bürger selbst sollen entscheiden. Als volle Demokratie gelte somit die direkte, unmittelbare Demokratie, die die Einheit und Identität von Regierenden und Regierten impliziere. Hauptanknüpfungspunkte dieser Theorie bestünden 1. in der gängigen Überlieferung vom Charakter der attischen Demokratie des fünften und vierten Jahrhunderts, 2. in der These Rousseaus von der Unübertragbarkeit der Souveränität, dem nicht zu repräsentierenden Volkswillen, und 3. in Karl Marx’ Betrachtungsweise der Pariser Kommune von 1871 als Aufhebung des Staates und Übergang zur unmittelbaren Selbstherrschaft des Volkes. Das Wesen der Demokratie läge demnach in der unmittelbaren Selbstherrschaft des bei sich bleibenden Volkes, nicht in der Konstituierung selbsthandelnder Organe vom Volk her und in Verantwortung dem Volk gegenüber. Durch diesen Demokratiebegriff erhalte die mittelbare, repräsentative Demokratie ihre alleinige Rechtfertigung aus den faktisch-technischen Gegebenheiten, ihrer schwer zu leugnenden Praktikabilität auf Grund von Großräumigkeit und Bevölkerungszahl. Für die basisdemokratische Bewegung aber bedeute Demokratie stets mehr Beteiligung von „unten“, die Partizipation der Betroffenen an allen Entscheidungen.73 An Kritik bezüglich dieser Demokratievorstellung lässt Böckenförde es nicht fehlen. Sie sei gänzlich irreal, und zwar nicht in erster Linie in pragmatischer Hinsicht – in dem Sinne, dass sie praktisch-politisch undurchführbar sei –, sondern auch irreal in einem theoretischen Sinn. Dies lasse sich wie folgt aufzeigen. Es sei zu fragen, wie es um die Äußerungs- und Verwirklichungsbedingungen des Volkswillens stehe, ja ob ein solcher überhaupt real vorhanden oder ob er bloß eine Fiktion sei. Allenfalls greifbar werde er in dem gemeinsam in einer unbestimmten Vielheit lebendigen Willen zum gemeinsamen politischen Leben, zum Staat, zur Ordnung und Gestaltung gemeinsamer politischer LebensverhältAmtsgedankens hängt auch ab von der verschieden begründeten Unzufriedenheit hinsichtlich des politischen Personals. 72 Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Demokratie und Repräsentation (1983), in: ders.: Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M. 1991, S. 379–405. 73 Vgl. ebd. S. 379–381.
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nisse. Aber dieser Wille existiere nicht als etwas Gegebenes, an sich schon Fertiges, das nur abzurufen und auszuführen wäre. Vielmehr werde er in seiner konkreten Bestimmtheit hervorgerufen, aktualisiert, und zwar auf Vorformungen enthaltende Erfragungsstrategien hin. Beim Volksentscheid liege das Recht gezielter Fragestellung bei einem staatlichen Organ, beim Volksbegehren liege die Initiative meist bei einer bestimmten Anzahl von Bürgern oder sogar einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe. Die Pluralismustheorie74 habe in diesem Zusammenhang die These der allgemeinen Interessenbeteiligung und Interessenrelevanz im Prozess politischer Willensbildung ins Spiel gebracht. Das Ergebnis der Diskussion habe jedoch in der Konstatierung einer Elitenstruktur bestanden. Nur bestimmte Gruppierungen schöpften die Möglichkeiten der Interessenbeteiligung aus und erhielten im politischen Prozess somit vorrangige Bedeutung. Beteiligung ist immer von Initiativträgern abhängig. Die Demokratie, so Böckenfördes Bedenken, werde auf diesem Weg zum Dienstleister für korporierte Minderheiten, denen die besten Möglichkeiten gegeben sind, ihre Interessen zu äußern. Es fehle im politischen Leben der Ort für die Austragung von Fundamentalkonflikten, die einer Mobilisierung der Gesamtheit der Bürger bedürfe. Die Auseinandersetzung um und mit Fundamentalkonflikten stehe nicht nur dem einen oder anderen Interesse entgegen, sie stehe überhaupt quer innerhalb eines interessenpluralistisch ausgefüllten Beteiligungsrahmens. Das Leben der Einzelnen gehe nicht in politischer Beteiligung auf, ja Politik – im Sinne von Interessenvertretung und -durchsetzung – bilde nicht einmal den Schwerpunkt menschlichen Lebens. Politische Aktivität und die damit einhergehende Mobilisierung seien eine Sache von Minderheiten. Das Postulat allgemeiner politischer Beteiligungsmöglichkeit besitze nach außen hin zwar einen unmittelbar-demokratischen Anstrich, in der politischen Wirklichkeit werde mit ihm jedoch Legitimation und Entfaltungsraum für politische Einflusspositionen aktiver Minderheiten begründet. Die sich auf Hermann Heller75 stützende organisationstheoretische Analyse des Programms der direkten Demokratie sieht den Staat als politische Einheit, welche entstehe und bestehe als Wirkungs- und Handlungseinheit; diese komme zu Stande durch Organisationszusammenhänge. Den Staat denke Heller als ein Handlungsgefüge, das einer Zusammenordnung und Ausrichtung bedürfe, ansonsten käme es zu einem unkoordinierten, unbezüglichen Nebeneinander verschiedener Aktionen. Das staatliche Handlungsgefüge bedarf also neben einer einheitlichen Leitung auch bestimmter Ziele. Der bloße Wille zur Einheit ist 74 Siehe dazu Scharpf, Fritz W.: Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, Kronberg i. Ts. 21975, S. 29 ff., 48 ff., 57 ff. 75 Böckenförde bezieht sich im Wesentlichen auf Hellers posthum veröffentlichte ,Staatslehre‘ (1934). Siehe die genauen Stellenangaben bei Böckenförde (1991), S. 386 ff.
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nicht ausreichend, um eine solche Handlungseinheit hervorzubringen. Es bedürfe weiterhin der Entscheidung über Art und Ziel der Zusammenordnung bei gleichzeitiger Ausschließung anderer Möglichkeiten, sowie der Entscheidung über die inhaltliche Ausrichtung und die anzuwendenden Mittel. Die Tätigkeit eines solchen leitenden Organs (oder mehrerer) kann durch eine gegebene Situation und ihre Herausforderungen, durch eine bekannte Willenslage oder Erwartungshaltung angeregt oder nahe gelegt sein. Als konkrete, inhaltlich bestimmte Initiative, Willensvereinheitlichung und Wirkungseinheit hervorrufend und forttragend, sei sie als eigenständig und selbst schöpferisch zu betrachten, nicht als Vollzug oder Anwendung von bereits Festgelegtem. Die Eigenart der Wirkungsweise und Realitätsform politischer Handlungseinheiten bestehe in dem Verhältnis von Frage und Antwort, von der Aktion seitens Weniger und der Approbation oder Reprobation der Vielen. Auf Seiten der leitenden Organe bedürfe es aus diesem Grund eines gewissen Maßes an Entscheidungsfreiheit und damit an demokratisch ungebundener, wiewohl rechtlich beschränkter Macht.76 Das plébiscite des tous les jours allein sei keine Staatsform; die permanent nicht erfüllte Demokratie würde sonst zum notwendigen Element des Demokratiebegriffs. Eine solche Begriffsbildung erscheine jedoch wenig sinnvoll. Wenn die Demokratie als Staatsform eine Handlungs- und Entscheidungseinheit sein solle, so seien leitende und selbsthandelnde, insofern repräsentative Organe unentbehrlich. Und zwar nicht als Konzession an räumlich-technische und zahlenmäßige Gegebenheiten; vielmehr seien die Repräsentativorgane als ursprünglich notwendig anzusehen. Die Leitungsgewalt der Repräsentanten sei allerdings gebunden an Verantwortlichkeit und demokratische Kontrolle. Elemente einer realisierbaren demokratischen Organisation der Staatsgewalt bestehen demnach in Folgendem: 1. einem juristisch-legitimatorischen Aufbau der staatlichen Ämter von unten nach oben, 2. in der Verhinderung eines Abgleitens der selbsthandelnden Repräsentanten in eine souveräne Stellung, denn ihre Leitungsgewalt ist eine amtsmäßig begrenzte Befugnis, und 3. in der Schaffung von Möglichkeiten demokratischer Korrigierbarkeit der repräsentativen Leitungs- und Entscheidungsgewalt, bestehend etwa in der Abberufung der Repräsentanten und gelegentlichen Sachentscheidungen des Volkes. Geschaffen wird somit eine juristisch ausgeformte, kontinuierlich erfolgende demokratische Autorisation der für die staatliche Handlungseinheit unentbehrlichen selbsthandelnden Leitungsorgane und ihrer Kompetenzen.77 Dies ist jedoch nur die organisationstheoretische Seite der Problematik. Es bleibe die Frage, so Böckenförde, ob durch die Herstellung des gekennzeichneten Zurechnungszusammenhangs auch schon eine inhaltliche Repräsentation des Volkes im Handeln der politischen Leitungsorgane gegeben sei. Dieser Zusam76 77
Vgl. ebd. S. 382–387. Vgl. ebd. S. 388–390.
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menhang, bestehend in den erwähnten Legitimationsakten und Rückbeziehungsverhältnissen, könne in bloße Willensdelegation auslaufen, ohne dass darin das gemeinsam Verbindende dargestellt und zur Geltung gebracht wäre. Um sich einer Klärung der Frage zu nähern, bedürfe es eines Eingehens auf die unterschiedlichen Ausformungen des Repräsentationsbegriffs. Repräsentation meine erstens im formalen Sinne eine Autorisation der selbsthandelnden Leitungsorgane von den Bürgern her. Die Organe handeln repräsentativ im Namen des Volkes. Sie haben dadurch die Kraft, durch ihr Handeln das Volk zu verpflichten. So sei Repräsentation schon bei Bluntschli und Gierke verstanden worden, Wilhelm Hennis habe die Fähigkeit zur Verpflichtung als einen wesentlichen Bestandteil der Repräsentation wieder ins Gespräch gebracht.78 Repräsentation meine zweitens als inhaltlicher Begriff, dass das Handeln der Leitungsorgane, die Herrschaftspraxis, so beschaffen ist, dass die Bürger insgesamt sich in diesem Handeln wiederfinden können. Dazu gehöre, dass die Art und Weise, in der die alle gemeinsam angehenden Fragen des Zusammenlebens verhandelt und Konflikte ausgetragen werden, ungeachtet aller Meinungsverschiedenheiten eine Identifikation mit dieser Art der Behandlung und Entscheidung ermöglicht und hervorruft. Diese Auffassung sei eine ganz andere als die vergleichsweise statische bei Carl Schmitt.79 Drittens sei zu bemerken, dass für eine realisierte Demokratie beide Weisen der Repräsentation erforderlich seien. Durch formale Repräsentation werden Möglichkeiten politischer Entscheidungen eigentlich konstituiert, durch inhaltliche Repräsentation werde sie begrenzt und material gebunden. Wie kommt nun die inhaltliche Repräsentation zu Stande, worin hat sie Bestand? Hier sei der Hinweis auf einen genuin demokratischen Amtsgedanken seitens Wilhelm Hennis bedeutsam.80 Die Freistellung der selbsthandelnden, repräsentativen Organe von Partikularbindungen und Basisimperativen bedeute nicht zugleich die Beliebigkeit des nackten Willens der individuellen Träger politischer Handlungen, vielmehr die Ausrichtung auf Aufgaben und Verantwortlichkeiten, die sich von eigenen Interessen deutlich unterschieden. Der amtliche, öffentliche Wille sei nicht der natürliche Wille des handelnden Individuums. Worin liege aber, insistiert Böckenförde, der übergreifende Bezugspunkt für amtliches Handeln und demokratische Repräsentation? Dieses Problem harre noch der Lösung. Die Tendenz sei zu beobachten, Ideen, Werte oder das Gemeinwohl dem Prozess demokratischer Willensbildung zu entziehen. Wie sei aber nun dieser Bezugspunkt anders zu bestimmen, ohne dass Repräsentation letztlich auf reine Demoskopie hinauslaufe? Der übergreifende Bezugspunkt inhaltlich-demokratischer Repräsentation müsse notwendigerweise ein normatives 78 79 80
Vgl. ebd. S. 391 f. Anm. 27 und 28. Vgl. Schmitt (1928), S. 209 f. Vgl. Böckenförde (1991), S. 393.
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Moment enthalten und damit über die Sphäre des natürlich-empirischen Willens hinausweisen.81 In der deutschen Diskussionslinie werde das Verständnis von Repräsentation als Darstellung oder Verkörperung zeitloser Ideen oder Werte problematisiert, zugleich aber solle Repräsentation nicht in bloße Vertretung empirischer Einzelinteressen abgleiten. Carl Schmitt beziehe Repräsentation nicht auf den Willen aller Einzelnen, sondern auf das Volk als politische Einheit. Bei Erich Kaufmann habe Repräsentation ihren Bezugspunkt im Volksgeist, den der Repräsentant in seiner Person zu verkörpern im Stande sein muss. Siegfried Landshut sehe in der Repräsentation ein präsent gehaltenes regulatives Prinzip, die Leitidee der öffentlich-politischen Lebensführung, die eine Vielheit als etwas Gemeinsames anerkennen kann. Die amerikanische Diskussionslinie kenne das Prinzip politischer Responsivität, was soviel bedeute wie Aufnahmebereitschaft und Sensibilität der Repräsentanten für die Sorgen, Wünsche und Interessen der Regierten. Dennoch komme den Repräsentanten hier keine bloße Vollstreckerrolle zu, zusammengeführt werden solle vielmehr die Eigeninitiative und die Fähigkeit zur Antizipation von Bedürfnissen. Danach setze Repräsentation, wie Hennis betont habe, das Bestehen einer spezifischen außerjuristischen Beziehung zwischen regierenden Repräsentanten und den Bürgern voraus, die sich auf Vertrauen gründe. Beide Diskussionslinien, so Böckenförde, bezögen sich immer auf die Darstellung oder Aktualisierung dessen, was von den Bürgern als das verbindend Gemeinsame der Ordnung ihres Zusammenlebens gewusst und empfunden werde. Man komme hier nicht ohne den Begriff des „Volksgeistes“ aus, wie bei Kaufmann, oder den von einer „Idee des Staates“ oder der Vorstellung von der „höheren Aufgabe“ eines politischen Gemeinwesens. Gesucht werde zugleich nach einem, wenn nicht streng „normativen“, so doch nach einem leitenden Menschenbild.82 Das Lebensproblem der repräsentativen Demokratie besteht in den Enttäuschungen der Repräsentationserwartungen durch das Handeln der Repräsentanten. Eine Vermittlung auf das Allgemeine hin, so Böckenförde, habe stattzufinden. Spezielle Interessenvertretung und Willensdurchsetzung werde im modernen Flächenstaat wohl immer enttäuscht werden. Zuweilen schier unüberbrückbare Schwierigkeiten zeigten sich immer wieder in dem Fehlen von Vorformen der Repräsentation als Vermittlung auf das Allgemeine hin in einer individualistischen und interessenpluralistischen Gesellschaft, das Bedenken des Allgemeinen werde so den staatlichen Instanzen allein überlassen; und zudem in der offenen Konkurrenz bei der Besetzung der staatlichen Ämter.83 Das Schicksal der Demokratie, ihr Gelingen oder ihr Zerfall, liege zu einem Großteil bei den repräsentativen Leitungsorganen; sowohl ihre Vorzüge als auch ihre 81 82
Vgl. ebd. S. 390–394. Vgl. ebd. S. 395–398.
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Verwirklichungsprobleme seien aber „im Bereich ethisch-normativer Gegebenheiten und Möglichkeiten“84 zu suchen. Die Staatsformenlehre des späten 19. Jahrhunderts habe vergessen lassen, dass eine tragfähige Ordnung des Zusammenlebens der Menschen nicht bloß durch Fragen der Organisation, Beteiligung, Legitimation und Kontrolle, durch rational-funktionale Vorkehrungen also, eingerichtet werden könne. Was im Leben der Einzelnen von Bedeutung sei und vielfach über Gelingen oder Scheitern des Lebens entscheide, könne im politischen Zusammenleben der Menschen nicht irrelevant sein. 3. Peter Graf Kielmansegg – Der Amtsgedanke als notwendige Ergänzung der Demokratie Der freiheitliche Verfassungsstaat, so Peter Graf Kielmansegg in seinen Überlegungen zum Charakter der repräsentativen Demokratie85, sei die wohl erfolgreichste Institutionalisierung politischer Freiheit. Dennoch werde sie des Öfteren als Notlösung bezeichnet im Vergleich zu dem Maßstab wahrer, unmittelbarer Demokratie. Im Gegensatz zu dieser erscheine die repräsentative Demokratie als „popular government of the second degree of purity“, wie Thomas Jefferson es bereits 1816 in einem Brief an Isaac Tiffany ausgedrückt habe.86 Die moderne Demokratie, so ist vielfach zu lesen, sei notwendigerweise eine mittelbare Demokratie.87 Aus solchen Äußerungen ist der Eindruck zu gewinnen, die repräsentative Demokratie sei bloß eine defizitäre Form der Demokratie. Robert A. Dahls Buch Dilemmas of Pluralist Democracy sieht die Demokratie als ein unerfüllbares Ideal und kennt zwei unterschiedliche historische Annäherungen an dieses Ideal: „the relatively democratized city-states and the relatively democratized nation-states“. Die zweite Form beruhe insbesondere auf repräsentativen Institutionen. Sie gilt Dahl, freilich in einer betont subjektiven Einschätzung, als „a sorry substitute for the real thing“.88 Siegfried Landshut hat hinsichtlich des Verhältnisses von Demokratie und Repräsentation geradezu von
83 Vgl. ebd. S. 400–405. Joseph A. Schumpeters Analyse und der daraus gewonnene Demokratiebegriff, so Böckenförde ebd. S. 404 Anm. 55, sei in diesem Zusammenhang bis heute nicht überholt. 84 Ebd. S. 402. 85 Kielmansegg, Peter Graf: „Die Quadratur des Zirkels“. Überlegungen zum Charakter der repräsentativen Demokratie, in: Aktuelle Herausforderungen der repräsentativen Demokratie. Sonderheft 2 der Zeitschrift für Politik, hg. v. Ulrich Matz, Köln 1985, S. 9–41. 86 Ebd. S. 9. 87 Kielmansegg zitiert Brunner, Georg: Vergleichende Regierungslehre, Paderborn 1979, S. 181. 88 Vgl. Dahl, Robert Alan: Dilemmas of Pluralist Democracy. Autonomy vs. Control, New Haven: Univ. Press 1982, S. 4–13.
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einer „Quadratur des Kreises“89 gesprochen; Volkssouveränität und Repräsentation stehen für ihn in einem unaufhebbaren Widerspruch. Diese Behauptungen erscheinen in Kielmanseggs Augen allzu verkürzt und begriffsrealistisch. Tatsächlich kann die Begriffslogik dazu führen, in einer auf Anhieb schwer zu durchschauenden Mischung Unvereinbarkeiten und Unmöglichkeiten zu sehen. Kielmansegg führt aus, wie bei den unterschiedlichsten Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts, bei Montesquieu, Mill, Jefferson, Paine, Hamilton, Madison, Mounier, Sieyès und Kant, die Demokratie als „gute“ Staatsform immer in zwei Weisen gedacht werde: entweder als nicht ganz vollwertiger, aber immerhin akzeptabler, allein schon durch die Großräumigkeit moderner Staaten erzwungener Ersatz für die reine, die Versammlungsdemokratie attischen Typs, oder als durchaus eigener Typus freiheitlicher Verfassung, der vermittels repräsentativer Organe sinnvolle Arbeitsteilung und Auslese der Besten für die jeweiligen Aufgaben gewährleiste. Die erste der beiden Denkformen läuft letztlich auf jene Ansichtsweise hinaus, nach der die repräsentative Form der Demokratie „a sorry substitute for the real thing“ sei. An die zweite Denkform ist als Antwort auf die Frage nach der Identität der repräsentativen Demokratie inzwischen nicht mehr so optimistisch, ja naiv anzuschließen.90 Idee und Praxis der repräsentativen Demokratie sind aus einer besonderen Tradition hervorgewachsen, der ständischen Repräsentativverfassung des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Dolf Sternbergers Arbeiten zur Entstehungsgeschichte der repräsentativen Demokratie91 gelangen zu der Einsicht – in Anknüpfung vor allem an Edmund Burkes Sichtweise der englischen Verfassung, von der er sagt, dass niemand sie sich ausgedacht habe, und in genauer Umkehrung zu einer Formel Thomas Paines –, die sogenannte reine Demokratie mit ihrem Dogma der Volkssouveränität sei als Prinzip der bestehenden Repräsentativverfassung aufgepfropft worden. Keineswegs sei also die freiheitliche Repräsentativverfassung aus der Versammlungsdemokratie hervorgegangen oder gar als ihr notwendiger, dabei aber minderwertiger Ersatz zu verstehen. Genau zu beobachten sei die Verschmelzung der alten Repräsentativverfassung mit dem neueren Prinzip allgemeiner Bürgerbeteiligung zu dem neuen Typus repräsentativer Demokratie im 20. Jahrhundert. Diese historische Betrachtung, so Kielmansegg, lasse keinen Zweifel daran, dass die repräsentative Demokratie eine eigene Identität besitze; es handle sich in ihrem Fall um einen Verfassungstypus sui generis, nicht bloß um einen gewissermaßen geborgten.92 Die Antwort auf die Frage nach der Identität der re89
Landshut (1968), S. 490. Vgl. Kielmansegg (1985), S. 11–18. 91 Zusammengefasst in Sternberger, Dolf: Nicht alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Studien über Repräsentation, Vorschlag und Wahl, Stuttgart 1971. 92 Vgl. Kielmansegg (1985), S. 20 f. 90
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präsentativen Demokratie scheint Kielmansegg in Wilhelm Hennis’ Aufsatz von 1958/62, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, am deutlichsten vorgezeichnet zu sein. Die zentrale These bei Hennis bestehe darin, im demokratischen Verfassungsstaat eine Fortentwicklung des alten Ämterstaates zu sehen, dessen zentraler Begriff infolgedessen nicht der Wille, sondern das Amt sei.93 Die repräsentative Demokratie sei somit als eine „zugleich harmonische und spannungsreiche Synthese zweier Prinzipien, des Demokratieprinzips und des Amtsprinzips“94, zu verstehen. Das Demokratieprinzip spreche jedem Bürger das gleiche Recht auf freie Mitwirkung an den gemeinsamen Angelegenheiten, auch auf Mitentscheidung dieser Angelegenheiten zu und bündle diese Rechte in der Denkfigur der Volkssouveränität. Das Amtsprinzip besage, alle Befugnis, für andere verbindlich zu entscheiden, solle als Amt verfasst sein. Die Befugnis des Amtes sei also als eine übertragene, begrenzte Vollmacht zu verstehen. Die Bestimmung des Amtes sei das Gemeinwohl, Verantwortlichkeit das eigentlich konstitutive Element des Amtes. Der Idee des Amtes, dem Amtsethos, entspreche es also, die Befugnis, für andere verbindlich zu entscheiden, nicht als Recht, sondern als Pflicht aufzufassen.95 Dieser Sichtweise des demokratischen Verfassungsstaates tritt immer wieder die Auffassung entgegen, das Demokratieprinzip sei mit dem Amtsprinzip unvereinbar. Zu denken, die Befugnis, für andere verbindlich zu entscheiden, sei in Ämtern verfasst, verletze die Demokratieprämisse. Und so wird Demokratie gerade als Überwindung aller Ämterordnung gedacht, als Auflösung aller Amtsbefugnisse in Selbstregierung der Bürger. In unverkennbarem Anschluss an Marx’ Schrift über die Pariser Kommune träume Jürgen Habermas von der Ablösung gewalthabender Institutionen durch eine Organisation gesellschaftlichen 93
Vgl. erneut Hennis (1973), S. 11. Kielmansegg (1985), S. 22. 95 Die konsequente Übertragung dieses von Wilhelm Hennis angeregten Wiederaufgreifens des Amtsprinzips in eine auf den demokratischen Verfassungsstaat bezogene Staatslehre findet sich in derjenigen Martin Krieles wieder. Im Mittelpunkt von Krieles Buch steht die Aussage, im Verfassungsstaat gebe es keinen Souverän, sondern nur Kompetenzen (Kriele, Martin: Einführung in die Staatslehre. Die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, Reinbek 1975, S. 111 ff. Vgl. hierzu Hennis, Wilhelm: Legitimität. Zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, in: PVS-Sonderheft 7 (1976), S. 22, wo es heißt, als das „Signum“ moderner Herrschaftspraxis könne gelten, sich nur auf „vorletzte“ Gründe zu beziehen: legale Verfahren, übliche Herrschaftsmodi, bestimmte Rechte – legitime Herrschaft sei demnach nahezu identisch mit limitierter Herrschaft). Auch hier ist damit dem Amtsprinzip konstitutive Bedeutung zugesprochen. Kriele (1975), S. 241 f.: „Mit der demokratischen Repräsentation ist also der Begriff des Amtes verbunden, der sich in Amtsethos und Amtseid niederschlägt. Das demokratische Amtsethos hat dreierlei zum Inhalt: den Anspruch auf Wahrung der Gesetze, auf Wahrung des Gemeininteresses und, wo es stattdessen rivalisierende Gruppeninteressen gibt, auf unparteiliche, gerechte Entscheidung zwischen ihnen. Insofern unterliegt jeder Amtsinhaber dem Anspruch, das Ganze zu repräsentieren.“ 94
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Verkehrs und entwerfe eine Vorstellung von Demokratie, die keiner Ämter mehr bedürfe, weil die gemeinsam zu bewältigenden Aufgaben im Diskurs der Freien und Gleichen ihre Lösung finden. Es sei dies, so Kielmansegg, die Vision einer Demokratie ohne Ämter, eine Vision von Herrschaftsfreiheit, getragen von „grenzenlosem Vertrauen darauf, daß es in der wahren Demokratie der Institutionalisierung von Verantwortlichkeit nicht bedürfe“96. Es gilt also den Beweis zu führen, dass die Demokratie nicht nur offen für das Amtsprinzip, sondern sogar darauf angewiesen ist. Als offenkundig kann gelten, dass das Amtsprinzip sich mit einem materialen Verfassungsprinzip zu verbinden hat, das eine Antwort auf die Frage gibt, in wessen Namen Amtsträger handeln, wer ihnen Vollmacht erteilt und vor wem sie sich zu verantworten haben sowie nach den inhaltlichen Grenzen der Amtsvollmacht. Schon Wilhelm Hennis habe bemerkt, das Amtsprinzip könne mit unterschiedlichen materialen Verfassungsprinzipien zusammengehen, ohne dass die Struktur des Amtes davon berührt werde.97 Offenkundig sei des Weiteren, dass sich das Amtsprinzip mit dem der Demokratie verbinden lasse, indem die Ämterordnung auf das Fundament des allgemeinen Wahlrechts gestellt und der Zugang zu den öffentlichen Ämtern allen Bürgern geöffnet werde. Schwierigkeiten träten dieser Verbindung entgegen, wollte man das Demokratieprinzip, die Selbstregierung des Volkes, rigoros auf Selbstbestimmung des Bürgers festschreiben. Rousseau habe den Begriff der Selbstregierung so verstanden, und seine Nachfolger beteiligten sich an dieser Vision, indem sie geradezu die Geschichte an ihr Ziel gekommen sähen, sobald politische Beteiligung und Selbstbestimmung miteinander identisch würden. Diese Deutung der Demokratie, so Kielmansegg, sei jedoch ein Trugschluss; unter keinen Umständen könne politische Teilhabe in der Demokratie mit Selbstbestimmung identisch sein. Wer an Entscheidungen mitwirke, die für andere verbindlich sind, verfüge über andere, wie immer die Entscheidungsregelung im Einzelnen ausgestaltet werde. Keine demokratische Entscheidungsregelung hebe die wechselseitigen Abhängigkeiten – über andere zu entscheiden und von Entscheidungen anderer betroffen zu sein – auf, nicht einmal, und hier zeige sich die logische Unentrinnbarkeit dieser Einsicht, die Einstimmigkeitsregel. Die Einstimmigkeitsregel, jedem Mitentscheidungsberechtigten ein Vetorecht verleihend, bedeute, dass ein einzelner geltend gemachter Einspruch eine Entscheidung verhindere, die von allen anderen Beteiligten gewünscht werde; das Prinzip der Einstimmigkeit begründe somit einen besonders hohen Grad der Abhängigkeit „eines jeden von allen anderen und aller von einem jeden.“98 Wenn also die Metapher „Selbstregierung des Volkes“ nicht Selbstbestimmung 96 97 98
Kielmansegg (1985), S. 23. Vgl. ebd. S. 24 und Hennis (1973), S. 19. Kielmansegg (1985), S. 25.
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des Bürgers meine, so sei das Demokratieprinzip nicht nur offen für das Amtsprinzip, sondern in dieser gewissen Weise bedürfe es sogar dieser Ergänzung. Das Demokratieprinzip, sobald es den Einzelnen als einen von kollektiven Entscheidungen Betroffenen erkenne, fordere die Verantwortung dieser verbindlichen Entscheidungen vor den Betroffenen. Es ließe sich somit sagen, das Demokratieprinzip münde, wenn nicht in historisch-zwangsläufiger, so doch in politisch-sinnvoller Weise in das Amtsprinzip ein. Die Synthese von Demokratie und Ämterverfassung erscheint Kielmansegg als „die einzig annehmbare Lösung des Problems der Institutionalisierung politischer Freiheit, die wir kennen.“99 Diese Wendung impliziert, nach Grundlagen eines Handelns im Geiste des Amtsgedankens zu fragen. Hieran ist die Überlegung zu knüpfen, dass auch die Bürger, die zur Wahl gehen oder sich vorübergehend zu einer Petitionsgemeinschaft zusammenschließen, ein Amt ausüben, wenn auch, wie Kielmansegg meint, nicht ein verfassungsrechtlich verfasstes. Ist aber das Amt des Bürgers in den Grundrechten, die Rudolf Smend „politische Berufsrechte“ genannt hat, nicht doch staatsrechtlich notiert, durch die Staatsfarben symbolisch konkretisiert, und nicht nur als Emanzipation, sondern als „bürgerliche Grundlegung des Staates“ anzusehen? Mit den Grundrechten übernimmt auch der wählende und das politische Leben aufmerksam begleitende Bürger ein verantwortliches Amt im Staatsleben. Die Amtsträger, insbesondere die der höchsten verfassungsmäßigen Ämter, müssen sich an hohen Erwartungen, einem besonderen Maßstab von Pflichten messen lassen. Von hier aus bringt Kielmansegg, unter erneutem Rekurs auf Dolf Sternberger, den Begriff der „gemischten Verfassung“ ins Spiel. Das Amtsprinzip und mit ihm das der Repräsentation, so habe es Sternberger gesehen, bleibe ein aristokratisches Element auch innerhalb der demokratischen Staatsform des Volkes der Menschen- und Bürgerrechte.100 Bestehen bleibt jedenfalls die der Denkfigur des ideellen Amtes innewohnende Problematik. Was genau ist unter der Verpflichtung gegenüber dem Ganzen, dem Gemeinwohl, was wiederum unter ihm, dem Terminus des Gemeinwohls selbst, zu verstehen? All dies zielt auch in den Ausführungen Kielmanseggs erneut auf die Frage nach den „Imperativen der Lebensführung“ (Siegfried Landshut), den „Kulturwerten“ (Wilhelm Hennis), den „ethisch-normativen Gegebenheiten“, von denen ErnstWolfgang Böckenförde spricht.101 Die Dringlichkeit hinsichtlich der Präsenthaltung einer Vorstellung von dem, was als Gemeinwohl anzusehen ist, wird besonders deutlich, berücksichtigt man 99
Ebd. S. 26. Vgl. ebd. S. 26–34. 101 Siehe erneut Landshut (1968), S. 492, Hennis (1999), Integration durch Verfassung?, S. 493 und Böckenförde (1991), S. 402. 100
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die extensive Rolle, welche die politischen Parteien im Verfassungsleben der Demokratie spielen. Die politische Klasse, so Kielmansegg, sei zwar schwerlich mit den Parteien gleichzusetzen, jedoch sei nicht zu leugnen, dass die politische Elite mehr und mehr den aktiven Kerngruppen der Parteien zuzurechnen sei. Unter der Voraussetzung des problematischen Konstrukts eines hypothetischen Volkswillens würden die Wahl der Repräsentanten und das Verständnis des Mandats zum neuralgischen Punkt, indem immer wieder fraglich sei, ob die parlamentarische Demokratie von ideeller oder von funktioneller Repräsentation ausgehe. Die Parteien als Bürgervereinigungen, die der Verfolgung regionaler oder gruppenspezifischer, jedenfalls partikularer Ziele dienten, stünden zwar außerhalb der verfassungsmäßigen Ämterordnung, aber dennoch an der Schwelle zu ihr, denn aus ihrem Kreis würden doch zumeist die höchsten staatlichen Ämter besetzt. Die Frage, ob nun der demokratische Verfassungsstaat ein politisches System mehr ideeller oder mehr funktioneller Art sei, sei viel eher eine Frage der lebendigen als der geschriebenen Verfassung. Wenn jedoch die Amtsträger in einer repräsentativen Demokratie selbst nicht mehr wüssten, was ein Amt sei und was es von ihnen fordere, verliere der Verfassungsstaat an dem ihn definierenden Vermögen, politische Freiheit erfolgreich zu institutionalisieren.102 Der demokratische Verfassungsstaat bedürfe eines klaren und lebendigen Amtsethos, „ausgerichtet auf die Idee der Demokratie, aber nicht aufgesogen vom demokratischen Prinzip.“ Er sei in Gefahr, insofern dieses Ethos verloren gehe, dem Druck der Partikularismen nicht standhalten zu können.103 4. Josef Isensee – Demokratie, Amtsgedanke und Gemeinwohl Auf der Suche nach der Substanz des Gemeinwohls gelangt auch Josef Isensee, nicht zuletzt unter Bezugnahme auf den Hennis-Aufsatz von 1958/62, zum Amtsgedanken.104 Wortgeschichtlich sei das Amt zurückzuführen auf das keltische Wort für Diener, ambactos.105 Auch die lateinischen Termini ministerium, munus, officium, die althochdeutschen Wörter ampahti, ampaht oder ambaht und das frühneuhochdeutsche ambt oder ampt bezögen sich auf einen Dienst oder einen Dienenden. Im Rahmen der Verfassung werde mit dem Amtsbegriff der Dienst bezeichnet, den eine natürliche Person im Auftrag des Staates zu leisten habe. Das Amt stehe für den Teil der Aufgaben und Befugnisse, der dieser Person zur Wahrnehmung zugewiesen sei. Zugleich könne auch der dienstrechtliche Status der natürlichen Person, des Amtsträgers, gemeint sein. 102
Vgl. Kielmansegg (1985), S. 35–38. Ebd. S. 38. 104 Isensee, Josef: Das Amt als Medium des Gemeinwohls in der freiheitlichen Demokratie, in: Gemeinwohl. Auf der Suche nach Substanz, hg. v. Schuppert, Gunnar Folke/Neidhardt, Friedhelm, Berlin 2002, S. 241–270. 105 Vgl. Hintze, Otto: Der Beamtenstand (1911), Darmstadt 1963, S. 18. 103
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Mit diesem Begriff des Amtes, so Isensee, hingen die grundlegenden Unterscheidungen der Verfassungstheorie zusammen, jene zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen den Bereichen des Öffentlichen und des Privaten, zwischen Gemeinwohl und Partikularinteresse. In der Idee des Amtes lebe das Kontinuum des europäischen Staatsethos.106 Bereits das kirchliche Amt stehe in der Grundspannung zwischen Charisma und institutioneller Ordnung. Ohne Charisma, so Isensee, trockne die Institution aus, ohne institutionelle Ordnung zerfließe das Charisma. Das Amt sei somit das Gefäß, welches die kostbare Substanz des Charismas berge und bewahre. Dem charismatischen Prinzip entspreche ein Verständnis der Kirche als egalitärer Heilsgemeinschaft – Isensee verweist auf Max Webers Definition der „Sekte“ –, dem Amtsprinzip entspreche das Verständnis der Kirche als hierarchischer Heilsanstalt – hier sei mit Weber von einer „Fideikommisstiftung“ zu sprechen107 –, in der die Verwaltung der Heilsmittel besonderen Personen vorbehalten ist. In der Lehre von der apostolischen Sukzession zeige sich das theologische Urbild der staatsrechtlichen Doktrin, dass die demokratische Legitimation, die auf dem Volkswillen gründet, durch die differenzierte Ämterorganisation des Verfassungsstaates geleitet dem einzelnen Amtsinhaber zufließe. Zwar hat das Amt objektive Qualität, doch bleibt die Frage, ob die Wirksamkeit nicht doch (auch) abhängig ist von der Subjektivität der Person, die das Amt ausübt. Zwar ist das Amt nicht um der Unterhalts-, Geltungs- und Machtbedürfnisse Einzelner da, und insofern sind die Kompetenzen des Amtes nicht schroff subjektivistisch als Möglichkeiten privater Freiheit zu deuten. Dennoch setzt die Übertragung eines Amtes Eignung voraus. Das Amt stellt sich dem Amtsträger als Inbegriff von Pflichten dar und fordert somit eine klare Distanz von privaten sowie von partikularen Zielen und Wünschen. Da dem Amt ein öffentlicher Charakter eigentümlich sei, unterwerfe sich der Amtsinhaber der Kontrolle der Öffentlichkeit, die sein Verhalten an den Erwartungen des Amtes messe. Amtsmacht, so Isensee, fordere Amtsaskese, dem objektiven Amtsauftrag werde die subjektive Amtsgesinnung zu entsprechen haben. Darin setze sich der Inhaber eines (kirchlichen) Amtes auch gesellschaftlich deutlich vom Kirchenvolk der Laien ab.108 Es ist bezeichnend, dass Carl Schmitt das Amt in der Hierarchie der katholischen Kirche verortet sieht. Hier trifft das zu, was Max Weber „hierokratische Herrschaft“109 nennt: Das Amt ist für Schmitt vom Charisma unabhängig, ge106
Vgl. Isensee (2002), S. 241 f. Vgl. RS 1, S. 150 ff. 108 Vgl. Isensee (2002), S. 243–246. 109 Vgl. WuG S. 661–681, insb. S. 674 f. sowie S. 688–726, insb. S. 692 ff., 698, 713 f., 717, 719, 722 und 724. 107
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nauer: der Amtsträger erhält seine Würde durch das Amt, indem die Würde des Priesters von dessen konkreter Person abstrahiert wird. Dennoch ist diese Würde nicht unpersönlich, sondern das Amt geht, im Sinne der apostolischen Sukzession, wie an einer ununterbrochenen Kette auf den Auftrag sowie auf die Person Christi zurück. Es handelt sich dabei um das, was Max Weber „Amtscharisma“ nennt. Das eigentlich Bezeichnende besteht nun darin, dass Carl Schmitt das Amtscharisma des kirchlichen Würdenträgers von dem, wie er meint, reinen Funktionärsdasein des Abgeordneten oder Ministers unterscheidet, dieses „Kommissars des republikanischen Denkens“.110 Im Gegensatz zum kirchlichen Amt sei die Würde des staatlichen Beamten unpersönlich, und Schmitt unterscheidet hier nicht mehr, im Gegensatz zu Weber, zwischen einem lebenslangen Verwaltungsbeamten, dem fachlichen Vollzugsamt also, und einem auf Zeit gewählten politischen Führungsamt, wie Abgeordnete, Minister, Regierungschefs und Staatshäupter es als temporär in das jeweilige Amt Berufene innehaben. In Schmitts politischem Denken kommen Berufungs- und Verantwortungsverhältnisse nicht vor, für die öffentlichen Ämter des demokratischen Verfassungsstaates gibt es somit aber auch keine statusrechtliche Qualifizierung und keine Verpflichtung dem Gemeinwohl gegenüber. Mit Luthers Lehre vom „allgemeinen Priestertum“ der Gläubigen, so Josef Isensee, werde der Unterschied von Amt und Nichtamt zwar abgeflacht, jedoch nicht aufgelöst. Indem die sakrale Begründung des Amtes durch eine mehr funktionale, durch die Vokation der Gemeinde, abgelöst werde, verbürgerliche sich das Amt.111 Die Nähe zur demokratischen Legitimation sei unübersehbar. Ob jedoch, wie Isensee annimmt, über das Medium des Amtes sich die Herrschaft von Menschen in die Herrschaft des Rechts wandle, ist fraglich. Eher ließe sich sagen, die Herrschaft von Menschen über Menschen werde durch verrechtlichte Amtspflichten limitiert, ohne entpersönlicht zu werden, und gerade darin könne sie als legitim angesehen werden. Der Amtsträger vermittelt zwischen der Abstraktheit des Staates und dem konkreten Menschen, er handelt als Treuhänder der staatlichen Allgemeinheit. Darin besteht das Ethos des Amtes: Obliti privatorum, curate publica. Das Amt bedeutet zwar besondere Kompetenzen, besondere Würde für seinen Träger, jedoch bewirkt die Berufung in das Amt keine Privilegien oder nur solche, welche die ungeminderte Ausübung der Amtsbefugnisse begünstigen, so zum Beispiel die Immunität der Abgeordneten. Diese ist nicht in erster Linie spezialrechtlich, also privat- oder strafrechtlich zu deuten, sondern staatsrechtlich als Betonung der statusrechtlichen Qualifizierung und der verantwortlichen Stellung des parlamentarischen Amtes, so wie Arnold Köttgen es im Sinne des Amtsdenkens Rudolf Smends herausgestellt hat.
110 Vgl. Schmitt, Carl: Römischer Katholizismus und Politische Form, Hellerau 1923, S. 29 f. 111 Vgl. Isensee (2002), S. 247.
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Das Ethos des Gemeinwohls, so Isensee, charakterisiere seit der alten politikwissenschaftlichen Disziplin, der politica, die „guten“ Staatsformen. Die Ausübung der Staatsgewalt sei nur legitim, wenn und soweit sie ausschließlich dem Wohl der Allgemeinheit zu dienen bestimmt ist. Sie verliere ihre Rechtfertigung, sobald sie im Sonderinteresse des Amtsinhabers, seiner Partei oder Klientel eingesetzt werde. Die ethische Bedeutung der Republik werde allerdings im 18. und 19. Jahrhundert verdrängt durch das mehr polemische Verständnis einer Absage an die Legitimität der Erbmonarchie. Mit ihrem Wegfall drohe immer auch das Ethos der Republik zu erlöschen. Das Amt ist auf das Gemeinwohl ausgerichtet – was aber ist das Gemeinwohl? Isensee sieht in ihm eine regulative Idee, am deutlichsten werde es unter dem negativen Aspekt als Verbot, eigennützige oder gruppennützige Motive in die Amtsführung einzubringen und sich in dieser Weise von Partikularinteressen leiten zu lassen.112 Der Gedanke des Gemeinwohls, zumal im demokratischen Verfassungsstaat, beginne mit einer besonderen Auslegung der Grundrechte. Marx habe nichts anderes als die „Versicherung des Egoismus“ in ihnen sehen wollen. Doch darin erschöpfen sie sich keineswegs. Rudolf Smend hat gezeigt, dass sie zwar aus dem technischen Spezialrecht abgeschrieben sind, ins Staatsgrundgesetz übertragen müssten sie aber auch staatsrechtlich ausgelegt werden, das heiße keinesfalls im Sinne eines eigennützigen Gebrauchs. Private Freiheit, so könnte man annehmen, vertrage sich nicht mit dem öffentlichen Amt. Smend würde dagegen sagen, die Freiheit der Privatperson erfüllt sich erst ganz, wenn sie auch ihre staatsbürgerliche Freiheit zur Teilhabe bemerkt und „erlebt“.113 Das eigenverantwortliche Handeln, welches das Amt vorsieht, verlangt auch Isensee zufolge mehr als bloße Beachtung rechtlicher Vorschriften und Einhaltung dienstlicher Standards. Allerdings werde die scharfe Trennung zwischen den Rollen des öffentlichen Amtsträgers und der Privatperson gerade unter gesellschaftlichen Umständen erschwert, in denen Öffentlichkeit immer mehr als multimedialer Zustand des bloßen Offenliegens verstanden werde. Der demokratische Verfassungsstaat, so habe Gerhard Leibholz es gesehen, sei seiner Substanz nach nichts weiter als Parteienstaat. In dieser Formel liege aber die Absage gegenüber der Idee des Amtes, das sich seiner Natur nach gegen Instrumentalisierungen für parteiliche Zwecke sperre, und damit auch die nüchterne Konstatierung der ethischen Entwertung des Staates, dessen Ämterordnung nun zum Beutegut der Parteien werde. Demokratie, so Isensee, sei aber beides: Konkurrenz politischer Eliten und amtsgebundene Herrschaft. Doch sei sie nicht beides zugleich in jedweder Hinsicht. Die Wirkungskreise der Konkurrenzdemokratie und der Ämterdemokratie überschnitten sich wohl, seien jedoch nicht deckungsgleich. Die Konkurrenz112 113
Vgl. ebd. S. 249 f. Siehe dazu insb. die Kapitel I. 2. a) und I. 2. b) des 2. Teils.
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demokratie entfalte sich vornehmlich im vorstaatlichen Feld der Gesellschaft. Möge der Prozess politischer Willensbildung, das heiße heute der Wahlkampf, von den politischen Parteien nicht nur organisiert und diszipliniert, sondern samt und sonders von ihnen übernommen sein, so münde diese Auseinandersetzung doch stets in die verfassungsmäßige Ämterordnung. Wenn diese nicht nur als eine strategische Lage begriffen werden solle, als eine durch verfassungsrechtliche Kompetenzen verstärkte Fortsetzung des politischen Kampfes, so müsse die Parteienkonkurrenz innerhalb der Ämterordnung weitestgehend schweigen. Innerhalb der politischen Parteien gebe es keine Ämter, jedenfalls nicht im öffentlich-rechtlichen Sinne, sondern lediglich Funktionen; staatsrechtlich anmaßend sei die Rede vom Amt des Parteivorsitzenden. Deutlich zu unterscheiden sei auch zwischen dem politischen Führungsamt – temporär und auf Widerruf anvertraut, auf dem Vertrauen der Wähler gründend – und dem fachlichen Vollzugsamt, das grundsätzlich auf Lebenszeit verliehen werde. Durch diese Unterscheidung der Ämter in den Bereichen der politischen Führung und der fachlichen Ausführung werde eine Art dualer Gewaltenteilung konstituiert, welche das klassische Modell der Dreiteilung überlagere und modifiziere.114 Meist werde das Mandat abgesetzt vom Amt, wie es dem lebenslangen Fachbeamten oder dem Richter zukomme. Und in der Tat unterscheide sich die Stellung des Abgeordneten erheblich von der des Richters, nicht zuletzt auf Grund der Herkunft dieser Stellung aus der Wahl. Der Abgeordnete beziehe jedoch seine Legitimation nicht aus der Partei, die ihm die Kandidatur vermittelt habe, sondern aus dem Vertrauen der Wähler, das sich in seinem Wahlsieg ausspreche. Oder besser: Das Vertrauen drückt sich eigentlich nicht in einem Zählergebnis aus, sondern mit der Erringung der meisten Stimmen im formalisierten politischen Kampf wird ein Aussprechen von Vertrauen angenommen und Verantwortung übertragen. Der Abgeordnete ist „Vertreter des ganzen Volkes“ (Art. 38 GG), Inhaber eines anvertrauten öffentlichen Amtes, nicht Parteifunktionär. Das Parlament, so Isensee, sei somit auch kein „Jahrmarkt volksvertreterischer Eitelkeiten“, sondern Ort mühsamer und entsagungsreicher Arbeit. Die Formel vom „Gewissen“, dem der Abgeordnete laut Verfassung allein unterstellt sei, ist ohne ein auf das Gemeinwohl bezogenes Amtsethos gar nicht verständlich. Das Gewissen, von dem die Verfassung spricht, ist folglich ein Amtsgewissen. Dass sich hier einerseits objektive, andererseits unklare Erwartungen sowie subjektive Eigenschaften des Abgeordneten überschneiden und vermischen, liegt auf der Hand. Desto wichtiger wird der ständige Kontakt der Wähler zu ihren Abgeordneten.
114 Vgl. Isensee (2002), S. 251–253. Von Rudolf Smend ist dies bereits 1923 erfasst worden in der von ihm als dringend notwendig konstatierten Unterscheidung von Regierung und Verwaltung innerhalb der sogenannten Exekutive. Siehe Kapitel I. 1. e) des 2. Teils.
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Das Mandat ist also keine Alternative zum Amt, sondern eine spezifische Ausprägung des Amtsgedankens. Im Bereich des Kabinetts ist Isensee zufolge der Amtscharakter noch wesentlich markanter ausgeprägt als in dem der Volksvertretung: Kraft des Amtseides, der Richtlinienkompetenz des Kanzlers und der Kabinettsdisziplin. Dennoch bleibe auch die Verantwortlichkeit des Regierungschefs ohne die statusrechtliche Qualifizierung der Abgeordneten des Parlaments, das ihn wähle, unverständlich. Es sei der Amtscharakter, der dem parlamentarischen Regierungssystem der mittelbaren Demokratie die institutionelle und ethische Überlegenheit gegenüber der unmittelbar-plebiszitären verleihe. Letztere bedeute Distanzlosigkeit in den Entscheidungen; sie kenne kein Gegenüber und bringe darin kein treuhänderisches Ethos hervor. Die Amtspflichten der Parlaments- und Regierungsmitglieder seien gerade deswegen als ein so hohes Gut anzusehen, da sie weitgehend vorrechtlich-ethischer Natur seien. Nicht zu verkennen sei allerdings, dass die Unterscheidung zwischen Amt und Partei, zumal hinsichtlich der Amtsinhaber im Bereich der Regierung, praktische Schwierigkeiten hervorbringe. Das Amt des Regierungschefs werde meistens in Personalunion mit der Funktion eines Parteivorsitzes ausgeübt. Für den Kanzler bedeute es eine tägliche Aufgabe politischer Kunst parteiagitatorisch-wahlkämpferisch und staatsmännisch-gemeinwohlbedacht aufzutreten.115 Der Amtsgedanke als Leitmotiv verfassungssoziologischer Betrachtung und staatsbürgerlichen Miterlebens – dieser Grundsatz, so Isensee, scheitere oftmals schon daran, dass die Öffentlichkeit weit reizbarer auf die Erteilung oder Zumutung finanzieller Vor- oder Nachteile reagiere als auf amtsmissbrauchenden Eigennutz, zum Beispiel in der Ämterpatronage in Verwaltung und Justiz. Ein zur Entlassung aus dem Amt führendes Ereignis bestehe meist in einem von eifrigem Investigationsjournalismus aufgedeckten Skandal. Jedoch entwickle der politische Skandal meist nur sehr kurzfristig delegitimierende Wirkung oder eine solche moralischer Katharsis. Dem Skandal und seiner Aufdeckung folge die publizistische Ermüdung und die Suche nach einem neuen Reizthema. Jobmentalität, der Beruf allein als Gelegenheit zum Geldverdienen, der Widerspruch der ethischen Amtspflichten zu gängigen Standards der Gesellschaft – je mehr einer Gesellschaft der Sinn für die Eigenart des Staates, das Verständnis des politischen Zuammenspiels als Selbstzweck, schwinde, je mehr der Staat als Dienstleistungsunternehmen, als bloße Funktion der Gesellschaft betrachtet werde, desto schwieriger könne gelten, den staatsspezifischen Status des politischen Beamten zu rechtfertigen. Der Konzeption des Staates als Dienstleistungsunternehmen entspreche der Status des Arbeitnehmers. Das Arbeitsrecht, das der Privatwirtschaft und den dort gegebenen Interessensgegensätzen entstamme, werde mechanisch auf die öffentliche Verwaltung übertragen.
115
Vgl. Isensee (2002), S. 254 ff.
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Der Staat werde zum privaten Unternehmer, die Ausübung eines Amtes wie jede andere Arbeit auch behandelt.116 Jedes Amt bezieht sich zwar auf Funktionen, aber nicht jede Funktion vollzieht sich über ein Amt. Das Amt besteht zwar auch um der Funktion willen, aber es geht nicht in ihr auf. Funktion ist eine Kategorie formaler Organisation, eine technische Kategorie, die keinen genuinen Bezug zum Staatsleben hat, sie kann im öffentlichen wie im privaten Bereich verortet sein. Die Funktion verlangt technische Fertigkeit, aber keine ethische Anstrengung. Einen Mechanismus kann man in Gang bringen und halten, ohne sich mit diesem innerlich zu identifizieren. Dem Mechanismus wird keine Treue geschuldet. Die Störung bei Inganghaltung der Funktion ist eine technische Panne, keine Rechtsverletzung. Ziel der Funktion ist Effizienz, nicht Gemeinwohl. Unter diesen Vorzeichen, so Isensee, vereinfache sich die Frage nach der Legitimität politischer Herrschaft im Staat: als System sei der Staat legitim, sofern er effizient funktioniere. Der Amtsgedanke passe nicht in diesen Kontext. Helmut Schelsky habe bereits 1961 das Bild des „technischen Staates“ gezeichnet, in dem der politische Entscheidungs- und Gehorsamsbedarf durch Funktionsgesetzlichkeit ersetzt werde.117 Die Staatstätigkeit sei letztlich angewiesen auf „existentielle Legitimation“, die sich aus dem Grundvertrauen der Staatsbürger in die Integrität der Amtsträger ergebe.118
III. Zwischenbetrachtung – Der Amtsgedanke und seine ethisch-normative Bestimmtheit Allen oben zu Wort gekommenen Autoren gemeinsam ist die ihnen selbstverständlich gewordene Auffassung, Staat und Verfassungsleben nicht bloß als Funktion gesellschaftlicher Bedürfnisse, sondern in erster Linie als einen Lebenswert und eine Kulturerrungenschaft zu verstehen. Am deutlichsten greifbar wird diese Auffassung in dem vertretenen Institutions- und Organbegriff, der in einer anthropologischen Wendung vom Menschen ausgeht, nicht von technischen Einrichtungen und Mechanismen und das als Amt verstandene Staatsorgan nicht als Selbstermächtigungsstrategie auffasst. Dass es der Staatsrechtler Rudolf Smend war, der für das deutsche Verfassungsdenken diese Auffassung des Staates wiederbelebt hat, mag dabei nicht immer bewusst gewesen sein. Alle genannten Autoren betrachten den demokratischen Verfassungsstaat als Institutionalisierung politischer Freiheit, und auch hierin findet sich eine Fortsetzung des Verfassungsdenkens Rudolf Smends. Das Problem der Freiheit liegt 116
Vgl. ebd. S. 260 f. Vgl. Schelsky, Helmut: Demokratischer Staat und moderne Technik, in: Atomzeitalter 5 (1961), S. 99–102. 118 Isensee (2002), S. 262 f. 117
III. Zwischenbetrachtung – Amtsgedanke und ethisch-normative Bestimmtheit 227
Smends Verfassungsdenken zu Grunde, ohne dass der Begriff politischer Freiheit offen in ihm verhandelt würde. Aber Smends Integrationstheorie geht durchaus in diese Richtung: Erst in der Anschaulichkeit des Verfassungslebens, in dessen Wahrnehmung als geordneter und sinnvoller Einheit, liegt für Smend die Möglichkeit sittlicher Einordung der Einzelnen in das Ganze des Staates. Die Deutung des Art. 1 Abs. 1 GG, die Verfassung sehe von einem formaldemokratischen Menschenbild ab, zeichnet eine Linie staatsrechtlichen Denkens weiter, deren Anknüpfungspunkt Rudolf Smend in seiner Auslegung der Grundrechte ermöglicht hat. Die referierte unmittelbare Smend-Rezeption weist zwei Richtungen auf. Die erste besteht in Wilhelms Hennis’ starker Betonung des Amtsgedankens als ausschlaggebendes Moment nicht nur der alten Repräsentativverfassung, sondern auch des modernen Verfassungsstaates, sowie in Arnold Köttgens Bemühen um die Plausibilität statusrechtlicher Qualifizierung von Abgeordneten und Ministern, ein Schritt, der für ihn mit der Frage nach einer Bestimmung der demokratischen Staatsform überhaupt verbunden ist. Dies ist die gewissermaßen plastischere Richtung einer Fortführung des Verfassungsdenkens Rudolf Smends gegenüber der umsichtigeren Variante, die sich bei Ulrich Scheuner und Horst Ehmke findet. Scheuner und Ehmke gehen von Smends Bemühungen um den Regierungsbegriff aus, um von hier zu einer neuen Sinngebung bekannter staatsrechtlicher Konventionen anzusetzen. Scheuner und Ehmke formulieren eine deutlich geweitete Auffassung des Bereichs der Regierung sowie des Amtsgedankens. Zwar wird dieser Zug auch bei Köttgen und Hennis vernehmbar – im Falle Hennis’ in der Forderung, die Öffentlichkeit habe sich der Übereinstimmung oder Diskrepanz zwischen den Erfordernissen bestimmter Ämter und den persönlichen Fähigkeiten der jeweiligen Amtsinhaber fortwährend zu vergewissern, bei Köttgen in dem Nachdenken über die nicht bloß organisatorische, sondern zudem ethische Bedeutung der grundrechtlich betonten Stellung der Staatsbürger im politischen Gemeinwesen für den Amtscharakter der staatlichen Institutionen. Stärker kommt es beiden jedoch darauf an – wie dann auch Siegfried Landshut und ihm bis zu einer gewissen Gradstufe und Wendung folgend Böckenförde, Kielmansegg und Isensee –, den repräsentativ-aristokratisch begriffenen Amtsgedanken als strukturelles Gegenteil zu einem Demokratieverständnis plebiszitären Charakters aufzubauen.119
119 Ob diese „plastische Einseitigkeit“ auch noch für das weitere politikwissenschaftliche Werk Wilhelm Hennis’ gilt, ist an dieser Stelle nicht zu erörtern. Der oben zitierte Aufsatz ,Das Modell des Bürgers‘ von 1957, dann weitere Texte von Hennis wie ,Motive des Bürgersinns‘ (1962), ,Legitimität‘ (1976) und ,Regierbarkeit‘ (1977) zeigen deutlich die Einsichtnahme in das von Rudolf Smend angeschnittene Problem politischen Erlebens seitens der vermeintlich „passiven“ Bürger. Andere Texte, wie etwa ,Zum Begriff und Problem des politischen Stils‘ (1964) und ,Aufgaben einer modernen Regierungslehre‘ (1965), sprechen klar das in Hennis’ Augen eigentliche
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3. Teil: Fortführungen des Verfassungsdenkens Rudolf Smends
Beinahe vollständig absorbiert von der argumentativen Auseinandersetzung mit einer geschichtsphilosophisch motivierten, sich auf vermeintlich „klassisches“ Demokratieverständnis berufenden Gesellschafts-, Institutionen- und Legitimationstheorie, sowie von der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um Pluralismus- und Mandatstheorie wird das staatsrechts- und politikwissenschaftliche Denken von Autoren wie Ernst-Wolfgang Böckenförde, Peter Graf Kielmansegg und Josef Isensee. Stets gegenwärtige Triebfedern ihrer Überlegungen sind die Aufsätze von Wilhelm Hennis über das Amt von 1958/62 und von Siegfried Landshut über Repräsentation von 1964. Geradezu selbstverständlich geworden ist Arnold Köttgens Eintreten für eine statusrechtliche Qualifizierung von Abgeordneten und Ministern sowie die Betonung einer Verbindung des Amtsgedankens mit dem Demokratieprinzip. Und so ist ein gesonderter Aspekt des Verfassungsdenkens Rudolf Smends in der Demokratietheorie der Bundesrepublik angekommen – wenn auch sein Name bei den zuletzt genannten Autoren nur noch in dem bibliographischen Hinweis auftaucht, dass Hennis’ Aufsatz in einer Festschrift zu Smends Ehren erschienen sei. Von Hennis (1958) bis Isensee (2002) ist die praktische Konsequenz des Amtes deutlich herausgestellt: sie besteht darin, in der Aufgabe, öffentlich über das Schicksal des Menschen nachzudenken und in entsprechender Weise mittels begrenzter Befugnisse verbindlich für andere zu entscheiden, nicht ein Privileg, sondern eine verantwortungsvolle Pflicht zu sehen. Die Berufung auf die europäischem Denken eigene Amtsidee zeigt aber die Tendenz, in das aus dem Smendschen staatsrechtlichen Werk weitergetragene Defizit oder Dilemma zu geraten: Entscheidung und Eintreten für den Amtsgedanken setzt in dem klar erkennbaren normativ-praktischen Wunsch, durch dies sorgenvolle Eintreten eine gewisse qualitative Wende zu stiften, eine ethisch-normative Bestimmtheit voraus. Begriffsgeschichtlich wird die institutionelle Überlegenheit der repräsentativen Demokratie, dieses vermeintlichen „sorry substitute“, gegenüber der unmittelbaren und „wahren“ Demokratie herausgearbeitet. Darin gelingt es insbesondere Kielmansegg, die von Landshut noch in einem sich ausschließendem Widerspruch gesehenen Art. 20 und 38 GG miteinander zu versöhnen und in der Synthese der in ihnen ausgesprochenen Prinzipien geradezu die Definition des vom mechanistischen Konstitutionalismus gelösten repräsentativ-demokratischen Verfassungsstaates aufzuzeigen. Art. 20 und Art 38 GG, so lässt sich auf Smend aufbauend folgern, beziehen sich aufeinander wie zweiter – staatsbürgerlich-ethisch-politischer – und erster – amtsorganisatorischer – Hauptteil der Weimarer Reichsverfassung: es handelt sich um die verfassungsrechtliche Aufgegebenheit von mehr passiven und mehr aktiven Regierungspflichten. Betrifft also der Amtsgedanke sowie auch der Regierungsbegriff nur die Inhaber der Aufgabenfeld der politischen Wissenschaft an: die Befassung mit den Aufgaben der politischen Ämter und den Fähigkeiten der politischen Elite.
