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German Pages 588 Year 2002
Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel
Band 142
Der Schutz der Menschenrechte bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen
Von
Dominik Ziegenhahn
Duncker & Humblot · Berlin
DOMINIK ZIEGENHAHN
Der Schutz der Menschenrechte bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen
Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel Herausgegeben von Jost Delbrück, Rainer Hofmann und A n d r e a s Z i m m e r man n Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht
142
Völkerrechtlicher Beirat des Instituts: Daniel Bardonnet l'Universite de Paris 11 Rudolf Bernhardt Heidelberg Lucius Caflisch Institut Universitaire de Hautes Etudes Internationales, Geneve
Fred L. Morrison University of Minnesota, Minneapolis Albrecht Randelzhofer Freie UmverSItät Berlin
Antonius Eitel Münster
Krzysztof Skubiszewski Pohsh Academy of SClences, Warsaw; The Hague
Luigi Ferrari Bravo Umverslta di Roma
Christi an Tomuschat Humboldt-Umversltät zu Berhn
Louis Henkin Columbla Umverslty, New York
Sir Arthur Watts London
Tommy T. B. Koh Smgapore John Norton Moore UmversIty of Virgima. Charlottesville
Rüdiger Wolfrum Max-Planck-InstItut für ausländIsches öffentlIches Recht und Völkerrecht, Heldelberg
Der Schutz der Menschenrechte bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen
Von
Dominik Ziegenhahn
Duncker & Humblot . Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel hat diese Arbeit im Jahre 2001 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
© 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1435-0491 ISBN 3-428-10905-8 Gedruckt auf allerungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@
Für Marianna
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 200112002 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Dissertation angenommen. Das Manuskript dieser Schrift wurde bereits im Juni 2001 abgeschlossen. so dass spätere Veröffentlichungen. Gerichtsentscheidungen. völkerrechtliche Vertragsabschlüsse und tatsächliche Geschehnisse nur noch vereinzelt berücksichtigt werden konnten. Mein besonderer Dank gebührt meinem verehrten Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Dr. Rainer Hofmann, Direktor des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, der die Entstehung dieser Arbeit stets mit viel Interesse, Offenheit und persönlichem Engagement begleitet hat. Seine stete Bereitschaft zum Gedankenaustausch. seine von Einfühlsamkeit geprägten Ratschläge und nicht zuletzt seine kritischen Anmerkungen und Vorschläge haben diese Arbeit entscheidend vorangebracht und geprägt. Auch bei Herrn Prof. Dr. Andreas Zimmermann. LL.M. (Harvard), ebenfalls Direktor des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht, möchte ich mich ganz herzlich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens bedanken. Besonders bedanken möchte ich mich auch bei Herrn Prof. Dr. Jost Delbrück, LL.M. (Indiana), der bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2001 Direktor des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht gewesen ist und mich bereits während meiner Zeit als Student und wissenschaftliche Hilfskraft am Institut vielfach unterstützt und durch seine stete Bereitschaft zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses die Entstehung dieser Arbeit ebenfalls mit ermöglicht hat. Für ihren Zuspruch bei der Auswahl des der Arbeit zugrunde liegenden Themenkomplexes und ihre Unterstützung bei der Eingrenzung der straf- und strafverfahrensrechtlichen Probleme danke ich auch Frau Prof. Dr. Ursula Nelles von der Westfälischen Wilhelrns-Universität Münster und Herrn Prof. Dr. Otto Lagodny vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg im Breisgau. Zu danken habe ich auch für die Zurverfügungstellung eines zweijährigen Promotionsstipendiums durch das Land Schleswig-Holstein nach dem Landesgesetz zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. durch welches ich das Privileg genießen durfte, mich voll und ganz auf meine Promotion konzentrieren zu
Vorwort
8
können. Auch dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) ist für die Bereitstellung eines weiteren Stipendiums zur Durchführung eines achtmonatigen Forschungsaufenthaltes beim Parlament der Europäischen Union zu danken. In diesem Zusammenhang gebührt mein Dank auch Herrn Dr. Gerhard Schmid, Vizepräsident des Parlaments der Europäischen Union, weIcher mir in Brüssel und Straßburgjede Unterstützung und allen Freiraum bei meiner wissenschaftlichen Recherche zukommen lassen hat. Wichtige Einblicke in die Praxis grenzüberschreitender Strafverfahren habe ich schließlich in der Rechtsanwaltssozietät Wessing 11 Verjans in Düsseldorf sammeln können, in weIcher mir Büroräume, Bibliothek und Recherchemöglichkeiten zur Verfügung gestellt worden sind, wofür ich mich ebenfalls ausdrücklich an dieser Stelle bedanken möchte. Besonders danken möchte ich auch Herrn Rechtsanwalt Marian Niestedt, der mir nicht nur während der gemeinsam verbrachten Studienzeit unermüdlich mit Rat und Tat als Freund zur Seite gestanden hat, sondern auch während der Promotion mit seiner kritischen Lektüre der Manuskripte und in zahlreichen Diskussionen eine unersetzliche Hilfe gewesen ist. Für die unermüdliche und kritische Lektüre des Manuskriptes meiner Arbeit möchte ich ganz besonders meiner Schwester, Frau Nora Ziegenhahn, sowie Herrn Studienrat Steffen Sielaff danken, die mir in den letzten Wochen vor der Abgabe mit nicht zu ermessender Hilfsbereitschaft zur Seite gestanden haben. Frau Rotraut Wolf danke ich ganz herzlich für Ihren Einsatz bei der technischen Fertigstellung meiner Arbeit, ohne die eine so zügige Veröffentlichung nicht möglich gewesen wäre. Dem Auswärtigen Amt möchte ich schließlich dafür danken, diese Veröffentlichung durch einen Druckkostenzuschuss überhaupt erst ermöglicht zu haben. Unvergleichbar ist jedoch die Hilfe und Unterstützung, die mir meine Mutter, Frau Sylvia Ziegenhahn, und vor allem meine geliebte Ehefrau, Frau Dottoressa Marianna Gioia-Ziegenhahn, haben zukommen lassen. Beide haben mich stets mit liebevoller Unterstützung, Vertrauen und Zuspruch in den Jahren meines beruflichen Werdegangs begleitet. Insbesondere meine Ehefrau ist hierbei mit mir durch alle Promotionsphasen so eigenen Höhen und Tiefen gegangen und mir stets ein unersetzbarer Ruhepol und Ausgleich in Momenten der Skepsis und inneren Verzweiflung gewesen. Ihr ist daher meine Arbeit gewidmet. Düsseldorf, im Juni 2002
Dominik Ziegenhahn
Inhaltsübersicht Einleitung
33
Teil] Rechtsgrundlagen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen
47
Erstes Kapitel
Institutionelle Einbettung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen
48
Zweites Kapitel
Inhaltliche Ausgestaltung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen
119
Drittes Kapitel
Die Rechtsstellung des Einzelnen am Beispiel der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen
217
Teil 2 Menschenrechte als Schranken der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen
271
Viertes Kapitel
Prinzipielle Anwendbarkeit der Menschenrechte auf die internationale Rechtshilfe in Strafsachen
272
Fünftes Kapitel
Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts als Schranken der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen
316
Sechstes Kapitel
Menschenrechte des Vertragsrechts als Schranken der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen - am Beispiel der EMRK
402
Zusammenfassung und rechtspolitische Anmerkungen
522
Inhaltsverzeichnis Einleitung A. Gegensta,nd der Arbeit
33 33
B. Problemschwerpunkt der Arbeit .................................... .
39
C. Gang der Untersuchung ................. . ......................... .
44
Teil 1 Rechtsgrundlagen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen
47
Erstes Kapitel
Institutionelle Einbettung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen A. Institutionen der Zusammenarbeit auf universeller Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . .. I. Die Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation - Interpol ........
II.
Die Vereinten Nationen ....................................... 1. Kriminalitätsbekämpfung, Völkerstrafrecht und Menschenrechtsschutz 2. Institutionen und Organe der Vereinten Nationen ................ 3. Handlungsinstrumentarien .................................. IlI. Die Organisation für Wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit .. IV. Die Weltwirtschaftsgipfel der G7/G8-Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. V. Würdigung und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
B. Institutionen der Zusammenarbeit auf europäischer Ebene ................. I. Der Europarat ....................................... . ....... II. Die Europäische Union .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. I. Institutionalisierung der Zusammenarbeit in Strafsachen ........... 2. Intergouvernementale Zusammenarbeit im Rahmen des dritten Pfeilers a) Institutionelle Einbindung der intergouvernementalen Zusammenarbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Handlungsinstrumentarien im Rahmen des dritten Pfeilers ...... aa) Handlungsinstrumentarien nach dem Maastrichter Vertrag. .. bb) Neue Handlungsinstrumentarien nach dem Amsterdamer Vertrag .............................................
48 49 49 53 54 57 59 60 63 64 66 67 71 72 76 78 81 81 83
Inhaltsverzeichnis
12
c) Bewertung der intergouvernementalen Ebene der Zusammenarbeit in Strafsachen .........................................
86
3. Supranationale Zusammenarbeit in Strafsachen im Rahmen des ersten Pfeilers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
89
a) Supranationale Kompetenzen im Bereich der Zusammenarbeit in Strafsachen ...........................................
90
aa) Eigene Rechtssetzungskompetenz der Gemeinschaftsorgane auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
91
bb) Verweisungskompetenz im Gemeinschaftsrecht auf geltendes Strafrecht in den Mitgliedstaaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
93
cc) Anweisungskompetenz im Gemeinschaftsrecht zur Schaffung nationaler Strafsanktionen durch die Mitgliedstaaten .......
94
dd) Mittelbarer Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf die nationalen Strafrechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
96
b) Betrugsbekämpfung als Schwerpunkt der ~upranationalen Zusammenarbeit in Strafsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
97
aa) Unite de coordination de la lutte anti-fraude - UCLAF . . . . ..
99
bb) Office de lutte anti-fraude - OLAF. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 100 c) Bewertung der supranationalen Ebene der Zusammenarbeit in Strafsachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 102 4. Ausblick und Würdigung ................................... 104 IIl.
Die Nordische Passunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 108
IV.
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ........ 109
V.
Würdigung und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 110
C. Institutionen der Zusammenarbeit auf bilateraler und innerstaatlicher Ebene ... 1I1
L
Institutionen der Zusammenarbeit auf bilateraler Ebene . . . . . . . . . . . . . .. 11I
II.
Institutionen der Zusammenarbeit auf innerstaatlicher Ebene. . . . . . . . . .. 113
D. Ergebnis........................................................ 114
I.
Institutionalisierung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. . . . . . .. 114
II.
Systematik der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen ... 116 Zweites Kapitel
Inhaltliche Ausgestaltung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen A. Rechtsquellen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen . . . .. I. Multilaterale Regelungen mit globalem Anwendungsbereich . . . . . . . . . .. 1. Statute und Sitzstaatabkommen von Interpol .................... 2. Übereinkommen im Rahmen der Vereinten Nationen. . . . . . . . . . . . .. a) Rechtshilfespezifische Modell verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Deliktsspezifische Übereinkommen ........................
119 119 121 121 121 122 123
Inhaltsverzeichnis
13
c) Regelungen der Völkerstrafrechtsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . .. 125 3. Regelungen im Rahmen der OECD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 129 11.
Multilaterale Regelungen mit vornehmlich europäischem Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 130 1. Regelungen im Rahmen des Europarats ........................ 130 a) Übereinkommen über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen 131 aa) Auslieferung in Strafsachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 131 bb) Rechtshilfe in Strafsachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 133 cc) Vollstreckungshilfe in Strafsachen ..................... 135 b) Deliktsspezifische Übereinkommen ........................ 136 c) Sonstige Übereinkommen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 140 2. Regelungen im Rahmen der Europäischen Union. . . . . . . . . . . . . . . .. 140 a) Übereinkommen über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen 142 aa) Übereinkommen über die Auslieferung in Strafsachen. . . . .. 142 bb) Übereinkommen über die sonstige Rechtshilfe in Strafsachen. 144 cc) Vollstreckungshilfe in Strafsachen ..................... 145 dd) "Ne-bis-in-idem"-Übereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 147 b) Übereinkommen über die Zusammenarbeit der Polizei- und Zollbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 148 c) Deliktsspezifische Übereinkommen zum Schutz der finanziellen Interessen der EU ...................................... 149 d) Intergouvernementale Rechtsakte im Rahmen des dritten Pfeilers. 152 e) Supranationale Rechtsakte im Rahmen des ersten Pfeilers der EG. 155 aa) Kontrollverordnungen im Bereich des Agrar- und des Wettbewerbsrechts ....................................... 155 bb) Kontroll- und Sanktionsverordnung zum Schutz der finanziellen Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 156 cc) Verordnung über die Errichtung eines Amts für Betrugsbekämpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 158 3. Regelungen im Rahmen des Schengen-Verbunds. . . . . . . . . . . . . . . .. 159
III.
Bilaterale Regelungen zwischen europäischen Staaten ................ 161 I. Zusatzübereinkommen zu den Rechtshilfekonventionen des Europarats 162 2. Bilaterale Abkommen über die justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen .................................................. 162 3. Bilaterale Abkommen über die Zusammenarbeit der Polizei- und Zollbehörden ................................................ 163
IV.
4. Regierungs- bzw. Verwaltungsübereinkommen .................. 164 Innerstaatliche Rechtsgrundlagen in der Bundesrepublik Deutschland. . .. 164 I. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 165 a) Die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 166
14
Inhaltsverzeichnis b) Die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union
167
c) Die Übertragung von Hoheitsrechten auf fremde Staaten. . . . . . .. 167 d) Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten ................ 168 2. Die einfachgesetzlichen Grundlagen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 171 a) Innerstaatliche Umsetzung völkerrechtlicher Übereinkommen. . .. 171 b) Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen. . . . . . .. 171 c) Bundeskriminalamtsgesetz ............................... 173 d) Polizeigesetze der Bundesländer .......................... 174 e) Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten ....................................... 175 f)
V.
Zuständigkeitsvereinbarungen des Bundes mit den Ländern und Delegationserlasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 175
Würdigung und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 175
B. Systematisierung und rechtliche Qualifizierung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen ........................................ 178
I.
Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen ..... 178 I. Klassische Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit ..... 178 2. Modeme Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. . . . . .. 179 3. Zusammenarbeit mit zwischenstaatlichen und supranationalen Institutionen .................................................. 179 4. Angleichung des nationalen Straf- und Strafverfahrensrechts . . . . . . .. 180
H.
Rechtsqualität der grenzüberschreitenden Strafverfolgungsmaßnahmen . .. 180 1. Differenzierungskriterien ................................... 180 a) Qualifikation nach der Rechtsquelle der verschiedenen Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 180 b) Qualifikation nach der Zurechnung des auf den jeweiligen Rechtsgrundlagen der Zusammenarbeit beruhenden Hoheitsaktes ...... 181 2. Rechtsakte innerstaatlicher Institutionen und Organe . . . . . . . . . . . . .. 182 a) Hoheitsakte mit ausschließlich innerstaatlicher Wirkung . . . . . . .. 183 b) Hoheitsakte mit extraterritorialer Wirkung. . . . . . . . . . . . . . . . . .. 183 c) Hoheitsakte auf fremdem Staatsgebiet ...................... 185 3. Rechtsakte zwischenstaatlicher und supranationaler Institutionen und Organe .................................................. 186 a) Rechtsakte internationaler Organisationen im Allgemeinen . . . . .. 186 b) Supranationale Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaften. . .. 187 c) Intergouvernementale Rechtsakte der Europäischen Union ...... 188
11 I.
Ergebnis.................................................... 189
C. Individualrechtliche Bezüge in den Rechtsgrundlagen der grenzüberschreitenden
Zusammenarbeit in Strafsachen .................................... "
189
Inhaltsverzeichnis I.
15
Traditionelle Schranken des internationalen Rechtshilferechts . . . . . . . . .. 190 1. Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 191 2. Grundsatz der Gegenseitigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 192 3. Grundsatz der Spezialität ................................... 193 4. Grundsatz der Nichtauslieferung eigener Staatsangehöriger . . . . . . . .. 193 5. Grundsatz der Nichtauslieferung politischer Straftäter. . . . . . . . . . . .. 195 6. Grundsatz der Nichtauslieferung bei fiskalischen Delikten. . . . . . . . .. 196 7. Grundsatz der Nichtauslieferung bei drohender Todesstrafe. . . . . . . .. 196
11.
Individualrechtliche Bezüge in den internationalen Rechtsgrundlagen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen ............... 198 1. Allgemeine Bekenntnisse zum Schutz der Menschenrechte ....... "
198
2. Vorbehalt des "ordre public" oder wesentlicher Interessen der Staaten
200
3. Schutz des Lebens und der körperlichen und psychischen Integrität .. 201 4. Schutz der Verteidigerrechte und eines fairen Verfahrens .......... 201 5. Schutz vor diskriminierender Behandlung ...................... 203 6. Verbot der doppelten Strafverfolgung - Grundsatz des "ne bis in idem" 204 7. Recht auf Sicherheit und Freiheit ............................. 205 8. Rückwirkungsverbot und sonstige Schutzklauseln . . . . . . . . . . . . . . .. 206 9. Schlussfolgerungen........................................ 206 III.
Individualrechtliche Bezüge in den innerstaatlichen Rechtsgrundlagen . .. 207 I. Bundesrepublik Deutschland ................................ 208 2. Weitere europäische Staaten ................................. 210
D. Ergebnis ........................................................ 211 Drittes Kapitel Die Rechtsstellung des Einzelnen am Beispiel der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen
217
A. Überblick über mögliche Eingriffe in Individualrechte durch Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 218 I.
Auslieferung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 218 I. Vorbereitung der Auslieferung durch den ersuchenden Staat . . . . . . .. 218 2. Vorbereitung der Auslieferung durch den ersuchten Staat .......... 220 3. Vollzug der Auslieferung durch den ersuchten Staat ............... 220 4. Abschluss des Auslieferungsverfahrens im ersuchenden Staat . . . . . .. 221
11.
Besonderheiten bei der sonstigen Rechtshilfe in Strafsachen ........... 221 I. Durchführung von innerstaatlichen Strafverfolgungsmaßnahmen im ersuchten Staat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 222 2. Weitergabe von Ermiulungsergebnissen durch den ersuchten Staat. .. 222 3. Verwertung der erlangten ErmiUlungsergebnisse im ersuchenden Staat 222
16
Inhaltsverzeichnis
III. Würdigung ................................................. 222 B. Subjektive Rechte des Einzelnen - materielle Rechtspositionen gegen Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 225 I. Existenz subjektiver Rechte des Einzelnen auf der Ebene des Völkerrechts 226 1. Zweidimensionale Sichtweise im Rechtshilferecht . . . . . . . . . . . . . . .. 227 2. Von der zweidimensionalen zur dreidimensionalen Sichtweise ...... 228 3. Würdigung aus der Sicht der Völkerrechtswissenschaft . . . . . . . . . . .. 229 11.
Menschenrechte als subjektive Rechte der Völkerrechtsordnung . . . . . . .. 232 1. Übersicht über die Rechtsquellen der Menschenrechte. . . . . . . . . . . .. 233
a) Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts . . . . . . . . . . . . . . .. 234 b) Menschenrechte des Völkervertragsrechts ................... 234 c) Menschenrechte in Form allgemeiner Rechtsgrundsätze ........ 238 2. Qualität der Menschenrechte als subjektive Rechte der Völkerrechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 240 a) Geltungsgrund und völkerrechtliche Verbindlichkeit der Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 240 b) Geltungsgrund und völkerrechtliche Verbindlichkeit der Menschenrechte des Völkervertragsrechts - am Beispiel der EMRK . . . . . .. 241 c) Subjektive Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 242 3. Fortwirkung subjektiver Rechte der Völkerrechtsordnung auf der Ebene des innerstaatlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 243 a) "Self-executing"-Charakter völkerrechtlicher Menschenrechte ... 244 b) Inkorporation völkerrechtlicher Menschenrechte in die innerstaatlichen Rechtsordnungen ................................. 244 aa) Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts . . . . . . . . . . .. 244 bb) Menschenrechte der EMRK ........................... 246 c) Reichweite der subjektiven Rechte des Einzelnen ............. 247 aa) Völkergewohnheitsrecht ....................... . ..... 247 bb) Völkervertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 248 III.
Subjektive Rechte aus den Rechtsgrundlagen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen ................................. 249
C. Prozessuale Möglichkeiten des Rechtsschutzes gegen Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen ..................................... 251
I.
Rechtsschutz gegen Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen auf nationaler Ebene .................................... 251 I. Der Rechtsschutz im ersuchten Staat .......................... 252 a) Rechtsschutz vor den ordentlichen Gerichten. . . . . . . . . . . . . . . .. 252 b) Rechtsschutz vor den Verfassungsgerichten .................. 254 2. Der Rechtsschutz im ersuchenden Staat ........................ 256
11.
Rechtsschutz gegen Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen auf internationaler Ebene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 257
Inhaltsverzeichnis 1. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
17 258
2. Der Gerichtshof der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 260 a) Rechtsschutz im Rahmen der 1. Säule der Europäischen Union. .. 261 b) Rechtsschutz im Rahmen der 3. Säule der Europäischen Union. .. 263 D. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 268
Teil 2
Menschenrechte als Schranken der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen
271
Viertes Kapitel
Prinzipielle Anwendbarkeit der Menschenrechte auf die internationale Rechtshilfe in Strafsachen
272
A. Begründungen der grundsätzlichen Anwendbarkeit in der Rechtsprechung 273 I. Internationale Gerichtsinstanzen und Spruchkörper .................. 274 1. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ................ 274
2. Der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen ............ 277 3. Die UN- Kriegsverbrechertribunale und der Internationale Strafgerichtshof ..................................................... 279 4. Der Gerichtshof der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 282 5. Würdigung der internationalen Rechtsprechung. . . . . . . . . . . . . . . . .. 284 ·11.
Innerstaatliche Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland ....... 285 1. Das Bundesverfassungsgericht ............................... 285 2. Das Bundesverwaltungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 288 3. Der Bundesgerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 290 4. Die Oberlandesgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . .. 293 5. Würdigung der deutschen Rechtsprechung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 297
III.
Innerstaatliche Rechtsprechung ausländischer Staaten ................ 298 I. Die Rechtsprechung weiterer europäischer Staaten. . . . . . . . . . . . . . .. 299 2. Die Rechtsprechung nordamerikanischer Staaten . . . . . . . . . . . . . . . .. 302 3. Würdigung der ausländischen Rechtsprechung. . . . . . . . . . . . . . . . . .. 303
B. Begründungen der grundsätzlichen Anwendbarkeit im Schrifttum ........... 304
I.
Schrifttum der Bundesrepublik Deutschland. . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. 304 I. Die "Theorie vom Vertragscharakter der Auslieferung" von Vogler. .. 304 2. Die "Lehre vom innerstaatlichen Vollzugsakt" von Lagodny . . . . . . .. 305 3. Weitere Stellungnahmen im Schrifttum der Bundesrepublik Deutschland .........•........................................... 307 4. Würdigung der verschiedenen Auffassungen im Schrifttum . . . . . . . .. 311
11.
Ausländisches Schrifttum
2 Ziegenhahn
312
Inhaltsverzeichnis
18
C. Übersicht über umstrittene Kriterien der Anwendbarkeit und der Reichweite von Menschenrechten auf die internationale Rechtshilfe in Strafsachen. . . . . . . . . .. 314
Fünftes Kapitel
Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts als Schranken der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen
316
A. Systematik des völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechtsschutzes . . . . . .. 316 I. Grundsätze der Entstehung völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte 317 11.
Für die Ennittlung völkergewohnheitsrechtlicher Normen erhebliche Bereiche der internationalen Staaten praxis ............................. 318 1. Völkervertraglicher Menschenrechtsschutz ..................... 319 2. Allgemeines Fremdenrecht .................................. 321 3. Internationaler Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehr . . . . . . . . . . . .. 322
III.
Abgrenzung völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte. . . . . . . . . . .. 324 1. Abgrenzung der völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte . . . .. 324 a) Einfache völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte. . . . . . . .. 324 b) Völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte mit .. Ius-cogens"Charakter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 325 c) Völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte mit ..Erga-ornnes"Charakter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 325 2. Weitere in Rechtsprechung und Schrifttum verwendete Begriffe . . . .. 326 a) Allgemeine Rechtsgrundsätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 326 b) Völkerrechtlicher Mindeststandard und Fremdenrecht .......... 327 c) Internationaler ..ordre public" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 328
B. Ennittlung einschlägiger völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte
I.
330
Persönlichkeitsrechte im Auslieferungs- und Rechtshilfeverfahren ... . .. 330 1. Recht auf Leben .......................................... 330 2. Recht auf körperliche Unversehrtheit .......................... 333 3. Recht auf Freiheit ......................................... 334 4. Schutz des Privat- und Familienlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 335
11.
Prozessuale Garantien im Auslieferungs- und Rechtshilfeverfahren . . . . .. 336 1. Rechtsweggarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 336 2. Besondere Ausprägungen der Rechtsweggarantie . . . . . .. . . . . . . . . .. 336 3. Verbot der Bestrafung ohne gesetzliche Grundlage - Grundsatz der "nulla poena sine lege" .............................. , . . . . .. 338 4. Verbot der doppelten Bestrafung - Grundsatz des "ne bis in idem" . .. 338
IlI.
Gleichheitsrechte und sonstige Rechte im Auslieferungs- und Rechtshilfeverfahren ............................ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 339
IV.
Ergebnis......... . ............... . .. . ....................... 340
Inhaltsverzeichnis C. Eingriffsvoraussetzungen für völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte
19 341
I.
Ermittlung des menschenrechtsrelevanten hoheitlichen Handeins ....... 342
II.
Abschluss eines völkerrechtlichen Übereinkommens über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen .................................... " 343 1. Eingriff in dispositive völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte.. 343 2. Eingriff in zwingende völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte.. 344
III.
Vornahme konkreter Auslieferungs- und Rechtshilfemaßnahmen ....... 345 1. Eingriff in völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte unter Zugrundelegung der "Vertragstheorie" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 346 2. Eingriff in völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte unter Zugrundelegung der "Lehre vom innerstaatlichen Vollzugsakt" .......... " 347 3. Würdigung und eigener Lösungsansatz ........................ 348
IV.
Zurechenbarkeit von unmittelbaren Eingriffen anderer Staaten ......... 349 1. Lösungsansätze in der Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland 351 2. Lösungsansätze im Schrifttum der Bundesrepublik Deutschland . . . .. 352 a) Lehre vom faktischen Grundrechtseingriff ................. "
352
b) Menschenrechtliche Schutzpflichten der Staaten .............. 353 c) Beihilfe zur Verletzung des Völkerrechts .................. "
356
3. Würdigung............................................... 357 V.
Ergebnis .................................................. "
357
D. Einschränkbarkeit völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte ........... 358 I.
Pflicht zur Anerkennung ausländischer Hoheitsakte ("rule of non inquiry") 359 I. Der Grundsatz der Anerkennung ausländischer Hoheitsakte ........ 360 2. Grenzen der Verpflichtung zur Anerkennung ausländischer Hoheitsakte in der Praxis der Rechtsprechungsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 362 3. Würdigung .............................................. 364
II.