III. Zwischenbetrachtung – Amtsgedanke und ethisch-normative Bestimmtheit 229
höchsten verfassungsmäßigen Ämter oder auch die Staatsbürger? Woher stammt die Würde des Amtes passiver und aktiver (Selbst-)Regierung in der demokratischen Staatsform? Was ist substanziell unter dem Gemeinwohl zu verstehen, auf das hin ausgerichtet alle regierende Amtsbefugnis ausgerichtet begriffen werden soll? Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die geschilderte Verfassungstheorie von einer Entsprechung ausgeht oder eine solche fordert: die von Regierenden und Regierten in dem Sinn eines einheitlichen Staatsbürgerethos. Die Träger politischer Verfassungsämter müssen nicht nur irgendwie „ständisch“ ausgeprägte und fortwährend approbierte Qualitäten in ihrer Amtsführung aufweisen; darüber hinaus bedürfen sie des Gegenübers der sie Berufenden, der Bürger, auch ethisch. Wenn bei Köttgen das Staatsrecht Heimat des Amtes ist, die Amtsausübung ethischer Maßstäbe bedarf und die Würde des Amtes sich aus dem Vertrauen und dem maßhaltenden Erwartungen der berufenden Staatsbürger speist, so weiß dieses Smend nachfolgende Verfassungsdenken doch nicht zu sagen, worin eigentlich die besondere Qualität staatsrechtlicher Regelung und staatsbürgerlicher Tugend besteht und begründet ist. Böckenfördes Ausführungen zur formalen und institutionellen Organisation der demokratischen Ämterstruktur geben zu, auf die Frage nach dem Wesen der Repräsentation eine Antwort schuldig geblieben zu sein. Nur angerissen bleiben die Schwierigkeiten einer aufgegebenen Vermittlung auf „das Allgemeine“ hin; obwohl von vornherein mitgedacht, wird der „übergreifende Bezugspunkt“ doch nicht benannt. Zwischen den plausiblen amtstheoretischen Einwendungen gegen die Einstimmigkeitsregel und der berechtigten Kritik am funktionellen Repräsentationsverständnis klafft auch in Kielmanseggs glänzender Zusammenführung von Amtsgedanke und Demokratieprinzip eine Lücke hinsichtlich der ideellen Motiviertheit und ethischen Substanz der Repräsentation. Dies berührt die oben konstatierte Konditionalitätsthese in Hinsicht auf den demokratischen Verfassungsstaat als einer Ämterordnung. Böckenfördes „ethisch-normative Bedingungen“, Landshuts gemeinverbindliche „Imperative der Lebensführung“, die anthropologische Substanz des Amtsethos als einer Verpflichtung gegenüber dem Ganzen bei Hennis, Kielmansegg und Isensee – es sind jeweils „höhere“ Normen und Ordnungen, auf die bereits Rudolf Smend sich beruft, und die, als kulturelle Voraussetzung des Amtsgedankens, „über Staat und Staatsmacht“ stehen, d. h. über faktisch-strategischer Machtlage sowohl als auch über der Idee des Staates als einer gerechten Gemeinschaft und eines geordneten Rechtszustandes. Auch die die Nachfolge des Smendschen Amtsgedankens antretenden Autoren wissen seinen ethisch-normativen Ort nicht zu bestimmen, wenn sie sich auch implizit auf ihn beziehen. Welchem Ort oder welcher Richtung innerhalb der Politischen Wissenschaft lassen sich das Verfassungsdenken Rudolf Smends sowie dessen Fortführungen zuordnen, um zu versuchen, die Frage nach der Bestimmtheit zu beantworten?
4. Teil
Verortung des Verfassungsdenkens Rudolf Smends in der Politischen Wissenschaft I. Staatsrechtslehre und Politische Wissenschaft 1. Smend vs. Kelsen – Kelsen vs. Smend Nicht nur Max Weber traf Smends Vorwurf „letzter innerer Unbeteiligung am Staat“1, sondern mindestens ebenso scharf die Rechtslehre der Wiener Schule2, deren wichtigste „außerwissenschaftliche Voraussetzung“ Smend in der in ihr „unzweideutig obwaltenden ethischen Skepsis“, in ihrer „Staatsfremdheit der praktischen Gesinnung“ sah. In Verfassung und Verfassungsrecht suchte Smend zu zeigen, dass sich dieser Mangel vor allem „als ein Grundfehler auch der erkenntnistheoretischen Grundlegung“ auswirke.3 Ohne Zweifel hängt für Smend die Gesinnung, die praktische Haltung und innere Beteiligung des Gelehrten an dem Gegenstand seiner wissenschaftlichen Arbeit, der für ihn somit zu mehr als einem bloßen Gegenstand wird, mit der Problematik staatstheoretischer Grundlagen dieser Forschung eng zusammen. Die Reaktion Hans Kelsens verdeutlicht die „unzeitgemäße“ Anstößigkeit dieser These Smends im Lichte des modernen Wissenschaftsbegriffs. Worüber Smend sich empörte, das schrieb Kelsen sich umso selbstbewusster auf die eigenen Fahnen. Werturteile lägen seiner Staatslehre tatsächlich nicht zu Grunde: „Aber ,unpolitisch im Sinne letzter innerer Unbeteiligung am Staat’, am Staat als Objekt der wissenschaftlichen Erkenntnis: das ist die Wiener Schule allerdings, das bemüht sie sich nach allen Kräften zu sein“. Die Relevanz einer ethisch-politischen Gesinnung für die staatswissenschaftliche Forschung, die doch der Amtsgedanke des Smendschen Staats- und Verfassungsverständnisses und das seiner Nachfolger impliziert, bestritt Kelsen vehement. Sei das Ziel wissenschaftlicher Arbeit „die Erzeugung einer von irgendeinem Standpunkte wünschenswerten praktischen Haltung“, so käme sie „als Wissenschaft nicht mehr in Betracht“. Seiner „innersten Natur nach“ sei Smend ein „Staatstheologe“, denn sich wissenschaftlicher Formen „als eines Mittels für die Willensbestimmung der Menschen zu bedienen“, sei 1 2 3
Smend (31994), S. 122. Vgl. Stolleis (1999), S. 163–171 sowie die dort angegebene Literatur. Ebd. S. 122 f. Vgl. dazu Hennis (2000), S. 28 ff.
I. Staatsrechtslehre und Politische Wissenschaft
231
charakteristisch für die Theologie.4 Das Maß wissenschaftlicher Objektivität ist für Kelsen offenbar umso größer, je distanzierter und unbeteiligter im Sinne sittlich-praktischer Haltungen der forschende Mensch seinem Objekt gegenüber steht. Die Amtsidee und die Erweiterung des Regierungsbegriffs mit ihren ethisch-normativen Bedingungen in die Staatsrechtslehre einzubringen, musste ihm als unzeitgemäß, ja als unerlaubt und anstößig erscheinen. Smends Kritik an Kelsens Positivismus gebietet Vorsicht vor dessen Unterschlagungen der subjektiven Bedingungen und Intentionen, vor den methodischen Ansprüchen auf Vollständigkeit und Kontinuität. Denn das Maß der Objektivität – in Hinsicht auf Erkenntnisse über Menschen und soziale Zusammenhänge – ist nicht die Identität von Gedanke und Sache, nicht die Verifizierung behaupteter Thesen durch wiederholende Überprüfung, sondern die in Sehnsucht und Verunsicherung, Hoffnung und Desillusion zusammengehaltene menschliche Erfahrung. Kelsen erreicht, und das war es, was Smend in der sogenannten Reinen Rechtslehre vornehmlich sah, die letzte Stufe der Emanzipation der politischen Staatswissenschaft von ihrem Charakter als praktischer Disziplin. Auf die Gefahren, die in dieser Entfernung liegen, wird zurückzukommen sein. Beide Gelehrten, Smend und Kelsen, greifen auf der ihnen zu Gebote stehenden Despektierlichkeitsskala ganz nach oben (bzw. nach unten), wenn sie sich gegenseitig ethischen Agnostizismus (Smend vs. Kelsen) und Staatstheologie (Kelsen vs. Smend) vorwerfen. Ein Eingehen auf den historischen Zusammenhang der formaljuristischen Staatsrechtslehre mit der Disziplin der politica erscheint unerlässlich, wenn Rudolf Smends Ort in der Politischen Wissenschaft vom Staat näher bestimmt werden soll. Erst vor dem Hintergrund der zu skizzierenden Entwicklung der Disziplin der Politischen Wissenschaft wird verständlich, weshalb Smend von der Rechtslehre Kelsens als einem „bewußt erreichten Nullpunkt“5 in der Entwicklung der Wissenschaft vom Staat sprach6 – und zudem, wie „weit“ es Staatslehre und politische Geschichte mit Hilfe eines anethischen Technizismus dieses Nullpunktes „gebracht“ haben. Es gilt zu zeigen, dass das Verfassungsdenken Rudolf Smends weder zur positivistisch-konstruktivistischen noch zur Richtung ihres dialektischen Umschlags, einem politik-soziologischen Positivismus, gehört. Die im Smendschen Verfassungsdenken aufgefundene Konditionalitätsthese, die Abhängigkeit anregenden und ein4
Kelsen (1930), S. 31 ff. Smend (31994), S. 124. 6 Die folgende kurze Darstellung der Loslösung der Staatswissenschaft aus ihrem handlungspraktischen Intentions- und Aufgabenbereich bezieht sich hauptsächlich auf Wilhelm Hennis’ Studie ,Politik und praktische Philosophie‘ (1963) in Hennis (2000), S. 1–126, insb. S. 30–115, zudem auf Hennis (1973), S. 26–51, Otto Brunners ,Bemerkungen zu den Begriffen ,Herrschaft‘ und ,Legitimität‘ (vgl. Brunner 21968), Cobdan, Alfred: Der Verfall der politischen Theorie, in: Der Monat 6 (1954), S. 233 ff. sowie auf Heller, Hermann: Die Krisis der Staatslehre, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 55 (1926), S. 289–316. 5
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4. Teil: Verfassungsdenken Rudolf Smends in der Politischen Wissenschaft
schränkenden „guten“ Staatsrechts von einer dem Menschen aufgegebenen Bestimmtheit – negiert von der menschlicher Selbstermächtigung in die Hände spielenden rechtsdogmatischen Technizismus der Kelsenschen Gedankenwelt –, gilt es in der Landschaft Politischer Wissenschaft zu verorten. 2. Souveränitätsfrage und Legitimitätsproblem Aus der Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum vierzigsten Jahrestag des Grundgesetzes im Mai 1989 stammt folgende Feststellung und Frage: „Wir haben eine gute Verfassung, sind wir aber auch in guter Verfassung?“7 Diese im Geiste Rudolf Smends gestellte Frage8 galt nicht dem Verfassungsdokument, dem „bloßen Blatt Papier“9, sondern dem Agieren der verfassungsmäßigen Institutionen in ihrer Eigenschaft als von Menschen betreuten Ämtern, den im politischen Leben inzwischen äußerst mächtigen Parteien, der politischen Elite, aber auch den Bürgern und der gesamten Öffentlichkeit und ihrer Verantwortungsbereitschaft. Kurz: die Frage bezieht sich auf den Zustand der Nation, sie gilt den Verfassungsdingen10, also Bewusstsein und Selbstverständnis politischer Lebenswirklichkeit. Denn nur im Zusammenhang mit dieser Wirklichkeit, die sie normativ leiten wollen, lassen sich die verfassungsrechtlichen Regelungen angemessen verstehen. Als die in diesem Zusammenhang bestehende politologische Kernfrage wird häufig das Legitimitätsproblem politischer Ordnungen angesprochen, das vor allem in einer in unterschiedlichste Sinnbereiche zerfallenen Gesellschaft bestehe.11 In dem Jahr der zitierten Weizsäcker-Rede beklagt Bernhard Schlink, Richter am nordrhein-westfälischen Verfassungsgerichtshof, die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch eine Art Verfassungsgerichtspositivismus und den damit einhergehenden Theorieverlust bezüglich der Legitimationsidee mo7
Zitiert nach Hamm-Brücher, Hildegard: Freiheit ist mehr als ein Wort. Eine Lebensbilanz 1921–1996, Köln 1996, S. 397. 8 Weizsäcker hatte in Göttingen noch Gelegenheit, Smend in Vorlesungen zu erleben. Vgl. Weizsäcker, Richard von: Vier Zeiten. Erinnerungen, Berlin 1997, S. 103. 9 Lassalle, Ferdinand: Über Verfassungswesen. Ein Vortrag gehalten in einem Berliner Bürger-Bezirks-Verein 1862: „Was auf das Blatt Papier geschrieben wird, ist ganz gleichgültig, wenn es der realen Lage der Dinge, den tatsächlichen Machtverhältnissen widerspricht.“ 10 Dieses alte Wort ist wieder in Umlauf gebracht worden von Starck, Christian: Über niedersächsische Verfassungsdinge, in: Schriftenreihe des Niedersächsischen Landtags 26 (1996). 11 Siehe zunächst Brunner (21968), dann v. a. Habermas, Jürgen: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973, dagegen Hennis (1976), S. 9–38, zudem Mehring, Reinhard: Integration durch Verfassung. Zum politischen Verfassungssinn Rudolf Smends, in: Politisches Denken. Jahrbuch 1994, hg. v. Volker Gerhard u. a., Stuttgart/Weimar 1995, S. 19 ff. Außerdem die Kernkapitel in Siedentop, Larry: Demokratie in Europa, Stuttgart 2002, S. 7–74.
I. Staatsrechtslehre und Politische Wissenschaft
233
derner Staaten.12 Der Freiburger Historiker Wolfgang Reinhard hat in seiner Geschichte der Staatsgewalt darüber geradezu das Ende der Kulturerscheinung Staat prognostiziert.13 Bemerkenswert ist, dass Reinhard seine Vergleichende Verfassungsgeschichte als eine Geschichte der Staatsgewalt bezeichnet und nicht etwa als Geschichte der Regierungsgewalt. Deutsch- und englischsprachige Rezensionen haben empfindlich darauf reagiert; die Geschichte Europas sei nicht nur eine Geschichte des Leviathan, sondern auch eine Geschichte der Emanzipation des Individuums sowie kollektiver Pluralismen.14 Einschlägig in der Fokussierung auf das staatliche Gewaltmonopol, so hält die Kritik Reinhard entgegen, sei nach wie vor das herrschaftskategoriale Denken der deutschen Staatsauffassung des späten 19. Jahrhunderts, das die reziproke Identität von Herrschaftshandeln und Rechtstätigkeit annehme. Sehr im Gegensatz zu dem politischen Denken des anglo-amerikanischen Typus – ausgehend vor allem von John Lockes Auseinandersetzung mit Robert Filmers Patriarcha –, nach dem das eigentliche politische Moment in der Zustimmung der Gemeinde, die politische Qualität demnach in dem Verhältnis der Gemeindemitglieder zu ihrer Regierung, zueinander sowie zu ihrer differenziellen Einheit liegt. Dieses Politikverständnis beruht prinzipiell auf dem Primat der Verfassung, wobei diese nicht vom Staatsbegriff her bestimmt wird, sondern von ihr her das abgeleitet wird, was diesem Verständnis nach als government auftritt.15 Das in diesem Zusammenhang nicht selten anzutreffende Missverständnis ist die Verwechslung der Souveränitätsfrage mit dem Legitimitätsproblem.16 Jedoch wird das Legitimitätsproblem von der quaestio iuris nicht tangiert. Der Satz auctoritas non veritas facit legem ist zutreffend nur im Hinblick auf die Frage nach der Souveränität, nicht hinsichtlich der Legitimität einer Regierungsweise, über die Thomas Hobbes nichts zu sagen weiß, da sein Thema die sovereign authorization ist, nicht das Problem der Legitimität.17 Spinozas oboedientia facit imperantem wäre der in ihrem Fall relevantere Grundsatz; Legitimität ist dann eine spezifische Eigenschaft politischer Praxis und politischen Selbstver-
12
Siehe erneut Schlink (1989). Vgl. Reinhard, Wolfgang: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999. 14 So Gerhard Dilcher in HZ 271 (2000), S. 389. Vgl. auch die Rezension von Keith Tribe in AHR 12 (2000), S. 1702 f. 15 Vgl. Vollrath, Ernst: Max Weber. Sozialwissenschaft zwischen Staatsrechtslehre und Kulturkritik, in: PVS 31 (1990), S. 102 ff. Den Entstehungszusammenhang (17. und 18. Jahrhundert) und dann den Niedergang des englischen Verfassungsdenkens und seiner politischen Ämterpraxis in den letzten zwanzig Jahren kennzeichnet Siedentop 2002, S. 101 ff. 16 Vgl. dazu Matz, Ulrich: Politik und Gewalt. Zur Theorie des demokratischen Verfassungsstaates und der Revolution, Freiburg 1975. 17 Vgl. Orwin, Clifford: On the Sovereign Authorization, in: Political Theory 3 (1975), S. 26 ff. 13
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4. Teil: Verfassungsdenken Rudolf Smends in der Politischen Wissenschaft
ständnisses. Als das Signum moderner politischer Praxis kann gelten, sich nur auf „vorletzte“ Gründe zu beziehen: legale Verfahren, übliche Regierungsmodi, begrenzte Kompetenzen – legitime Herrschaft ist nahezu identisch mit limitierter Herrschaft. Letzten Orientierungen löst sie zwar die Zunge, setzt Orientierungen ethisch-normativer Art damit aber auch voraus.18 Inwieweit bildete oder beeinflusste das heute so zentral erscheinende Legitimitätsproblem politischer Institutionen und institutionalisierter Ordnungen überhaupt das Verfassungsdenken Rudolf Smends? Es ist zu konstatieren, dass ein aus dem geistigen Ort seiner Lehre hervortretendes Verfassungsdenken festhält an einer klar erkennbaren und damit kontrollierbaren und verantwortlichen Trennung des Bereichs politischer Regierungsgewalt von anderen gesellschaftlichen Bereichen.19 Vom Amtsgedanken her entwickelt eine normativ-praktisch gesinnte Politikwissenschaft die Auffassung vom modernen Verfassungsstaat als einer repräsentativen Ämterdemokratie. Das Bindeglied, das den Amtsinhaber mit denjenigen verbindet, die ihn in das Amt berufen, ist Wilhelm Hennis zufolge nicht eine identitäre Willensrelation, sondern das Vertrauen. Hennis rekurriert in dieser Sache nicht nur auf Smend, sondern auch auf das anglo-amerikanische Verfassungsverständnis. In der berühmten Formulierung des Federalist heißt es: „The institution of delegated power implies that there is a portion of virtue and honour among mankind, which may be a reasonable foundation of confidence“20. Was hier als institution begriffen wird, meint also ein (gesetzespositivistisch gesehen) weitgehend metajuristisches Wechselverhältnis von Verhalten und Erwartung, das nicht nach einem ontologischen, statisch-objektivierten Sitz der Souveränität fragt. Die Souveränitätsfrage zielt in verabsolutierender Intention auf die Lokalisierung, ferner auf die Ermächtigungs- und Gewaltberechtigung eines letzten immanenten Rechtsgrundes. Die Erörterung des Legitimitätsproblems weiß, dass es eine solche letzte Instanz innerhalb des Verfassungslebens nicht geben darf. Ihr geht es um die Übergabe von Verantwortung, um die Erwartung bestimmter Qualitäten – genauer: Tugenden – auf Seiten der Regierenden sowie der Regierten. Dem entspricht, dass Forderung und Problematik der Partizipation – als fragliches Synonym für „politische Freiheit“ – sekundär bleiben, solange nicht geklärt ist, woran die Bürger partizipieren – was für die 18 Vgl. Hennis (1976), S. 22. Vgl. Art. 2 Abs. 1 GG, in dem das „Sittengesetz“ auf die gleiche Stufe mit der „verfassungsmäßigen Ordnung“ gestellt wird. 19 Vgl. Hennis (1973), S. 26–51 sowie Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, Opladen 1973; Friedrich, Carl Joachim: Die Legitimität in politischer Perspektive, in: PVS 1 (1960), S. 119 ff.; Kielmansegg, Peter Graf: Legitimität als analytische Kategorie, in: PVS 12 (1971), S. 367 ff. sowie Sternberger, Dolf: Art. „Legitimacy“, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, Chicago: Macmillan 1968, Bd. 9, S. 244–248. 20 Federalist (1982), S. 464 (Nr. 76).
I. Staatsrechtslehre und Politische Wissenschaft
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Qualität der Partizipation nicht unerheblich ist. Die bis zu einem gewissen Grad reichende Identifikation der Bürger mit dem Charakter ihres politischen Gemeinwesens – nicht jedoch: totale Identität von „Herrschenden“ und „Beherrschten“! – erscheint in dieser Perspektive als die eigentliche Rechtfertigung des Staates.21 Hier liegt die zu erfassende Differenz zwischen einer ethischpolitisch orientierten und einer positivistisch-konstruktivistischen Ausrichtung moderner Staatslehre. 3. Machtgeschichte und Rechtsgeschichte An der verfassungsgeschichtlichen Forschung seiner Zeit moniert Otto Brunners Land und Herrschaft (1939) die Anwendung der durch das moderne Rechtssystem bedingten Begriffe auf die politischen Ordnungen des Mittelalters.22 Diese Übertragung von den Modellen der Neuzeit auf vor- und frühmoderne Verfassungszustände gehe meist völlig unreflektiert vor sich. Das habe zur Folge, dass Verfassungsgeschichte mit Rechtsgeschichte gleichgesetzt werde. Und als solche bleibe sie eine Domäne der Staatsrechtslehre. Aspekte, welche die politische Ordnung betreffen, werden hier oft gar nicht als wirkliche Verfassungsfragen, sondern als verwaltungsrechtliche Fragen behandelt. Die Bedenken Brunners gegen dieses Auffassung lauten dahin, dass „Staat und Verfassung doch letztlich mehr seien als ,Rechtsordnung‘.“23 Das positivistische Trennungsdenken, in dem Staat und Gesellschaft in je abgeschlossene Sinnbereiche zerfallen und der Staat als „juristische Person“ konstruiert wird, lässt sich für Brunners Forschungsgebiet nicht aufrechterhalten. Dem gesellschaftlichen Leben der mittelalterlichen Stände waren schon erhebliche verfassungsgeschichtlich relevante Elemente inhärent. Der künstlich verengte Verfassungsbegriff, der unter Verfassung eben nur konstitutionelle Einschränkung des Fürsten versteht, erfasst nicht die breite Sphäre der Verfassungspraxis; diese lässt sich nicht allein aus urkundlichen Sollzuständen schildern. Dass Staat und Gesellschaft als Gegenstände voneinander getrennter Wissenschaften erfasst werden, ist für Brunner das forschungsgeschichtliche Ergebnis eines im 19. Jahrhundert abgeschlossenen Prozesses, nämlich der radikalen Trennung der societas civilis von der res publica.24 Mit ihr komme es zu dem 21 Vgl. Hennis (1976), S. 9–38 sowie die Hinweise auf die staatliche Legitimierungsweise über individuelle Richtigkeitsüberzeugungen der Bürger bei einem weiteren Smend-Schüler: Hesse, Konrad: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 16. Aufl. 1988, S. 10 und 15. 22 Vgl. Brunner, Otto: Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter, Baden bei Wien/Brünn/Leipzig/ Prag 1939, S. 132–157. 23 Ebd. S. 151. 24 Vgl. ebd. S. 136 f.
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4. Teil: Verfassungsdenken Rudolf Smends in der Politischen Wissenschaft
Zerfall in zwei Wissenschaften vom Politischen: In eine Verfassungsgeschichte als Dogmatik positiver verfassungsrechtlicher Grundsätze und eine Lehre vom politischen Machtkampf; Rechtsgeschichte auf der einen, Machtgeschichte auf der anderen Seite. Als Kern des verfassungsgeschichtlichen Forschungsprogramms Otto Brunners lässt sich die Forderung verstehen, zu einer umfassenden Schilderung und Beurteilung politischer Geschichte (zurück) zu finden. Macht- und Rechtsgeschichte zusammenzudenken – aus diesem Grund werden für Brunner Begriff und Problem der Legitimierung politischer Ordnungen zum Brennpunkt des verfassungshistorischen und -theoretischen Interesses.25 Dieser verfassungshistoriographische Ansatz birgt allerdings die Gefahr, Machtgeschichte als mechanistisch-fragwürdige Rechtsverwirklichung zu schreiben, sofern er nicht in der Verfassungspraxis diese leitende „höhere Normen und Ordnungen“ ausfindig zu machen weiß. Es klingt nach einem nachträglich ausgestellten Werturteil über die Versuche deutscher und österreichischer Demokratie, wenn Brunner konstatiert, dass „Rechtssätze als solche wenig Bedeutung haben, wenn hinter ihnen nicht ,Macht‘ steht, die sie durchsetzt.“26 Bereitwillig den Verfassungsbegriff Carl Schmitts rezipierend, nach dem Verfassung als der „Gesamtzustand der politischen Einheit und Ordnung“ zu verstehen ist27, hat Brunner doch keinen Blick für die Vielfalt der modernen Verfassungstheorie.28 Bestimmen, wie Brunner meint, die Staatsrechtslehre und auch die Soziologie (zitiert wird Alfred Weber) die politische Ordnung des Mittelalters einfach als Nicht-Staat29, so verengt Brunner die Wissenschaft vom modernen Staat (offensichtlich mit der Ausnahme Carl Schmitts) zu einem abstrakten Begriffsapparat. Der sogenannte „Rechtsbegriff der Gegenwart“ ist bei weitem nicht dermaßen vorherrschend, wie Brunner es erscheinen lässt, und die von ihm erwähnte Lehre von den drei Elementen30 (Gewalt – Gebiet – Volk) selbst für die rechtspositivistische Denkrichtung nicht mehr die gängige Zugangsweise zu ihrem Gegenstand.31 Die im 19. Jahrhundert sich vollziehende wissenschaftsperspektivische Trennung zwischen Staat und Gesellschaft ist von Brunner sicherlich zutreffend beSiehe Brunner (21968), S. 64–79. Brunner (1939), S. 157. 27 Ebd. S. 132 zitiert Schmitt (1928), S. 3. 28 So wird ausgerechnet Rudolf Smend von Brunner – in einem etwas undurchsichtigen Zusammenhang (vgl. Brunner 1939, S. 137 Anm. 8) – als ein Vertreter positivistischen Trennungsdenkens genannt. 29 Vgl. Brunner (1939), S. 134. 30 Vgl. ebd. S. 147. 31 Siehe die entsprechenden Bemerkungen Rudolf Smends zu diesem „unrühmlichen Kapitel deutscher Ungeistesgeschichte“ in Smend (31994) S. 127 f. sowie S. 169 (Zitat). An der zweiten Stelle finden sich auch die Verweise auf die Kritik der positivistischen Wiener Schule an dem ihrerseits als überholt angesehenen Modell. 25 26
I. Staatsrechtslehre und Politische Wissenschaft
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obachtet.32 Aber diese Trennung ist als eine (freilich höchst wirkungsmächtige) Konstruktion gesetzespositivistischen Charakters anzusehen. Die Staatsrechtslehrer der Weimarer Republik waren ja gerade bemüht, den hauptsächlich von Soziologen und Historikern okkupierten Bereich des Politischen in das wesentlich durch die Zeit des Kaiserreichs geprägte juristische Denken vom Staat einzupassen. Dabei war der zu innerpositivistischen Reformen neigende Berliner Staatsrechtler Heinrich Triepel, Begründer der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, so weit gegangen, das Verfassungsrecht als das „Recht für das Politische“ zu bezeichnen.33 Die Reflexion der gegenseitigen Durchdringung beider Bereiche, des positivierten Rechts und des politischen Lebensstroms, von Seiten einer Wissenschaft vom Staat war Triepels Auffassung zufolge unumgänglich geworden. Rudolf Smend trennt zwar gedanklich die Sphäre des Rechtslebens von derjenigen der politischen Praxis, verweist aber auf die gegenseitige Abhängigkeit beider Sinnbereiche. Das eigentliche, von der rechtspositivistischen Staatslehre des Kaiserreichs vernachlässigte Verfassungsleben sieht er durchaus nicht in dogmatisch systematisierten Rechtsregeln verankert, nicht im bloßen Wortlaut von Kodifikationen, auch nicht in einer paragraphentreuen Befolgung von Einzelgesetzen sich erschöpfend, sondern vielmehr in der Verwirklichung der Verfassung als Ganzes durch die rechtsauslegende sowie insbesondere durch die politische Praxis, jedoch ohne die Tendenz zu empirisch-materialistischer Gleichsetzung von Verfassung und tatsächlichen Machtverhältnissen zu übernehmen – wie etwa Ferdinand Lassalle – und sich damit einem politik-soziologischem Positivismus auszuliefern. Wohl ohne dies zu beabsichtigen, hatte die gesetzespositivistische und formaljuristische Staatsrechtslehre den Boden für eine solche Auslieferung bereitet. 4. Spätkonstitutionelle Staatsrechtslehre Der Gesetzespositivismus des späten 19. Jahrhunderts vertrat den Standpunkt, das vom Staat gesetzte positive Recht sei jenseits des Nachweises verfassungsmäßigen Zustandekommens einer legitimierenden Begründung weder fähig noch bedürftig. Indem sie eine beständige, als notwendig und richtig empfundene Gesellschaftsordnung voraussetzte, beschränkte sich die Staatsrechtslehre bewusst auf die Sammlung und systematische Ordnung der Rechtssätze sowie deren Rückführung auf allgemeine Begriffe. Dieser Normativismus fußte auf der dogmatischen Grundannahme der Identität von Recht und Gesetz sowie der 32
Vgl. etwa die Überblicksdarstellung Hans Heinrich Rupps in HStR III 32005, II,
§ 31. 33 Triepel, Heinrich: Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, in: VVDStRL 5 (1929), S. 8. Dagegen „Verfassungsrecht als politisches Recht“ schon im Titel bei Carl Bilfinger in ZfP 18 (1929), S. 281.
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4. Teil: Verfassungsdenken Rudolf Smends in der Politischen Wissenschaft
Geschlossenheit und Lückenlosigkeit der Rechtsnormen.34 So hielt Paul Laband im Zusammenhang mit seiner nachträglichen juristischen Bearbeitung des preußischen Budgetkonflikts mit einigem Stolz auf die juristische Konstruktionsleistung fest: „Eine Lücke in der Verfassungs-Urkunde (. . .) darf man nicht verwechseln mit einer Lücke in der Staatsverfassung. Die letztere ist ein undenkbarer Begriff; Gesetze können lückenhaft sein, die Rechtsordnung selbst aber kann ebenso wenig eine Lücke haben, wie die Ordnung der Natur.“35 Falls einer Rechtsordnung keine Antwort auf ein angebliches Rechtsproblem zu entnehmen sei, so ergänzte Karl Bergbohm, dann sei retrospektiv die gestellte Frage unjuristisch.36 Unter Bezugnahme auf eine frühe Äußerung des Göttinger Rechtshistorikers Wilhelm Eduard Albrecht entwickelte die positivrechtliche Staatstheorie die Vorstellung von der begrifflichen Rechtspersönlichkeit des Staates mit ihrer zentralen Eigenschaft, die gesamte Gewaltsamkeit inne zu haben.37 Der abstrakte Rechtsbegriff verzichtete auf eine Erfassung des politischen Lebens und der metajuristischen Bedingungen allen Rechts- und Staatslebens. In Analogie zum Handelsrecht kommt der Ansicht Labands zufolge der juristischen Person des Privatrechts keine andere Eigenschaft zu „als die eine, die ihr ganzes Wesen ausmacht, nämlich Rechtssubjekt zu sein.“38 Die Rechtspersönlichkeit wird von der Rechtsordnung verliehen, folglich ist nur das Recht in der Lage, eine von individueller Existenz losgelöste neue Einheit mit eigenen Rechten und Pflichten zu schaffen.39 Die sozialen Wechselwirkungen zwischen einem Gemeinwesen zugehörigen Menschen und die dem Staatsrecht zu Wirklichkeit und Aktualisierung verhelfenden Imperativen der Lebensführung beschäftigen den juristischen Formalismus nicht; sie liegen „zum größten Theil auf dem nichtjuristischen Gebiet“40. Das Gebot der alle Rechtsgebiete umfassenden methodischen Einheitlichkeit begründete die Übertragung dieser Auffassung in den Bereich des Staats-
34
Vgl. Korioth (1990), S. 97 ff. sowie Korioth (1992), S. 212 ff. Laband, Paul: Das Budgetrecht nach den Bestimmungen der preußischen Verfassungs-Urkunde unter Berücksichtigung der Verfassung des Norddeutschen Bundes, Berlin 1871, S. 75. 36 Vgl. Bergbohm, Karl: Jurisprudenz und Rechtsphilosophie. Kritische Abhandlungen. Bd. 1: Das Naturrecht der Gegenwart, Leipzig 1892, S. 381. 37 Vgl. Albrecht, Wilhelm Eduard: Rezension über Maurenbrechers Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts, in: Göttingsche Gelehrte Anzeigen 1837, unveränderter fotomechanischer Neudruck Darmstadt 1962, S. 1492, wo es heißt, der Staat sei „die Persönlichkeit, (. . .) die herrscht, handelt, Rechte hat“. 38 Laband, Paul: Beiträge zur Dogmatik der Handelsgesellschaften, in: ZGH 30 (1885), S. 492. 39 Vgl. ebd. S. 495. 40 Ebd. 35
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rechts.41 Die juristische Persönlichkeit des Staates wurde dadurch konstruiert, dass er „eigene Herrschaftsrechte behufs Durchführung seiner Aufgaben und Pflichten und einen selbstständigen Herrschaftswillen hat“42. Nach dieser Definition besteht der Staat nur als „der gedankliche Träger staatsrechtlicher Willens- und Handlungsfähigkeit“. Das Staatsrecht beinhaltet dementsprechend die „Systematisierung der einzelnen Tätigkeitsformen und Auswirkungen der Staatsgewalt.“43 Das gestaltende Element dieser Staatslehre, das Weiterdenken der Begriffe, die „Herleitung der aus diesen Begriffen sich ergebenden Folgerungen“44, ist minimal. Denn die Prinzipien und Ergebnisse der juristischen Konstruktion sind objektiv immer schon vorhanden, es kann nur darum gehen, sie durch die „technischen Kunstregeln des juristischen Denkens“45 zu entdecken. Ob der Staat etwa eine sinnvolle und gerechte politische Ordnung sei, danach wird nicht gefragt. Das Staatsrecht wird deswegen auch nicht als ein Versuch begriffen, das Funktionieren der politischen Ordnung zu beurteilen oder gar zu ihrer Sinnstiftung beizutragen, denn das Staatsrecht selbst bedeutet in sich schon Legitimität. Es entstehe hier, so Rudolf Smend in seinem wissenschaftshistorischen Rückblick von 1939, „jenes seltsame Bild eines sinnentleerten Systems von Kompetenz- oder Machtparzellen, das zum Leben an sich keine Beziehung hat, wohl aber durch Nichterfüllung der dieser Wissenschaft obliegenden Aufgaben lebensschädigend wirken muß.“46 Verfassungstechnische Fragen werden bei Laband lediglich vereinzelt als Zusätze zur allgemeinen Gesetzeslehre behandelt. Der Verfassungsbegriff ist hier vollkommen formalisiert: die Verfassung besteht ausschließlich darin, Gesetz zu sein. Eine Differenzierung gegenüber anderen Gesetzen wird allein in der erschwerten Abänderbarkeit gesehen. „Die Verfassung ist keine mystische Gewalt, welche über dem Staat schwebt, sondern gleich jedem anderen Gesetz ein Willensakt des Staates.“47 Im Staat, dem Urheber der Gesetze, sah Laband auch den Urheber der Verfassung. Somit ist für ihn Verfassung nur denkbar im Sinne der positiven Gültigkeit der Verfassungsurkunde, sie ist mit dieser identisch. Auch der Heidelberger Staats- und Völkerrechtler Georg Jellinek ging von einer strukturellen Identität zwischen Verfassung und Gesetz aus. Allein eine „erhöhte formelle Gesetzeskraft“ sei das unterscheidende „rechtliche Merkmal von Verfassungsgesetzen“48. Diese erhöhte Gesetzeskraft der Verfassungsurkunde deutet jedoch nicht auf die Wesentlichkeit ihres Inhalts. Da der Staat für Jellinek sich 41 42 43 44 45 46 47 48
Vgl. Laband (1911), Bd. 1, S. VII (Vorwort). Ebd. S. 57. Korioth (1990), S. 108. Laband (1911) Bd.1, S. IX. Gerber (21869), S. 28. Smend (31994), S. 335. Laband (1911) Bd. 2, S. 39. Jellinek, Georg: Allgemeine Staatslehre, Berlin 31914, S. 520.
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über seine rechtliche Ordnung definiert, so hat er notwendig eine Verfassung, gleichgültig ob sie eigens in einer Urkunde festgehalten ist oder nicht.49 Keiner der gesetzespositivistischen Staatsrechtler hat dem Staat eine metajuristische Realität ausdrücklich abgesprochen, nur ist sie von ihnen nicht zum Gegenstand der Staatsrechtslehre erhoben worden. Schon bei Carl Friedrich von Gerber werden eine rechtliche und eine organische (oder natürliche) Betrachtungsweise des Staates nebeneinander gestellt.50 Gerber bemerkt dazu, dass „die sogenannte organische und die rechtliche Staatsauffassung sich zu einander verhalten wie zwei Betrachtungen desselben Gegenstandes von verschiedenen Standpunkten aus“51. Auch bei Laband blieb die prinzipielle Möglichkeit des Methodendualismus erhalten: Laband erwähnte zwar die außerrechtliche Realität des Staates nicht ausdrücklich, verwies aber auf historische, politische und philosophische Erkenntnismöglichkeiten von Staat und Recht.52 Die juristische Methode verharrte ihrerseits auf dem Standpunkt, alle Rechtsinstitute, vor allem den Staat, als selbständige begriffliche Existenzen, als logische Individualitäten und juristische Wesen erschließen und behandeln zu können. Dies ist aber der entscheidende Punkt, an dem sich schon für Georg Jellinek die Krise der gesetzespositivistischen Haltung entzündet, wenn er bemerkt, die Feststellung des Inhalts aller Rechtssätze sei mit der reinen Logik gar nicht möglich. Gerade die Grundsätze des Staatsrechts, die alle übrigen trügen, spotteten der rein logischen Behandlung.53 „Mit der formalen Logik allein kommt man (. . .) leicht zur Zeichnung staatsrechtlicher Bilder, denen in der Wirklichkeit der Dinge nichts entspricht“54. Die auf seinem Rechtscharakter beruhende herrschaftliche Normqualität des Staates ist also formal-positiv gar nicht aufweisbar, sie erscheint geradezu als Fiktion. Der von ihr beanspruchte Primat der politischen Interpretation drohte der Staatsrechtslehre abhandenzukommen – nicht zuletzt auf Grund der Tatsache, dass sie keinen Wert mehr darauf gelegt hatte, eine politische Wissenschaft im Sinne der praktischen Philosophie zu sein. Aus diesem Gedankengang heraus wird bei Jellinek eine Zwei-Seiten-Lehre entfaltet, indem die außerjuristische Betrachtung des Staates als gleichberechtigter Gegenstand der Staatslehre anerkannt wird. Es kommt zur Unterscheidung zweier staatstheoretischer Disziplinen, einer soziologischen und einer juristischen Staatslehre: „Die erstere hat das gegenständliche, historische, wie wohl nicht ganz zutreffend gesagt wird, natürliche Sein des Staates, die letztere dagegen die in jenem realen Sein zum Ausdruck kommen sollenden Rechtsnormen 49 50 51 52 53 54
Vgl. ebd. S. 505. Vgl. Gerber (21869), S. 221, 224 f. Ebd. S. 218. Vgl. Laband (1911) Bd. 1, S. IX. Vgl. ebd. S. 16. Jellinek (31914), S. 17.
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zum Inhalt. Diese Normen sind nicht ohne weiteres Wirkliches, sondern ein durch ununterbrochene menschliche Tat zu Verwirklichendes.“55 Hier ist der von Otto Brunner konstatierte Zerfall der Staatslehre in Rechtsgeschichte und Machtgeschichte greifbar. Als bedeutendster Vertreter der „gegenständlichen, historischen“ und soziologischen Lehre vom Staat gilt dem positivismuskritischen Denken Rudolf Smends die Herrschaftssoziologie Max Webers.56 An Widerspruch gegenüber Labands zwischen 1876 und 1882 erschienenem Reichsstaatsrecht hat es nicht gefehlt, zu nennen sind hier insbesondere die Kritik Otto von Gierkes und der Versuch einer Gegendarstellung von Rudolf Smends späterem Kieler Habilitationsbetreuer57 Albert Hänel.58 Gierke sah klar die zu Dezisionismus-Tendenzen einladende inhaltliche Leere der Labandschen Staatskonstruktion und versagte es sich nicht, historische Argumente in die Staatslehre einzubeziehen: „[W]as wissenschaftlich begriffen werden soll, muß vor Allem genetisch erklärt werden“59. Schon zuvor hatte Gierke deutlich gemacht, auf welche Weise seine genossenschaftliche Auffassung vom Staat als der „dauernden, lebendig wollenden und handelnden Einheit, zu welcher sich ein ganzes Volk zusammenschließt“60, sich von Laband absetzte. Die Bemühung um verfassungsrechtlich-materiale Begrifflichkeit fußte immer noch auf den Absichten des oppositionellen Liberalismus, bürgerliche Beteiligungschancen am staatlichen Bereich zu gewinnen.61 In Gierkes Staatsauffassung zeigte sich also immerhin die Tendenz handlungspraktischer Einsichtnahme; das räumlich und zeitlich zu konkretisierende Staatswesen wurde auf die in ihm bestehenden Handlungsmöglichkeiten hin zu beurteilen versucht. Hänels Deutsches Staatsrecht war dann der letzte großangelegte Darstellungsversuch vor dem Krieg: eine Synthese von historischer, politischer, staatstheoretischer und staatsrechtlicher Argumentation hatte es werden sollen. Aber dem ersten Band von 1892 folgte kein zweiter mehr nach. Was Hänel im ersten Band, nach einer historischen Abhandlung von der Entstehung der Verfassungen von Reich und Einzelstaaten und einer allgemeinen Verfassungslehre des Staates als eines korporativen Verbandes, insbesondere interessierte, war die umfangreiche Darstel55
Ebd. S. 20. Vgl. auch S. 10 f., 36 ff., 168 ff., 136 ff., 174 f. Vgl. Smend (31994), S. 370 ff. 57 Unter Albert Hänels Betreuung habilitierte sich Rudolf Smend 1908 an der Kieler Universität mit einer noch heute auf diesem Gebiet maßgeblichen Studie über das Reichskammergericht (1911 publiziert). 58 Vgl. Gierke, Otto von: Labands Staatsrecht und die Deutsche Rechtswissenschaft (1883), Neudruck der 2. Aufl., Darmstadt 1961 und Hänel, Albert: Deutsches Staatsrecht. Bd. 1: Die Grundlagen des deutschen Staates und die Reichsgewalt, Leipzig 1892 59 Gierke (1883), S. 1113. 60 Gierke, Otto von: Die Grundbegriffe des Staatsrechts und die neuesten Staatsrechtstheorien, in: ZgStW 30 (1874), S. 175. 61 Vgl. Stolleis (1992), S. 356, 362. 56
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lung der „Reichsgewalt“, unterteilt in die beiden Hauptstücke „Regierungsgewalt“ und „Verwaltung“, eine Differenzierung, die Rudolf Smend später übernehmen sollte. Die Gegenentwürfe blieben weitgehend folgenlos. Rückblickend bemerkte Heinrich Triepel: „Labands Staatsrecht hat mehr als eine Generation deutscher Publizisten vollständig beherrscht“62. Im juristischen Positivismus zeigten sich, so Smend, die dem obrigkeitsstaatlichen Begriff zu Grunde liegende Tendenz zu „Eigenbrödelei“, zu „traditionslosem Individualismus“, zudem das „Fehlen der hilfreichen ,Mechanik sozialer Formen‘“63 und der „Zweifel an einer sinnvollen Aufgabe“ des politischen Gemeinwesens; eine „Einstellung“, die vom Staat als Höchstes auszusagen gewusst habe, „daß er eine juristische Person sei“64. Die Einführung „aufgegebener“ Bestimmungen hinsichtlich des Staates, die Betonung normativer Vorstellungen „außerrechtlichen“ Charakters, war dem staatsrechtlichen Normenpositivismus fremd, sie galten ihm als „unwissenschaftlich“.65 Die rechtspositivistische Staatslehre versagte sich die qualitative Frage nach einer bestimmten Regierungsweise, nach einem Staatsbürgertum und interessierte sich überhaupt nicht für den Menschen, der mit dem von ihr systematisierten Recht zu regieren und zu leben haben würde. Die Idee von einem Beruf zum Staat, eine politische Ethik zu entwickeln, davon war sie weit entfernt. Die Systematik des in Rudolf Smends Studienzeit vorherrschenden Rechtspositivismus erscheint in ihrer jeder handlungspraktischen Aufmerksamkeit abgewandten Starrheit als ein Teil jenes kunstvollen „römischen Columbariums“, von dem Friedrich Nietzsche 1873 in der kulturkritischen Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne sprach.66 5. Wege der Politischen Wissenschaft a) Die Abkehr von der sittlich-praktischen Vernunft In ihren Anfängen war die politica eine Wissenschaft vom Menschen sowohl als auch eine Philosophie, die sich um das Wissen vom Guten und Einen bemühte. Die Geschichte von Gyges und seinem Ring ist trotz ihrer Kürze ein bedeutsamer Bestandteil der Politeia Platons (II, 3). Sie erzählt von falscher 62 Triepel 1927, S. 9. Resignierend konstatiert wird dies bereits zuvor etwa bei Lingg, Ernst: Zur Entwicklungsgeschichte der deutschen Staatslehre, in: AöR 14 (1899), S. 239 ff. 63 Smend (31994), S. 511 f. 64 Ebd. S. 514. 65 Die bündgiste und zugleich schlagendste Kritik an Kelsens Staatsrechtslehre findet sich bei Kaufmann, Erich: Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie. Eine Betrachtung über die Beziehungen von Philosophie und Rechtswissenschaft, Tübingen 1921, insb. S. 20–35. 66 Vgl. KSA 1, S. 882.
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Gerechtigkeit, die darin besteht, dass Tugend nur so lange geübt wird, als die Furcht, es möge daraus ein Nachteil entstehen, den Menschen von der Untat zurückhält. Falsche Gerechtigkeit ist Gerechtigkeit aus Furchtsamkeit – durch Platons Erzählung dekuvriert, indem sie der Überlieferung des Herodot (Historien 1, 8–13) das Motiv des magischen Rings hinzufügt. Nachdem die Gerechtigkeit sich als höchstes Gut für die Seele erwiesen hat, der Philosoph als „heißer“ Freund der Gerechtigkeit (VI, 2) und das „Gute selbst“ als noch höher stehend als die Gerechtigkeit (VI, 16), wird mit der Feststellung, den wahrhaft Gerechten reize selbst der Besitz des Zauberrings nicht zur Untat, wieder auf die Gyges-Erzählung verwiesen (X, 12) und so ein Bogen gedanklicher und künstlerischer Zusammengehörigkeit gezogen. Wenn bereits zuvor (I, 17) der platonische Sokrates mahnt „Oder glaubst du, dass es etwas Unbedeutendes sei, was du zu bestimmen versuchst, und nicht vielmehr die Lebensweise, durch deren Befolgung ein jeder von uns ein erfülltes und nutzbringendes Leben führen würde?“, so wird deutlich, wie eng für Platons Politische Wissenschaft und ihrer Sicht auf die politische Logos-Kultur der Polis Moral und Politik zusammengehören. Von dieser Zusammengehörigkeit hat die aristotelische Platon-Kritik in der Folge wenig übrig gelassen. Noch Perikles, wie ihn Thukydides auftreten lässt, preist den Zustand der Polis, da in ihr der Logos dem politischen Handeln vorangehe.67 Das Philosophieren wird als etwas den Athenern Eigentümliches geschildert; die Polis ist dem „Bildungsresultat“ verpflichtet, „daß gleichsam jeder Bürger sein eigener Philosophenkönig werden müsse.“68 Fraglich bleibt, ob das aristotelische phronesis-Konzept dies zu leisten im Stande ist. Die Bürger sind in dieser Konzeption durchaus nicht ihre eigenen Philosophenkönige, sondern werden auf den phronimos, den klugen Staatsmann, also auf überzeugende Autoritäten verwiesen. Zum Konzept der phronesis gehört, die Erkenntnis des Guten durch institutionelle Vorkehrungen, insbesondere durch den temporär „gestreckten Rhythmus im Wechsel der Rollen“ zu ersetzen.69 Der Rollenwechsel und die mit der Übergabe des Archontenamtes verbundene Rechenschaftspflicht sollen dem Machtmissbrauch und der Wechsel des politischen Herrschaftssystems vorbeugen. Der „gerechte“ und „gute“ Zustand der Polis wird mehr und mehr zu einer Sache des Herstellens und der staatsarchitektonisch eingesetzten techne. Die Möglichkeiten und Tatsächlichkeiten der Korrumption „verfassungsstaatlicher“ Techniken – Wahl der Archonten und ihre Beurteilung – durch Machtkämpfe und Partikularinteressen bleiben unreflektiert. Wird die Idee des Guten seitens der Politischen Wissenschaft verworfen, setzt sich der sophistische und nicht der philosophische öffentliche Gebrauch des Logos 67 Vgl. Schadewaldt, Wolfgang: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen, Frankfurt a. M. 1978, S. 13. 68 Bubner, Rüdiger: Polis und Staat. Grundlinien der Politischen Philosophie, Frankfurt a. M. 2002, S. 72. 69 Ebd.
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durch, so kann auch das „Bildungsresultat“ nicht erzielt werden, dessen das Leben mit den verfassungsmäßigen Einrichtungen nach Platons Einsicht doch bedarf. Die institutionelle Verfassung der Polis, Machtteilung, Machtgleichgewicht und Kontrollmechanismen, so bedeutsam diese Einrichtung sein mögen, zur Gewährleistung politischer Freiheit und Gerechtigkeit sind sie doch nicht hinreichend. Die vom modernen Wissenschaftsbegriff geleitete, nahezu ausschließlich auf poiesis und techne abstellende Verlängerung des aristotelischen Denkens träumt den Traum, Kraft der projektierenden Vernunft – des Verstandes –, Lehren des „Herstellens“ entwickelnd, Recht, Staat, Wirtschaft, Sitten und alles Zusammenleben ebenso klug und ingenieursmäßig zu konstruieren und zu steuern, wie das die technischen Wissenschaften mittels der Erfindung sogenannter Prozesssteuerungen vermögen. Der „konzeptionelle Designer der Welt“70 begreift alles als Problemlage, die er in eine Kette von Einzelproblemen aufzulösen sucht – vom Straßenbau über die Reformierung des Bildungswesens bis zur Friedenssicherung. Analyse und Synthese, die Arbeitszerlegung und der Neuentwurf einer Arbeitsanweisung, sind die Grundprinzipien des rationalistischen Denkens.71 In den Regulae ad directionem ingenii (1641) beschließt und empfiehlt Descartes, sich nur dem zuzuwenden, worüber sich klar, unzweifelhaft und allgemeinverständlich sprechen lässt. Das Verständnis für eine außerwissenschaftliche Motivation wissenschaftlichen Arbeitens, wie sie etwa Thomas von Aquin kannte, dem bereits geringe Erkenntnis bezüglich bedeutender Fragen wertvoller erschien, als Exaktheit im Hinblick auf vergleichsweise Zweitrangiges, fehlt Descartes’ Wissenschaftslehre bereits vollkommen ab. Der Discours de la méthode (1637) gibt zu verstehen, das Gebiet der Moral habe, als eine Sache der Konvenienz, mit Wissenschaft wenig zu tun.72 70
Hennis (2000), S. 333. Siehe hierzu die Fundamentalkritik der Salzburger Antrittsvorlesung Friedrich von Hayeks von 1970. Die anthropomorphistische Vorstellung einer Menschheit, die nichts anderes tut, als bewusst gesetzte Ziele zu verfolgen, führt zu der positivistischen Forderung nach Beseitigung aller gewachsenen Werte, die nicht sichtbar konkreten Zielen folgen. Vgl. Hayek (1975), S. 16. Der philosophische Positivismus zeigt „die Tendenz, alle ,Werte‘ als nicht Tatsachen betreffend und daher als ,metaphysisch‘ abzutun oder als reine Gefühlssache und daher rational unbegründbar oder sinnlos hinzustellen“ (ebd. S. 17). Der eigentliche Irrtum des Konstruktivismus besteht für Friedrich von Hayek in der Behauptung, dass Menschen sich in ihrem Handeln stets von der Einsicht in die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung leiten ließen (vgl. ebd. S. 8). Wenigstens drei Aspekte können somit als Grundhaltung des rationalistischen Denkens angesprochen werden: a) Die Überzeugung, dass das „Neue“, das aus einem „geistigen“ Wurf eines überlegenen Kopfes heraus Gestaltete, das Bessere sei gegenüber dem „Alten“, historisch Gewachsenen; b) die Auffassung des Handelns (sowie auch der Arbeit) als eines Herstellungsprozesses und als bloßen Mittels zur Realisierung von aus der Einsicht in Kausalzusammenhänge abzuleitenden Zielvorgaben; c) die Bevorzugung des „Sachlichen“ gegenüber dem „Personalen“. 72 Zitiert nach Descartes (1870) Bd. 1, S. 50. 71
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Zu noch tieferem Einblick in die Problematik des neuen Wissenschaftsbegriffs, den auch Francis Bacon vertritt, wenn der Aphorismus 127 des Novum Organum (1620) behauptet, Moral- und politische Philosophie würden durch Rückführung auf die kausalen Naturwissenschaften erkenntniskritisch gewinnen, führt die Beschäftigung mit der civil philosophy Thomas Hobbes’. In ihr kommt es zur Ausschaltung der Praxis aus dem Bereich wissenschaftlicher Reflexion, indem die Frage nach einer gerechten Gesellschaftsordnung in einer Weise formuliert wird, dass sie eine einmalige und eindeutige Behandlung ermöglicht: „Das Besondere und Epochenmachende der Hobbeschen politischen Philosophie liegt in der Kombination eines theoretischen Erkenntnisideals mit poietischen Voraussetzungen“73: „For by art is created that great Leviathan called a Commonwealth, or State.“ Um das Wesen dieses „artificial man“ zu erkennen, muss zunächst dasjenige des artifex, des Menschen und seines Intellekts, untersucht werden. Gegenstand der politischen Philosophie ist nicht die Idee des Guten und die Gerechtigkeit, nicht die Bedingungen guten Zusammenlebens, auch nicht die Praxis des Regierens, sondern der Bau des Staatswerkes, die verstandesmäßige Produktion. In ihrem Kern ist Politik Herstellen (poietike), nicht Praxis (prattein).74 Bereits ganz im Sinne des modernen Wissenschaftsbegriffs bei Bacon und Descartes ersieht die Hobbesche Philosophie beweiskräftige Wissenschaft (und nur eine solche lohnt es sich aus ihrer Sicht zu betreiben) allein in der Beschäftigung mit solchen Sachen, die der Mensch selbst gemacht hat.75 Hobbes’ Philosophie ist nicht selten als materialistisch und mechanistisch gekennzeichnet worden.76 Diese Kennzeichnung allein lässt aber noch nicht die Polemik erkennen, mit der Hobbes sich gegen eine politische Philosophie wandte, die sich mit einem stets bleibenden Quantum an Unsicherheit begnügte, solange sie nur mit ihren philosophischen Erörterungen in Kontakt zur handlungspraktischen Wirklichkeit blieb. Hobbes’ Ziel dagegen bestand darin, menschliche Handlungen mit derselben gesetzmäßigen Genauigkeit erfassen und voraussagen zu können, mit der Größenverhältnisse geometrischer Figuren sich berechnen ließen. Hobbes’ Werk liegt, Michael Oakeshott zufolge, ein Philosophiebegriff von eigentümlicher Rationalität zu Grunde, bestimmt durch ein spezifisches Verständnis des reasoning.77 To reason und damit Philosophie überhaupt sei für Hobbes die kausale Erkenntnis der Erscheinungen und Wir-
73
Hennis (2000), S. 41. Hobbes, Thomas: Leviathan or the matter, forme and power of a commonwealth ecclesiasticall and civil, hg. u. eingel. v. Michael J. Oakeshott, Oxford: Blackwell 1960, S. 5. 75 Vgl. De Homine (1655), X 4: „Earum tantum rerum scientia per demonstrationem illam a priore hominibus concessa est, quarum generatio dependet ab ipsorum hominum arbitrio“. 76 Vgl. die Einleitung Michael Oakeshotts zum ,Leviathan‘, S. X ff. 77 Vgl. ebd. S. XIX. 74
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kungen.78 Innerhalb der politischen Wissenschaft führt diese Form des Rationalismus zur Negation des beim platonischen Sokrates anzutreffenden Mottos. Nicht die philosophische Erörterung, wie der Mensch leben soll, interessiert Hobbes, sondern auf welche Weise die regulativen Bedingungen herzustellen sind, dass er so leben kann, wie er möchte.79 Dieser Zustand, der artifizielle Status, in den die menschliche Gesellschaft zu versetzen ist, ist der Leviathan. Und wenn die Wissenschaft nur der Macht dient – scientia propter potentiam –, so dient insbesondere die Theorie ausschließlich der Konstruktion.80 Zu konstatieren ist aber, worauf bereits von Michael Oakeshott hingewiesen worden ist, dass der emotionalen Motivation dieser Art des politischen Philosophierens Sollensforderungen inhärent sind, die den Charakter des Rechtszwanges annehmen können. Die Furcht vor den Imponderabilien des Lebens neigt zum Umschlag in den Willen zur totalen Daseinsbewältigung. Für Kants Schrift Zum ewigen Frieden (1795) ist die Aufgabe zur Herstellung einer gerechten politischen Ordnung „selbst für ein Volk von Teufeln (. . .) auflösbar“. Hinsichtlich der Lösung dieser Aufgabe komme es allein auf den „Mechanism der Natur“ an, „von dem die Aufgabe zu wissen verlangt, wie man ihn an Menschen benutzen könne, um den Widerstreit ihrer unfriedlichen Gesinnungen in einem Volk so zu richten, daß sie sich unter Zwangsgesetze zu begeben einander selbst nötigen, um so den Friedenszustand, in welchem Gesetze Kraft haben, herbeiführen müssen“.81 Wie grundverschieden erscheinen diese abstrakten, „konstruktivistischen“ Überlegungen, Bewältigungs- und Beglückungsprojekte zunächst von den politischen Ratschlägen Machiavellis82, deren entscheidender Zug, wie immer man sich zu ihrem der politischen Moral zugehörigen Inhalt stellen mag, eben gerade der ist, dass sie Ratschläge sind, punktuelle Suggestionen der phronesis im genauen Hinblick auf eine konkrete, seitens einer gewissen Person zu bewältigende Situation, und weit davon entfernt, zeitlose Gültigkeit beanspruchen zu wollen.83 Dabei eignet ihnen freilich 78
Vgl. ,De Corpore‘ (1655) I, 1. cap. § 2; 6. cap. § 1; IV, 25 cap. § 1. Vgl. Hennis (2000), S. 43. 80 Vgl. ,De Corpore‘ I, 1. cap. § 6 sowie ,Leviathan‘ II., 29. cap. (Hobbes 1960, S. 210), insb. IV., 46. cap. (S. 435): „By philosophy is understood the knowledge acquired by reasoning, from the manner of the generation of any thing, to the properties: or from the properties, to some possible way of generation of the same; to the end to be able to produce, as far as matter, and human force permit, such effects, as human life requireth.“ 81 KW 11, S. 224. 82 Zumindest des Machiavellis der ,Discorsi‘ (1513–1521) und des überraschend gegenständlichen Schlusskapitels (XXVI) des ,Principe‘ (1513). 83 Im Zeichen Machiavellis steht auch Max Webers berühmte Rede ,Politik als Beruf‘ (1919). Vgl. GPS S. 555. Weber sah wohl gerade bei Machiavelli die von Fall zu Fall immer wieder neu zu bestimmende Eigengesetzlichkeit der Politik betont. Zu Machiavelli i. d. S. siehe Pocock, J. G. A.: The Machiavellian Moment. Florentine political thought and the Atlantic republican tradition, Princeton: Univ. Press 1975 79
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ein handlungsmechanistischer Zug, der von einem ethisch-politischen Blick auf die Frage nach den Staatszwecken, dem telos des Staates, absieht. Die Wege der Politischen Wissenschaft haben (auch) zu einer fatalen Amalgamierung von normreinem Konstruktivismus und machtpraktisch-suggestiver phronesis geführt. Eine die Grundauffassung resümierende Aussage der – im Verhältnis zu einem in Skeptizismus und emotionaler Unsicherheit motivierten Rationalismus – oppositionellen Denkart, ist in Alexis de Tocqueville namhaft zu machen. Der zweite Band des Amerika-Buches (1840) befasst sich beinahe ausschließlich mit der Analyse von Moralphänomenen. Es ist Tocquevilles Entdeckung, dass Demokratie in der modernen Zeit nicht nur zu einem Regierungsprinzip, sondern zu einer alle Lebensbereiche durchdringenden Tendenz wird. Die damit einhergehende Ethisierung der Ideale des Wohllebens, die Aufgabe zur Herstellung des Wohllebens als oberster Imperativ macht aus der Politik eine Glückstechnik. Die dunklen Seiten dieser Umwälzung entgehen Tocqueville nicht. Angesichts der zunehmenden Isolierung der Einzelnen und ihrer als schädlich betrachteten Egoismen – in ihnen liegen für Tocqueville Ansatzpunkt und Chance jeder Art von Despotismus –, sieht er den möglichen Ausweg darin, die liens zwischen den Menschen zu stärken, die Befassung miteinander, die Vermeidung des Alleinseins zum Zentrum des politischen Lebens zu machen. Daraus erwächst Tocquevilles Denken vom menschlichen Miteinander in Abhängigkeit und Hilfe. Die in freien associations ausgetragenen gegenseitigen Wirkungen der Menschen aufeinander – und zwar nicht nur hinsichtlich ihrer nüchternen Interessen, sondern gerade unter Einschluss ihrer Ideen und Leidenschaften – erneuern die Gefühle und die Gedanken, bekämpfen die Selbstsucht durch Sozialität. Im Sinne der platonischen politischen Philosophie können Tocquevilles verfassungssoziologische Betrachtungen des an der Idee der Gerechtigkeit und des Guten orientierten Bürgerideals nicht entraten. Mit der von Tocqueville noch entschieden abgelehnten Zurückdrängung politischer Praxis als Gegenstand normativer Betrachtung durch die Wissenschaft vom Staat geriet aber auch deren Herzstück, die Lehre von den Staatszwecken, ins Hintertreffen. Bei Tocqueville wird deutlich, dass die Staatswissenschaft als praktische Disziplin steht und fällt mit der Bereitschaft, anzuerkennen, dass das Aussprechen von Werturteilen und der Versuch einer Bestimmung dessen, „was im Leben Bedeutung und Wert besitzt“84, dass die von eigenen Wertorientierungen also niemals ganz freie Beschäftigung mit Fragen, denen in Max Webers Terminolo-
und Münkler, Herfried: Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt a. M. 1982. 84 So im Hinblick auf die Aufgabe der praktischen Philosophie in seiner berühmten Vorlesung des Jahres 1890 noch Dilthey, Wilhelm: System der Ethik, hg. v. Hermann Nohl (Gesammelte Schriften Bd. 10), Göttingen 1958, S. 13.
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gie „Kulturbedeutung“ zukommt85, eine legitime Aufgabe dieser Wissenschaft sei.86 Akademische Unparteilichkeit zwischen dem, was man für gut und was man für schlecht erachtet, erscheint dieser Auffassung durchaus nicht geboten.87 Doch zum Prinzip modernen wissenschaftlichen Denkens wird es gerade, von außerwissenschaftlichen Fakten ganz zu abstrahieren, die herkömmlichen Einstellungen der Menschen zu den Gegebenheiten durch wissenschaftlich qualifizierte zu ersetzen. In jeder vorgelagerten normativ-praktischen Argumentation sieht moderne Wissenschaftlichkeit eine Gefährdung ihrer Objektivität. Die Unterscheidung von guter Herrschaft und Tyrannis, die für das abendländische politische Denken lange Zeit bestimmend war88, aber auch die Aufgabe staatsbürgerlicher Erziehung und Förderung hinsichtlich der Entfaltung eines philosophierenden Staatsbewusstseins haben ihr einzig mögliches Bezugskriterium in der Frage nach Zweck und Bestimmtheit von Regierung und politischem Gemeinwesens – und nicht in der Effizienz eingesetzter Machtbefugnisse. Aber schon der frühmoderne Staatsbegriff weiß nichts mehr von einem ethisch-politischen telos auszusagen. In dem berühmten Anfangssätzen des Principe heißt es: „Tutti gli stati, tutti e’ dominii che hanno avuto e hanno imperio sopra gli uomini, sono stati e sono republiche o principati.“89 Der instrumentelle Staatsbegriff verweist auf einen Zustand, eine Lage, auf etwas, das ist. Das, was den Staat auszeichnet, seine Souveränität, sagt etwas aus über die Organisation seiner Macht und deren Verhältnis zu anderen Mächten. Diese Souveränität ist nach Hegel als „die abstrakte, insofern grundlose Selbstbestimmung des Willens, in welcher das Letzte der Entscheidung liegt“ zu verstehen. In ihr ist das absolute fiat begründet, „nicht ein abgeleitetes, sondern das schlechthin aus sich Anfangende.“90 Der als feste Einheit vorauszusetzende autokratische Staat erscheint als geschichtlich sich manifestierende Vernunft. 85 Zuerst im Geleitwort zum neubegründeten ,Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik‘ 19 (1904), S. I–VII. Die hier angesprochene „Kulturbedeutung“ bezieht sich vornehmlich auf die Arbeiterfrage, die Demokratisierung des Wahlrechts, auf die Aufgabe der Sozialisierung der Wirtschaftsbetriebe sowie des ganzen Gesellschaftslebens. 86 Dass es hinsichtlich der Kulturwissenschaften gerade auf die von ihnen vorgenommenen Beurteilungen ankommt, auf diesem Grundsatz besteht bereits das oben angeführte Geleitwort Webers, Sombarts und Jaffés von 1904. Bei der Auffassung des „Wertfreiheits“-Postulats Webers (WL S. 489–540) im Sinne der Unterdrückung des Urteilens seitens der Wissenschaften kann es sich folglich nur um ein Missverständnis handeln. 87 Vgl. Cobdan (1954), S. 233 ff. 88 Vgl. z. B. Aristoteles Pol. I, 1, 1252a, 7 ff. und 1287b 40–1288a 4, dann Althusius, Johannes: Politica methodice digesta et exemplis sacris et profanis illustra (1613), übers. v. Heinrich Janssen, hg. v. Dieter Wyduckel, Berlin 2003, insb. Kap. 18 sowie Locke, John: Über die Regierung (The second treatise of government, 1642), übers. v. Dorothee Tidow, hg. v. Peter C. Mayer-Tasch, Stuttgart 2003, insb. §§ 71, 86. 89 Machiavelli, Niccolò: Il Principe. Der Fürst (Italienisch/Deutsch), übers. u. hg. v. Philipp Rippel, Stuttgart 1986, S. 8.
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Fasst Robert von Mohls Encyklopädie der Staatswissenschaften (1859) der älteren Lehre gemäß die Staaten noch zu „Gattungen“ zusammen, die „aus derselben wesentlichen Lebensanschauung“ hervorgehen und „denselben Hauptzweck“ verfolgen91, so wird diese Auffassung bereits in Georg Jellineks Allgemeiner Staatslehre (1900) verworfen, indem hier postuliert wird, die „Frage nach den Staatsformen [sei] identisch mit der nach den rechtlichen Unterschieden der Verfassungen“. Das rechtliche Unterscheidungsprinzip ist für Jellinek aber „kein anderes als das nach der Art der staatlichen Willensbildung“.92 Die Beschränkung auf dieses Moment erlaube dem Staatsrechtler, sich auf „in allen Staaten konstante, überall im Wechsel aller Besonderheiten gleichbleibende Verhältnisse“ zu beziehen.93 Das Maß „wissenschaftlicher Sicherheit“, so Jellinek, zwinge dazu, „ein unbestimmtes und schwer zu bestimmendes Element“ dem „Einteilungsprinzip“ der formalen Begriffsbildung fernzuhalten. Mit der gebotenen „wissenschaftlichen Sicherheit“ ließen sich „unter allen Umständen nur die formalen Momente der in der Verfassung ausgeprägten Willensverhältnisse erkennen“. Politische Form und Qualität der Staaten sind für Jellinek, „wie alles Nichtrechtliche im Staate, unsicher und unbestimmt“. Daher sei eine „wissenschaftlich befriedigende Einteilung der Staatsformen nur als eine rein rechtliche Einteilung möglich“.94 In seinem ethischen Agnostizismus geht Jellineks Bedürfnis nach einem Sicherheitsstandard wissenschaftlicher Exaktheit so weit – damit unwillentlich Max Webers sowie Carl Schmitts rigorose Betonung der Eigengesetzlichkeit des Politischen vorbereitend –, die Bewegungen der „realen politischen Kräfte“ als von aller rechtlichen Form „unabhängig“ (!) zu erachten.95 In der zweiten Fassung seiner Schrift Der Begriff des Politischen (1931) schreibt Carl Schmitt in den staatsrechtswissenschaftlich-gesetzespositivistischen Spieß umkehrender politik-positivistischer Folgerichtigkeit, die „Gleichung Staatlich = Politisch“ sei unrichtig und irreführend geworden, insofern alle gesellschaftlichen Bereiche politisiert und somit „staatlich“ würden oder schon geworden seien. Als polemischen Gegenbegriff zu der „Neutralisierung und Entpolitisierung wichtiger Sachgebiete“ – wie der Religion, Kultur, Bil90 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Oder: Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und mündlichen Zusätzen, Frankfurt a. M. 1976, § 279. 91 Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften, Tübingen 21872, S. 103. 92 Jellinek (31914), S. 665. 93 Ebd. S. 664. Hier zeigt sich, wie sehr Leo Strauss im Recht war, als er von dem starken Wirken des modernen Wissenschaftsbegriffs sowie der politischen Philosophie Hobbes’ in der (spätkonstitutionellen) deutschen Staatsrechtslehre sprach. Siehe dazu Strauss, Leo: Naturrecht und Geschichte, Stuttgart 1953, S. 197 ff. 94 Jellinek (31914), S. 665. 95 Jellinek (1906), S. 72.
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dung, Wirtschaft – erscheint bei Schmitt der „gegenüber keinem Sachgebiet desinteressierte, potentiell jedes Gebiet ergreifende totale Sinn der Identität von Staat und Gesellschaft.“96 Die Konsequenz der Schmittschen Lehre vom „totalen Staat“ ist die bekannte Freund-Feind-Konstellation.97 Schmitts poietikeorientierter Begriff des Politischen impliziert Souveränität im Sinne der Autarkie und Dezision. Souveräne und zugleich legitime Gewalt übt derjenige aus, der in der Lage ist, den Ausnahmezustand in einen solchen kontrollierter Stabilität, Homogenität und Selbstgenügsamkeit zu wandeln (und auch mit anstalts- und obödienzmäßigen Mitteln aufrechtzuerhalten). In Folge der Abtrennung der deutschen Staatslehre von Philosophie und Ethik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – auch Hugo Preuss war der Ansicht, „der Geist moderner Wissenschaft“ verbiete „die Aufnahme des Zweckes in den Staatsbegriff“98 – sei schließlich, so ist bei Hermann Heller zu lesen, im Staat nicht anderes mehr als ein „Rassen- und Klassen-Unterdrückungsinstrument“ gesehen worden: „[J]edenfalls sollte er sich in Macht, Macht und noch einmal Macht erschöpfen, die Frage nach dem Zweck und Sinn dieser Macht galt als unwissenschaftlich, das Recht wurde zu einem bloßen Befehl dieser Macht an ihre Beamten, der Jurist zum Interpret dieses Befehls; der Unterschied zwischen einer Räuberbande und dem Staate war unauffindbar geworden.“99 Erstaunlich konventionell verbleibt daraufhin jedoch Hellers eigene Behandlung der Staatsformenlehre: „Die Verteilungsart der Staatsgewalt bedingt die Staatsform.“ So sei die Demokratie „ein Machtaufbau von unten nach oben“; die Autokratie dagegen organisiere den Staat „von oben nach unten“.100 Dem obrigkeitsstaatlichen Bild verpflichtet, bleibt bei Heller das Volk stets „unten“, während die Herrschaft immer „oben“ liegt. Zu einem telos der jeweiligen Staatsformen, das auch etwas über die Qualität des Menschen und Staatsbürgers aussagen würde, findet Heller nicht. Dennoch waren dahingehende Auffassungen noch in der deutschen Staatslehre des 19. Jahrhunderts nicht vollkommen verschüttet. Sie begegnen überall
96 Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 7. Aufl. 2002, S. 24. 97 Vgl. ebd. S. 33: „Die Begriffe Freund, Feind und Kampf erhalten ihren realen Sinn dadurch, daß sie insbesondere auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung Bezug haben und behalten. Der Krieg folgt aus der Feindschaft eines anderen Seins.“ Das ist das genaue Gegenteil von Rudolf Smends Kampfbegriff, der ja gerade in seinem an Georg Simmel angelehnten Geselligkeitscharakter eine Umleitung und Sublimierung der Notwendigkeit „physischer Tötung“ des Gegners bedeutet. 98 Preuss, Hugo: Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften. Versuch einer deutschen Staatskonstruktion auf Grundlage der Genossenschaftstheorie (Berlin 1889), Aalen 1964, S. 80. 99 Heller (1926), S. 292 f. 100 Ebd. S. 246.
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dort, wo etwa von „Gerechtigkeit“ und „Gemeinwohl“ als obersten Staatszwecken gesprochen wird. Max Weber war es, der darauf verwiesen hat, die Ursache für die Zurückdrängung des Begriffs des Gemeinwohls bestehe in der Neubestimmung des Sinnes und Zweckes menschlichen Lebens überhaupt, in der Ablösung der Kategorie der „Tugend“ durch diejenige der „Freiheit“. Die Absichten über das dem „Allgemeinwohl Dienlichen“, so Weber, werden damit „stets rein subjektiv“.101 Als Reaktion auf die hier liegende Unsicherheit und Orientierungslosigkeit sind die maßlosen Strapazierungen des „Gemeinwohls“ zu verstehen, die sich polizei- und wohlfahrtsstaatliche Visionen und Realisierungen geleistet haben. Heute wie zu Webers Zeiten scheint es nahezuliegen, den Begriff entweder als „ausgemachte Plattheit“ oder als „ideologisches Gaukelspiel“ aufzufassen.102 Bei Kant war er auf die bloße Rechtmäßigkeit staatlicher Veranstaltungen reduziert worden; von da aus entglitt er völlig zum Gegenstand materialistischexistenzieller, auf das soziale Minimum abstellender Anschauungen. Diese finden ihren bekanntesten Ausdruck in der These vom Daseinsvorsorge leistenden Verwaltungsstaat. Von dem Carl Schmitt-Schüler Ernst Forsthoff ist der Begriff der Daseinsvorsorge in das staats- und verwaltungsrechtliche Vokabular eingeführt worden.103 Die „Vorsorge für die Lebensnotwendigkeiten, für die Daseinsmöglichkeit schlechthin“, dafür „daß überhaupt gelebt werden kann“, so Forsthoff, sei zum „eigentlichen“ Gegenstand der Politik geworden und gehe der Frage, wie dieses Leben zu führen wäre, voran.104 Das von Forsthoff staatsrechtlich namhaft gemachte Phänomen der Daseinsvorsorge ist allein schon bedingt durch die arbeitsteilig organisierte Erwerbswelt. In Forsthoffs Verwaltungstheorie – und von dort aus übergehend ins Staatsdenken – wird das „Konkrete“ und „Existenzielle“ vorausgesetzt und vorgeschoben, um angeblich außerstaatsrechtliche Argumente und qualitative Fragen als sekundär oder gar ideologisch zu verwerfen. Die mit Blindheit geschlagene Faszination für das „Faktische“, für die möglichst elementar begriffenen Handgreiflichkeiten des Lebens, gebärdet sich als ein „lebensnaher“ und – seiner eigenen Auffassung
101 So 1909 in einer Debattenrede auf der Tagung des Vereins für Sozialpolitik. Siehe GASS S. 423. 102 Hennis (2000), S. 62. 103 Forsthoff, Ernst: Die Verwaltung als Leistungsträger, Stuttgart 1938. 104 Ebd. S. 8, 12, 46. Als eigentümliche Aufgabe der Policey, also des späteren Bereichs der „Inneren Verwaltung“, galt zu Anfang des 19. Jahrhunderts die „Erreichung des höchsten Staatszwecks“ zu fördern. So bei Rosshirt, Conrad Franz: Über den Begriff und die eigentliche Bestimmung der Staatspolizey, sowohl an sich als im Verhältnis zu den übrigen Staatsverwaltungszweigen. Ein Versuch zur reineren Begründung der Polizeywissenschaft, Bamberg/Würzburg 1817, S. 88. Dieser Gedanke findet, als typisches Merkmal des aufgeklärten Polizeistaates, seine Übersteigerung in der Vorstellung von der sittlichen Vervollkommnung als suprema lex des ganzen Staatswesens.
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nach – zu Recht mit Misstrauen gegenüber aller „aufgegebenen“ Bestimmung von Staat und Politik erfüllter Realismus.105 Wodurch ist aber dieser schließlich zu extremistischer Selbstermächtigung bereite Realismus ermöglicht worden? Kelsens „reiner Rechtsbegriff“, der die Rechtswissenschaft von allem Empirischen reinigt, trat – nach der eingestandenen Furcht der Jellinekschen Staatslehre nicht nur vor den Unwägbarkeiten des politischen Lebens, sondern darüber hinaus vor allen vermeintlich naturrechtlichen Abwegen – bewusst als „der abstrakteste und darum inhaltsleerste Allgemeinbegriff“ auf. Kelsen selbst bezeichnet seinen Rechtsbegriff als einen Oberbegriff, der keinerlei materielle Bedeutung haben solle. Eine solche normativistische Betrachtung huldigt dem „Grundsatz der Erkenntnisökonomie“, der darin besteht, „mit möglichst einfacher Formel (. . .) möglichst viele Tatbestände als normentsprechend“ erfassen zu können.106 Die bei Kelsen, legitimiert vom neukantischen Denken, emporgezogene unübersteigbare Scheidewand zwischen Sein und Sollen, Naturordnung und Normenordnung, führt dazu, dass seine Staatslehre gegenüber der handlungspraktischen Wirklichkeit des Verfassungslebens vollkommen sprachlos bleibt. Die Imponderabilien, „Spannungen und Antinomien des Lebens“, sind nach dem „Prinzip der denkökonomischen Vereinfachung“ gar nicht zu verstehen.107 Das gesamte Leben soll durch abstrakte Rechtssätze rationalisiert werden; Kelsen zeigt sich überzeugt davon, dass die „Reinigung der Begriffe nach dem weltrechtsmonistischen Ideal zu dessen Verwirklichung irgend etwas beitragen könnte“. Die metaphysische Potenz dieses rationalistischen Logizismus ist dermaßen grotesk, dass sich sagen lässt, sie nehme beinahe schon wieder einen Zug des „Grandiosen“ an.108 Jedoch: Hinsichtlich der „relativ höchsten, d. h. nur unter dem Völkerrecht stehenden Zwangsordnung menschlichen Verhaltens“ wird nach wie vor „ein gewisser Grad von Wirksamkeit dieser Ordnung, von Faktizität vorausgesetzt“. Der von Kelsen postulierte Grundsatz des unüberbrückbaren Gegensatzes von Sein und Sollen sieht sich genötigt, nun doch die Verbindung des Normlogischen mit dem Faktischen zu knüpfen, indem zwar nicht geradezu von einer normativen Kraft des Faktischen, aber von der „Metamorphose des Faktischen zum Normativen“ gesprochen wird. Es ist dies nichts anderes als die „restlose Kapitulation vor dem 105 Vgl. Hennis (2000), S. 65. Einen misplaced realism nennt das angelsächsische Denken eine solche Anschauung. Vgl. etwa Wacquant, Loic: Pointers on Pierre Bourdieu and Democratic Politics, in: Constellations 11 (2004), S. 5. 106 Kaufmann (1921), S. 25. Völlig verkannt wird die Bedeutung der ,Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie‘ bei Stolleis (1999), S. 167–170. Kaufmanns Kritik bezieht sich auf folgende Schriften: Kelsen, Hans: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre. Entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, Tübingen 1911 und ders.: Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts. Ein Beitrag zur reinen Rechtslehre, Tübingen 1920. 107 Kaufmann (1921), S. 26. 108 Ebd. S. 29.
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extremsten Empirismus“.109 Die Anbetung des Wortlauts, die Theorie der Identität von Staats- und Rechtssouveränität, mutiert nolens volens zu einer Anbetung der Fakten, einem politik-soziologischen Positivismus. Jellineks sowie Kelsens Lehre wirkt letztlich als ein Positivismus nach beiden Seiten hin: mit vereinfachenden, konstruktivistischen und deduktiven Modellen lässt sich das bloß Seiende gut verteidigen. Indem sie Kontroll- und Eigentumsansprüche auf den Geist transferiert, wird diese Wissenschaft vom Staat zur administrativen Aufbereitung des je schon Seienden. Die nicht zuletzt durch den modernen Wissenschaftsbegriff bedingte Auswechslung der Tugenden durch den Modus der Willensbildung als neues Hauptkriterium der Staatsformenlehre und der damit einhergehende „Umbau“ des Staates in eine rein kausal orientierte instrumentelle Veranstaltung, als ob das Wissen von Gesetzen oder der bloße Vollzug verfassungstechnischer Mechanismen einen Sinn stifte, der im realen gesellschaftlichen Dasein nicht gegenwärtig ist – auf diesem von Rudolf Smend namhaft gemachten positivistischen „Nullpunkt“ des formaljuristischen Rechtsbegriffs Hans Kelsens und gestützt durch eine hegelianisch-souveränistische Staatslehre konnte die Überformung durch den Vorsorgestaat mit national-mythologischer Fassade wuchern und zum Anwender tyrannisch-rationalisierter Mittel zu dem sozialstaatlich-extremisierten Zweck schutzversprecherischer Bevormundung und selektierender Missachtung menschlicher Würde und menschlichen Lebens werden.110 Sorgsam zuzuhören ist einer Passage in Rudolf Smends Schrift über den Einfluß der deutschen Staats- und Verwaltungslehre auf das Leben in Verfassung und Verwaltung: Auf eine „Erziehungswirkung“ habe der Positivismus verzichtet, eingesetzt worden sei die „technische Begriffswelt“ der formaljuristischen Staatsrechtslehre jedoch als „Kulisse, ja Vorspann“ der „politische[n] Entscheidungsflucht“. Als leicht eingehendes und brauchbares „Arbeitsmittel“ bestehe sie fort, auch, so Smend 1939, „in seltsamstem Widerspruch zur Wandlung der Zeit.“111 Der lakonische Kommentar erweist sich als Einsicht in die tragische Logik der autokratischen Staatsmacht: sie entsteht mit der Bereitschaft, angesichts objektiver Missstände eine Verbesserungstheorie zu entwerfen, die unter Zuhilfenahme die herrschaftliche Reichweite potenzierender institutioneller und technologischer Gegeben109
Ebd. S. 30. Es ist dies, wie Adorno konstatiert, eine Form der Barbarei, „wie sie vom Druck der Zivilisation ausgebrütet wird“ (AGS 16, S. 329). Rudolf Smends vorsichtiges Anmahnen der Gefährlichkeit des erreichten Nullpunktes sowie die angezogene Kritik Erich Kaufmanns bezüglich des formaljuristischen Gesetzespositivismus erweisen sich als auf Augenhöhe stehend mit der bei Dostojewskij zu findenden Einsicht, der wirkliche Mörder des Gesetzes sei der moderne Rechtsbegriff selber. Siehe dazu Girard, René: Der Übermensch im Kellerloch. Strategien des Wahnsinns: Nietzsche, Wagner und Dostojewski (1976), in: ders.: Die verkannte Stimme des Realen. Eine Theorie archaischer und moderner Mythen, München/Wien 2005, S. 54–87, insb. S. 85 f. 111 Smend (31994), S. 339 f. 110
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heiten und in bewusster Inkaufnahme von Ungerechtigkeiten planvoll in die Tat umgesetzt wird.112 Die Kombination des gesetzespositivistischen Konstruktivismus mit souveränitätsfixierten politischen Klugheits- und Ermächtigungserwägungen führt zu Entwurf und Umsetzung einer Verfügung über andere ermöglichenden, gesetzlich sowie administrativ institutionalisierten Endzustandsstruktur.113 Smend deutet auf diesen tragisch zu nennenden janusköpfigen Sturz: zum einen den der deutschen Staatsrechtslehre von einer formalistischen „Denktechnik für Bürokraten“114 in ihren Untergang in den absorptiven Machtansprüchen der „politischen Konfession“115, und zum zweiten auf den des deutschen Bürgers vom staatliche Sicherungen erträumenden „Gehaltsempfänger“116 zum Anhänger des rigoristischen „Dienstmannes“ Adolf Hitler als „Erfüllung“ allzu bürgerlich-beschränkter Vorstellungen von Amt und Würde.117 Verfolgt man die Biographie seines Denkens von den ersten Unzulänglichkeitsempfindungen gegenüber dem formaljuristischen Staats- und Verfassungsbegriff, über die in der Aporie von 1918 sich nochmals steigernden Befürchtungen zunehmender Staatsfremdheit auf Grund zweckteleologisch eingerichteter politischer Praxis, weiter über die staatswissenschaftliche Intention, die rationalistische Hülle liberal-bürgerlichen Parlamentsverständnisses abzustreifen, bis hin zur streng-konditionellen Auslegung der Grundrechte, welche, sowohl im Sinne der deutschen Klassik und frühen Romantik (Schiller und Novalis) als auch in dem einer die im Sprachhandeln sich konstituierende, sittlich-praktisch gestimmte Öffentlichkeit schätzenden konservativen Rechtsphilosophie, die Bürger der republikanischen Demokratie zu „Königen“ der Selbstregierung erklärt, 112 Erinnert sei hier an Max Webers allzu pragmatisches Wort der ,Politik‘-Rede, es sei seines Erachtens nicht wahr, dass aus „Bösem“ nur „Böses“ folge. Vgl. GPS S. 554. Narrativ-analytische „Kinder“ dieses Pragmatismus sind der Utilitarist Rodion Raskolnikow aus Dostojewskijs ,Verbrechen und Strafe‘, der politische Fanatiker Pjotr Stepanowitsch Werchowenskij in ,Böse Geister‘ sowie der Jesuit Naphta des ,Zauberberg‘. 113 Siehe dazu die aufschlussreichen Passagen bei Nozick, Robert: Anarchie, Staat, Utopie, übers. v. Hermann Vetter, München 1976, S. 146 ff. Nozicks Einwände gegen die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls gründen auf der Einsicht, die von Rawls vertretene, auf konventioneller Metaphysik ruhende moralische Überzeugung mache den Einzelnen zum bloßen Empfänger und raube ihm alle individuellen Eigenschaften. 114 Smend (31994), S. 356. 115 Ebd. S. 324. 116 Schumpeter (1929), S. 12. 117 Aus dieser Sicht wäre Adolf Hitler der charismatische „Held“ des deutschen Bürgertums. Das Hitler zutreffender Weise attestierte „Dämonische“ besteht in dem Akt der machtgestützten Verführung: in ihr treffen die vage und verdrängte Vorstellung von „Gut“ und „Böse“ und die Lust an der „Besudelung“ des insgeheim als beengend verhassten Gesetzes zu einem tragischen Rechts- und Freiheitsbegriff zusammen. Siehe ,Faust II‘, Fünfter Akt: „Man hat Gewalt, so hat man Recht“ (V. 11184) – „Das alte Wort, das Wort erschallt: / Gehorche willig der Gewalt!“ (V. 11374 f.) – „Auch hier geschieht, was längst geschah, / Denn Naboths Weinberg war schon da.“ (V. 11286 f.).
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so liegt auf der Hand, dass Rudolf Smends erklärtermaßen an „höheren Ordnungen“118 orientiertes Verfassungsdenken nicht in die Verlängerungslinie der aristotelischen politica gehört. Die Smendsche Auffassung von Repräsentation und die „über Staat und Staatsmacht stehende Normen und Ordnungen“119 verpflichtete „Objektlosigkeit“ des Regierens120, die in ihrer Performativität und Symbolizität auch den wählenden Bürger an der Regierung teilhaben lässt, haben innerhalb der Politischen Wissenschaft vom Staat einen anderen Ort. Smends Einsicht in die Konditionalität der institutionalisierten Demokratie lassen das von ihm vertretende Bürgerideal dem des philosophierenden Menschen gleichen und seinen Staatsbegriff – der Staat als „geistige Wirklichkeit“ – dem der idealen Polis nahestehen. b) Platons politische Philosophie aa) Das Bewegungsprinzip der platonischen Dialoge Die dem historischen Sokrates eigentümliche Fragestellung entspringt dem Verfall des traditionell „guten“ Lebens in der Polis. Es lässt sich von einem „Konflikt in dieser Welt reden, der nicht mehr in der Weise dieser Welt zu versöhnen ist.“121 Ein solcher, nicht mehr zu versöhnender Konflikt ist als tragischer Konflikt zu charakterisieren.122 Die Tragödie und der in ihr ausgedrückte Lebensernst sind elementarer Bestandteil der griechischen Kultur. In dem Bewusstsein für die Unzulänglichkeit allen menschlichen Strebens stellt die Tragödie den Einbruch des Göttlichen in die menschliche Welt dar, eines Göttlichen, welches überraschend in der Alltäglichkeit aufleuchtend sich in ihr bezeugt und verwirklicht.123 Platon ist bestrebt, eine in der Tragödie verkörperte Bewegung und eine Gesamtansicht des Lebens auf eine noch höhere, nämlich philosophische Stufe zu heben.124
Smend (31994), S. 369. Ebd. 120 Ebd. S. 80. 121 Kuhn, Helmut: Die wahre Tragödie. Platon als Nachfolger der Tragiker, in: Gaiser, Konrad (Hg.): Das Platonbild. Zehn Beiträge zum Platonverständnis, Hildesheim 1969, S. 146. 122 Folgende Darstellung weiß sich den Ausführungen Karl Hahns dankbar verpflichtet. Siehe ders.: Die Präsenz des Tragischen in Platons politischer Philosophie, in: Nitschke, Peter (Hg.): Politeia. Staatliche Verfasstheit bei Platon, Baden-Baden 2008, S. 175–205. 123 Vgl. Schadewaldt (1978), S. 373 und Ottmann, Henning: Geschichte des politischen Denkens. Von den Anfängen bei den Griechen bis auf unsere Zeit, Bd. 1.1: Die Griechen. Von Homer bis Sokrates, Stuttgart/Weimar 2001, S. 207. 124 Vgl. ebd. S. 247. 118 119
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Platons Dialoge sind künstlerische Inszenierungen, die ein einzigartiges Denken und Wissen aufweisen, das sich von dem Wissen szientifischer Systeme grundlegend unterscheidet.125 In den dramatischen Sprachhandlungssituationen geht es um nichts Geringeres als um das Gelingen des Lebens, um das lebenswerte und „gute“ Leben (eu zen). Die Sorge um die Seele des Einzelnen (epimeleia tes psyches) wendet sich bei Platon ins Äußere, Politische: sie wird gleichbedeutend mit der Rettung der Polis (sozein ten polin).126 Das platonischsokratische Dialegein und das Verständigung suchende Homolegein vollzieht sich in der Öffentlichkeit und ist somit politisch zu nennen.127 Denn im platonischen Homolegein ist der Ansatzpunkt zu einer Neubewertung des Sinnes und Zweckes staatlicher Institutionen erkennbar, diese als einen vorwiegend durch Sprachhandlungen gestalteten Spielraum gegenseitiger Wahrnehmung und Anerkennung zu verstehen. Am Anfang der platonischen Sprachhandlungen steht die Aporie, das Wissen des Nichtwissens, die scheinbare Ausweglosigkeit, in der eine ganze Welt zusammenbricht. Dieser Zusammenbruch zeigt sich in einem schamhaften Erröten und Umherirren, in der allgemeinen Ratlosigkeit, die sich steigert zu völliger Unsicherheit, ja zu Erstarrung, Verzweiflung und Todesnot.128 Doch solche Ausweglosigkeiten sind von ethisch-existenzieller Bedeutung; sie sind der Zustand eines Sensibel- und Empfänglich-Werdens. Das Aufbrechen der aporetischen Verschlossenheit ist eine die menschliche Bedürftigkeit hervortreten lassende Eros-Bewegung, die mit der Logos-Bewegung des Dialegein verbunden ist; der logoshafte Erkenntnisakt ist bei Platon immer auch ein Liebesakt. Der Eros ist ein Zwischenwesen, gezeugt von Armut (Penia) und Fülle (Poros), er ist das schamhafte Gefühl für menschliches Ungenügen und selbst des Schönen und Guten bedürftig, nicht etwa die Schönheit selbst oder deren höchster Repräsentant. Allem Aufstieg geht demnach das Wissen um die eigene Bedürftigkeit voraus.129 Die Ideen, die durchaus nicht als abstrakte und starre Modelle zu begreifen, sondern als dialektische Denk- und Sprachbewegungen, als wirkmächtige Wirklichkeiten und Gegenstände geistiger Bekanntschaft zu erfassen sind130, und letztlich auch die in ähnlicher Teilhabebeziehung zu gewinnende 125 So, Paul Friedländer zitierend, bei Joziç, Mirko: Aporie und Tod. Zur Dramatik des Platonischen Denkens, Frankfurt a. M. 1987, S. 22. Vgl. zudem Schrastetter, Rudolf: Die Erkenntnis des Guten, in: Hofmann, Rupert/Jantzen, Jörg/Ottmann, Henning (Hg.): Anodos. Festschrift für Helmut Kuhn, Weinheim 1989, S. 237 ff. 126 Vgl. Schadewaldt (1978), S. 14 f. 127 Vgl. Weber-Schäfer, Peter: Rhetorik und Politische Philosophie, in: Hofmann/ Jantzen/Ottmann (1989), S. 325 ff. 128 Vgl. Joziç (1987), S. 24 und Schadewaldt (1978), S. 176. 129 Vgl. Krüger, Gerhard: Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens (1939), Frankfurt a. M. 5. Aufl. 1983, S. 146 ff. und 157 ff. 130 Vgl. Graeser, Andreas: Nachwort zu ,Phaidon‘, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Stuttgart 1987, S. 112 ff.
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Idee des Guten werden in liebender Hinwendung erkannt.131 Entscheidend ist nicht, dass die Gesprächspartner des platonischen Sokrates ihre Ansichten ändern, sondern sich selbst, dass sie sich mit ihrer gesamten Seele umwenden. Die am Gespräch Beteiligten erzeugen Eu praxia-Wissen, also ein Handlungsund Lebenswissen, welches letztlich in der Erkenntnis des Guten begründet ist.132 Im philosophischen Eros des platonischen Sokrates ist das Schöne und Gute bereits präsent, allerdings in der Weise einer abwesenden Anwesenheit.133 Der Logos, als das eigentlich Menschliche, als das, worüber alle Menschen verfügen, erfährt seine Bestimmung nur da, wo er hinausführt aus dem Menschlichen und dem Menschen die augenblickliche Angleichung an das Göttliche ermöglicht und erwirkt. Hieraus erklärt sich auch Platons Verwerfung der mimetischen Dichtungen, denen es um nichts anderes zu tun ist, als Natur und Gesellschaft nachzuahmen, dabei miteinander zu konkurrieren und bloßes Können zur Schau zu stellen. In der Sicht Platons ist dem künstlerischen Logos jedoch die Nachahmung des unsinnlich Wahren aufgegeben.134 Platons Philosophie handelt von der Präsenz des Guten im Logos.135 Ohne diese Präsenz eignet dem Logos die Zweideutigkeit, dass der Mensch sich mittels seiner – als Herrschaftslogos – des Seins zu bemächtigen versucht.136 Der Versuchung der Selbstermächtigung sowie der Gefahr ihrer Seinsbemächtigung entkommt die Philosophie nur, wenn die konstitutive Bezüglichkeit des Logos zur Idee des Guten erkannt und mit ihr die henologische Differenz, die Jenseitigkeit (epekeina) des Einen und Guten sowie das Transzendierende ihrer Erkenntnis, als das maßgebliche geistige Gravitationszentrum anerkannt wird. Die platonisch-parmenideische Frage nach dem Hen, dem Einen, nimmt in dem Verhältnis zu der Zwillingsfrage nach dem Wissen und dem Sein eine Sonderstellung ein. Denn das Eine erweist sich als dem Wissen und dem Sein gegenüber als epekeina. In der Erkenntnis des Einen, in dem zugleich das Gute Selbst wahrzuhaben ist, wird die Einsicht in die Unsterblichkeit der Seele erobert, be131 Vgl. Voegelin, Eric: Die Neue Wissenschaft der Politik (1959), hg. v. Peter J. Opitz, München 2004, S. 77. 132 Vgl. Weil, Simone: Vorchristliche Schau, München 1959, S. 65 f. 133 Vgl. Schadewaldt (1978), S. 383. Das „Gute selbst“ bei Platon ist demnach nichts vom Menschen Gesetztes oder Gemachtes, es ist etwas von ihm Eingesehenes und Erkanntes. 134 Vgl. Krüger (1983), S. 292 ff. Steiner, George: Shakespeare: eine Gegendeutung, in: Steiner (1997), S. 88 hat diese Logos-Bewegung für die „Dichter par exellence“ in Anspruch genommen, für Dante, Goethe, Dostojewskij und Tolstoi. Diesen hinzuzuzählen sind aber auch Marcel Proust und der Thomas Mann des ,Zauberberg‘ und des ,Joseph‘-Romans. 135 Vgl. Gundert, Hermann: Enthusiasmos und Logos bei Plato, in: Gaiser 1969, S. 190 ff. und Schadewaldt 1978, S. 383. 136 Vgl. Joziç (1987), S. 279 ff. und 318.
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ruhend auf der Transzendierung der Zeit im zeitlosen Augenblick (exaiphnes) und der hier erfahrenen Teilhabe der Seele am Einen und Guten. Nahe zusammen rücken hierin der Parmenides-Dialog – als Gespräch vom Einen –, das Symposion – die Lehre vom Schönen und Guten –, Phaidon – das Gespräch über die Unsterblichkeit der Seele – und Politeia – die Erörterung der Gerechtigkeit als politischen Grundprinzips. Reine Ontologie und losgelassene Epistemologie lassen die henologische Differenz nicht zu Wort kommen; denn jeder strengen Ontologie gilt das Sein als äußerster sinngebender Horizont, der Epistemologie gilt das Denken als höchster Maßstab.137 bb) Der Gerechte: Philosoph und Bürger Platons Philosophie ist bestrebt, die volle Verantwortlichkeit der Menschen für ihr Handeln zu etablieren.138 Der platonische Sokrates ist wohl der letzte Philosoph, der zugleich Bürger sein will.139 Er bestimmt das Verhältnis von Gerechtigkeit und Glück dahingehend, dass dem gerechten Menschen und der guten Seele die Eudaimonie zukomme, dem Ungerechten jedoch die Kakodämonie. Glücklich-Sein und Gut-Sein sind letztlich eines.140 Gegenüber der Gerechtigkeit und der Eudaimonie der Seele sind körperliche Leiden, Krankheit, Armut und selbst der Tod von untergeordneter Bedeutung. Die Gerechtigkeit ist jedoch, ebenso wie der Eros, keine absolute Größe, sie wird nicht allein für das gepriesen, was sie selbst ist, sondern für das, was sie vermittelt.141 Für den Philosophen und Bürger Sokrates gelten zwei Grundsätze: zum einen, dass wir unter keinen Umständen Unrecht tun dürfen, auch nicht in Erwiderung erlittenen Unrechts, und zum anderen, dass es besser und tugendhafter ist, Unrecht zu erleiden als Unrecht zu tun. Mit beiden Grundsätzen widerspricht Sokrates dem, was die Vielen denken und tun.142 Die Frömmigkeit des Sokrates bedeutet, die Gültigkeit des Sittlich-Guten als etwas Göttliches zu verstehen.143 In der Seele sowie in der Polis sind moralische Konflikte und moralische Leiden eine kaum zu vermeidende Notwendigkeit. Der platonische Mythos 137
Siehe dazu Wyller (1960). Vgl. Kuhn (1969), S. 242 und 281. 139 Vgl. Ottmann, Bd. 1.1, 2001, S. 251 sowie ders.: Der Tod des Sokrates und seine Bedeutung für die politische Philosophie, in: Hofmann/Jantzen/Ottmann (1989), S. 179 ff. 140 Vgl. Schadewaldt, Wolfgang: Die griechische Tragödie, Frankfurt a. M. 1991, S. 23 und Kuhn 1969, S. 242. 141 Vgl. ebd. S. 115. 142 Vgl. ebd. S. 147. 143 Vgl. Guardini, Romano: Der Tod des Sokrates. Eine Interpretation der platonischen Schriften Eutyphron, Apologie, Kriton und Phaidon, Hamburg 1956, S. 63 f. In diesem Zusammenhang ist darauf aufmerksam zu machen, dass das griechische charis unter anderem soviel wie „zuneigende Huld“ bedeutet, und dass eine Nähe zu dem 138
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vom Er (Pol. X, 13–16) sieht die Erfahrung des Leidens und der Bedürftigkeit als unverzichtbar für das Hervorbringen jenes „diamantenen Glaubens“, dessen wir in der Stunde der Prüfung bedürften.144 Platons politische Theologie bleibt dem politischen Gemeinwesen der Polis verpflichtet; das aus Dialegein und Homolegein hervorgehende Wissen ist nicht nur individuelles, sondern zugleich soziales und politisches Wissen ist.145 Dem Höhlengleichnis zufolge sind die durch den Ausstieg aus der Höhle und im Aufstieg zur Erkenntnis der Wirklichkeit in ihrer Wahrheit letztlich zur Erkenntnis des Guten Gelangten verpflichtet, in die Höhle zurückzukehren, um sich an der öffentlichen Kommunikation und politischen Praxis der Doxa-Welt der Polis zu beteiligen. Der guten Seele des Gerechten hat sich der Mut (thymos) beizumischen, ohne jedoch, überhandnehmend, zum falschen Begehren (epithymos) der Selbstermächtigung zu werden.146 Es ist behauptet worden, für die platonische Philosophie bestünden letztlich nur die beiden Möglichkeiten, sich entweder in die Privatexistenz zurückzuziehen, um hier allenfalls die Ziele der Philosophie weiterzuverfolgen, oder aber in totalitärer Weise die Macht im Staat zu ergreifen.147 Folgende Gesichtspunkte sind dem zu entgegnen: 1. Dem Philosophen ist die Rückkehr in die Höhle, also in die Doxa-Welt des Politischen, aufgegeben; Tapferkeit ist hier gefordert, die Möglichkeit des Rückzuges ins Private durchaus nicht gegeben.148 2. Die Einsicht in die Tragik des Politischen besagt ja gerade, dass die Mächtigkeit, die der Mensch im Staat erlangt, eine Verlockung und Gefahr bedeutet.149 Diese potenzielle Mächtigkeit des Menschen liegt in der Logos-Kultur der Polis begründet. Geistige Erfahrung strebt der Objektivierung von Wahrheit zu, dabei droht ihr jedoch das Unheil, sich zu gebärden, als ob sie den Stein der Weisen in Händen hielte.150 Insofern ist der Logos vor jeder Art der Perversion und des Missbrauchs zu bewahren.151 Einen solchen Missbrauch stellt der sophistische homo-mensura-Satz dar: es gibt keine göttliche Wirklichkeit und keinen Gott, selbst wenn ein Göttliches existierte, so ist es nicht erkennbar, Gott und das Göttliche können folglich nicht zum Maß des Menschen bestimmt sein. In der Begriff chrestotes besteht, welcher das Gute im Sinne von Güte und Freundlichkeit meint. 144 Vgl. Kuhn (1969), S. 284. 145 Vgl. Schadewaldt (1978), S. 15. 146 Vgl. Ottmann (2001) Bd. 1.2: Die Griechen. Von Platon bis zum Hellenismus, S. 54 ff. 147 Vgl. Kuhn (1969), S. 152 und Ottmann (2001) Bd. 1.2, S. 48 f. und 56. 148 Vgl. Kuhn, Helmut: Sokrates. Versuch über den Ursprung der Metaphysik, München 1959, S. 109 ff. 149 Vgl. ebd. S. 132. Vgl. Ottmann (2001) Bd. 1.2, S. 58: „Die Staatsformenlehre ist eine Erzählung von der Verführbarkeit des Menschen“. 150 Vgl. AGS 11, S. 27. 151 Vgl. Joziç (1987), S. 318 sowie Schadewaldt (1991), S. 185 ff., 194 und 199.
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4. Teil: Verfassungsdenken Rudolf Smends in der Politischen Wissenschaft
hieraus resultierenden Degradierung der Natur zum bloßen Objekt menschlicher Verfügung liegt die Gefahr aller Technik, die als eine durch Logos und Ratio potenzierte Mächtigkeit des Menschen einen nochmals erhöhten Grad der Gefährdung bedeutet.152 Ein mit Freizügigkeit, Privatsphäre und Komfort gleichgesetztes Freiheitsbestreben wird von Platon kritisiert, weil es die Demokratie anfällig mache, sich in die Hände derer zu begeben, die die Beschaffung solcher Freiheit versprechen.153 Im politischen Denken Platons meint Tragik also die hybride Abkehr von dem, was – wie nicht aus empiristischer Beweiskunst, sondern auf Grund eines in der philosophischen Logos-Bewegung aufgehenden Wissens erfahrbar wird – auch möglich gewesen wäre. 3. Folgende zwei Haltungen sind aus Sicht eines philosophierenden Bürgertums als falsch zu bewerten: menschliches Leiden als unvermeidlich zu akzeptieren und sich damit abzufinden; Leiden erzeugende Konflikte durch planvoll-rationale Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse eliminieren zu wollen. Diese Entgegnungen gipfeln 4. in dem Konditionalsatz vom Philosophenkönigtum (Pol. V, 18), welcher besagt: wenn eine institutionalisierte politische Ordnung bis zu einem gewissen Grad der Kompetenzen beherrschende Machtpositionen vorsieht, dann muss in dieser Position das Wissen um das Gute selbst verankert sein.154
II. Smends Max Weber-Kritik: „Wirklichkeitssinn“ und „Staatsfremdheit“ 1. Die Frage nach dem „menschlichen Typus“ und die Tragik des Politischen An nahezu allen Stellen, an denen Max Weber im staatsrechtlichen Werk Rudolf Smends erwähnt wird, handelt es sich um denselben Kritikpunkt, den Smend der Weberschen Staatsauffassung entgegenhält. In der Rezension von 1918 sowie 1927/28 in der Monographie Verfassung und Verfassungsrecht155, dann in der Akademierede des Jahres 1943156, im Göttinger Vortrag über Staat und Politik vom Dezember 1945157, im Institutionen-Aufsatz von 1956158 und 152
Vgl. Schadewaldt (1978), S. 185. Vgl. ,Politeia‘, 8. Buch (562 cd): „Wenn die demokratische Polis in ihrem Durst nach Freiheit unersättlich wird und in die Gewalt eines bösen Schankwirtes gerät, dann berauscht sie sich am ungemischten Wein der Freiheit und wird zügellos.“ Vgl. dazu Demandt, Alexander: Platon und der Wein (1993/1996), in: ders.: Sieben Siegel. Essays zur Kulturgeschichte, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 50–65. 154 Vgl. Bubner (2002), S. 65. 155 Vgl. Smend (31994), S. 122 f., 130, 140, 146 f., 150 f., 153 f., 158, 182, 185, 196, 218 f., 222, 267 Anm. 18. 156 Vgl. ebd. S. 358. 157 Vgl. ebd. S. 370 ff. 158 Vgl. ebd. S. 506 und 514. 153
II. Smends Max Weber-Kritik: „Wirklichkeitssinn‘‘ und „Staatsfremdheit‘‘
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schließlich 1959 in dem für das Evangelische Kirchenlexikon verfassten Artikel „Staat“159: immer ist es derselbe Vorwurf eines technizistischen Staatsverständnisses. Weber sei geradezu als der Klassiker der Verwechslung von Technik und Institution zu bezeichnen.160 In verfassungsrechtlichen Institutionen sehe Weber etwas Betriebsmäßiges, einen „mechanistisch objektivierten technischen Apparat für bestimmte Zwecke“161, oft sogar nur zur Erreichnung des „geringeren Übels“162 tauglich. Dieser Vorwurf scheint jedoch kaum im Einklang mit der Anerkennung zu stehen, die Smend Webers detaillierter Beschreibung des Verfassungslebens in Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland ausspricht.163 Die Broschüre, erschienen Anfang Mai 1918, basierte auf fünf Artikeln, die Weber zwischen April und Juni 1917 in der Frankfurter Zeitung veröffentlicht hatte; im März 1918 war die endgültige Druckfassung fertiggestellt worden.164 Die politische Lage Deutschlands sieht Weber durch die Erbschaft Bismarcks bestimmt: Parlament und Parteien seien weitgehend von der schöpferischen politischen Arbeit ausgeschlossen; Deutschland ist eine Nation ohne politische Erziehung und ohne eigenständigen politischen Willen; infolge seiner politischen Schwäche befindet sich das machtlose Parlament auf gedrücktem geistigen Niveau.165 Eine wünschenswerterweise anzuregende politische Lebendigkeit bedarf in Webers Augen der Führungspersönlichkeiten. Diese, so Weber, werden geboren auf dem Boden des Parlamentarismus, nicht auf dem der Bürokratie, welche die staatliche Verwaltung und die Parteien im Rahmen der fortschreitenden Rationalisierung der Staatsmaschine sowie der Wahlkampftechnik immer mehr beherrsche. Gefordert sei nicht der Typus des Beamten, sondern derjenige des Unternehmers, dessen eigentliches Lebenselement der Kampf um Macht sei. Ein solch kämpfender Politiker könne und dürfe der Monarch nicht sein, und darin, dass der deutsche Monarch eben dies zu sein versucht habe, sieht Weber den entscheidenden Grund für das Fiasko des politischen Systems des monarchischen Bundesstaates.166
159 Vgl. ebd. S. 522. Vgl. zudem in dieselbe Richtung weisende Erwähnungen Max Webers in ,Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht‘ (1933) und in ,Der Einfluß der deutschen Staats- und Verwaltungslehre‘ (1939), Smend (31994), S. 322 und 338. 160 Vgl. ebd. S. 153 f. 161 Ebd. S. 196. 162 Ebd. S. 219. 163 Siehe Smend (1918), insb. S. 372 f. 164 Vgl. MWS I/15, S. 396 ff. 165 Vgl. GPS S. 311–320. 166 Vgl. ebd. S. 320–350.
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4. Teil: Verfassungsdenken Rudolf Smends in der Politischen Wissenschaft
Eine Verwaltungsöffentlichkeit und die Auslese der politischen Führer muss als der erstrebenswerte Zustand gelten. Daran gebunden ist unter anderem die Forderung eines parlamentarischen Enqueterechts: durch Kontrollübung gegenüber der Verwaltung, so Weber, werde das Parlament erst zu einem wirklichen „Arbeitsparlament“. Nur ein solches sichere den Parteien Führungspersönlichkeiten, mache sie regierungsfähig und -willig und ermögliche der Regierung, sich auf die Mitwirkung der Parteien zu stützen.167 Wiederholt kommt Weber auf dieses ihm so wichtige Anliegen zurück. Beamtengeist statt politischen Charakters herrschte bislang in dem Verhältnis deutscher Staatsmänner zu den Kundgebungen des Monarchen, zumal in Angelegenheiten der auswärtigen Politik. Das Parlament werde zur Auslesestelle politischer Führungspersönlichkeiten, vorausgesetzt, in dem Leben parlamentarischer Auseinandersetzung winkten als Kampfpreis hohe und höchste politischen Stellungen.168 Die Demokratisierung zerstöre zweifelsohne altherkömmliche Voraussetzungen des Parlamentarismus, das Zweiparteiensystem und die wirkungsvolle Existenz der Honoratiorenparteien. Sie führe ein anderes Prinzip der Führerauslese ein, das plebiszitärer Natur sei. Mit demagogischen Mitteln gewonnenes Vertrauen der Masse – dieses Element bedeute eine entscheidende Beeinträchtigung der alten Rolle des Parlaments. Dennoch bleibe ein starkes Parlament vonnöten; gegenüber Mitteln unmittelbarer Demokratie gewährleiste es dem politischen Führer Stetigkeit und Kontrolle seiner Machtstellung, darüber hinaus aber die friedliche Ausschaltung des Mannes an der Spitze, wenn er das Vertrauen der Masse verloren habe.169 Parlamentarisierung und Demokratisierung, so Weber, würden sicherlich eine unitarische Veränderung der Grundlagen des Reiches bedeuten. Dabei bestünde durchaus die Gefahr, dass die Parlamentarisierung durch die Bürokratie der Einzelstaaten gehemmt werden könnte. Bedingung der von Weber erhofften Entwicklung ist die Aufhebung des Art. 9 Abs. 2 der ehemaligen Reichsverfassung, der Reichtagsmitglieder vom Bundesrat ausschließt und damit auch von den Stellen des Reichskanzlers und der Staatssekretäre; unter den kommenden Umständen führe die Beibehaltung des Artikels wohl zur Mattsetzung des Bundesrats.170 Zum Abschluss unterstreicht Weber nochmals die Parlamentarisierung als Möglichkeit der Überwindung politischer Unreife, als einen unbedingt zu beschreitenden Weg auch zu dem nationalen Stolz, sich selbst zu regieren.171 Große Bedeutung, so Smends Beurteilung, trage Webers Betrachtungsweise politischer Verfassungsdinge und seine scharfe Kritik an der sonstigen „politi167 168 169 170 171
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
ebd. ebd. ebd. ebd. ebd.
S. S. S. S. S.
351–369. 369–382. 382–406. 406–440. 441 ff.