Normenkollisionen aufgrund vertraglicher Verpflichtungen zur internationalen Rechtshilfe in Strafsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 366 1. Überblick über den Streitstand ............................... 368 a) Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland ............. 368 b) Schrifttum der Bundesrepublik Deutschland ................. 370 aa) Begrenzte Reichweite von Menschenrechten bei vertragsgebundenem Rechtshilfeverkehr - Zur "Ius-cogens"-Lösung Voglers .......................................... 370 bb) Kritik an der ..Ius-cogens"-Lösung durch Lagodny . . . . . . . .. 372 c) Würdigung ........................................... 373 d) Weiteres Vorgehen ..................................... 375 2. Verfassungsrechtliche Auflösung der Normen- bzw. Pflichtenkollision 375 a) Innerstaatlicher Rang völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte ............................................... 376
Inhaltsverzeichnis
20
b). Kollision mit völkerrechtlichen Auslieferungs- und Rechtshilfeverpflichtungen .......................................... 377 c) Kollision mit innerstaatlichen Auslieferungs- und Rechtshilfeverpflichtungen .......................................... 379 d) Schlussfolgerung ...................................... 379 3. Völkerrechtskonforme Auflösung der Normen- bzw. Pflichtenkollision 380 a) Existenz einer internationalen öffentlichen Ordnung. . . . . . . . . . .. 380 aa) Völkerrechtliche Normen mit zwingendem Charakter - "ius cogens" .......................................... 382 bb) Völkerrechtliche Normen mit objektivem Geltungsanspruch "erga ornnes" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 383 ce) Internationaler "ordre public" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 384 dd) Zuordnungs kriterien für den völkerrechtlichen "ordre public" 385 ee) Menschenrechte als Kernbestanteil des internationalen "ordre public" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 386 b) Auswirkungen auf die völkerrechtliche Normenhierarchie . . . . . .. 388 aa) Absoluter Vorrang von "Ius-cogens"-Normen ............ 389 bb) Völkervertragliche Derogationsverbote bzw. Kollisionsklauseln .............................................. 390 ce) Verbot von Verträgen zu Lasten Dritter ................. 391 dd) Eingeschränkte Dispositionsfreiheit auch über einfaches Völkergewohnheitsrecht ................................ 392 III.
Konsequenzen für die internationale Rechtshilfe in Strafsachen. . . . . . . .. 395
E. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 397
Sechstes Kapitel
Menschenrechte des Vertragsrechts als Schranken der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen - am Beispiel der EMRK
402
A. Systematik des völkervertraglichen Menschenrechtsschutzes ............... 402 I. Abgrenzung der völkervertraglichen Rechtsquellen der Menschenrechte .. 11. Methodisches Vorgehen bei der Ermittlung der Menschenrechte der EMRK 111. Übersicht über die möglicherweise einschlägigen Konventionsrechte .... B. Ermittlung der Schutzbereiche einzelner Konventionsrechte . . . . . . . . . . . . . . .. I. Persönlichkeitsrechte im Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehr . . . . . . .. \. Schutz des Lebens- Art. 2 EMRK und 6. Zusatzprotokoll zur EMRK a) Recht auf Leben ....................................... b) Verbot der Todesstrafe .................................. 2. Folter. unmenschliche und erniedrigende Behandlung und Strafe Art. 3 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Todesstrafe ...........................................
402 403 404 405 405 405 406 407 409 409
Inhaltsverzeichnis
21
b) Todeszellensyndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 411 c) Folter ................................................ 412 d) Unmenschliche oder erniedrigende Strafe. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 413 3. Recht auf Freiheit und Sicherheit - Art. 5 EMRK. . . . . . . . . . . . . . . .. a) Rechtmäßigkeit der Auslieferungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Verfahrensrechte der festgenommenen oder inhaftierten Person " d) Völkerrechtswidrige Verhaftung und Entführung auf fremdem Staatsgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
414 416 419 421
4. Achtung der Privatsphäre - Art. 8 EMRK. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 423 II.
Prozessuale Garantien im Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehr ....... 425 I. Anspruch auf ein faires Verfahren - Art. 6 EMRK ................ 425 a) Anwendbarkeit auch im innerstaatlichen Auslieferungsverfahren? . 426 b) Anwendbarkeit in auslandskausalen Fällen. . . .. . . . . . . . . . . . . .. 429 c) Überblick über die verschiedenen Verfahrensgarantien des Art. 6 EMRK ............................................... 430 d) Verbot von Abwesenheitsurteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 431 2. Grundsatz des "ne bis in idem" - Art. 4 des 7. ZP-EMRK .......... 433 3. Angemessener Rechtsschutz - Art. 13 EMRK ................... 433 4. Rückwirkungsverbot - Art. 7 EMRK .......................... 435
III.
Gleichheitsrechte und sonstige Rechte im Auslieferungs- und Rechtshilfeverfahren ................................................... 435 l. Verbot der Diskriminierung - Art. 14 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 435 2. Die "traditionellen" Auslieferungshindernisse .als Bestandteil der EMRK? ................................................. 436
IV. Ergebnis..................................................... 436 C. Eingriffsvoraussetzungen der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 437
I.
Zeitpunkt des Eingriffs ........................................ 438 1. Schutzbereichsverletzung ist bereits eingetreten . . . . . . . . . . . . . . . . .. 438 2. Schutzbereichsverletzung steht noch bevor ......... '.' . . . . . . . . . .. 439 3. Einstweiliger Rechtsschutz gegen bevorstehende Eingriffe .......... 440
11.
Zurechenbarkeit von extraterritorialen Hoheitseingriffen ... . . . . . . . . . .. 442 I. Extraterritoriale Eingriffe eigener Hoheitsträger . . . . . . . . . . . . . . . . .. 443 2. Zurechenbarkeit ausländischen Hoheitshandelns ................. 444 a) Grundsatz der "Folgenorientiertheit" der Konventionsrechte ... "
444
b) Fehlende Bindung des Drittstaates an die EMRK . . . . . . . . . . . . .. 445 3. Zurechenbarkeit des Handelns Privater ........................ 446 III.
Zurechenbarkeit des HandeIns von zwischenstaatlichen und supranationalen Institutionen ................................................ 447 I. Keine unmittelbare Bindung der zwischenstaatlichen und supranationalen Institutionen an die EMRK .. . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. 447
22
Inhaltsverzeichnis 2. Mittelbare Bindung an die EMRK aus der Perspektive des Unionsrechts 448 3. Mittelbare Bindung an die EMRK aus der Perspektive der Konvention 451 4. Dogmatische Einordnung dieser Tendenzen und prozessuale Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 454 IV. Ergebnis.................................................... 457
D. Konventionsimmanente Schranken der Anwendbarkeit der Menschenrechte ... 458
I.
Einschränkung des materiell-rechtlichen Anwendungsbereichs der EMRK 459 I. Einschränkbarkeit vorbehaltslos gewährleisteter Konventionsrechte .. 459 a) Dem Schutzbereich immanente begriffliche Schranken ......... 460 b) Interessenabwägung auf der Ebene des Schutzbereiches von Art. 3 EMRK ............................................... 462 c) Kritik an der schutzbereichsimmanenten Güterabwägung ....... 463 d) Weitere Einwände gegen die "Soering"-Rechtsprechung . . . . . . .. 464 2. Die Gesetzesvorbehalte einzelner Konventionsrechte . . . . . . . . . . . . .. 465 3. Einschränkung in Ausnahmesituationen - Notstandsklausel ........ 466 4. Vorbehalte bei der Ratifikation der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 467 5. Grenzen der materiell-rechtlichen Einschränkbarkeit der EMRK Schranken-Schranken ...................................... 468
II.
Einschränkung des personellen Anwendungsbereichs der EMRK ....... 469
III.
Einschränkung des temporalen Anwendungsbereichs der EMRK ........ 470
E. Kollision von Menschenrechten der EMRK mit Auslieferungs- und Rechtshilfebestimmungen ................................................... 470 I.
Verfassungskonforme Auflösung von Normenkonflikten .............. 471
I. Innerstaatlicher Rang der EMRK. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 472 a) Rechtslage in der Bundesrepublik Deutschland .... . ...... . ... 474 b) Rechtslage in den übrigen Konventionsstaaten . . . . . . . . . . . . . . .. 475 c) Würdigung ........................................... 478 2. Bindungswirkung der Entscheidungen des EGMR ................ 479 a) Unmittelbare Bindungswirkung - "Inter-partes"-Wirkung der Urteile. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 480 aa) Aufschiebende Wirkung von vorläufigen Maßnahmen gemäß Art. 39 VerfO-EGMR ............................... 480 bb) Konkrete Bindungswirkung eines Urteils im verurteilten Konventionsstaat ...................................... 481 cc) Innerstaatliche Umsetzung eines Urteils durch die Wiederaufnahme abgeschlossener Verwaltungs- und Strafverfahren. . .. 482 b) Mittelbare Bindungswirkung - "Erga-ornnes"-Wirkung der Urteile 483 c) Würdigung ........................................... 485 3. Versuch der Herleitung des übergesetzlichen Rangs der EMRK. . . . .. 485 a) EMRK mit Überverfassungsrang .......................... 487
Inhaltsverzeichnis
23
b) EMRK als (regionales) Völkergewohnheitsrecht im Sinne des Art. 25 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 487 c) EMRK als internationale Organisation im Sinne von Art. 24 GG .. 488 d) Freiheitsrechte der EMRK entsprechen dem Wesensgehalt des Art. 2 I GG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 489 e) Verstoß gegen die EMRK verletzt das Willkürverbot des Art. 3 I GG 490 f)
EMRK als originäre Grundrechtsverfassung Europas . . . . . . . . . .. 490
g) Würdigung ........................................... 491 4. Konsequenzen für den internationalen Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 492
11.
Völkerrechtskonforme Auflösung des Normenkonflikts . . . . . . . . . . . . . .. 493 1. Traditionelle völkerrechtliche Grundsätze zur Auflösung von vertraglichen Normenkonflikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 493 a) Pflicht zur völkerrechtskonformen Auslegung ................ 494 b) Normenhierarchie nach der traditionellen Völkerrechts wissenschaft 494 c) Vertragliche Kollisions- und Derogationsklauseln . . . . . . . . . . . .. 495 d) Regelung der Vertragskonkurrenz durch die Wiener Vertragsrechtskonvention ........................................... 496 aa) Art. 30 n WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 496 bb) Art. 30 III WVK .................................... 497 cc) Art. 30 IV WVK ................................... 497 e) Kritik und Ansätze zur Auflösung von vertraglichen Normenkonflikten ............................................... 499 2. Ermittlung der völkerrechtlichen Bindungswirkung der EMRK . . . . .. 501 a) EMRK als klassischer völkerrechtlicher Vertrag .............. 501 b) EMRK als regionales Völkergewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . .. 501 c) EMRK als Bestandteil eines europäischen "ordre public" ....... 504 aa) Rechtsprechungspraxis der Konventionsorgane . . . . . . . . . . .. 505 bb) Rechtsprechungspraxis des Gerichtshofs der Europäischen Union ............................................ 507 cc) Rechtsprechungspraxis der Konventionsstaaten ........... 507 dd) Rechtsauffassungen im europäischen Schrifttum. . . . . . . . . .. 508 ee) Funktion und Reichweite des europäischen "ordre public" . .. 509 d) EMRK als europäischer "ordre public" zugleich regionales "ius cogens"? ............................................. 510 3. Konsequenzen für den internationalen Rechtshilfeverkehrin Strafsachen 513 a) Zwischen Vertragsstaaten der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 513 b) Zwischen Vertragsstaaten der EMRK und Nicht-Konventionsstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 515
F. Ergebnis........................................................ 517
24
Inhaltsverzeichnis
Zusammenfassung und rechtspolitische Anmerkungen
522
A. Ergebnisse der Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 522 B. Rechtspolitische Vorschläge zur Verbesserung des Menschenrechtsschutzes ... 526 I.
Bezogen auf den effektiven Menschenrechtsschutz durch das nationale Recht ...................................................... 526
11.
Einbeziehung von Menschenrechtsklauseln in die Verträge über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 526
Literaturverzeichnis
530
Sachwortverzeichnis
583
Abkürzungsverzeichnis
AFDI
Amercian Convention on Human Rights Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen Annuaire Franc;: ai se de Droit International
African JICL AIDI AJIL
African Journal of International and Comparative Law Annuaire de I' Institut de Droit International American Journal of International Law
AMRK
Amerikanische Menschenrechtskonvention
AO
Abgabenordnung Archiv des öffentlichen Rechts Auslieferungs- und Rechtshilfegesetz von Österreich
ACHR AEMR
AöR ARHG AuslG Australian YIL Austrian JPIL AVR BayVBI. BDGVR BGBI.
Ausländergesetz der Bundesrepublik Deutschland Australian Yearbook of International Law Austrian Journal of Public International Law Archiv des Völkerrechts Bayerische Verwaltungs blätter Berichte der Gesellschaft für Völkerrecht Bundesgesetzblatt
BGHSt
Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen
BGHZ
Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen
BKA BR-Drs. BT-Drs. BVerfGE
Bundeskriminalamt Drucksache des Bundesrats Drucksache des Bundestags Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
BVerfGG
BYIL
Bundesverfassungsgerichtsgesetz Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts British Year Book of International Law
CMLRep.
Common Markets Law Reports
BVerwGE
26
Abkürzungsverzeichnis
CMLRev.
Common Markets Law Review
CR
Computer Report
CybercrimeÜbk
Übereinkommen zur Bekämpfung der Cyber-Kriminalität zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats
DAG
Deutsches Auslieferungsgesetz
DÖV
Die öffentliche Verwaltung
DR
Decision & Reports
DRiZ
Deutsche Richterzeitung
DStR
Deutsches Steuerrecht
DuD
Datenschutz und Datensicherung
DVBI.
Deutsches Verwaltungsblau
EA
Europa-Archiv
EEA
Einheitliche Europäische Akte
EFARev.
European Foreign Affairs Review
EG
Europäische Gemeinschaften
EG-AuslFaxÜbk
Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die Vereinfachung und Modernisierung der Verfahren zur Übennittlung von Auslieferungsersuchen
EGKS
Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
EGMR
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
EG-ne-bis-in-idemÜbk Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften betreffend der Anwendung des Grundsatzes "ne bis in idem" EG-Übers tell Übk
Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die ÜbersteIlung verurteilter Personen
EG-ÜbertragÜbk
Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die Übertragung von Strafverfahren
EGV
Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaften
EG-VollstrÜbk
Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die Vollstreckung ausländischer Urteile
EJIL
European Journal of International Law
EKMR
Europäische Kommission für Menschenrechte
EMRK
Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
EP
Europäisches Parlament
EPIL
Encyclopedia of Public International Law
EPZ
Europäische Politische Zusammenarbeit
EU
Europäische Union
EuAlÜbk
Europäisches Auslieferungsübereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats
Abkürzungsverzeichnis
27
EU-AIÜbk
Übereinkommen über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union
EuAuskÜbk
Europäisches Übereinkommen betreffend Auskünfte über ausländisches Recht zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats
EU-BestechProt
Protokoll zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften
EU -Bestech Übk
Übereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung, an der Beamte der Europäischen Gemeinschaften oder der Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligt sind
EU-BetrugsQbk
Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften
EuDrogenÜbk
Übereinkommen über den unerlaubten Verkehr mit Drogen auf ho her See zur Durchführung des Artikels 17 des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats
EuG
Gerichtshof erster Instanz der EU
EU-GeldwProt
Zweites Protokoll zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften
EuGH
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften
EuGRZ
Europäische Grundrechte-Zeitschrift
EuGVÜ
Europäisches Gerichtsstand- und Vollstreckungsübereinkommen
EU-ImmunProt
Protokoll über die Europäische Union und von Artikel 41 Absatz 3 des Europol-Übereinkommens über die Vorrechte und Immunitäten für Europol, die Mitglieder der Organe, die stellvertretenden Direktoren und die Bediensteten von Europol
EuR
Europarecht
EuRhÜbk
Europäisches Übereinkommen über die Rechtshilfe zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats
EU-RhÜbk
Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union
EuropolÜbk
Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union über die Errichtung eines Europäischen Polizeiamts
EuSchusswÜbk
Europäisches Übereinkommen über die Kontrolle des Erwerbs und Besitzes von Schusswaffen durch Einzelpersonen zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats
EuStrVerkÜbk
Europäisches Übereinkommen über die Ahndung von Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats
EuTerrÜbk
Europäisches Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats
EUV
Vertrag über die Gründung der Europäischen Union
28
Abkürzungsverzeichnis
EU-VAlÜbk
Übereinkommen über das vereinfachte Auslieferungsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union
Eu VolistrÜbk
Europäisches Übereinkommen über die internationale Geltung von Strafurteilen zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats
EuZöR
Europäische Zeitschrift für öffentliches Recht
EuZW
Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht
EWG
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
FATF
Financial Action Task Force on Money Laundering
Finn. Yb. Int'l Law
Finish Yearbook of International Law
FS
Festschrift
GAOR
General Assembly Official Records
GASP
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
GeldwÜbk
Übereinkommen über Geldwäsche sowie über Ennittlung, Beschlagnahme und Einziehung von Erträgen aus Straftaten zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats
GLSJ
Global Legal Studies Journal
GS
Gedächtnisschrift
GVG
Gerichtsverfassungsgesetz
GYIL
German Yearbook of International Law
Hague YblL
Hague Yearbook of International Law
Harv.ILJ
Harvard International Law Journal
HbdStR
Handbuch des Staatsrechts
HRJ
Human Rights Journal
HRLJ
Human Rights Law Journal
HRQ
Human Rights Quarterly
IAGMR
Inter-Amerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte
ICJ
International Court of Justice
ICLQ
International and Comparative Law Quarterly
ICTR-Statut
Statut des International Criminal Tribunal of Ruanda
ICTY -Statut
Statut des International Criminal Tribunal of Yugoslavia
IGH
Internationaler Gerichtshof
IJGLS
Indiana Journal of Global Legal Studies
IKPK
Internationale Kriminalpolizeiliche Kommission
IKPO
Internationale Kriminalpolizeiliehe Organisation
ILC
International Law Commission
ILM
International Legal Materials
ILR
International Law Reports
Abkürzungsverzeichnis Indian JIL
29
Indian Journal of International Law
IPbpR
Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte
IRG
Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen
IStGH
Internationaler Strafgerichtshof
IStGH-Statut
Statut des Internationalen Strafgerichtshofs
JIR
Jahrbuch für Internationales Recht
JR
Juristische Rundschau
JuS
Juristische Schulung
JZ
Juristen Zeitung
KorruptÜbk
Übereinkommen über die strafrechtliche Bekämpfung der Korruption zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats
KritV
Kritische Vierteljahreszeitschrift für Gesetzgebung
KSZE
Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
MDR
Monatsschrift für Deutsches Recht
MJ
Maastricht Journal
MOE-Staaten
Mittel- und osteuropäische Staaten
Neapel II-Übk
Übereinkommen über gegenseitige Amtshilfe und Zusammenarbeit der Zollverwaltungen
Neth, Yb, Int'l Law
Netherlands Yearbook of International Law
NILR
Netherlands International Law Review
NJ
Neue Justiz
NJW
Neue Juristische Wochenschrift
NStZ
Neue Zeitschrift für Strafrecht
NVwZ
Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht
NVwZ-RR
Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht - Rechtsprechungsreport
NZA
Neue Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht
OAS
Organi'sation of American States
OECD
Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
OECD-BestechÜbk
Übereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr
OECD-Übk
Übereinkommen über die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
ÖRiZ
Österreichische Richterzeitung
ÖZöRVR
Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht
OLAF
Office de lutte anti-fraude
OSZE
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
30
Abkürzungsverzeichnis
OWiG
Gesetz über Ordnungswidrigkeiten
PCIJ
Permanent Court of International Justice
PJZS
Polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen
Polish YBIL
Polish Yearbook of International Law
RdC
Academie de Droit International, Recueil des Cours
RevMC
Revue du Marche Commun et de I'Union Europeenne
RGDIP
Revue Generale de Droit International Public
RiVASt
Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten
RIW
Recht der internationalen Wirtschaft
RTDeur
Revue trimestelle droit europeen
RUDH
Revue universelle de droit de I'Homme
Schengen I
Übereinkommen zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen
SchengenProt
Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union
SchwJIR
Schweizerisches Jahrbuch für Internationales Recht
SchwJZ
Schweizerische Juristenzeitung
SchwZStrR
Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht
SCOR
Security Council Official Records
SDÜ
Schengener Übereinkommen betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen
Series A, Nr.
Publications of the European Court of Human Rights, Judgements and Decisions
StGB
Strafgesetzbuch
StIGH
Ständiger Internationaler Gerichtshof
StPO
Strafprozessordnung
StrVert
Strafverteidiger
SZ
Süddeutsche Zeitung
TREVI
Terrorisme, Radicalisme, Extremisme et Violence Internationale
UCLAF
Unite pour la coordination de la lutte anti-fraude
ÜberstÜbk
Übereinkommen über die ÜbersteIlung verurteilter Personen zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats
Übk
Übereinkommen
UmweltschÜbk
Übereinkommen über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats
Abkürzungs verzeichnis
31
UN
Uni ted Nations
UN-AntiFolterÜbk
Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe
UN-DrogenÜbk
Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen den unerlaubten Verkehr mit Rauschgiften und psychotropen Substanzen
UNO
United Nations Organization
UN-TerrorBombÜbk
Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Bekämpfung terroristischer Bombenanschläge
UN-TranskrimÜbk
Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Bekämpfung der transnationalen Kriminalität
UNTS
United Nations Treaty Series
VerfO-EGMR
Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
VerfO-EKMR
Verfahrensordnung der Europäischen Kommission für Menschenrechte
VerwArch
Verwaltungsarchi v
Virg. JIL
Virginia Journal of International Law
VVDStRL
Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer
Wistra
Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer, Strafrecht
WM
Wertpaper-Mitteilungen
WuW
Wirtschaft und Wettbewerb
WVK
Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge
Yale 1. Int'l L.
Yale Journal of International Law
YBILC
Yearbook of the International Law Commission
ZaöRV
Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
ZAR
Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik
ZBJI
Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres
ZEuS
Zeitschrift für europarechtliche Studien
ZFIS
Zeitschrift für Innere Sicherheit in Deutschland und Europa
ZP
Zusatzprotokoll
ZP-EMRK
Zusatzprotokoll zur Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
ZP-EuAIÜbk
Zusatzprotokoll zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen
ZP-EuAuskÜbk
Zusatzprotokoll zum Europäischen Übereinkommen über die Unterrichtung über ausländisches Recht
ZP-EuRhÜbk
Zusatzprotokoll zum Europäischen Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen
ZP-ÜberstÜbk
Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über die ÜbersteIlung verurteilter Personen
32
ZRP
Abkürzungsverzeichnis Zeitschrift für Rechtspolitik
ZStrR
Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht
ZStW
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft
Einleitung A. Gegenstand der Arbeit Seit nunmehr Jahrzehnten beschäftigt sich die wissenschaftliche Praxis mit der Frage, ob und in welchem Umfang dem Einzelnen auf der Ebene des Völkerrechts unmittelbare subjektive Rechte zukommen. Die etwa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einsetzende Internationalisierung des Menschenrechtsschutzes l hat maßgeblich dazu beigetragen, dass inzwischen uneingeschränkt anerkannt ist, dass das Individuum Inhaber sowohl unmittelbarer Rechte als auch Pflichten auf der Ebene des Völkerrechts sein kann. Insbesondere hat der Einzelne sich aus seiner Mediatisierung durch den Staat befreit und ist zu einem eigenständigen, wenngleich beschränkten Völkerrechtssubjekt geworden. 2 Die Frage nach der SubjektsteIlung des Einzelnen beschäftigt daher seit Jahren auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung im Bereich der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen. Während noch nahezu bis in die 90er Jahre sowohl im Schrifttum als auch in der nationalen Rechtsprechung die Auffassung vertreten wurde, dass der Verfolgte ein bloßes Objekt der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit in Strafsachen seV kann diese Auffassung heute nicht mehr vertreten werden. In der Tat dreht sich die wissenschaftliche Diskussion der letzten Jahre vielmehr darum, in welchem Umfang die nunmehr anerkannte SubjektsteIlung des Einzelnen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit der Staaten zur Strafverfolgung auf völkerrechtlicher und auf innerI Hierzu Ermacora, Menschenrechte, Bd. I, S. 532; Hobe, Verfassungsstaat, S. 216 ff.; ausführlich zur Geschichte der Grund- und Menschenrechte Hartung, Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte, 1964. 2 Vgl. nur Brownlie, Principles, Kap. 24; DahmlDelbrückIWolfrum, Völkerrecht, Bd. 111, S. 26, und 112, § 108 (in Vorbereitung); Epping, in: Ipsen, Völkerrecht, § 7 Rn. 5 ff.; Hobe, Verfassungsstaat, S. 219 ff., 222; Mosler, ZaöRV 22 (1962), 1 ff.; Shaw, International Law, S. 178; Verdross/Simma, Völkerrecht, § 423. J V gl. zu der ablehnenden Haltung der Rechtsprechung, dass die Verträge über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen subjektive Rechte des Einzelnen begründen BVerfG, Beschluss vom 25.3.1981, BVerfGE 57, 9 (25 f.); BGH, NStZ 1985,464; NJW 1988,2185 = NStZ 1988,277; OVG Münster, MDR 1979,609; siehe insbesondere noch OLG München, Urteil vom 4.9.1996, StV 1997,372; zu den (ehemaligen) Vertretern der zweidimensionalen Sichtweise im deutschsprachigen Schrifttum gehören Gillmeister, NJW 1991, 2245 ff.; Schröder, BayVBl. 1979, 231 ff.; Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 28; von Bubnoff, Auslieferung, Verfolgungsübernahme, Vollstreckungshilfe, 1988; hierzu im Einzelnen unten 3. Kapitel, S. 228 ff.