II. Smends Max Weber-Kritik: „Wirklichkeitssinn‘‘ und „Staatsfremdheit‘‘
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schen Schriftstellerei“. Diese denke häufig nicht an die historischen Gründe und Bedingtheiten der Entstehung und Funktion der Bismarckschen Institutionen; sie habe nicht gelernt, über die treibenden Kräfte und den Sinn der Formen des politischen Lebens nachzudenken. Webers Schrift dagegen sei geradezu eine mustergültige „Anleitung zu politischem Wirklichkeitssinn“172; auf einzigartige Weise spreche aus ihr die Fähigkeit zur Beobachtung wirklichen politischen Lebens. Auch die nachfolgende Schrift Max Webers, Deutschlands künftige Staatsform (November/Dezember 1918), lässt es an „politischem Wirklichkeitssinn“ nicht fehlen. Unübertroffen bleibt Webers Verständnis für die Verklammerung anstehender verfassungspolitischer Probleme: die Entscheidungsfrage hinsichtlich des Föderativorgans – ein Bundesrat mit Delegationsprinzip oder eine Senatslösung, ein Staatenhaus mit landschaftsweiser Wahl nach amerikanischem Vorbild173 – ist nicht unabhängig von der Lösung der finanziellen Beziehungen im Bundesstaat zu erörtern, die im günstigsten Fall gleich einem „sich nie vermischenden Röhrensystem“174 voneinander getrennt würden. Die Beschaffenheit des Föderativorgans bestimmt dann im Zusammenhang mit einem Volkswahlpräsidenten das Verhältnis des Staatsoberhauptes und der Minister zu den Abgeordneten des Zentralparlaments, denen von Seiten des Präsidenten seine Legitimation durch das Plebiszit, seitens der verantwortlichen Minister im Falle einer Bundesratslösung ständig der Wille der hier vertretenen Einzelstaaten vorgehalten werden würde.175 Andererseits bliebe ein durch Parlamentswahl gekürter Präsident auf formale Kontrolle und Legitimierung, alles Regieren aber auf Verhandlungen zwischen Bundesrat und Ministerien beschränkt.176 Problematisch sieht Weber auch die Auswirkungen des Proporzdenkens, die „Verschweizerung“ der politischen Verhältnisse, im Zusammenhang mit einem zu befürchtenden Umbau der „Weltanschauungsparteien“ zu bloßen Stellenjägerorganisationen, der Übergang kämpferischen Verfassungslebens zu einem aus den USA bekannten spoils system.177 Darüber hinaus müsse eine unvermeidliche Begleiterscheinung der Sozialisierung, die stetig wachsende Bedeutung der Verwaltung, bei der „Entstehung eines Beamtenstandes mit hohem Ehrbegriff“178 und einem aus oben skizzierten Gründen schwachen Parlament zu empfindlichen Einbußen an Demokratie führen.
172 173 174 175 176 177 178
Smend (1918), S. 372. Vgl. GPS S. 461–468. Ebd. S. 467. Vgl. ebd. S. 471. Vgl. ebd. S. 472. Vgl. ebd. S. 469 und 474. Ebd. S. 478.
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4. Teil: Verfassungsdenken Rudolf Smends in der Politischen Wissenschaft
Erneut ist an Rudolf Smends anerkennende Worte von der „Anleitung zu politischem Wirklichkeitssinn“ zu erinnern. Auf den ersten Blick erscheint Webers Verfassungsverständnis nicht so sehr verschieden von demjenigen Smends zu sein, wenn es im Kategorien-Aufsatz von 1913 heißt, „Verfassungen“ seien „in sehr verschiedenem Umfang in rationalen ausdrücklichen Satzungen niedergelegt.“ Oft seien es „gerade die praktisch wichtigsten Fragen nicht, und zwar zuweilen auch (. . .) absichtlich nicht.“179 Es ist dies eine Feststellung ungeschriebener Verfassungsgrundsätze, die durchaus im Sinne Smends ist. Bis in die Schriften der fünfziger Jahre hinein bleibt Rudolf Smend bei dem Technizismus-Vorwurf gegenüber Max Weber. Aber welcher Aspekt missfiel Smend an Webers „politischem Wirklichkeitssinn“? Ohne Weiteres ist die grundsätzliche Ablehnung Smends nicht verständlich. Andreas Anters Behauptung, Smends Fehleinschätzung oder Missverständnis Webers beruhe auf der Unkenntnis oder doch unzureichenden Kenntnis des Weberschen Werkes180, ist weder widerlegbar, noch lässt sie sich eindeutig beweisen. Jedenfalls muss zu erwägen erlaubt sein, dass es sich bei Smends Weber-Verständnis trotz eventueller Kenntnislücken nicht um eine Fehleinschätzung handelt, sondern um einen grundsätzlichen Widerstand, dem Worte zu verleihen Smend sich nur in gedrängtester Form im Stande sah. In seiner Besprechung von Parlament und Regierung in ,Schmollers Jahrbuch‘ wendet Smend ein, Webers Staatsbetrachtung verfehle die „politisch-ethischen Maßstäbe“ verfassungsrechtlicher Einrichtungen; er beurteile diese Institutionen ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der technischen Leistungen. Die Vorschläge und Forderungen Webers seien jedoch nicht einfach nur staatstechnische Änderungen – solche machten, wie Weber selbst feststelle, „eine Nation weder tüchtig, noch glücklich, noch wertvoll“ –, sondern es gehe um „unmittelbare Eingriffe in das politische Ethos von Volk und Staat“. Webers Darstellungsweise gründe in den „entscheidenden Gedankenelementen“ einer bestimmten „Geschichtsauffassung“, nämlich in der Rationalisierungsthese, der „glänzend geschilderten geradezu mechanischen Unentrinnbarkeit der Bureaukratie“. Und damit zugleich, so lässt sich ergänzen, in der von Weber ebenso glänzend geschilderten Wahrnehmung der Entpersönlichung aller Lebensordnungen, der ethischen Nichtausdeutbarkeit apersonaler Beziehungen. Aber gefragt werde müsse auch nach der „politischen Psyche“, einer conditio humana, die einer solchen „Beamtenherrschaft“ innerlich bedürfe.181 Beiden, Smend und Weber, gemeinsam ist die Einsicht, dass alles Staatsrecht abhängig von menschlichem Deuten und menschlichem Handeln ist, beiden gemeinsam ist die Frage nach dem die republikanisch-demokratische Staatsform ausmachenden mensch179 180 181
WL S. 469. Siehe erneut Anter (2005) Hermeneutische Staats- und Verfassungslehre, S. 85. Smend (1918), S. 372 f.
II. Smends Max Weber-Kritik: „Wirklichkeitssinn‘‘ und „Staatsfremdheit‘‘
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lichen Typus. Eine ernsthafte Befragung des Verhältnisses Smend-Weber muss damit ansetzen, dass die (auch auf den Staat bezogenen) Welt- und Menschenbilder beider fundamental divergierten. *** Inkurs 1: Charakterologisches Leitmotiv und autonome Wertwahl Ausgehend von der frühen Börsen-Schrift (1894)182, über die Freiburger Antrittsrede von 1895, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik183, dann die wohl bekannteste Schrift Max Webers, die zuerst 1904/05 im ,Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik‘ veröffentlichte Studie Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus184, und den ersten Russland-Bericht vom Februar 1906185 bis zu den drei sozialwissenschaftlichen Enqueten der Jahre 1908 bis 1910186: immer geht es um die Hauptsequenz des Weberschen Werkes, um das prägende Verhältnis von Persönlichkeit und Lebensordnung. Die Schrift von 1894 muss konstatieren, dass der Markt, den die Börse darstellt, der persönlichen Beziehungen nicht länger bedarf.187 Inhaltlich daran anschließend fragt die Freiburger Antrittsrede in skeptischer Weise „nach der politischen Qualifikation der herrschenden und aufsteigenden Klassen“ und fordert auf Grund hier zu beanstandender „Unreife“ eine „ungeheure politische Erziehungsarbeit“, ja eine „chronische politische Schule“ als Folge und „Resonanz“ einer künftigen „Weltmachtstellung, welche den Staat stetig vor große Aufgaben stellt“.188 Die bekannte Studie von 1904/05 forscht dem Faktor des „Erziehlichen“, dem Vorgang qualitativer Prägung des „Menschentums“ durch Formen religiösen Lebens nach, also der Erziehungsleistung der protestantischen Ethik.189 Der Russland-Bericht von 1906 fürchtet in dem friedlichen Zusammenklang von ökonomischer Entwicklung und Demokratisierung „das Gehäuse für die neue Hörigkeit“ immer schon vorgebildet und bangt um den Kampf für individualistische Lebenswerte, der überhaupt nur dort möglich sei, „wo dauernd der entschlossene Wille, sich nicht wie eine Schafherde regieren zu lassen“, dahinter stehe.190 Die Ausrichtung der Enqueten von 1908 bis 1910, die 182 183 184 185 186 187 188 189 190
Siehe GASS S. 256–322. Siehe GPS S. 1–25. Siehe RS 1, S. 17–206 und die synoptische Edition PELW. Siehe GPS S. 33–68. Siehe GASS S. 1–60 und 431–491. Vgl. GASS S. 260. GPS S. 21 ff. Vgl. RS 1, S. 37, 82 f. und 93–117. GPS S. 63 f.
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„subjektive Eigenart des modernen Menschen“ und die „objektive Eigenart der modernen Kultur“ in ihrer wechselwirksamen Prägearbeit zu untersuchen191, gipfelt in dem charakterologischen Kernanliegen des 1913 für den Verein für Sozialpolitik erstatteten, als Manuskript gedruckten Gutachtens zur Werturteilsfrage192, das Weber 1917 unter dem Titel Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften im ,Logos‘ in kaum veränderter Form veröffentlichte: „Ausnahmslos jede, wie immer geartete Ordnung der gesellschaftlichen Beziehungen ist, wenn man sie bewerten will, letztlich auch daraufhin zu prüfen, welchem menschlichen Typus sie, im Wege äußerer oder innerer (Motiv-)Auslese, die optimalen Chancen gibt, zum herrschenden zu werden.“193 An dieser Stelle schließt Weber in der Fassung des Gutachtens von 1913 ausdrücklich an die vor beinahe zwei Jahrzehnten gehaltene Freiburger Vorlesung an, wenn er bemerkt, dass die akademische Antrittsrede, in sicherlich „vielfach unreifer Form“, eben diese Forderung, dass letztlich jede Ordnung der gesellschaftlichen Beziehungen auf ihre anthropologischen Konsequenzen hin zu prüfen sei, habe zum Ausdruck bringen wollen.194 Wilhelm Hennis hat auf die in sich stets dualistisch-antagonistisch angelegte dreigliedrige Hauptsequenz des Weberschen Werkes aufmerksam gemacht.195 Das Grundproblem betrifft die Entwicklung des menschlichen Typus, also die Frage nach der Inanspruchnahme, Prägung und Formung, der Fülle der Zumutungen oder auch Eröffnungen von Chancen der Lebensführung, die Gestaltwerdung der Persönlichkeit in bestimmten gesellschaftlichen Lebensordnungen und geschichtlichen Konstellationen. Das zweite Glied der Sequenz besteht in dem Konstatieren der Schwierigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit, den innersten Kern der Persönlichkeit – also die Fähigkeit zur Individualität überschreitenden Hingabe, die ethische Ausdeutbarkeit von Personen und personalen Verhältnissen – mit dem Alltag der Berufsnotwendigkeiten zu einer ungebrochenen Einheit zusammenzubringen, weil die rationalisierte Ordnung des Alltags nicht mehr erlaube, was etwa den Puritanern des 18. Jahrhunderts noch möglich gewesen sei. Ein drittes Moment zielt auf die Spannungen zwischen den Eigengesetzlichkeiten (oder Betriebsrationalitäten) der verschiedenen Ordnungen (oder Wertsphären), in die der Mensch sich hineingestellt sieht, auf den Kampf der Lebensordnungen miteinander infolge ihrer fortschreitenden Entfaltung und Differenzierung. Es ist, nachdem Weber sich mit dem die calvinistische Askese prägenden unüberbrückbaren Gegensatz von Gott und Welt und den daraus gezogenen religionspsychologischen Antrieben zu methodisch-rationaler Lebensführung be191
Zitiert nach Hennis (1987), S. 51. Vgl. GASS S. 443. Abgedruckt bei Baumgarten, Eduard (Hg.): Max Weber. Werk und Person, Tübingen 1964 S. 102–139. Siehe insb. S. 127. 193 WL S. 517. 194 Vgl. Baumgarten (1964), S. 127. 195 Siehe dazu Hennis (1987), S. 3–114, insb. S. 40 ff., 68 ff. und 97 ff. 192
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fasst hat, auch weiterhin ein eigentümlicher Hang zum Dualismus in seinem Werk, ja die Konstruktion eines erneuten, eines immanenten Dualismus, auszumachen, der Webers „Wirklichkeitswissenschaft“196 vollends zu bestimmen scheint. Werden auch alle Geschichtskonstruktionen von ihm vehement bekämpft, für eine Auffassung historischen „So-und-nicht-anders-Gewordenseins“197 hat doch auch Max Weber sich entschieden, wenn er überall die Entwicklungstendenzen der modernen okzidentalen Zivilisation am Werk sieht. Das nüchterne Konstatieren des Rationalisierungsprozesses und die dieser Nüchternheit eigene Entzauberungs-, Entpersönlichungs- und Entseelungs-These sind aufs engste mit der gesteigerten Aufmerksamkeit für die Erziehungsleistung bestimmter Lebensumstände verknüpft. Die rationalisierte, entzauberte – und das heißt schematisierte, disziplinierte – Lebensweise braucht den Menschen nur partiell, abgezweckten, der jeweiligen Betriebsrationalität nützlichen Qualitäten gemäß. Das ist die Einsicht, zu der Weber während seiner Untersuchung des Kapitalismus gelangt. Das Kulturproblem der Moderne besteht nach Weber darin, dass er, an der konventionellen Wertvorstellung der Persönlichkeitsbildung festhaltend, die objektive Eigenart der Lebensordnungen, in die der moderne Mensch sich hineingestellt sieht, als immer weniger tauglich befindet, in ihnen noch zur Statur wirklicher Lebensführung zu gelangen. Sein Leben führen zu können – dazu müssen Lebensordnungen nach Möglichkeit so eingerichtet sein, dass sie noch Tragweite individuellen Wählens und Handelns, darüber hinaus Freiheit zur Hingabe an eine die Individualität überschreitende Sache entweder gewähren, anregen oder sogar erzwingen. Angesichts der Verunpersönlichung der modernen Lebenswelt, im „Gehäuse“ also, ist keine Führung des Lebens in Webers Sinne mehr möglich. In dem qualitativen Fragen nach dem Schicksal des Menschen unter den Bedingungen der menschlich-seelischen „Unverbindlichkeit der Öffentlichkeit“ (Siegfried Landshut), diesem anthropologisch-charakterologischen Motiv, ist Max Weber als Nachfolger in der Weiterverhandlung zentraler Fragen der Schriften Nietzsches zu verstehen. In einem Brief an Edgar Jaffé vom 13. September 1907 bezeichnet Weber die „Moral der Vornehmheit“ als das eigentlich Dauernde der „durch und durch moralistischen Lehre“ Nietzsches.198 Im Februar 1920 nimmt Weber an einer Diskussion mit Oswald Spengler teil. Auf dem Nachhauseweg soll er dem ihn begleitenden Studenten gesagt haben: „Die Redlichkeit eines heutigen Gelehrten, und vor allem eines heutigen Philosophen, kann man daran messen, wie er sich zu Nietzsche und Marx stellt. Wer nicht zugibt, daß er gewichtige Teile seiner eigenen Arbeit nicht leisten könnte, ohne 196 197 198
WL S. 170. Ebd. S. 171. Vollständig abgedruckt bei Baumgarten (1964), S. 644–648.
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die Arbeit, die diese beiden getan haben, beschwindelt sich selbst und andere. Die Welt, in der wir selber geistig existieren, ist weitgehend eine von Marx und Nietzsche geprägte Welt.“199 Die oben gekennzeichnete Hauptsequenz seines Werkes zeigt deutlich, was Max Weber sowohl Nietzsche als auch Marx verdankt. Der Fokus ist hier auf Nietzsche zu richten. In dem „Etwas für Arbeitsame“ überschrieben Passus in der Fröhlichen Wissenschaft liegt beinahe Webers gesamtes wissenschaftliches Lebensprogramm in konzentrierter Weise vor.200 Auch die Bekümmerung um die „anethische“201, weil unpersönliche Wirtschaftsordnung202, überhaupt die Sorge um den „Mangel an Person“ lassen sich schon bei Nietzsche nachvollziehen.203 Auch Webers berühmtes Wort, „daß wir den Sinn des Weltgeschehens nicht aus dem noch so sehr vervollkommneten Ergebnis seiner Durchforschung ablesen können, sondern ihn selbst zu schaffen imstande sein müssen“204, setzt, wie Wolfgang Mommsen schreibt, die zersetzende Kritik an aller herkömmlichen Metaphysik durch Nietzsche voraus.205 Einer der zentralen Aspekte in Nietzsches Denken liegt in der Frage: Wie ist die Verkleinerung, Vermittelmäßigung, Veralltäglichung des Menschen, der „Mangel an Person“ aufzuhalten oder auszugleichen? Die „grossen Probleme“, schreibt Nietzsche, „verlangen alle die grosse Liebe“206. Dieses Denken gedeiht einerseits an der Entschlossenheit, dem Menschen freiheitliches Handeln zu salvieren, und krankt zugleich an bis zur Idololatrie reichenden Übersteigerungen.207 In ihrer unzeitgemäßen Leidenschaft sind Nietzsches Schriften zu einem erzieherischen Werk von außerordentlicher Wirkungsmacht geworden.208 Auch 199
Die Äußerung wird berichtet ebd. S. 554 f. Vgl. KSA 3, S. 370–380. 201 Weber gebraucht diesen Ausdruck neben „antiethisch“, jedoch nie „unethisch“. Vgl. WuG S. 360, 403, 708 und 711. 202 Vgl. KSA 3, S. 183. 203 Vgl. ebd. S. 577. 204 WL S. 154. 205 Vgl. Mommsen, Wolfgang J.: Universalgeschichtliches und politisches Denken (1965), in: ders.: Max Weber. Gesellschaft, Politik und Geschichte, Frankfurt a. M. 2 1982, S. 108. 206 KSA 3, S. 577. Die für Nietzsches Philosophie grundlegende Angst vor der Veralltäglichung hat Safranski (2000), S. 9 f. als „postsirenische Traurigkeit“ in einem Brief und einem Nachlassfragment aufgespürt. Vgl. FNW 3, S. 1052. sowie KSA 13, S. 457. 207 Ein Heldenkult, den Nietzsches Ubiquität allerdings, im Gegensatz zu Webers Dezisionismus, sogleich selbstkritisch unter Beschuss nimmt. Vgl. etwa KSA 5, S. 344 ff. 208 Siehe dazu Simmel, Georg: Friedrich Nietzsche – Eine moralphilosophische Silhouette, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 107 (1896), S. 202– 215, dazu Lichtblau, Klaus: Das ,Pathos der Distanz‘. Präliminarien zur Nietzsche-Rezeption bei Georg Simmel, in: Georg Simmel und die Moderne. Neue Interpretationen 200
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Mommsens Einschätzung geht dahin, in der „dezisionistischen Verantwortungsethik, die in der autonomen Wertwahl das Wesen der Persönlichkeit sah“209, sei Weber zweifelsohne ein „Schüler“ Nietzsches gewesen. Durch alle das Individuum überwölbenden, ihm nicht einsichtigen Konstruktionen disziplinierender und abstumpfender Wirkung, so sieht Weber es mit Nietzsche, werde der Einzelne über seine spezifische Verantwortlichkeit hinweggetäuscht: „Man möchte herumkommen um den Willen, um das Wollen eines Zieles, um das Risico, sich selbst ein Ziel zu geben“.210 Die autonome Wertwahl, Freiheit und Tragweite individuellen Handelns als höchsten Wert zu wahren, ist das Ziel, die Sache, um die es sich zu kämpfen lohnt. So auch bei Weber211, wenn es in Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland heißt, es gelte, angesichts der „Übermacht der Tendenz zur Bürokratisierung (. . .) irgendwelche Reste einer in irgendeinem Sinn ,individualistischen‘ Bewegungsfreiheit zu retten“212. Im Russland-Bericht vom Februar 1906 stehen die folgenden Worte, die nicht nur der warnenden Eindringlichkeit ihres apodiktischen Tonfalls, sondern auch der Sache nach ebenso von Nietzsche sein könnten. Was im Laufe der nächsten Generation dem nur durch die noch anhaltende ökonomische und geistige Revolution auf sich selbst gestellten Individuum nicht als „unveräußerliche“ Persönlichkeits- und Freiheitssphäre gewonnen werde, „das wird ihm, – wenn die Welt erst einmal ökonomisch ,voll‘ und intellektuell ,satt‘ ist, – vielleicht niemals erobert werden“213. Vermeintlich objektive Kulturwerte verdanken ihre Geltung einzig der subjektiven Entscheidung der Persönlichkeit.214 In der „bedingungslosen Hingabe“215 an eine Sache oder an „den Dämon (. . .), der seines Lebens Fäden hält“216 als Resultat einer Wertwahl – darin allein liegt für Weber die Würde der Person. Hier ist der prägende Einfluss von Nietzsches „Moral der Vornehm-
und Materialien, hg. v. Dahme, Heinz-Jürgen/Rammstedt, Otthein, Frankfurt a. M. 1984, S. 231–281. Vgl. weiterhin Bertram, Ernst: Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 1918; Klages, Ludwig: Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches, Leipzig 1926; Jaspers, Karl: Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin 1935; Morgenstern, Christian: Stufen. Eine Entwicklung in Aphorismen und Tagebuch-Notizen, München: 1922, S. 86–92, insb. S. 87: „Man sieht Nietzsche ins Auge und weiß, wo das Ziel der Menschheit liegt.“ 209 Mommsen (21982), S. 104. 210 KSA 12, S. 355. 211 Vgl. dazu bei Mandt, Helga: Tyrannislehre und Widerstandsrecht. Studien zur deutschen politischen Theorie des 19. Jahrhunderts, Darmstadt/Neuwied 1974 das Weber-Kapitel S. 247–292. 212 GPS S. 333. 213 Ebd. S. 65. 214 Vgl. Mommsen (21982), S. 106. 215 Vgl. WL S. 591 und 612. 216 Ebd. S. 613.
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heit“ durchaus vernehmbar. Der Verteidigung der autonomen Wahl als oberster Wert entspricht die Perhorreszierung des Lebensideals eines „Strebens nach Glück“, dieses, so Weber, „weichen Eudämonismus“217. Max Scheler hat hinsichtlich Webers geradezu von einer „gesuchten heroischen Glücksverachtung“ gesprochen.218 Unter „Glück“ versteht Weber das Ruhen der Antagonismen, das reflexive Innehalten menschlichen Bewusstseins, den ironischen Ausgleich. Diese Haltung, ein sittlich-praktisches Ethos der Vermittlung, zur Transformation der Antagonismen fähig, ist in Webers Welt- und Menschenbild ganz undenkbar: „Es handelt sich nämlich zwischen den Werten letztlich überall und immer wieder nicht nur um Alternativen, sondern um unüberbrückbar tödlichen Kampf, so wie zwischen ,Gott‘ und ,Teufel‘. Zwischen diesen gibt es keine Relativierungen und Kompromisse.“219 Das „Verflachende des ,Alltags‘“ besteht für Weber gerade darin, „daß der in ihm dahinlebende Mensch sich dieser teils psychologisch, teils pragmatisch bedingten Vermengung todfeindlicher Werte nicht bewußt wird und vor allem: auch gar nicht bewußt werden will, daß er sich vielmehr der Wahl zwischen ,Gott‘ und ,Teufel‘ und der eigenen letzten Entscheidung darüber: welcher der kollidierenden Werte von dem Einen und welcher von dem Andern regiert wird, entzieht.“220 Es handelt sich immer um dieselbe Struktur: um das sich viel auf seinen Mut und seinen unbestechlichen Blick zugutehaltende Konstatieren einer um den Menschen herum zunehmend entseelten Welt, des Kampfes der verschiedenen Wertsphären untereinander, in welchen der Mensch zu leben sich gezwungen sehe, und den daraufhin angestrengten Versuch, dem Menschen individuellen Handlungsspielraum zu bewahren, sei es auch nur in der Wahl, in welche seelenlose Ordnung er sich hineinzuverfügen habe. Die Seelenlosigkeit soll gerade durch die Hingabe des Menschen an eine Sache – oder an einen anderen Menschen – kompensiert werden. Aber die enorme Aufwertung des Entscheidungs-
217
GPS S. 24. Vgl. ebd. S. 12 und 16 sowie RS 1, S. 35, 62 und 141. So in Scheler, Max: Die Ursachen des Deutschenhasses. Eine nationalpädagogische Erörterung, Leipzig 21917. 219 WL S. 507. Nicht unwahrscheinlich, dass Webers zum Heroismus neigende Worte bei Nietzsche (,Die fröhliche Wissenschaft‘ Aph. 283, KSA 3, S. 526) in die Schule gegangen sind: „Ich begrüsse alle Anzeichen dafür, dass ein männlicheres, ein kriegerisches Zeitalter anhebt, das vor allem die Tapferkeit wieder zu Ehren bringen wird! Denn es soll einem noch höheren Zeitalter den Weg bahnen und die Kraft einsammeln, welche jenes einmal nöthig haben wird, – jenes Zeitalter, das den Heroismus in die Erkenntnis trägt und Kriege führt um der Gedanken und ihrer Folgen willen.“ Die Suggestion einer bestimmte Wege verbietenden „Verantwortung vor der Geschichte“ (GPS S. 24) und eine aus dieser drückenden Last gezogene Ethik des Kampfes bestimmen schon die akademische Antrittsrede von 1895 (ebd. S. 14): „Nicht Friede und Menschenglück haben wir unseren Nachfahren mit auf den Weg zu geben, sondern den ewigen Kampf um die Erhaltung und Emporzüchtung unserer nationalen Art.“ 220 WL S. 507. 218
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moments, die rigorose Forderung, das Wollen zu wollen, scheint nahezu vollkommen aus allen sittlichen Zusammenhängen herausgenommen, entleert, formalisiert und in einen Bereich heroischer Einsamkeit verlegt. *** In der Akademierede von 1943, Politisches Erlebnis und Staatsdenken, bemerkt Smend, die kritiklose Übernahme des zeittypischen Ansatzes, des Einblicks in den bloßen Machtcharakter von Staat und Politik, habe dazu geführt, Max Webers Werk in eine andere Richtung zu lenken, als es seiner „eigenen inneren Folgerichtigkeit“ entsprochen hätte.221 Die Fokussierung auf den Machtcharakter, die kluge Herrschaftspraxis und das Verhältnis von Regierenden und Regierten als eine Beziehung von politischen Führern und ihrer Gefolgschaft stellt sich in Smends Augen als eine Verzerrung politischen Erlebens dar. Weber ist hierin Erbe nicht nur der Burckhardtschen mit heimlichem „Gruseln“ unternommenen Ästhetisierung des Staates zur künstlich-kunstvoll geschaffenen und durch den politischen virtuoso aufrechtzuerhaltenden Machtlage222 sowie der skeptisch-moralisierenden Ablehnung des einflussnehmenden, befehlenden oder gewährenden Staates als „des kältesten aller Ungeheuer“ bei Nietzsche.223 Zugleich damit übernimmt Webers politisches Denken die Trennung der formaljuristischen Staatsrechtslehre von Recht und Sittlichkeit, um sie auf die von Otto Brunner beklagte Trennung der Staatslehre in Machtgeschichte und Rechtsgeschichte zu übertragen.224 Die auf dem Gebiet der Machtgeschichte, in dem politik-soziologischen Bereich des Verhältnisses von „Herrschenden“ und „Beherrschten“ erreichte und erweiterungsfähige Originalität des Weberschen Ansatzes wird durch die Konventionalität seines Staatsbegriffs zu jener naturalistischen „Unmittelbarkeit der Empfindung“: die „machtvolle Nation“ als „erweiterter Leib eines machtvoll veranlagten Menschen“225. Webers verfassungspolitisches Denken ist in gewisser Weise die Konsequenz aus der formaljuristischen Ignorierung der Wirklichkeit: eine entschlossene, freilich zu verzeichnender Einseitigkeit tendierende Hinwendung zu den Gegebenheiten politischer Wirklichkeit. Der dieser Hinwendung eigene Aufbruchcharakter und sein Wille zum chirurgischen Schnitt sind auch ein Resultat aus einer leicht erregbaren Reizbarkeit gegenüber etablierten Anschauungen, aus Langeweile und Überdruss an der Bekanntheit, Saturiertheit und Festgefahrenheit bürgerlicher Lebensverhältnisse, ein Verlangen nach – unter Umständen künstlich herbeigeSmend (31994), S. 358. Siehe dazu erneut Smends Göttinger Rede ,Staat und Politik‘ (1945), Zweiter Teil, Kapitel I. 2. c). 223 KSA 4, S. 61 (,Also sprach Zarathustra‘ I, „Vom neuen Götzen“). 224 Siehe Kapitel I. 3. des Vierten Teils. 225 Smend (31994), S. 130. 221 222
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führten – Spannungen, dezidierter Wertwahl und kämpferischer Auseinandersetzung, ein zeitgenössisches Sekuritätsdenken torpedierend, ohne jedoch die Standards und Begrifflichkeiten der bürgerlichen Gesellschaft ganz abzustreifen. *** Inkurs 2: Max Webers Staats- und Legitimitätsbegriff Institutionalisierte „Macht“ bedeutet für Weber bekanntlich die Chance, innerhalb sozialer Beziehungen seinen Willen durchzusetzen; „Herrschaft“ gilt ihm als die Chance, für einen Befehl konkreten Inhalts bei bestimmten Personen Gehorsam zu finden; „Staat“ ist ihm das Monopol legitimen Zwanges.226 Otto Brunner hat darauf hingewiesen, typisch für die Begriffswelt des 19. Jahrhunderts sowie dann auch noch für Max Weber sei dieses Aufeinanderbezogensein von Macht, Herrschaft und Staat. Herrschaft erscheint im 19. Jahrhundert auf den Bereich der einheitlich organisierten Staatsgewalt beschränkt.227 Notwendigerweise erhebe sich daher die Frage nach ihrer Rechtmäßigkeit, ihrer Legitimität. Gerade aus Sicht des Historikers sei zu fragen, ob der von Max Weber verwendete Begriff der Legitimität an eine bestimmte geschichtliche Situation gebunden sei.228 Zunächst ist hier festzustellen, dass Webers allgemeine Vorstellung von Legitimität mit dem Macht-Herrschaft-Staatsgewalt-Komplex verkoppelt bleibt, sein Begriff der Legitimität also mit dem Legitimitätsbegriff des 19. Jahrhunderts identisch ist.229 Webers Geschichtsbild ist zentral durch die Frage nach „dem spezifischen ,Rationalismus‘ der okzidentalen Kultur“230 geprägt. Der Ausgangspunkt von Webers Herrschaftssoziologie ist immer der schon verwaltungsmäßig rationalisierte, Gewalt monopolisierende, anstaltsmäßige Herrschaftsverband, der moderne Staat mit seinem Instanzenbau und seiner klaren Scheidung der Kompetenzen des Verwaltungsapparates, seiner Bindung an Gesetze im Sinne des 19. Jahrhunderts sowie seinem ius ad bellum. Die Typen der Legitimitätsgründe sind allerdings nicht identisch mit den Legitimitätsprinzipien des 19. Jahrhunderts, sie sind aus Webers religionspsychologischen Studien gewonnen und idealtypisieren subjektiv angeeignete Prägungen der Lebensführungskonsequenz bestimmter „erziehlicher“ Mittel. Die Herrschaftsweisen und ihre jeweilige Legitimitätsgeltung sind nach den charakterologischen Erziehungszwecken der Religionssoziologie modellierte Typen.
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Vgl. WuG S. 28 und 122 ff., auch WL S. 465 ff. und 475 ff. Vgl. Brunner (21968), S. 66 und 69. Vgl. ebd. S. 71. Vgl. ebd. S. 78. RS 1, S. 11.
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Hierin liegt die folgenreiche Inkongruenz des Weberschen Staats- und Legitimitätsbegriffs. Weber spürt mit seinen Legitimitätstypen nach Gründen der Gehorsamsmotivation bezüglich eines nachrevolutionären, legitimationsbedürftigen Aufeinanderbezogenseins von Macht, Herrschaft und Gewaltmonopol und konstruiert seine idealtypischen Legitimitätsgründe anhand von Studien zu vorrevolutionären personalen Beziehungen. Ein verhältnismäßig junger Begriff von Staatsgewalt und Legitimität trifft somit auf ihrer Herkunft nach verhältnismäßig alte Ausprägungen der Art der Lebensführung, der Berufsauffassung sowie der Obödienzverhältnisse. Für Weber gilt, den Kern der im Zeitalter Michelangelos und Shakespeares entwickelten Vorstellung des Individuums und der Persönlichkeit, unter Verzicht auf Universalität des Menschentums, in die moderne Welt staatsrechtlich-politischer Schwierigkeiten hinüberzuretten. Mit der Perhorreszierung ethischer Nichtausdeutbarkeit apersonaler Beziehungen ist bereits der entscheidende Hinweis bezüglich Webers leidenschaftlichen Eintretens für die sogenannte Führerdemokratie gegeben.231 Sie einzurichten trachten die verfassungspolitischen Schriften zwischen 1917 und 1919: staatstechnische Änderungen, äußerlich „zweckrational“ gehandhabt, um einem „wertrationalen“, ja vergleichsweise „irrationalen“ Anliegen zu dienen, nämlich der Ermöglichung der ganz speziellen und für Weber einzig anerkennenswerten Form des „Legitimitätsglaubens“. Überantwortete Berechtigung zu machtvollem Handeln soll in eine politische Schule nehmen, einen „erziehlichen“ Effekt zeitigen, den Menschen „groß“ machen. Das staatsrechtlich angeregte politische Leben wird hier normativ als Prägestätte betrachtet, als Auslesemechanismus, als Raum der Vertrauensbildung und der Bewährung. Die urwüchsigere Form ethischer Hingabe ist für Weber nämlich nicht die an eine Sache, sondern die an Personen. Die Beziehung muss „von innen her“ ausdeutbar und individuell ausfüllbar sein, sonst ließe sich mit Weber nicht von „Hingabe“ und „Lebensführungschancen“, auch nicht von „Legitimität“ sprechen. Im alten Teil von Wirtschaft und Gesellschaft bezeichnet Weber „Legitimität“ als das eigentliche „Merkmal des charismatisch berufenen Herrschers“, erwägt „die charismatische Befähigung“ als möglichen „Gegenstand der Erziehung“ und konstatiert die Austrocknung „der alten asketischen Mittel zur Weckung und Erprobung charismatischer Fähigkeit“ in der „fachmäßigen Abrichtung“.232 In Einleitung und erstem Teil der Wirtschaftsethik der Weltreligionen verbindet 231 Bekannt ist die politik-naturalistische Schroffheit, mit der Max Weber auf Ludendorffs Frage, was sein Unterredner unter Demokratie verstehe, antwortete: „In der Demokratie wählt das Volk seinen Führer, dem es vertraut. Dann sagt der Gewählte: Nun haltet den Mund und pariert. Volk und Parteien dürfen ihm nicht mehr hineinreden. (. . .) Nachher kann das Volk richten – hat der Führer Fehler gemacht – an den Galgen mit ihm!“ Zitiert nach Weber, Marianne: Max Weber. Ein Lebensbild (1926), Tübingen 3 1984, S. 665. 232 WuG S. 677.
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Weber die bekannte Trias der Legitimitätstypen – hier erstmals veröffentlicht – mit einer Trias von Erziehungstypen.233 Hier, im Chinabuch, findet sich folgende „Typologie der Erziehungszwecke“: Die charismatische Zucht will dem Novizen zu einer „neuen Seele“, zu einer Wiedergeburt also, verhelfen, eine Fähigkeit persönlicher Gnadengabe wecken und erproben. Die Facherziehung will zur praktischen Brauchbarkeit für Verwaltungszwecke – im Betrieb einer Behörde, eines Kontors, einer Werkstatt, eines wissenschaftlichen oder industriellen Laboratoriums, eines disziplinierten Heeres – abrichten. Eine Kultivationspädagogik erzieht den Menschen zu einer bestimmten inneren und äußeren („ständischen“) Lebensführung, ihm diese Lebensweise ankultivierend. Wecken, abrichten, kultivieren. Inwiefern die „erziehliche“ Eigenart äußerer Lebensordnungen sich auch innerlich prägend auf den Menschen auswirkt und inwiefern diese innere Prägung nur diszipliniert, nur zur Gewöhnung abstumpft oder aber Handlungsspielraum individueller Lebensführung offenlässt – dies ist als das Kernanliegen Max Webers auszumachen, um das herum die Palastanlage der sogenannten Teilsoziologien errichtet ist. Nahezu jede Betrachtung Webers findet ihre Pointe in der ständigen Entgegensetzung von personaler Bezugsermöglichung und solche Möglichkeiten abweisenden rational-disziplinierten Eigenschaften vergesellschafteter, nämlich versachlicht-unpersönlicher Beziehungen. Auch der Kern der Herrschaftssoziologie, und dies ist der entscheidende Schritt zu ihrem Verständnis, steckt in dem lebhaften Interesse für Lebensführungskonsequenzen, für die prägenden Faktoren, die Intensität von Erziehungsleistungen. Politische Ordnungen – als Herrschaftsweisen – sind eben auch Lebensordnungen, Wertsphären, die erziehen. *** 233 Vgl. RS 1, S. 268–271 und 408 f. Auf die Parallele zwischen Erziehungs- und Legitimitätstypen ist insbesondere von Wilhelm Hennis aufmerksam gemacht worden. Vgl. Hennis (1996), S. 71–82, insb. S. 74. Im Zusammenhang mit der Darstellung der militärischen Disziplin und ihren Folgen für die politische und soziale Verfassung, schreibt Weber über die Spartiaten: „[D]ie Teilnahme an der in anderem Zusammenhang zu besprechenden kriegerischen Erziehung war auch dort das Entscheidende“ (WuG S. 684). Dieser „andere Zusammenhang“, so legt Hennis 1996, S. 77 dar, findet sich im neuen Teil von Wirtschaft und Gesellschaft. In Kapitel III § 12 über „Die Veralltäglichung des Charisma“ ist in einem Klammerzusatz zu lesen: „s. über die charismatische Erziehung Kap. IV“ (WuG S. 145). Das abgebrochene Kapitel IV trägt die Überschrift „Stände und Klassen“. Dort ist unter § 3 „Ständische Lage“ zu lesen, dass Webers Definition der „Privilegierung in der sozialen Schätzung“ bestimmt wird durch „a) Lebensführungsart, – daher [!] b) formale Erziehungsweise (. . .) und den Besitz der entsprechenden Lebensformen“ (ebd. S. 677). In den durch das ganze Werk hindurch miteinander in Wechselbeziehungen stehenden Institutionen: Wirtschaft, Staat, Verwaltung, Kirche (und „Sekte“), Wissenschaft, Militär – überall hat die „erziehliche“ Wirkung ihre Aufgabe erst dann erfüllt, wenn sie eine Gesinnung ausgeprägt hat. Die große kulturgeschichtliche Leistung der asketischen Seite des Protestantismus bestand darin, die „Seele“ des Menschen für die (schon vor dem Protestantismus existierende) kapitalistische Wirtschaftsform zugerichtet, den „Geist“ oder „Habitus“ des Berufsmenschen geformt zu haben.
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Der Göttinger Rede Rudolf Smends Staat und Politik von 1945, die sich insbesondere mit Webers Politik als Beruf (1919) auseinandersetzt, ist daran gelegen, „Fehlentwicklungen im deutschen politischen Denken“234 aufzuzeigen. Die Art und Weise, in der Weber – „in einer Reihe von Abhandlungen, die zum Bedeutendsten gehören, was es in deutscher Sprache zum praktischen Problem der Politik gibt“235 – die Politik nicht nur als praktisches Problem, sondern insbesondere die darin steckenden sittlichen Probleme angeht – die innere Entfremdung und ethische Skepsis des Menschen gegenüber der politischen Welt –, krankt in Smends Augen an dem hier waltenden Zweifel hinsichtlich des sittlichen Charakters von durch Menschen gestalteten Ordnungen überhaupt, zugleich und darüber hinaus an der grundsätzlichen Skepsis gegenüber der Möglichkeit eines allgemeinen ethisch-normativen Bezugspunktes sittlich-praktischer Vernunft. Zum Übergang zur Demokratie gehört für Weber auch ein veränderter Menschentypus; nicht länger könne und dürfe dies der Beamte sein, sondern der Berufspolitiker, der im Kampf zu Hause ist, müsse zum eigentlichen Träger demokratischen Staatslebens werden. Denn Politik ist in der Demokratie nicht nur Ringen um sachliche Richtigkeit, sondern auch und vor allem Kampf um die Gemüter und Meinungen, ja um die „Seelen der Anhänger“236, und zugleich um die Menschen, die als Mehrheitsgrundlage benötigt werden. Somit ist Politik nicht nur Kämpfen, sondern zugleich Führen. Dieser Streit um die öffentliche Meinung und das Führen der Anhängerschaft ist ein Ringen aus Machtbedürfnis mit Machtgefühl und mit Leidenschaft. Diese Leidenschaft gilt dem persönlichen Wirken des Berufspolitikers, aber zugleich auch dem Ziel, der Sache, der er sich verschrieben hat, sowie seinen Anhängern. Hierin liegt der eigentliche Unterschied zum Beamten begründet: der Politiker kann nicht „auch anders“, denn er ist leidenschaftlich und wesensmäßig eins mit seiner Sache und um ihretwillen seinen Anhängern und Wählern verpflichtet, während der ernannte Fachbeamte ausdrücklich „auch anders“ können muss, solange es nicht gegen das Recht oder gegen sein Gewissen geht.237 Inwiefern aber auch Max Webers leidenschaftliches Eintreten für den hingebungsvollen Berufspolitiker gerade zu dem Ausbleiben einer politischen LeSmend (31994), S. 364. Ebd. S. 371. 236 Ebd. S. 372. 237 Vgl. GPS S. 524 f. Das Fehlen des von Weber beschriebenen politischen Charakters, so Smend, habe man in der Parteibürokratie der NSDAP und auch in dem politischen Führungskorps des Dritten Reichs erfahren können. Das Hauptargument der im Nürnberger Prozess Angeklagten sei ja gewesen, als gehorchende und ausführende Beamte und Offiziere, nicht aber als mit der eigenen Lebensaufgabe stehende und fallende politische Charaktere gehandelt zu haben. Über diese Mentalität habe sich das die Prozesse verfolgende Ausland beinahe ebenso gewundert, wie über die Verbrechen, über die dort verhandelt worden sei. Vgl. Smend (31994), S. 372 f. 234 235
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bensaufgabe beigetragen habe, erwägt Smend, indem er die Frage nach der für das Handeln des politischen Menschen geltenden Ethik stellt. Webers Antwort in dieser Sache laute dahin, eine besondere politische Moral im Gegensatz zur privaten anzuerkennen. Kraft der Sonderart des politischen Bereichs, seiner Eigengesetzlichkeit, sehe Weber in Anschauung der politischen Wirklichkeit den in ihr Handelnden von anderswo geltenden Normen freigestellt. Wenn man aber, so Smend weiter, und hier liegt das Zentrum seiner Weber-Kritik, vom Staatsmann nicht fordere, dass er in einer bestimmten sittlichen Haltung handle, sondern dass er einen bestimmten sachlichen Erfolg erreiche, dann unterstelle man ihn einer besonderen ethischen Maxime, einer Verantwortungsethik, die sich in erster Linie für die Ergebnisse ihres Handelns verantwortlich fühle, keineswegs auch für die einzusetzenden Mittel.238 Der Politiker entgehe in Webers Schilderungen nicht dem Dilemma, in das ihn etwa die Art des modernen Parteiwesens und der modernen politischen Propaganda bringe; er müsse lernen, Hass- und Racheinstinkte zu kompensieren und mit der Macht- und Profitgier eines Teils seiner Anhängerschaft zu arbeiten, da er diesen Anhang als Voraussetzung seines politischen Wirkens nun einmal brauche. Die Aufgaben des politischen Bereichs, der Einsatz für bestimmte Ziele, die Hingabe an die Wünsche und Ängste von Menschen und Menschengruppen seien folglich nur mit Gewalt zu lösen: die politische Welt wird von Dämonen regiert, und sich auf die Politik einzulassen bedeute zwangsläufig, mit dämonischen Mächten einen Pakt zu schließen.239 Dieses politische Menschenbild erscheint Smend unerfüllbar und 238
Vgl. ebd. S. 373 und 377. Vgl. ebd. S. 374 sowie GPS S. 548 ff., insb. S. 551 f., 554 und 556. Im letzten Buch von ,Dichtung und Wahrheit‘ hat Goethe, anlässlich eines späten Blicks auf ,Egmont‘, mitgeteilt, was er unter dem Dämonischen versteht. Als etwas Ungeheures, Unfassliches sei es ihm begegnet, und bald sei er zu der Einsicht gelangt, dass es besser sei, den Gedanken davon abzuwenden Sobald das Dämonische mit dem Menschen im Zusammenhang stehe, bilde es „eine der moralischen Weltordnung wo nicht entgegengesetzte, doch sie durchkreuzende Macht (. . .). Am furchtbarsten aber erscheint dieses Dämonische, wenn es in irgend einem Menschen überwiegend hervortritt.“ (MA 16, S. 821 f.) Aus den Gesprächen mit Eckermann geht hervor, an welche konkreten Personen Goethe dachte. Zu nennen sind Friedrich II. von Preußen, Napoleon, Zar Peter I., Cagliostro, Lavater, Byron, Beethoven und Paganini. Über den verstorbenen Großherzog Karl August äußert sich Goethe am 8. März 1831 (MA 19, S. 427): „Ihm wäre zu gönnen gewesen, daß er sich meiner Ideen und höheren Bestrebungen hätte bemächtigen können; denn wenn ihn der dämonische Geist verließ, und nur das Menschliche zurückblieb, so wußte er mit sich nichts anzufangen und er war übel daran.“ Um diese Erscheinung dichterisch zu bewältigen, teilt Goethe mit, habe er sich nach seiner Gewohnheit „hinter ein Bild“ geflüchtet (MA 16, S. 820). Verjüngt und von allen Bedingungen losgebunden, habe er seinem Egmont „das grenzenlose Zutrauen zu sich selbst [gegeben], die Gabe alle Menschen an sich zu ziehn (attrativa) und so die Gunst des Volks, die stille Neigung einer Fürstin, die ausgesprochene eines Naturmädchens, die Teilnahme eines Staatsklugen zu gewinnen“ (ebd. S. 821). Was Goethe das Dämonische nennt, in der Figur des Egmont hervortretend als Zutrauen zu sich selbst, als persönliche Tapferkeit, als Gabe, andere Menschen zu beeinflussen, ist das Webersche Charisma. Die Politik ist ein dämonischer Bereich, in dem ausschließ239
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inhuman. Aber auf ihre Zeit hätten diese Gedanken „den allergrößten Eindruck“ gemacht. Sie ständen jedoch auf dem bekannten Boden Burckhardts und Nietzsches, letztlich auf dem eines zweifelnden „Gruselns“ dem als faktische Machtlage missverstandenen Staat gegenüber.240 Der bekannte Technizismus-Vorwurf gegenüber Weber bezieht sich somit – zumindest bei Smend – nicht in erster Linie auf die Idealtypen als soziologische Kategorien, auch nicht auf den so hoch gelobten politischen Wirklichkeitssinn, sondern auf das Bild vom Menschen, das Webers „Wirklichkeitswissenschaft“ zu Grunde liegt, geprägt von jener unerbittlichen Auffassung der Moderne, der zufolge nur ein Menschentypus zum herrschenden werden darf: nicht der „Fachmensch ohne Geist“, nicht der „Genußmensch ohne Herz“, wie es in der Schlussansprache der Protestantischen Ethik heißt241, sondern der Heros eines programmatischen Realismus, der mit zusammengebissenen Zähnen belich die dämonische Persönlichkeit bestehen wird. So sieht es Weber. Goethes Stück stimmt dieser These aber nicht zu. Dass humane Staatsweisheit und dämonisches Charisma nicht zusammengehen, vielmehr letztere sich zum Handeln selbstermächtigt, bildet ja gerade das tragische Element im ,Egmont‘. Goethe hat sie in zwei Figuren, Oranien und Egmont, auf die Bühne gestellt. Der Glaube an seine demokratisch-charismatische Berufung treibt Egmont in den – zunächst rhetorischen – Kampf mit dem Abgesandten der abstrakten politischen Vernunft. Alba erkennt denn auch sofort, dass er Egmont als Auslöser für den Krieg nutzen kann, jedoch auf Dauer nichts gewonnen ist, gelingt es nicht „des Königs größten Feind“ – also Oranien – unschädlich zu machen. Das Charisma, als Verwandter zugleich des Genialen sowie des Dilettantischen, ist, wenigstens kann dies als der Alterssicht Goethes entsprechend so gedeutet werden, seinem Wesen nach apolitisch; und zwar apolitisch in dem Sinn, dass sich der Charismatiker der Verantwortlichkeit seines Handelns nur insofern bewusst wird, als dass er, wie Max Weber meint, bereit ist, die Konsequenzen aus den unter Umständen katastrophalen Folgen seiner Politik zu ziehen. Dahin lauten auch zwei Kurztexte Goethes: „Der Handelnde ist immer gewissenlos, es hat niemand Gewissen als der Betrachtende.“ – „Die Menschen werden an sich selbst und andern irre, weil sie die Mittel als Zweck behandeln, da denn vor lauter Tätigkeit gar nichts geschieht oder vielleicht gar das Widerwärtige.“ (MA 17, S. 758 und S. 516) Die Verantwortungsethik Webers neigt dazu, über „gelegentliche“, „dämonisch“ erzwungene Ungerechtigkeiten und Gewaltakte hinwegzusehen, insoweit das angestrebte Ergebnis erzielt wird. Zur ,Egmont‘Deutung immer noch aufschlussreich: Muschg, Walter: Goethes Glaube an das Dämonische, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 32 (1958), S. 321–343, Keferstein, Georg: Die Tragödie des Unpolitischen. Zum politischen Sinn des „Egmont“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 15 (1937), S. 331–361 und Wells, George A.: Egmont and „Das Dämonische“, in: German Life and Letters N. S. 24 (1970/71), S. 53–67. 240 In ihrem „Politischwerden“ sei es den Deutschen nicht wohl gewesen. Jedenfalls gelte dies für alle diejenigen, die in dieser Sache mit Burckhardt und Weber gegangen seien. Anders habe der Fall bei denen gelegen, die „in der Linie des deutschen Spätidealismus ganz auf den Boden des neuen deutschen Staates traten“, unter der geistigen Führung Treitschkes etwa. Problemlos sei diese letztgenannte Haltung aber doch nur gewesen, da man in umgekehrtem Extremismus den nationalen Staat des Bismarckreichs „als eine Art Ersatz für die verlorene religiös-sittliche Gemeinschaft der Kirche“ genommen habe (Smend (31994), S. 374 f.). 241 RS 1, S. 204.
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schließt, die Transzendenzlosigkeit aushalten zu wollen. Dieses Denken kann mit Recht ein sozial-mechanisches Denken vom Menschen genannt werden, nicht weil es das Funktionieren der politischen Institutionen, ihr Verhältnis und ihre Spannungen untereinander so gut zu beschreiben weiß, sondern weil es den Menschen diesen Institutionen und Lebensordnungen in mechanischer Weise zuordnet: Wissen, Abschätzen, Beherrschen und Betätigen der richtigen Hebel zur richtigen Zeit ist scheinbar alles, worauf es ankommt. Woher aber rührt der innere Antrieb zu solchem Handeln und welchem Zweck soll er dienen? *** Inkurs 3: Politik als Mittel „innerweltlicher Erlösung“? In seiner Schrift über die Börse (1894) kommt Weber auf die modernen Formen des Tributbezugs zu sprechen. Die „Unpersönlichkeit der Beziehungen zwischen Zinsherrn und Zinspflichtigen“ sei das Charakteristische dieser heutigen Tributpflichten. Deshalb spreche man von der Herrschaft des Kapitals und nicht von derjenigen der Kapitalisten. Auch die Aktionäre kennen sich untereinander nicht. „Und doch sind sie Mitinhaber desselben Unternehmens und für die wechselnden Aktionäre arbeiten unter Umständen Tausende von Arbeitern, denen sie niemals im Leben begegnen und auf deren Lage sie, die eigentlichen Unternehmer, deren Vertreter nur der leitende ,Direktor‘ ist, so gut wie keinen Einfluß haben, für die sie sich jedenfalls, auch ohne irgend besonders gewissenlose Menschen zu sein, regelmäßig schwerlich verantwortlich fühlen werden.“242 Mit diesen frühen Ausführungen korrespondiert die Schärfe einer Passage im § 11 der Religionssoziologie, „Religiöse Ethik und ,Welt‘“ überschrieben: „Jede rein persönliche Beziehung von Mensch zu Mensch, wie immer sie sei, einschließlich der völligsten Versklavung, kann ethisch reglementiert, an sie können ethische Postulate gestellt werden, da ihre Gestaltung von dem individuellen Willen der Beteiligten abhängt, also der Entfaltung karitativer Tugend Raum gibt. Nicht so aber geschäftlich rationale Beziehungen, und zwar je rational differenzierter sie sind, desto weniger.“ Der „Kosmos sachlichen rationalen Gesellschaftshandelns“ lässt sich nicht durch „karitative Anforderungen an konkrete Personen beherrschen.“ Ja, in ihm scheitern die „Anforderungen der religiösen Karitas“ nicht nur, „sie verlieren ihren Sinn überhaupt. Es tritt der religiösen Ethik eine Welt interpersonaler Beziehungen entgegen, die sich ihren urwüchsigen Normen grundsätzlich gar nicht fügen kann.“243
242 243
Ebd. S. 271. WuG S. 353.
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Ihre konsequente, überaus kalte Entsprechung findet diese Passage dann in dem ursprünglichen Kapitel über „Legitimität“ im alten Teil von Wirtschaft und Gesellschaft, das in der Ausgabe von Johannes Winckelmann im 5. Abschnitt der Herrschaftssoziologie unter § 3 „Die Disziplinierung und die Versachlichung der Herrschaftsformen“ firmiert. Die ersten Sätze dieses Kapitels genügen, eine gedrängte Fassung der Herrschaftssoziologie zu erhalten, einschließlich der eigentümlichen Färbung, die Webers Rationalisierungs- und Entseelungs-These ihr gibt: „Das Schicksal des Charisma ist es, durchweg mit dem Einströmen in die Dauergebilde des Gemeinschaftshandelns zurückzuebben zugunsten der Mächte entweder der Tradition oder der rationalen Vergesellschaftung. Sein Schwinden bedeutet im ganzen betrachtet, eine Zurückdrängung der Tragweite individuellen Handelns. Von allen jenen Gewalten aber, welche das individuelle Handeln zurückdrängen, ist die unwiderstehlichste eine Macht, welche neben dem persönlichen Charisma auch die Gliederung nach ständischer Ehre entweder ausrottet oder doch in ihrer Wirkung rational umformt: die rationale Disziplin. Sie ist inhaltlich nichts anderes als die konsequent rationalisierte, d. h. planvoll eingeschulte, präzise, alle eigene Kritik bedingungslos zurückstellende, Ausführung des empfangenen Befehls, und die unablässige innere Eingestelltheit ausschließlich auf diesen Zweck.“244 Vor dem Hintergrund des historiographisch vorausgesetzten Sonderweges okzidentaler Kulturentwicklung ist der Aspekt des Schwindens eines Sich-füreinander-verantwortlich-Fühlens und somit einer sozio-erotischen Bedürftigkeit von der Religions- in die Herrschaftssoziologie übergegangen.245 Die im ursprünglichen Legitimitäts-Kapitel zu Tage tretende Apprehension der Kälte, die dem Menschen aus zum Zwecke der Abrichtung total disziplinierten Lebensordnungen entgegenschlägt, ist wohl nur noch in dem merkwürdigsten Stück Prosa Max Webers überboten worden, in der dem Chinabuch der Wirtschaftsethik der Weltreligionen folgenden „Zwischenbetrachtung“.246 Erneut ist hier von der „Rationalisierung und Intellektualisierung der Kultur“247 die Rede. In einer entzauberten Welt übernehmen die ästhetische sowie die erotische Sphäre geradezu „die Funktion einer, gleichviel wie gedeuteten, innerweltlichen Erlösung: vom Alltag und, vor allem, auch von dem zunehmenden Druck des theoretischen und praktischen Rationalismus.“248 Sie stünden damit freilich in denkbar härtes244
Ebd. S. 681. Vgl. Radkau, Joachim: Max Weber. Leidenschaft des Denkens, München/Wien 2005, S. 600 ff. 246 Vgl. RS 1, S. 536–573, insb. S. 554 ff. 247 Ebd. S. 558. 248 Ebd. S. 555. Bei einer Berliner Aufführung der ,Salome‘ von Richard Strauss ist Weber nach eigenen Angaben einer der wenigen, der Beifall klatschte. Vgl. Radkau (2005), S. 567. Einen ganz besonderen Stellenwert scheint Wagners ,Tristan und Isolde‘ für Weber zu haben. Siehe dazu Weber (31984), S. 509 f.: „Die Gefährten besuchen mit der befreundeten Musikerin M. Tobler das Festspiel in Bayreuth und neh245
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tem Gegensatz zu allem Akosmismus, zum Glauben an eine rationale göttliche Ordnung und zu jeder Art von außer- oder überweltlicher Erlösungsethik.249 Sowohl das „bewußt als Inhalt einer Religiosität gepflegte Erlösungsbedürfnis“250 als auch die mit Skepsis betrachtete „Selbstvervollkommnung zum Kulturmenschen“ sind nicht die Sache des Weberschen Menschenbildes. Besondere Aufmerksamkeit gilt der „Sonderstellung“ und dem „Sensationscharakter der Erotik“, dieser „Pforte zum irrationalsten und dabei realsten Lebenskern gegenüber den Mechanismen der Rationalisierung.“251 Gerade „auf dem Boden intellektualistischer Kulturen (. . .), wo sie mit dem unvermeidlich asketischen Einschlag des Berufsmenschentums zusammenstieß“, musste sich die „letzte Steigerung des Akzents der erotischen Sphäre“ vollziehen. Ihre „innerirdische Erlösungssensation“, allem „Sachlichen, Rationalen, Allgemeinen so radikal wie möglich entgegengesetzt“, gründe in der „Grenzenlosigkeit der Hingabe“, in der „Unergründbarkeit und Unausschöpfbarkeit“, der Inkommunikabilität, nicht nur der Intensität des Erlebnisses252, sondern „der unmittelbar besessenen men auch die Schönheit von Bamberg und Würzburg mit. Weber äußert: „Ich möchte gern den großen Hexenmeister in Begleitung einer uns befreundeten Pianistin nochmals in möglichst guter Aufführung kennen lernen, da ich ein sehr zwiespältiges Verhältnis zu ihm habe. Neben großer Bewunderung des Könnens diese Aversion gegen vieles Unechte und Gemachte. Nun möchte ich sehen, was überwiegt.“ – Bayreuth und der Parsifal waren eine Enttäuschung. Spiel blieb Spiel. Manches in der Musik mutete als leere Süße oder als unreinliches Gemisch von Sinnlichkeit und christlicher Symbolik an. Sie versanken nicht einen Augenblick in die Andacht einer gottesdienstlichen Handlung, wie doch bei den Meisterwerken von Bach, Beethoven, Liszt. – Zwingend war dagegen die künstlerische Wahrheit und Größe des Tristan, den sie in München sahen. Nicht zum erstenmal, die Gefährten hatten ihn als junges Ehepaar schon in Berlin gehört, aber mit tauben Ohren – ja in Begleitung eines unmusikalischen Vetters, der sichtlich litt, hatten auch sie sich ernstlich gelangweilt. Inzwischen war ihre künstlerische Aufnahmefähigkeit allseitig entwickelt, und die befreundete Musikseele hatte das Verständnis des Werkes meisterlich vorbereitet. – So wurden sie ganz in seine Ekstase hineingerissen. Sie empfanden dies Kunstwerk als höchste Verklärung des Irdischen.“ Ausgerechnet der ,Tristan‘ sollte Weber als „höchste Verklärung des Irdischen“ erschienen sein? Denkt man an die Worte des Pathetikers Tristan: „Nirgends, ach nirgends find’ ich Ruh’: mich wirft die Nacht dem Tage zu, um ewig an meinem Leiden der Sonne Augen zu weiden“ (III, 1), so drängt sich die Vermutung auf, Max Webers heroischer Dezisionismus sei, ganz im Sinne Nietzsches, eine „zweite Natur“, die sich über einen Pessimismus schopenhauerischer Prägung gelegt habe. Bedenkenswert sind auch die Beziehungen, die der sozio-erotische Aspekt im Staatsverständnis Webers zu Richard Wagners ,Ring‘-Tetralogie als politisches Drama unterhält. Zum neidischen Diktator wird Alberich ja erst nach seiner erotischen Demütigung, und der Göttervater Wotan gerät ins Unglück, weil er sich darauf einlässt, in einem Zustand der Furcht und Lieblosigkeit soziale Beziehungen in Verträgen zu zementieren. Zu Webers Verhältnis zu Wagner siehe Radkau (2005), S. 566 ff. 249 Von „Postulaten der rationalen religiösen Ethik“ hält Weber nicht eben viel. Siehe dazu RS 1, S. 570 f. 250 Ebd. S. 567. 251 Ebd. S. 558 f. 252 Ebd. S. 560.
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Realität“253. Diesem Wirklichkeitscharakter nach wisse sich „der Liebende in dem jedem rationalen Bemühen ewig unzugänglichen Kern des wahrhaft Lebendigen eingepflanzt, den kalten Skeletthänden rationaler Ordnung ebenso völlig entronnen wie der Stumpfheit des Alltages.“254 Hier ist nun die das Gewebe der kühlen Betrachtungsweise Webers zusammenhaltende forcierte Nüchternheit einmal gesprengt, und in äußerstem Degout verrät Weber, was er von der modernen Lebenswelt und ihrem Prägewerk hält: sie ist abstumpfende Gewohnheit und nach den letzten Lebensführungschancen der Einzelseele tastende Knochenhand. Politik, verstanden als Abhängigkeitsverhältnis von Führenden und Geführten, wird mit dem Anspruch belegt, „innerweltliche Erlösung“ von Rationalisierungstendenz und Alltagsabstumpfung zu sein. Zu diesem Zweck scheinen viele Mittel recht, denn die tragische Verschuldung ist einkalkuliertes, ja gewolltes Risiko. Alle „karitative“ Betätigung gegenüber politischen Anhängern ist zugleich immer ein unumgängliches Schuldigwerden; darin besteht die Tragik des Politischen. Doch ist diese Tragik im Sinne Nietzsches durchaus gewollt; sie entspricht dem Unwillen gegenüber der Verständigung und dem Zustand der Harmonie, dem Willen zum Kampf und zum treibenden Risiko der Absturzgefahr jedes Handelns. *** Es ist vielfach beklagt worden und man hat sich oft darüber gewundert, dass Fragen der Staatsform Max Weber offenbar wenig interessierten255; immer gehe es nur um den Machtcharakter von Staat und Politik, um Obödienzverhältnisse und Motive der Fügsamkeit. Weber, so lässt sich dieser Kritik entgegnen, ist sich sehr wohl dessen bewusst, dass „Herrschaft“ – als die Chance, für einen Befehl konkreten Inhalts bei bestimmten Personen Gehorsam zu finden256 – nicht das einzige Wesensmerkmal des Staates ist.257 Aber er rückt dieses eine Merkmal idealtypisch in den Vordergrund, weil es ihm auf die persönliche oder unpersönliche Beziehung von (potenziell) „Befehlenden“ und „Gehorchenden“
253 Ebd. S. 561. Erinnert sei an die leidenschaftlichen Ausrufe der Liebesnacht in Tristan und Isolde (II, 2): „Selbst dann bin ich die Welt“. 254 Ebd. 255 Stellvertretend siehe Sternberger, Dolf: Max Webers Lehre von der Legitimität. Eine kritische Betrachtung, in: Macht und Ohnmacht des Politischen. Festschrift zum 65. Geburtstag von Michael Freund, hg. v. Wilfried Röhrich, Köln 1967, S. 111–126, insb. S. 120: „Von allen sonstigen Schwierigkeiten abgesehen, die uns die Webersche Typenlehre bereitet (. . .): ihr größter und verwunderlichster Mangel liegt darin, daß die gesamte Dimension der Zivilität, des Bürgerlichen oder des eigentlich und buchstäblich Politischen ausfällt Sie kommt einfach nicht darin vor.“ 256 WuG S. 28 und 122. 257 Vgl. GPS S. 506.
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ankommt.258 Aus diesem Grund wird die extreme Zuspitzung des Staates auf Herrschaft gewählt; der Idealtypus steht im Dienste eines speziellen „Wertinteresses“. „Legitimität“ kann folglich bei Weber immer nur die personale Wechselprägung meinen, die in (subjektiv) anerkannter Autorität liegt. Der alte Teil von Wirtschaft und Gesellschaft, gelesen vor dem Hintergrund insbesondere der „Zwischenbetrachtung“ des ersten Bandes der Religionssoziologie, stellt es klar vor Augen259: rational-legale sowie traditionelle Herrschaft sind – in Anbetracht des modernen Staates und des Weberschen Menschenbildes, seiner Hoffnungen für die Entwicklungen des Menschentums – Typen der Pseudo-Legitimität, und nur das Charisma ist wirklich anzuerkennender Legitimitätsgrund. Der gesteigerten Rationalisierung kann man nicht entrinnen, also muss die einzige Hoffnung auf ein wenig Verzauberung des Staatslebens auf den Charismatiker setzen. Diese Theorie der politischen Führungspersönlichkeit, kommentiert Rudolf Smend kritisch, erwarte vom politischen Zauberer alles, von den zu Führenden wenig.260 In der Betonung des charismatischen Legitimitätsgrundes liege eine Herabwertung der Gefolgschaft, ja der gesamten Staatsbürgerschaft zur bloßen Herde. Über den Cäsarismus Bismarcks mochte Weber sich empören, selbst aber forderte er einen ähnlichen politischen Heroismus, nur nicht mit der „Schlauberger-Attitüde“ des den eigen Vorteil suchenden Staatsmannes, sondern versehen mit sowohl Vertrauen als auch Begeisterungsfähigkeit weckender Führungsqualität. Nach Webers Urteil gibt es folglich nur die eine Wahlmöglichkeit: Führerdemokratie mit Parteimaschine oder Bürokratisierung, Amtsbesitzkämpfe, Pfründensumpf und Herrschaft des „Klüngels“.261 Ethisch ausdeutbar wird der Staat als zu einem Großteil anstaltsmäßig organisierter Herrschaftsverband nur, wenn seine Unpersönlichkeit vergessen gemacht wird in der Nicht-Alltäglichkeit innerer Anteilnahme an dem Aufstieg charismatisch herausstechender Berufspolitiker, den politischen Könnern und virtuosi, ihrer Beherrschung des ausdifferenzierten Apparates und der Herstellung des „Legitimitätsglaubens“. Der Blick für die Hingabe an die Sache seitens der politischen Führungspersönlichkeit sowie die Hingabe der Gefolgschaft an den Charismatiker auf Grund dessen Liebe zur Sache und – in dem Bewusstsein, von ihnen getragen zu werden – zu seiner Gefolgschaft, den von ihm geführten, geförderten und beschützten Menschen, sowie die Erwägung der „inneren Lage“ dieser wechselseitigen Hingabe als Legitimitätsgrund bedeutet die 258 1908 schreibt Weber an Robert Michels: „Jeder Gedanke, (. . .) durch noch so ausgetüftelte Formen der ,Demokratie‘ die Herrschaft des Menschen über den Menschen zu beseitigen, ist eine Utopie.“ Zitiert nach Mommsen, Wolfgang J.: Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, Tübingen 21974, S. 392. Vgl. auch WuG S. 157 und GPS S. 544. 259 Siehe erneut WuG S. 677 und 681. 260 Siehe erneut Smend (31994), S. 143. 261 GPS S. 544, vgl. WuG S. 156 f.
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leidenschaftliche Hinwendung zu einem politik-soziologischen Naturalismus. Innerhalb eines konsequenten Immanenzdenkens muss diese Art des Heroismus, der Verantwortung bis zum Martyrium, ja der Todessehnsucht im Falle des Scheiterns, als die wohl kräftigste Form persönlicher „Beseelung“ immer mehr als „anethisch“ empfundener Lebensordnungen erscheinen.262 *** Inkurs 4: Dualismus als „erziehliches“ Mittel „Fleeing the iron cage“263 – das Charisma gilt Weber als ein Mittel immanenter Befreiung aus dem „stahlharten Gehäuse“, aus den „Skeletthänden“ rational-disziplinierter Ordnungen. Er ist sich aber darüber klar, dass die charismatische Herrschaft in ihrem reinen Zustand „in einem ganz spezifischen Sinne labil“ ist. Alle ihre „Alterationen“ und letztlich der Verlust ihres sozioerotischen „Sensationscharakters“ haben dieselbe Quelle: „Normalerweise der Wunsch des Herrn selbst, stets der seiner Jünger und am meisten die Sehnsucht der charismatisch beherrschten Anhänger geht überall dahin: das Charisma und die charismatische Beglückung der Beherrschten aus einer einmaligen, äußerlich vergänglichen freien Gnadengabe außerordentlicher Zeiten und Personen in ein Dauerbesitztum des Alltags zu verwandeln. Damit wandelt sich aber unerbittlich der innere Charakter der Struktur.“264 Im alten Teil von Wirtschaft und Gesellschaft denkt Weber über das Charisma als Gegenstand der Erziehung nach, erwägt Möglichkeiten, charismatische Befähigung zu wecken und zu erproben.265 Im Bereich des Politischen ist ihm das Staatsrecht zweckrationale, formale Erziehungsweise und „erziehliches“ Mittel, Führungspersönlichkeiten auszulesen. Die plebiszitäre Bestimmung des Staatsoberhauptes, die möglichst zu befördernde Spannung zwischen Reichspräsidenten, Kanzler, Wahlgesetz und parlamentarischer Geschäftsordnung – immer geht es um die Anregung des „alten asketischen Mittel[s] zur Weckung und
262 Folglich hat, worauf Eden (1983) aufmerksam macht, Max Webers politisches Menschenbild mit einer Reihe zusammenhängender Schwierigkeiten zu kämpfen: mit der Schwierigkeit, Demokratie und Institutionen der Ära des bürgerlichen Liberalismus zu verteidigen „in the absence of liberal beliefs and principles“ (ebd. S. 177, vgl. auch 209); mit der Konfusion, Politik als eine Art Rechtsverwirklichung zu begreifen, doch zugleich politisches Handeln als effektive Führung auch in dem genauen Gegenteil dieser Art von Politik zu erkennen (vgl. ebd. S. 186 f.); schließlich Politik zur Glaubenssache zu erklären, das unausweichliche Risiko der Verschuldung zum Zentrum des politischen Berufslebens zu machen, „to heighten anxiety and evoke solicitude for moral forces“ (ebd. S. 193). 263 So der Titel des Weber-Buches von Lawrence A. Scaff. 264 WuG S. 661. 265 Siehe erneut WuG S. 677.
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Erprobung charismatischer Fähigkeit“266, nämlich des Dualismus eines Kampfes sich gegenseitig ausschließender Werthaltungen und der Vertrauens- und Abhängigkeitsbindung von Führer und Geführten, Befehlenden und Gehorchenden, Berufenen und Berufenden, von Bewährung und Scheitern. Es geht darum, den Einzelnen hineinzuzwingen in die politische Ordnung, ihn an Risiken und Verantwortung zu beteiligen. Das Leben in dieser politischen Ordnung gilt es sogar künstlich inneren und äußeren Risiken auszusetzen, Stabilität und Stetigkeit bewusst zu gefährden, den Kampf also durch institutionelle Vorkehrungen nicht auszuschließen, sondern ihn zu provozieren.267 Vor mehr als vierzig Jahren hat Raymond Aron Zweifel geäußert, ob die von allen Illusionen angeblich gereinigte Grundposition in Webers Denken tatsächlich einer „Wirklichkeitswissenschaft“ entspringe, einer Wissenschaft also, die nach Webers eigenem Dafürhalten die „uns umgebende Wirklichkeit des Lebens (. . .) in ihrer Eigenart“268, das heißt so zu verstehen und zu erkennen versucht, wie sie ist, nicht wie man sie haben möchte – oder ob nicht vielmehr dem Denken Webers eine „pessimistische Verzeichnung der Wirklichkeit“ eigentümlich sei, die einer Sicht der Welt entspringe, welche die Wirklichkeit so zu sehen neige, „wie man fürchtet, daß sie sein könnte“269. Arons Vermutung wird darin bestärkt, dass Webers Rationalisierungs- und Entseelungs-These, die Konstatierung des „stahlharten Gehäuses“ und die Ausrufung der Chancenlosigkeit des Glücks an die stillschweigend sinnverkehrende Verwendung des Dante-Wortes gebunden sind, dessen ursprünglicher Sinn Weber sicherlich geläufig war. „Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate“ lautet der letzte Vers der Inschrift nicht etwa über der Pforte der Zukunft, sondern über dem Eingang zur Hölle.270 Es ist, als ob Webers Weltbild Dantes Gedicht rückwärts lese, gleichsam „vom Himmel durch die Welt zur Hölle“.271 Aus dieser Richtung ist die Frage Otto Brunners aufzugreifen, welche Gegebenheiten der europäischen Geschichte es gewesen seien, aus denen der Durch266
Ebd. Vgl. Hennis (1987), S. 235. 268 WL S. 170. 269 Aron, Raymond: Max Weber und die Machtpolitik, in: Max Weber und die Soziologie heute. Verhandlungen des 15. Deutschen Soziologentages, hg. v. O. Stammer, Tübingen 1965, S. 104. 270 Hinweis bei Mandt (1974), S. 256. 271 Dass Goethe die Arbeits- und Planwelt der Gewimmel-Fantasie krisenphänomenologisch als eine Art „Hölle auf Erden“ dargestellt hat, kommt Webers ganz anders gearteter Auffassung sehr entgegen; er liest Fausts Schlussmonolog als positive, willensstarke Antwort Goethes auf den anzuerkennenden Geschichtsprozess, sozusagen als Affirmation des Helden ethisch (d. h. für Weber doch immer heroisch) ausgedeuteter Berufsarbeit. Die verschämte Idololatrie macht aus dem Schreckensmann Faust einen tragischen Helden im Sinne Nietzsches, den Heros des Materialismus, der noch mit seiner letzten Kraft danach strebt, große Werke zu vollenden. 267
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bruch zur modernen Welt erfolgen konnte.272 Welche Situation oder welches Moment beförderte den Trend zur Rationalisierung oder Säkularisierung? Die Antwort, jedenfalls wenn man Nietzsche und Weber folgt, liegt in dem opaken Gedanken an ein Jenseits, dem trennenden Dualismus von transzendentem Gott und sündhafter Welt, der in rastloser Tätigkeit verdrängten Sorge um das Seelenheil, d. h. in den im praktischen Leben auszuhaltenden religiösen Glaubensvorstellungen, dem Grübeln über abstrakten Dogmen und den daraus entspringenden psychologischen Antrieben zum entschlossenen Handeln in der Welt.273 Die auf das weltliche Berufsleben übertragene christliche Askese half, den Kosmos der modernen technischen und ökonomischen Welt mit ihrer an mechanisch-maschinelle Produktion gebundenen Wirtschaftsordnung zu erbauen.274 Das Moment, welches den Trend zur Rationalisierung beförderte, kann in dem doppelten Paradoxon erblickt werden, dass 1. ein vom Glücks- und Nützlichkeitsstandpunkt aus gesehen „irrationaler“ Antrieb die Ankultivierung einer verhältnismäßig „rationalen“ Lebensführung verlangte, und dass 2. die ursprünglich das Kreatürliche und allen Genuss ablehnende Askese mithalf, eine nur noch immanente Güterwelt zu erbauen, die in zunehmender Weise Macht über den Menschen gewann. Aus der Methodik rationaler Lebensführung ist, wie Weber feststellt, inzwischen aller charismatische Geist gewichen. Die Entzauberung der Welt meint, dass die einst durch charismatisch beseelte Rationalität geschaffenen Ordnungen entpersönlicht, „anethisch“ geworden sind. Aus dieser historischen Situation, diesem „So-und-nicht-anders-Gewordensein“, erfolgt nun aber die von Weber erwogene „Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale“. Im Gegensatz zu dem Puritaner, der Berufsmensch sein wollte, müssen wir es nun sein. Die Berufspflicht wieder mit religiösem Glaubensinhalt zu füllen, dazu sieht der „religiös Unmusikalische“275 sich nicht befähigt. Aber um das asketische Gepräge der Berufsarbeit von der Stillosigkeit wieder in Stil zu verwandeln276, muss die gegenseitige Bedingtheit von „Entscheidung“, „Tat“ und „Entsagung“ als die Voraussetzung wertvollen Handelns überhaupt dem Menschen zu Bewusstsein gekommen sein. „Geist“ kann der Askese nur wieder eingehaucht werden, wenn der Mensch sein Verwiesensein auf die in Immanenz zu treffende existenzielle Entscheidung zwischen widerstreitenden Werten akzeptiert. Vgl. Brunner (21968), S. 79. Vgl. RS 1, S. 86. 274 Vgl. ebd. S. 203. 275 Brief Webers an Ferdinand Tönnies. Siehe Baumgarten (1964), S. 670. 276 RS 1, S. 203. Vgl. KSA 3, S. 530: „Seinem Charakter ,Stil geben‘ – eine grosse und seltene Kunst! Sie übt Der, welcher Alles übersieht, was seine Natur an Kräften und Schwächen bietet, und es dann einem künstlerischen Plane einfügt, bis ein Jedes als Kunst und Vernunft erscheint und auch die Schwäche noch das Auge entzückt. Hier ist eine grosse Masse zweiter Natur hinzugetragen worden, dort ein Stück erster Natur abgetragen: – beidemal mit langer Uebung und täglicher Arbeit daran.“ 272 273
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Die Gegenüberstellung von einsam gelassenem Menschen und durch ihn ethisch nicht mehr ausdeutbarer Lebensordnungen wird zur immanenten Neukonstruktion des Dualismus von unergründlichem Gott und gnadenbedürftiger Welt. Aus diesem durch den alten Dualismus und den ihm geschuldeten Antrieben der Lebensführung erzeugten neuen Dualismus sollen wieder Funken asketischen Charismas geschlagen, das Müssen in ein Wollen gewendet werden.277 Nachdem die religiöse Praxis der calvinistischen Ethik vom relativ irrationalen Welt- und Gottesbild zur relativ rationalen Methodik der Lebensführung geführt hat, soll nun die nüchterne Konstatierung entpersönlichter, rational-disziplinierter Lebensordnungen die innere Aufnahmebereitschaft vergleichsweise irrationaler Wertbeziehungen herbeiführen. Der dem inhumanen, pathetischen Gottesbild geschuldeten Askese folgt die Askese des sittlich-einsamen, heroisch-übersteigerten Menschenbildes. Kaum überraschend, dass Weber sich mit der perfektibilistischen Faust-Deutung Bielschowskys einverstanden erklärt.278 Die doch mit Nietzsche als ein Verhängnis empfundene innerweltliche Askese279 wird gleich durch ein eigenes asketisches Ideal verlängert, das sich in seinem Pathos nicht minder nihilistisch ausnimmt.280 *** Aus Rudolf Smends Perspektive wäre es falsch zu sagen, Webers Lehre habe die politische Charakterlosigkeit des nationalsozialistischen Führungskorps unmittelbar produziert. Aber diese Lehre, so Smends Einschätzung, verstärkte die ohnehin vorhandene ethische Skepsis, Zurückhaltung und beinahe nihilistische 277 Der Dualismus und das entschiedene tertium non datur, die den Kampf des Lebens fortwährend anregende konfessionalistische Haltung, ist für Max Weber die kulturbildende Kraft schlechthin. Vgl. etwa WuG S. 314 ff., RS 1, S. 246 f. und 571 ff. Man vergegenwärtige sich nur sein belächelndes Erwähnen des Festhaltens an der unio mystica seitens der Lutherischen Lehre: RS 1, S. 106 f. und 133. 278 Vgl. RS 1, S. 203 Anm. 1 und Bielschowsky, Albert: Goethe. Sein Leben und seine Werke, München 1904, Bd. 2, S. 513 ff. 279 Vgl. KSA 5, S. 392. 280 Es mag unzutreffend sein, Max Weber als Nihilisten pur sang zu bezeichnen. Doch bezieht er die Drohungen des Nihilismus immer schon in seine Kalkulation mit ein. Webers Persönlichkeitsideal ist so stark ausgeprägt, weil er immer schon mit Abdankung und Auflösung des Subjekts und dem Abgrund des Nihilismus rechnet. Die „Perversität“ dieses Denkens vom Menschen besteht darin, das Drohen der Nullität zur Erzeugung einer modernen Pathetik zu benutzen – von Gott zwar, wenn auch noch nicht von allen guten Geistern verlassen. Vgl. KSA 3, S. 549 f., einen Passus in Nietzsches Werk, der Weber wohl unbekannt geblieben ist. Das Buch „Sanctus Januarius“, das vierte der Fröhlichen Wissenschaft, spürt in einem „Rückblick“ – also kraft des Reflexionsideals, von dem Nietzsche sich niemals ganz gelöst hat – der Verwechslung von Ethos und Pathos nach: „Wir werden uns des eigentlichen Pathos jeder Lebensperiode selten als eines solchen bewusst, so lange wir in ihr stehen, sondern meinen immer, es sei der einzig uns nunmehr mögliche und vernünftige Zustand und durchaus Ethos, nicht Pathos – mit den Griechen zu reden und zu trennen.“
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Ablehnung der Deutschen dem Staat gegenüber. Weber habe seinen Zeitgenossen beibringen wollen, dass der bislang das öffentliche Leben beherrschende Typus der Behördenarbeit, die stille, herkömmliche und problemlose Arbeitsund Gesinnungsethik des Beamten, endgültig passé sei; es gelte nun, einen neuen Typus des politischen Menschen zu prägen. Aber der Inhalt der Weberschen Thesen sei stets der alte geblieben: der Staat sei dadurch gekennzeichnet, dass er legitime physische Gewaltsamkeit als Mittel seiner Herrschaft monopolisiert habe und dass Politiker von Berufs wegen zu sein bedeute, „in eigentümlich heroischer Weise das Opfer seiner Seele zu bringen“281. Denn politischsachliche Richtigkeit und Sittlichkeit sind für Weber niemals in Einklang zu bringen. Webers Immanenzdenken hat kein Wissen von „Aufgegebenheit“ und „Gerechtigkeit“; alle Hingabe an Menschen und sachliche Ziele sind in geradezu übermenschlicher Anstrengung „aus der eigenen Brust zu schöpfen“282. Es ist dieses heroische Opfer und die Dämonisierung des Politischen, die Rudolf Smend missfallen mussten. Auf seinen Widerwillen stößt somit auch die in Webers Rationalisierungsund Bürokratisierungsthese enthaltene Behauptung der „Entzauberung der Welt“ und das hieraus mit verzweiflungsvoller Logik gefolgerte „Wertwahl“- und „Kampf“-Leitmotiv des Weberschen Menschenbildes. Die Überzeugung, dass ein schreckliches Entweder-Oder unser Schicksal sei – seine Seele rein zu halten oder Politiker zu werden –, dass die „Forderung des Tages“ für den Politiker darin bestehe, dem Dämon des Politischen moralische Frömmigkeit zu opfern, die darin liegende Tragik und die heroisch auf sich genommene Einsamkeit altruistischer Tugenden und Leistungen des Charismatikers – Smend sieht hier ein politisches Weltbild, bevölkert von „heroisierenden Standbildern“, ausgesprochen in dem „schwülen Ton“, der „aus der Welt Richard Wagners und Wilhelms II. kommt.“283 Deutlich vernehmbar ist diese Abneigung Smends gegen die Implikationen der „politischen Erfolgsethik“284 Max Webers in dem die Erlebnis-Rede von 1943 und den Institutionen-Aufsatz von 1956 rekapitulierenden Text Politisches Erlebnis und Staatsdenken, veröffentlicht 1957 in der Zeitschrift ,Gesellschaft – Staat – Erziehung‘. Im deutschen politischen Denken bestehe von jeher die Gefahr, „den Menschen dem Staat gegenüber isoliert zu sehen“ und „ihn dabei auch sittlich einsam zu lassen.“ Sittlich einsam, das heißt hineingestellt in entpersönlichte Ordnungen. So bei Max Weber „in der Schilderung des politischen Menschen in der Einsamkeit seiner besonderen Tugenden und seiner besonderen, tragischen Verantwortungsethik, und damit zu-
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Smend (31994), S. 375. RS 1, S. 451. Smend (31994), S. 551 f. Ebd. S. 379.
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gleich in der Inanspruchnahme heroischer, altruistischer Tugenden und Leistungen, die uns gar nicht naheliegen.“285 Bereits auf den ersten Seiten von Verfassung und Verfassungsrecht schreibt Smend: Staat und Politik erschienen bei Weber als „in sich geschlossene, eigengesetzliche Schicksalsmächte“, die den Menschen, der ihnen als „Objekt“ gegenüber stehe, „heteronom“ in ihre „immanente Teleologie“ hineinzögen, und damit in die „unlösliche Antinomie von Kratos und Ethos“.286 Der Hunger nach Realität, nach real besessenen Momenten der Lebenserfüllung – und bestünden diese auch in Schmerz und Schuld – bemächtigt sich gegebener Kulturmechanismen. Das institutionelle Staatsgebäude ist ästhetischer Art, klug eingesetzt werden (im Sinne politologischer phronesis) kann es zu sozio-erotischen Zwecken, um vermeintlich „karitative“ Verantwortung für andere zu übernehmen, und dabei kann es nicht ausbleiben, dass der selektiv-karitativ Handelnde an anderen schuldig wird; dies muss er zu tragen lernen. Ein moderner Begriff des zwangsläufig Tragischen liegt hier zu Grunde, der in der Handlungsfreiheit und mühsam zu erobernden Machtvollkommenheit des Menschen das absolute Maß, einen heroischen Letztwert sieht, um dessentwillen das Leben insgesamt, auch das Leiden und die tragische Katastrophe, zu bejahen ist.287 Max Webers Anthropologie begeht in Rudolf Smends Augen den Fehler, den Menschen aufzufordern, ein starkes Selbst zu werden unter Aufgabe jedes Bezugs auf Transzendenz und Unendlichkeit. Die Furcht vor der eigenen Banalität und Nichtigkeit bringt aber – geradezu als tragische Notwendigkeit – die Tendenz zur menschlichen Hybris mit sich. 2. Exkurs: Die Umdeutung des Charisma – Eine Weiterbildung der Weberschen Legitimitätstypen Ein wenn auch hier nur ansatzweise zu imaginierender staatstheoretischer Streit zwischen Rudolf Smend und Max Weber (hätte Letzterer länger gelebt) wäre wohl am Amtsgedanken entbrannt; an der Frage nach der Dignität höchster verfassungsmäßiger Institutionen sowohl als auch an der nach der Bedeutung des Staatsbürgers hinsichtlich der republikanisch-demokratischen Staatsform. In 285
Smend (1957), S. 319. Smend (31994), S. 122. 287 Im Gegensatz zur offenen Tragik der platonischen Gesprächsszenarien, ist die Tragik Max Webers eine geschlossene Tragik, die mit ihrer rigoristischen Anschauung, aus „Bösem“ könne sehr wohl „Gutes“ hervorgehen (vgl. GPS S. 554), stark dem diabolischen Freiheitsbegriff des ,Faustus‘-Romans Thomas Manns ähnelt. In der Religionspsychologie des Privatdozenten Eberhard Schleppfuß (vgl. GW 6, S. 133 ff.) sowie in dem im Zentrum des Romans liegenden Teufels-Gespräch (ebd. S. 294 ff.) erscheint Freiheit stets als die „Freiheit zu sündigen“ (ebd. S. 137) und das „Gute“ folglich als Verkürzung dieser Freiheit, während die platonische Eudaimonie die menschliche Freiheit in umgekehrter Weise als Freiheit zum „Guten“ erachtet. 286
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der Erlebnis-Rede von 1943 spricht Smend von einer „inneren Folgerichtigkeit“ des Weberschen Denkens, der die Konzentration auf den Machtcharakter von Staat und Politik durchaus nicht entsprechen wolle.288 Was hat es damit auf sich, auf welchen Aspekt und welche Art „richtiger“ Folge spielt Smends Kritik an? Es empfiehlt sich, nochmals einen differenzierten Blick auf das Webersche Charisma zu werfen, dort, wo es eingebunden wird in den Staatsformen gewidmeten Überlegungen. Bedeuten Wahl und demokratische Verantwortung immer nur eine Formalisierung und damit – aus Webers Perspektive – Einebnung und letztlich Austrocknung des Charisma? Sofern das Staatsrecht ihm nur „zweckrationales“ Mittel zur Anregung vergleichsweise „irrationaler“ personenhafter Beziehungen ist, interessiert Weber sich wenig für die Selbstzweckhaftigkeit verfassungsrechtlich angeregter Vorgänge. Überall neigt er dazu, gleich die „Skeletthände“ des Rationalisierungsprozesses am Werk zu sehen, anscheinend ohne beides, Rechtsordnung und (charismatische) Amtsverantwortung mit freiem Vertrauensverhältnis, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, denken zu können. Indem an die Stelle der persönlichen Autorität eines Charismatikers ein regelgebundener Mechanismus zur formalen Ermittlung gesetzt werde, trete unvermeidlich die sogenannte „Versachlichung des Charisma“ ein289, seine Umbiegung ins Institutionelle.290 Für diese historischen Verschmelzungen und Verquickungen scheint Webers Darstellung keine besondere Sympathie zu hegen; er ist in Sorge um den Reinheitszustand des Charisma. In den meisten Fällen unvermeidlich sei das „Bündnis mit der Tradition“, bei dem es freilich seinen in status nascendi noch vorhandenen revolutionären Charakter einbüße.291 Die Institutionalisierung des Charisma wird mit seiner Versachlichung gleichgesetzt, die folgendermaßen vor sich gehen kann: Die streng personengebundenen Fähigkeit und Gnadengabe wird zu einer Qualität, die durch einen mehr oder weniger festgelegten und ritualisierten Akt übertragbar, persönlich erwerbbar oder, anstatt an eine konkrete Person, an ein Amt geknüpft ist. Weber gibt zu bedenken, dass gerade diese letzte Form des „Hineinströmens des Charisma in den Alltag, seine Umwandlung in ein Dauergebilde, die tiefgreifendste Umgestaltung seines Wesens und seiner Wirkungsart“ bedeute.292 Zum Amtscharisma gehört für Weber die „künstliche, magische Uebertragung“: die „Manipulationen der Bischofsweihe, die durch die Priesterordination erworbene, unvertilgbare charismatische Qualifikation, die Bedeutung der Krönung und Salbung der Könige“. Weber führt hierzu aus: „Weniger das an sich 288 289 290 291 292
Siehe erneut Smend (31994), S. 358. WuG S. 657. Vgl. ebd. S. 661. Vgl. ebd. S. 662. Ebd. S. 671.
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meist zur Form gewordene Symbol als solches ist praktisch wichtig, als der in vielen Fällen damit verbundene Gedanke: die Verknüpfung des Charisma mit der Innehabung eines Amtes – in welches die Handauflegung, Salbung usw. einführt – als solchen.“ Denn hier liege der Übergang zur Institutionalisierung des Charisma, „seine Anhaftung an ein soziales Gebilde als solches, als Folge der an die Stelle des charismatischen persönlichen Offenbarungs- und Heldenglaubens tretenden Herrschaft der Dauergebilde und Traditionen.“293 Webers Akzent liegt demnach gerade nicht auf der sogenannten „Manipulation“, dem Ritual der „magischen“ Übertragung, nicht auf der symbolischen Dimension dieses Vorgangs, sondern immer schon auf der Kausalität von Zweck und Mittel sowie der befürchteten Stetigkeit und Veralltäglichung. Weber kennt das Ritual, das Symbol, aber nur noch, um eine Formulierung C. G. Jungs zu gebrauchen, als „den leeren Beutel (. . .), in dem einst das längst verflogene Gold lag.“294 Weber begreift das Rituelle nicht als Hervorbringung eines (religiösen) Grunderlebnisses, sieht es nicht in seinem Bezug zu und seiner Ausdruckskraft von „höheren Ordnungen“295, sondern verdächtigt in ihm einen sozialen Mechanismus, der allenfalls noch verflachte Erlebnisgehalte auszulösen weiß. Dolf Sternberger hat sich in seinen kritischen Betrachtungen der Legitimitätstypen darüber verwundert, dass Weber die Demokratie in einer Art Anhang zu dem Kapitel über Charisma abhandle.296 Demokratie erscheine hier geradezu als ein Vexierbild des Charisma, nämlich als dessen Umkehrung oder Umdeutung.297 Was Sternberger so erstaunt, ist, dass die demokratische Staatsform bei Weber als „ein Verfahren der Umdeutung des charismatischen Legitimitätsprinzips in antiautoritärem Sinne oder vielmehr das Ergebnis dieser seltsamen Art der ,Umdeutung‘“298 erscheint. Die eigentliche Demokratie ist aber an dieser Stelle des jüngeren Teils von Wirtschaft und Gesellschaft nicht bloß „eine Art von verdrehtem Nebenprodukt des charismatischen Führertums“, wie Sternberger meint299, wenigstens braucht eine Rezeption der angezogenen Passage nicht dabei stehen zu bleiben. Weber schreibt, die charismatische Autorität ruhe „in der Tat gänzlich auf der durch ,Bewährung‘ bedingten Anerkennung durch die Beherrschten“. Erinnert
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Ebd. S. 674. Jung, Carl Gustav: Mysterium Coniunctionis. Untersuchungen über die Trennung und Zusammensetzung der seelischen Gegensätze in der Alchemie. Bd. 1, Zürich/Stuttgart 1955, S. 187. 295 Siehe erneut Smend (31994), S. 369. 296 Vgl. Sternberger (1967), S. 116. 297 Vgl. WuG S. 155 f. 298 Sternberger (1967), S. 116. 299 Ebd. 294
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sei an die entsprechende Stelle aus dem alten Teil von Wirtschaft und Gesellschaft, an der es heißt, der genuin-charismatische Herrscher sei den Beherrschten verantwortlich.300 Bei zunehmender Rationalisierung des Staates als Herrschaftsverband sei aber diese Anerkennung der Beherrschten gegenüber den charismatischen Gaben des Führers nicht länger pflichtmäßig zu nennen. Die Anerkennung ist nicht mehr Folge der Legitimität kraft Charisma, sondern sie wird nun zum eigentlichen – stillschweigend vorausgesetzten – Legitimitätsgrund. Die „demokratische Legitimität“, so lässt sich diese Stelle deuten, die einzige, in der Weber substanziellen Einblick in seine Auffassung der Demokratie als Staatsform zulässt, verlegt das Charisma in die Beherrschten, das heißt also: in die Wähler und Staatsbürger. Legitimität leitet sich dann – und zwar nicht länger nur formal-demokratisch – aus dem freien Vertrauen der Staatsbürger ab. Der Berufspolitiker der Demokratie ist nicht mehr „Herr kraft Eigencharisma“, sondern formal wähl- und absetzbarer „Herr von Gnaden der Beherrschten“.301 Ein genuin demokratischer Amtsgedanke setzt politischen Willen und Verantwortung bei den ins Amt Berufenen sowohl als auch bei den in das Amt Berufenden voraus. Es ist der Grundstock zu dem Gedanken eines qualitativ bestimmten Staatsbürgertums, den Weber hier andeutend entwickelt. Der Schweizer Staatsrechtler Max Imboden sieht hier die Möglichkeit einer Weiterbildung der Lehre Webers302, indem er zunächst dessen Typen der Legitimität als Gründe sozialer Autorität rekapituliert: 1. Die legale Herrschaft ist streng normbezogen. Die Gehorsamspflicht gilt der verallgemeinerten Verhaltensregel, dem durch seine rationale Zweckmäßigkeit begründeten Gesetz. Die Sicherstellung erfolgt durch eine auf Sachlichkeit verpflichtete Bürokratie. 2. Die traditionelle Herrschaft ist primär nicht norm-, sondern personenbezogen. Die Gehorsamspflicht gilt privilegierten Personen, deren Befugnisse jedoch nicht unbeschränkt sind. Der Inhalt ihrer Befehle ist an ein Herkommen gebunden. Die Verletzung des Herkommens durch den Herrn würde die Herrschaft gefährden. 3. Die charismatische Herrschaft beruht auf Teilhabe an einer Heilslehre. Der Gehorsam gilt einer Person und ihrer Gnadengabe, die zu affektueller Hingabe verpflichtet. Nicht abstrakte Kompetenz, nicht persönliches Privileg, 300
Vgl. ebd. S. 656. Alle Zitate WuG S. 156. Erinnert sei nochmals an Webers Äußerung über Demokratie gegenüber Ludendorff: „Nachher kann das Volk richten – hat der Führer Fehler gemacht – an den Galgen mit ihm!“ Nicht unwahrscheinlich, dass Weber hier an die in der Poetik des Aristoteles erwähnte hamartia gedacht haben mag, die tragische „Verfehlung“ oder „Schwäche“, die in den Augen der Menge den Tod des Helden rechtfertigt. Siehe dazu auch die merkwürdige Passage über „Bewährung“ im ersten Buch der ,Wirtschaftsethik der Weltreligionen‘ (RS 1, S. 307–313). 302 Zu Folgendem siehe Imboden (1959), S. 59–77. 301
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sondern Tat und Vorbildlichkeit von Fall zu Fall bestimmen den sozialen Rhythmus. Webers Typologie, so Imboden, kennzeichne nicht nur den Herrscher und das Herrschaftssystem, sondern zudem das Bild des Gewaltunterworfenen, des Gehorchenden oder Verpflichteten. In ihrem Kern lasse sich die Typologie wohl als eine Beziehungslehre bezeichnen. Die drei typischen Autoritätsverhältnisse sind dann auf folgende Paaranordnungen zurückzuführen: Die legal-rationale Herrschaft ist durch das nahezu entpersönlichte Verhältnis von Normschöpfer und Normadressat bestimmt; die traditionell-personenbezogene durch dasjenige von Herr und Diener; die charismatische Herrschaft besteht in der Beziehung zwischen Verkünder und Jünger. Die Autoritätsverhältnisse werden also nach der Art der ihnen zu Grunde liegenden menschlichen Beziehung gedeutet. Es ließen sich nun den Herrschaftstypen entsprechend geartete Beziehungen zwischen Gleichgeordneten zur Seite stellen: 1. In der rationalen Gesetzesherrschaft ist das entsprechende Koordinationsverhältnis die formale Gleichheit, die Gleichstellung zweier Subjekte angesichts derselben allgemeinen Norm. Ihre Beziehung erschöpft sich in der rein vorstellungsmäßigen Gegebenheit identischer rationaler Normgebundenheit. Eine konkrete Substanz des personenhaften Verhältnisses ist nicht vorhanden. 2. Die durch Tradition gefestigte Koordinationsform ist der Vertrag, wohl eine der ältesten Vorstellungen menschlichen Zusammenlebens. Die abgegebene Erklärung bindet den Erklärenden, gemeinsame Erklärungen schaffen die verpflichtende Vereinbarung. Die Erklärung wird zum Pfand des Menschen, die eingegangene Bindung zum Ausdruck seiner personellen Eigenwürde. Der Vertrag ist Rechtsschöpfung nach konkretem Maß des Menschen. 3. Hinsichtlich des Charisma besteht das Band zwischen Gleichgestellten in gemeinsamer Wertteilhabe. Diese könnte man eine Kulturerrungenschaft und innerlich erlebte Kulturtatsache nennen, die keiner vertragsmäßigen Verpflichtungserklärung der Angesprochenen oder eines Dazutuns eines sichtbaren Normsetzers bedarf, wohl aber regelmäßig wiederkehrender Akte, die als Ausdruck jener Wertteilhabe erlebbar sind. Mit diesem Aspekt befasst sich Karl Kerényis Vom Wesen des Festes. Kerényi versteht das Wesen des Rituals in einem „Sich-wieder-Erschaffen“, darin sei das Fest Mythos und „reine Wiederholung“. Ein mythischer Realgrund ist als Zustand zu verstehen, in dem „der Glaube noch kein Glaube war, sondern unmittelbar ergreifende Evidenz, wodurch die religiöse Idee als real empfunden wurde; wo der religiöse Brauch noch kein Brauch war, sondern frische Tat, in der die Idee sich fortsetzte, sich vielleicht wortlos, mit der Ausschließlichkeit
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eines emotionellen Aktes ausdrückte.“ Historiker und Ethnologen müssen jedoch zugeben, diesen Zustand nie „in flagranti“ antreffen zu können. Dem „Unmittelbaren“ und „Ergreifenden“, so Kerényi, begegne der Forscher in „schöpferischen Augenblicken“, die als solche zwar „hohe Zeiten“, doch auch immer bereits „verwandelte Zeiten“ seien. Solche Zeiten nenne man Feste.303 Ernst Cassirer hat in seiner Philosophie der symbolischen Formen die Feste als biologische oder kosmische Einschnitte bezeichnet und von der Ausbildung eines „mythisch-religiösen Phasengefühls“ gesprochen.304 Wodurch solche Einschnitte aber ausgezeichnet seien, wird bei Cassirer nicht dargelegt. Hier wird von Kerényi eine Philosophie des „Festivitätsgefühls“ eingebracht. Verfehlt sei jedes Zweckdenken vom Mythos als Folge mechanistischer Weltanschauung der meist auf dem Boden protestantischer Kulturen gedeihenden anthropologischen Ethnologie, die das Fest „ausschließlich aus dem Gesichtspunkt eines hungrigen oder sonst von einem Wunsch erfüllten Lebewesens erklären“ wolle.305 Das Fest sei aber kein Mittel zur Erlangung eines Wunschobjektes, sondern Darstellung von etwas, das für die Feiernden als ein WirklichSeiendes, als objektive Gegebenheit gelte, wenn es auch nicht versachlicht anwesend sei. Bei der Ausübung festlicher Handlungen, die etwas Überliefertes vollbringen, seien weder der ursprüngliche Glaube noch eine Zweckgegebenheit und ein darauf zu beziehendes Pflichtgefühl notwendig. Die Tradition ersetze hier die innere Nötigung. Wenn sie allerdings auch das Festliche ersetzen solle, so werde das ganze Fest zu etwas Totem und Groteskem, gleich den Bewegungen eines Tänzers, der plötzlich taub geworden sei und die Musik nicht mehr höre. Zwar ersetzt die tradierte Handlungsanweisung, die mythische Schablone, jeden Zwang, dennoch kommt es auf die Gestimmtheit während der festlichen Handlung, eben auf das Festivitätsgefühl an.306 Es ergänzt die „Lebensseite“ durch die „geistige Seite“ des „Erinnert-Werdens“307 – und transzendiert darin letztlich auch die mythische Schablone. Seinem Wesen nach ist das Fest „wirksam“ und „schöpferisch“, jedoch „nicht von praktischem Geiste.“308 Indem „Schöpfungscharakter“ und „Wirklichkeitscharakter“ im Festivitätsgefühl zusammenfallen, muss nicht mehr nach dem Unterschied von Erzählung und Darstellung, nach der (zeitlichen) Priorität von Mythos und Kultus gefragt werden.309 „Das Festivitätsgefühl als eine Wirklich303 Kerényi, Karl: Vom Wesen des Festes. Antike Religion und ethnologische Religionsforschung, in: Paideuma 1 (1938), S. 62. 304 Vgl. ebd. S. 63 und Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Bd. 2: Das mythische Denken, Berlin 1925, S. 138 f. 305 Kerényi (1938), S. 65 f. 306 Vgl. ebd. S. 64. 307 Ebd. S. 70. 308 Ebd. S. 73. 309 Ebd.
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keit des menschlichen Daseins (. . .) bedeutet, daß die Menschheit fähig ist, in rhythmisch wiederkehrenden Zeitabschnitten beschaulich zu werden und in diesem Zustand den höheren Wirklichkeiten, auf denen ihr ganzes Dasein ruht, unmittelbar zu begegnen.“310 Ritual und Symbol, Fest und Mythos gehören zu den Wahrnehmungen, welche die Einsicht in das Unsinnlich-Seiende wecken oder herbeirufen. Der zeitlose, der Zeit entronnene Vorgang tritt symbolisch als Abbild der Ewigkeit hervor; so kehrt der Mythos den Stachel gegen sich selbst und ist zugleich „schöne“ Erzählung und Kritik der Weltbefangenheit. III. Zwischenbetrachtung: Das ethisch-politische Erbe im Verfassungsdenken Rudolf Smends Rudolf Smends Verfassungsdenken gehört nicht in die Reihe der gesetzespositivistischen und politik-soziologischen Folgeerscheinungen der aristotelischen Betonung kluger institutioneller Rechtskonstruktionen. Auf dem staats- und verfassungstheoretischen „Nullpunkt“311 versteinerter Rechtmäßigkeit und mechanistischer Willensbildung angekommen, entglitt die Disziplin zur umfassenden Systematisierung und Regulierung – oder aber, in konsequenter Antwort auf diese Entwicklung, zur „politischen Erfolgsethik“ Max Webers312, weiter zu den auf Intervention und auf Bewältigung der existenzialistischen „Handgreiflichkeiten“ des Lebens abzielenden politik-positivistischen Lehren Schmitts und Forsthoffs – und von da aus zu einer politischen und administrativen Ekstase, zu einem rechtsfreien extremistischen Realismus. Die konstruktivistische Richtungnahme der Politischen Wissenschaft – in der Abkehr vom alten Gravitationszentrum der sittlich-praktischen Vernunft und ihrer Orientierung am „Guten selbst“ – half dem „geisteswissenschaftlichen Nihilismus“313 der (deutschen) gesetzespositivistischen Staatsrechtslehre, den Kosmos des bürgerlichen Konkurrenz-, Sicherheits- und Vorsorgestaates auszubauen, so dass Max Webers von (historisch begründeter) „ethischer Skepsis“314 geprägte Hinwendung zur politisch-institutionellen Verfassungswirklichkeit sich manisch von der Frage bedrängt sah „Wer bändigt und kontrolliert den bürokratischen Apparat?“ – in immanenter Bereitschaft zur Hinnahme tragischer Fehler und tragischen Leidens stets „innerirdische Erlösungssensationen“315 institutionstechnisch zu erzwingender sozio-erotischer Führungsmechanik erhoffend.
310 311 312 313 314 315
Ebd. S. 74. Siehe erneut Smend (31994), S. 124. Ebd. S. 379. Ebd. S. 131. Ebd. S. 123. Siehe erneut RS 1, S. 560.
III. Zwischenbetrachtung: Das ethisch-politische Erbe Rudolf Smends
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Konstruktivismus und politik-soziologischer Positivismus optieren dafür, Sittlichkeit und Tugend in Hinsicht auf den Staat außer Acht zu lassen; die Weltgeschichte wird zum Weltgericht, Machtgeschichte zur angeblichen Manifestierung des Vernünftigen. Dies vorausgesetzt, bestimmt allenfalls noch das Strafgesetzbuch das Rechtsbewusstsein. Gegen Kelsens „Ignorierung der Wirklichkeit“316 und Schmitts hegelianisch geprägte begriffsrealistische Verabsolutierung des Politischen setzt das Staatsverständnis Rudolf Smends die ethischpolitisch bestimmte Performativität des Verfassungslebens. In der Smendschen nicht-instrumentellen Selbstzweckhaftigkeit staatsrechtlich angeregter Institutionen sowie der damit implizierten Konditionalitätsthese in Hinsicht auf die republikanische Demokratie erweist sich – verortet man dieses Denken in dem Rahmen der Disziplin der politica – die Präsenz des platonischen Erbes in Form der Zusammengehörigkeit von Recht und Gerechtigkeit und des Primats der sittlichpraktischen Vernunft. Smends Staats- und Verfassungsbegriff, der den Staat nicht als festen, vorauszusetzenden Bestand, sondern als „geistige Wirklichkeit“317 versteht, die – unter Hintanstellung aller Leistungsfähigkeit – von den „Herzen der Menschen“318 gesucht wird, setzt den philosophierenden Staatsbürger voraus oder trachtet doch danach, ihn edukatorisch hervorzubringen. Die Behauptung, ein philosophierendes Staatsbürgertum, das aus seinem Philosophieren nicht zuletzt auch die Verpflichtung zur Solidarität ableitete, sei gänzlich unrealistisch, entzöge der demokratischen Staatsform die (vielleicht nie vollständig zu verwirklichende und auf Dauer zu stellende) ethisch-politische Grundlage, deren performativen und symbolischen Ausdruck Rudolf Smend in der lebendigen Wirklichkeit (Verfassungs-„Physiologie“319) der repräsentativen Ämterstruktur erkannte. Zugleich damit konstatiert der Smendsche Amtsgedanke das institutionstheoretische Dilemma, dass die republikanische Demokratie als Rechts- und Verfassungsstaat dank ethischer Ressourcen funktioniert, die sie, die Demokratie, als bloßes System – der Machtfriktion und Willensbildung – selbst nicht generieren kann.320 Aber der Staat, so wie Rudolf Smend ihn denkt, als „geistige Wirklichkeit“, steht mit diesen Ressourcen in Beziehungen, welche ja gerade in einem auf Verständigung ausgerichteten antimechanistischen Verfassungsleben expressiv verdeutlicht werden. Ein solches Verfassungsleben wird mit dem Anspruch geführt, in ihm zu evidenten Wahrheiten hinsichtlich des Zusammenlebens gelangen zu können. Dass das Staatsleben deren Gültigkeit nicht garantieren, nicht auf Dauer stellen kann, muss 316 Siehe erneut Smends Brief an Manfred Friedrich vom März 1967. Zitiert nach Friedrich (1987), S. 25. 317 Siehe erneut Smend (31994), S. 131–136. 318 Ebd. S. 504. 319 Ebd. S. 60. 320 Darin ist die Einsicht Rudolf Smends mit dem sogenannten Böckenförde-Paradox vergleichbar. Siehe dazu weiter unten die Schlussbetrachtung § 1.
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4. Teil: Verfassungsdenken Rudolf Smends in der Politischen Wissenschaft
nicht heißen, dass es sie nicht doch hervorzubringen in der Lage ist. Smends Zurückweisung des generellen Ideologieverdachts321 bedeutet, dass die zentrale These der Bürger-Rede von 1933, die politischen Grundrechte seien Gegenstück von Aufgegebenheit, bei Smend nicht bloße Meinung ist, sondern sich auf die Evidenz philosophischer Einsicht in die Würde berufen kann, an der alle Menschen gleichermaßen partizipieren. Die Überwindung eines relativistischen Zeitalters der Gleichgültigkeit gegenüber dem „Guten“ – dies ist im Januar 1933, anlässlich des „höchsten Festes“322, der in Sorge um das der Demokratie zuträgliche „Bildungsresultat“323 erfolgende Appell an die bürgerlich-kommunikative Lebenswelt Deutschlands. Letztlich basiert allerdings auch der repräsentative, performative und symbolische Verfassungsbegriff, der von den anderen Wegen der Politischen Wissenschaft abgegrenzt werden konnte, auf ethischen Ressourcen, deren zeitgenössischer Nexus ebenfalls aufzufinden sein muss. Zweifelsohne erscheint das Verfassungsdenken Rudolf Smends in Hinsicht auf den historischen Zeitraum seiner Entstehung und Entwicklung außergewöhnlich, ja unzeitgemäß. Und doch ist dieses Denken, das eben nicht vom Staat als verfügender, fester Instanz her, sondern in geradezu sehnsüchtig-bedürftiger Weise zum Staat – als Idee – hin denkt324, nicht als anti-bürgerlich im „konventionellen“ Sinn zu bezeichnen. Somit ist danach zu fragen, welchen geistigen Ort – abgesehen von dem innerhalb der Politischen Wissenschaft – es in der „bürgerlichen“ Kultur- und Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts einnimmt. Es muss als folgerichtig erachtet werden, dass dieser Ort nur dort aufzufinden sein wird, wo das „Bildungsbürgerliche“ noch Beziehungen zu Formen religiöser Vernunft unterhält.
Siehe erneut Smend (31994), S. 322. So, mit dem Hölderlin-Zitat endend, Smends Rede zur Reichsgründungsfeier der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin am 18. Januar 1933. Vgl. Smend (31994) S. 325. 323 Siehe erneut Bubner (2000), S. 72. 324 Siehe erneut Smend (31994), S. 505. 321 322
5. Teil
Der geistige Ort des Verfassungsdenkens Rudolf Smends I. Das Kulturproblem der Moderne: Extensivität – Instrumentalismus – Autonomie – Immanenz Der Begriff der Neuzeit lässt sich mit Jacob Burckhardts Formel von der „Entdeckung der Welt und des Menschen“ zusammenfassen.1 Das Neuzeitgeschehen im Ganzen ist als eine Wendung nach außen zu erfassen: man will „zu den Dingen“ gelangen und verschreibt sich projektierend der Extraversion. Die diskursiven Überlieferungen des Könnens unterstützen die chronische Bereitschaft, fortlaufend vom Erreichten zum Noch-nicht-Erreichten fortzuschreiten. Stets gerät aber durch die Wendung nach außen, durch die Ausfahrt ins Unbekannte, auch die Identität der Entdecker in Bewegung. Mit der Entdeckung der „Krümmung der Welt“2 beginnt die „immerwährende Krise der Heimat“: die begierige Weltoffenheit bringt mit sich, dass die Wiederkehrenden sowie die Nachrichten von dem Fremden-Anderen aufnehmenden Dagebliebenen ihren Ausgangspunkt und Wohnort für immer mit anderen Augen ansehen. Die „Entdeckung der Welt und des Menschen“, das Abenteuer der Extraversion, erweist sich als ein „Unternehmen, bei dem die Welt aufhört, dem eigenen vertrauten Haus zu gleichen.“ Die Gefahr droht, seinen Halt in den Sachen zu verlieren: „Wo die Forschung radikal wird, vermondet und verfremdet das Seiende im Ganzen.“3 1 ,Die Kultur des Renaissance in Italien‘ (1861), Überschrift des dortigen Vierten Abschnitts. 2 GW 6, S. 499. 3 Sloterdijk (2007), S. 19 f. Herder hatte noch aus den Gegensätzen des Vertrauten und des Fremden, aus der Zerspaltung von Gefühl und Wille die Neugestaltung des individuellen Selbstgefühls ebenso wie des gemeinschaftlichen Lebens in Form eines Ausdruckgeschehens, einer Dynamisierung der Leibnizschen Monadenlehre, abgeleitet. Vgl. das Journal meiner Reise im Jahre 1769 in Herder, Johann Gottfried: Werke, hg. v. Wolfgang Pross, München 1984–2002, Bd. 1, insb. S. 359 f. Herders Standpunkt aber war selbst ein Widerspruch und Einspruch gegen die Überbetonung der res extensa und des methodischen Prinzips der Mechanik durch die vor allem in England und Frankreich beheimatete empirische Denkschule in ihren rationalistischen (Locke), sensualistischen (F. Bacon) und materialistischen (Lamettrie) Ausprägungen, die wiederum als Antagonisten zu der Verabsolutierung des Geistes und dessen projektiver Neigung in den metaphysisch-theologischen Ordnungen aufgetreten waren. Vgl. Safranski, Rüdiger: Friedrich Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus, München/Wien 2004, S. 61–71.