3 Ziegenhahn
34
Einleitung
staatlicher Ebene Grenzen auferlegt. 4 Wenngleich die Aufmerksamkeit des wissenschaftlichen Schrifttums sich hierbei zunächst auf die Rechtsstellung des Auszuliefernden richtete 5 und diese Fragestellung bei der sonstigen Rechtshilfe in Strafsachen vernachlässigt wurde, können grundsätzlich auch alle anderen Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen die Grund- und Menschenrechte der verfolgten Personen tangieren. 6 Einen in der Geschichte des Auslieferungs- und Rechtshilferechts unvergleichlichen Schub wissenschaftlichen Interesses an der Rechtsstellung des Einzelnen hat insbesondere das bahnbrechende und Aufsehen erregende Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg vom 7. Juli 1989 im Fall des deutschen Staatsangehörigen Jens Soering ausgelöst. 7 Während das auslieferungs- und rechtshilferechtliche Schrifttum bis dahin dominiert war von der Auffassung, dass die Interessen des Einzelnen nur mittelbar über die traditionellen Auslieferungs- und Rechtshilfebestimmungen geschützt werden könnten 8 und die wissenschaftliche Diskussion den Focus auf die Verbesserung der zwischenstaatlichen Zusarnrnenarbeit richtete, löste die Verkündung des Urteils eine Welle von Aufsätzen, Besprechungen und Kritiken aus,9 in deren Mittelpunkt erstmals und in 4 Siehe nur Blakesley/Lagodny, Vanderbilt Journal of Transnational Law 24 (1991), 1 ff.; Dinstein, Revue International de Droit Penal62 (1991), 31 ff.; Errera, in: Collected Courses ofthe Academy ofEuropean Law 1995, Bd. VI-2 (1997), 245 ff.; Gilbert, Aspects ofExtradition Law, 1991; Lagodny, NJW 1988,2146 ff.; ders./Reisner, Finll. Vb. Int'l Law 3 (1992), 237 ff.; Lagodny/Schomburg, European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice 2000, 379 ff.; Schomburg, StV 1998, 153 ff.; Sheleff, Israel Law Review 27 (1993), 31Off.;Swart, Neth. Vb. Int'lLaw23 (1992),175 ff.; Vogler, ZStW 105 (993), 3 ff.; Trechsel, EuGRZ 1987,69 ff.; Williams, Hague YbIL 1993,95 ff.; ders., Loyola of Los Angeles International & Comparative Law Journal 13 (1991),799 ff. 5 V gl. insbesondere Lagodny, Die Rechtsstellung des Auszuliefernden in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, dessen umfassende Prüfung sowohl der Menschenrechte als auch der Grundrechte als Grenzen der individualrechtliche Grenzen der Auslieferung zu einem Umdenken in Rechtsprechung und Schrifftum der Bundesrepublik Deutschland geführt hat. 6 Vgl. nur die umfangreichen Untersuchungen von Currie, Criminal Law Forum II (2000), 143 ff., im Hinblick auf den Schutz der Menschenrechte und von Scheller, Ermächtigungsgrundlagen für die internationale Rechts- und Amtshilfe zur Verbrechensbekämpfung, 1997, im Hinblick auf den Schutz der Grundrechte des Grundgesetzes; siehe hierzu auch Harings, Grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Polizei- und Zollverwaltungen und Rechtsschutz in Deutschland, 1998. 7 EGMR, Soering v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 7.7.1989, Series A, No. 161 = EuGRZ 1989, 314 = NJW 1990, 2183 mit Anmerkung Lagodny; ausführlich hierzu unten 4. Kapitel, S. 276 ff. R Hierzu nur Williams, Hague YbIL 1993,94 ff.; van den Wyngaert, Israel Yearbook on Human Rights 19 (1989),287 ff.; vgl. allerdings Lagodny, NJW 1988,2146 ff., und Trechsei, EuGRZ 1987, 69 ff., die sich bereits zu diesem Zeitpunkt ausführlich der Frage des Grundrechtsschutzes widmeten. Y Zu dieser Entscheidung insbesondere Blumenwitz, EuGRZ 1989, 326 ff.; Breitenmoserl Wi/ms, Mich. 1. Int'l L. II (1990), 845 ff.; Dugard/van den W:mgaert, AJIL 92 (998), 187 ff.; Labayle, JCP 1990. 3452 ff.; Lagodny, NJW 1990, 2189 ff.; Li//ich, AJIL 85
A. Gegenstand der Arbeit
35
aller Deutlichkeit die Frage nach den Menschenrechten der von Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen betroffenen Personen stand. Aus der Sicht des Individuums stellt sich die Frage, warum es rund 40 Jahre seit der am 10. Dezember 1948 feierlich durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossenen Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR)lO und der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) 11 gedauert hat und es erst eines Urteils des EGMR im Jahre 1989 bedurfte, um seine Menschenrechte in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit zu stellen. Entscheidender wird jedoch sein zu klären, welche Konsequenzen sowohl das wissenschaftliche Schrifttum als auch die internationale und die innerstaatliche Staatenpraxis aus diesem wegweisenden Urteil gezogen haben. Ein Hauptanliegen der vorliegenden Arbeit ist es daher, die Auswirkungen der Internationalisierung des Menschenrechtsschutzes auf die innerstaatlichen und zwischenstaatlichen Rechtsbeziehungen im Bereich der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen zu untersuchen, die Trends in Rechtsprechung und Schrifttum und die faktischen und rechtlichen Probleme in der Praxis herauszuarbeiten, kritisch zu bewerten und gegebenenfalls weiterführende Lösungsansätze vorzuschlagen. Die grund- und menschenrechtlichen Interessen des Einzelnen und die Frage, wie sich diese sowohl auf der innerstaatlichen als auch auf der internationalen Ebene am effektivsten anerkennen, realisieren und durchsetzen lassen, sollen dabei immer im Vordergrund stehen, denn die Achtung und der Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten stellt eine Grundvoraussetzung für das friedliche Zusammenleben der Völker und insbesondere auch eines der tragenden Verfassungsprinzipien aller europäischen Staaten und der Europäischen Union darY (1991), 128 ff.; Shea, Yale J. Int'l L. 17 (1992), 85 ff.; Sheleff, Israel Law Review 27 (1993),310 ff.; Sudre, RGDIP 1990, 103 ff.; van den Wyngaert, ICLQ 39 (1990), 757 ff.; val! der Wilt, NILR 1995,53 ff.; Vogler, in: FS Meyer (1990), 477 ff.; ders., NJW 1994, 1433 ff.; Warbrick, Mich. J.Int'l L. 11 (1990), 1073 ff.; ZühlkelPastille, ZaöRV 59 (1999), 749 ff. mit weiteren Nachweisen in Fn. 16. 10 Universial Dec1aration of Human Rights vom 10.12.1948, GA-Res. 217 (IlI), UNDoc. A/81O, in: Official Records third Session (1948), S. 71; hierzu ausführlich unten 3. Kapitel, S. 261 ff., 350 ff. 11 ETS No. 5, Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms vom 4.11.1950, BGBI. 1952 H, 685, 953, am 3.9.1953 für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten, BGBI. 1954 H, 14; hierzu ausführlich unten 3. Kapitel, S. 256 ff. 12 Vgl. nur Art. 6 I, II EUV: "Die Europäische Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam. Die Europäische Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten [EMRK] gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben." 3·
36
Einleitung
Dabei soll allerdings auch nicht der Blick vor der zunehmenden "Transnationalisierung der Verbrechensbegehung" und den daraus resultierenden Problemen verschlossen werden. Als Folge der Globalisierung und der, auch mit dem Wegfall des Eisernen Vorhangs zusammenhängenden, politischen und wirtschaftlichen Öffnung Europas waren die letzten beiden Dekaden geprägt von einem zunehmend weltumspannenden Handeln, dem verstärkten Auftreten nichtstaatlicher Akteure im wirtschafts- und gesellschafts politischen Bereich, der Beschleunigung und Verbilligung des weltweiten Informationsflusses, der Verstärkung der gegenseitigen Abhängigkeit von Gesellschaften und einer nahezu unbegrenzten Mobilität der Bevölkerung. 13 Mit der daraus resultierenden Verflechtung der Weltgemeinschaft, mit der Zunahme internationaler Währungsverflechtungen und Finanztransfers und insbesondere mit der voranschreitenden Integration der europäischen Staaten zu einem einheitlichen Wirtschafts- und Rechtsraum und der mit der Öffnung der Grenzen einhergehenden erheblichen Freizügigkeit des Personenverkehrs ist es auch zu einer stetigen Zunahme vielfältiger Erscheinungsformen grenzüberschreitender und organisierter Kriminalität gekommen. 14 Die terroristischen Attentate vom 11. September 2001 haben schließlich erneut und in tragischster Weise gezeigt, welche unfassbaren Ausmaße die grenzüberschreitende schwere Kriminalität annehmen kann und welch enormes Bedürfnis an weltumspannender Zusammenarbeit im Kampf gegen den internationalen Terrorismus und die internationale Kriminalität besteht. Dieser Transnationalisierung der Straftatenbegehungstehen indes nach wie vor Strafverfolgungssysteme gegenüber, die noch in hohem Maße auf die Grenzen des Nationalstaates begrenzt sind. Insbesondere die justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen ist weit hinter den geschilderten Entwicklungen zurückgeblieben und entspricht immer weniger den Bedürfnissen einer effektiven internationalen Verbrechensbekämpfung. 15 Während Kriminelle alle Vorteile einer auf den Grundprinzipien des freien Handels und des freien Personen-, Waren-, Dienstleistungsund Kapitalverkehrs beruhenden Gesellschaft nutzen können, enden die Möglichkeiten nationaler Strafverfolgungsbehörden zumeist an den Grenzen ihres NalJ Ygl. zu den Auswirkungen der Globalisierung auf die internationale Staatengemeinschaft Delbrück, IJGLS I (1993),9 ff.; ders., IJGLS 4 (997), 277 ff.; Hobe, AYR 37 (1999),253 ff.; Slaughter, Foreign Affairs 76 (\997),183 ff.; Strange, The Retreat ofthe State. 1996; Teubner, Global Law Without aState. 1997; speziell zur europäischen Staatengemeinschaft siehe nur Grom, Regional grenzüberschreitende Zusammenarbeit als Beitrag zur Förderung der europäischen Integration. 1995.' 14 Ygl. nur Guyomarch. in: Stavridis/Mossialos/MorganlMachin. New Challenges, S. 123 (138); Hertweck, Kriminalistik 1995. 721; Sieber. JZ 1997, 369 (370); Sielaff, in: Mayerhofer/Jehle. Organisierte Kriminalität. S. 149 f.; kritisch zu dem Zusammenhang zwischen dem Phänomen der grenzüberschreitenden Kriminalität und offenen Binnengrenzen in Europa Anderson/den Boer, Policing across National Boundries. S. 19; Busch, Grenzenlose Polizei. S. 37 ff. 15 Pitschas. in: ders./Stober. Sicherheitsgewerberecht. S. I (6); Schomburg, StY 1998. 153 (158); ders .. NJW 1995. 1931 (\935 f.).
A. Gegenstand der Arbeit
37
tionalstaates. Eine Strafverfolgung der immer beweglicher werdenden Täter stößt aufgrund des begrenzten Anwendungsbereiches des nationalen Rechts, unterschiedlicher materiell-rechtlicher Konzepte, divergierender Verfahrensrechte und konkurrierender Zuständigkeiten in der Praxis auf erhebliche Schwierigkeiten. 16 Die bestehenden Instrumente, Methoden, Institutionen und Organisationen werden nicht als ausreichend erachtet, um den Strafverfolgungsbehörden der betroffenen Staaten eine erfolgreiche (gemeinsame) Verbrechensbekämpfung zu ermöglichen und den neuen Formen der Kriminalität wirksam begegnen zu können. 17 In Reaktion auf diese Defizite ist es gerade im letzten Jahrzehnt weltweit und vor allem im Rahmen der zunehmenden Integration der europäischen Staatengemeinschaft in der Europäischen Union und dem Europarat zu einer fortschreitenden Europäisierung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen gekommen. 18 Von zentraler Bedeutung war dabei die Erkenntnis, dass gerade im Bereich der Zusammenarbeit der Polizei- und Justizbehörden engste Kooperation vonnöten ist, da der die innere Sicherheit bedrohende (internationale) Terrorismus, die schwere und organisierte Kriminalität sowie die Einwanderungs- und Asylpolitik sich in allen europäischen Staaten zu nicht mehr nur auf nationaler Ebene zu lösenden Problemen entwickelt haben. 19 Die Einsicht, dass den neuen globalen Herausforderungen der internationalen Kriminalität nicht länger durch nationale Alleingänge, sondern nur durch das Zusammenwirken der Staatengemeinschaft und durch eine international koordinierte Kriminalpolitik begegnet werden kann, hat sich inzwischen durchgesetzt. 2o Insbesondere in Europa hat sie maßgeblich zu vielfältigen Veränderungen und Reformen der Strafverfolgungsmethoden geführt, die sich insbesondere in der Errichtung einer Europäischen Polizeibehörde (Europol), eines Europäischen Amtes zur Betrugsbekämpfung (OLAF), eines Europäischen Justitiellen Netzes (EJN) und einer supranationalen ClearingsteIle (EUROJUST) sowie zahlreichen Übereinkommen und Rechtsakten zur justitiellen und polizeilichen 16 V gl. HerMeck, Kriminalistik 1995, 721 t'f.; Pieth, ZStW 109 (1997), 756 (757); Sieber, JZ 1997, 369 (370). 17 Intergovernmental Expert Group Meeting on Mutual Assistance in Criminal Matters, Treffen vom 23.-26.2.1998 in ArlingtonlVirginia, vgl. UN-Doc. ElCN.15/199817 vom 23.3.1998, S. 10 f.; vgl. auch den Appell von sieben europäischen Richtern vom 1.10.1996, den so genannten "L'appel de Geneve", ; siehe ferner Pitschas, in: ders./Stober, Sicherheitsgewerberecht, S. 1 (6). 18 Hierzu Adam, Rivista di diritto europeo 34 (1994), 225 (227 f.); Akmann, JA 1994,49 (50); Nanz, integration 1992, 126 (127); Scheller, Ermächtigungsgrundlagen, S. I ff. 19 Vgl. nur Adam, Rivista di diritto europeo 34 (1994), 225 (228); BKA, Lagebild Organisierte Kriminalität, 1996; Busch, Grenzenlose Polizei, S. 21; Maaßen, ZFIS 1997, 134 ff.; Miiller-Graf!, in: ders., Europäische Zusammenarbeit, S. II (21); Pitschas, in: ders./Stober, Sicherheitsgewerberecht, S. 1 (6 f.); Sielaf!, in: Mayerhofer/Jehle, Organisierte Kriminalität, S. 149 f.; Zachert, APuZ 1995, 11 ff. lO Siehe Sieber, JZ 1997,369 (380); Vogler, Jura 1992,586 (588); Weigend, ZStW 105 (1993), 774 (775).
38
Einleitung
Zusammenarbeit verdeutlichen. 21 Begleitet werden diese Bemühungen der europäischen Staaten von den zahlreichen Initiativen auf globaler Ebene, die ebenfalls zur Erarbeitung zahlreicher neuer völkerrechtlicher Übereinkommen im Rahmen der Vereinten Nationen, zur Schaffung weltweiter Netze des Informationsaustauschs sowie zur Ausweitung der formellen und informellen Zusammenarbeit im Kampf gegen alle Formen der transnationalen Kriminalität beigetragen haben. 22 Gerade diese "Transnationalisierung der Strafverfolgung" und die damit einhergehenden und kaum noch zu überschauenden Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen sollen im Rahmen dieser Arbeit umfassend nachgezeichnet und auf mögliche Konflikte mit den Grund- und Menschenrechten des von den neuartigen Kooperationsformen betroffenen Individuums untersucht werden. Denn bei einer von Sicherheitsdenken und polizeilicher Effektivität geprägten Strafverfolgungspolitik sind an eine Europäisierung der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen strenge Kriterien zu richten. 23 Sie hat den aus den Traditionen und Rechtsordnungen der europäischen Staaten zu entnehmenden gemeinsamen Werten und Grundprinzipien, wie der Rechtsstaatlichkeit, dem Legalitätsprinzip und den Rechten der Verteidigung, zu entsprechen und muss folglich in einem ausgewogenen Verhältnis zu den individualrechtlichen Positionen der betroffenen Personen stehen. 24 Die Internationalisierung der Zusammenarbeit in Strafsachen muss in einem europäischen Rechtspflegeraum stattfinden, in dem das Individuum durch die grenzüberschreitende Strafverfolgung weder besser noch schlechter gestellt wird als in einem rein nationalen Verfahren. 25 Die Maßnahmen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen stehen, insbesondere im grundrechtsrelevanten Bereich der Strafverfolgung, nicht nur unter dem Vorbehalt der Beachtung der verfassungsmäßigen Grundsätze der innerstaatlichen Rechtsordnungen der Staaten, sondern insbesondere auch im Wirkungskreis der sich ständig weiter entwickelnden internationalen Grund- und Menschenrechtstandards. Hauptanliegen der vorliegenden Arbeit ist es daher, den Zusammenhang zwischen grenzüberschreitender Strafverfolgung und den Grund- und Menschenrechten des Einzelnen herauszuarbeiten, die allgemein anerkannten Standards der Hierzu ausführlich unten 1. Kapitel, S. 66 ff., 2. Kapitel, S. 130 ff. Hierzu ausführlich unten 1. Kapitel, S. 49 ff., 2. Kapitel, S. 119 ff. 23 Vgl. Netles, ZStW 109 (1997), 727 (746 ff.); siehe auch Vermeulen, Pre-judicial (Preventive) Structuring of International Police Action in Europe, in: College ofPolice and Security Studies, Policing in Central and Eastern Europe, Siovenia 1996, ; ders., MI 4 (1997),346 ff. 24 Jung, StV 1990,509 (512); Netles, ZStW 109 (1997), 727 (752); Potocki, in: DelmasMarty, Criminal Policy, S. 185 (186). 2S Vgl. ColviniNorrlander, in: Council of Europe Dok. Cl-PD (98) Inf 19, S. 7 ff.; Schomburg, StV 1998, 153 (155); ders./Lagodny, Internationale Rechtshilfe, Einleitung, S.21. 2\
22
B. Problemschwerpunkt der Arbeit
39
Individualrechte zu ermitteln und im Hinblick auf die wachsende Bedeutung der Menschenrechte im Rahmen der festzustellenden Konstitutionalisierung des Völkerrechts und der einzigartigen Integration der europäischen Staaten zu einem "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" neu zu bewerten. Denn wenngleich die Bedeutung einer effektiven Strafverfolgung und Kriminalitätsbekämpfung nicht unterminiert, sondern vielmehr anerkannt werden soll, dass sie ebenso eine Grundvoraussetzung für das friedliche Zusammenleben in einer Gemeinschaft und ein wesentliches Ziel der Mitgliedstaaten der Europäischen Union darstellt,26 so ist dennoch zu fordern, dass die "Transnationalisierung der Verbrechensbekämpfung" auch von einer entsprechenden "Transnationalisierung des Individualrechtsschutzes" begleitet wird. Ob und in welchem Umfang dies in der Praxis gewährleistet wird, sollen die in dieser Arbeit vorgenommenen umfangreichen Untersuchungen erweisen.
B. Problemschwerpunkt der Arbeit Während sich also speziell in Europa zahlreiche neue Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen herausgebildet haben und insbesondere mit der institutionalisierten Bekämpfung von Betrug und anderen Delikten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Union auch supranationale Kooperationszusammenhänge geschaffen wurden, stellt die internationale Rechtshilfe in Strafsachen nach wie vor das klassische Instrument der Staaten für die grenzüberschreitende Strafverfolgung dar. Sie soll daher auch schwerpunktmäßig für die in dieser Arbeit vorzunehmenden Untersuchung des "Schutzes der Menschenrechte bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen" herangezogen werden. 27 Entsprechend dem so genannten "Drei-Pfeiler-Modell" umfasst die internationale Rechtshilfe in Strafsachen die Instrumente der Auslieferung, der sonstigen Rechtshilfe und der Vollstreckungsüberuagung. Alle drei Instrumente beruhen auf
26 Vgl. nur Art. 29 EUV: "Unbeschadet der Befugnisse der Europäischen Gemeinschaften verfolgt die Union das Ziel, den Bürgern in einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ein hohes Maß an Sicherheit zu bieten, indem sie ein gemeinsames Vorgehen der Mitgliedstaaten im Bereich der polizeilichen und justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen entwickelt. Dieses Ziel wird erreicht durch die Verhütung und Bekämpfung der - organisierten und nichtorganisierten - Kriminalität, im Wege einer engeren Zusammenarbeit der Polizei-, Zoll- und anderer zuständiger Behörden in den Mitgliedstaaten und der lustizbehörden sowie anderer zuständiger Behörden der Mitgliedstaaten"; zu dem Verhältnis der Begriffe "Freiheit", "Sicherheit" und "Recht" siehe auch die Mitteilung der Kommission vom 14.7.1998, Auf dem Weg zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, KOM (1998) 459 endg. 27 Hierzu unten Teil 2, S. 272 ff.
40
Einleitung
dem "Prinzip der gegenseitigen Arbeitsteilung"28 und werden im Rahmen der klassischen zwischenstaatlichen Staatenkooperation durchgeführt. Gerade aufgrund der "Zwischenstaatlichkeit" dieser Zusanunenarbeit wurde in der Vergangenheit stets die Auffassung vertreten, dass die Interessen des Einzelnen nicht oder nur insoweit Bestandteil dieser zwischenstaatlichen Beziehungen sein könnten, soweit sich die Staaten hierauf ausdrücklich einigten. Priorität dieser Zusanunenarbeit war jedoch die möglichst effektive grenzüberschreitende Strafverfolgung unter unbedingter Achtung der territorialen Souveränität des anderen Staates. 29 In der internationalen Rechtshilfe sahen die Staaten ein Mittel der grenzüberschreitenden Zusanunenarbeit, bei welcher sich naturgemäß nationale Kompetenzbereiche überschneiden und welche gerade auch deshalb eine weitreichende und (nahezu) uneingeschränkte Anerkennung der individuellen Strafverfolgungsinteressen des anderen Staates, dessen fremder Rechtsordnung und der innerhalb dieser vorgenonunenen Hoheitsakte nötig machen würde. Aus Respekt vor der allumfassenden Souveränität des anderen Staates und vor dessen Rechtsordnung könnten daher weder Wertmaßstäbe noch normative Verpflichtungen der eigenen Rechtsordnung auf diese zwischenstaatlichen Rechtsbeziehungen übertragen werden. Erstmals abgewichen wurde von diesem Grundsatz in der Mitte des letzten Jahrhunderts mit der Anerkennung der Auslieferungsausnahme bei politisch motivierter Strafverfolgung des anderen Staates, die nach und nach in den meisten Auslieferungsinstrumenten eine ausdrückliche Regelung fand. Allerdings wurde der individualschützende Charakter dieser (und anderer) traditioneller Auslieferungshindernisse weitgehend bestritten. Sie dienten ebenso primär allein dem Ausgleich widerstreitender (zwischen-)staatlicher Interessen, wenngleich hiervon grundsätzlich auch der Einzelne mittelbar Vorteile ziehen konnte. Mit der zunehmenden Internationalisierung des Menschenrechtsschutzes gelangte schrittweise die Erkenntnis in das Bewusstsein der kooperierenden Staaten, dass die Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen massiv die Interessen und insbesondere auch die Rechte des Einzelnen tangieren können. Schon vor Anerkennung des unmittelbaren Einflusses der Menschenrechte der Völkerrechtsordnung auf die zwischenstaatliche Zusanunenarbeit stand fest, dass jedenfalls die aus den innerstaatlichen Rechtsordnungen fließenden Verpflichtungen des Staates gegenüber den unter seiner Jurisdiktionsgewalt stehenden Individuen berührt wer28 BVerfG, Beschluss vom 6.7.1982, BVerfGE 61,28 (34); Beschluss vom 27.7.1999, NJW 2000, 1252 StV 2000, 87; Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, Einleitung, S. 20 Rn. 105; Schomburg, StV 1998, 153. 29 Eine umfassend diskutierte Ausnahme von diesem Grundsatz stellen die Fälle der völkerrechtswidrigen Entführung dar, siehe hierzu nur Baker/Röben, ZaöRV 53 (1993), 657 ff.; Bauer, Die völkerrechtswidrige Entführung, 1968; Dehn, Verfahrenshindernis bei völkerrechtswidriger Entführung durch deutsche Strafverfolgungsorgane, 1993; Herdegen, EuGRZ 1986, 1 ff.; Schünemann, in: 140 Jahre Goltdammer's Archiv für Strafrecht (1993), 215 ff.
=
B. Problernschwerpunkt der Arbeit
41
den. So sehen sich gerade die Strafverfolgungsbehörden eines Staates mit dem Problem konfrontiert, dass die ihnen obliegenden innerstaatlichen Verpflichtungen gegenüber dem Einzelnen mit den staatlichen Interessen und Verpflichtungen zur Vornahme bestimmter Strafverfolgungs- oder Rechtshilfemaßnahmen gegenüber anderen Staaten in Widerspruch geraten können. Gerade unterschiedliche Grundund Menschenrechtsstandards der kooperierenden Staaten führen dazu, dass ein um Auslieferung oder Rechtshilfe ersuchter Staat sich entscheiden muss zwischen der Achtung der eigenen Grund- und Menschenrechtsstandards und der Achtung einer regelmäßig bestehenden völkervertraglichen Verpflichtung zur zwischenstaatlichen Zusammenarbeit. Aufgrund einer inzwischen unübersehbar gewordenen Vielzahl völkerrechtlicher Regelungen und Übereinkommen im Bereich der grenzüberschreitenden Strafverfolgung gelangen Staaten daher regelmäßig in diese Konfliktsituation. In diesen zwischenstaatlichen Übereinkommen verpflichten sich die Staaten völkerrechtlich zur Vornahme bestimmter Kooperationshandlungen wie der Auslieferung und der sonstigen Rechtshilfe in Strafsachen. Diese Ebene der Verpflichtungen eines Staates gegenüber einem anderen Staat wird auch als das "völkerrechtliche Müssen" umschrieben. 30 Zugleich ist dieser Staat aus den Menschenrechten der Völkerrechtsordnung gegenüber dem Individuum völkerrechtlich verpflichtet. Diese individualrechtlichen Verpflichtungen können grundsätzlich im Widerspruch zu anderen völkerrechtlichen Bindungen des Staates stehen und werden als das "völkerrechtliche Dürfen" im Hinblick auf die sonstigen völkerrechtlichen Bindungen des Staates umschrieben. 3l Schließlich ergeben sich neben diesen aus dem Völkerrecht stammenden Verpflichtungen gegenüber dem Einzelnen auch entsprechende Verpflichtungen aus der innerstaatlichen Rechts- und Verfassungsordnung des Staates, insbesondere aus den Grundrechten. Diese Ebene wird daher als das "innerstaatliche Dürfen" umschrieben und umfasst die Frage, "ob und inwieweit es für die Leistung von Rechtshilfe einer Ermächtigungsgrundlage bedarf und welche (grund-)rechtlichen Interessen diese zu berücksichtigen hat". 32 Aus diesen Verpflichtungsebenen des Staates, welche sich bei näherem Hinsehen als noch komplexer darstellen, weil die völkerrechtlichen Verpflichtungen eines Staates zugleich auch regelmäßig auf der Ebene der innerstaatlichen Rechtsordnung binden, ergeben sich regelmäßig Pflichtenkollisionen. Diese Pflichtenkollision zwischen den legitimen Interessen des Staates an effektiver Strafverfolgung und dem Anspruch des Einzelnen auf Schutz vor willkürlichen Eingriffen in seine Individualrechte stellt ein klassisches Problem (auch) der innerstaatlichen StrafVgl. Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, Einleitung, Rn. 85. V gl. Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, Einleitung, Rn. 86. 32 Vgl. Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, Einleitung, Rn. 87; ausführlich zu der Grundrechtsrelevanz der innerstaatlichen Errnächtigungsgrundlagen zur internationalen Rechtshilfe in Strafsachen in der Bundesrepublik Deutschland Scheller, Errnächtigungsgrundlagen. S. 129 ff. 30 31
42
Einleitung
verfolgung und Kriminalitätsbekämpfung dar. Den angemessenen Ausgleich zwischen den staatlichen Interessen und den Individualrechten schaffen hier die verfassungsrechtliche Gewährleistung rechtsstaatlichen Handeins der hoheitlichen Organe und die Grundrechte des Einzelnen mit ihren umfassenden Auswirkungen und Vorgaben für die Ermächtigungsgrundlagen des innerstaatlichen Rechts. Diesen Interessenausgleich zur Auflösung der Pflichtenkollisionen auch im Bereich der grenzüberschreitenden Strafverfolgung zu finden, stellt eines der Hauptproblerne der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit in Strafsachen dar. Gerade hier wirkt sich die bereits angesprochene Frage der Bedeutung von Grund- und Menschenrechten im Bereich des internationalen Rechtshilfeverkehrs aus. Noch heute lässt sich weitgehend Übereinstimmung in Rechtsprechung und Schrifttum darüber finden, dass jedenfalls die innerstaatlichen Grundrechte sich nicht als völkerrechtlich legitime Grenzen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit auf der Basis völkerrechtlicher Übereinkommen eignen. 33 Dem stünde zum einen bereits innerstaatlich der Respekt vor der fremden Rechtsordnung, das verfassungsrechtliche Gebot zur zwischenstaatlichen Zusammenarbeit und die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes 34 und zum anderen völkerrechtlich der Grundsatz pacta sunt servanda 35 sowie das Verbot für Vertragsparteien, "sich auf ihr innerstaatliches Recht zu berufen, um die Nichterfüllung eines Vertrages zu rechtfertigen",36 gegenüber. Aus eben diesen Gründen sei die Berufung auf die innerstaatlichen Grundrechte, welche einem "Werteimperialismus" und einem "Export der Grundrechte" gleichzusetzen sei, unzulässig. 37 Hingegen ist inzwischen uneingeschränkt anerkannt, dass jedenfalls die fundamentalen Menschen33 So Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 202 ff.; ders., in: Vogler/Wilkitzki, IRG, § 8 Rn. 7 ff.; 73 Rn. 6 ff.; ders., GA 1996,569 ff.; ders., NJW 1994,1433 (1435); von Bubnoff, Auslieferung, S. 57; a. A. Gusy, GA 1983,73 ff.; Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 129 ff., 161 ff.; ders., NJW 1988, 2146 ff.; ders., in: Schomburgl Lagodny, Internationale Rechtshilfe, IRG, § 73 Rn. 1 ff.; SchöbenerlBausback, DÖV 1996, 621 (626 f.); Schüssler, NJW 1965, 1896 ff.; differenzierend GraßllOflBackhaus, EuGRZ 1996,445 (448); Häde, Der Staat 36 (1997), 1 (20); Hofmann, Grenzüberschreitende Sachverhalte, S. 264 f.; grundsätzlich und umfassend zu diesem hoch umstrittenen Themenkomplex BVerfG, Beschluss vom 4.5.1971, BVerfGE 31,58; Elbing, Zur Anwendbarkeit der Grundrechte bei Sachverhalten mit Auslandsbezug, 1992; Hofmann, Grundrechte und grenzüberschreitende Sachverhalte, 1994. 34 Vgl. nur BVerfGE 31, 58 (76), 75, 1 (17); BVerwGE 67, 184 (194), 78, 285 (293). 35 Vgl. nur Art. 26 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23.5.1969 (WVK), UNTS, Vol. 1155,331, BGBI. 198511,927. 36 Vgl. Art. 27 WVK. 37 Das Argument des ,,Exportverbots deutscher Grundrechte" und somit der Ansatz des Bundesverfassungsgerichts wird unterstützt von Elbing, Grundrechte, S. 128 ff., 287 ff.; Häde, Der Staat 36 (1997), 1 (22); Hofmann, Grenzüberschreitende Sachverhalte, S. 271 ff.; Isensee, VVDStL 32 (1974), 49 (63); Kokott, in: BDGVR 38 (1998), 71 (97); TO/llusclzat, in: HbdStR VII (1992), § 172 Rn. 57; von Bubnoff, Auslieferung, S. 56 ff. jeweils mit zahlreichen weiteren Nachweisen; a. A. Lagodny, RechtsteIlung des Auszuliefernden, S. 214 ff.; ders .• in: SchomburglLagodny, Internationale Rechtshilfe, IRG, § 73 Rn. 14 ff.
B. Problemschwerpunkt der Arbeit
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rechte der Völkerrechtsordnung als Schranken der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen herangezogen werden können. 38 Unklar und äußerst umstritten sind indes die Fragen, welche Menschenrechte zu diesen "völkerrechtlich anerkannten Mindeststandards" zu zählen sind und in welchem Verhältnis diese menschenrechtlichen Garantien zu den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Staaten zur Zusammenarbeit stehen. Insbesondere wenn die Menschenrechte im konkreten Fall nicht den zwingenden Charakter des ius cogens haben und ebenfalls "nur" vertragliche Verpflichtungen der Staaten darstellen, kann der Stand der wissenschaftlichen Diskussion folgendermaßen beschrieben werden: "Das Prinzip der Gleichrangigkeit völkerrechtlicher Verträge ergibt, [... ] dass keine rechtlichen Lösungsmöglichkeiten bestehen, wenn Pflichten aus Verträgen mit unterschiedlichen Vertragspartnern deshalb kollidieren, weil die jeweiligen Parteien das Verhältnis zum anderen Vertrag nicht geregelt haben".39 Dies führt im Ergebnis dazu, dass in der Praxis den Menschenrechten der Völkerrechtsordnung nur insoweit im Bereich der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen Rechnung getragen wird, als sie dem völkerrechtlichen Mindeststandard angehören und insbesondere den zwingenden Charakter des völkerrechtlichen ius cogens aufweisen. Die umfassende Untersuchung der Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts und des Völkervertragsrechts in dieser Arbeit wird indes zu dem Ergebnis führen, dass das moderne Völkerrecht sich in einem Prozess der Konstitutionalisierung befindet, innerhalb welchem sich eine immer näher konkretisierbare internationale öffentliche Ordnung, eine internationaler ordre public herausbildet, dessen Inhalt von Normen und Werten bestimmt wird, die von so fundamentaler Bedeutung für die internationale Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit sind, dass sie nicht nur objektiv-rechtliche Geltungswirkungen, sondern auch eine erhöhte Bindungswirkung entfalten. Die Menschenrechte sowohl des Völkergewohnheitsrechts aber auch des universellen Völkervertragsrechts sind allesamt aufgrund ihrer elementaren Bedeutung für das friedliche Bestehen der internationalen Staatengemeinschaft dieser internationalen öffentlichen Ordnung zuzurechnen, in deren Rahmen sie bereits derzeit und vor allem in Zukunft die zwischenstaatlichen Beziehungen der Staaten maßgeblich bestimmen. Darüber hinaus wird die umfassende Untersuchung der EMRK und ihrer Anerkennung im innerstaatlichen Recht und auf völkerrechtlicher Ebene zu der Erkenntnis führen, dass sie für die an sie gebundenen Staaten noch weitergehende menschenrechtliche Bindungen aufstellt, als dies nicht schon über den internationale ordre public geschieht. Es wird aufzuzeigen sein, dass die EMRK in den vergangenen Jahrzehnten seit ihrer Entstehung sich zum maßgeblichen Instrument der europäischen Integration entwickelt hat, so dass sie inzwischen einen unverzichtbaren Bestand38
39
Siehe die zahlreichen Nachweise unten 4. Kapitel, S. 273 ff. Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 107.
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Einleitung
teil einer sich herausbildenden "europäischen Verfassungsordnung" darstellt und in ihrer Funktion im Rahmen eines "europäischen ordre public" die zwischenstaatlichen und die innerstaatlichen Beziehungen umfassend unter den Vorbehalt der Achtung der in ihr niedergelegten und sich ständig fortentwickelnden Menschenrechte stellt. Beide in dieser Arbeit umfassend herauszuarbeitenden Tendenzen des Völkerrechts haben im Ergebnis massive Auswirkungen auf die zwischenstaatlichen Beziehungen im Allgemeinen und auf die grenzüberschreitenden Zusammenarbeit der Staaten im Speziellen. Diese mit der Konstitutionalisierung des Völkerrechts und der Entstehung einer europäischen Verfassungs gemeinschaft auf der Grundlage von Rechtstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte zu umschreibenden Tendenzen und deren Auswirkungen auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen herauszuarbeiten, ist das spezifische Anliegen und Problemschwerpunkt dieser Arbeit.
C. Gang der Untersuchung Die vorliegende Untersuchung gliedert sich in zwei Teile mit insgesamt sechs Kapiteln, wobei Teil J umfassend den Rechtsgrundlagen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen und Teil 2 den Menschenrechten als Schranken der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen gewidmet ist. Das J. Kapitel beinhaltet die institutionelle Einbeuung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen und dient in erster Linie dazu, einen Überblick über die vielfältigen und kaum noch überschaubaren Kooperationsmechanismen weltweit und vor allem in Europa zu schaffen. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Entwicklungen innerhalb der Europäischen Union, in welcher die Mitgliedstaaten sowohl auf intergouvernementaler als auch auf supranationaler Ebene eine völlig neuartige und sehr weitreichende Form der grenzüberschreitenden Strafverfolgung etabliert haben. Bereits im Rahmen dieses Kapitels soll der Blick auf das Verhältnis der jeweiligen Institutionen der Zusammenarbeit zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gerichtet werden, um später die Frage vertiefen zu können, ob und in welchem Umfang die zwischenstaatlichen und die supranationalen Organe selbst an die Menschenrechte der Völkerrechtsordnung gebunden sind. Im 2. Kapitel sollen dann die der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit der Staaten und der zwischenstaatlichen Institutionen zugrunde liegenden Rechtsgrundlagen auf ihre inhaltliche Ausgestaltung hin untersucht werden. Dabei steht zunächst eine Bestandsaufnahme der existierenden Regelungen und die Systematisierung der konkreten Kooperationsformen im Vordergrund, um sodann zu ennittein, wie diese Formen der zwischenstaatlichen und supranationalen Zusammenarbeit rechtlich zu qualifizieren sind. In einem weiteren Abschnitt sollen dann die
C. Gang der Untersuchung
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in den völkerrechtlichen und innerstaatlichen Rechtsgrundlagen möglicherweise enthaltenen Bestimmungen und Regelungen zum Schutz der Individualrechte des Einzelnen herausgearbeitet werden. Im 3. Kapitel soll dann anknüpfend an die Ergebnisse der ersten beiden Kapitel speziell am Beispiel der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen untersucht werden, ob und inwieweit die herausgearbeiteten Formen der Zusammenarbeit überhaupt subjektive Rechte der von grenzüberschreitenden Strafverfolgungsmaßnahmen betroffenen Individuen tangieren können. Hier wird vor allem zu ermitteln sein, auf welche subjektiven Rechte sich der Einzelne grundsätzlich berufen kann, um sich gegen Maßnahmen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen zur Wehr zu setzen. Da der Schutz der materiellen Rechtspositionen der von grenzüberschreitenden Strafverfolgungsmaßnahmen betroffenen Individuen maßgeblich von der Möglichkeit ihrer prozessualen Geltendmachung abhängt, soll schließlich auch ein kurzer Überblick über die Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen im Bereich der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen gegeben werden. Das anschließende 4. Kapitel widmet sich sodann ausführlich der Analyse der Praxis internationaler und nationaler Rechtsprechungsinstanzen sowie des deutschen und des ausländischen Schrifttums, um herauszufinden, welche Auffassungen hinsichtlich der prinzipiellen Anwendbarkeit der Menschenrechte auf die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vertreten werden. Ziel dieser Untersuchung ist, herauszuarbeiten, welche Menschenrechte der Völkerrechtsordnung nach der Praxis und dem Schrifttum anzuwenden sind und welche Kriterien und Argumente herangezogen werden, um die bereits angesprochenen Pflichtenkollisionen bei bestehenden zwischenstaatlichen Auslieferungs- und Rechtshilfeverträgen aufzulösen. In dem 5. Kapitel soll dann rechtsquellenspezifisch untersucht werden, in welchem Umfang völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte der internationalen Rechthilfe in Strafsachen völkerrechtliche Grenzen auferlegen. Hierbei müssen zunächst die methodischen Prämissen der Ermittlung von Völkergewohnheitsrecht erarbeitet werden, um sodann die für die internationale Rechtshilfe in Strafsachen einschlägigen völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte ermitteln zu können. Danach sollen die Probleme der Anwendbarkeit der völkergewohnheitsrechtIichen Menschenrechte näher beleuchtet werden, speziell welche Eingriffsvoraussetzungen für die Annahme eines Verstoßes gegen Völkergewohnheitsrecht erfüllt sein müssen und welche Möglichkeiten der Einschränkbarkeit völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte existieren. Insbesondere in den letzten beiden Abschnitten soll das Augenmerk auf das Verhältnis von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht im Allgemeinen und dem potentiellen Normenkontlikt zwischen völkervertraglichen Verpflichtungen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen und völkergewohnheitsrechtlichen Verpflichtungen zum Schutz der Menschenrechte im Speziellen gerichtet werden.
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Einleitung
Im 6. und letzten Kapitel sollen hingegen die Menschenrechte des Völkervertragsrechts auf ihre konkrete Reichweite bei der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen untersucht werden, wobei der Schwerpunkt hierbei auf die Menschenrechte der EMRK gelegt werden wird. Nach einem kurzen Überblick über die Systematik des vertraglichen Menschenrechtsschutzes werden die Schutzbereiche der einschlägigen Menschenrechte der EMRK im Hinblick auf Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen untersucht. Sodann stellen sich analog zu den Prüfungspunkten im Rahmen des Völkergewohnheitsrechts die Fragen der Eingriffsqualität hoheitlichen Handeins und der rechtsquellenspezifischen Einschränkbarkeit der jeweiligen Menschenrechte, denn nicht jeder Eingriff in vertragliche Menschenrechte ist gleichzusetzen mit deren Verletzung. Neben den konventions immanenten Schranken der Anwendbarkeit vertraglicher Menschenrechte stellt sich auch in diesem Kapitel die entscheidende Frage nach der Auflösung von normativen Pflichtenkollisionen zwischen den (vertraglichen) Menschenrechtsverpflichtungen und den Auslieferungs- und Rechtshilfeverpflichtungen. In einem die Ergebnisse dieser Untersuchungen zusammenfassenden letzten Abschnitt sollen schließlich rechtspolitische Vorschläge unterbreitet werden, wie den angesprochenen Normenkonflikten bereits im Vorfeld aus dem Wege gegangen werden kann.
Teil 1
Rechtsgrundlagen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen Der erste Teil dieser Arbeit widmet sich der umfassenden Untersuchung der nahezu unüberschaubaren Vielfalt an völkerrechtlichen und innerstaatlichen Regelungen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen. Ziel ist dabei, einerseits einen Überblick über die diversen Entwicklungen zu geben, die die zwischenstaatliche Zusammenarbeit der Staaten in den letzten Jahrzehnten bestimmt haben und die Tendenzen aufzuzeigen, welchen Weg die Weiterentwicklung der Mechanismen grenzüberschreitender Strafverfolgung nehmen könnte. Andererseits sollen in diesem ersten Teil bereits die engen Zusammenhänge zwischen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit bei der Strafverfolgung und den Rechten der davon betroffenen Personen herausgearbeitet werden. Die Suche nach einem angemessenen Ausgleich zwischen Strafverfolgungsinteressen und effekti ver Zusammenarbeit und dem Individualrechtsschutz stellt dabei ein Grundanliegen der Untersuchung dar. Aufgrund der kaum noch zu überschauenden Entwicklung im Bereich der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen sollen zunächst die vielfältigen Kooperationsmechanismen auf ihre institutionelle Einbettung hin untersucht werden (1. Kapitel). Im Anschluss können dann die Rechtsgrundlagen der Zusammenarbeit auf ihre inhaltliche Ausgestaltung hin analysiert werden (2. Kapitel). Dabei soll zunächst ermittelt werden, zu weIchen konkreten grenzüberschreitenden Maßnahmen der Strafverfolgung die völkerrechtlichen und die innerstaatlichen Rechtsgrundlagen berechtigen, um sodann zu prüfen, ob und in weIchem Umfang diese Regelungen auch Vorschriften zum Schutz der Menschenrechte oder sonstiger Individualrechtspositionen enthalten. Schließlich soll am Beispiel der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen, weIche noch immer die Hauptform der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit darstellt, die Rechtsstellung des Einzelnen herausgearbeitet werden (3. Kapitel). Dies dient insbesondere als Grundlage für die im 2. Teil dieser Arbeit vorzunehmende Untersuchungdes Menschenrechtsschutzes bei der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen.
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Teil 1, 1. Kap.: Einbettung grenzüberschreitender Zusammenarbeit
Erstes Kapitel
Institutionelle Einbettung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen Die Idee der internationalen, grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen wurde von Wissenschaftlern verschiedenster Fachgebiete bereits vor mehr als einem Jahrhundert aufgeworfen, um angesichts des bedrohlichen Kriminalitätsanstiegs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neue Bekämpfungsstrategien zu entwickeln. l Hierfür wurde 1888 die Internationale Kriminalistische Vereinigung gegründet, in welcher die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen ihren ersten konzeptionellen Ansatz fand. 2 Mit der schrittweisen Öffnung der Nationalstaaten für den grenzüberschreitenden Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr im 20. Jahrhundert und dem damit in Verbindung gebrachten Anstieg grenzüberschreitender und organisierter Kriminalität erlangte die zwischenstaatliche Zusammenarbeit bei der Kriminalitätsbekämpfung eine immer größere Bedeutung. Ausdruck dieser internationalen Zusammenarbeit ist die Organisation der Staaten in zwischenstaatlichen Institutionen, innerhalb welcher gemeinsam Lösungen für die anstehenden, oftmals grenzüberschreitenden Probleme erarbeitet und umgesetzt werden sollten. So haben sich weltweit und insbesondere in Europa die verschiedensten Formen der internationalen Kooperation zur Bekämpfung der Kriminalität herausgebildet. Sie wurzeln einerseits im klassischen Völkervertragsrecht und andererseits in völkerrechtlich nicht verbindlichen zwischenstaatlichen Regierungsabsprachen. 3 Ziel der in diesem Kapitel vorzunehmenden Darstellung ist es, die verschiedenen Ebenen, auf denen die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen im Tatsächlichen praktiziert wird, herauszuarbeiten. Eine detaillierte Beschreibung der unzähligen, sich rasch fortentwickelnden Akti vitäten, insbesondere im Bereich der polizeilichen Zusammenarbeit, kann über die vorliegende Ausarbeitung hinaus allerdings nicht vorgenommen werden. 4 Das folgende Kapitel beschränkt sich daher auf eine Zusammenstellung der wichtigsten Institutionen, Formen und Instrumente der internationalen Kooperation und verweist im Übrigen auf weiterVgl. hierzu nur Busch, Grenzenlose Polizei, S. 256 ff. Vgl. Camphausen, Verbrechensbekämpfung. S. 15 ff. 3 Weit verbreitet in der Praxis ist die polizeiliche Zusammenarbeit ohne vertragliche Grundlage, vgl. Wittkämpjer/Kreverl/Kohl, Innere Sicherheit, S. 117; zum sog. "kleinen Grenzverkehr" siehe Endres, Verbrechensbekämpfung, S. 171 ff.; vgl. auch Fijnaut, Police Cooperation, S. 121 ff. 4 Hierzu ausführlich Aden, Polizei politik, 1998; Anderson/den Boer/Cu/len/Gilmore/ Raab, Policing the EU. 1995; Busch, Grenzenlose Polizei. 1995; Harings, Grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Polizei- und Zollverwaltungen und Rechtsschutz in Deutschland, 1998; Mokros, in: LiskenlDenninger. HB des Polizeirechts. S. 927 ff. 1
2
A. Institutionen der Zusammenarbeit auf universeller Ebene
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führende Literatur. Dabei sollen im ersten Abschnitt (A) global ausgerichtete und im zweiten Abschnitt (B) europäische Kooperationsformen dargestellt werden, um schließlich in einem dritten Abschnitt (C) noch kurz auf bilaterale Formen der Zusammenarbeit einzugehen. Besonderes Augenmerk soll in diesem Teil der Betrachtung bereits auf das Verhältnis der untersuchten Institutionen und Organisationen zum Menschenrechtsschutz im Allgemeinen gelegt werden.
A. Institutionen der Zusammenarbeit auf universeller Ebene Die weltweit angelegten Formen internationaler Zusammenarbeit in Strafsachen basieren einerseits auf völkerrechtlich nicht verpflichtenden Zusammenschlüssen nationaler Behörden und andererseits auf völkerrechtlichen Abkommen, die zur Gründung internationaler Organisationen geführt haben, welche sich die Zusammenarbeit in Strafsachen zu einem Teil ihrer Aufgabengebiete gemacht haben. Zu den Institutionen, die im Bereich der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen global tätig werden, zählen die Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation (Interpol), die Vereinten Nationen (VN), die Organisation für Wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) und die Gipfeltreffen der G7/G8-Staaten.
I. Die Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation - Interpol Die ersten Versuche einer formalisierten grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen Anfang des 20. Jahrhunderts führten 1923 zunächst zur Gründung der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission (IKPK), die nach dem Zweiten Weltkrieg weiter fortentwickelt und 1956 in Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation (IKPO) mit Sitz in Paris (seit 1989 in Lyon) umbenannt wurde. 5 Die IKPO wurde bekannt unter der für telegrafische und postalische Zwecke gewählten Bezeichnung Interpol und hat sich mit zur Zeit 177 Mitgliedern zum wichtigsten Instrument für die weltweite polizeiliche Zusammenarbeit entwickelt. 6 Hierbei ist zu betonen, dass gemäß Art. 4 der Gründungsstatuten von Interpol aus dem Jahre 19567 die Mitgliedschaft allein 5 V gl. zur Entstehungsgeschichte von Interpol Busch, Grenzenlose Polizei, S. 268 ff.; CampIzausen, Verbrechensbekämpfung, S. 14 ff.; RupprechtlHelienthal, Innere Sicherheit, S. 144 ff.; Schmitlt-Notlzen, Kriminalistik 1989,287 ff.; Soria, VerwArch 1998,400 (402 ff.); Mokl·os. in: LiskenlDenninger, HB des Polizeirechts, S. 927 ff. 6 Weltweit werden mittlerweile jährlich rund eine Million Nachrichten ausgetauscht. So der Leiter der Polizeiabteilung von Interpol, P. Hidgon. auf einem Kongress über die Organisierte Kriminalität, F AZ Nr. 117 vom 23.5.1997, S. 8; siehe Wittkämpjer/KrevertlKohl. Innere Sicherheit, S. 138. 7 Abgedruckt in Ba/dus. Polizei recht des Bundes. 1998, sowie in Riegel. Polizei- und Ordnungsrecht (Stand: August 1985), C. ll. 2.5.
4 Ziegenhahn
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Teil I, I. Kap.: Einbeuung grenzüberschreitender Zusammenarbeit
nationalen Polizei behörden vorbehalten ist und Regierungen oder Staaten keine Mitglieder von Interpol werden können. 8 Das unterscheidet Interpol maßgeblich von den anderen Formen der auf zwischenstaatlicher Ebene institutionalisierten Zusammenarbeit. Zum primären Ziel von Interpol gehörte es, Einrichtungen und Verfahren zu schaffen, mittels welcher der für den Informationsaustausch umständliche Weg über Botschaften und Außenministerien vennieden und durch den direkten Kontakt zwischen den Polizeibehörden ersetzt werden konnte. 9 Die hiennit angestrebte Erleichterung und Beschleunigung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit der nationalen Kriminalpolizeibehörden steht jedoch ausdrücklich unter dem Vorbehalt der in den einzelnen Ländern geltenden Gesetze und ist stets im Geiste der Erklärung der Menschenrechte weiterzuentwickeln. IO Obgleich Interpol mit einem Generalsekretariat, Regionalbüros in allen Teilen der Welt und Nationalbüros in allen Mitgliedstaaten eine komplexe Organisationsstruktur besitzt!! und in vielfältigen Bereichen Aktivitäten entfaltet, liegt seine größte Bedeutung nach wie vor im Bereich der internationalen Fahndung: gesuchte Personen können zur Festnahme, Aufenthaltsennittlung oder verdeckten Beobachtung ausgeschrieben werden.!2 Neben derartigen Ausschreibungen sammelt die Zentrale in Lyon aber auch Informationen über Täter und Taten und wertet diese aus, um Zusammenhänge erkennen und festhalten zu können. 13 Die Organisation schafft mit ihren Kommunikationsmitteln allerdings nur die äußeren Bedingungen für die Tätigkeit der jeweiligen nationalen Polizeibehörden und bleibt somit eine auf Rechtshilfe ausgerichtete R Gleichwohl schreibt Art. 4 I1IKPO-Statute vor, dass der Antrag auf Mitgliedschaft von der entsprechenden Regierung unterschrieben werden muss. 9 So z. B. die Einführung von Arbeitssprachen, die Schaffung gleicher Organisationsstrukturen bei den ZentralsteJlen der Mitgliedstaaten, die Vereinfachung des Auslieferungsverfahrens, die Einrichtung einer weltweiten Fingerdrucksammlung, die Zusammenarbeit bei der Ausweisung von Ausländern sowie bei ÜbersteJlungen und Abschiebungen und die Unterstützung der Ausbildung von Polizei beamten. Siehe Wittkiimpjer/Krevert/Kohl, Innere Sicherheit, S. 138. 10 Art. 2 IKPO-Statute. 11 Zu den Organen der IKPO gehören das Generalsekretariat, welches zugleich als kriminalpolizeiliche und fernmeldetechnische ZentralsteJle für die Mitgliedstaaten fungiert, die einmal jährlich tagende und sich aus den höchsten Polizei beamten der Mitgliedstaaten zusammensetzende Generalversammlung, das Exekutivkomitee sowie die nationalen Zentralbüros. Zur Struktur der Organisation vgl. auch Anderson, Policing the World, S. 74 ff.; Camphausen, Verbrechensbekämpfung. S. 29 ff.; Schmith-Nothen, Kriminalistik 1989, 73 ff.; Wehner, Terrorismusbekämpfung, S. 161 ff.; Wingenter, Kriminalistik 1987,415 ff. I~ Vgl. zur Interpol-Fahndung Wehner, in: AchermanniBieberlEpiney/Wehner, Schengen, S. 129 (152 f.); Detailregelungen finden sich in den Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten (RiV ASt) sowie in internen Verwaltungsvorschri ften. I) Ausführlich Camphausen, Verbrechensbekämpfung; S. 63 ff.; Scheller, Ermächtigungsgrundlagen. S. 32 f.. 37.