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5. Teil: Der geistige Ort des Verfassungsdenkens Rudolf Smends
Der Neuzeitmensch betreibt eine Reformation im Haushalt seiner Wünsche: von nun an geht es darum, die „Pfeile des Begehrens“ von jenseitigen Zielen auf diesseitige, zu Lebenszeiten erreichbare und genießbare Gegenstände umzulenken. Zeichen dieses Wendeprozesses sind mythologisch gesehen Fortuna, geographisch Amerika und narrativ die Schatzinsel. Die Schatzsuche, das immanente Streben von einem schlechten Hier nach einem guten Dort, wird zur „eigentlichen metaphysischen Tätigkeit der europäischen Psyche“4. Dass der Mensch seine Ausfahrt im Geiste des philosophischen Eros betreibt, dass er das „Höchste“ und „Gute“ liebt, weil es für ihn das Passende, Freudvolle und Heilsame und er seiner bedürftig wäre, ist dem modernen Denken, der Kritik der Religion, fremd. Modernes Denken identifiziert das Gute schnell mit dem Nützlichen, das Nützliche wiederum ist das der souveränen und verstandesmäßigen Willkür des Menschen Verfügbare, es ist das Objekt des praktischen Subjekts.5 Unternehmer innerhalb des Projekts der Moderne sein heißt, von jenseitigen Bestimmungen und Belohnungen auf diesseitige Gewinnerwartungen umzusatteln. Die Bedeutung allen Neulands – der Geist der Utopie und der Geist des Risikos schwingen in diesem Wort mit – liegt allein darin, die Möglichkeit von Schatzhöhlen zu verkörpern.6 Das Lob des Neuen steht im Bündnis mit dem zum Menschenrecht verbrieften Anspruch des Findens. Die launisch gewährten Gaben der Fortuna sind „Schätze a priori“, die nur auf einen Fortunatus warten.7
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Sloterdijk (2007), S. 23 f. Vgl. Krüger (1983), S. 157 ff. 6 Vgl. Binswanger, Hans Christoph: Geld und Magie. Deutung und Kritik der modernen Wirtschaft anhand von Goethes Faust, Stuttgart/Wien/Bern 1985, der S. 26–44 die Funktionsweise der modernen Wirtschaft als alchemistischen Prozess beschreibt. Siehe auch S. 47 und 60 f.: „Das Urmaterial, die materia prima der alchemistischen Wertschöpfung ist der Goldschatz. Die Quintessenz dieses Goldes, die auf allen Stufen des alchemistischen Prozesses in Erscheinung tritt, ist der Geldwert (. . .). Der Stein der Weisen muß imstande sein, diesen Geldwert zu erhöhen, wenn er mit weiteren Materialien in Berührung kommt. Wenn man dies bedenkt, so kann der Stein nichts anderes sein als das Geldkapital, das, selber Geld, wiederum Geld schafft. (. . .) Durch die Reduktion der Welt auf die Quintessenz des Geldes wird die Welt vermehrbar. (. . .) Diese Schöpfung der Wirtschaft übt eine ungeheure Faszination aus, die Faszination des unendlich Vermehrbaren, des ewigen Fortschritts. Die Wirtschaft gewinnt damit den transzendenten (. . .) Charakter, den die Menschen früher in der Religion gesucht haben. Nicht der Glaube an ein Jenseits, sondern das wirtschaftliche Handeln im Diesseits öffnet dem modernen Menschen den Blick in die Unendlichkeit.“ 7 Sloterdijk (2007), S. 25. Die bei Herder stürmisch und drangvoll hervorbrechende Panerotik, ein Verlangen aus sich heraus ins Ganze, von Nietzsches „Auf die Schiffe, ihr Philosophen!“ (KSA 3, S. 530) wiederaufgegriffen, ist in der durch die „abgelebte moderne Gesellschaft“ entstehenden Langeweile des Büchnerschen Prinzen Leonce bereits völlig zum Erliegen gekommen. Kritisch vergleicht Büchner die sich eben erst formierende bürgerliche Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts mit der Maschinerie der feudalen Hofgesellschaft: beide tendierten dazu, den Menschen auf voraussehbare Lebensläufe zu standardisieren. Vgl. Burghard Dedners Beitrag über ,Leonce und 5
I. Das Kulturproblem der Moderne
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Der ständigen Extraversion ist aber nicht nur die Verfallenheit an das verunsichernde Extensive, sondern immer auch der optimierungssüchtige Wille, das Unüberschaubare bestens einzurichten, die planende Begierde nach totaler Verfügbarkeit inhärent. Das plus ultra des ultimativen Abenteuers der Moderne und der hierin begründete Wunsch nach dem in Immanenz zu erlangenden non plus ultra geraten sich ins Gehege: der vermeintliche Sieg der (wissenschaftlich unterstützten) Schatzsuche über die Zeit tendiert dahin, die (immer noch bessere) Zukunft in dem Ausmaß zu bedrohen, als die Welt begrenzt ist.8 Zugleich droht die Wendung nach außen als „Plan auf Plan“9 fassende Aneignung der (natürlichen sowie gesellschaftlichen) Welt zu einem Schocks aussendenden Cluster der Gleichzeitigkeit zu mutieren, zu einer sich in funktionaler Kälte mühlenhaft drehenden Geschäftigkeit, die den zeitauflösenden Augenblick kontemplativer Schau versäumt und erstickt, da sie danach trachtet, sich schon in der Zeit zu verewigen.10 Das der Bedürftigkeit spottende Bewusstsein für unbegrenzte Möglichkeiten und das Ideal der Souveränität erzeugen die Tragik des menschlichen Kulturproblems. Das Leben, verstanden und geführt als ein Streben ins Unbedingte und Unabhängige, nach Autonomie also, wird zu einem zwanghaft-impulsiven Wettrennen um einen ausgesetzten Preis, dessen Erlangung auf Grund von Überlieferung und Fortschritt sich fortwährend potenzierende Möglichkeiten der Selbstermächtigung zu legitimieren scheint. Unzufriedenheit, Angstzustände und Fluchtbewegungen sind in dieser sich konkurrenzfähig wissen wollenden Hindernissuche vorprogrammiert; betäubt werden die Zustände der Sinnleere allein in der Kanalisierung der vorhandenen Energien durch die ausdifferenzierten und auf verschiedenen Ebenen vergesellschafteten Verfahrensweisen der Schatzsuche und kämpferischen Inbesitznahme von Schürfrechten. „Es ist doch so, daß, seit das unmittelbare Seinsvertrauen abhanden gekommen ist, das in früheren Zeiten das Ergebnis des Hineingestelltseins in vorgefundene Ganzheitsordnungen war, (. . .) daß seit ihrem Zerfall und dem Entstehen der modernen Gesellschaft unser Verhältnis zu Menschen und Dingen unLena‘ in Interpretationen Georg Büchner, Stuttgart 1990, S. 119–176, insb. S. 133– 147. 8 Vgl. Binswanger (1985), S. 132 f. 9 Vgl. ,Faust. Der Tragödie zweiter Teil‘, V. 10227 (Fausts Neulandgewinnungsund Kolonisierungsprojekt). 10 Vgl. Berdjajew, Nikolai A.: Der Sinn der Geschichte. Versuch einer Philosophie des Menschengeschickes, Darmstadt: Reichl 1925, S. 260: „Die Nichtlösung des Problems der Zeit erscheint als das Grundgebrechen der Fortschrittstheorie, weil die Lösung des Geschickes der Weltgeschichte und ihrer Grundwidersprüche, wenn sie möglich ist, nur mittels des Sieges über die Zeit möglich ist. (. . .) Die Fortschrittslehre ist nicht der Lösung des Geschickes der Menschengeschichte im Außerzeitlichen, in der Ewigkeit, in der All-Einheit – jenseits des Bereichs der Geschichte an sich – zugewandt, sondern nimmt die Lösbarkeit jenes Problems innerhalb des zeitlichen Stroms der Geschichte an, in irgendeinem Augenblicke der zukünftigen Zeit“.
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endlich reflektiert und kompliziert geworden ist und es nichts als Problematik und Ungewißheit mehr gibt, so daß der Entwurf auf die Wahrheit in Resignation und Verzweiflung zu enden droht. Die Ausschau aus der Zersetzung nach Ansätzen zu neuen Ordnungskräften ist allgemein“. Diese Diagnose der Existenz des modernen Menschen und seines Kulturproblems findet sich im Kapitel XIV von Thomas Manns Doktor Faustus. In dem „Schlafstrohgespräch“11, das der Chronologie des Romans nach in die Hallenser Studienjahre 1904/1905 fällt, eröffnet sich der Einblick in einen vor allem in den Geisteswissenschaften geführten Diskurs, der sich nach dem Weltkrieg in Folge des „Abbaus alter Kulturfiktionen“ (Hermann Broch) ungehemmt entfaltet und in der Relevanz seiner Grundproblematik bis heute anhält.12 Klar erkennbar zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist die Neigung, auf die überall konstatierte „Entzauberung der Welt“ auf verschiedene Weisen „extrem“ – im Sinne der kulturproblematischen Epitheta Extensivität, Instrumentalismus, Autonomie, Immanenz – zu reagieren: ein sozialutopischer Utilitarismus, Technikbegeisterung und Maschinenkult, die Vergötterung der Arbeit, die Entscheidung zu asketischer Berufspflicht, die Glorifizierung sozial-ästhetischer Massenerlebnisse, begriffsrealistische Reinheitskonzepte, Faszination für Katastrophendynamik und Endzeitvisionen, formalistisch-technisches Denken vom Staat und ein diesem entgegen gerichteter politik-soziologischer Positivismus verbreiten sich. Max Weber stellt diesbezüglich wohl eine der komplexesten Erscheinungen dar. Dem staatsrechtlichen Positivismus und den profanen Erlebniskulten aufs strengste gegenübertretend, entwirft Weber, beinahe schon wieder berauscht durch die seinem Immanenzdenken innewohnende forcierte Nüchternheit im Proklamieren utilitaristischer sowie eudämonistischer Hoffnungslosigkeit, mit seinem programmatischen Realismus den „neuen Menschen“ als Heros des Materialismus und Pathetiker der Transzendenzlosigkeit. Aber erst wenn eine religiös tingierte Philosophie jegliche Relevanz verlöre, die Dringlichkeit ihres „Setzens auf Transzendenz“13 als unsinnig erkannt und erlebt würde, erst dann wäre die Welt eine rein wissenschaftlich-säkulare, eine Welt verbriefter Sinnleere. Die Behauptung einer „Entzauberung der Welt“, die stets in der Gefahr schwebt, in moderne Pathetik und Tragik umzuschlagen, erweist sich – angesichts einer im Ausdruckgeschehen Möglichkeiten „platonischen Zaubers“14 aufsuchenden Überlieferungslinie – als unwahr: die Welt ist 11
GW 6, S. 154–168, Zitat S. 166 f. Zu Hermann Brochs Einschätzung der Lage vgl. die Roman-Trilogie Die Schlafwandler (1928–31), insb. Brochs Kommentare in HBKW 1, S. 719–735. Das Wesentliche des Romanprojekts sei es gewesen, so Broch, das „Problem der drei Protagonisten“ vorzustellen: „ihrem Leben einen Sinn zu geben“, und dass dieser Versuch unter dem „Fiasko der Werthaltungen“ und „mit der zunehmenden Versachlichung immer mehr ins Unbewußte gerät“ (ebd, S. 719, 721). 13 Steiner (1990), S. 14. 12
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nie entzaubert worden. Der ideologiekritische Befund Georg Lukács’, der nüchtern die „transzendentale Obdachlosigkeit“ des modernen Menschen konstatiert15, erweist sich selbst als Ideologie. Der Mensch der Moderne ist kein in die enge Flasche gesperrter Anselmus, der fortan mit der Tatsächlichkeit und Begrenztheit ihrer Wände zu leben gezwungen ist.
II. Antworten auf das Kulturproblem der Moderne 1. Die „überempirische“ Orientierung des Verfassungsdenkens Rudolf Smends In Rudolf Smends staatsrechtlichem Werk sind mehrere das Kulturproblem der Moderne betreffende ideengeschichtliche Valenzen auszumachen, die einer geistigen Verortung bedürfen.16 So wird die problematische Extensivität der Moderne von Rudolf Smend mit einem Symboldenken beantwortet. Es sind vor allem zwei Passagen in Verfassung und Verfassungsrecht (1928) die Aufschluss über Smends Blick auf das Wesen des Symbolischen geben. Beide Passagen befassen sich mit dem „bewußten, aktiven Staatsbürger“, mit dem sowohl strukturellen als auch ethischen Problem der Einordnung des Einzelnen in die Fülle staatlichen Lebens. Hinsichtlich dieser Einordnung seien große Zusammenhänge verdeutlichende, „repräsentierende Momente und Äußerungen“, „Techniken der Verstehensermöglichung“ und „Berichte über den Sachgehalt des politischen Gemeinschaftslebens“ unerlässlich, um dem Einzelnen „das perspektivisch überhaupt mögliche Bild des Gesamtzusammenhangs und damit die Möglichkeit des aktiven Miterlebens“ zu geben.17 Auf eben diesen Passus bezieht sich Smend wenig später, wenn er konstatiert, im modernen Staat wirke die Unübersehbarkeit des Gesamtzusammenhangs in seiner extensiven Totalität der Integrationswirkung gerade entgegen. „Um erlebt zu werden, um integrierend zu wirken“, müsse diese Totalität „gewissermaßen in ein Moment zusammengedrängt, durch dieses repräsentiert werden.“ Institutionell geschehe dies durch die „Repräsentation des geschichtlich-aktuellen Wertgehalts im politischen Symbol der Fahnen, Wappen, Staatshäupter (besonders der Monarchen), der politischen Zeremonien und nationalen Feste.“18 Die „gesteigerte Integrationskraft“ des Symbolischen dieser Momente liege zum einen darin, dass sie „als irrationale und 14
TME 2, S. 213. Lukács (1963), S. 35. 16 Vgl. den zweiten Teil der leitenden Fragestellung (1. Teil, Kapitel III.): Welche Art ethisch-normativer Bestimmtheit involviert der Smendsche Staats- und Verfassungsbegriff? 17 Siehe erneut Smend (31994), S. 132 f. Vgl. auch den Institutionen-Aufsatz von 1956, der ebd. S. 511 die Problematik der „fortschreitenden Unzugänglichkeit der politischen Welt“ staats- und verfassungstheoretisch wiederaufnimmt. 18 Siehe erneut ebd. S. 162 f. 15
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individuelle Fülle mit besonderer Intensität erlebt“ werden, zum anderen aber auch gerade darin, dass in dieser Gestalt Staatsidee und Staatscharakter zugleich elastischer wahrgenommen werden könnten als in der „rationalen, gesetzlichen Formulierung.“19 Die Koppelung des Symbolbegriffs an den Erlebnisbegriff impliziert eine doppelte Konditionalität und Bedürftigkeit. Denn zum einen sind es weder der einzelne symbolisch wirksame Fest- oder Wahlakt noch die staatsanatomische und verfassungsphysiologische Gesamtstruktur der politischen Ämter allein, die Smend im Sinn hat, wenn er den Staat als eine „überempirisch aufgegebene geistige Wirklichkeit“20 begreift. Der Staatsanatomie bildende und Verfassungsphysiologie anregende staatsrechtliche Logos steht als Recht in Beziehung mit einer „aufgegebenen Gerechtigkeit“21, ebenso wie auch die verfassungsinstitutionellen Vorgänge selbst, die als Phänomene „zeitlich-realer“ Verschränkung teilhaben an „ideell-zeitlosem Sinn“.22 Der Staat, zu dem die Bürger in ein geordnetes Verhältnis treten sollen, hat an sich keine „soziale Realität“23, er ist eine Idee, zu deren Erkenntnis der Einzelne der Teilhabe an der Kommunikation des Verfassungslebens bedarf. Und ebenso bedarf es des philosophierenden – des erlebenden, deutenden und wissenden – menschlichen Typus, um die republikanische Demokratie überhaupt hervorzubringen. Folglich wendet sich Smend gegen die Auswüchse des modernen Instrumentalismus, dem die Performativität des Verfassungslebens entgegengesetzt wird. Die Verfassungsinstitutionen bestehen nicht zur Bearbeitung objektiver Aufgaben. Gerade in dieser verräumlichenden und instrumentellen Auffassung liegt für Smend die Gefährdung, den Staatsbürger als Empfänger von Wohltaten, den Politiker als merkwürdiges Zwitterwesen aus magischer Führungspersönlichkeit und plebiszitärem Dienstleister misszuverstehen und letztlich den Staat als Hebel unterschiedlicher Verfügbarkeiten zu gebrauchen. Der Instrumentalismus kennt viele Ziele und teleologische Nutzeffekte, aber keinen ethisch-normativen Bezug und von dort sich ableitende Verpflichtungen. Das in die Extensivität der Moderne gestellte instrumentelle Staatsverständnis führt zum Untergang des Einzelnen in den „religionsähnlichen Ansprüchen der großen politischen Bewegungen“24, der Staat wird zum Bereich des Gebens, Nehmens, Habens und Verfügens25, der es zwar an „technischen Leistungen“ nicht fehlen lässt, „vor dem Herzen der Menschen“ jedoch versagt.26 Smend reagiert auf dieses Staatsver19 20 21 22 23 24 25
Ebd. S. 163. Ebd. S. 131, 134, 136 und 139. Ebd. S. 369. Ebd. S. 138. Ebd. S. 131. Ebd. S. 324. Vgl. ebd. S. 508.
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ständnis mit dem ungewöhnlich harten und deutlichen Vorwurf der „polytheistischen Note“. Mit der im Bild vom „Omnibus zu einer Fahrt ins Blaue“ bewusst ironisierten Metapher vom Staatsschiff erweist sich die Einsicht in den tragischen Charakter des werkzeug- und apparaturhaften Machtstaates.27 Das Verfassungsdenken Smends kann nicht für Autonomie optieren, so, wie sie die Moderne für den Menschen entwirft, als Emanzipation und Entkoppelung. Ihre kümmerliche Variante ist der Bourgeois – Bildungsbürger und intelligenter Egoist –, entweder auf der „Flucht in des Herzens stille Räume“ oder danach trachtend, „seine Schäfchen ins Trockene zu bringen“28; die heroische Variante zeigt sich im politischen Führer, dem die Alltäglichkeit durchschlagenden Wohltäter und Heros des transzendenzlosen Materialismus. Smends Erlebnisbegriff dagegen spricht mit Novalis von jedem einzelnen Bürger als „König der Republik“.29 Hierin liegt der ideelle Anspruch einer erhöhten Bedeutung der Grundrechte begründet, die geradezu an die von der Monarchie hinterlassene symbolische Leerstelle treten.30 Die Implikationen dieses Anspruchs sind dem platonisches Erbe der Politischen Wissenschaft zuzuordnen. Es gibt aber auch in der bürgerlichen Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts einen Ort, an denen die Smendsche Abneigung hinsichtlich eines radikalen Immanenzdenkens, des Skeptizismus, Nihilismus und Agnostizismus31 gegenüber „höheren“, ethischnormativen, „über Staat und Staatsmacht stehenden Normen und Ordnungen“32, beheimatet ist. Dieser Ort wäre dort auszumachen, wo die Einsicht für den Zusammenhang von Ethik und Ästhetik – des „Guten“ und „Schönen“ – sowie die henologisch-transzendente Bestimmtheit dieser Zusammengehörigkeit in Form eines philosophierenden Ausdruckgeschehens präsent ist. Auf welchen Symbolbegriff, im Sinne eines ethisch qualifizierenden Erlebens, konnte Rudolf Smend sich überhaupt beziehen? In der Göttinger Akademierede von 1943 wird der Erlebnisbegriff Wilhelm Diltheys als dem eigenen Anliegen verwandt berührt.33 Indem Dilthey, insbesondere in seinen Untersuchungen der Erlebnisdichtung und -theologie Goethes, Hölderlins und Schleiermachers, den Gehalt der Dichtung in der lebendigen Erfahrung nicht nur des Zusammenhangs der Daseinsbezüge, sondern darüber hinaus auch der der Logos-Bewegung eigentümlichen transzendenten Bestimmtheit sieht, ist für Smend eine Korrespondenz zwischen Erlebnis und Dichtung und Erlebnis und Staats26 27 28 29 30 31 32 33
Ebd. S. 504. Ebd. S. 515. Ebd. S. 314 und 323. Vgl. ebd. S. 349 f. Vgl. ebd. S. 92 f. und 260 ff. Ebd. S. 123 und 131. Ebd. S. 369. Vgl. ebd. S. 347.
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recht wahrzunehmen. Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode (1960), so detailliert es die Herkunft des Diltheyschen Erlebnisbegriffs auch beschreibt34, irrt doch, wenn im Hinblick auf Goethes Erlebnisästhetik der sogenannten Geniezeit Erlebnis und Symbol immer als Zubehör eben dieser Epoche bewertet werden, als rein ästhetisches Mittel subjektivistischen Ausdruckswillens.35 Goethes Austausch mit Schiller über das Wesen des Symbolischen, der von Gadamer einschließlich Curt Müllers Studie über den Symbolbegriff Goethes durchaus erwähnt wird36, fällt erst in die Phase des „objektiven Stils“ nach den Reisen in Italien und der Schweiz und des das alte Konzept modifizierenden Faust-Fragments von 1790, eine Phase, in der das Symboldenken geradezu zum Therapeutikum gegen die Schädigungen der Moderne wird. 2. Goethes Krisenphänomenologie a) Gefährdungen gelingender Individuation Aus einem Brief des Romanisten Ernst Robert Curtius an seinen Vater vom 1. Dezember 1918 ist bekannt, dass Rudolf Smend als „Legitimist“, wie Curtius schreibt, den unordentlichen Zustand der Revolution als unerträglich empfindet und sich mit „sittlicher Entrüstung“ den Ereignissen gegenüber verhält.37 Smends sittliche Entrüstung erinnert an das Unbehagen des alten Goethe, der in der Pariser Julirevolution die „Reprise der Tragödie von 1790“38 sah, diesem „schrecklichsten aller Ereignisse“39. Goethe registriert die französischen Ereignisse, wie er am 5. Oktober 1830 an Zelter schreibt, als „Erschütterung“, die das „Erdbeben“ von Paris „durch Europa lebhaft verzweigt“.40 Die Verzweigung der Krise ist Goethe besonders unlieb im Hinblick auf die vorauszusehende Zersetzung des gelingende Individuation ermöglichenden Bildungsprinzips der Paideia: „Franztum drängt in diesen verworrenen Tagen, wie ehemals Luthertum es getan, ruhige Bildung zurück.“41 Wenn Individuation heißen soll, das Selbst zwar zur Entfaltung zu bringen, diese Entfaltung aber in Übereinstimmung mit seiner Umgebung, den kollektiven Bedingungen und höheren Bestimmungen des Menschen zu halten, Indi34 Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 21965, S. 52–77. 35 Vgl. ebd. S. 71 ff., insb. S. 76. 36 Ebd. S. 72. Vgl. Müller, Curt: Die geschichtlichen Voraussetzungen des Symbolbegriffs in Goethes Kunstanschauung, Leipzig 1937, insb. S. 213 ff. 37 Nachlass Curtius, UB Bonn. Vgl. Hoeges (1994), S. 208 f. 38 SW 38, S. 307 (Brief an Knebel vom 12. 9. 1830). 39 MA 12, S. 308. 40 MA 20.2, S. 1379. 41 MA 4.1, S. 839.
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viduation also ein dem begrenzenden Prinzip der modération entsprechendes Wachsen in der Gemeinschaft meint42, so steht eine dynamisierte Wirklichkeitserfahrung diesem Wachsen gefährdend entgegen. Mit Misstrauen und Besorgnis beobachtete Goethe somit die Entwicklungen seit der „Tragödie von 1790“: „Für das größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden läßt, muß ich halten, daß man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, den Tag im Tage vertut, und so immer aus der Hand in den Mund lebt, ohne irgend etwas vor sich zu bringen. Haben wir doch schon Blätter für sämtliche Tageszeiten! Ein guter Kopf könnte wohl noch eins und das andere intercalieren. Dadurch wird alles was einer tut, treibt, dichtet, ja was er vor hat, ins Öffentliche geschleppt. Niemand darf sich freuen oder leiden als zum Zeitvertreib der übrigen; und so springt’s von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich, und zuletzt von Weltteil zu Weltteil, alles velociferisch.“43 Die beiden „Hauptgeschäfte“ der späten Jahre Goethes, die Wanderjahre und der zweite Teil des Faust, befassen sich intensiv mit diesem Aspekt des Kulturproblems der Moderne. Indem sie die diätetischen Sentenzen der in Wilhelm Meisters Lehrbrief enthaltenden Resignationsphilosophie aufgreifen und fortsetzen, lesen sich die dem ersten Teil der Wanderjahre folgenden „Betrachtungen im Sinne der Wanderer“ wie eine Krisenphänomenologie des Hineingestelltseins des Menschen in die Modernität: Nr. 37: „Es begegnet mir von Zeit zu Zeit ein Jüngling an dem ich nichts verändert noch gebessert wünschte; nur macht mir bange, daß ich manchen vollkommen geeignet sehe, im Zeitstrom mit fortzuschwimmen, und hier ist’s wo ich immerfort aufmerksam machen möchte: daß dem Menschen in seinem zerbrechlichen Kahn eben deshalb das Ruder in die Hand gegeben ist, damit er nicht der Willkür der Wellen, sondern dem Willen seiner Einsicht Folge leiste.“44 Nr. 38: „Wie soll nun aber ein junger Mann für sich selbst dahin gelangen, dasjenige für tadelnswert und schädlich anzusehen was jedermann treibt, billigt und fördert? Warum soll er sich nicht und sein Naturell auch dahin gehen lassen?“45 Nr. 40: „So wenig nun die Dampfmaschinen zu dämpfen sind, so wenig ist dies auch im Sittlichen möglich; die Lebhaftigkeit des Handels, das Durchrauschen des Papiergelds, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen, das alles sind die ungeheuren Elemente, auf die gegenwärtig ein junger 42 Vgl. Jung, Carl Gustav: Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten, Zürich 21935, S. 93. 43 „Betrachtungen im Sinne der Wanderer“ Nr. 39 aus den ,Wanderjahren‘, MA 17, S. 518 f. 44 MA 17, S. 518. 45 Ebd.
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Mann gesetzt ist. Wohl ihm, wenn er von der Natur mit mäßigem ruhigem Sinn begabt ist, um weder unverhältnismäßige Forderungen an die Welt zu machen, auch noch von ihr sich bestimmen zu lassen.“46 Nr. 41: „Aber in einem jedem Kreise bedroht ihn der Tagesgeist; und nichts ist nötiger als früh genug ihm die Richtung bemerklich zu machen, wohin sein Wille zu steuern hat.“47 An Zelter gerichtete Briefe führen diese anthropologisch-kritischen Diagnosen fort. So heißt es am 6. Juni 1825, alles sei „jetzt ultra, alles transzendiert unaufhaltsam, im Denken wie im Tun. Niemand kennt sich mehr, niemand begreift das Element worin er schwebt und wirkt, niemand den Stoff, den er bearbeitet. (. . .) Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen; Reichtum und Schnelligkeit ist was die Welt bewundert und wornach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Fazilitäten der Kommunikation sind es worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren.“48 Und am 28. Juni 1831 verschafft Goethe sich Luft hinsichtlich der Anmaßungen aller planvoll-rationalen Sozialutopie; wieder einmal habe er sich mit der „Religion Simonienne“ auseinanderzusetzen gehabt: „An der Spitze dieser Sekte stehen sehr gescheite Leute, sie kennen die Mängel unserer Zeit genau und verstehen auch das Wünschenswerte vorzutragen; wie sie sich aber anmaßen wollen das Unwesen zu beseitigen und das Wünschenswerte zu befördern so hinkt sie überall. Die Narren bilden sich ein die Vorsehung verständig spielen zu wollen“49. b) Geschichtstheologie und Geschichtsskepsis Die Revolution von 1789 und ihre Folgen werden auch von Goethe als ein fundamentaler Epochenbruch aufgefasst.50 Goethes unzeitgemäße Position liegt aber in der kategorischen Zurückweisung jener historischen Gedankenoperation, die Krise und Revolution einbezieht in den als Prozess konzipierten Geschichts-
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MA 17, S. 519. Ebd. 48 MA 20.1, S. 850 f. 49 MA 20.2, S. 1496. Im Februar und Oktober 1830 führt Goethe mit Soret mehrere Gespräche über Bentham und Saint-Simon. Siehe Soret, Frédéric: Zehn Jahre bei Goethe. Erinnerungen an Weimars klassische Zeit. 1822–1832. Aus Sorets handschriftlichem Nachlass, seinen Tagebüchern und seinem Briefwechsel, übers. u. hg. v. Heinrich Hubert Houben, Leipzig 1929, insb. S. 369 f. und 474 f. 50 Vgl. dazu Birk, Manfred: Goethes Typologie der Epochenschwelle im vierten Akt des Faust II, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 33 (1989), S. 261–280. Siehe auch Koselleck, Reinhart: Goethes unzeitgemäße Geschichte, in: Goethe-Jahrbuch 110 (1993), S. 27–39. 47
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verlauf. Goethes Skepsis gegenüber der Modernität richtet sich insbesondere gegen profane Heilsgeschichte, gegen die quasireligiöse Aufladung der (politischen) Geschichte, gegen Schillers „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ – eine Auffassung, die Hegel übernimmt –, gegen die Gleichsetzung von Geschichts- und Wahrheitsgeschehen. Das neuzeitliche Prozessmodell säkularisiert den biblischen Gedanken des Gottesgerichts. Als selbständiger Akteur vollzieht die Geschichte die permanente Krise als einen profanen Prozess. Die Krisen sind die Urteilssprüche, welche die Weltentwicklung im Sinne des Fortschritts vorantreiben und auf diese Weise die säkulare Eschatologie verwirklichen. Der Krisenbegriff wird zur „strukturellen Signatur der Neuzeit“, indem er die „prozessuale Grundstimmung der geschichtlichen Zeit“ und die entsprechende teleologische Deutung des politischen Geschehens festlegt.51 Sinnerfahrung ist dann nur noch möglich in der richtigen, geschichtsmäßigen Einordnung des Einzelnen in den teleologischen Prozess: es kommt zur Identifizierung von Sein und Zeit.52 Über die quasireligiöse Inspiration der modernen Geschichtsphilosophie erlangt auch die Revolution ihre Legitimität. Eine Paradoxie ist darin zu sehen, dass mit der Säkularisierung des ehedem theologischen Krisenverständnisses die heilsgeschichtlichen und apokalyptischen Deutungsmuster in die geschichtsphilosophischen und politischen Kategorien übertragen werden. Der ursprünglich religiös bestimmte Dualismus zwischen Gott und Mensch, Gut und Böse, Rechtgläubigen und Ketzern wird in die Beurteilung der profanen Geschichte wieder eingeführt.53 So gründlich ist der moralische Neuansatz dem absolutistischen System entgegengesetzt, dass die ehemalige politische Legitimation des Staates, die Moral der souveränen Entscheidung unterzuordnen, zur Legitimation der Revolution wird.54 Auch Goethe sieht den Epochenbruch. Es ist der Anfang einer neuen Ära, den Goethe als Verzweigung der Krise konstatiert – als Folge der Beschleunigung des Weltgeschehens, des Daseins- und Zeiterlebnisses, einer dynamisierten Wirklichkeitserfahrung: „alles velociferisch“. Und zwar in nahezu allen Bereichen: nicht nur in Kunst und Literatur, sondern auch in Staatsleben und Arbeitswelt. Die Utopie der Moderne sieht Goethe in dem „Streben ins Unbedingte“: Konstruktivismus, Sozialutopien, Technikbegeisterung, Aktivismus, Erlösungsversprechen, Pathos- und Katastrophenbegeisterung. Faust setzt den Kardinalfehler des vom Durchbruchswillen zum Originalgenie getriebenen Dilettanten, schnell erregte Leidenschaft und oberflächliches Empfindungsvermö51
Vgl. Koselleck, Reinhart: Art. „Krise“, in: GG 3, S. 617–650, Zitat S. 627. Vgl. ders.: Neuzeit. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: ders.: Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977, S. 154. 53 Vgl. Koselleck, Art. „Krise“, in: GG 3, S. 630. 54 Vgl. ders.: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (1959), Frankfurt a. M. 8. Aufl. 1997, S. 131. 52
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gen bereits mit eigener Bildungskraft zu verwechseln, als ein „Agent der Moderne“ (Michael Jaeger) fort: „Eine paradiesische Zukunft vor Augen und unter Berufung auf die ganze Menschheit negiert der radikale Aktivist die Überlieferung sowie das historisch bedingte Sein der Gegenwart und löscht die Realität aus zugunsten der technizistischen Unterwerfung der Natur und zum Zwecke der voluntaristischen Neukonstruktion der Menschenwelt, um solchermaßen das megalomane Projekt, ,die Erde mit sich selbst zu versöhnen‘, vollenden zu können. Schließlich läßt Goethe seinen Helden sogar das total profane und zugleich quasireligiöse Erlösungsversprechen der Moderne deklamieren, das jene Identität von Arbeit und Sein verheißt, in der sich die Selbstbefreiung der Menschen verwirklichen soll.“55 Das Projekt der Landgewinnung und der Plan zur Totalkolonisation bedeuten die „antimetaphysische Revolte des Prometheus, des Urheroen der Moderne“, die Goethe in der Tragödie des „unbedingten Strebens in eine paranoide Protestation“ transformiert.56 In der Gewimmelfantasie, dem Schlussmonolog Fausts, hat Goethe als Pathologe der Krise den beklemmenden Befund geliefert: „die moderne Existenz auf der Tabula Rasa der Überlieferung wird nicht Freiheit, sondern Angst sein, und zwar eine Angst, die gleichermaßen das Bewußtsein des Herrn des Kolonisationsprojektes und das ihrer Knechte beherrschen und ubiquitär in der neuen Welt regieren wird.“57 c) Die Tragödie der Moderne Aus der Traditionsverachtung Fausts (V. 660–662), seinem Lebenshass in Folge mangelnder Vermittlung zwischen Selbst und Welt (V. 1570 f.), der Begierde, sich in absoluten Leistungen zu verewigen und der daraus abgeleiteten Berechtigung zur Selbstermächtigung entspringt der Frevel der Flüche, die das Bindeglied zwischen erstem und zweitem Teil der Tragödie darstellen. Fassungs- und Erkenntnisvermögen des Einzelnen werden ebenso verflucht wie die natürliche Objektwelt (V. 1591–1594), gebrochen wird mit der geschichtlichen 55 Jaeger, Michael: Fausts Kolonie. Goethes kritische Phänomenologie der Moderne, Würzburg 2004, S. 25. 56 Ebd. S. 26. 57 Ebd. S. 29. Vgl. dazu Schweitzer, Albert: Gedenkrede, gehalten bei der Feier der 100. Wiederkehr von Goethes Todestag in seiner Vaterstadt Frankfurt am Main am 22. März 1932, in: ders.: Goethe. Vier Reden von Albert Schweitzer, München 31950, S. 48: „Überhaupt, was ist das, was in dieser grausigen Zeit vor sich geht, anderes als eine gigantische Wiederholung des Faustdramas auf der Bühne der Welt? In tausend Flammen brennt die Hütte von Philemon und Baucis. In tausendfacher Gewalttätigkeit und tausendfachem Morden treibt entmenschte Gesinnung ihr frevelhaftes Spiel! In tausend Fratzen grinst uns Mephistopheles an! In tausendfacher Weise hat sich die Menschheit dazu bringen lassen, das natürliche Verhältnis zur Wirklichkeit aufzugeben und ihr Heil in Zauberformeln irgendeiner Wirtschafts- und Sozialmagie zu suchen, die die Möglichkeit, aus dem wirtschaftlichen und sozialen Elend herauszukommen, nur immer in weitere Ferne rückt!“
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Überlieferung als Gegenwart (V. 1595 f.), auch ist die Gegenwart Opfer des Bruchs in der Verfluchung menschlicher Sozialität (V. 1597–1602). In einer letzten Steigerung der Fluchszene sagt sich Faust los von den kulturellen Grundlagen des Abendlandes: von der römischen Kultur der Veredelung des Ackerbaus im Weinbau, verflucht in dem Wort vom „Balsamsaft der Trauben“ (V. 1603), von der Religiosität, beschimpft in dem trinitarischen „Liebe, Hoffnung, Glaube“ (V. 1604 f.)58, und von den Prinzipien griechischer Philosophie und antiker Lebenskunst, dem Schauen und Staunen (Theorein und Thaumadsein), der künstlerischen und philosophischen Nachahmung (Mimesis), der Erinnerung (Anamnesis) und Unerschütterlichkeit (Ataraxie), allesamt eingeschlossen in der Verfluchung der „Geduld“ (V. 1606). Die Teufelswette soll eine universelle, nie innehaltende Dynamik entfachen, um dem Reflexionsideal der Theoria zu entkommen und sich dem Aktivismusideal der Moderne zu überlassen, das auf das Unbedingte, Unmögliche, Utopische zielt und aus der systematischen Verfolgung dieses Ziels, dem Eintritt in den circulus vitiosus gleichsam, eine Berauschung zieht, die zur Unterdrückung von kritischer Reflexion, Gegenwartsbewusstsein und Todesangst eingesetzt werden kann. Als Ersatz für eventuelle Enttäuschungen über die Unrealisierbarkeit des Utopischen bietet sich das Pathos rauschhafter Selbststeigerung zum Übermenschen, das ultimative Existenzerlebnis in der Tragik universellen „Zerscheiterns“ an. Und so schließt die neue Identitätsfindung der nicht innehaltenden Universaltätigkeit bereits Autodestruktion und Weltzerstörung mit ein (V. 1768–1765). Der zweite Teil der Tragödie schildert das Autonomiestreben und die Begierde nach immanenter Verewigung in der Extensivierung eines (zerstörerischen) Aktivismus. In der Dynamisierung des von Faust ausgelösten politischen und wirtschaftlichen Prozesses sind die Stufen einer profanen Eschatologie zu erkennen. In einer ersten zweistufigen Phase der Imagination und Impression kommt es zu einer alchemistischen Schöpfung aus dem Nichts: zunächst die imaginäre Deckung des Papiergeldes durch die nicht-gehobenen Bodenschätze, dann die Legitimierung der Geldnoten durch den Staat, personifiziert in der mit Hilfe der Druckerpresse vervielfachten Unterschrift des Kaisers.59 In einer zweiten Phase erfolgen Materialisierung und produktiver Einsatz des Papiergeldes. In der Verführungsszene zu Beginn des Vierten Aktes führt Mephistopheles Faust ins Hochgebirge, so wie im Evangelium nach Matthäus der Teufel Jesus auf die Zinne führt, um ihm die „Reiche der Welt und ihre Herrlichkeiten“ (V. 10131) zu Füßen zu legen (Mt 4). Doch spricht Faust nicht das „Hebe dich weg von mir, Satan!“ (Mt 5, 10), mit dem Jesus die teuflische Anfechtung abwehrt: „Herrschaft gewinn ich, Eigentum!“ (V. 10187). Hinsichtlich des Eigentums, auf dessen Erwerb Faust es abgesehen hat, um Unsterblichkeit verbürgende Ta58 Also in genau umgekehrter Reihenfolge zum 1. Korinther Brief 13, 13: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei.“ 59 Vgl. Binswanger (1985), S. 26–28.
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ten zu vollbringen, handelt es sich um das dominium, um Herrschaftseigentum also, samt des emanzipatorisch aufgefassten ius utendi et abutendi re sua. Zum Herrschaftseigentum gehört auch der Herrschaftsanspruch des technischen Verstandes über den Naturraum, die Aneignung der Naturkräfte (V. 10198–10229). Das Beglückungsprojekt der Neulandgewinnung, die Nutzung der Wind- und Wasserkraft zu Schifffahrt und Handel, bringen Verknechtung, „Qual“ und „Menschenopfer“ mit sich (V. 11123–11130).60 Doch diese Opfer müssen gebracht werden, wenn es der Rückeroberung des Paradieses oder vielmehr dessen Einrichtung auf Erden aus menschlicher Machtvollkommenheit heraus gilt.61 Der letzte Ort, welcher der platonischen Eudaimonie gemäß die ruhige Reflexion der eigenen Bedingtheit noch zulässt, hat zu weichen. Die alte Gottessorge, der Philemon sich weiterhin anzuvertrauen empfiehlt (V. 11139– 11142), wird mit dem alten Paar, ihrer Wohnung und der arkadischen Ruhezone der von Linden umstandenen Kapelle gleich mit vernichtet. Die Hütte wird somit nicht nur zum Scheiterhaufen der Eheleute, sondern ihr Brand gerät zum Fanal einer ganzen Kulturepoche.62 Indem Faust in der Mitternachts-Szene des Fünften Aktes die Sorge63 nicht an sich herankommen lässt (V. 11491–11494), wird hier eine Krisenphänomenologie der Moderne entworfen (V. 11410– 11418), auf die Faust in heroischer Attitüde reagiert: er beschließt, als Held einer „existentialistischen Ontologie“64, die Zumutungen, vor die der moderne Mensch sich gestellt sieht, Entzauberung und Transzendenzlosigkeit, aushalten zu wollen (11441–11450). Der Berufsgedanke Fausts desavouiert sich selbst als das heroische Lebensideal der antizipierten Moderne, als geharnischtes Aktivitätskommando, das die Sinnleere mit Spatengeklirr übertönen soll. Die Verdrängungsfantasie des erblindet-verblendeten Faust deutet das „Weiterschreiten“ in „Qual und Glück“ (V. 11451 f.) zu dem auswegschaffenden Befehl zur pausenlosen Bewegung des utopischen Fortschrittprojekts um. Das auf sich zurückgeworfene Subjekt, der blinde Subjektivismus, interpretiert von innen heraus, als losgelassener Intellekt, die imaginierte „Großbaustelle als Glücksentwurf“65 der Menschheit: „Die Nacht scheint tiefer tief hereinzudrin60
Vgl. ebd. S. 34–41. Im Machtstreben befangen spricht „des allgewaltigen Willens Kür“ (V. 11255) unverblümt sein Credo aus: „Man hat Gewalt, so hat man Recht“ (V. 11184). 62 Zum Topos der Vertreibung siehe Albrecht Schönes Kommentar in SW 7.2, S. 722 f., zudem Jaeger 2004, S. 398 und Henkel, Arthur: Erwägungen zur Philemonund-Baucis-Szene im fünften Akt von Goethes „Faust“ (Zweiter Teil), in: Études Germaniques 38 (1983), S. 128–137, insb. 135. 63 Siehe hierzu immer noch Burdach, Konrad: Faust und die Sorge, in: DVjs 1 (1923), S. 1–60, zudem Nager, Frank: Der heilkundige Dichter. Goethe und die Medizin, Zürich/München 1990, S. 143, Schmidt, Jochen: Goethes Faust. Erster und zweiter Teil. Grundlagen – Werk – Wirkung, München 1999, S. 281 und Schönes Kommentar (SW 7.2), S. 739. 64 Jaeger (2004), S. 427. 65 Ebd. S. 433. 61
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gen, / Allein im Innern leuchtet helles Licht; / Was ich gedacht, ich eil es zu vollbringen; / Des Herren Wort, es gibt allein Gewicht. / Vom Lager auf, ihr Knechte! Mann für Mann! / Laßt glücklich schauen, was ich kühn ersann. / Ergreift das Werkzeug, Schaufel rührt und Spaten! / Das Abgesteckte muß sogleich geraten. / Auf strenges Ordnen, raschen Fleiß / Erfolgt der allerschönste Preis; / Daß sich das größte Werk vollende, / Genügt ein Geist für tausend Hände“ (V. 11499–11510). Dieser eine Geist entwirft diktatorisch-megaloman Räume für Millionen von arbeitenden Menschen: „Ja, diesem Sinne bin ich ganz ergeben, / Das ist der Weisheit letzter Schluß: / Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, / Der täglich sie erobern muß. / Und so verbringt, umrungen von Gefahr, / Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr. / Solch ein Gewimmel möcht ich sehn, / Auf freiem Grund mit freiem Volk zu stehn“ (V. 11573–11580). Das neue Paradies der Freiheit ist also in der Weise entworfen, dass „eine von außen permanent drohende Gefahr im Innern für pausenlose und disziplinierende Bewegung sorgt.“66 Die „Freiheit“ in Fausts Kolonie schließt das „Abgesteckte“ transzendierende Orientierungen auf höhere Normen und Ordnung ebenso aus wie bereits kritisches Nachdenken und erschöpft sich in lebenslang verordneter Tüchtigkeit, ja in dem geschichtsphilosophisch motivierten Zwang zum fortwährenden Kampf ums Überleben.67 d) Goethes Symbolbegriff Worin besteht nun Goethes Antwort auf die „velociferische“ Moderne? Von der ersten italienischen Reise wird als von einem bürgerlichen Bildungserlebnis erzählt, das unerwartet zum Erkenntniserlebnis und zur „bekehrungstypischen Kenosis“68 wird. Der zweckfreie Augenblick der Anamnesis bleibt zwar in den Grenzen des Biographischen, evoziert aber in seiner Einsichtnahme des „Schönen und Guten“ bereits jenen über den persönlichen Lebenszusammenhang hinausweisenden platonischen Zauber.69 In einem Brief an Zelter vom 19. Oktober 1829 weist Goethe die fortwährende Unzufriedenheit mit dem Gegenwärtigen als ein „närrisch Ding“ von sich; er sieht in dieser Unzufriedenheit das „Gril66
Ebd. S. 437. Zu Fausts Schlussmonolog siehe auch Schönes Kommentar (SW 7.2), S. 745–752, insb. 749 f. 68 Jaeger, Michael: Kairos und Chronos – oder: Der prägnante Moment ist flüchtig. Antike Philosophie, klassische Lebenskunstlehre und moderne Verzweiflung, in: Alt, Peter André (Hg.): Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Festschrift für Hans-Jürgen Schings, Würzburg 2002, S. 405–420, hier 406, 408 und 416. 69 Vgl. MA 15, S. 147 und 174. Zu dem Zusammenhang zwischen der ,Italienischen Reise‘ und ,Wilhelm Meisters Lehrjahren‘ hinsichtlich des narrativen Strukturelements der Anagnorisis siehe Schings, Hans-Jürgen: Wilhelm Meisters schöne Amazone, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 29 (1985), S. 141–206, insb. 192, 199 und 205. 67
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lenhafte“ des modernen Zeitgeistes. Das „Wundersamste des Altertums“ sei es gewesen, die „Gesundheit des Augenblicks“ wahrzunehmen, also eine ruhige Philosophie des Kairos zu pflegen. Goethe spricht von dem im philosophischen Exerzitium erreichten „Gefühl: der Augenblick müsse prägnant sein um ein würdiger Einschnitt in Zeit und Ewigkeit [zu] werden.“ Dem prägnanten Augenblick ist ein Glück eigentümlich, dessen Realisierbarkeit und Berechtigung Goethe sehr wohl auch in gegenwärtigen Zeiten noch sieht.70 Bereits in dem Frankfurter Bekenntnisbrief an Schiller vom 16. und 17. August 1797 über das Symbolische71 beschreibt Goethe, wie er in einem von ihm erlebten „eminenten Fall“72 stimmungsmäßig für den Zugang zu den keineswegs als starre Gegebenheiten vorauszusetzenden Ideen und damit „in einen großen Gestaltzusammenhang“ eingefangen worden sei.73 Zu Recht ist vom Symbolischen bei Goethe als von einer „aufschließenden Kraft“ gesprochen worden.74 Indem Nr. 375 der Maximen und Reflexionen besagt, die Idee sei „ewig“ und „einzig“, denn „alles, was wir gewahr werden und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen der Idee“, wird deutlich, dass die Anamnesis der italienischen Reise sowie Goethes „prägnanter Augenblick“ und „eminenter Fall“ mit einer Form der Religiosität verbunden sind, die, gerade indem sie sich zum Schöpferischen und zur Kunst berufen weiß, mimetische Beziehungen zu einer den Einzelerscheinungen übergeordneten Bedeutung unterhält. „Das ist die wahre Symbolik wo das Besondere das Allgemeine repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen.“75 Die Teilhabe am ideell Allgemeinen im zeitlich Individuellen lässt das Individuelle zum Symbol werden, welches Goethe als einen Schlüssel begreift, der die Welt des Wahren und Göttlichen aufzuschließen vermag.76 Dieser Anschauung ist die Synthese zweier Möglichkeiten religiösen Verstehens 70
MA 20.2, S. 1266. Vgl. MA 8.1, S. 390–393. 72 Ebd. S. 391. 73 Müller (1937), S. 224. 74 Vgl. Weinhandl, Ferdinand: Über das aufschließende Symbol, Berlin 1929, S. 30. 75 MA 17, S. 775 (,Maximen und Reflexionen‘ Nr. 314). Siehe auch ebd. S. 766 f. (Nr. 279). 76 Vor dem Hintergrund dieser religiösen Dimension des Symbolbegriffs Goethes sollte auch die Äußerung in den ,Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans‘ gelesen werden, das „eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet“ seien, bleibe „der Conflikt des Unglaubens und Glaubens.“ „Alle Epochen“, so heißt es weiter, „in welchen der Glaube herrscht, unter welcher Gestalt er auch wolle, sind glänzend, herzerhebend und fruchtbar für Mitwelt und Nachwelt. Alle Epochen dagegen, in welchen der Unglaube, in welcher Form es sey, einen kümmerlichen Sieg behauptet, und wenn sie auch einen Augenblick mit einem Scheinglanze prahlen sollten, verschwinden vor der Nachwelt, weil sich niemand gern mit Erkenntniß des Unfruchtbaren abquälen mag“ (MA 11.1.2, S. 216). 71
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inhärent. Goethes Denken hat die antike Religion eines vielfach begründeten Realitätsgefühls ebenso internalisiert wie die einer philosophischen Theologie. In dieser Synthese zeigt sich das Erbe der erotisch-henologischen Religiosität platonischen Philosophierens.77 Ein Aufschluss im Sinne des philosophischen Eros wird Wilhelm Meister im Bereich der Makarie zu Teil.78 Das Erlebnis auf der Sternwarte ist wiederholt mit den bekannten Worten aus dem „Beschluss“ von Kants Kritik der praktischen Vernunft (1788) in Verbindung gebracht worden.79 Bei Kant werden Himmelsgewölbe und Sittengesetz jedoch gegenüber gestellt, dualistisch, ohne Wirkung aufeinander. Sittengesetz sowie „gutes“ und „glückliches“ Leben bleiben letztlich ohne Erlebnis der Bestimmtheit. Bei Goethe dagegen gelingt es, aus einem Zustand der Bedürftigkeit und Entmutigung heraus, in einem plötzlich erreichten euphorischen Augenblick zu einem Ethos der Vermittlung von Innen und Außen und der Transformation der Antagonismen durchzustoßen. Die glückhafte „Gesundheit des Augenblicks“80 verdankt sich der Schau des Universellen, der Einsicht in die Idee des „Einen“ und „Guten“, die jedoch nicht mit dem angeschauten Sternenhimmel identisch ist. Die Materialsammlung, die 1795/96 zur Vorbereitung weiterer Italienstudien angelegt wurde, überschrieb Goethe mit einem das Grundprinzip hippokratischer Wissenschaft bezeichnenden Motto: „At vero homines ex manifestis obscura considerete non noverunt.“81 – „Doch die Menschen verstehen nicht, auf Grund des Sichtbaren das nicht Sichtbare zu betrachten.“ Freier übersetzt taucht dieser Grundsatz als Nr. 3 der Sammlung von Reflexionen, „Aus Makariens Archiv“ überschrieben, am Ende der Wanderjahre wieder auf: „Das Wahre ist gottähnlich; es erscheint nicht unmittelbar, wir müssen es aus seinen Manifestationen erraten.“82
77 Vgl. dazu Hadot, Pierre: Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit, Frankfurt a. M. 2002, S. 23 ff., 101 ff. und 123 ff. 78 Vgl. MA 17, S. 351 f. 79 Hundert Jahre Goethe-Forschung, von Albert Bielschowsky bis Michael Jaeger, haben diesen Vergleich gezogen. Vgl. KW 7, S. 300: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir. (. . .) Der erstere Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines tierischen Geschöpfs (. . .). Der zweite erhebt dagegen meinen Wert, als einer Intelligenz, unendlich, durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart“. 80 Siehe erneut MA 20.2, S. 1266. 81 WA I 34, S. 149. 82 MA 17, S. 688. Zu Goethes Hippokrates-Rezeption siehe immer noch Deichgräber, Karl: Goethe und Hippokrates, in: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin 29 (1937), S. 27–56.