A. Institutionen der Zusammenarbeit auf universeller Ebene
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Institution, die sich an den nationalen Rechtsvorschriften orientieren muss. 14 Die Erledigung der Ersuchen und die operativen Fahndungsmaßnahmen obliegen den jeweils zuständigen nationalen Polizeibehörden im Rahmen ihrer innerstaatlichen Kompetenzen. 15 Der Vorbehalt des innerstaatlichen Rechts für die polizeiliche Zusammenarbeit im Rahmen von Interpol ist auf den Souveränitäts anspruch der beteiligten Staaten zurückzuführen und war bei der Vielzahl der beteiligten Staaten mit den unterschiedlichsten Gesellschaftsstrukturen und Regierungsformen und somit voneinander abweichenden Rechtssystemen unabdingbare Voraussetzung für die universell ausgerichtete Zusammenarbeit der nationalen Polizeibehörden. 16 Im Zentrum der Arbeit von Interpol stehen daher die nationalen Verbindungsbüros, die in über 80 Prozent der Fälle unmittelbar untereinander Informationen und Daten austauschen. 17 Nur wenn mehrere Verbindungsbüros beteiligt sind, tritt das Generalsekretariat als Koordinierungsstelle auf. 18 Für die nationalen Verbindungsbüros besteht indes keine zwingende Pflicht zur Beteiligung an den InterpolFahndungsmaßnahmen; es steht ihnen diesbezüglich vielmehr ein weiter Beurteilungsspielraum zu, weshalb die Statuten auf die demjeweiligen Land nach eigenem Landesrecht zustehenden Möglichkeiten verweisen. Nicht von den nationalen Gesetzen geregelt und daher problematisch sind hingegen die informationellen Tätigkeiten des Generalsekretariats selbst, 19 die Beeinträchtigungen des Rechts der Bürger auf informationelle Selbstbestimmung mit sich bringen können. 2o Das hängt mit dem unklaren Rechtsstatus von Interpol zusammen. Zwar ist in verschiedenen völkerrechtlichen Rechtshilfevereinbarungen die Verbindung zwischen den nationalen Zentral büros verschiedener Staaten als Geschäftsweg für Rechtshilfeer14 Die Arbeit von Interpol baut rechtlich auf den bestehenden bilateralen und multilateralen Rechtshilfevereinbarungen der Staaten auf; vgl. zur Rechtsnatur eines über Interpol eingehenden Ersuchens BGHSt 27, 383 (386). 15 Zu den Hauptaufgaben der Nationalen Zentralbüros (in Deutschland das BKA) gehört die Übennittlung von ein- bzw. ausgehenden Rechts- und Amtshilfeersuchen. Die Frage, ob und wie ein Ersuchen eines Mitgliedstaats erledigt wird, entscheidet das Nationale Zentralbüro im Rahmen der im Inland geltenden Gesetze. Da es sich in der Regel um die Weitergabe von personenbezogenen Daten und somit um Eingriffe in die informationelle Selbstbestimmung der Betroffen handelt, bedarf es einer besonderen Ermächtigungsgrundlage. Das BKAG a. F. war dafür ebenso wie die RiV ASt unzureichend. 16 Vgl. Welmer, in: AchermannJBieberlEpiney/Wehner, Schengen, S. 129 (151); Würz, SDÜ, S. 24. 17 Stunn, Kriminalistik 1997.99 (100); Wolters, in: Schriftenreihe der Polizei führungsakademie 1/1997. S. 29 (39). 18 Wolters, Kriminalistik 1997,86 (90); Stumz, Kriminalistik 1997,99 (100). 19 Interpol gibt eigene Erkenntnisse auf Anfrage oder aber auch aus eigener Initiative an die nationalen Verbindungs büros weiter; vgl. RandelzhoJer, in: FS Schlochauer (1981), 531 (532). 20 Zum Rechtsschutz ausführlich Soria, VerwArch 1998.400 (404).
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Teil I, 1. Kap.: Einbettung grenzüberschreitender Zusammenarbeit
suchen vorgesehen. 21 Jedoch handelt es sich bei den Gründungsstatuten nicht um völkerrechtliche Übereinkommen im Sinne von Art. 5911 1 GG, sondern um Verwaltungsabkommen im Sinne von Art. 59 11 2 GG und somit um völkerrechtliche Verträge, die von den Organen der Verwaltung ohne Beteiligung des Gesetzgebers geschlossen und erfüllt werden können. 22 Zwischen den europäischen Staaten, die zum (ehemaligen) Schengen-Verbund zählen, können Fahndungen nicht mehr über Interpol koordiniert werden. 23 Eine Interpol-Fahndung kommt für diese Staaten nur dann in Betracht, wenn NichtSchengen-Staaten zu beteiligen sind. Trotz allen Einschränkungen ist Interpol für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Rahmen der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit weiterhin von hoher Bedeutung, da es sich um die einzig weltumspannende Kooperationsform dieser Art handelt. Aufgrund der zunehmenden Bedeutung von Europol für die polizeilichen Zusammenarbeit in Europaund zwar nicht nur für die Mitgliedstaaten der Union, sondern auch für die mittelund osteuropäischen Staaten (MOE-Staaten) - und der bevorzugten Benutzung des Schengener Informationssystems (SIS) zur Ausschreibung von Fahndungen stellt sich die Frage nach der künftigen Bedeutung von Interpol für die europäische Strafverfolgung. Denkbar und sinnvoll wäre eine getrennte Aufgabenteilung in einen so genannten "global" und einen "European player".24 Doch durch die Möglichkeit von Europol, auch mit Drittstaaten Kooperationsverträge abschließen zu können, ist die Ausweitung des Tätigkeitsfeldes von Europol auch auf globaler Ebene ebenso wahrscheinlich. Interpol muss daher selbst seine Rolle neu definieren, sich an die neuen Entwicklungen anpassen und auf neue technische Veränderungen einstellen. 25 Während Interpol zu Beginn seiner Entstehung nur in der Form eines zwischenstaatlichen Zusammenschlusses nationaler Polizeibehörden ohne völkerrechtliche Kompetenzübertragung an die Organe dieser Institution möglich war, sollte man heute insbesondere auch in Anpassung der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit bei der Strafverfolgung an das Integrationsniveau der 21 Vgl. zuletzt Art. 61V des Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 15.5.2000, ABI. C 197 vom 12.7.2000,3 ff.; hierzu auch unten 2. Kapitel, S. 144 f 21 Würz, SDÜ, S. 24; zur Abgrenzung siehe nur Schweitzer, Staatsrecht 111, Rn. 189 ff 2) Die von den Hessischen Ministerien der Justiz und des Inneren erlassene Richtlinie über die internationale Fahndung nach Personen, einschließlich der Fahndung nach Personen im Schengener Informationssystem. abgedruckt im Staatsanzeiger des Landes Hessen Nr. 41 vom 11.10.1993, S. 2516 f., macht den Vorrang der Schengen-Fahndung und das Verhältnis der Schengen- zur Interpol-Fahndung im Abschnitt I besonders deutlich. Zu den Fahndungsmöglichkeiten in Europa siehe Wehner, in: AchermanniBieberlEpiney/Wehner, Schengen. S. 129 (150 ff). ~. So Märbel, Vortrag auf der Tagung der ERA in Trier vom 17.118.10.1999 (unveröffentlicht). 25 Savona, Diskussionsbeitrag auf der Tagung der ERA in Trier vom 17.118.10.1999 (nicht veröffentlicht); zu dieser Frage auch ausführlich Baldus/Soine, Rechtsprobleme der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit. 1999.
A. Institutionen der Zusammenarbeit auf universeller Ebene
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Europäischen Union und des Europarats die Gründung einer formellen internationalen Polizeibehörde in Erwägung ziehen.
11. Die Vereinten Nationen Während es sich bei Interpol um eine Zusammenarbeit nationaler Polizeibehörden handelt, stellen die 1945 gegründeten Vereinten Nationen (VN)26 einen Zusammenschluss von Staaten und somit eine klassische internationale Organisation dar. Ihr Hauptziel ist es, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und Streitigkeiten durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen und beizulegen. 27 Dies umfasst letztlich auch das Ziel, eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten und den Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen. 28 Der Schutz der Menschenrechte ist daher, wenngleich nicht als eigenständiges Ziel aufgeführt, eine der Hauptaufgaben der Vereinten Nationen. 29 Zur Verwirklichung dieser Ziele und Aufgaben betätigen sich die Vereinten Nationen seit vielen Jahren auch auf dem Gebiet der Prävention und der Bekämpfung sämtlicher Formen der Kriminalität, insbesondere der Korruption, Bestechung und Geldwäsche. 30 Für den Schutz des friedlichen Zusammenlebens der Völker und der Menschenrechte noch bedeutsamer ist die sich seit den 90er Jahren herausbildende internationale Völkerstrafgerichtsbarkeit. Diese beiden Pfeiler stellen die Hauptbetätigungsfelder der Vereinten Nationen im Bereich der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen dar.
Das Gründungsstatut der Vereinten Nationen ist die Charter of the United Nations 26.6.1945. UNCIO XV. 335 ff., geändert durch Beschluss der Generalversammlung 17.12.1963. UNTS. Vol. 557. 143 ff.; vom 20.12.1965. UNTS. Vol. 638, 308 ff., und 20.12.1971. UNTS, Vol. 892, 119 ff. Vgl. Art. I Nr. I UN-Charta. 28 Vgl. Art. I Nr. 3 UN-Charta.
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vom vom vom n
29 Wohl denn ergibt sich dies durch die entsprechenden Bekenntnisse in der Präambel, in Art. I Nr. 3. Art. 55 lit. c) und Art. 76 lit. c) UN-Charta; vgl. zum Menschenrechtsschutz im Rahmen der VN ausführlich Gadillg, Der Schutz grundlegender Menschenrechte durch militärische Maßnahmen des Sicherheitsrates - das Ende staatlicher Souveränität. 1996. 30 Die Schwerpunktlegung auf diese Straftatbestände ergibt sich aus der destabilisierenden Wirkung von Korruption und Bestechung im öffentlichen Bereich gerade für die jungen Demokratien Mittel- und Südamerikas.
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Teil I, 1. Kap.: Einbettung grenzüberschreitender Zusammenarbeit
J. Kriminalitätsbekämpfung, Välkerstrafrecht und Menschenrechtsschutz
Seit ihrer Gründung haben die Vereinten Nationen eine breite Palette an internationalen Standards, Richtlinien, Resolutionen und Modellverträgen entwickelt, um eine an rechtsstaatlichen Grundsätzen orientierte Praxis der Strafverfolgung und Strafverfahren in den Mitgliedstaaten voranzutreiben. 31 Zu diesen internationalen Standards und Richtlinien der Vereinten Nationen gehören Themenbereiche wie die Behandlung von Strafgefangenen,32 ein Verhaltenskodex für Strafverfolgungsbehörden,33 die Anwendung von Gewalt und Schusswaffen durch Strafverfolgungsbehörden,34 der Opferschutz,35 die Unabhängigkeit der Justiz 36 oder die Rolle von Anwälten 3? und Staatsanwälten. 38 Dieser Katalog eher traditioneller Themen ist mit dem internationalen Verhaltenskodex für öffentliche Amtsinhaber und Beamte39 oder der UNErklärung gegen Korruption und Bestechung40 erweitert worden. Viele dieser Instrumente enthalten nicht nur international akzeptierte Auslegungen der Schutznormen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 (AEMR)41 und des internationalen Pakts für bürgerliche und politische Rechte (lPbpR),42 sondern auch spezifische, dem Menschenrechtsschutz dienende Klauseln. 43 Die Kommission für Kriminalitätsvorsorge und Strafjustiz führt des Weiteren 31 Siehe Report ofthe Secretary-General, Use and application of United Nation standards and norms in criminal prevention and criminal justice, UN-Doc. E/CN.15/199917 vom 2.3.1999; Uni ted Nations, Compendium of United Nations Standards and Norms in Crime Prevention and Criminal lustice; Bassiouni, The Protection of Human Rights in the Administration of Criminal lustice - A Compendium ofUnited Nations Norms and Standards, 1994. 32 Standard Minimum Rules for the Treatment of Prisoners, ESC-Res. 663 C (XXIV) vom 31. 7 .1957, UN-Doc. E/3048 (1957) und 2076 (LXII) (1957). 33 Code of Conduct for Law Enforcement Officials, GA-Res. 34/169, annex, vom 17.12.1979, UN-Doc. N34/46. 34 Basic Principles on the Use ofForce and Firearms by Law Enforcement Officials, UNDoc. E/AC.57/DEC/1 1/1 19 (1990). 3S Declaration of Basic Principles of lustice for Victims of Crime and Abuse of Power, GA-Res. 40/34 vom 29.11.1985, UN-Doc. N40/881. 36 Basic Principles on the Independence of the ludiciary, GA-Res. 40/146 vom 13.12.1985, UN-Doc. N40/1007. 37 Basic Principles on the Role of Lawyers, UN-Doc. E/AC.57/DEC/11/109 (1990). 38 Guidelines on the Role of Prosecutors, UN-Doc. EI AC.57/DEC/1I/16 (1990). 39 International Code of Conduct for Public Officials, GA-Res. 51/59 (1997). 40 UN General Assembly Declaration against Corruption and Bribery in International Commercial Transactions vom 16.12.1996. 41 Universial Declaration of Human Rights, GA-Res. 217 A (lII) vom 10.12.1948, UNDoc. N81O, S. 7 (1948). 42 International Covenant on Civil and Political Rights, GA-Res. 2200 A (XXI), vom 16.12.1966, UN-Doc. N6316 (1967). 43 Hierzu näher unten 2. Kapitel, S. 119 ff., insbesondere S. 190 ff.
A. Institutionen der Zusammenarbeit auf uni verseller Ebene
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alle fünf Jahre internationale Kongresse zur Verbrechensbekämpfung und Behandlung Straffälliger durch, welche in erster Linie als weltweites Forum zur Diskussion aktueller kriminalpolitischer Probleme unter wissenschaftlichen und politischen Aspekten dienen. Die auf den Kongressen gefällten Resolutionen stellen regelmäßig Bekenntnisse der Mitgliedstaaten dar, bei der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, des illegalen Rauschgifthandels, des Terrorismus, bei der Verbrechensverhütung und der Strafrechtspflege zusammenarbeiten zu wollen.-l4 Die UN-Standards und -Normen in Kriminalitätsvorsorge und Strafrechtspflege erlangen immer weiter an Bedeutung. So lässt sich eine zunehmende Akzeptanz für die rechtsstaatliche Organisation der Staats- und Regierungssysteme feststellen, insbesondere für die Annahme fairer und effektiver, auf den Menschenrechten basierenden Mindeststandards bei der Strafverfolgung und -gerichtsbarkeit. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass hierdurch nicht nur ein eigener wünschenswerter Zweck verfolgt wird, sondern die Fortentwicklung und der Erhalt rechtsstaatlicher Grundsätze eine wesentliche Voraussetzung für das wirtschaftliche Wachstum eines Landes bilden. 45 Schließlich unterstützen die UN-Standards und -Normen Regierungen dabei, die Fairness und die Effektivität ihrer Rechtssysteme in einer internationalen Perspektive zu beurteilen und bieten eine Basis für einen internationalen Maßstab im Bereich der Strafjustiz. 46 Insbesondere im letzten Jahrzehnt haben sich die Vereinten Nationen jedoch immer mehr der Bekämpfung der trans nationalen Kriminalität gewidmet und das Instrument der internationalen Zusammenarbeit in den Mittelpunkt dieser Bemühungen gestellt. 47 Das Ziel der Verbesserung der Bekämpfung der trans nationalen Kriminalität verfolgt insbesondere das jüngst in Neapel unterzeichnete Übereinkommen zur Bekämpfung der transnationalen Kriminalität (UN-TranskrimÜbk),48 welches die Grundlage für eine weitreichende Zusammenarbeit der Staaten bei der grenzüberschreitenden Strafverfolgung werden soll. Um die internationale -1-1 Vgl. nur die Deklaration gegen Korruption und Bestechung, in welcher sich die Staaten gegenseitig dazu aufrufen. in Fällen. in denen Regierungen Informationen zu Strafverfolgungsmaßnahmen oder sonstigen rechtlichen Verfahren im Zusammenhang mit Korruption. Bestechung oder anderen illegalen Praktiken anfragen. umfassend zusammenzuarbeiten. -15 Commission on Crime Prevention and Criminal Justice. UN-Doc. ElCN.1511999/7, S.2. -16 Beispiele für die statistische Ermittlung von internationalen Maßstäben finden sich in: European Institute of Crime Prevention und Control (Hrsg.), Crime and Criminal Justice Systems in Europe and North America 1990-1994, sowie Oxford University Press (Hrsg.), World Report on Crime and lustice, 1999. -17 Ausführlich hierzu Fijnaut. European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal lustice 2000, 119 ff. -18 United Nations Convention against Transnational Crime vom 15.12.2000, abgedruckt unter ; siehe hierzu Plachta. ZStW 110 (1998), 819 ff.
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Teill, 1. Kap.: Einbettung grenzüberschreitender Zusammenarbeit
Zusammenarbeit der Staaten weiter zu erleichtern, wurde die Einrichtung einer "supranationalen ClearingsteIle" bei den Vereinten Nationen namens UNOJUST beschlossen, welche den nationalen Behörden und Gerichten umfangreiche Unterstützung bei der Ermittlung der faktischen und rechtlichen Voraussetzungen für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit anderen Staaten geben soll. 49 Von den Bemühungen der Vereinten Nationen auf dem Gebiet der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen zu unterscheiden, sind ihre Tätigkeiten im Bereich des internationalen Strafrechts. 5o Das internationale Strafrecht umfasst nach modernem Verständnis alle Straftatbestände, die unabhängig von staatlicher Gesetzgebung und Strafbereitschaft unmittelbar nach geltendem Völkerrecht verfolgbar sind. 51 Hierzu zählen insbesondere Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbot eines Angriffskrieges, die entweder völkervertragsrechtlich oder gewohnheitsrechtlich verboten sind. 52 Obwohl die Strafgerichtshöfe der Vereinten Nationen selbständig Ermittlungen und Verhaftungen vornehmen können,53 sind auch sie auf die Zusammenarbeit mit den nationalen Strafverfolgungsbehörden angewiesen. Daher enthalten die jeweiligen Statute auch Amts- und Rechtshilferegelungen. 54
49 Zum Uni ted Nations On-line Crime and Justice Clearing House (UNOJUST) siehe ECOSOC, Commission on Crime Prevention and Criminal Justice, Report of the Seventh Session, Vienna, 21.- 30.4.1998, Use and Application of Uni ted Nations Standards and Norms in Crime Prevention and Criminal Justice, UN-Doc. E/CN.1511998/8 vom 19.2.1998, S. 6. 50 Neben dem Begriff "internationales Strafrecht", vgl. Oehler, Internationales Strafrecht, Rn. 995 ff., werden regelmäßig auch andere Termini, wie "Völkerstrafrecht", vgl. Schröder, in: GrafVitzthum, Völkerrecht, S. 543 Rn. 34 ff., "Verbrechen gegen das Völkerrecht", vgl. SchindLer, in: EPIL I (1992), 875 ff., "supranationales Individualstrafrecht", vgl. Roggemann, Strafgerichtshof der Vereinten Nationen, S. 53, 59, oder "international crimes", vgl. leseheck, in: EPIL II (1995), 1I 19 ff., sowie Green, ICLQ 29 (1980), 567 ff., benutzt. Zum Begriff des internationalen Strafrechts siehe auch Eser, in: FS Jescheck (1985), 1353 (1355 ff.); Ipsen, in: ders., Völkerrecht, S. 575 Rn. 1 ff.; Weigend, ZStW 105 (1993),774 (776) jeweils mit umfassenden Nachweisen. 51 So Dahm, Völkerrecht, Bd. I, S. 288; Ipsen, in: ders., Völkerrecht, S. 578 Rn. 7 f.; leseheck, in: EPIL II (1995), 1119 ff.; Verdross/Simma, Völkerrecht, § 439; abweichend davon noch OehLer, Internationales Strafrecht, Rn. 3, 395, 1004, sowie Green, ICLQ 29 (1980), 567 (568 f.). 52 V gl. nur das Völkerrnordabkommen vom 9.12.1948, BGBl. 1954 II, 729; die Genfer Konvention von 1949; das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10.12. 1984, sowie jüngst Art. 5 ff. IStGH-Statut, UN-Doc. NCONF.183/9 vom 17.7.1998, abgedruckt in BR-Drs. 716/99, 9; zum IStGH-Statut siehe auch unten 2. Kapitel, S. 134 f. 53 V gl. nur Teil 5 IStGH-Statut "Investigation and Prosecution" (Art. 53-61). 54 V gl. nur Teil 9 IStGH-Statut "International Cooperation and Judicial Assistance" (Art. 86-102).
A. Institutionen der Zusammenarbeit auf universeller Ebene
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2. Institutionen und Organe der Vereinten Nationen Um die Betätigung der Vereinten Nationen in den Bereichen der Kriminalitätsbekämpfung und des Völkerstrafrecht näher untersuchen zu können, bedarf es eines kurzen Überblicks über die komplexe Organisationsstruktur der Vereinten Nationen. Hierbei ist es notwendig, zwischen den Hauptorganisationen mit ihren Hauptorganen, den Nebenorganen und den Spezialorganen sowie den Sonderorganisationen zu unterscheiden. Bei den Sonderorganisationen der Vereinten Nationen handelt es sich gemäß Art. 57 UN-Charta um durch zwischenstaatliche Vereinbarungen errichtete internationale Organisationen, die durch so genannte Beziehungs- bzw. Kooperationsabkommen mit den Vereinten Nationen verbunden sind. 55 Von den gegenwärtig 16 Sonderorganisationen erlangen allenfalls der Internationale Währungsfonds (IMF)56 und die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (Weltbank)57 eine besondere Bedeutung für die Zusammenarbeit in Strafsachen, da sie die Vergabe von kurz- und mittelfristigen Krediten von der Einführung und Durchsetzung bestimmter strafrechtlicher und/oder menschenrechtlicher Mindeststandards abhängig machen können. Von größerer Bedeutung für die vorliegende Untersuchung sind indes die Haupt- und Nebenorgane der Vereinten Nationen und ihre Ausschüsse. Zu den sechs Hauptorganen der Vereinten Nationen gehören gemäß Art. 7 I UN-Charta die Generalversammlung, der Sicherheitsrat, der Wirtschafts- und Sozialrat, der Treuhandrat, der Internationale Gerichtshof und das Sekretariat. 58 Die Aufgaben und Funktionen ergeben sich ebenso wie die Zusammensetzung der Organe aus der UN-Charta selbst. So obliegt es der Generalversammlung, Empfehlungen bezüglich aller Fragen und Angelegenheiten an die Mitgliedstaaten oder den Sicherheitsrat zu richten. 59 Insbesondere werden von der Generalversammlung die in den Nebenorganen und Ausschüssen erarbeiteten Resolutionen und Deklarationen verabschiedet. Hierzu zählen die AEMR sowie zahlreiche für die internationale Zusammenarbeit in Strafsachen bedeutsame internationale Standards, Richtlinien, Resolutionen und Modellverträge im Bereich der Kriminalitätsvorsorge und -bekämpfung, wie zuletzt der Internationale Verhaltenskodexfür öffentVgl. hierzu nur Epping, in: Ipsen, Völkerrecht, § 32 Rn. 68 ff. m. w. N. Artic\es of Agreement ofthe International Monetarian Fund (IMF), Abkommen vom 22.7.1944, BGB\. 195211,638; Neufassung von 1976, BGB\. 197811,13. 57 International Bank for Reconstruction and Development (IBRD), Abkommen vom 22.7.1944, BGB\. 195211,664; zuletzt geändert am 30.6.1987, BGBI. 199211,1134. 58 Vgl. hierzu nur Epping, in: Ipsen, Völkerrecht, § 32 Rn. 30 ff.; Klein, in: Vitzthum, Völkerrecht, 4. Abschnitt, Rn. 124 ff. je m. w. N. 59 Vgl. Art. 10 UN-Charta; diese der General versammlung eingeräumte Allzuständigkeit wird weiter konkretisiert durch die Art. 11, 13 und 14 UN-Charta, in welchen ihre besondere Zuständigkeit für die Entwicklung des Völkerrechts und die Wahrung des Weltfriedens festgeschrieben wird. 55
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liche Amtsinhaber und Beamte oder die Erklärung gegen Korruption und Bestechung. Der Sicherheitsrat trägt hingegen gemäß Art. 24 UN-Charta die Hauptverantwortung für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit. Hierfür sind ihm in Kapitel VII und VIII UN-Charta besondere Befugnisse übertragen, deren Bedeutung vor allem auch in ihrer Verbindlichkeit für die Mitgliedstaaten liegt. 60 Der Sicherheitsrat hat, dank seiner Befugnisse nach Kapitel VII UN-Charta und der Möglichkeit zur Bewältigung seiner Aufgaben Nebenorgane einzusetzen,61 die maßgebliche Rolle für die Einrichtung der internationalen Ad-hoc-Strafgerichtshöfe für Jugoslawien62 und Ruanda63 gespielt. Mit der Errichtung dieser nach dem Vorbild des Interalliierten Militärgerichtshofs von Nürnberg64 bevollmächtigten Tribunale zogen die Vereinten Nationen die Konsequenzen aus den schweren Menschenrechtsverletzungen durch die Beteiligten der Bürgerkriege in Jugoslawien und Ruanda. 65 Inzwischen sind mit der Ratifikation des Statuts für den Internationalen StraJgerichtshoJCIStGH-Statut)66 durch mehr als 60 Signatarstaaten die Voraussetzungen für eine internationale Strafgerichtsbarkeit geschaffen worden. Während der Internationale Strafgerichtshof seine Arbeit voraussichtlich erst 2003 aufnehmen wird, übt der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nation (lGH)67 bereits seit Bestehen der Vereinten Nationen seine rechtsprechende Tätigkeit aus. 60 Vgl. Art. 25 UN-Charta, hierzu Delbrüek, in: Simma, UN-Charter, Art. 25. 61 V gl. Art. 29 UN-Charta. 62 Der Ad-hoe- Tribunal für Jugoslawien wurde eingerichtet mit der SR-Res. 808 (1993), abgedruckt in: VN 1993,71 ff.; hierzu ShragalZaeklin, EJIL 5 (1994), 360 ff.; Vierueci, EJIL 6 (1995),134 ff. 63 Der Ad-hoe-Tribunal für Ruanda wurde eingerichtet mit der SC-Res. 955 (1994); hierzu Akhavan, AJIL 90 (1996), 501 ff.; ShragalZaeklin, EJIL 7 (1996), 501 ff. 64 Der durch das Londoner Viermächteabkommen errichtete Gerichtshof verfolgte im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess erstmals Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen gegen den Frieden, wie die Führung eines Angriffskrieges oder die Beteiligung an einem solchen, als völkerrechtliche Delikte von Einzelpersonen, siehe dazu leseheek, in: EPIL III (1997), 747; Kastner, JA 1995, 802 ff.; Werle, ZStW 109 (1997), 808 (809 ff.). 65 Zu den internationalen Strafgerichtshöfen allgemein siehe Partseh, VN 1994, 11 ff.; Sehomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, Hauptteil VI, S. 1171 ff.; Tomusehat, EA 49 (1994), 61 ff. 66 Rome Statute of the International Criminal Court, UN-Doc. NCONF.183/9 vom 17.7.1998, abgedruckt in BR-Drs. 716/99, 9 sowie unter ; Inkrafttreten am 1.7.2002, hierzu statt vieler Ambos, ZStW 111 (1999), 175; Cassese, EJIL 1999, 144 ff.; Rudolf, Revue fran~aise de droit constitutionnel 39 (1999), 451. 67 Vgl. zu Rechtsstellung, Kompetenzen und Aufgaben des IGH Art. 7 I und Art. 92 UNCharta, sowie das Statut des Internationalen Gerichtshofs, in: UNCIO XV, 355 ff.; grundlegend Fitzmauriee, The Law and Procedure 01' the International Court of Justice, 1996; limenez de Arechaga, BYIL 1987, 1 ff.; Lowe/Fitzmauriee, Fifty Years ofthe International Court of Justice, 1996; Rosenne, The Law and Practice ofthe International Court of lustice (1985); Thirlway, BYIL 1995, 1 ff.