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Das aus der Aporie erfolgende philosophische Exerzitium der Kontemplation findet sich auch im zweiten Teil des Faust. Der „sehnend Hoffen[de]“, vom „Flammen-Übermaß“ (V. 4704, 4708) Geblendete erblickt „des bunten Bogens Wechsel-Dauer“ (V. 4722), das göttliche Friedenszeichen des Alten Testaments (1. Mose 8, 21 und 9, 13). Der Regenbogen wird zum Symbol augenblicklicher Erkenntnis des Unsinnlich-Wahren und, wie es im Regen und Regenbogen-Gedicht von 1813 heißt, zum „Zeugnis einer bessern Welt“83. Die Formel, die er Faust sprechen lässt – „Am farbigen Abglanz haben wir das Leben“ (V. 4727) – hat Goethe als das Grundgesetz einer an die sinnhafte Wahrnehmung gebundenen und zugleich doch über sie hinausdrängenden Erkenntnisbemühung verstanden: „Das Wahre mit dem Göttlichen identisch, läßt sich niemals von uns direkt erkennen, wir schauen es nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol, in einzelnen und verwandten Erscheinungen; wir werden es gewahr als unbegreifliches Leben und können dem Wunsch nicht entsagen, es dennoch zu begreifen.“84 In einem Gespräch mit Kanzler von Müller vom 29. April 1818 hat Goethe dem Menschen das Vermögen zugesprochen, „das Sinnliche zu veredeln und auch den totesten Stoff durch Vermählung mit der Idee zu beleben“. Betätige der Mensch dieses Vermögen, so komme ihm zu Bewusstsein, dass „er ein Bürger jenes geistigen Reiches sei, woran wir den Glauben nicht abzulehnen noch aufzugeben vermögen“.85 Ein Bürger hat zumindest der späte Goethe stets sein wollen – aber eben ein solcher mit bestimmenden, ethisch-ästhetischen Beziehungen zu jenem „geistigen Reich“. In der Weise, in der Goethe ihn verarbeitet, besteht die Tragödie des FaustStoffes gerade in dem eigensinnig-anmaßenden Abkommen von jener Bestimmtheit, die sich im symbolischen Regenbogen-Erlebnis augenblicksweise manifestiert.86 Besonders deutlich wird dies in der panischen Abwehr der Sorge: in seinem Ideologieverdacht verfangen, verwechselt Faust die kontemplative Gottessorge mit trügerischer Magie.87 Faust möchte sich ja gerade entzaubern, so wie Odysseus sich an den Mast binden lässt: „Nimm dich in Acht und sprich kein Zauberwort“ (V. 11423). Diesem Vorsatz folgt dann, Skeptizismus übereilig in Tüchtigkeit übertragend, das Programm des materialistischen Realismus und der diktatorischen Planwirtschaft (V. 11433–11452). In Fausts Kolonie kommt die Tat vor dem Logos; Worte sind in der Kolonie immer nur kurze Befehle für die zur Arbeit bereiten „tausend Hände“ (V. 11510). Goethes 83
MA 9, S. 105. MA 13.2, S. 275 (,Versuch einer Witterungslehre‘ von 1825). 85 Zitiert nach Müller (1937), S. 220. 86 Vgl. weitere, später verdrängte „Anamnesis“- und „Wasser“-Erfahrungen Fausts während der „Klassischen Walpurgisnacht“ (V. 7181 ff. und V. 7271 ff.). Vgl. auch Schings, Hans-Jürgen: „Gesundheit des Moments“ oder Winckelmann und Faust, in: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch 23 (1997), S. 387–397. 87 Etwa derjenigen der Camera-obscura-Szene zum Ende des ersten Aktes. 84
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eigene, poetologische Antwort auf das Kulturproblem der Moderne besteht darin, der vermeintlich verfügbaren, letztlich aber über den Menschen verfügenden „Hydra der Empirie“ seine „ethisch-ästhetischen Formeln“88 entgegenzuhalten, deren symbolisches Wesen sich glückhaft-bestimmend auf jenes „geistige Reich“ bezieht. Hier ist ein dezidiert bürgerliches Selbstverständnis zu vernehmen, das bemüht ist, die Wucherungen der modern-empirischen Welt zu fassen und zu bewältigen, jedoch ohne dabei die in Sprachhandlungsszenarien gewonnene Orientierung auf eine durch die Idee des Guten bestimmte sittlich-praktische Vernunft aufzugeben. Skeptisch genug in ethisch-politischer Hinsicht ist diese Form bürgerlichen Denkens, sich den Sinn für die tragische Gefährdung jeglicher Form der Entscheidungskompetenz und Machtausübung zu bewahren und in den Kruditäten des Weltlaufs nicht ein zwangsläufig sich manifestierendes Vernünftiges zu erblicken; gläubig genug zugleich, um Leiden und Bedürftigkeit des Menschen stets wieder als Ausgangspunkt zum Ermächtigungsfantasien fernen Überstieg des immanenten Kulturzusammenhangs zu verstehen. 3. Proust und die ethische Qualität der Erinnerung Wenn Rudolf Smend im Institutionen-Aufsatz (1956) bemerkt, vermittels der Proust-Studie von Ernst Robert Curtius auf eine „familienpolitische“ Episode des ersten Bandes der Recherche rekurrierend, die deutsche „Staatsfremdheit“89 und „Eigenbrödelei“ resultiere nicht zuletzt aus dem – den romanischen Ländern weniger bekannten – „Fehlen der hilfreichen ,Mechanik sozialer Formen‘“90, so bleibt doch zu fragen, worin eigentlich die ethische Grundlage höf88 SW 37, S. 427 (Brief an Boisserée vom 3. November 1826). Siehe dazu auch ebd. S. 547 (An Iken, 27. September 1827), S. 606 (An Borchardt, 1. Mai 1828) und MA 20.2, S. 1337 f. (An Zelter, 27. März 1830). Siehe auch Schönes Kommentar (SW 7.2), S. 54 ff. 89 Smend (31994), S. 122. 90 Siehe Smend (31994), S. 511 f. und Curtius 1955, S. 91. Vgl. dazu PWFA 2.1, S. 162 f. Längst zur gemeinschaftsbildenden Form stilisierte Abwandlungen der Gewohnheit werden hier in spielerischer Unwissenheit parodiert und so in ihrer integrierenden Eigenschaft nur umso mehr gefestigt: „Dieses vorzeitige Mittagessen gab übrigens dem Samstag in unser aller Augen etwas Besonderes, Gelockertes und eigentlich Sympathisches. In dem Augenblick, da wir normalerweise noch eine Stunde vor uns hatten bis zu der entspannten Stunde des Mahls, wußte man, daß bereits in wenigen Sekunden vorzeitige Endivien, ein Extraomelett, ein unverdientes Beefsteak vor uns erscheinen würden. Die Wiederkehr dieses asymmetrischen Samstags war eines jener kleinen, lokalen, sozusagen innenpolitischen Ereignisse, die in ruhigen Lebensabläufen und geschlossenen Gesellschaften eine Art von nationaler Einheit schaffen und zum Lieblingsthema von Unterhaltungen, humorvollen Anspielungen und nach Lust und Laune übertriebenen Erzählungen werden; sie hätte den Kern eines Epenzyklus abgeben können, hätte einer von uns eine erzählerische Ader besessen. Schon morgens, ehe wir angekleidet waren, sagte – ohne Grund, nur in dem vergnügten Bestreben, die
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lichen, interesselos-solidarischen, ja freundschaftlichen Verhaltens zu sehen ist. Ist die Orientierung auf einen „höheren“ Gesichtspunkt „ideell-zeitlosen Sinnes“91 für die bürgerliche Gesellschaft des späten 19. und des 20. Jahrhunderts überhaupt denkbar? Im fünften Band von Prousts Recherche findet sich eine Passage, die so unterschiedliche Autoren und Leser wie E. R. Curtius, Max Brod, Nabokov und Adorno gleichermaßen angezogen hat; es ist die Reflexion unmittelbar nach der Stelle in La Prisonnière, die den Tod Bergottes beschreibt: „Gewiß erbringen spiritistische Séancen ebenso wie religiöse Dogmen keinen Beweis für das Fortbestehen der Seele. Man kann nur sagen, daß alles in unserem Leben sich so vollzieht, als träten wir mit der Bürde in einem früheren Dasein übernommener Verpflichtungen in das derzeitige ein; die Umstände unseres Erdendaseins bedingen keineswegs, daß wir uns für verpflichtet halten, Gutes zu tun, zartfühlend, ja höflich zu sein (. . .). All diese Verpflichtungen, die im gegenwärtigen Dasein nicht sanktioniert sind, scheinen einer anderen, auf Güte, Gewissenhaftigkeit und Opferbereitschaft basierenden Welt anzugehören, einer Welt, die völlig anders als unsere hiesige ist, aus der wir aber gekommen sind, um auf dieser Erde geboren zu werden, bevor wir vielleicht in jene zurückkehren, um erneut unter der Herrschaft jener unbekannten Gesetze zu leben, denen wir gehorchten, weil wir ihr Gebot in uns trugen, ohne zu wissen, wer es dort eingeschrieben hatte, jener Gesetze, denen alle ernsthafte Geistestätigkeit uns näherbringt und die – doch wer weiß? – einzig den Narren unsichtbar bleiben.“92 Die Evidenz, dass die anlässlich von Bergottes Sterben angestellten Betrachtungen über den Tod, über Herkunft und Unsterblichkeit der Seele sowie über die Aufgegebenheit der Idee des Guten „wahr“ seien, erbringt die Erzählung der Anamnesis-Erlebnisse. Die mémoire involontaire zweckfreier, interesseloser Augenblicke erfolgt stets blitzartig und ist anscheinend unergründlich; so die berühmte Madeleine-Episode in Du côté de chez Swann und auch der ModerStärke des Gemeinschaftsgefühls zu erproben – der eine zum anderen gutgelaunt, herzlich, von einer Art Patriotismus beseelt: ,Wir dürfen heute keine Zeit verlieren; schließlich ist Samstag!‘, während meine Tante, die sich gerade mit Francoise beriet, in dem Gedanken, daß der Nachmittag länger sein werde als sonst, die Meinung äußerte: ,Wie wäre es, wenn wir ihnen einen schönen Kalbsbraten machten, da heute Samstag ist?‘ Wenn um halb elf Uhr einer von uns zerstreut auf seine Uhr blickte und sagte: ,Aha, immerhin noch anderthalb Stunden bis zum Mittagessen!‘, so hielt ihm jeder mit Wonne vor: ,Also wo haben Sie denn Ihre Gedanken, Sie vergessen, daß heute Samstag ist!‘; und noch eine Viertelstunde später lachte man darüber und beschloß, nachher hinaufzugehen und es meiner Tante zu erzählen, damit sie etwas zu ihrer Erheiterung habe.“ 91 Smend (31994), S. 369 und 138. 92 PWFA 2.5, S. 263 f. Der Absatz schließt: „Die Vorstellung, daß Bergotte nicht für alle Zeiten tot sei, ist demnach nicht völlig unglaubhaft“, als spräche zugleich, nur weniger zurückweichend, insofern hoffender und gewisser, die letzte Zeile von Kafkas ,Proceß‘: „. . . es war, als sollte die Scham ihn überleben.“
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geruch im Vorraum der Klosettanlage des Bois du Bologne in À l’ombre des jeunes filles en fleurs.93 Ihrem Wesen nach aussprechbar wird diese Form der Erinnerung dann in der Kette von Erinnerungsekstasen, die der Wartende in der Bibliothek des Herzogs von Guermantes erlebt.94 Dem Grund jenes Glücks auf der Spur, sich auf eine Fahrt begebend, die er bislang in aporetischer Entmutigung stets verschoben hat, gelangt der Erzähler zu der Einsicht, dieser Grund müsse darin bestehen, zugleich den gegenwärtigen sowie einen zeitlich und räumlich entfernten Augenblick wahrzunehmen. Das Wesen, das so in ihm die Eudaimonie der Mneme verspüre, empfinde sie eben darin, was er, der Empfindende, selbst an Außerzeitlichem besitze: „[E]s war ein Wesen, das nur dann in Erscheinung trat, wenn es aufgrund einer solchen Identität zwischen Gegenwart und Vergangenheit in das einzige Lebenselement versetzt wurde, in dem es existieren und die Essenz der Dinge genießen konnte, das heißt außerhalb der Zeit.“95 Die Suche nach der verlorenen Zeit vollzieht sich in der realen Zeit („dans le temps“), der Zeit als Strecke, der prinzipiell nicht umkehrbaren Zeit. Die wiedergefundene Zeit, aufgefunden in einem prägnanten Augenblick und einem Zustand der Eudaimonie, eröffnet den Blick auf und die Teilhabe an einer zeitlosen Sphäre, der „Zeit ohne Zeit“.96 Die Proustsche mémoire involontaire ist, als Sphäre platonischer Anamnesis97, nicht ein bloßes Medium nostalgischästhetizistischen Rückzuges, keine bourgeoise „Flucht in des Herzens stille Räume“98, sondern, ohne gleichwohl usurpatorisch den fortwährenden Besitz der Wahrheit beanspruchen zu wollen, eine dem Leben „dans le temps“ Bestimmtheit verleihende philosophische Tätigkeit. Bei Proust wie bereits bei Goethe zeigt sich, dass ein solches philosophisches Bemühen und darin aufgehendes Wissen sehr wohl auch noch in der modern-bürgerlichen Gesellschaft vorhanden sind. Zu bemerken ist allerdings, dass das Wissen der mémoire involontaire nicht eigentlich politisch wird, indem es in die Doxa-Welt zurückkehrte. Wenn es aber zutrifft, dass das Schöne, Wahre und Gute bei Proust immer erst aufblitzt im Moment des Verzichts, des Verschwindens und der Katas93
Vgl. PWFA 2.1, S. 66 ff. und 2.2, S. 95 ff. Vgl. PWFA 2.7, S. 260 ff. 95 Ebd. S. 265. 96 Bereits zwischen 1909 und 1911 erwägt Proust, seine Schrift ,Contre SainteBeuve‘, aus der dann die ,Recherche‘ hervorgeht, mit der unterscheidenden Auffassung von Zeit und Zeitlichkeit abzuschließen, wobei die „bal des têtes“ (Maskenball) genannte Konzertmatinée die nicht umkehrbare Zeit, die als „l’adoration perpétuelle“ (im religiösen Sinn: die ewige Anbetung der Hostie) bezeichnete Szene der Erinnerungskette die „Zeit ohne Zeit“ darstellen sollte. Vgl. die Bemerkungen von Luzius Keller in PWFA 2.1, S. 631 ff. und 2.7, S. 534 ff. 97 Vgl. Curtius (1955), S. 130 ff. 98 Smend (31994), S. 314. Sprach Rudolf Smend vom Bürger, so schwebte ihm mit Sicherheit nicht jenes dekadente Bild vor, wie Adorno es in seinem Ravel-Essay von der Bürgerlichkeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts zeichnet. Vgl. AGS 17, S. 65. 94
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trophe, so ist seine Kunst doch im Stande, die unbestechliche Einsicht zu vermitteln, dass dies nicht immer so bleiben müsse, dass jedoch die bloße Fülle des durch die Erinnerung geretteten Augenblicks nicht nur nicht frei sei von nostalgischem Ästhetizismus, sondern tendenziell auch nicht von Gier und Gewalttat, um damit über diese Einsicht hinaus die Sehnsucht nach einem anderen Zustand und die Bereitschaft zur verändernden Handlung zu verursachen.99 Erinnerung und Glück bergen, wie E. R. Curtius festhält, die pneumatische Dynamik des Initiativen100, die sich andernorts auch politologisch entfaltet. 4. Thomas Manns politische Philosophie a) Ironischer Konservatismus Das repräsentativ-performative Verständnis verfassungsinstitutioneller Akte ist von Rudolf Smend mit einer Passage in Thomas Manns Königliche Hoheit verglichen worden, die von der zweckfreien Eigenwürde des Vorgangs sowie von einem eben darin sich aussprechenden Ethos der aktiv und passiv Beteiligten, der miteinander in Beziehung gesetzten Menschen erzählt.101 Von Reinhard Mehring ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass Thomas Manns essayistisches sowie sein narratives Werk einer ethisch-anthropologischen Fragestellung im Sinne der politischen Philosophie nachgeht.102 In Fiorenza (1904) besteht das eigentliche politische Drama in der Frage, welche von beiden die stärkere Lebensführungsmacht sei, ob die Kunst oder die Religion das öffentliche Leben leiten sollte.103 Keine von beiden, so antwortet 99
Vgl. AGS 6, S. 366 f., 370 f. und AGS 11, S. 203 ff., 670 ff. Siehe erneut Curtius (1932), S. 116–124. Vgl. Adornos Definition in AGS 18, S. 235 (,Marginalien zu Mahler‘): „Auf die Rettung des Möglichen, doch Ungewesenen zielt Erinnerung ab.“ Transzendenz bedeutet die Erinnerung an ein überwundenes Stadium, die ein zukünftiges verspricht. Vgl. AGS 11, S. 16. Denn bloß festgehaltene Erinnerung ist nicht identisch mit Hoffnung; diese bedeutet die Wiederkunft des Vergessenen. 101 Siehe erneut ebd. S. 145 und GW 2, S. 112 f. 102 Vgl. Mehring, Reinhard: Thomas Mann. Künstler und Philosoph, München 2000 und ders.: „Das Problem der Humanität“. Thomas Manns politische Philosophie, Paderborn 2003. Die omnipräsente Fragestellung des Werkes Thomas Manns besteht in dem Problem, auf welche Weise der Mensch, wie sich im Sprachgebrauch Thomas Manns sagen lässt, „dem Geistigen leben“ kann, ohne – aus Hochmut und Verachtung – am Leben, an dem eigenen sowie am Leben anderer, an der wesentlich ungeistigen Lebenswirklichkeit, schuldig zu werden. ,Zauberberg‘ und ,Joseph‘-Roman lösen dieses Problem, indem sie zu der Einsicht gelangen, alles Geistige – und auch alles durch das Geistige geführte Leben – müsse einem obersten geistigen Prinzip, Gott oder der Idee des Guten gewidmet, verpflichtet sein. 103 Im ,Lebensabriß‘ von 1930 spricht Thomas Mann davon, eine Wiener Aufführung des Stückes habe ihm „Gedanken (. . .) über das Wesen einer freilich unagitatorischen und nur seismographisch-anzeigenden Empfindlichkeit“ eingegeben, die ihm 100
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das Stück, sofern beide in Extremen verharren, den Extremen eines Herrschaftsanspruchs sendungsbewusster asketischer Moral und eines durch ästhetizistische Haltung hervorgebrachten Skeptizismus. Thomas Mann macht aus Lorenzo de’ Medici in der Stunde seines Todes den Politiker großen, philosophischen Formats, der, zur Transformation der Antagonismen bereit, versucht, sich mit dem Widerpart zu vergleichen und zu verständigen. Zwischen sich befehdenden Prinzipien muss nicht „Unversöhnlichkeit und ewige Feindschaft“ gelegt sein, wie der Prior apodiktisch formuliert.104 Die Ironie, die sich hier bereits als Syntheseversuch zwischen Ethik und Ästhetik anbahnt, wird von Savonarola verachtet als „schnöde Gerechtigkeit“, als „lüsternes Verstehen“ und „lasterhafte Duldung des Gegenteils“.105 Der Magnifico dagegen ist so weit, sich des Erringens der Macht und der Alleinherrschaft zu schämen, da er durchschaut hat, auf welche Weise man sie gewinnt: in der „Schule der Verachtung“, durch die „Würdelosigkeit der Menge“, die leer und selbstvergessen nichts Besseres kenne, als beherrscht zu sein.106 Auch wenn sein Untergang bereits eingeleitet ist, führt die tragische Situation doch zur inneren Umkehr. Von Lebensführungsmächten, Herrschaftsansprüchen und Ausgleichsbestrebungen handeln auch die Betrachtungen eines Unpolitischen.107 Der zwischen 1915 und 1918 geschriebene erratische Essay wird zum dialogisch-ernsten Spiel, indem Thomas Mann unterschiedliche Standpunkte und deren Entwicklungen, einen ganzen Chor von Masken, gegeneinander antreten lässt. In diesem vielstimmigen Chorgesang gibt es jedoch auch eine Art cantus firmus, der das scheinbar „Unpolitische“ der Betrachtungen ausmacht: „An Institutionen ist wenig, an den Gesinnungen alles gelegen“108. „Unpolitisch“ ist die eingenommene Haltung aber als Gegensatz und nur so lange und insofern der Standpunkt „als eine andere, stillere und indirektere Form politischen Wissens erscheinen wollte.“ (GW 11, S. 131 f.). 104 GW 8, S. 1061. 105 Ebd. S. 1063. 106 Ebd. S. 1065. 107 Hilfreich, wenn auch m. E. die volle Bedeutung des Essays nicht erschließend: Kurzke, Hermann: Die Quellen der ,Betrachtungen eines Unpolitischen‘. Ein Zwischenbericht, in: Internationales Thomas-Mann-Kolloquium 1986, hg. v. Heftrich, Eckhard/Wysling, Hans, Lübeck 1987, S. 291–310; ders.: Nietzsche in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“, in: Wagner – Nietzsche – Thomas Mann. Festschrift für Eckhard Heftrich, hg. v. Gockel, Hein/Neumann, Michael/Wimmer, Ruprecht, Frankfurt a. M. 1993, S. 184–202; ders.: Das Kapitel „Politik“ in den ,Betrachtungen eines Unpolitischen‘, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 13 (2000), S. 27–41; ders.: Thomas Mann – Meister der konservativen Humanität, in: Literaturen 7/8 (2005), S. 24–31; Borchmeyer, Dieter: Politische Betrachtungen eines vermeintlich Unpolitischen. Thomas Mann, Edmund Burke und die Tradition des Konservatismus, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 10 (1997), S. 83–104 und Breuer, Stefan: Ein Mann der Rechten? Thomas Mann zwischen ,konservativer Revolution‘, ästhetischem Fundamentalismus und neuem Nationalismus, in: Politisches Denken. Jahrbuch 1997, Stuttgart 1997, S. 119–140. 108 TMB S. 273.
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des „Zivilisationsliteraten“ 109 als eigentlich „politisch“ gelten kann. Schließlich erweist sich jedoch, dass das Unpolitische das wahrhaft Politische sei. Zivilisationsliterat und demokratischer Politiker treten in den Betrachtungen als einund derselbe negative Idealtypus auf. Dieser Typus zielt auf gesellschaftliche Verbesserungen, auf die politisch einzurichtende Angleichung der Lebensumstände. Zu diesem Zweck ist er willens, den „Geist im Dienste der Wünschbarkeiten“110 einzusetzen. Als „Manifestant“, „Tumultuant“ und „fanatischer Freiheitsgestikulant“111 ringt er um Glaubwürdigkeit und das Wohlwollen der Massen, indem er, begeistert für alle Formen „utilitaristischer Glücksphilantropie“112, den Menschen letztlich aber auf seine gesellschaftliche Existenz reduzierend, zivilisatorische Sicherheiten, Annehmlichkeiten und Bequemlichkeiten verspricht. Die Betrachtungen, die doch den Staat so wenig „hegelisch“ wie möglich denken, in ihm nicht etwas „Anbetungswürdiges“ und „Irdisch-Göttliches“113 sehen, wehren sich „unpolitisch“ gegen die Entleerung des Staatsbegriffs bei gleichzeitiger Auffüllung des Begriffs des Politischen mit beliebigen programmatischen Inhalten; sie wehren sich gegen das Überhandnehmen von staatlich organisierter Daseinsvorsorge, gegen die Möglichkeiten umfassender Daseinsregulierung und -gestaltung durch sozialutopisch und more geometrico begriffene Politik. Verstehe man „Demokratie“ bloß als „bis zur eigentlichen Bewußtlosigkeit wiederholte Glück- und Zauberformel“114, werde das Ergebnis aller Politisierung immer nur die „hysterische Demokratie“ und „amüsante Republik“115 sein, die Folgendes bedeutete: massives Auftreten der Literatenpolitiker, megaphonartiges Verbreiten von groß- und kleinschrittigen Beglückungsplänen, die Schürung von Ängsten und Krisen, das Praktizieren einer ebenso geschäftigen wie gefallsüchtigen Reformbereitschaft, zudem uneingestandene Plutokratie und uneingeschränkte Wohlstandsbegeisterung. Solche Politik mache aber den Menschen nicht „besser“ oder „menschlicher“; in ihr werde der Bürger durchaus nicht zum eigentlich republikanischen Staatsbürger, sondern vielmehr zum „Staatsphilister“ und „Bourgeois“.116 109
Vgl. ebd. S. 73 ff. Ebd. S. 44. Vgl. Nietzsches Charakterisierung der Jahrhunderte KSA 12, S. 440. 111 TMB S. 131. Der „Großmäuligkeit“ und dem „politischen Ästheten-Orgiasmus“ begegnet Thomas Mann nicht nur mit der Erschrockenheit Goethes, indem er die „Aschermittwochsbetrachtung“ aus der ,Italienischen Reise‘ zitiert, „Freiheit und Gleichheit“ könnten oft „nur im Taumel des Wahns genossen werden“ (vgl. TMB S. 124, 549 und MA 15, S. 607), sondern zudem mit der Kritik Platons am Freiheitsdurst der demokratischen Polis (siehe erneut ,Politeia‘ 562 cd, 8. Buch, 14). 112 TMB S. 271. 113 Ebd. S. 166. 114 Ebd. S. 247. 115 Ebd. S. 570. 116 Vgl. ebd. S. 153 f. 110
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Problematisch in Hinsicht auf Staat und Politik ist in Thomas Manns Augen nicht die Seichtheit des „Zivilisations“-Ideals gegenüber dem – wiederum idealtypisch zugespitzten – „Kultur“-Begriff117, sondern das Übergewicht des (machtpolitisch) Ästhetischen gegenüber dem Ethischen. Für den zivilisationsliterarisch gebildeten Politiker ist die Gesellschaft in ihrer Abstraktion ähnlich zu gestalten, zu steuern, zu modifizieren und zu kontrollieren wie das Anfertigen eines Kunstwerkes. Ihn interessiert der Staat ausschließlich als ästhetisches Phänomen, als ein Spiel um Einfluss, ein öffentliches Ringen um Macht. Die Sozialutopie, so sehr sie in ihrem Pathos angibt, an den Menschen zu glauben, benötigt Macht als legitimen Zwang, sie zielt letztlich auf nichts anderes als auf Macht, denn die Frage nach der Lebenswelt und wer sie einzurichten in der Lage ist, bleibt ihr „Letztes“, ihr Horizont. Hinter dem zur Schau gestellten demokratischen Idealismus lauern despotische Neigungen, denn das in den unpolitischen Betrachtungen kritisierte Politikverständnis speist sich aus dem aristotelischen phronesis-Konzept sowie dem bei Machiavelli, bei Jacob Burckhardt und Max Weber vertretenden Staatsbegriff. Zu diesem führt der Weg des von Nietzsche verbreiteten „Ruchlosigkeits- und Renaissance-Ästhetizismus, des hysterischen Schönheits-, Macht- und Lebenskultes“118 ohne ethisch-normative Bestimmtheit. Die politischen Betrachtungen eines Unpolitischen versanden scheinbar in der Aporie, einer Rückzugs- und Ohne-mich-Haltung: „Und an all diesem Unfug sollte ich teilhaben?“119 Doch gibt es für die Betrachtungen offensichtlich eine der Politik übergeordnete Sphäre, jene Sphäre, zu der „alle tiefere Sittlichkeit“120 gehört, ein einzigartiges Wissen – im Gegensatz zu den vielfachen Verschränkungen menschlicher Lebenswelt – von etwas „Anderem“ vermittelnd. Die auf „unpolitische“ Weise politische „Gesinnung“ – cantus firmus-Wort der erzieherischen Absicht des Essays – zeigt sich in dem abschließenden Kapitel über „Ironie und Radikalismus“. Radikalismus sei Nihilismus, der Ironiker dagegen sei konservativ. Ein Konservatismus sei jedoch „nur dann ironisch, wenn er nicht die Stimme des Lebens bedeutet, welches sich selber will, sondern die Stimme des Geistes, welcher nicht sich will, sondern das Leben.“ Hier sei Eros im Spiel. Die „Bejahung des Lebens durch den Geist“ sei gleichwohl nicht moralische Bejahung: „Sie ist ironisch. Immer war Eros ein Ironiker. Und Ironie ist Erotik.“ Ironie, so Mann, ist aber immer Ironie „nach beiden Seiten hin“. Die Ironie des Geistes richtet sich folglich auch gegen diesen selbst; sie ist Wissen um die generelle Bedürftigkeit und Unzulänglichkeit des Menschen.
117 Die zum Zwecke der Klarheit angestrengte Antinomie stammt bereits aus dem Essay ,Gedanken im Krieg‘ (1914). Vgl. TME 1, S. 188–205. 118 TMB S. 47. 119 Ebd. S. 87. 120 Ebd. S. 261.
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Was ist also Konservatismus? „Die erotische Ironie des Geistes.“121 In der Doxa-Welt des Politischen wirkt die Ironie antiradikal; an ihr zerschellen alle allzu optimistisch-idealistischen, planvoll-rationalen Lösungsmodelle, denen die gefährliche Tendenz ihrer machtpolitisch-radikalen Verwirklichung immer schon inhärent ist. Ironie dagegen ist der philosophisch gestimmte Wille zur Verständigung, zur „politischen Vermittlung zwischen Gedanke und Wirklichkeit“; wahre Politik ist ironischen Wesens.122 In liebender Hinwendung zum Leben sowohl als auch zum Höheren vermittelt der Geist dem Leben ein Handlungswissen, das seine Bestimmung an einem auch über ihn, den Geist selbst, hinausführenden Ort hat. In der Berliner Rede Von deutscher Republik (1922) spricht Thomas Mann von der neuen Staatsform als von einer „Zone der Erotik“.123 Ihm geht es um den vom kulturellen Leben und von der Erziehung geprägten „Staatsgeist“.124 In auffälliger Nähe zu Rudolf Smends in die Weber-Rezension von 1918 eingeschlossenen Klage über die Trennung von geistigem und politischem Leben in Deutschland, die die Ausprägung eines staatsbürgerlichen Bewusstseins und politischen Ethos behindere, bedauert auch Thomas Mann die Kluft zwischen Staat und Kultur.125 Zutreffend werde der Charakter der republikanischen Demokratie in der Beschreibung bei Novalis erfasst, nach der „wir alle Könige“ seien.126 Wenn Mann in diesem Sinne mahnt, der Staat sei nun „in unsere Hände gelegt, in die jedes Einzelnen“, die Republik sei zur „Hauptangelegenheit jeder Person“ und damit zu einer Sache geworden, „die wir gut zu machen haben“127, so ist die Koinzidenz dieser politischen Anthropologie mit der im Satz vom Philosophenkönigtum gipfelnden Konditionalitätsthese, dem platonischen Zusammenhang der Sorge um die Einzelseele mit der Rettung der Polis,
121 Ebd. S. 571 f. Auf Grund dieses „erotischen“ Schwankens zwischen dem Widerlegen der Doxa, der Kritik an der sinnfälligen Welt, der Zersetzung des Mythos und dem Aufschwung zu den Ideen und zum Unvergänglichen einerseits, der unvermeidlichen Zurückleitung zum Vergänglichen, der Bindung an den Logos in Mythos und Doxa und an die gegebenen politischen Umstände andererseits, ist es zutreffend, an Platons ,Symposion‘ zu denken. Dem ironischen Konservatismus Thomas Manns geht es, als einer philosophischen Dichtung oder dichterischen Philosophie, um die Nachahmung des unsinnlich Wahren. Wer, als Ironiker, mutig und lächerlich zugleich, vom Geist aus das Leben, von ihm aus wieder zum Geiste will, der ist, wie der platonische Sokrates empfiehlt, Tragödien- und Komödiendichter in Einem. Siehe dazu Krüger (1983), S. 292 ff. 122 Vgl. ebd. S. 582. 123 Ebd. S. 160. Vgl. auch S. 158 und 161. 124 Ebd. S. 140. 125 Vgl. ebd. S. 135 f. und 141. Zudem siehe erneut Smend 1918, S. 373. 126 Ebd. S. 148 zitiert Novalis, ,Allgemeines Brouillon‘ Nr. 1129. Siehe erneut Smend (31994), S. 349 f., sich auf dieselben und vergleichbare Novalis-Texte beziehend. 127 Ebd. 136 und 152.
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ebenso wenig zu übersehen wie die Nähe zur Aufgegebenheits-These des Staats- und Verfassungsdenkens Rudolf Smends. b) Ein philosophischer Regierungsbegriff Die Rede von 1922 ist auch als Zauberberg-Trabant zu lesen. Wenn es hier heißt „Der Mensch, gebildet als Glied eines gebildeten Staates: Nun, das ist politische Humanität“, dann ist wiederum der Zauberberg als ein Zeit- und Bildungsroman in diesem Sinne zu verstehen. Doch wäre eine solche Genrekennzeichnung unzureichend: es lässt sich auch eine durch Johannes-Evangelium und Apokalypse gespeiste theologische Schicht des Romans ausmachen.128 Im Juni 1919 überdenkt Thomas Mann den Sinn seiner Einfügungen in das Romanmanuskript. Vor allem ist es sein Anliegen, „H. C.’s geistige Zeitbestimmtheit, seine geistig-sittliche Indifferenz, Glaubenslosigkeit und Aussichtslosigkeit [zu] zeigen.“129 Denn dies sei die eigentliche „Motivierung“ für das „Abenteuer der 7 Jahre“, die es erzählerisch zu erklären gelte. Wenigstens anzudeuten sei die „geistige Situation, in der ein junger Mensch sich mehr oder weniger bewußt vor dem Kriege befand“.130 Diese Überlegungen lassen das Kapitel über Hans Castorps „sittliches Befinden“ entstehen. Mit dem Kulturproblem der Moderne bezeichnet folgender Passus den „geistigen Reiz“, den Thomas Mann bei der Wiederaufnahme des Romans mit Ernst Bertram bespricht131: „Der Mensch lebt nicht nur sein persönliches Leben als Einzelwesen, sondern, bewußt oder unbewußt, auch das seiner Epoche und Zeitgenossenschaft (. . .). Dem einzelnen Menschen mögen mancherlei persönliche Ziele, Zwecke, Hoffnungen, Aussichten vor Augen schweben, aus denen er den Impuls zu hoher Anstrengung und Tätigkeit schöpft; wenn das Unpersönliche um ihn her, die Zeit selbst der Hoffnungen und Aussichten bei aller äußeren Regsamkeit im Grunde entbehrt, wenn sie (. . .) der bewußt oder unbewußt gestellten, aber doch irgendwie gestellten Frage nach einem letzten, mehr als persönlichen, unbedingten Sinn aller Anstrengung und Tätigkeit ein hohles Schweigen entgegensetzt, so wird (. . .) eine gewisse lähmende Wirkung solches Sachverhalts fast unausbleiblich sein, die sich auf dem Wege über das Seelisch-Sittliche geradezu auf das physische und organische Teil des Individuums erstrecken mag.“132 128 Vgl. Maar, Michael: Geister und Kunst. Neuigkeiten aus dem Zauberberg, Frankfurt a. M. 1997, insb. S. 208 ff. 129 TMT 1918–1921, S. 261 (9. Juni 1919). 130 Ebd. S. 263 (12. Juni 1919). 131 Vgl. ebd. S. 208 (21. April 1919). 132 GW 3, S. 50. Es lässt sich zeigen, dass entscheidende Elemente des Kapitels über Hans Castorps „sittliches Befinden“ aus verschiedenen zeitdiagnostischen Betrachtungen Nietzsches zusammengesetzt sind. Vgl. dazu KSA 10, S. 660, KSA 12,
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Hans Castorp erfährt die passive Form des Nihilismus, die Nietzsche zufolge schläfrig und träge macht.133 Er liebt die freie Zeit, die man untätig oder mit Musikhören und Rauchen verbringt, das Arbeiten fällt ihm schwer, weil er keine unbedingte Notwendigkeit, keinen Sinn in ihm zu sehen vermag134, bis auf den, in der Stadt „was vorstellen“ zu können, wozu ihn sein Onkel und Vormund auffordert.135 Aber aus eigenem Antrieb kann er sich nicht für einen Beruf entscheiden, die Entscheidung wird ihm mehr oder weniger von seinen Verwandten und den Umständen abgenommen.136 Nicht nur seine gesellschaftliche, auch seine politische Einordnung in das Gemeinwesen, in das er hineingeboren wurde, erweist sich als problematisch; seine Mitbürger sehen ihn prüfend an und fragen sich nach der „öffentlichen Rolle“ und dem „politischen Faktor“, den der junge Castorp wohl in der Stadtrepublik, in Bürgerschaft und Ehrenamt, einmal spielen werde.137 Aber der durch Initiationserlebnisse zur „Sympathie mit dem Tode“138 gestimmte Hans Castorp setzt sich gegen das im deutschen Kaiserreich um die Jahrhundertwende herrschende nihilistische Leistungsethos, dieses „Absolutum“ einer transzendenzlosen Arbeitswelt139, mit „entschlossener Trägheit“140 zur Wehr. Das Leben im „Flachland“ erscheint ihm bei aller Geschäftigkeit und gerade in seinem geräuschvollen Getümmel, diesem konkurrierenden Begehren, den jeweils Anderen an Besitz und Ansehen zu gleichen oder zu übertrumpfen, dermaßen sinnlos, dass er den Eintritt in die
S. 350, 355 und 374, KSA 6, S. 30 sowie KSA 3, S. 408 f. Siehe außerdem die detailreiche Studie von Joseph, Erkme: Nietzsche im „Zauberberg“ (Thomas-Mann-Studien Bd. 14), Frankfurt a. M. 1996. 133 Vgl. KSA 12, S. 350. 134 Vgl. GW 3, S. 49 f. 135 Ebd. S. 52. 136 Vgl. ebd. S. 51. 137 Ebd. S. 54. 138 TMT 1918–1921, S. 235 (14. Mai 1919). Vgl. TMB S. 431. 139 Im Tagebuch denkt Thomas Mann über den geringfügigen „sittlichen Unterschied zwischen Kapitalismus und Sozialismus“ nach. Beiden gelte „die Arbeit als höchstes Prinzip, als das Absolute“. Es gehe aber nicht an, so zu tun, als sei der Kapitalismus eine „schmarotzerische und unproduktive Lebensform.“ Im Gegenteil kenne die bürgerliche Welt keinen höheren Begriff und Wert, als den der Arbeit, und ihr „sittliches Prinzip“ werde im Sozialismus erst „offiziell“, werde zum wirtschaftlichen, politischen, menschlichen Kriterium schlechthin, „vor dem man besteht oder nicht“, und dies so sehr, dass niemand frage, „warum und wieso eigentlich Arbeit diese unbedingte Würde und Weihe“ besitze. Bringe der Sozialismus etwa einen neuen Sinn und Zweck der Arbeit? „Nicht, daß ich wüßte“, beantwortet Thomas Mann sich die Frage selbst. Sei aber Arbeit nun „ein Glaube, ein Absolutum?“ Nein wiederum. Der Sozialismus steht für Mann „geistig, moralisch, menschlich, religiös nicht höher, als die kapitalistische Bürgerlichkeit“, er ist „nur ihre Verlängerung. Er ist ebenso gottlos, wie sie, denn Arbeit ist nicht göttlich.“ Siehe TMT 1918–1921, S. 268 (19. Juni 1919). Vgl. dazu KSA 3, S. 557. 140 KSA 3, S. 409.
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Gesellschaft Müßiger und Kranker als etwas geradezu Erstrebenswertes zu empfinden lernt. Dies mag Eskapismus genannt werden, skeptische Abneigung gegenüber denjenigen, „die herumgehen und lachen und Geld verdienen und sich den Bauch vollschlagen“141. Doch würde Hans Castorp die ursprünglich angesetzte Frist seines Aufenthalts „bei Denen hier oben“ wohl nicht überschritten haben, „wenn seiner schlichten Seele aus den Tiefen der Zeit über Sinn und Zweck des Lebensdienstes eine irgendwie befriedigende Auskunft zuteil geworden wäre.“142 Und somit erscheint die Flucht aus der Sinnleere gerechtfertigt. Die kontemplative Lebensführung, die der Aufenthalt „bei uns hier oben“ ermöglicht, befähigt den „mittelmäßigen“143 Helden dazu, „im Regierungsinteresse“ über die antagonistischen Prinzipien und Lebenshaltungen nachzudenken und sie gegeneinander abzuwägen, um sie schließlich auf dem philosophischen Weg ungewöhnlicher, zuletzt aber auch noch abgestreifter Liebeshingezogenheit zu transzendieren. Wiederholt begibt er sich an den „blaublühenden Ort“, um den „Lebenskomplex“, die „Eindrücke und Abenteuer“ seiner Seele „regierungsweise“ zu überdenken.144 Der Regierungsbegriff ist dem Roman zentral; er wird geradezu mit der vita contemplativa gleichgesetzt. Regieren, das heißt philosophisch, im Sinne des „homo dei“145, „Stand und Staat des Menschen“146 zu erörtern. Höhepunkt des regierungsweisen Kontemplierens ist das eine spirituelle Wiedergeburt einleitende und eine Art „neuen Bund“147 begründende „Traumgedicht“ des „Schnee“-Kapitels. Die „Operationes spirituales“ und Hans Castorps regierungsweise Verständigungsbemühungen, sein Umherirren im Kraftfeld der Ideen sowie im Schneegestöber148, führen in eine scheinbar ausweglose Situation, in die Aporie, die jedoch zum Ausgangspunkt der träumerischen Reflexion wird. Der Doppeltraum ist ausdrücklich ein von Eros geführter Seelenflug, ein den Ideen zustrebendes feierliches „Wiedererkennen“.149 Der streng typisierte Traum – vom locus amoenus bis zur Statue Demeters und Persephones – schließt arkadische Landschaft und dunklen Tempelbezirk, Elysium und Abgrund zu einer complexio oppositorum zusammen. Die „verständig-freundschaftliche“ Lebensform der „Sonnenleute“ wird nicht nur „im stillen Hinblick“ auf die Untat des 141
GW 3, S. 279. Ebd. S. 321. 143 Vgl. ebd. S. 50 und 994. 144 Vgl. ebd. S. 537–541. 145 Ebd. S. 524. 146 Ebd. S. 646 und Thomas Manns Brief an Josef Ponten vom 5. Februar 1925. Zitiert nach Dichter oder Schriftsteller? (1988), S. 64. 147 Maar (1997), S. 144. 148 Vgl. GW 3, S. 608 ff. Ausdrücklich kommt es zur Parallelführung von „geistiger“ und „sportlicher“ Erkundung. Vgl. GW 3, S. 670. 149 Vgl. ebd. S. 678. 142
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„Blutmahls“, sondern trotz des Grässlichen geführt und aufrecht erhalten.150 Die „Frömmigkeit“, die ihr „Tun und Lassen“ bestimmt, lässt ihren Umgang miteinander als „höfliche Rücksichtnahme“ und „undüsteren Ernst“ erscheinen und zur Einheit von Gutsein und Glücklichsein werden.151 Dieser prägnante Augenblick entlarvt die sich um „lichtsuchende Jugend“152 streitenden Pädagogen als „Schwätzer“153. In der „Mitte ist des Homo Dei Stand, (. . .) wie auch sein Staat ist zwischen mystischer Gemeinschaft und windigem Einzeltum. (. . .) Der Mensch ist Herr der Gegensätze, sie sind durch ihn, und also ist er vornehmer als sie. Vornehmer als der Tod, zu vornehm für diesen, – das ist die Freiheit seines Kopfes. Vornehmer als das Leben, zu vornehm für dieses, – das ist die Frömmigkeit in seinem Herzen. (. . .) Oh, so ist es deutlich geträumt und gut regiert! (. . .) Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.“154 Die Abkehr von der „Sympathie mit dem Tod“ ist zwar eine Absage an Naphtas apodiktisches Konzept eines Gottesstaates, das unter theologischer Berufung die Staatsmacht zu Ermächtigungsfantasien legitimiert und dazu, „die Hand nicht zurückzuhalten vom Blute“155, bedeutet jedoch nicht ein Abkommen von einer Bezüglichkeit politischen Denkens und Handelns auf ein „Höchstes“ und „Göttliches“. Die Todessympathie ist Initiation zur religiös-bedürftigen Gestimmtheit, wird aber im Traumgedicht zu einer Liebesphilosophie umgedeutet. Der regierungsweise hervorgebrachte Lehrsatz „Der Mensch soll“ ist ein in Orientierung auf das Gute gesprochenes „Liebeswort“156, und nur „aus Liebe und Güte“ ist die zeremonielle Form „verständig-freundschaftlicher Gemeinschaft und schönen Menschenstaats“.157 Zurückgekehrt in die zivilisierte Atmosphäre des Sanatoriums, scheint das philosophische Exerzitium, das mit der Aporie begann, nichts bewirkt zu ha150
Vgl. ebd. S. 685. Ebd. S. 680 f. 152 Ebd. S. 637. 153 Ebd. S. 685 f. 154 Ebd. 155 Vgl. ebd. S. 557 und 559. In diesem Sinn ist der Gedankentraum des „Schnee“Kapitels durchaus mit Raskolnikows einsichtsvollem Fiebertraum in sibirischer Gefangenschaft vergleichbar (,Schuld und Sühne‘, Epilog, 2), auch wenn Dostojewskij noch stärker die Fatalität des Menschen zum Ausdruck bringt, der in hochmütiger Selbstüberschätzung im Auftrage Gottes oder der Vorsehung handeln zu müssen und lebensunwertes Leben vernichten zu dürfen meint. 156 Vgl. ebd. S. 907, 947 und 993. In Thomas Manns politischem Denken ist noch das Wissen von der prinzipiellen Einheit oder doch Verbundenheit der Textsorten und Sprachhandlungen Gesetz – Gedicht – Gebet bewahrt. 157 Ebd. S. 686. Noch die letzte Seite des Romans zeigt doch, dass die den Text durchziehende Settembrini-nahe Schelte des Erzählers angesichts von Hans Castorps „Zeitverbrauch“ zu relativieren ist durch die Einsicht in Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit der erfahrenen „Steigerung“, die „regierungsweise“ zu dem unvergessenen „Traumgedicht vom Menschen“ geführt hat (vgl. ebd. S. 994). 151
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ben; es kommt zu keiner Umkehr. Ein Fall von (letztlich verkannter) Tragik? Ethischer Gehalt und politische Bedeutung dieses Gehalts sind dem Traumgedicht des „Schnee“-Kapitels vielfach abgesprochen, die absteigende Linie des Romans zum Verschwinden seines Helden in den Wirren des Kriegs weitaus stärker betont worden.158 Es ist jedoch eine aufsteigende Linie auszumachen, deren Entdeckung in dem von der Forschung auffallend vernachlässigten Kapitel „Fragwürdigstes“ offenbart, der Träumer habe die Regierungserklärung seines Traumgedichts nicht vergessen. Die Wiedererweckungsszene des Kapitels tritt zunächst als spukhafte Verhunzung des „Schnee“-Traumes auf. Die Lazarus-Motivik ist im Roman bereits vorbereitet worden159; in „Fragwürdigstes“ erscheint sie als in dem aufmunternden Zuruf „Immer heraus damit!“160 verkapptes Jesus-Wort (Joh 11, 43), in dem richtigen Weg, den Hans Castorps Augen ohne zu suchen gehen161 (Joh 14, 4), in Joachims mumienhaft-gewickeltem
158 Siehe insb. Kristiansen, Borge: Unform – Form – Überform. Thomas Manns Zauberberg und Schopenhauers Metaphysik. Eine Studie zu den Beziehungen zwischen Thomas Manns Roman Der Zauberberg und Schopenhauers Metaphysik, Kopenhagen: Akademischer Verlag 1978, S. 277: „Im Kontext des Romans ist Castorps ,Traumgedicht‘ ein transitorisches Bildungserlebnis, das aus inneren strukturellen und kompositorischen Gründen vergessen wird und somit nicht zur Lösung seines Regierungsproblems beiträgt.“ Vgl. auch ders.: Freiheit und Macht. Totalitäre Strukturen im Werk Thomas Manns. Überlegungen zum „Gesetz“ im Umkreis der politischen Schriften, in: Internationales Thomas-Mann-Kolloquium (1987), S. 53–72. Das Entscheidende des „Der Mensch soll“-Gebots liegt nach Maar (1997), S. 184 nicht darin, dass es von jedem und jederzeit befolgt werde, sondern darin, dass es überhaupt aufgestellt wird. Auch im Fall des Verstoßes bleibt der Anspruch des Gebots bestehen, seine Gültigkeit ist nicht von der jederzeitigen Befolgung abhängig sowie es auch nicht durch Nichtbeachtung widerlegt werden kann. Kristiansen (1987), S. 65 führt dagegen aus: „Mit diesen Worten, daß der Mensch, der durch sein Gewissen die Idee des Guten besitzt, durch seine Natur dennoch dazu prädestiniert ist, statt des Guten immer wieder nur das Böse zu tun und somit konsequent seine eigentliche Bestimmung und Aufgabe zu verfehlen, hat Thomas Mann die Lehre der Mose-Erzählung ausformuliert und zugleich die Implikation seiner eigenen Anthropologie bloßgelegt.“ Maar 1997, S. 317 weist zu Recht darauf hin, das entscheidende Wort „nur“ sei von Kristiansen hineingeschmuggelt worden. Von ihm sei bei Thomas Mann nirgends die Rede. Immer und überall werde gegen Gebote verstoßen, deswegen aber lange noch nicht nur das Böse getan. Vgl. auch Kurzke, Hermann: Auf der Suche nach der verlorenen Irrationalität. Thomas Mann und der Konservatismus, Würzburg 1980, S. 177. Differenzierter dann in ders.: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung, München 1985, S. 210. Siehe zudem Wisskirchen, Hans: Zeitgeschichte im Roman. Zu Thomas Manns Zauberberg und Doktor Faustus, Bern 1986, S. 103 und Wysling, Hans: „Der Zauberberg“, in: Thomas-Mann-Handbuch, hg. v. Helmut Koopmann, Stuttgart 1990, S. 415. 159 Vgl. GW 3, S. 285, 287 und 435. Hier ist stets noch der gichtkranke Lazarus gemeint (Lk 5, 23). Das Lazarus-Motiv des Johannes-Evangeliums bildet die Herzpassage von Thomas Manns Lieblingsroman ,Schuld und Sühne‘ (Vierter Teil, Kap. IV). Auch hier wird die Gnadenerzählung durch Verweise auf die Lazarus-Erzählung bei Lukas vorbereitet. 160 GW 3, S. 940. 161 Vgl. ebd. S. 945.
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5. Teil: Der geistige Ort des Verfassungsdenkens Rudolf Smends
Aussehen162 (Joh 11, 44) und der an Jesu Dank in Joh 11, 41 gemahnenden Zeile aus Gounods Gebet des Valentin: „O Herr des Himmels, hör’ mein Flehn“163. Aber nur für einen schwebenden Augenblick darf Hans Castorp wie der Jesus des Evangeliums sein, dessen Wunderhöhepunkt in der Schöpfung durch das Wort besteht. Das Wort, das Thomas Mann Hans Castorp sprechen lässt, indem ihm in Analogie zu Joh 11, 35 die Augen übergehen – „Verzeih!“164 – ist, „unauffällige Klimax des Romans“165, Ausdruck einer schöpferischen sowie einer Grenz- und Gnadenerfahrung und meint in gnostischer Bündigkeit nichts anderes als eben Caritas, Gratia, Demut aus Dankbarkeit. Denn Joachim bleibt tot und kann Hans Castorp nicht verzeihen, dieser ist folglich ebenso auf Gnade angewiesen wie er zugleich der Wunderhandlung nicht bedarf, um seine Verbindung mit der das Traumgedicht bestimmenden Idee zu bekunden. Die Monopolisierung von Wunder, Geheimnis und Autorität werden von ihm abgelehnt.166 Sein Lichtanschalten, das dem Spuk ein Ende bereitet, bezeugt, dass er das dem Tode abschwörende und der Idee des Guten verpflichtete Liebeswort des Traumgedichts nicht vergessen hat. Die Erkenntnis des Guten, als Teilhabebeziehung, stattet den „mittelmäßigen“ Helden – gemäß Thomas Manns Lieblingsstelle aus der Apokalypse (Apk 3, 7–8) – mit jener „kleinen Kraft“ aus, die ihn befähigt, durch die verschlossene Tür hinaus zu finden.167 Mit der Reprise des Traumgedichts wird im Zauberberg ein Positives an- und ausgesprochen, das bis heute in der Gefahr schwebt, gesellschaftlich ausgetrieben zu werden. Die Joseph-Tetralogie setzt das im Zauberberg Berührte fort, indem sie als ein politischer Roman und unter Zuhilfenahme des Mythischen von der Entstehung eines Amtsethos erzählt. Der Aufsatz über den Alten Fontane (1910/19) bezeichnet die Auflösung des Mythos als kennzeichnend für die Demokratie; die republikanische Demokratie ist für Thomas Mann ein Zustand höchster Bewusstheit aller.168 Des Mythos bedient sich der Erzähler nur, um ihn den „fa-
162
Vgl. ebd. S. 946. Ebd. S. 945. 164 Ebd. S. 947. 165 Maar (1997), S. 218. 166 In diesem Sinne handelt Hans Castorp tatsächlich in der Nachfolge Jesu (siehe dazu Dostojewskijs „Der Großinquisitor“, ,Die Brüder Karamasow‘ V, 5). Jedoch verharrt Castorp noch im Status des „alten Menschen“, insofern er das „neue Wort“, welches er zwar behalten hat, noch nicht zu sprechen weiß (vgl. GW 3, S. 907, 947 und 994). Als „neuen Menschen“ figuriert Thomas Mann seinen Joseph, dem das Wort zur Einheit von Eloquenz und Gottesvernunft wird. 167 Siehe dazu GW 3, S. 947, Maar (1997), S. 219 ff., TMT 1944–1946, S. 284 (12. Dezember 1945), GW 11, S. 244 f. und Thomas Mann. Notizbücher. Edition in zwei Bänden, hg. v. Hans Wysling, Frankfurt a. M. 1991/92, Bd. 1: Notizbücher 1–6, S. 218. 168 Vgl. TME 1, S. 144–147 und 354. Siehe zudem den als Einleitung zu einer Lesung aus dem Krull-Fragment bestimmten Text ebd. S. 288–291. 163
II. Antworten auf das Kulturproblem der Moderne
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schistischen Dunkelmännern aus den Händen zu nehmen“.169 Öffentlich äußert sich Mann zu der „Um-Funktionierung des Mythos“; dabei handle es sich etwa um denselben Vorgang, den man beobachte, „wenn in der Schlacht ein erobertes Geschütz umgekehrt und gegen den Feind gerichtet wird.“170 Für das philosophische Erzählen ist der Rekurs auf den Mythos eine Art ultima ratio. Wie die Philosophie der Gegenwart und Sinnfälligkeit des Gesprächs bedarf, so bedarf der philosophische Dichter des Mythos – und in gleicher Weise bedürfen Staatsrecht, Politik und Staatsbürgertum der Symbole und Rituale. Im Joseph-Roman bewegt sich der Mythos auf vier unterschiedlichen Stufen.171 Auf einer ersten Stufe ereignet er sich – immer wieder in alter Form und an neuen Personen. Auf einer zweiten Stufe, der der Aneignung, wird seine strukturelle Beschaffenheit als Erinnerungsfest ins Bewusstsein gerückt. Auf einer dritten Stufe wird der Mythos in Form der Imitation durch Joseph psychologisiert, indem er ihn als Verhaltensanleitung seinen persönlichen Verhältnissen anzupassen weiß. Auf einer vierten Stufe streift Joseph das Bindende des Mythos ab172; es handelt sich dabei um eine „metamythische Tendenzverschiebung“173, eine Transzendierung des Mythischen zu Gunsten des Gehorsams gegenüber – in selbstzweckdienlichen, musterhaft-institutionalisierten Vorgängen sehr wohl erlebbaren – „höheren Gesichtspunkten“174. Das Positive, auf das hin Josephs Denken und Handeln orientiert ist, ist zwar „wirklich“, dennoch nicht plastisch-räumlich gegenwärtig; es ist – wie beim platonischen Sokrates – von abwesender Anwesenheit. Der Maßstab ist nicht das bloße Attribut des Ewigen, sondern die enthusiastische Erfahrung des „Anderen“. Josephs wertschätzendes Sich-beziehen-Können ist niemals eigennützige Gerissenheit oder demagogische Schläue175, sondern stets gläubige Vernunft, Fähigkeit zur Diskursivität des Utopischen. Insofern Aufmerksamkeit und Gehorsam176 gegenüber dieser Vernunft nicht in sie inkludiert sind, bleiben alle zivilisatorischen Einrichtungen, alle aus169 GW 11, S. 651 (Brief an Karl Kerényi vom 18. Februar 1941). Vgl. ebd. S. 653 (An Kerényi, 7. September 1941). 170 TME 5, S. 189 (,Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag‘, gehalten November 1942 in der Library of Congress). 171 Vgl. dazu Assmann, Jan: Zitathaftes Leben. Thomas Mann und die Phänomenologie der kulturellen Erinnerung, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 6 (1993), S. 133–158. 172 Vgl. Fischer, Bernd-Jürgen: Handbuch zu Thomas Manns ,Josephsromanen‘, Tübingen/Basel 2002, S. 33–35, 336 f. und 352 f. 173 Borchmeyer, Dieter: „Zurück zum Anfang aller Dinge“. Mythos und Religion in Thomas Manns Josephsromanen, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 11 (1998), S. 15 f. und 24 f. 174 GW 4, S. 896. In Josephs Verhalten spricht sich ein nicht demutloser, aber letzten Endes ungedemütigter (vgl. GW 2, S. 441) theologischer Bezug aus, der durchaus nicht auf einen auf Gunstbeweise angewiesenen personalisierten Gott fixiert ist (vgl. GW 5, S. 1639). 175 Von Ernst Bloch stammt bekanntlich die Forderung, „sowohl witzig wie transzendierend“ zu sein.
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5. Teil: Der geistige Ort des Verfassungsdenkens Rudolf Smends
geklügelten Institutionalisierungen und alle monumentalen, Kulturerrungenschaften der Vergangenheit preisenden Feste und Gedenkstätten ein „Großgerümpel des Todes“177. In seiner Rede vor Pharao führt Joseph aus: „Denn das musterhaft Überlieferte kommt aus der Tiefe, die unten liegt, und ist, was uns bindet. Aber das Ich ist von Gott und ist des Geistes, der ist frei. Dies aber ist gesittetes Leben, daß sich das Bindend-Musterhafte des Grundes mit der Gottesfreiheit des Ich erfülle, und ist keine Menschengesittung ohne das eine und ohne das andere.“178
176 Vgl. TME 5, S. 198 f. In diesem freiwilligen und glücklichen Gehorsam als Folge einer Teilhabebeziehung am Göttlichen, die gleichsam nicht Selbstvergottung bedeutet, ähnelt die Josephserzählung Thomas Manns – insbesondere ihr dritter und vierter Band – nicht nur einer Vervollständigungslizenz der biblischen Vorlage, sondern zudem einer ausgreifenden erzählerischen Paraphrase über die Darstellung des jungen Jesus von Nazareth bei Ernest Renan. Vgl. ders.: Das Leben Jesu (1863). Vom Verfasser autorisierte Übertragung aus dem Französischen. Mit einem Nachwort von Stefan Zweig, Zürich 1981, S. 23–52 (3. bis 5. Kapitel). 177 GW 4, S. 741. Ausdrücklich wird hier die ethisch-normative Orientierung auf „Gottes Gegenwart“ der politisch-tragischen Anmaßung der dezisionistischen Selbstermächtigung entgegengestellt: „Und er gedachte des Turmes.“ Die Angebote einer körperlich-mechanistischen Souveränität, die Legitimierung einer solchen Herrschaft durch das vollständig in den Immanenzzusammenhang eingelassene Gottesbild, das nichts anderes bewirkt, als den Menschen zu vergotten, schlägt Joseph aus: „Wie sollte ich ein solches Übel tun und wider Gott sündigen?“ (ebd. S. 746) In Gestalt eines „Denk- und Mahnbildes“ höherer Normen und Ordnungen sorgt diese gläubige Vernunft dafür, dass Joseph seine Amtskompetenzen letztlich nicht überschreitet (siehe GW 5, S. 1238 ff.). Es sind gerade vermeintlich amtstypische und gemeinnützliche Volksweisheiten und „Kernsprüche“ (vgl. ebd. S. 1251 und 1257), die ihn an die Schwelle des Amtsmissbrauchs führen. Erzählt wird von der beinahe tragischen Selbstermächtigung eines hohen politischen Amtsträgers, für die gerade die gegebene Mechanik institutioneller Abläufe genutzt wird. Dekuvriert wird damit die Gefährlichkeit aller Berufungen auf ein sozialpolitisches Gemeinwohl, zu dessen Förderung sich sowohl die jakobinischen Wohlfahrtsausschüsse als auch die Nationalsozialisten mit ihrer Parole „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ der Anwendung extremer Mittel berechtigt sahen. Der kritische Realitätssinn der Erzählkunst Thomas Manns erfasst sehr genau, worin sowohl Josephs Übertretung als auch diejenige Mut-em-Enets, die danach trachtet, Josephs Vernichtung einzuleiten, eigentlich bestehen. Indem er den Geist in den Dienst eines vermeintlich kontrollierten Hochmuts gegenüber den Menschen und ihren von Bedürfnissen des Köpers her bestimmten Gewohnheiten stellt, fällt Joseph selbst schließlich, beinahe sich ausliefernd, in den Bereich des Nur-nochKörperlichen zurück (vgl. ebd. S. 1258 f.). Auf ähnliche Weise setzt Mut-em-Enets Hetzrede den Geist für die Sache demagogischer Schlauheit ein und stachelt das sich sofort auf dem Gebiet des Sozialneides und des Misstrauens gegenüber dem Fremden sich betätigende mimetische Begehren des Hofvolkes an (vgl. ebd. S. 1262 f.). 178 GW 5, S. 1422. Vgl. auch TME 4, S. 207 (,Maß und Wert‘ 1937). Pharao ist durch den Diskurs über den Vogel Bennu, geführt mit den einem kompromissartigen Monotheismus zuneigenden Atôn-Priestern, auf Lehren von unkörperlichen Wirklichkeiten vorbereitet (vgl. GW 5, S. 1386 ff.), wenn auch Jungpharao, so, wie er Joseph begegnet, die Leben und Welt abgewandte und somit eben nicht ins Ethische gewendete Position einer dogmatisch gesetzten Metaphysik vertritt.
II. Antworten auf das Kulturproblem der Moderne
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Der an die vita contemplativa angelehnte Regierungsbegriff des Zauberberg wird im Joseph-Roman als metamythische Gottesvernunft und deren sittlichpraktische Konsequenz wieder aufgenommen. Allerdings beinhaltet die Wendung des Mythischen ins Ethische die Simultaneität strengen Aushaltens realer Katastrophen und realen Schreckens – des menschlich Bösen – einerseits und der Bestimmung menschlichen Denkens und Handelns durch gnostische Objektivation andererseits.179 Es läge nicht fern, darin, dass der Premier Osarsiph die Religionsgründung Abrahams und Jaakobs in der Zivilisation Ägyptens bewahrt, ohne sich einem ideologischen Zwang auszuliefern180, einen Regierungsakt sondergleichen zu sehen.181 Dieser Erfolg – im Sinne des Sieges-Logos – wird aber von dem Politiker Joseph so nicht angenommen, wenn er gegenüber den Brüdern die Beanspruchung von Größe und Ruhm abzulehnen und die wiedergewonnene Gemeinschaft als „die Hauptsache“ zu preisen weiß. Wenn auch nicht Klage und Reue, so vergeht Herrschaft doch vor den gemeinsamen Tränen der Freude. Die Versöhnung ist das „Haus der äußersten Hoffnung“ (Walter Benjamin). Das Staatsverständnis des Joseph – die Belehrung, die den Brüdern zukommt, und die Kritik an den mythischen Mechanismen der ägyptischen Kultur – gründet nicht auf der kollektiven Gewalt, der Masse als politischer Macht, sondern auf dem friedenstiftenden und freudeverbreitenden Wort.182 Es ist evident, dass Rudolf Smends Rekurs auf die Verse Uhlands – kein Mensch sei „so hoch gefürstet, so auserwählt kein ird’scher Mann“ (Bundesverfassungsgerichts179 Siehe z. B. Josephs abschließende Bemerkung seiner Traumdeutung zu Zawi-Rê (ebd. S. 1359 f.). 180 Die Erfahrung des Ineinsgehens des Guten mit Wohl- und Glücklichsein (siehe die Vorüberlegungen und dann das Gespräch mit Potiphar GW 4, S. 873 ff. und 883 ff.) sowie die Abstandnahme von der Selbstüberschätzung und dem Dünkel eigener Machtvollkommenheit (vgl. GW 5, S. 1498 f. und 1685) halten die Religiosität des Politikers Joseph fern von dem dreiaktigen Drama von Gott und Staat: 1. völlige Verschmelzung und Identität von Göttlichkeit und Herrschaft, 2. als Befreiungsreligion auftretende monotheistische Verlagerung Gottes außerhalb des Herrschaftszusammenhangs, 3. politische Instrumentalisierungen des monotheistischen Glaubens. Siehe dazu Assmann, Jan: Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa, München/Wien 2000. 181 Siehe z. B. Siehoff, John-Thomas: Josephs ,New Deal‘. Präsident Franklin Delano Roosevelts Politik in Thomas Manns „Joseph der Ernährer“, in: New Germanic Review 11 (1996), S. 74–88. 182 GW 5, S. 1685. Wie auch die Logos-Bewegung des „Heiligen Spiels“ – der „Trick“ mit Korn, Geld und Becher und die damit zusammenhängenden Vorladungen, Befragungen, Ermahnungen und Gespräche – nicht (allein) der Demütigung, sondern in erster Linie der Selbsterkenntnis der Brüder dient. In Josephs Ablehnung der gloire für seine Person ist die dialogisch entwickelte Kritik an mimetisch-rivalisierenden Führungs- und Erbauungskonzepten wirksam. In der vergesellschafteten, mechanisiert-institutionellen Verehrungspraxis meinen die Verehrenden es „nicht allzu gut“ mit dem Verehrten: er ist ihr Gott und zugleich ihr Gefangener (vgl. GW 4, S. 757 ff.). Rauschartig bewirktes zwischenzeitliches Zutrauen (Kulte und Traditionen) und fortdauerndes ängstliches Konkurrieren (Wirtschaftsleben) halten eine stets gefährdete und für das Zusammenleben gefährliche Balance.