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Seine Bedeutung erlangt er vor allem in seiner Funktion als Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen. 68 Im Rahmen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen könnte der IGH eine eigenständige Bedeutung im Rahmen von zwischenstaatlichen Streitigkeiten über die Auslegung und die Anwendung von Übereinkommen der Vereinten Nationen erlangen. So sehen beispielsweise das UN-DrogenÜbk sowie die UN-TranskrimÜbk eine entsprechende Zuständigkeit des Gerichtshofs VOr. 69 Der Wirtschafts- und Sozialrat erlangt seine wesentliche Bedeutung für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen durch die Koordinierung der verschiedenen Aktivitäten der Sonderorganisationen sowie der Nebenorgane und Ausschüsse, deren Arbeitsergebnisse und Berichte er in Form von Empfehlungen zur Verabschiedung durch die Generalversammlung weitergeben kann. Die gemäß Art. 7 11 UN-Charta von der Generalversammlung und vom Sicherheitsrat eingesetzten verschiedenen Nebenorgane und Ausschüsse haben dadurch einen bedeutenden Einfluss auf die Entscheidungsprozesse der Hauptorgane. Besonders hervorzuheben ist im vorliegenden Zusammenhang die Arbeit der Kommission für Kriminalitätsvorsorge und Strafjustiz70 und der Kommission für Menschenrechte des Wirtschafts- und Sozialrats. 71
3. Handlungsinstrumentarien Die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen verfügen als internationale Organisationen über ein breites Spektrum an tatsächlichen und rechtlichen Handlungsmöglichkeiten. Hierzu zählen insbesondere die Verabschiedung von Entschließungen, Resolutionen und Deklarationen sowie die Ausarbeitung von völkerrechtlichen Übereinkommen. Über eine Rechtssetzungsbefugnis imeigentlichen Sinne verfügen die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen damit nicht. Aufgrund fehlender Durchsetzungskompetenzen der Vereinten Nationen handelt es sich bei den unverbindlichen Resolutionen der Generalversammlung72 auch nur um Willens bekenntnisse der Mitgliedstaaten ohne rechtliche VerbindVgl. Art. 92 IGH-Statut. Hierzu unten 2. Kapitel, S. 124 f. 70 Commission on Crime Prevention and Criminal Justice of the Economic and Social Council. 7\ Im Einzelnen zu den Fachkommissionen des Wirtschafts- und Sozialrats Partseh, in: Simma, UN-Charter, Art. 68 Rn. 12 ff.; zu der Arbeit des Menschenrechtsausschusses grundlegend Rudolf, Die thematischen Berichterstatter und Arbeitsgruppen der UN-Menschenrechtskommission, 2000; insgesamt zu den Menschenrechtsorganen der Vereinten Nationen siehe Eide/Opsahl, The Human Rights Organs of the United Nations, 1985. 72 Siehe vor allem die Naples Political Declaration and Global Action Plan against Organized Transnational Crime, GA-Res. 49/159. 68
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lichkeit,13 die für eine effektive Zusammenarbeit bei der Verbrechens bekämpfung keine große Bedeutung erlangen. Von erheblich größerer Bedeutung für eine effektive Zusammenarbeit bei der Verbrechens bekämpfung sind die von den Vereinten Nationen ausgearbeiteten Übereinkommen, die durch die entsprechende innerstaatliche Ratifikation eine völkerrechtliche Verbindlichkeit für die Vertragsstaaten entfalten. 74 Gleiches gilt für die von den Vereinten Nationen ausgearbeiteten und zur Ratifikation ausgelegten Modellverträge, die aufgrund der völkerrechtlichen Bindungswirkung im Falle der Ratifikation ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Kriminalitätsbekämpfung spielen.
III. Die Organisation für Wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit Auch bei der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) handelt es sich um eine klassische internationale Organisation. 75 Während die OECD zunächst eine rein westeuropäische Repräsentanz der Industriestaaten gewesen ist, hat sie nach dem Beitritt Australiens, Japans, Kanadas, der USA und anderer außereuropäischer Mitglieder weltweit Bedeutung erlangt. 76 Wesentliches Ziel der Organisation ist die Förderung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten. 77 In diesem Zusammenhang beschäftigt sich die Organisation zunehmend mit kriminalpolitischen Problemen im internationalen Geschäftsverkehr. Während die OECD im Jahre 1985 die zukünftige Arbeit des Europarats im Bereich der Computerkriminalität durch detaillierte Empfehlungen über die Strafbarkeit bestimmter Computerdelikte vorbereitete,78 haben sich in den letzten Jahren zwei Betätigungsfelder schwerpunktmäßig herauskristallisiert. Hierbei handelt es sich zum einen um die Bekämpfung der Bestechung und
73 Eine Ausnahme stellen insofern die verbindlichen Entscheidungen gemäß Art. 25 UNCharta dar. 74 Eine Ausnahme von diesem Grundsatz stellen die von einigen Sonderorganisationen im Rahmen von Opting-out-IContracting-out- Verfahren verabschiedeten Konventionen dar, die bereits dann ohne Ratifiaktionsverfahren völkerrechtliche Bindungswirkungen entfalten. wenn ein Staat nicht ausdrücklich widerspricht. vg!. hierzu nur Skubiszewski, in: EPIL 11 (1995), 1255. Zu den Problemen bei der Ratifizierung von Modellverträgen Wilkitzki, ZStW 105 (1993), 821 (837). 75 Einen Überblick über die zahlreiche Literatur zur OECD findet sich bei Oppermallll, Europarecht, vor Rn. 122; vg!. auch GLoria, in: Ipsen, Völkerrecht, § 46 Rn. 3 ff. 76 Zur Entstehungsgeschichte der OECD siehe nur Oppermallll, Europarecht. Rn. 122 ff. 77 Siehe Art. 1 des OECD-Übk vom 14.12.1960, BGB!. 1961 11, 1151. 78 V g!. OECD, Computer-Related Criminality: Analysis of Legal Policy in the OECDArea, Final Report (April 1986) DSTIIICCP 84.22, 69 ff.; vgl. auch Sieber, JZ 1996. 429 ff., 494 ff.
A. Institutionen der Zusammenarbeit auf universeller Ebene
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der Korruption im internationalen Geschäftsverkehr und zum anderen um die Bekämpfung der Geldwäsche. 79 Innerhalb der OECD sind verschiedene Organe und Arbeitsgruppen mit der Erarbeitung von konkreten Projekten zur Bekämpfung der Bestechung und der Korruption im internationalen Geschäftsverkehr betraut. so Zu diesen Projekten gehört die Durchführung von internationalen Workshops und Konferenzen sowie die Erarbeitung von Empfehlungen und Verhaltenscodices. Besondere Bedeutung hat allerdings das von der OECD in Abstimmung mit dem Europarat, den Vereinten Nationen und auch der Europäischen Union sl erarbeitete Übereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr vom 17. Dezember 1997 (OECD-BestechÜbk)82 erlangt, welches bereits im Februar 1999 in Kraft getreten ist. In diesem völkerrechtlich verbindlichen Übereinkommen verpflichten sich die Staaten, die Strafbarkeit der Bestechung ausländischer Beamte in ihre nationalen Strafrechtssysteme einzuführen. Im übrigen sind vom Rat der OECD Empfehlungen zur Bekämpfung von Bestechung im internationalen Geschäftsverkehr, zur Tax Deductibility of Bribes to Foreign Public Officials oder zur Verbesserung des ethischen Verhalten im öffentlichen Sektor verabschiedet worden. Auch wurden verschiedene andere wirtschaftsrechtliche Verhaltenscodices, insbesondere ein Verhaltenscodex für multinationale Unternehmen erarbeitet und den Mitgliedstaaten zur Umsetzung vorgelegt. 83 Die internationalen Bemühungen im Kampf gegen Geldwäsche werden vor allem von der bei der OECD angesiedelten Financial Action Task Force on Money Laundering (FATF)84 koordiniert und vorangetrieben. Bei der FATF handelt es sich um ein ursprünglich von den Staats- und Regierungschef der G7-Staaten und 7Y Vgl. hierzu umfassend Pielh/Eigen, Korruption im internationalen Geschäftsverkehr, 1999. k(J Z. B. die Working Group on Bribery in International Business Transactions (CIME), die Anti-Corruption Unit (ACU) oder das Directorate for Financial, Fiscal and Enterprise Affairs (DAFFE); siehe hierzu . kl V gl. zur Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Internationalen Organisationen bzw. Institutionen beispielsweise den Zweiten Gemeinsamen Standpunkt zu den Verhandlungen im Europarat und in der OECD über die Bekämpfung der Korruption, der vom Rat aufgrund Artikel K.3 EUV a. F. am 13.11.1997 festgelegt wurde, ABI. L 320 vom 21.11.1997, I. k2 Übereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr vom 17.12.1997, ratifiziert von der Bundesrepublik Deutschland mit dem Zustimmungsgesetz vom 10.9.1998, BGBI. 1998 ll, 2327; hierzu Sacerdoti, in: Pieth/Eigen, Korruption, S. 212 tT; im Einzelnen hierzu unten 2. Kapitel, S. 138 f. 81 Hierzu Gloria, in: Ipsen, Völkerrecht, § 46 Rn. 14 ff.; Groß/eid/Hübner, ZfUGR 1978, 156 ff. M Siehe näher unter ; vgl. auch Camphausen, Verbrechensbekämpfung, S. 61 f.; Edelbacher, in: ders., Organisierte Kriminalität, S. 15 (51).
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Teil I, I. Kap.: Einbettung grenzüberschreitender Zusammenarbeit
dem Vorsitzenden der EU -Kommission im Juni 1989 eingesetztes zwischenstaatliches Gremium, dessen Zweck darin besteht, die internationale Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Geldwäsche zu entwickeln und zu fördern. 85 Dieses Gremium setzt sich aus gegenwärtig 26 Mitgliedstaaten der wichtigsten Finanzzentren Europas, Nordamerikas und Asiens 86 sowie zwei internationalen Organisationen zusammen. Bereits im April 1990 hatte die FATF einen ersten Bericht zur Bekämpfung der Geldwäsche vorgelegt, dessen 40 Empfehlungen im Wesentlichen in einen entsprechenden Richtlinienvorschlag der Europäischen Gemeinschaften eingeflossen sind. 87 Als konkrete Aufgaben hat sich die FATF zum Ziel gesetzt, jährlich die Umsetzung der regelmäßig überarbeiteten 40 FATF-Empfehlungen in den Mitgliedstaaten zu kontrollieren, neue Geldwäschetechniken und -trends zu ermitteln, um Gegenmaßnahmen zu entwickeln und schließlich die Annahme und Umsetzung der Empfehlungen auch durch Nicht-Mitgliedstaaten voranzutreiben. Hierfür arbeitet die FATF eng mit regionalen Anti-GeldwäscheInstitutionen wie dem Sonderausschuss beim Europarat, der Caribian Financial Action Task Force, der Asia-Pacific Group on Money Laundering und der Eastern and Southern Africa Group on Money Laundering zusammen. Die jährlichen Berichte der FATF,88 in welchen die tatsächlichen und rechtlichen Defizite im Kampf gegen die Geldwäsche nicht nur in den Mitgliedstaaten, sondern gerade auch in den nicht kooperierenden Staaten aufgedeckt werden, dienen u. a. auch dazu, politischen Druck auf die Staaten auszuüben. So hat Österreich unter Androhung eines Ausschlusses im Februar 2000 die von der FATF geforderte Abschaffung anonymer Konten vorgenommen. 89 Die Arbeit der OECD auf dem Gebiet des Wirtschaftsstrafrechts unterscheidet sich vor allem dadurch von anderen internationalen Organisationen wie dem Europarat oder der Europäischen Union, dass sie nicht auf die harmonisierende Wirkung völkerrechtlicher Übereinkommen setzt, sondern wie zum Teil auch die Vereinten Nationen im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung überwiegend mit 8S Der rechtliche Status der FATF ist unklar. da es keinen für eine internationale Organisation typischen Gründungsvertrag o. ä. gibt. Zwar existieren mit dem Sekretariat und der Präsidentschaft zwei Organe, jedoch muss in Ermangelung einer nachvollziehbaren festen Organisationsstruktur und einer eigenen Rechtspersönlichkeit davon ausgegangen werden. dass es sich zumindest derzeit um eine lose Staatenkooperation handelt. Dennoch legt die FATF Wert darauf. als eigenständiges Gremium und nicht etwa als Ausschuss oder Organ der OECD angesehen zu werden. vgl. hierzu die Selbstdarstellung unter: . Rn Zu diesen Staaten zählen u. a. alle Mitgliedstaaten der EU sowie die USA, Kanada. China. Australien und die Schweiz; ausführlich unter . 147 Lagodny, in: Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, Hauptteil II 0, S. 737.
A. Rechtsquellen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen
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Ebenfalls noch nicht in Kraft getreten ist das Übereinkommen über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht vom 4. November 1998 (UmweltschÜbk),148 in welchem Mindeststandards für den strafrechtlichen Umweltschutz in den Mitgliedstaaten geschaffen und festgelegt wurden. Obwohl gerade im Bereich des Umweltschutzes die internationale Zusammenarbeit besonders schwierig und die Gefahren für grenzüberschreitende Delikte besonders groß sind, enthält das Übereinkommen in Art. 12 nur eine allgemeine Verpflichtung zur umfassenden Nutzung bestehender völkerrechtlicher Regelungen über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Insoweit handelt es sich bei dem Übereinkommen lediglich um eine deklaratorische Ergänzung bestehender Verträge, welches keine neuen Kooperationsmechanismen schafft. Auch das ebenfalls noch nicht in Kraft getretene Übereinkommen über die strafrechtliche Bekämpfung der Korruption vom 27. Januar 1999 (KorruptÜbk)149 enthält neben Regelungen zur Rechtsvereinheitlichung innerstaatlicher Sanktionsnormen auf dem Gebiet der Korruption ein eigenes Kapitel zur internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen. ISO Im Gegensatz zum UmweltschÜbk finden sich im KorruptÜbk jedoch umfangreiche Regelungen zur Rechtshilfe, zur Auslieferung, zu Spontankontakten und direktem Informationsaustausch zwischen den nationalen Strafverfolgungsbehörden. 1s1 Insbesondere kann es als völkervertragliche Grundlage in den Fällen dienen, in denen zwischen den Staaten keine entsprechenden Auslieferungs- oder Rechtshilfeverpflichtungen bestehen. 152 Individualschutzrechtliche Normen enthält die Konvention indes nicht. Die Leistung von Rechtshilfe kann gemäß Art. 26 11 KorruptÜbk allenfalls unter Berufung auf den Verstoß gegen fundamentale Interessen oder den ordre public verweigert werden. Schließlich ist am 23. November 2001 ein hochspezifisches Übereinkommen zur Bekämpfung der Cyber-Kriminalität (CybercrimeÜbk)IS3 von den Europaratsstaaten unterzeichnet worden, welches erstmals umfangreiche Anpassungen des materiellen und prozessualen innerstaatlichen Strafrecht vorsieht, um die verschiedensten Formen von Computer kriminalität zu bekämpfen. 1s4 Hierfür enthält das Übereinkommen auch ein eigenes und sehr spezifisches Kapitel über die inter148 ETS No. 172, Convention for the Protection of the Environment through Criminal Law, noch nicht in Kraft getreten, vgl. zum aktuellen Ratifikationsstand oder< http://conventions.coe.int>. 149 ETS No. 173, Criminal Law Convention Corruption, vgl. zum aktuellen Ratifikationsstand oder ; hierzu Lezertua, in: PiethlEigen, Korruption, S. 228 ff.; Pieth, in: ders.lEigen, Korruption, S. 341 ff. ISO Vgl. Kapitel IV KorruptÜbk "International Co-operation". 151 Vgl. Art. 25-31 KorruptÜbk. 152 Vgl. Art. 25 11 und Art. 27 11 KorruptÜbk. 153 ETS No. 185, Convention on Cyber-Crime vom 23.11.2001, abgedruckt unter ; hierzu Csonka, in: Edelbacher, Organisierte Kriminalität, S. 61 (65). 154 Vgl. Kapitel 2 "Measures to be taken at the national level" (Art. 2-23).
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Teil 1, 2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
nationale Zusarrunenarbeit bei der Strafverfolgung. 155 Neben der allgemeinen Verpflichtung zur internationalen Zusarrunenarbeit unter Nutzung bestehender nationaler und internationaler Instrumente, 156 enthält das Übereinkorrunen auch eigene Regelungen über die Auslieferung, die Rechtshilfe und den spontanen Informationsaustausch. 157 Zusätzlich werden umfangreiche weitere detaillierte Regeln zur grenzüberschreitenden Zusarrunenarbeit bei der Verfolgung von Computerkriminalität aufgestellt. 158 All diese Formen der Zusarrunenarbeit stehenjedoch erstmals unter dem ausdrücklichen Bekenntnis, einen angemessenen Ausgleich zwischen den staatlichen Interessen an der Strafverfolgung und dem Schutz der Individualrechte, wie sie in der EMRK und dem IPbpR niedergelegt sind, zu finden. 159 c) Sonstige Übereinkorrunen Das Europäische Übereinkommen betreffend Auskünfte über ausländisches Recht vom 7. Juni 1968 (EuAuskÜbk)160 in Verbindung mit dem auf das Strafverfahren bezogene Zusatzprotokoll zum Europäischen Übereinkommen über die Unterrichtung über ausländisches Recht vom 15. März 1978 (ZP-EuAuskÜbk)161 stellt zwar keine strafrechtliche Konvention dar, ist aber für den gegenseitige Informationsaustausch in Bezug auf strafrechtliche Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung. 162 So verpflichtet das EuAuskÜbk die Staaten zum Austausch von Informationen über ihr materielles und prozessuales Recht sowie über die Gerichtsorganisation auf dem Gebiet der Strafrechtspflege. Mit dieser ausländischen Rechtsauskunft wird die Anwendung ausländischen Strafrechts in grenzüberschreitenden Sachverhalten maßgeblich erleichtert. 163
2. Regelungen im Rahmen der Europäischen Union Da die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften aus dem Jahre 1957 noch keinerlei Zusarrunenarbeit in Strafsachen vorsahen, beschäftigten sich ISS
Vg!. Kapitel 3 "International Co-operation" (Art. 24-35).
156 Vg!. Art. 24 CybercrimeÜbk. 157 Vg!. Art. 25-27 CybercrimeÜbk.
Vg!. Art. 27-35 CybercrimeÜbk. Vg!. die Präambel sowie Art. 15 CybercrimeÜbk. 160 ETS No. 62, European Convention on Information on Foreign Law, BGB!. 197411, 937; 197511,300. 161 ETS No. 97, Additional Protoco1 to the European Convention on Information on Foreign Law, in Kraft getreten am 31.8.1979, für die Bundesrepublik Deutschland am 24.10.1987, BGB!. 198711,58,593. 162 Vogler, Jura 1992, 586 (591). 163 Vg!. Jescheck, in: FS Jhong-Won Kim (1991), 947 (958). IS8
1S9
A. Rechtsquellen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen
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die Mitgliedstaaten erst in den 80er Jahren im Rahmen der EPZ mit der Zusammenarbeit in Strafsachen. So erarbeiteten die (seinerzeit) 12 Mitgliedstaaten fünf völkerrechtliche Übereinkommen, 164 von denen allerdings mangels ausreichender Ratifikation bisher allein das Übereinkommen über das Verbot der doppelten Strafverfolgung vom 25. Mai 1987 in Kraft getreten ist. 165 Bezüglich der verbleibenden Übereinkommen ist indes anzumerken, dass entsprechende Regelungen eine vorläufige Anwendung dieser Übereinkommen ermöglichen und sie daher auch zwischen einigen der Mitgliedstaaten Geltung erlangt haben. Mit der Gründung der Europäischen Union im Jahre 1992 wurde die Erarbeitung völkerrechtlicher Übereinkommen im Bereich der Strafverfolgung zum förmlichen Bestandteil der intergouvernementalen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. Gemäß Art. 34 11 lit. d) EUV kann nunmehr der Rat Übereinkommen erarbeiten und den Mitgliedstaaten zur Ratifikation vorschlagen. 166 Mangels einer Verpflichtung zur Ratifikation sind auch hier nur wenige Übereinkommen in Kraft getreten. Seit dem Arnsterdamer Vertrag besteht jedoch die Möglichkeit, die Ratifizierung der Übereinkommen durch eine Fristsetzung zu forcieren. Auch treten unterzeichnete Übereinkommen bereits dann vorzeitig in Kraft, wenn sie von der Hälfte der Mitgliedstaaten ratifiziert worden sind. 167 Hervorzuheben ist, dass die Übereinkommen der EU gerade im Bereich der justitiellen Zusammenarbeit nicht etwa den Versuch unternehmen, ein völlig neues System der grenzüberschreitenden Strafverfolgung zu errichten. 168 Vielmehr zielen sie darauf ab, die bereits bestehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen zwischen den Mitgliedstaaten zu ergänzen und ihre erleichterte Anwendung zu gewährleisten. Daher sind die Übereinkommen oft im Lichte bereits existierender Übereinkommen zu sehen, vor allem im Hinblick auf die Rechtshilfekonventionen des Europarats. Im Folgenden sollen nun sowohl die EPZ- als auch die EU-Übereinkommen und ihr Regelungsgehalt kurz dargestellt werden. Auch hier stellt sich die der Untersuchung zugrunde liegende Frage nach der Anerkennung von Menschenrechten der von der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen betroffenen Personen. IM Die fünf EPZ-Übereinkommen regeln das Verbot der doppelten Strafverfolgung, die ÜbersteIlung verurteilter Personen, die Verfahren zur Übermittlung von Auslieferungsersuchen, die Übertragung von Strafverfahren und die Vollstreckung ausländischer strafrechtlicher Verurteilungen, vgl. hierzu die Zusammenstellung des Europäischen lustitiellen Netzes auf der Homepage des Rates der EU, . lfi5 Hierzu ist jedoch anzumerken, dass sich die in Art. 1-5 des Übereinkommens geregelten Ne-bis-in-idem-Bestimmungen nahezu wortgleich in Art. 54-58 SDÜ wiederfinden und somit - seit der Inkorporierung des Schengen-Aquis in das Recht der Europäischen Union - für die Mitgliedstaaten keine selbständige Bedeutung mehr entfalten. IM Entspricht weitgehend Art. K.3 " lit. c) EUV a. F. lfil Die Möglichkeit der vorläufigen bzw. vorzeitigen Anwendung vor Inkrafttreten eines Übereinkommens bestand auch nach dem Maastrichter EUV, und zwar entweder bilateral oder im Verhältnis zu denjenigen Mitgliedstaaten, die eine entsprechende Erklärung abgegeben hatten. lfiK Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, vor Hauptteil 111, S. 768 Rn. 13.
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Teill, 2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
a) Übereinkommen über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen
aa) Übereinkommen über die Auslieferung in Strafsachen Das Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die Vereinfachung und Modernisierung der Veifahren zur Übermittlung von Auslieferungsersuchen vom 26. Mai 1989 (EG-AusIFaxÜbk)169 soll die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Auslieferung verbessern, indem es das Verfahren zur Übermittlung der Auslieferungsersuchen sowie der dazugehörigen Unterlagen durch die Verwendung von "Fernkopien" beschleunigt. Es wird derzeit von einigen Mitgliedstaaten der EU vorläufig angewendet, 170 wird aber aufgrund des technischen Fortschritts auf dem Gebiet der Telekommunikation und des Internets zunehmend an Bedeutung verlieren. I7l Unabhängig von diesem Abkommen haben sich die Mitgliedstaaten nach der Gründung der Europäischen Union erneut damit auseinandergesetzt, ob und wie man das Institut der Auslieferung von Straftätern in Europa effizienter gestalten kann. In diesem Zusammenhang ist das Übereinkommen über das vereinfachte Auslieferungsveifahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 10. März 1995 (EU-VAlÜbk)172 zu sehen, welches zunächst noch auf dem EuAlÜbk des Europarats aufbaut, aber durch die Vereinfachung des innerstaatlichen Auslieferungsverfahrens dessen Anwendung erleichtern soll. 173 So kann in Abweichung vom EuAlÜbk die Auslieferung bereits aufgrund eines Ersuchens um vorläufige Verhaftung einer Person gemäß Art. 16 EuAlÜbk bewilligt werden. 174 Für den Informationsaustausch ist gemäß Art. 10 EU-VAlÜbk der unmittelbare Weg zwischen den beteiligten Strafverfolgungsbehörden vorgese169 BGB!. 1995 II, 969; 1997, 1689, von der Bundesrepublik Deutschland am 23.12.1992 ratifiziert und seit dem 8.6.1995 vorläufig angewendet, vgl. hierzu Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, Hauptteil III A, S. 807 ff., sowie Sclzomburg, NJW 1995, 1931 (1934). 170 Vg!. hierzu die Vertragstabelle bei Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, Hauptteil III A, S. 808. 171 Vg!. insoweit auch den nahezu identischen Art. 13 EU-AusIÜbk. I72 AB!. C 78 vom 30.3.1995, 2; in der Bundesrepublik Deutschland mit dem Zustimmungsgesetz vom 7.9.1998 in Kraft getreten, BGB!. 1998 H, 2229; vg!. hierzu auch den Erläuternden Bericht des Rates vom 29.11.1996, AB!. C 257, 4, vom 12.12.1996, sowie Borchmann, NJW 2000, 254 (260); Dittriclz, in: Müller-Graff, Europäische Zusammenarbeit, S. 101 (108); Rouchereau, in: Zerdick, Juristische Zusammenarbeit, S. 106; Sclzomburg, NJW 1995, 1931 (1934). m Die Möglichkeit der Verfahrensbeschleunigung ist bereits mit Art. 66 SDÜ für die Schengen-Staaten geschaffen worden; das EU-VAIÜbk sollte sie auf die Kooperation zwischen allen Mitgliedstaaten der EU erstrecken, vgl. Sclzomburg, in: SchomburglLagodny, Internationale Rechtshilfe, Hauptteil III A, S. 812. 174 Vgl. Art. 3 EuAIÜbk.