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5. Teil: Der geistige Ort des Verfassungsdenkens Rudolf Smends
rede 1962)183 – mit der narrativ vermittelten Einsicht des Joseph-Romans in die Konditionalität „schönen Menschenstaats“184 korrespondiert. Es gehört zu den Schwierigkeiten seiner Rezeption, dass Smend die für sein Staats- und Verfassungsdenken maßgebliche Auffassung von der ethisch-normativen Bestimmtheit des Bürgers der republikanischen Demokratie in seinem meistgelesenen Buch nur an versteckten Stellen durchschimmern lässt.185
Siehe erneut Smend (31994), S. 588. Vgl. erneut GW 3, S. 686. 185 In ,Verfassung und Verfassungsrecht‘ (Smend (31994), S. 164 Anm. 15) schreibt Rudolf Smend von der „Verwandtschaft zwischen der Integrationsbindung an den Staat und der religiösen an die Gottheit“, dabei auf einen Passus bei Simmel, Georg: Die Religion, Frankfurt a. M. 1906, S. 32 verweisend: „Wenn der religiöse Trieb jene soziologischen Tatsachen in sich aufnimmt, wenn die Beziehungen eines Individuums zu Individuen überragender Ordnung oder zu einem gesellschaftlichen Ganzen oder zu den idealen Normen desselben oder zu den Symbolen, in denen ein Gruppenleben sich verdichtet, den Ton annimmt, den wir religiös nennen, so ist dies, funktionell angesehen, dieselbe Schöpfertat seiner Seele, wie sie mit der ,Religion‘ vor sich geht. Er hat damit die Welt seiner religiösen Impulse ebenso bevölkert, wie wenn er zu einem Gott betet; nur daß im letzteren Falle die Funktion reiner in sich selbst zu schwingen scheint, weil sie keinen anderweitig schon bestimmten Stoff in sich aufgenommen hat.“ 183 184
Schlussbetrachtungen § 1 In seinem Aufsatz Der Staat als Erlebnis schreibt der Staatsrechtler Werner von Simson (Jg. 1908): „Der Staat während meiner Schulzeit war eben da. Er war eine Tatsache.“1 Eben dieser Staat, ein hypostasierter, fester Bestand mit personalen Rechten zur Bearbeitung objektiver Aufgaben und Erzielung sachlicher Ergebnisse2, ist dem Verfassungsdenken Rudolf Smends fremd. Wenn der Schweizer Staatsrechtler Dietrich Schindler bemerkt, die haltgebenden Momente seien in der Demokratie in das Bewusstsein der Einzelnen verlegt3, so trifft dies weitgehend auch auf die Smendschen Begriffe des Regierens und des Responsivität implizierenden politischen Erlebnisses zu.4 Smends staatsrechtliche Schriften verstehen den Staat als verfassungsinstitutionellen Prozess „zeitlich-realer Verschränkungen“ und zugleich als „geistige Wirklichkeit“ „ideell-zeitlosen Sinnes“.5 Dem ersten, dynamischen Teil dieses Doppelaspekts ist der Gedanke einer merkwürdigen Freiheit staatlicher Institutionen von externen Zwecken und damit zugleich die Zuschreibung ritualhafter, „selbstzweckdienlicher“6 Bedeutung eigentümlich, dem zweiten, persistenten Gesichtspunkt die Smendsche These von der „überempirischen“, „über Staat und Staatsmacht stehenden Normen und Ordnungen“ verpflichteten Aufgegebenheit des Staates.7 Wenn Josef Isensee reklamiert, dem in Rudolf Smends Verfassungsdenken einschlägigen Blick für den „Prozeß der Einheitsbildung“ eigne „die ganzheitliche Sicht des Staates (. . .) wenigstens in seinen äußeren Umrissen“ und halte so „auch einen Weg frei zur Thematik des Gemeinwohls“, so galt das Augenmerk dieser Untersuchung insbesondere dem bewahrten „Reichtum (. . .) vormoderne[r], subkutan weiterhin wirksame[r] Theorietradition“.8 Es ist von einem 1
Simson, Werner von: Der Staat als Erlebnis, in: JöR 32 (1983), S. 31–53. Siehe erneut Smend (31994), insb. S. 160 f. und 505. 3 Siehe erneut Schindler (1932), S. 145. 4 Das Erlebnis bei Smend ist nicht das, was es bei Walter Benjamin ist, eintrainierende Bewusstheit als Therapie der für die Moderne typischen Chocks. Vielmehr ist das Erlebnis bei Smend, um weiter mit Benjamins Terminologie zu sprechen, ein institutionalisiertes – Benjamin würde sagen kultisches – Eingedenken. Siehe dazu Benjamin, Walter: Über einige Motive bei Charles Baudelaire (1939/40), in: ders.: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, Frankfurt a. M. 7. Aufl. 1997, S. 101–150, insb. S. 106–111 und 141–143. 5 Siehe erneut Smend (31994), S. 138. 6 Smend (1957), S. 318. 7 Siehe erneut Smend (31994), S. 131, 138 f. und 369. 8 Isensee, Josef: Gemeinwohl und Verfassungsstaat, in: HStR IV 32006, S. 15. 2
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Schlussbetrachtungen
prozeduralen Gemeinwohl gesprochen worden, salus publica ex processu.9 In Hinsicht auf das Staatsverständnis Rudolf Smends kann dieser „Prozess“ aber nicht aus terminierten, entscheidungssichernden Verfahren bestehen; kritisch wird bei Smend nach den gesellschaftlichen Bedürfnissen gefragt, welche einen solchen abgeschnürten Institutions- und Staatsbegriff entstehen und zur Notwendigkeit werden lassen.10 Somit musste es vorliegender Untersuchung insbesondere um die Frage gehen, welche „Gesamthaltung“, wie Smend im März 1967 an den Politologen Manfred Friedrich schreibt, die „praktische Anschauung“ vom Staat „als Prozess“ „durchgehend bestimmt“.11 Die Selbstzweckdienlichkeit verfassungsrechtlicher Institutionen lässt sich zwar mit Rudolf Smend, der in diesen Institutionen statusbetonende sowie statusverleihende Akte und als Ämter verfasste Aufgaben sieht, als immanentes und prozessuales Prinzip des Staatslebens bezeichnen. Dennoch wäre dieses Leben, etwa als ein Verhältnis von Befehlenden und Gehorchenden, nicht deswegen gerechtfertigt, weil sich sagen lässt, vom Staat gehe amtsmäßige und institutionell geregelte Gewalt aus. Sondern gerade in der Selbstzweckhaftigkeit repräsentativ, performativ und symbolisch aufgefasster Institutionen spricht sich eine staatlicher Immanenz übergeordnete Wertbezüglichkeit aus. Entscheidend ist die Feststellung, dass das selbstzweckdienliche immanente Prinzip des vom staatsrechtlichen Logos der Verfassung angeregten Staatslebens, insofern es nicht bloß in jenem geschäftsmäßig-instrumentellen Bereich des Habens, Gebens und Nehmens, des Verfügens, Veranstaltens und Anordnens besteht12, den kulturellen, ethisch-normativen Gehalt, den es birgt und aus dem es sich speist, aus dem rein Institutionellen heraus nicht garantieren kann.13 Amtsprinzip und Selbstzweckdienlichkeit institutionell vorgesehener Abläufe und Verhandlungen unterstehen der Konditionalitätsthese und dem Böckenfördeschen Paradoxon: Die Qualität der traditionellen Institutionen der republikanischen Demokratie, insofern diese nicht in Instrumente der Selbstermächtigung umschlagen sollen, ist nicht voraussetzungslos. Kulturell zu vermitteln ist die Einsicht, dass der Entschluss, Recht und Gesetz zu übertreten, die Freiheit nimmt – und zwar in einem weitergehenden Sinn als bloß in dem des Strafrechts. Hinsichtlich der Bestimmung eines übergreifenden Bezugspunktes material-demokratischer Repräsentation ist ein normatives Moment und leitendes Menschenbild anzunehmen, das im Sinne einer Vermittlung aufs Allgemeine hin über die Sphäre des natürlich-empirischen Wollens hinausweist.14 9 Vgl. Häberle, Peter: Die Gemeinwohlproblematik in rechtswissenschaftlicher Sicht, in: Rechtstheorie 14 (1983), S. 257–284. 10 Siehe insb. Smend (1918), S. 372 f., Smend (1957), S. 319, Smend (31994), S. 311, 313 f., 323, 339 f., 466 ff. und 504. 11 Zitiert nach Friedrich (1987), S. 25 f. 12 Siehe erneut Smend (31994), S. 508. 13 Vgl. ebd. S. 369.
Schlussbetrachtungen
335
§ 2 Die Entwicklung von Technik, Wirtschaft und Verkehr, der Kampf um die Weltmärkte und um wachsende Profitraten stand konträr zu den territorialen, ständischen und moralischen Grenzen, die der alte Treu-und-Glauben-Staat der neuen Ökonomie zu ziehen versuchte.15 Auf die Dauer musste der Staat zum Teilhaber der neuen Ökonomie werden oder verschwinden. Die kalkulierbaren Verhältnisse, welche von der Aufklärung gefordert worden waren, traten jetzt mit den nackten Argumenten wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Effizienzdenkens hervor, um die Welt vermittels der losgelassenen, sich verselbständigenden instrumentellen und projektierenden Vernunft endgültig zu entzaubern, sie zu der „verwalteten Welt“ zu machen, zu einer solchen des Anpassungsdruckes und der Bedrohungsszenarien (antizipierender Weise entwarf Goethe seine Faust-Figur mit ihrem megalomanen und zwanghaften Beglückungsprojekt als einen „Agenten der Moderne“). Marktdemokratie und Konsumfreiheit mit ihrer Tendenz zur Optionsvermehrung lassen alles „Ständische verdampfen“ (Karl Marx). Die moderne Gesellschaft ist keine stratifizierte mehr, sondern eine funktional differenzierte. Das kulturelle Phänomen des Symbolischen als wirksame Organisationsform des Zusammenlebens ist in ihr zurückgedrängt, es kommt zur Auflösung des verbindlichen Allgemeinen. Der Rationalisierungsprozess zertrümmert die symbolische Kodierung, die dem Menschen seinen Platz sowohl in der Gesellschaft als auch im Kosmos anweist. Die Menschen werden, wie Friedrich Schiller es über hundert Jahre vor Georg Simmel, Max Weber und Werner Sombart ausspricht, „an ein einzelnes Bruchstück gefesselt“, mehr und mehr zum bloßen „Abdruck“ ihres jeweiligen Geschäftes.16 Während die planende Ratio die Verfügungsgewalt über die Natur anstrebt, schickt sie von ihr marginalisierte Menschen in ein säkulares asymbolisches Jenseits. Es entsteht das Bedürfnis nach Zusammenfassung der arbeitsteilig Auseinandergerissenen, und dieses Bedürfnis erscheint als eine Anweisung auf mündige Gemeinschaft und macht die Chance „richtigen“, „guten“ und „glücklichen“ Lebens auch abhängig von der Qualität des Zusammenlebens, des Umgangs miteinander. Gesucht wird ein Weg, auf dem die moderne Unüberschaubarkeit, das Gesetz der Flüchtigkeit, der Verzicht auf Anwesenheit, Bindung und Verpflichtung, das verfügende Auseinanderreißen von Mittel und Zweck, die herr14
Siehe erneut Böckenförde (1991), S. 400 ff. Ein später und merkwürdiger Fall ist noch in der Begrüßungszeremonie von Arbeiter- und Unternehmerdeputationen durch den jungen Kaiser Wilhelm II. anlässlich des großen Bergarbeiterstreiks von 1889 zu sehen. 16 Schiller (2000), S. 23 (,Über die ästhetische Erziehung des Menschen‘, 6. Brief). Es handelt sich um eben den Brief der ,Ästhetischen Erziehung‘, aus dem Rudolf Smend in der Göttinger Erlebnis-Rede von 1943 zitiert, der uhrwerkähnlich konzipierte mechanistische Staat müsse seinen Bürgern „ewig fremd“ bleiben (a. a. O., S. 24). Siehe erneut Smend (31994), S. 349. 15
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Schlussbetrachtungen
schende Entfremdung gebändigt würden und eine Verbindung der Fremden durch ein „Band“ neuer Humanität.17 Das gesetzespositivistische Staatsdenken abstrahiert vollkommen von der bedrohlichen Wirklichkeit, dieser, wie Thomas Mann in den das ZauberbergManuskript überdenkenden Tagebuchnotizen sagt, „geistig-sittlichen Indifferenz, Glaubenslosigkeit und Aussichtslosigkeit der Zeit“18, und konstruiert ein autonomes, in sich geschlossenes Regelwerk, eine wissenschaftssystematische Reinheit von geradezu opaker Eigenmächtigkeit, die dem Menschen als etwas Vorausgesetzt-Starres vorgehalten wird, als eine (letztlich doch irgendwie zu verwirklichende) strukturelle Ordnung, an deren Beschaffenheit und Charakter die Einzelnen keinerlei plastischen Anteil haben. Auf diese Weise, infolge seiner Wirklichkeitsparanoia sowie des geisteswissenschaftlichen Nihilismus – und weil er letztlich doch auf die Wandlung in Normativität angewiesen ist –, liefert sich der Positivismus dem extremsten Empirismus aus.19 In Deutschland ereignete sich dies in Form der Auslieferung an den extremisierten, mythisch überkleideten Autoritätsstaat, den per Selektionsverfahren die Empfänger seiner Wohltaten definierenden NS-Volksstaat, in dem Rudolf Smend den losgelassenen interventionistischen Sozialstaat sah, ein auf tragische Weise pervertiertes Sich-Austoben politischen Planens und Befehlens, amts- und geschäftsmäßiger Ideale und bürokratisch-technischer Tätigkeit.20 Offen liegt hier die Tragik eines in ethischem Agnostizismus „betriebenen“ Daseinsvorsorgestaates, dessen Mächtigkeit auf dem Boden der philosophisch-theologischen Indifferenz der europäischen Logos-Kultur und des westlich-zivilisatorischen Autonomie- und Freiheitsverständnisses entstehen konnte. § 3 Rudolf Smend kritisierte die gesetzespositivistische Staatslehre, indem er sie historisch verstand: nach dem Scheitern der Paulskirchenverfassung habe man mehr und mehr auf eine innere Anteilnahme am Staat sowie auf seine ethische Ausdeutbarkeit verzichtet. In der krassen, angeblich unüberbrückbaren Entgegensetzung von Sollen und Sein gibt es keine Möglichkeit einer Teilhabe des Einzelnen am Staat als eines „sittlichen Reichs“ im Sinne Friedrich Julius Stahls, auf den Smend sich in dieser Sache beruft.21 Diese Teilhabe vollzieht sich sowohl über die möglichst intensive institutionelle Verflechtung der Einzelnen ins Verfassungsleben – zu erinnern ist an Smends Eintreten für das Mehr17 In diesem Sinn sprach Alexis de Tocqueville von den liens, die es angesichts moderner Staats- und Gesellschaftsformen auszubilden und zu festigen gelte. 18 Siehe erneut TMT 1918–1921, S. 261 (9. Juni 1919). 19 Siehe erneut Kaufmann (1921), S. 30. 20 Keineswegs sollen damit Ausmaß und Grauen der Shoah heruntergespielt werden. Bei Steiner (1987), insb. S. 196, 207 und 209 wird angedeutet, weswegen sich das nationalsozialistische Freund-Feind-Denken in erster Linie gegen die Juden richten musste. 21 Siehe erneut Smend (31994), S. 471 und Stahl (31856), II, S. 488.
Schlussbetrachtungen
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heitswahlrecht22 – als auch über die Teilhabe an der Idee des Staates. Diese zweifache Teilhabe ist gemeint, wenn Smend auf Ernest Renans „plébiscite de tous les jours“ anspielt, welches er freilich, wie auch Renan selbst, eher als principe spirituel denn als tatsächlich eingeholtes Referendum auffasst.23 Der teleologisch-politische Willensbildungsprozess kommt im Verfassungsdenken Rudolf Smends kaum vor, somit auch nicht die politischen Parteien und die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessenverbände. Smend leugnet Vorgänge rechtsgeschäftlicher Willensbildung gar nicht, aber sie sind nicht sein Hauptgegenstand. Bei aller Dynamik des demokratischen Stimmenkampfes gibt das Smendsche Denken der Verfassungswirklichkeit dieser staatsrechtlichen Institution ein Moment kontemplativer Aufmerksamkeit auf, welches gerade auch den Unterlegenen als notwendigen Partner des eigenen Sieges anerkennt. Das Verfassungsleben in seiner selbstzweckdienlichen Institutionalität versteht sich als eine in der „Atmosphäre der Freundwilligkeit“ erfahrene „Geselligkeit Gleichberechtigter“24. Dieses besonnene Motiv gegenseitig erwiesenen Respekts, der Solidarität und Verlässlichkeit findet sich noch in der Bemerkung von 1962, in der Publizitätswirkung des Bundesverfassungsgerichts könne der Einzelne „auf virtuelle Weise“ Lagen erleben, in die auch er einmal geraten könne.25 Und von dieser Erfahrung könne der Staatsbürger auf ein Ganzes schließen, nämlich dass Sinn und Zweck des Staates darin bestehen, dass der Einzelne sich als eine grundrechtlich geschützte Person empfinden könne. Das ist ein ins Verfassungsleben gebundener erfüllter Augenblick, sicherlich statischen Gehalts, erfahren aber in dem institutionell gerahmten Ritus eines dynamischen Vorgangs. Dieser Moment reflektierter, gehaltvoller Selbstbesinnung wird kulturell normativ, wenn er eine Strahlkraft noch auf Alltägliches auszuüben vermag. Konsensorientiert und harmonistisch ist Smends Denken wohl nicht zu Unrecht genannt worden. Denn offensichtlich soll hier ein Moment platonischer Eudaimonie ins Verfassungsleben hinein geholt und darin bewahrt, ja geradezu zum Gravitationszentrum des gesamten Staatslebens erhoben werden. Seine staatsrechtlichen Schriften hat Rudolf Smend immer auch als Hinweise in Richtung einer wegleitenden Staatsidee verstanden. Der Aufsatz von 1916 über ungeschriebene Verfassungsnormen entdeckt das bundesfreundliche Verhalten als ein Staatsprinzip, das sich nicht ausschließlich an die Fürsten wendet.26 Die Bundestreue scheint als Staatsidee ganz dem Geiste des 19. Jahrhunderts zu entspringen, dennoch ist sie, als ein freundliches und freundschaftliches 22 23 24 25 26
Siehe Siehe Siehe Siehe Siehe
erneut erneut erneut erneut erneut
Smend (31994), S. 60 ff. ebd. S. 136 und Renan (1993), S. 308 f. Groos (1922), S. 15 und Simmel (1911), S. 7 f. Smend (31994), S. 587. ebd. S. 42 ff., 49 und 51 f.
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Verhalten, wandelbar und erweiterungsfähig, um auch zur leitenden Staatsidee der Republik zu werden.27 Denn die Smendsche Integration bedeutet ja die Aufgegebenheit allseitiger Verständigung, ein Politikverständnis des Dialegein und Homolegein implizierend, dem es um die Hervorbringung von Eu praxia-Wissen geht. Somit bedeutet Regieren öffentliches, gemeinsames Nachdenken über das „gute“ Leben. In der Aporie der Jahre „1918 ff.“, als die politische Einheit Deutschlands ihm „wie eine umgefallene Mauer aus Lehm“ erscheint28, entwickelt Rudolf Smend 1923, im Jahr des Ruhrkampfes, seinen Integrationsbegriff.29 Und unmittelbar nach der Tragik des NS-Staates – und Tragik bedeutet für Smend die Unfähigkeit zur Umkehr und den Sturz in verbrecherische Verantwortungslosigkeit, in Unrecht und Leiden, nicht wie für Nietzsche und Weber etwas das Lebensgefühl letztlich Verschärfendes und Verstärkendes – fühlt Smend die Verpflichtung zur auswegsuchenden Fahrt: in Staat und Politik (Dezember 1945) kommt es zur Offenlegung von Orientierung und Bestimmtheit der eigenen Staatslehre, die Umwendung einer ganzen Öffentlichkeit im sittlichpraktischen Sinne intendierend.30 Den in Integrationsvorgängen hervortretenden Staat als „geistige Wirklichkeit“ zu denken, bedeutet, ihn weder in ehrfürchtiger oder skeptischer Haltung als hypostasierten Bestand machtvoller Auswirkungen auf den sich bescheidenden Einzelnen zu verehren oder zu verdächtigen, noch ihn als Instrument zur Ausfechtung konkurrierender sozio-ökonomischer Interessen und zur Erlangung daseinsregulierender Zwecke zu betrachten, noch Staat und Politik als eine vollkommen eigenständige, von allen anderen Wertbeziehungen menschlichen Lebens abgeschottete Betriebsrationalität zu begreifen. Smends Integrationsbegriff lässt Totalität – der Idee eines gemeinsamen Lebens etwa – aufleuchten, ohne sie als gegenwärtig und verfügbar behaupten zu wollen. Gemeint ist nicht die blinde Herrschaft des Totalen, das der Partikularität nicht achtet. Es ist also bei Smend nicht so, dass, wie in der Pseudo-Invasion rettender Gewalt der Hegelschen Rechtsphilosophie, die immanente Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft den angeblich außerhalb dieser sich immerfort desintegrierenden Entwicklung stehenden Staat als Schiedsrichter und zum Zwecke integrierender Totalität herbeizitiert. Dagegen gerade wenden sich Smendsches Rechtsverständnis und Verfassungsdenken, die vielmehr aus dem zweckentbundenen Zusammentreffen verfassungsinstitutioneller Ereignisse und philosophisch-bürgerlichen Erlebens den integrierenden Aufstieg zu einer anderen Ordnung, deren Offenheit auch über die Grenzen der Positivität staatsrechtlicher Ämter, Verfahren und Rituale selbst hinausweist, sich versprechen oder erhoffen. Artikel 1, Absatz 1 27 28 29 30
Vgl. ebd. S. 57 ff. Siehe Friedrich (1987), S. 25. Siehe erneut Smend (31994), S. 80. Siehe erneut ebd. S. 369.
Schlussbetrachtungen
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des Grundgesetzes von 1949 ist folglich nicht im Sinne einer „Anspruchsunverschämtheit“31 auszulegen, sondern als bewusste Wendung gegen jedes formalistische Menschenbild; nicht der altruistisch-aufopferungsvolle Diener, nicht der bürokratische Techniker, nicht der Charismatiker Webers und der intelligente Egoist Jherings sind hier gemeint. Im staatsrechtlich-philosophischen Sinne Smends ist der Artikel im Verhältnis zu seiner Präambel Ausführungsnorm ihres Geistes; die ersten betonten Worte der Präambel aber lauten: Bewusstsein, Verantwortung, Gott, Mensch.32 Der Staat ist bei Rudolf Smend eine Gemeinschaft, die der Idee der Gerechtigkeit und letztlich der Orientierung auf die Idee des Einen und Guten untersteht. Mit der Reduktion auf die tragikanfällige Vorstellung des Charismatikers als einer pragmatisch-vorbildhaften Führungsperson und zugleich als Rivale sozioerotisch bedürftiger Massen tendiert Max Webers Konzept des Menschen und des Politischen dahin, das Wesentliche des Staatslebens in der Ambivalenz von Verehrung und Hass zu sehen.33 Dagegen rangiert in Rudolf Smends Theorie des Verfassungsstaates – des Staates als einer sozialen Wirklichkeit – das symbolische Beziehungen zum Staat als „geistiger Wirklichkeit“ und somit zu höheren Normen und Ordnungen unterhaltende Performative vor dem eingreifendpolitischen Handeln. Die mit Smends Augen betrachtete politische Wirklichkeit seiner und unserer Gegenwart krankt daran, sich fieberhaft mit gegebenen sachlich-vereinzelten Aufgaben zu beschäftigen34, um sie mit den Mitteln des instrumentellen Verstandes zu bearbeiten, dabei nicht selten – größtenteils schon wieder Charisma-befreit, jedoch in einem letztlich kommunikationslosen Aneinandervorbeilaufen der Meinungen, Zusicherungen und Beschuldigungen – mal moral bewusst in den Kauf nehmend.35
31
Siehe erneut Strauß (1999), S. 61. „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen . . .“. 33 Webers Führungstheorie schließt den Gedanken ein, das Gesetz diene nur dazu, die „Gewöhnlichen“ in Schach zu halten, während für den politischen Strategen andere Maßstäbe gelten. 34 Vor Hindernissucht und Tatendrang meist ohne zu bedenken und zu hinterfragen, auf welche Weise solche scheinbar befehlsartigen Gegebenheiten entstehen. 35 Das Zauberwort des Pluralismus bleibt untergeschobene Suggestion, insofern von einer Befreiung der Einzelnen aus den Mühlen industrieller Produktion, kapitalistischer Distribution, standardisierter Administration und technologischen Ehrgeizes nicht gesprochen werden kann. Eine wesentliche Problematik der „modernen“ Gesellschaft besteht darin, dass sie in einem bestimmten Punkt gar nicht „modern“ ist, sondern dass der Zusammenhalt dessen, was ihr als Öffentlichkeit gilt, immer noch – dem Mythos verhaftet – auf dem skandalon beruht. Die auf einer scheinbar amythischen Stufe sich abspielende Kombination von Wunsch nach Leitung und eingreifender Veränderung, Führungsanspruch, Skandal und Opfermechanismus im modernen Staatsleben, in dem die öffentliche Diskussion sich über die erbost, insgeheim aber und in „mimetischer Ansteckung“ (René Girard) eben die bewundert, die sich Freiheiten herausnehmen, sagt Beklemmendes über die Qualität von Demokratie aus. 32
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Schlussbetrachtungen
§ 4 Bereits eine der frühesten Auseinandersetzungen mit dem Staats- und Verfassungsdenken Rudolf Smends stellt fest, dessen Schriften benötigten eine Untersuchungsweise, die den geistigen Wurzeln nachspüre und selbsttätig die vorhandenen Andeutungen ergänze.36 Dem Smendschen Doppelaspekt prozedural verstandenen Verfassungsrechts und überempirisch aufgegebener Staatsidee ist ein „bürgerliches“ Denken zur Seite zu stellen, das, wie der nicht zuletzt ein Therapeutikum gegen die „velociferische“ Moderne bedeutende Symbolbegriff Goethes, im erfüllten, zweckfreien Augenblick vom Besonderen auf ein Ganzes schließt, das „nicht Immanente und dennoch aus Immanenz Aufsteigende“37. Die hierin beheimatete Aufmerksamkeit und Wertschätzung für Endlich-Einzelnes, für die Freiheit zum Fremden-Anderen, entspringt dem Wissen von einem Unveränderlichen und Dauernden, dessen Erscheinen freilich in der „verwalteten“, zugleich hektisch-amüsanten Welt mit ihren funktionalisierten Wirklichkeiten stets im Zurückweichen begriffen ist. Auch bei Proust besteht das Gravitationszentrum „guten“ Lebens in dem Motiv erfüllter Zeit im Ausblick auf das Zeitlose, der zweckfreien Beziehung und des nicht-instrumentellen Verhaltens: der Erfahrung ungezwungenen Seins – mag ihre orientierende Kraft und ethisch-normative Richtungsweisung auch noch so verstellt sein. Bei Thomas Mann wird diese ort- und zeitlose Einsicht, die in jede örtlich und zeitlich gebundene Lebenstendenz eingelassen sein kann, politisch, indem sie zugleich bürgerlichen und philosophischen Charakters ist. Manns Erzählkunst fordert das Gute nicht für den Unort und die Nichtzeit einer gängigen Metaphysik, sondern für das Verhalten im Jetzt. Betrachtungen, Zauberberg und Joseph handeln von einem Positiven, das bis heute gesellschaftlich tabuisiert und folglich als Sehnsucht nach dem ganz Anderen und als Möglichkeit richtigen Lebens in Tod und Metaphysik projiziert wird. Im Zusammenklang mit diesen Autoren ist die „Selbstzweckdienlichkeit“ Rudolf Smends durchaus nicht als historische Sehnsucht nach einer Rückkehr des frühneuzeitlichen Ritualstaates zu verstehen. Wirksam, wie Josef Isensee zutreffend konstatiert, ist hier allerdings die „vormoderne Theorietradition“ in Form einer philosophischen Anthropologie, deren erzieherischer Anspruch bestrebt ist, die Dialektik von Verlust und Fortschritt zu Gunsten einer höheren Stufe der Kultur zu lösen. Es sind Momente des Glücks, welche bei den genannten Autoren die Orientierung stiftende Erfahrung der Präsenz des Guten bilden: natürliches, unmanipuliertes Sein und ein Abkommen von menschlicher Selbstüberschätzung (bei Goethe), die Erinnerung als Überwindung des Autonomiestrebens und der Selbstgenügsamkeit (Proust), das Gespräch, das die folgenden Handlungen auf kraft des Wortes erfahrene „höhere Bezüge“ stimmt (Thomas Mann). Das Sin36 37
Siehe erneut Mayer (1931), S. 32 f. AGS 13, S. 162.
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neserlebnis, das als Auslöser der Freude und des Glücks dienen durfte, allein ist bloß frivoles Vergnügen. Das empfundene Glück aber bedeutet gnostische Objektivation, es gleicht der Gewissheit hinsichtlich der Erfahrung von Transzendenz. Die Freude bedeutet die Norm einer praktischen Ethik abseits von schmeichlerischen Vorstellungen des eigenen Ich, utilitaristischen Geistesblitzen und euklidischem Verstand. Um den geistigen Ort des Verfassungsdenkens Rudolf Smends zu erkunden, erfolgte die bewusste Entscheidung für die Texte jener (vermeintlich „bildungsbürgerlichen“) Autoren, da die in ihrem Werk wirksame Gesinnung – nicht so offen zu Tage liegend wie etwa in den späten Romanen Dostojewskijs – ebenso zu entdecken ist wie das für die Schriften Smends zutrifft. Gemeinsam ist ihnen die Einsicht, dass alle „Tugend“ im gesellschaftlichen und politischen Sinne mit der ethisch-ästhetischen Einsicht in die Idee des Guten und die Unsterblichkeit der Seele zusammenhängt. Alle politisch-institutionellen Vorgänge, Rituale und Symbole tragen ihren Sinn38 in der Möglichkeit dieses „kommunikativen“ Erlebnisses. Hierin zeigt sich die Idee des „ästhetischen Staates“, auf die Smend sich am deutlichsten in seinen Schiller-Verweisen bezieht. § 5 Das oben mit den Begriffen der Paränese und Demopädie gekennzeichnete Staats- und Verfassungsdenken Rudolf Smends enthält auch ein anspruchsvolles erzieherisches Denken. Es programmatisch voll zu entfalten, ist hier nicht der Ort. Jedenfalls steht nach einem Umbau von Kultur- und Bildungseinrichtungen in Dienstleistungs- und Qualifizierungsanstalten39 zu befürchten, dass Bereitschaft und Fähigkeit zum „government by talking“40 und dem Homolegein des Politischen weiterhin schwinden, dass Demokratie mehr und mehr als bloße Bedarfs- und Problemlösungsgemeinschaft begriffen, dass der Stand des Bürgers nicht als status politicus, als „politischer Berufsstand“41, sondern zunehmend als gut informierter (Behörden-)Kunde aufgefasst und dass ein übertragenes Amt mehr und mehr als ausgezeichnete Schnittstelle der Einflussnahme oder einfach als arbeitsrechtliches Privileg wahrgenommen werden
38 Und somit auch ihren „staatsbildenden“ Sinn. Der Enttäuschung Otto Hintzes, Smends Integrationstheorie trage nichts zur historischen Erforschung der Staatsbildung bei, scheint doch, bei aller verfassungshistorischen Differenziertheit, ein allzu vulgärempiristischer Staatsbegriff zu Grunde zu liegen. 39 Siehe dazu Smend, Rudolf: Wissenschaft in Gefahr, in: Deutsche Juristen-Zeitung 37 (1932), Sp. 121–125 und Smend (31994), S. 277–296. 40 Ebd. S. 63. Die Umstände der Auflösung des 15. Deutschen Bundestages im Sommer 2005 zeigen ja gerade, wie sehr die Abhängigkeit einer verfassungsrechtlichen Institution (Art. 68 GG) von einer metajuristischen Sache wie dem „Vertrauen“ missachtet wird, um die Institution rein formaljuristisch als Mechanismus im Dienste verschiedener Zwecke zu nutzen – mit der Folge der Herabsetzung des Parlaments zur bloßen Abstimmungsmaschine und einer Entleerung des Verfassungsrechts überhaupt. 41 Smend (31994), S. 316.
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Schlussbetrachtungen
wird.42 Die dem Denken Rudolf Smends inhärente Erziehungsaufgabe impliziert ein Kulturverständnis, welches in der Geisteswissenschaft nicht nur Fachausbildung, in Kunst und Literatur nicht bloß ästhetische Phänomene und willkommene Ablenkungen und Erfrischungen von ökonomischen und politischen Zwängen erblickt, sondern in ihnen ethisch-normative Gehalte aufsucht und diese zu vermitteln weiß.43 Indem es die einzelnen Bürger nicht als potenzielle Empfänger von Leistungen eines staatlich-institutionell abgezirkelten, herrschaftlich-administrativ fungierenden Bereichs betrachtet, stellt das Staats- und Verfassungsdenken Rudolf Smends den Einzelnen einen merkwürdigen Erfolg sozialer Arbeit anheim.44 Es ist die Probe auf die Vereinbarkeit solcher, die auf „getrenntesten Bergen“ (Hölderlin) leben; es ist eine Freundschaftlichkeit gemeint, einer Bildungsidee entsprechend, deren Konsequenz weit ins Soziale hinausreicht, indem die Verfassungspraxis in von Zweckverfolgung befreiten Momenten paradigmatische Anregungen zu einer noch verstellten sozialen Praxis geben könnte, die den Primat der instrumentellen Vernunft abgeschüttelt hat. Die Maxime des Handelns lautete dann auf Verantwortung des Einzelnen für das Einzelne. Dass sich der Mensch nützlich machen lerne, ist im Kern keine ökonomische Maxime, sondern eine Sache der Bereitschaft des Einzelnen, sich dem Einzelnen zuzuwenden, als wäre er das Ganze.45
42 Und Max Webers Wort von der „mechanisierten Versteinerung, mit einer Art krampfhaftem Sich-wichtig-nehmen verbrämt“ (RS 1, S. 204), gewänne bedauerlicherweise an Stimmigkeit. 43 In einem Brief an Boisserée vom 3. November 1826 schreibt Goethe von den Szenenreihen des ,Faust II‘, durch die Präzision und universelle Gültigkeit der „ethisch-ästhetischen Formeln“ werde die empirische Wirklichkeit der Welt „noch faßbar und erträglich“ (SW 37, S. 427). In Briefen an Borchard und Iken (27. September 1827 und 1. Mai 1828, siehe SW 37, S. 547 und 606) verleiht Goethe der Hoffnung Ausdruck, dass ein „sinniger Leser“ seine Dichtung „auch wieder erleben wolle und werde“. Für „verständige Menschen“ habe er „das Speziale [eigener Erfahrungen] so ins allgemeine emporgehoben, damit sie es wieder in ihre eigene Spezialität (. . .) aufnehmen können“ (An Zelter, 27. März 1830, MA 20.2, S. 1337 f.). 44 In Hinsicht auf das 21. Jahrhundert ist der Tatsache ins Augen zu sehen, dass Folgen der von Einfluss, Entscheidungskompetenz und Macht ausgehenden Gefahren nicht immer als Katastrophen offen zu Tage liegen, sondern sich auch hinter der Fassade diskursiver Angeregtheit und im Gewand einer ausdifferenzierten, dabei einander immer fremder und gleichgültiger werdenden Geschäftigkeit vollziehen. 45 Vgl. Adolf Muschgs Nachwort zu Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden, Frankfurt a. M. 1982, S. 517 ff. Auch das viel beachtete Buch von Kersting, Wolfgang: Theorie der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart 2000 gelangt in den Kapiteln III bis V zu dem Fazit, der Sozialstaat komme ohne eine philosophische Begründung nicht aus. Die Kapitel VII und VIII von Kerstings Buch vertreten (kritisch an Robert Nozicks Rawls-Kritik angelehnt und unter unausgesprochener Berufung auf F. A. von Hayek) die Auffassung, Verteilungsgerechtigkeit als implementierte sozialstaatliche Leistung schließe übergroße Gefahren mit ein; soziale Gerechtigkeit habe vielmehr im Zeichen politischer Solidarität zu stehen.
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Für das Verständnis von Demokratie und Freiheit bedeutet das Folgendes: Die Vorstellung von der Emanation der (höchsten) politischen Ämter aus der Volkssouveränität benötigt, um nicht allzu mechanistisch aufgefasst und angewandt zu werden und damit letztlich ohne ethische Dimension zu verharren, den Zusatz des philosophisch-anthropologischen Aspekts des Verfassungsdenkens Rudolf Smends. Für ein zur Demokratie gehöriges Freiheitsverständnis heißt das, Freiheit als eine hohe Bürde zu begreifen und sie als bewussten und glückvollen Verzicht auf den Individualismus des materialistischen Denkens anzunehmen. Das Subjektive wird bei Smend hoffnungsvoll damit betraut, initiativ-integrativ zu wirken, ohne bloß partikular-nebensächliche Funktion des Integrals zu sein.46 Die Bedeutung des staatsrechtlichen Logos liegt folglich nicht in einer selbstgenügsamen, hoheitlich-systematischen Abgeschlossenheit, auch nicht in der Vergatterung zum Vollzug reguliert-ergebnissichernder Verfahren; vielmehr ist in ihm der Bezug auf etwas und die Präsenz dessen wirksam, auf das hin und um dessentwillen die politische Verfassungspraxis überhaupt gepflegt werden soll. Das auf den „Geist des Staates“ ausgerichtete und darum „objektlose“ Regieren47, selbstzweck- und ritualhaftes, also nicht-instrumentell aufgefasstes Verfassungsleben, in dem der Staat als „geistige Wirklichkeit“, d. h. die Idee des Staates als einer angstfreien Gemeinschaft sich respektierender Bürger erkennbar wird, ist als die selbst nicht zu verabsolutierende Veranschaulichung (Integration) der Idee des Guten zu begreifen.48 Das „Unzeitgemäße“ am Smendschen Denken besteht in seinem platonischen Erbe: Es ist uns aufgege-
46 Das Bewusstsein für unerledigt Aufgegebenes in der gesellschaftlichen Praxis bedeutet das Fahrenlassen des Anspruchs auf das Vorweg-Integrierte. Nur folgerichtig, dass Smend von Theodor Litts kulturimmanenter, unkritisch-friedlicher Lehre vom „geschlossenen Kreis“ gleich wieder abkam. Die Empörung, die Smends staatsrechtliches Werk auslösen könnte, läse man es richtig, bezöge sich auf dessen implizite Aussage, dass die Behauptung, das abendländische Prinzip systematisch zu erzielender Geschlossenheit des demokratischen Rechts- und Verfassungsstaates, geschlossen gerade auf Grund des Einschlusses seiner Zugeständnisse zahlreicher Freistätten subjektivistischer Entfaltungsmöglichkeiten, sei – als das beste aller bekannten Gesellschaftsideale – identisch mit Sinn überhaupt, nicht tragfähig – oder, angesichts des Zustandes menschlicher Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, nicht mehr tragfähig sei. 47 Siehe erneut Smend (31994), S. 80. 48 Hierin liegt die große Nähe des Verfassungsdenkens Rudolf Smends zu einer bestimmten Richtung anglo-amerikanischen Verfassungsverständnisses. Michael Oakeshott übernimmt den von Thomas Hill Green stammenden Begriff der political obligation, um sein eigenes Konzept der civility von dem bloßen Gehorsam (obedience) abzugrenzen. Es geht Oakeshott nicht ausschließlich um das interpersonale Verhältnis von Regierenden und Regierten. Eine Verpflichtung kann der Einzelne Oakeshott zufolge auch und gerade gegenüber der Einordnung in ein als „gut“ wahrgenommenes Ganzes haben, eben in der Anerkennung der respublica als eines „system of moral (not instrumental) rules“. Vgl. Oakeshott, Michael: On Human Conduct, Oxford: Clarendon 1975, insb. S. 149–158.
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ben, in Ehen sowie in Staaten zu leben49, nicht weil wir demographische Probleme zu lösen hätten oder aus einem macht- und gewaltgestützten begehrlichmimetischen Impuls heraus50, auf Missstände und Hindernisse reagierend, Verbesserungstheorien sozialpolitisch-planvoll und technizistisch-institutionalisiert verwirklichen müssten, sondern weil wir die berechtigte Sehnsucht nach dem „Guten“ in uns tragen.51 Das, wofür die kulturelle Symbolik und die Integration als Veranschaulichung geistiger Wirklichkeit einsteht, soll vom Geistigen ins Menschlich-Unmittelbare transponiert werden. Das impliziert freilich den revolutionären Gedanken, dass die Institutionen des Verfassungsstaates, als Initiatoren realkundigen und veränderungsbereiten Handelns, Voraussetzungen schaffen wollen, die ihre eigene friedliche Auflösung erlauben würden. Jede Kultureinrichtung, insofern sie der Forderung höchster menschlicher Sittlichkeit zu genügen trachtet, ist letztlich wohl dazu bestimmt, sich selbst überflüssig zu machen. § 6 Vor bald sechzig Jahren hat Wilhelm Hennis in seiner von Rudolf Smend betreuten Dissertation hinsichtlich des Problems der Souveränität im modernen Staat konstatiert, in ihrer alten völkerrechtlichen Bedeutung der Individualität und Autarkie sei Souveränität nicht mehr in einem freiheitlichen Sinn zu verstehen; zu lokalisieren sei sie für die Demokratie allein in der außerrechtlichen Voraussetzung „aktiver staatsbürgerlicher Gesinnung“52. Angesichts eines zu Anomie und Desintegration tendierenden gesellschaftlichen Zustandes, der AufSiehe erneut Smend (31994), S. 369. Den Zusammenhang von Gleichgültigkeit, Ressentiment und Selbstermächtigung, von Hindernissucht und Selbstzweifel vor dem Hintergrund moderner Transzendenzlosigkeit und Übereilung sowie des entstehenden Zwangs zu unausgesetzter Expertise und Nachahmung in unbarmherziger Konkurrenz beschreibt Girard (2005), S. 54–87, insb. S. 66, 72 und 74 sowie ders.: Das mimetische Begehren im Kellerloch (1997), in: ebd. S. 129–151. 51 Zu überprüfen, ob hinsichtlich Rudolf Smends eine bestimmte Richtung christlich-evangelischen Lebens und Denkens die Aufnahme und Weiterführung des angesprochenen Erbes der Politischen Wissenschaft begünstigt hat, muss sich mit dem Nachlass befassenden Studien überlassen werden. Möglich, dass solche Studien einzig zu der konventionellen Verankerung des Gelehrten Rudolf Smends in der Epoche des bürgerlichen Humanismus gelangen. Überaus eindringlich hat insbesondere der Erzähler des ,Faustus‘-Romans Thomas Manns zu beachten gegeben (vgl. GW 6, S. 480– 492), wie gerade die „Werte“ bürgerlicher Bildung und Wissenschaft, städtischen Lebens und Unterrichtens etc. in ihrer Expansivität und zugleich statthabenden Überfeinerung nach einer Selbstbefreiung von der Bürde moderner Geisteskomplexität streben sowie nach der Einrichtung einer „revolutionär-rückschlägigen Welt“ (ebd. S. 489), eines mythisch, d. h. dynamisch-geschichtsschöpferisch legitimierten Terrorismus und einer rational durchgeführten Vorsorge- und Verteilungsstrategie (siehe Goyas ,Capricho‘ 43 „Der Traum der Vernunft erzeugt Ungeheuer“ sowie Tocquevilles Befürchtungen hinsichtlich der negativen Entfaltungsmöglichkeiten der Demokratie). Ein Versuch fest-historischer Verortung des Verfassungsdenkens Rudolf Smends, jede – in Forschung wie Feuilleton so beliebte – „Erklärung aus der Zeit heraus“ würde den philosophisch-anthropologischen Eigenheiten des Smendschen Werks nicht gerecht werden, da diese nicht von historischer Qualität sind. 52 Hennis (2003), S. 105. 49 50
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lösung haltgebender Momente, wobei „Perspektiven“ sich allenfalls noch in einem notgedrungenen adjustment, in der Aussicht und in dem Genuss einigen Komforts zu bieten scheinen, angesichts solch beunruhigender Tendenzen muss eine interdisziplinär ausgerichtete Geisteswissenschaft sich auch als „Gegenwartswissenschaft“ verstehen. Dies freilich nicht bloß in diagnostischer Weise, denn durchaus ist sie in der Lage, sich in „normativer Verkündigung“ und „richtungweisender Stellungnahme“, wie Smend an wenig beachteter Stelle seines staatsrechtlichen Werkes sagt53, eine demopädische Miene zu geben. Die Herausarbeitung der in der ungewöhnlichen Unterstreichung des Eigenwerts des Politischen liegenden Smendschen Betonung menschlicher Selbstverantwortung – „Staat als Beruf“ – und des philosophischen Aspekts dieser Betonung – der platonischen Verbindung von politischer und religiöser Verantwortung – möchte sich ihrerseits der Verantwortung für das Öffentliche nicht entziehen.
53
Smend (31994), S. 384.
Literaturverzeichnis Abkürzungen AHR AöR APSR ApuZ BVerfGE DVjs EvStL2 FAZ GG
HStR I
HStR III 32005
HStR IV 32006
HWP HZ JöR JZ NStUB Cod. M. Rudolf Smend B PVS VHZ VVDStRL ZfP
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Personenregister Kursiv gesetzte Ziffern verweisen auf Seiten, die den jeweiligen Namen ausschließlich in den Fußnoten führen. Adorno, Theodor W. 16, 58 ff., 152, 316, 317 Albrecht, Wilhelm Eduard 238 Althusius, Johannes 208, 248 Anschütz, Gerhard 133 Anter, Andreas 54 f., 264 Arendt, Hannah 48, 51 Aristoteles 243, 248, 255, 294 Arndt, Adolf 178 f. Arndt, Ernst Moritz 139 Aron, Raymond 284 Assmann, Jan 329, 331 Bacon, Francis 245, 297 Bagehot, Walter 69 Balzac, Honoré 142 Beckett, Samuel 61 Benjamin, Walter 64, 112, 169, 331, 333 Berdjajew, Nikolai A. 299 Bergbohm, Karl 238 Berthold, Lutz 49 f., 175 Bertram, Ernst 323 Bielschowsky, Albert 286, 313 Bilfinger, Carl 237 Binswanger, Hans Christoph 298, 309 Bismarck, Herbert von 122 Bismarck, Otto von 73 f., 76, 141, 261, 277, 282 Bloch, Ernst 16, 329 Bluntschli, Johann Caspar 69, 82, 172, 213 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 206, 210 ff., 219, 227 ff., 234, 334
Bourdieu, Pierre 14, 48 Boyen, Hermann von 138 f., 198 Broch, Hermann 300 Brod, Max 316 Brunner, Otto 232, 235 f., 241, 271 f., 284 f. Bücher, Karl 111 Büchner, Georg 63, 298 Bülow, Bernhard von 76 Burckhardt, Jacob 158, 271, 277, 297, 321 Bürde, Samuel Gottlieb 160, 161 Burke, Edmund 69, 216 Byron, Lord George Gordon 151, 276 Campenhausen, Axel von 38, 130 Caprivi, Leo von 76 Cassirer, Ernst 47, 293 Comte, Auguste 47 Curtius, Ernst Robert 19, 23, 142 ff., 175 ff., 304, 315 f., 318 Curtius, Friedrich 124, 181 Dahl, Robert A. 215 Dante Alighieri 158, 257 Descartes, René 244 f. Dilthey, Wilhelm 42, 45, 94, 123, 149 f., 303 f. Dombois, Hans 20, 169, 172, 174 Dostojewskij, Fjodor 61, 253 f., 257, 326 ff., 341 Droysen, Johann Gustav 141 Durkheim, Émile 47
Personenregister Eco, Umberto 15, 36, 48 Eden, Robert 22, 283 Ehmke, Horst 13, 29, 65, 66, 120, 188, 203 ff., 227 Elias, Norbert 48 Fechner, Erich 35 Feuerbach, Anselm von 163 Fichte, Johann Gottlieb 45 Filmer, Robert 233 Fleiner, Fritz 99 Forsthoff, Ernst 251, 294 Friedrich II. (König von Preußen) 33, 148, 276 Friedrich, Manfred 17, 34, 55, 130, 334 Gadamer, Hans-Georg 56, 304 Gagern, Heinrich von 137 Gehlen, Arnold 48, 198 Gerber, Carl Friedrich von 39, 67, 68, 72, 240 Gide, André 19 Gierke, Otto von 157, 174, 213, 241 Ginzburg, Carlo 15 Girard, René 253, 344 Gneist, Rudolf von 69, 88 f., 96, 172 Goethe, Johann Wolfgang 38, 64, 112, 116, 122, 151, 161, 180, 257, 276, 303 ff., 336, 340 Göhler, Gerhard 45, 48, 50 ff. Gounod, Charles 328 Goya, Francesco 344 Green, Thomas H. 343 Grillparzer, Franz 98 f. Groos, Karl 92, 112 ff., 119, 127, 337 Habermas, Jürgen 217, 232 Häberle, Peter 334 Hadot, Pierre 313 Hahn, Karl 255 Hamilton, Alexander 35, 190, 216 Hänel, Albert 241 Hauriou, Maurice 167
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Haxthausen, August von 88 Hayek, Friedrich A. von 56, 244, 342 Haym, Rudolf 149, 152 Hebbel, Friedrich 97 f. Heckel, Johannes 118 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 52 f., 79, 82, 93, 147, 149, 152, 159, 169, 194, 248, 253, 295, 307, 338 Held, Joseph 88 f. Heller, Hermann 39, 44, 203, 211 f., 250 Hennis, Wilhelm 11, 13, 19, 21 f., 23, 29, 36, 42, 43, 50, 53, 61, 66, 105, 156, 167 f., 180 188 ff., 195, 197, 201, 202, 205, 209, 213, 217 ff., 227 ff., 234, 266, 274, 344 Herder, Johann Gottfried 149, 297 f. Hesse, Konrad 235 Hintze, Otto 23, 46, 137, 189, 341 Hirsch, Emanuel 140 Hitler, Adolf 192, 254 Hobbes, Thomas 233, 245 f. Hoeges, Dirk 19, 143 Hofmannsthal, Hugo von 209 Hohenlohe-Schillingsfürst, Chlodwig zu 76 Hölderlin, Friedrich 64, 147, 303, 342 Holstein, Günther 37, 43 f. Holtzendorff, Franz von 69 Humboldt, Wilhelm von 164 Husserl, Edmund 45, 53 Imboden, Max 35, 69, 291 f. Isensee, Josef 206, 220 ff., 226 ff., 333, 340 Iwanow, Wjatscheslaw 145 Jaeger, Michael 308, 310 f., 313 Jaffé, Edgar 248 Jaspers, Karl 22 f., 149, 155 f. Jefferson, Thomas 215 f. Jellinek, Georg 39, 41, 72, 81, 86, 200, 238 f., 249, 253
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Personenregister
Jhering, Rudolf von 166, 339 Jung, Carl Gustav 290, 305 Kafka, Franz 316 Kant, Immanuel 81, 163, 169, 216, 246, 251, 313 Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach 163 Kästner, Erhart 62 f. Kaufmann, Erich 14, 20, 31, 37, 39, 44, 87, 107, 204, 214, 252 f. Keller, Gottfried 111 Keller, Luzius 317 Kelsen, Hans 14, 17, 20, 39, 41, 44, 50, 109, 130, 165, 167, 230 ff., 252 f., 295 Kerényi, Karl 292 ff., 329 Kersting, Wolfgang 342 Kielmansegg, Peter Graf 206, 215 ff., 227 ff., 234 Kierkegaard, Sören 61 Kjellén, Rudolf 123 Kleist, Heinrich von 63 Koeppen, Wolfgang 177 Koselleck, Reinhart 137, 306 f. Köttgen, Arnold 29, 188, 194 ff., 222, 227 ff. Kriele, Martin 217 Krüger, Gerhard 61, 256 f., 297 Krüger, Herbert 29 Kurzke, Hermann 319, 327 Laband, Paul 39, 67, 72, 133, 200, 238 ff. Lamettrie, Julien Offroy de 297 Landshut, Siegfried 205 ff., 214 f., 219, 227 ff., 267 Lassalle, Ferdinand 232, 237 Leibholz, Gerhard 40 f., 44, 56, 154, 198, 208, 223 Leibniz, Gottfried Wilhelm 297 Lessing, Gotthold Ephraim 149 Lhotta, Roland 45, 52 ff., 152 Litt, Theodor 42 ff., 343
Locke, John 233, 248, 297 Löwe, Alfred 143 Ludendorff, Erich 273, 291 Luhmann, Niklas 47 Lukács, Georg 122, 143, 301 Lüth, Erich 101 Luther, Martin 131, 222, 286, 304 Maar, Michael 327 f. Machiavelli, Niccolò 69, 246, 321 Madison, James 205, 216 Mahler, Gustav 61, 64 f. Mann, Thomas 12, 19 f., 23, 24, 38, 60, 63, 66, 102, 106, 114, 116, 155, 165, 257, 288, 300, 318 ff., 336, 340, 344 Mannheim, Karl 19, 142 ff., 154 Marti, Hans 35 Marx, Karl 210, 217, 223, 267 f., 335 Mayer, Hanns 15, 55, 340 Mayer, Otto 68, 71, 204 f. Mehring, Reinhard 232, 318 Metternich, Klemens Wenzel Fürst von 137 Meyer, Georg 86 Michelangelo 273 Michels, Robert 282 Mill, John Stuart 216 Milton, John 163 Mirabeau, Gabriel de Riqueti Graf von 90 Mittermaier, Carl Joseph Anton 163 Mohl, Robert von 69, 249 Mommsen, Theodor 172 Mommsen, Wolfgang J. 267, 269 Montesquieu, Charles de Secondat Baron von 69, 206, 216 Mounier, Emmanuel 216 Müller, Curt 304 Muschg, Adolf 342 Muth, Heinrich 174 Nabokov, Vladimir 316 Naumann, Friedrich 74, 126
Personenregister Niebuhr, Paul 151 Nietzsche, Friedrich 61, 149, 153, 155, 242, 267 ff., 281, 285 f., 298, 320, 324, 338 Nipperdey, Thomas 76, 140 Novalis 66, 149 f., 155 f., 254, 303, 322 Nozick, Robert 184, 254, 342 Oakeshott, Michael J. 245 f., 343 Oestreich, Gerhard 174 Ortega y Gasset, José 144 Paine, Thomas 216 Paulsen, Friedrich 89 Péguy, Charles 15 Peirce, Charles Sanders 15 Pfizer, Paul 149, 151 Platon 15, 54, 122, 131, 145, 242 ff., 247, 255 ff., 288, 303, 310 f., 313, 317, 320, 322, 329, 337, 343, 345 Plessner, Helmuth 170, 198 Ponten, Josef 20 Preuss, Hugo 250 Proust, Marcel 61, 64 f., 144, 176 f., 257, 315 ff., 340 Raabe, Wilhelm 34 Radbruch, Gustav 12, 132 f. Ranke, Leopold von 158 Rawls, John 254, 342 Redslob, Robert 100 Reinhard, Wolfgang 233 Renan, Ernest 123, 128, 329 , 337 Ritter, Gerhard 138 f. Rochau, August Ludwig von 149, 153 Rothenbücher, Karl 95, 121, 123 Rotteck, Karl von 82, 84, 166 Rousseau, Jean-Jacques 149 f., 210, 218 Safranski, Rüdiger 64, 268, 297 Salisbury, Lord Robert Arthur 122 Savigny, Carl Friedrich von 83 Scaff, Lawrence A. 22, 283
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Scheler, Max 24, 33, 123, 142, 270 Schelsky, Helmut 226 Scheuner, Ulrich 13, 130, 188, 199 ff., 227 Schiller, Friedrich 12, 75, 112 ff., 116, 123, 127, 149 f., 156, 161, 254, 304, 307, 335, 341 Schindler, Dietrich 35 f., 333 Schleiermacher, Friedrich 32, 149 f., 156, 303 Schlink, Bernhard 181, 232 Schmitt, Carl 20 f., 39, 109, 117 f., 124, 133 ff., 139 f., 143, 145, 167, 173 f., 193, 194, 199, 202, 208, 209, 213 f., 221 f., 236, 249 ff., 294 f. Schopenhauer, Arthur 113, 280 Schröder, Gerhard 178 f. Schumpeter, Joseph A. 104, 109 f., 146, 170 Schweitzer, Albert 308 Schwinge, Erich 44 Shakespeare, William 273 Sieburg, Friedrich 26 f. Siedentop, Larry 232 f. Sieyès, Emmanuel Joseph 216 Simmel, Georg 114 ff., 119, 127, 332, 335, 337 Simson, Werner von 333 Sloterdijk, Peter 64, 297 f. Sombart, Werner 136, 248, 335 Sontheimer, Kurt 26 ff., 36 Sorel, Georges 149 Soret, Frédéric 306 Spencer, Herbert 37, 46 f. Spengler, Oswald 267 Speth, Rudolf 51 Spinoza, Baruch de 233 Spranger, Eduard 198 Stahl, Friedrich Julius 30 f., 63, 85, 120, 165, 172, 336 Starck, Christian 232 Stein, Henrich Friedrich Karl Freiherr vom 138 f., 192
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Personenregister
Stein, Lorenz von 29, 83 ff., 96, 145, 172, 192, 197 ff. Steiner, George 16, 59, 257, 300 Sternberger, Dolf 216, 219, 281, 290 Stollberg-Rilinger, Barbara 11 Stolleis, Michael 18, 172, 230 Strauß, Botho 62 f., 339 Strauss, Richard 279 Suttner, Bertha von 78
Wagner, Richard 279 f., 287 Waitz, Georg 88 f., 104 Weber, Alfred 236 Weber, Max 12, 20, 22 ff., 32 f., 43, 47, 51, 54, 56, 81, 83, 104 f., 110, 136 f., 141, 149, 153, 155, 157, 160 ff., 164, 165, 168, 170, 174, 196, 198, 221 f., 230, 241, 247, 251, 260 ff., 294, 300, 321, 338 f., 342 Weber, Werner 204
Thoma, Richard 31, 44, 117 f., 202 Thomas von Aquin 244 Thukydides 243 Tillich, Paul 27 Tocqueville, Alexis de 13, 61, 63, 247, 336 Tolstoi, Lew N. 79, 257 Tönnies, Ferdinand 285 Treitschke, Heinrich von 96, 277 Triepel, Heinrich 44, 72, 81, 237, 242 Troeltsch, Ernst 135 f.
Wehler, Hans-Ulrich 140 Weizsäcker, Richard von 232 Wilhelm II. (Deutscher Kaiser) 74, 287 Winckelmann, Johannes 279 Windthorst, Ludwig 86 Wittmayer, Leo 85 f., 88 ff., 119, 124 f. Wollschläger, Hans 65 Yorck von Wartenburg, Paul Graf 94, 123
Uhland, Ludwig 180, 331 Zachariä, Karl Salomo 82, 95 Voegelin, Eric 132
Zelter, Carl Friedrich 304, 306, 311