A. Rechtsquellen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen
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hen. 175 Des Weiteren ermöglicht Art. 6 EU-V AIÜbk die vereinfachte Auslieferung in den Fällen, in denen die betroffene Person unter Verzicht auf den Spezialitätsgrundsatz der Auslieferung und auf Rechtsschutz im ausliefernden Staat zustimmt. 176 Die Verkürzung der Auslieferungsverfahren dient nicht nur dem Ziel einer effektiven Strafverfolgung, sondern soll letztlich auch dem verfolgten Individuum zugute kommen. Da eine Auslieferung regelmäßig mit einer (vorläufigen) Inhaftierung verbunden ist, steht es im Interesse des Individuums, dass das innerstaatliche Auslieferungsverfahren besonders zügig durchgeführt wird. Insbesondere die Zustimmung zur Auslieferung ermöglicht dem Inhaftierten, in dem ersuchenden Staat so rasch wie möglich einen Rechtsbehelf gegen seine Inhaftierung einzulegen. 177 Diese individualrechtsschützenden Überlegungen entsprechen dem in der Präambel des Übereinkommens ausdrücklich niedergelegten Bekenntnis der Vertrags staaten zur Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten der auszuliefernden Personen, wie sie in den innerstaatlichen Rechtsordnungen und insbesondere der EMRK niedergelegt sind. 178 Da dieses Übereinkommen im Wesentlichen jedoch Regelungen enthält, wie sie bereits aufgrund anderer Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union Anwendung finden,179 dürfte kaum noch mit dessen Ratifizierung zu rechnen sein. Ein Jahr später wurde vom Rat das Übereinkommen über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 27. September 1996 (EU-AlÜbk)IRO verabschiedet. Es sieht vor allem im Interesse einer effizienteren Bekämpfung des grenzüberschreitenden Terrorismus und der organisierten Krimi175 Damit bedarf es nicht mehr des u. U.längeren ministeriellen Geschäftswegs, wie dies Art. 5 des 2. ZP-EuAIÜbk in Modifikation des Art. 12 EuAIÜbk vorsieht. 17fi Die Möglichkeit der Zustimmung zur vereinfachten Auslieferung bei gleichzeitigem Verzicht auf die Einhaltung des Spezialitätsgrundsatzes ist in Deutschland bereits durch § 41 IRG, geschaffen worden, vgl. Lagodny, in: SchomburgiLagodny, Internationale Rechtshilfe, IRG, § 41 Rn. I ff.; vgl. zur vergleichbaren innerstaatlichen Rechtslage in Österreich Schwaighofer, ÖJZ 1997, 17 (20); vgl. zur Frage der Spezialitätsgewährleistung auch OLG Karlsruhe, NStZ 1999,252. 177 Vgl. zu dem Zusammenhang zwischen beschleunigter Auslieferung, Unschuldsvermutung und der Achtung der Menschenrechte des Auszuliefernden den Erläuternden Bericht zu dem EU-VAIÜbk, ABI. C 357 vom 12.12.1996, 4, z. T. abgedruckt auch bei Schomburg, in: SchomburgiLagodny, Internationale Rechtshilfe, Hauptteil III A, S. 812 Rn. 6 ff. 17H Vgl. die Präambel des EU-VAIÜbk sowie den Erläuternden Bericht zu diesem Übereinkommen, ebd., Anmerkung 2. m So ist die Möglichkeit der Zustimmung zur vereinfachten Auslieferung bei gleichzeitigem Verzicht auf die Einhaltung des Spezialitätsgrundsatzes bereits in Art. 66 SDÜ geregelt und seit dessen Inkraftsetzung für alle Mitgliedstaaten der EU möglich. IHO ABI. C 313 vom 23.10.96, 12; in Deutschland mit dem Zustimmungsgesetz vom 7.9.1998 in Kraft getreten, BGBI. 199811,2253; vgl. hierzu den Erläuternden Bericht des Rates vom 26.5.1997, ABI. C 191 vom 23.6.1997, 13, sowie Borchmann, NJW 2000,254 (260).
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Tei11, 2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
nalität eine erhebliche Erweiterung der Auslieferungspflichten der Mitgliedstaaten vor. So baut es vornehmlich auf dem EuAIÜbk, dem EuTerrÜbk, dem SDÜ und dem BeNeLuxÜbk auf und hat zum Ziel, die verschiedenen völkerrechtlichen Übereinkommen im Bereich der Auslieferung zu ergänzen und deren Anwendung zu erleichtern. 181 Während vor allem das EuAIÜbk zahlreiche Auslieferungshindernisse enthält, welche das Auslieferungsverfahren erschweren, ist das EU-AIÜbk als Antwort auf das mit der Abschaffung der Binnengrenzkontrollen gestiegene Bedürfnis nach enger Zusammenarbeit bei der grenzüberschreitenden Strafverfolgung zu verstehen. Durch die Beseitigung einer Vielzahl von Auslieferungshindernissen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union soll die strafrechtliche Zusammenarbeit auch auf dem Gebiet der Auslieferung an die veränderten Bedürfnisse im zusammenwachsenden Europa angepasst werden. Hervorzuheben sind die Regelungen über die Erweiterung des Kreises der auslieferungsfähigen Straftaten, 182 die Abschaffung der Auslieferungshindernisse bei politischen, fiskalischen und im ersuchten Staat verjährten Straftaten, die Auslieferung eigener Staatsangehöriger und die Befreiung vom Spezialitätsgrundsatz in bestimmten Fällen. 183 Aufgrund des in dem Erläuternden Bericht zum EU-AIÜbk geäußerten Vertrauens in die Beachtung der Menschenrechte durch die Mitgliedstaaten der EU findet sich auch in diesem Übereinkommen außer dem allgemeinen Bekenntnis zur EMRK in der Präambel an keiner Stelle ein konkreter Verweis auf die Menschenrechte der betroffenen Personen.
bb) Übereinkommen über die sonstige Rechtshilfe in Strafsachen Während im Rahmen der intergouvernementalen Zusammenarbeit die Erarbeitung völkerrechtlicher Übereinkommen zur Verbesserung der Auslieferung verhältnismäßig unproblematisch vonstatten ging und somit relativ zügig abgeschlossen werden konnte, dauerte die Erarbeitung einer umfassenden Rechtshilfekonvention über fünf Jahre. 184 Nach vielen Anpassungen und Veränderungen konnte das Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union am 15. Mai 2000 (EU-RhÜbk)185 endgültig verabschiedet werden. Das EU-RhÜbk zielt vor allem darauf ab, die Schwierigkeiten 181 V gI. Art. 1 I EU-Aus1Übk sowie den Erläuternden Bericht des Rates vom 26.5.1997. ABI. C 191 vom 23.6.1997, 13, Anmerkung zu Art. I, sowie Rouchereau, in: Zerdick. Juristische Zusammenarbeit, S. 106 (107). 182 Vgl. Art. 2 und 3 EU-A1Übk. 18.1 VgI. Art. 5-8, 10 EU-A1Übk. 184 Umfassend zu der langwierigen Entstehungsphase dieses Übereinkommens Vermeulen, Wederzijdse rechtshulp in strafzaken in de Europese Unie, 1999. 185 Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 15.5.2000. ABI. C 197 vom 12.7.2000.3 tl.; vgl. hierzu auch den Erläuternden Bericht vom 30.11.2000. ABI. C 379 vom 29.12.2000. 7 ff.
A. Rechtsquellen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen
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im Zusammenhang mit einer grenzüberschreitenden Suche nach Beweisen und der Beschleunigung der eingeleiteten Verfahren zu lösen. Hierfür enthält es ergänzende Modifikationen zum EuRhÜbk, zum 1. ZP-EuRhÜbk, zum SDÜ und zu Kapitel 2 BeNeLux Übk, 186 indem es neben der Erleichterung des Verfahrens und der Übermittlung von Rechtshilfegesuchen 187 in umfassendem Maße auch besondere Formen der Rechtshilfe regelt. Zu diesen besonders geregelten Formen der Rechtshilfe gehören die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen per Video- bzw. Telefonkonferenz, kontrollierte Lieferungen, gemeinsame Ermittlungsteams und verdeckte Ermittlungen. 188 Von besonderer Bedeutung in diesem Übereinkommen ist das eigene Kapitel zur Überwachung des Telekommunikationsverkehrs, 189 welches in großem Umfang Unsicherheiten und Differenzen bei der Ausarbeitung des Vertrages provoziert hat. Ebenso wie die beiden Übereinkommen der Europäischen Union über die Auslieferung enthält auch das EU-RhÜbk in seiner Präambel das ausdrückliche Bekenntnis zur EMRK und somit zu den Menschenrechten des Einzelnen. 190 Dieses Bekenntnis zu Beginn des Übereinkommens mag erklären, warum in den einzelnen Bestimmungen mit Ausnahme von Art. 10 IX EU-RhÜbk keinerlei Bezug mehr auf die Achtung der Rechte des Einzelnen genommen wird. 191 Auf der anderen Seite wird indes zu klären sein, ob und in welcher Weise der Erwähnung der Rechte des Einzelnen sowie der EMRK in der Präambel eine konstitutive Bedeutung beizumessen ist. cc) Vollstreckungshilfe in Strafsachen
Bereits im Rahmen der EPZ wurden drei Übereinkommen über die Übertragung der Strafverfolgung bzw. der Strafvollstreckung erarbeitet. Mangels entsprechender Ratifizierung ist jedoch weder das Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die ÜbersteIlung verurteilter Per-
186 Zum Verhältnis zu bestehenden Rechtshilfeverträgen vgl. Art. 1 f. EU-RhÜbk; insbesondere werden durch das Übereinkommen Teile des SDÜ aufgehoben. 187 Vgl. Art. 4 bis 7 EU-RhÜbk. 188 V gl. Art. 9 bis 14 EU-RhÜbk. 189 Vgl. Titel III. Art. 17 bis 22 EU-RhÜbk. 190 In der Präambel des EU-RhÜbk heißt es, dass "die justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union unbeschadet der Bestimmungen zum Schutze der Freiheit des Einzelnen" verbessert und sichergestellt werden soll. dass "die Rechtshilfe ... in einer Weise erfolgt. die mit den wesentlichen Grundsätzen ihres innerstaatlichen Rechts vereinbar ist und mit den Rechten des Einzelnen sowie den Prinzipien der [EMRK] in Einklang steht." 191 Vgl. allerdings auch die eigenständige Bestimmung über den Schutz personenbezogener Daten. Art. 23 EU-RhÜbk.
10 Ziegenhahn
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Teil I, 2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
sonen vom 25. Mai 1987 (EG-ÜbersteIlÜbk)192 noch das Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die Übertragung von Strafverfahren vom 6. November 1990 (EG-ÜbertragÜbk)193 in Kraft getreten. Ebenfalls noch nicht in Kraft getreten, aber aufgrund entsprechender Erklärungen bzw. bilateraler Vereinbarungen "vorläufig anwendbar"194 ist das Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die Vollstreckung ausländischer strafrechtlicher Verurteilungen vom 13. November 1991 (EG-VollstrÜbk),195 welches den Vollzug einer in einem Land verhängten Freiheitsstrafe in einem anderem Land ermöglicht. 196 Das Übereinkommen verfolgt das gleiche Ziel wie schon das ÜberstÜbk des Europarats oder später das SDÜ ,197 begründet jedoch ebenfalls keine völkerrechtliche Verpflichtung zur Vollstreckungsübertragung. Im Gegensatz zum EU-AlÜbk und EU-RhÜbk stellt das EGVollstrÜbk ein eigenständiges Vertrags werk für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union dar, welches das Europaratsübereinkommen allenfalls berücksichtigt. 198 Kernpunkt des EG-VollstrÜbk ist die Frage, inwieweit auf die Zustimmung des Verurteilten zum Vollstreckungstransfer verzichtet werden kann. Der Vollstreckungstransfer soll eine effektive Strafverfolgung ermöglichen, wenn etwa Auslieferungshindernisse o. ä. einer Vollstreckung im ersuchenden Land entgegenstehen. Für die Zulässigkeit einer Vollstreckungsübertragung genügt es bereits, dass sich der Verurteilte im Hoheitsgebiet des (angestrebten) Vollstreckungsstaates befindet l99 und Urteilsstaat und Vollstreckungsstaat der Übertragung zustimmen. 2°O Auf die Zustimmung des Verurteilten kommt es hingegen nicht an. Somit wird der hinter dem ÜberstÜbk des Europarats stehende humanitäre Charakter einer Strafvollstreckung im Heimatstaat zugunsten einer umfassenden und 192 Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die ÜbersteIlung verurteilter Personen vom 25.5.1987, . 193 Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die Übertragung von Strafverfahren vom 6.11.1990, . 194 Zur vorläufigen Anwendbarkeit vor Inkrafttreten des Übereinkommens vgl. Art. 21 111, IV EG-VollstrUbk. 195 Convention on the Execution of Foreign Criminal Sentences vom 13.11.1991, von der Bundesrepublik Deutschland am 7.7.1997 ratifiziert und seit dem 15.7.1997 vorläufig angewendet, BGBl. 199711, 1351, vgl. hierzu Schomburg, in: SchomburgiLagodny,lnternationale Rechtshilfe, vor Hauptteil 111 C, S. 831 ff. 196 Erstmals ist nach diesem Übereinkommen allerdings auch die Vollstreckung von Verurteilungen zu Geldstrafen oder Geldbußen gegen natürlich und juristische Personen zulässig, vgl. Art. 4 EG-VollstrÜbk. 197 Vgl. Art. 67-69 SDÜ.
Vgl. die Präambel des EG-VollstrÜbk. V gl. Art. 3 EG-VollstrÜbk, weIcher drei Fälle regelt. 200 Vgl. Art. 5 EG-VollstrÜbk, weIcher noch weitere Kriterien als Voraussetzungen einer zulässigen Vollstreckungsübertragung aufstellt; vgl. auch den im Wesentlichen mit Art. 5 EG- VollstrÜbk übereinstimmenden § 49 IIRG. 198
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A. Rechtsquellen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen
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effektiven Strafverfolgung zurückgedrängt. Da diese Problematik ebenfalls in Art. 69 SDÜ sowie imZP-ÜberstÜbk des Europarats eine Regelung gefunden hat, stehen für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nunmehr Lösungen aus drei selbständigen völkerrechtlichen Instrumenten unabgestimmt nebeneinander zur Verfügung, so dass zu Recht von dem "derzeit extremsten Fall unakzeptabler Parallelnorrnierung"ZOI gesprochen werden kann. Das Übereinkommen über den Entzug der Fahrerlaubnis vom 17. Juni 1998 (EU-FahrerlaubEntzugÜbk)ZoZ bezweckt, dass Entscheidungen über den Entzug der Fahrerlaubnis nicht nur auf dem Hoheitsgebiet eines einzelnen Mitgliedstaats, sondern unionsweit vollstreckt werden können. Im Wesentlichen geht es in dem Übereinkommen daher um einen Mechanismus, der es gestattet, dass eine Entscheidung über den Entzug der Fahrerlaubnis, die gegen eine Person in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem Wohnsitzstaat verhängt wurde, im Falle der schwereren Verkehrsverstöße in allen Mitgliedstaaten vollzogen werden kann. Die unionsweite Vollstreckbarkeit stellt somit einen beispielhaften Schritt in die Richtung eines durch ein harmonisiertes nationales Strafrecht abgesicherten Gemeinsamen Marktes dar. 203 dd) "Ne-bis-in-idem" -Übereinkommen
Das Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über das Verbot der doppelten Strafverfolgung vom 25. Mai 1987 (EGne-bis-in-idemÜbk)Z04 verfolgt den Zweck, den Grundsatz ne bis in idem auf ausländische Strafurteile zu erstrecken. z05 Gemäß dem EG-ne-bis-in-idemÜbk ist ein Staat grundsätzlich daran gehindert, eine Person erneut strafrechtlich zu verfolgen, die wegen derselben Tat bereits im Ausland abgeurteilt worden ist. Die Sperrwirkung tritt jedoch nur ein, wenn der Angeklagte freigesprochen oder - im Falle einer Verurteilung - die Sanktion vollständig vollstreckt wurde, gerade vollstreckt 201 Schamburg, in: Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, Hauptteil III C, S. 832 Rn. 4. 202 ABI. 1998 Nr. C 216, 1; die Entstehung dieses Übereinkommens ist ebenfalls auf die Vorarbeiten der EPZ-Arbeitsgruppe lustitielle Zusammenarbeit zurückzuführen, vgl. den Erläuternden Bericht zum Übereinkommen, ABI. C 391 vom 15.12.1998, 1. 201 V gl. auch Huf!, EuZW 1999, Editorial Heft 2. 204 In der Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten mit dem Zustimmungsgesetz vom 7.9.1998, BGBI. 199811,2226; vgl. hierzu Lagadn)', in: SchomburglLagodny, Internationale Rechtshilfe, Hauptteil JII D, S. 887 ff.; ausführlich Specht, Die zwischenstaatliche Geltung des Grundsatzes ne bis in idem: zugleich ein Beitrag zur Auslegung des Art. 103 Abs. 3 Grundgesetz, 1998. ,05 Das Verbot der Doppelbestrafung ist zwar bereits durch Art. 103 III GG innerstaatlich geregelt, jedoch findet diese Bestimmung nur Anwendung auf Urteile deutscher Gerichte, vgl. ausführlich BVerfGE 75, 1.
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wird oder nach dem Recht des Urteils staates nicht mehr vollstreckt werden kann. Die Regelungen dieses Übereinkommens entsprechen jedoch weitgehend denen des SDÜ. 206 Nach der Inkraftsetzung des SDÜ für alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union hat das EG-ne-bis-in-idemÜbk daher seine eigenständige Bedeutung verloren.
b) Übereinkommen über die Zusammenarbeit der Polizei- und Zollbehörden Weder das Übereinkommen über die Errichtung eines Europäischen Polizeiamts vom 26. Juli 1995 (EuropoIÜbk)207 noch die dazugehörenden Protokolle 208 enthalten Regelungen bezüglich der Zusammenarbeit von Europol mit den nationalen Justizbehörden. Solche finden sich indes in den Rechtsgrundlagen für die Zusammenarbeit der Zollverwaltungen, insbesondere im Übereinkommen über gegenseitige Amtshilfe und Zusammenarbeit der Zollverwaltungen vom 18. Dezember 1997 (Neapel II_Übk).209 Dieses Übereinkommen verpflichtet die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, einander über ihre Zollverwaltungen gegenseitige Amtshilfe zu leisten und zusammenzuarbeiten, um Zuwiderhandlungen gegen nationale Zollvorschriften zu verhindern und zu ermitteln sowie um Zuwiderhandlungen gegen gemeinschaftliche und nationale Zollvorschriften zu verfolgen und zu ahnden. 2JO Ebenfalls Anwendung findende Rechtsgrundlagen der Rechtshilfe zwischen den Justizbehörden werden davon ausdrücklich nicht berührt. 2J1 Vielmehr schließt dieses Übereinkommen auch die Amtshilfe und Zusammenarbeit im Rahmen von strafrechtlichen Ermittlungen ein und überlässt es der zuständigen Justizbehörde, ob Ersuchen um Amtshilfe oder Zusammenarbeit aufgrund der geltenden Bestimmungen über die Rechtshilfe in Strafsachen oder aufgrund des Neapel II-Übk vorgelegt werden. 212 Das Übereinkommen über den Einsatz der Informations technologie im Zollbereich vom 26. Juli 1995 Vgl. Art. 54-58 SDÜ. ABI. C 316 vom 27.11.1995, 2; hierzu Bruggemann, in: Müller-Graff, Europäische Zusammenarbeit, S. 133 ff.; Di Fabio, DÖV 1997,89 (96 ff.); Gleß/Lüke, Jura 1998,70 (75 ff.); Harings, EuR-Beiheft 2/1998, 81 ff.; Würz, SDÜ, S. 26 ff. 208 Vgl. das Protokoll über die Auslegung des Übereinkommens über die Errichtung eines Europäischen Polizei amts durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im Wege der Vorabentscheidung vom 23. Juli 1996 (Europol-AuslegProtJ, ABI. C 299 vom 9.10.1996, I, sowie das Protokoll über die Europäische Union und von Artikel 41 Absatz 3 des Europol-Übereinkommens über die Vorrechte und Immunitäten für Europol, die Mitglieder der Organe. die stellvertretenden Direktoren und die Bediensteten von Europol vom 19. Juni 1997 (EU-lmmunProt), ABI. C 221 vom 19.7.1997,2. 20Y ABI. C 24 vom 23.1.1998. 2. llO Vgl. Art. 1 I Neapelll-Übk. 211 Vgl. Art. 1 11 Neapelll-Übk. III Vgl. Art. 3 Neapelll-Übk. 206
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(EU-InfoTechÜbk)~13 sowie dessen dazugehörenden Protokolle 214 enthalten indes keinerlei Normen bezüglich der justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen.
c) Deliktsspezifische Übereinkommen zum Schutz der finanziellen Interessen der EU Im Rahmen der intergouvernementalen Zusammenarbeit wurden schließlich verschiedene deliktsspezifische Rechtsinstrumente erarbeitet, die in erster Linie dem Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union vor Bestechung, Korruption und Betrug dienen. Strafrechtliche Mindestnormen sollen eine größere Kompatibilität zwischen den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten sicherstellen, die strafrechtliche Zusammenarbeit intensivieren und damit die Effizienz der Bekämpfung von Straftaten zu Lasten der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften stärken. Hierbei ist anzumerken, dass parallel zu diesen zwischenstaatlichen Vereinbarungen auch im Bereich des ersten Pfeilers der Europäischen Union supranationale Rechtsakte erlassen wurden, die dem gleichen Ziel dienen. 215 Da jedoch nach (noch) vorherrschender Auffassung die Europäische Union keine supranationalen Kompetenzen zum Erlass von Regelungen auf dem Gebiet des materiellen und prozessualen Strafrechts hat,"16 ein effektiver Schutz der finanziellen Interessen indes auch der Mittel des Strafrechts bedarf, wurden diese strafrechtlich relevanten Regelungen im Bereich der dritten Säule erlassen. 217 Diese Zweigleisigkeit der Verpflichtungen ist jedoch mit dem Arnsterdamer Vertrag abgeschafft worden. Der Bereich der Betrugsbekämpfung nach Art. K.l Nr. 5 ABI. C 316 vom 27.11.1995,34. Protokoll betreffend den Anwendungsbereich des Waschens von Erträgen in dem Übereinkommen über den Einsatz der Informationstechnologie im Zollbereich sowie die Aufnahme des amtlichen Kennzeichens des Transportmittels in das Übereinkommen vom 12. März 1999 (EU-InfoTech-AnwendProt), ABI. C 91 vom 31.3.1999,2, sowie das Protokoll betreffend die Auslegung des Übereinkommens über Einsatz der Informationstechnologie im Zollbereich durch den Gerichtshof der Europaeischen Gemeinschaften im Wege der Vorabentscheidung vom 29. November 1996 (EU-InfoTech-AuslegProt), ABI. C 151 vom 20.5.1997,16. 115 Als Rechtgrundlagen für den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften sind der eigens mit dem Maastrichter Vertrag eingeführte Art. 209 lit. a) EGV a. F. (Art. 280 EGV n. F.) im Bereich des supranationalen Rechts und Art. K.l Nr. 5 i. v. M. Art. K.3 I EUV a. F. im Bereich der intergouvernementalen Zusammenarbeit zu nennen. Beide Vorschriften verpflichten die Mitgliedstaaten zur Zusammenarbeit bei der Bekämpfung internationaler Betrügereien zum Nachteil der finanziellen Interessen der EG, so dass es theoretisch zu Überschneidungen zwischen erster und dritter Säule kommen kann. 216 Siehe hierzu bereits oben,!. Kapitel, S. 91 ff. l17 Dies ist auch auf die grundsätzliche Zurückhaltung der Mitgliedstaaten gegenüber gemeinschaftsrechtlicher Kontrolle ihrer Politik im Bereich des Strafrechts und der inneren Sicherheit zurückführen, vgl. nur Andersonlden BoerICullen/Gilmore/Raab, Policing the EU, S. 198; DomlWhite, Legal issues of european integration 24 (1997), 79 (87). 11)
114
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Teil 1,2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
EUV a. F. ist vergemeinschaftet worden und findet sich nunmehr im neuen Art. 280 EGV wieder. Mangels ausreichender Ratifikation ist derzeit noch keines der nachfolgenden Übereinkommen in Kraft getreten, so dass sich die Frage stellt, ob der mit dem Arnsterdamer Vertrag neuformulierte Art. 280 EGV den Organen der EG nicht die Möglichkeit einer Parallelnormierung im Bereich des supranationalen Gemeinschaftsrechts gibt. 218 Diese vier deliktsspezifischen Übereinkommen erlangen ihre besondere Bedeutung für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen dadurch, dass sie auch Kooperationsmechanismen auf vertikaler Ebene, das heißt zwischen den Mitgliedstaaten und den supranationalen Organen der Europäischen Gemeinschaften regeln und anstreben. Dies beinhaltet eine umfangreiche informelle Zusammenarbeit auch zugunsten nationaler Strafverfolgungsmaßnahmen, die letztlich in engem Zusammenhang mit der supranationalen Betrugsbekämpfung durch die Kommission bzw. dem Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) stehen. 219 Bei den sowohl im Bereich des intergouvernementalen wie auch des supranationalen Pfeilers erlassenen Rechtsakten handelt es sich um den Vorläufer eines Europäischen Strafrechts, dessen Fortentwicklung sich bereits in zahlreichen Modellprojekten und Forschungsstudien, insbesondere der so genannten Corpus-juris-Studie 220 abzeichnet. Als erste Regelung wurde von den Vertretern der Mitgliedstaaten das Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vom 26. Juli 1995 (EU-BetrugsÜbk) unterzeichnet. 221 Dieses hat zum Ziel, insbesondere betrügerische Handlungen zu Lasten der Haushalte der EG wirkungsvoller zu bekämpfen, da ihr Umfang besorgniserregende Ausmaße angenommen hat. Daher verpflichtet es die Mitgliedstaaten, ausdrücklich definierte betrügerische Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der EG zu einem eigenen Straftatbestand zu erheben. 222 Des Weiteren haben sie einen Strafrahmen zu setzen, der auch die Freiheitsstrafe umfasst und in schweren Fällen zur Auslieferung führen kann. 223 Auch die Auslieferung von eigenen Staatsangehöri218 Dieser Frage kann sich indes in der vorliegenden Untersuchung nicht gewidmet werden, insoweit sei auch auf die Dissertation von lokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren - Die Überlagerung des deutschen Strafprozessrechts durch das Europäische Gemeinschaftsrecht, 2000, verwiesen. 219 Zur europäischen Amts- und Rechtshilfe im Rahmen der Betrugsbekämpfung Sieber, ZRP 2000, 186 ff. m. w. N. 220 Hierzu bereits die zahlreichen Nachweise oben 1. Kapitel, S. 97 f. 221 ABI. C 316 vom 27. 11.95,49, in der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert mit dem Zustimmungsgesetz vom 10.9.1998, BGBI. 1998 H, 2322; vgl. hierzu den Erläuternden Bericht, ABI. C 191 vom 23.6.1997, 3; DornIWhite, Legal issues of european integration 24 (1997), 79 (910; wgodny, in: Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, Hauptteil III D, S. 857 ff.; zur Umsetzung der Übereinkommens bedufte es zugleich einer Anpassung des § 264 StGB über den Subventions betrug. 222 Vgl. Art. I EU-BetrugsÜbk. 223 Vgl. Art. 2 EU-BetrugsÜbk.
A. Rechtsquellen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen
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gen erhebt das EU-BetrugsÜbk zur Pflicht, die jedoch durch die Übernahme der Strafverfolgung durch die eigenen Justizbehörden abgewehrt werden kann. 224 Schließlich werden in dem Übereinkommen der Grundsatz einer verstärkten justitieHen Zusammenarbeit hervorgehoben 225 und Regelungen zum Verbot der Doppelbestrafung integriert. 226 Um Streitigkeiten über die Auslegung und die Anwendung dieses Übereinkommens zwischen einem oder mehreren Mitgliedstaaten und der Konunission beizulegen, sieht das Übereinkommen eine Zuständigkeit des EuGH vor. 227 Das Protokoll zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vom 27. September 1996 (EU-BestechungsProt)228 ergänzt das vorstehend beschriebene Übereinkommen, indem es sich der verstärkten Bekämpfung der Bestechung und der Bestechlichkeit von Gemeinschaftsbeamten und Amtsträgern der Mitgliedstaaten der EU widmet. 229 So verpflichtet es die Mitgliedstaaten zur Bestrafung der Bestechlichkeit und Bestechung230 sowie zur Begründung von Strafgewalt für Auslandsstraftaten. 231 Auch dieses Übereinkommen begründet bei Streitigkeiten zwischen einem oder mehreren Mitgliedstaaten und der Konunission eine Zuständigkeit des EuGH. 232 Im Gegensatz zum EUBetrugsÜbk enthält es keinerlei rechthilferechtliche Vorschriften. Während das EU-BestechungsProt die Mitgliedstaaten verpflichtet, wirksame Maßnahmen zur Bestrafung von Bestechungen, an denen Amtsträger der Europäischen Gemeinschaften beteiligt sind und die im Zusammenhang mit den finanziellen Interessen der Gemeinschaften stehen, zu ergreifen, dehnt das Übereinkommen
über die Bekämpfung der Bestechung, an der Beamte der Europäischen Gemeinschaften oder der Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligt sind vom
12~ V gl. Art. 5 EU-BetrugsÜbk, der darüber hinaus auch Bezug nimmt auf das EuAlÜbk sowie die Auslieferung auch für fiskalische Delikte vorsieht. m Vgl. Art. 6 EU-BetrugsÜbk. 226 Vgl. Art. 7 EU-BetrugsÜbk. 22J Vgl. Art. 8 EU-BetrugsÜbk; die Zuständigkeit des EuGH begrenzt sich gemäß Absatz 2 jedoch auf Streitigkeiten über die Auslegung und Anwendung der Art. I und 10 EUBetrugsÜbk. 128 ABI. C 313 vom 23.10.96, 2; in der Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten mit dem Zustimmungsgesetz vom 10.9.1998 (EU-BestechungsG), BGBI. 1998 H, 2340; hierzu Lagodny, in: SchomburglLagodny, Internationale Rechtshilfe, Hauptteil III D, S. 887 ff.; gleichzeitig mit dem EU-BestechProt ratifizierte die Bundesrepublik Deutschland das OECD-Übereinkommen über die Bestechung internationaler Amtsträger, siehe oben 2. Kapitel, S. 138. 229 In Umsetzung des Protokolls wurden insbesondere der Anwendungsbereich der §§ 332 und 334 StGB ausgedehnt. 2)0 Vgl. Art. 2 und 3 EU-BestechProt. 2)1 Vgl. Art. 6 EU-BestechProt. 232 Vgl. Art. 8 EU-BestechProt sowie die entsprechenden Erklärungen der einzelnen Mitgliedstaaten.
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Teil 1, 2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
26. Mai 1997 (EU -Bestechungs Übk)233 diese Verpflichtung auf alle Tätigkeitsbe-
reiche der Beamten aus. Damit soll eine wichtige Lücke bei der Bekämpfung der Korruption mit grenzüberschreitenden Merkmalen geschlossen werden,234 die dadurch entstanden war, dass das nationale Strafrecht der Mitgliedstaaten regelmäßig keine Strafbarkeit des Tatbestands der Bestechung von Hoheitsträgern anderer Staaten oder internationaler Organisationen vorsah. 235 Die im EU-Bestechungs Übk enthaltenen Regelungen über die Auslieferung und die Verfolgungs übernahme entsprechen weitgehend denen des EU-BetrugsÜbk. 236 Einen Monat später wurde das Zweite Protokoll zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vom 19. Juni 1997 (EU-GeldwäscheProt)237 unterzeichnet. Primäres Ziel des EU-GeldwäscheProt ist die Ausdehnung der durch das EU-BetrugsÜbk und das EU-BestechungsProt eingeführten Straftatbestände auch auf juristische Personen sowie eine Erweiterung der Strafbarkeit für Geldwäsche. So sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, innerstaatlich Rechtsvorschriften zu schaffen, wonach juristische Personen für Betrug, Bestechung und Geldwäsche, die zu ihren Gunsten begangen werden, zu haften haben. 238 d) Intergouvernementale Rechtsakte im Rahmen des dritten Pfeilers Eine neue Form der "Rechtssetzung" im Bereich der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union stellen die intergouvernementalen Rechtsakte im Rahmen der polizeilichen und justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen dar. Wie bereits dargestellt kann der Rat der Europäischen Union hier nicht nur Übereinkommen erarbeiten, sondern auch Rahmenbeschlüsse,239 einfache Beschlüsse und gemeinsame Standpunkte erlassen. Aufgrund der Vielzahl der in dieser Form erlassenen Rechtsakte kann in der vorliegenden Untersuchung keine nähere Darstellung der Regelungsinhalte vorgenommen werden. Jedoch sollen die erlassenen Rechtsakte jedenfalls namentlich vorgestellt und entsprechend ihres Regelungszieles systematisiert werden. Sofern Rechtsakte in besonderem Zusammenhang zu dem Menschenrechtsschutz bei der
233
ABI. C 195 vom 25.6.1997, 2.
234
Vgl. den Erläuternden Bericht zu dem EU-BestechÜbk, ABl. C 391 vom 15.12.1998, I.
235 Art. 2 und 3 EU-BestechProt begrenzen die Strafbarkeit von Bestechungshandlungen auf den Bereich der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften. 236 Vgl. 8 EU-BestechÜbk und Art. 5 EU-BetrugsÜbk, das Gleiche gilt für die Art. 9,10 und 11 EU-BestechÜbk. 237 ABI. C 221 vom 19.7.1997,12. 238 Vgl. Art. 3 EU-GeldwProt.
239 Ehemals "Gemeinsame Maßnahmen".
A. Rechtsquellen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen
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grenzüberschreitenden Zusammenarbeit stehen, sei eine nähere Betrachtung erlaubt. Aus dem Bereich der justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen besonders hervorzuheben sind die gemeinsamen Maßnahmen betreffend den Rahmen für den Austausch von Verbindungsrichternl-staatsanwälten zur Verbesserung der justitiellen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, 240 betreffend einen gemeinsamen Orientierungsrahmen für die Initiative der Mitgliedstaaten in Bezug auf Verbindungsbeamte, 241 über die Anwendung bewährter Methoden bei der Rechtshilfe in Strafsachen242 sowie zur Einrichtung des Europäischen Justitiellen Netzes (EJN).243 Des Weiteren hat der Rat Entschließungen über Personen, die im Rahmen der Bekämpfung der internationalen organisierten Kriminalität mit den Justizbehörden zusammenarbeiten244 sowie über die rechtmäßige Überwachung des Fernmeldeverkehrs245 erlassen. Die Zusammenarbeit der Polizeibehörden war vergleichsweise selten Gegenstand von Sekundärrechtsakten; hier sind allein die bei den gemeinsamen Maßnahmen bezüglich der Europol-Drogenstelle246 und der Zusammenarbeit im Bereich der öffentlichen Ordnung und Sicherheie47 sowie die Entschließung des Rates über Vereinbarungen zwischen den Polizei- und den Zollbehörden bei der Drogenbekämpfung248 hervorzuheben. Die Zusammenarbeit der Zollbehörden hat durch die gemeinsame Maßnahme zum Transit auf Flughäfen 249 und zur Zusammenarbeit zwischen Zoll und Wirtschaft bei der Bekämpfung des illegalen Drogenhandels 250 eine weitere sekundärrechtliche Regelung erhalten. Von besonderer Bedeutung für die Koordinierung der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei der Strafverfolgung sind die deliktsspezifischen Maßnahmen, die zum Teil der Verbesserung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und zum Teil der Rechtsangleichung in den Mitgliedstaaten dienen. Hervorzuheben sind hier die gemeinsamen Maßnahmen zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit,251 zur Angleichung der Rechtsvorschriften und der Verfah240
Gemeinsame Maßnahme vom 22.4.1996, ABI. L 105 vom 27.04.1996, I.
241 Gemeinsame Maßnahme vom 14.10.1996, ABI. L 268 vom 19.10.1996,2. Gemeinsame Maßnahme vom 29.6.1998, ABI. L 191 vom 7.7.1998, l. Gemeinsame Maßnahme vom 29.6.1998, ABI. L 191 vom 7.7.1998,4. 244 Entschließung des Rates vom 20.12.1996, ABI. C 10 vom 11.1.1997, 1. 245 Entschließung des Rates vom 17.1.1995, ABI. C 329 vom 4.11.1996, l. 246 Gemeinsame Maßnahme vom 10.3.1995, ABI. L 62 vom 20.3.1995,1, L 342 vom 31.12.1996, 4. 247 Gemeinsame Maßnahme vom 26.51997, ABI. L 147 vom 5.6.1997,1 248 Entschließung vom 29.11.1996, ABI. C 375 vom 12.12.1996, l. 249 Gemeinsame Maßnahme vom 4.3.1996, ABI. L 063 vom 13.3.1996, 8. 250 Gemeinsame Maßnahme vom 29.11.1996, ABI. L 322 vom 12.12.1996,3. 251 Gemeinsame Maßnahme vom 15.7.1996, ABI. L 185 vom 24.7.1996, 5. 242 243
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Teil 1,2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
ren der Mitgliedstaaten der Europäischen Union zur Bekämpfung der Drogenabhängigkeit und zur Verhütung und Bekämpfung des illegalen Drogenhandels, 252 zur Bekämpfung des Menschenhandels und der sexuellen Ausbeutung von Kindern, m betreffend der Geldwäsche, die Ermittlung, das Einfrieren, die Beschlagnahme und die Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten,254 der Strafbarkeit der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union 255 und der Bestechung im privaten Sektor. 256 Des Weiteren sind die Entschließung des Rates über die Ahndung von schweren Straftaten im Bereich des unerlaubten Drogenhandels 257 sowie der erste und der zweite gemeinsame Standpunkt zu den Verhandlungen im Europarat und in der OECD über die Bekämpfung der Korruption hervorzuheben. 258 Schließlich sind eine Reihe von Rechtsakten im Rahmen des dritten Pfeilers zu nennen, die insbesondere dem Informationsaustausch und dem Einrichten von Datenbanken zur allgemeinen Verbesserung und Erleichterung der grenzüberschreitenden Strafverfolgung in den Mitgliedstaaten dienen, wie die gemeinsame Maßnahme zur Erstellung und Führung eines Verzeichnisses der besonderen Fähigkeiten und Fachkenntnisse auf dem Gebiet der Terrorismusbekämpfung,259 zur Erstellung und Führung eines Verzeichnisses der besonderen Fähigkeiten und Fachkenntnisse auf dem Gebiet der Bekämpfung der internationalen organisierten Kriminalität,260 zum Austausch von Informationen über die Erstellung chemischer Profile von Drogen im Hinblick auf die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung des illegalen Drogenhandels,261 zum Informationsaustausch, zur Risikobewertung und Kontrolle bei neuen synthetischen Drogen,262 zur Präzisierung der Kriterien für gezielte Kontrollen, Selektionsmethoden usw. und die Optimierung der Erfassung von polizeilichen und zollbehördlichen Informationen,263 zur Schaffung eines Mechanismus für die Begutachtung der einzelstaatlichen Anwendung und Umsetzung der zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität eingegangenen internationalen Ver252 Gemeinsame Maßnahme vom 17.12.1996, ABI. L 342 vom 31.12.1996, 6. m Gemeinsame Maßnahme vom 24.2.1997, ABI. L 063 vom 4.3.1997,2.
254 Gemeinsame Maßnahme vom 3.12.1998, ABI. L 333 vom 9.12.1998,1. 255 Gemeinsame Maßnahme vom 21.12.1998, ABI. L 351 vom 29.12.1998, 1. 256 Gemeinsame Maßnahme vom 22.12.1998, ABI. L 358 vom 31.12.1998,2 257 Entschließung des Rates vom 20.12.1996, ABI. C 010 vom 11.1.1997, 3. 258 Gemeinsame Standpunkte vom 6.10.1997 und vom 13.11.1997, ABI. L 279 vom
13.10.1997, I,L320vom21.11.1997, 1. 259 Gemeinsame Maßnahme vom 15.10.1996, ABI. L 273 vom 25.10.1996, I. 260 Gemeinsame Maßnahme vom 29.11.1996, ABI. L 342 31.12.1996, 2. 261 Gemeinsame Maßnahme vom 29.11.1996, ABI. L 322 vom 12.12.1996, 5. 262 Gemeinsame Maßnahme vom 16.6.1997, ABI. L 167 vom 25.6.1997,1. 263 Gemeinsame Maßnahme vom 9.6.1997, ABI. L 159 vom 17.6.1997, 1.
A. Rechtsquellen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen
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pflichtungen 264 und zur Errichtung eines Europäischen Bildspeicherungssystems (FADO).265
e) Supranationale Rechtsakte im Rahmen des ersten Pfeilers der EG Bereits in früheren Verordnungen hatten die Gemeinschaftsorgane versucht, die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten insbesondere in Form eines regelmäßigen Informationsaustauschs und gegenseitiger Amts- und Rechtshilfe zu forcieren. 266 Auch Art. 209 lit. a) 11 EGV a. F. stellte die konstitutive Verpflichtung der Mitgliedstaateri zur engen und regelmäßigen Zusammenarbeit in den Bereichen der Betrugsbekämpfung auf. Inhaltlich bezieht sich diese Zusammenarbeit auf Fragen der Amts- und Rechtshilfe. 267 Das Primärrecht hat damit eine allgemeine Rechtsgrundlage für die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit im Bereich der Betrugsbekämpfung erhalten. 268 In Art. 280 IV EUV wird den Gemeinschaftsorganen die Kompetenz eingeräumt, die erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft richten, zu beschließen, so dass sie sich für solche Maßnahmen nicht mehr auf Art. 235 EUV a. F. stützen müssen. Art. 280 EGV erweitert schließlich die Verpflichtung zur Betrugsbekämpfung auch auf sonstige rechtswidrige Handlungen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft richten.
aa) Kontrollverordnungen im Bereich des Agrar- und des Wettbewerbsrechts Die Bemühungen um einen grenzübergreifend gleichmäßigen Schutz von Interessen der Gemeinschaft haben bereits in den 80er Jahren zu sektoralen Regelungen zum Schutz vor Unregelmäßigkeiten im Bereich der Landwirtschaft geführt. 269 In den folgenden Jahren versuchte die Kommission einerseits durch Richtlinien die Mitgliedstaaten zum Erlass und zur konsequenten Anwendung von nationalen
Gemeinsame Maßnahme vom 5.12.1997, ABI. L 344 vom 15.12.1997, 7. Gemeinsame Maßnahme vom 3.12.1998 ABI. L 333 vom 9.12.1998, 4. 266 Vgl. Verordnung des Rates Nr. 288/72, ABI. L 36 (1972), 11, sowie Nr. 1466/81, ABI. L 180 (1981), 11; siehe auch Mennens, in: Delmas-Marty, Criminal Policy, S. 127 (142); Fourgoux, in: Delmas-Marty, Criminal Policy, S. 145 (148). 267 Dazu ausführlich Prieß, EuR 1991, 342 ff. 268 Prieß, in: GroebenfThiesing/Ehlermann, EU-lEG-Vertrag, Bd. 4, Rn. 74 ff. zu Art. 209 lit. a) EUV a. F. 269 Siehe DornlWhite, Legal issues of european integration 24 (1997), 79 (83); Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 3 f.; Pache, Finanzielle Interessen der EG, S. 23; WolffganglUlrich, EuR 1998,616 (629 ff.). 264 265
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Teil 1,2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
Sanktionsnormen ZU verpflichten 270 und andererseits durch Verordnungen Sanktionen für bestimmte betrügerische Verhaltensweisen vorzusehen und zu verhängen. m Hier kann zwischen Sanktionen, die finanzielle Einbußen bewirken und solchen, die einen Rechtsverlust zum Gegenstand haben, differenziert werden. 272 So wurden Verwaltungssanktionen eingeführt, die die Kommission mit der Kompetenz zum Erlass von Bußgeldern ausstatteten. Diese Bußgelder sollten zwar nicht die innerstaatliche Strafverfolgung ersetzen, aber unabhängig davon ein Minimum an Sanktionen schaffen. 273
bb) Kontroll- und Sanktionsverordnung zum Schutz der finanziellen Interessen Zur Unterstützung des speziell für den Bereich der Betrugsbekämpfung274 geschaffenen Art. 209 lit. a) EGV a. F. 275 wurde 1995 die Verordnung EG/ Euratom Nr. 2988/95 zum Schutz der finanziellen In:eressen der Gemeinschaft (Sanktionsverordnung)276 erlassen. Sie stellt eine allgemeine Rahmenregelung für Sanktions- und Kontrollmaßnahmen der Mitgliedstaaten dar und findet horizontal, das heißt quer durch alle Marktordnungen und sonstigen finanzrelevanten Bereiche des Gemeinschaftsrechts, Anwendung. 277 Die Sanktionsverordnung ermächtigt die Kommission, verwaltungsstrafrechtliche Maßnahmen 278 und Sanktionen 279 zur Bekämpfung von Unregelmäßigkeiten in den Mitglied270 Als Rechtsgrundlage kamen Art. 100, 100 lit. a) EGV a. F. in Betracht, hierzu eingehend Sevenster, CMLRev. 29 (1992), 29 (64 ff.). 271 Für den Agrarbereich ergibt sich die Befugnis der Gemeinschaft zur Einführung von verwaltungsrechtlichen Sanktionen aus Art. 40 III, 4311 EGV a. F. Bei solchen supranationalen Sanktionen des Sekundärrechts handelt es sich nicht etwa um Kriminalstrafen, sondern um verwaltungsstrafrechtliche Maßnahmen. Um das deutlich zu machen, sehen die einschlägigen EG-Verordnungen ausdrücklich vor, dass die Sanktionen "Entscheidungen nicht strafrechtlicher Art" sind, dazu Sieber, ZStW 103 (1991),957 (966 ff.); Wolffgallgl Ulrich, EuR 1998,616 (628). 272 Ausführlich Dannecker, in: Eser/Huber, Strafrechtsentwicklung, Bd. 4 III, S. 43 ff. 273 Dorn/White, Legal issues of european integration 24 (1997), 79 (83). 274 Zum Begriff WolffganglUlrich, EuR 1998,616 (627). 275 Vgl. auch Art. 183 lit. a) EAGV sowie Art. 78 lit. i) EGKSV. 276 Verordnung EGIEURATOM Nr. 2988/95 des Rates vom 18.12.1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, ABI. 1995 Nr. L 312, I. 271 WolffganglUlrich, EuR 1998,616 (633 f.). 278 Maßnahmen gemäß Art. 4 VO sind der Entzug des rechtswidrig erlangten Vorteils und die Rückziehung des rechtswidrig erlangten Betrages. 279 Sanktionen gemäß Art. 5 VO sind die Zahlung einer Geldbuße oder eines sonstigen, festzulegenden Betrages, die den rechtswidrig erlangten Vorteil übersteigen, der Ausschluss auch für die Zukunft von der Gewährung von Vorteilen, der vorübergehende Entzug einer Genehmigung und Anerkennung sowie weitere ausschließlich wirtschaftliche Sanktionen.
A. Rechtsquellen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen
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staaten zu ergreifen. 280 Gemäß dem Grundsatz des indirekten Vollzugs oblag es jedoch auch weiterhin den Mitgliedstaaten selbst, die entsprechenden innerstaatlichen Kontrollen durchzuführen. 281 Da gerade der Vollzug von den Mitgliedstaaten nicht oder in nicht ausreichender Weise vorgenommen wurde, reagierte die Gemeinschaft bereits ein Jahr später auf das festzustellende Verzugsdefizit und erließ die Verordnung EG/EuratomNr. 2185/96 über die Kontrollen und Überprüfungen vor Ort durch die Kommission (Kontrollverordnung). Durch die Kontrollverordnung wurde nunmehr auch die Kommission ennächtigt, Kontrollen und Untersuchungen (in Kooperation mit den nationalen Ermittlungsbehörden) bei den Wirtschaftsteilnehmern vor Ort durchzuführen, um die Ermittlung und Aufdeckung von Unregelmäßigkeiten in den Mitgliedstaaten zu forcieren. 282 Damit wurden die Organe der EG erstmals ennächtigt, selbständig bzw. in Zusammenarbeit mit nationalen Ermittlungsbehörden verwaltungsstrafrechtliche Ermittlungen auch unmittelbar in den Mitgliedstaaten durchzuführen. Die Sanktionsverordnung stellt somit nicht nur eine sekundärrechtliche Grundlage für die Zusammenarbeit zwischen nationalen Ermittlungsbehörden und supranationalen Organen dar, sondern auch eine Ennächtigung für hoheitliches Tätigwerden supranationaler Organe jedenfalls in Fonn verwaltungsrechtlicher Ermittlungen und möglicherweise auch in Fonn strafrechtlicher Ermittlungen in den Mitgliedstaaten. m Bereits in früheren Verordnungen hatten die Gemeinschaftsorgane versucht, die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten insbesondere in Fonn eines regelmäßigen Infonnationsaustauschs und gegenseitiger Amts- und Rechtshilfe zu forcieren. 2R4 Auch Art. 209lit. a) 11 EGV a. F. stellte die konstitutive Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur engen und regelmäßigen Zusammenarbeit in den Bereichen der Betrugsbekämpfung auf. Inhaltlich bezieht sich diese Zusammenarbeit auf Fragen der Amts- und Rechtshilfe. 2K5 Das Primärrecht hat damit eine allgemeine Rechtsgrundlage für die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit im Bereich der Betrugsbekämpfung erhalten. 2Hfi 2g" Die Kompetenz zur Schaffung (verwaltungs)strafrechtlicher Sanktionsnormen wurde bis zum Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages zum Teil aus Art. 100 lit. a) und 235 bzw. aus Art. 209 lit. a) EGV a. F. abgeleitet, vgl. DornIWhite, Legal issues of european integration 24 (1997), 79 (84 ff.); Lusignano, Journal des Tribunaux Europeen 1996, 73 (78); WoljfganglU/rich, EuR 1998,616 (628). 2Hl Vgl. Art. 8 VO.
m Hierzu WoljfganglUlrich, EuR 1998,616 (636 ff.). m Siehe Ne//es, ZStW 109 (1997),727 (744); WoljfganglUlrich, EuR 1998,616 (636). 2M V gl. Verordnung des Rates Nr. 288/72, ABI. 1972 Nr. L 36, S. 11, sowie Nr. 14661 81, ABI. Nr. L 180, S. 11; siehe auch Fourgoux, in: Delmas-Marty, Criminal Policy, S. 145 (148); Mennens, in: Delmas-Marty, Criminal Policy, S. 127 (142). m Dazu ausführlich Prieß, EuR 1991, 342 ff. 2Kh Prieß, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann, EU-lEG-Vertrag, Bd. 4, Rn. 74 ff. zu Art. 209 lit. a) EUV a. F.
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Teil I, 2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
cc) Verordnung über die Errichtung eines Amts für Betrugsbekämpfung Mit den Verordnungen EG/Euratom Nr. 1073/1999 und 1074/1999 für die Untersuchungen des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung vom 25. Mai 1999 (OLAF-VO)287 wurden die gemeinschaftsrechtlichen Grundlagen für die Tätigkeit des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) geschaffen. 288 Diese ermächtigen OLAF nicht nur zu internen administrativen Untersuchungen, sondern auch zu externen Kontrollen und Überprüfungen in den Mitgliedstaaten, um schwerwiegende oder grenzüberschreitende Unregelmäßigkeiten, an denen in mehreren Mitgliedstaaten handelnde Wirtschaftsteilnehmer beteiligt sein könnten, aufzudecken. 289 Die Kontrollen und Überprüfungen vor Ort werden von OLAF vorbereitet und durchgeführt, wobei sie hierfür mit den nationalen Behörden kooperieren können. Den tätig werdenden Kontrolleuren von OLAF ist hierbei von den Wirtschafts teilnehmern der Zugang zu den Räumlichkeiten, Grundstücken und sonstigen gewerblich genutzten Örtlichkeiten zu ermöglichen, ebenso wie er nationalen Behörden zustehen würde. 290 Zwar haben sie das Recht, alle "zweckdienlichen" Unterlagen zu fotokopieren, jedoch besitzt OLAF keine eigenständigen Zwangs befugnisse. Die nationalen Polizei- und Justizbehörden sind jedoch verpflichtet, den Bediensteten von OLAF bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben die erforderliche umfassende Unterstützung zukommen zu lassen. 291 Die Einleitung externer Untersuchung wird entweder vom Direktor des Amtes aus eigener Initiative oder auf Ersuchen eines betroffenen Mitgliedstaates beschlossen. 292 Die von der OLAF anzufertigenden Berichte über die Untersuchungsergebnisse nach externen Untersuchungen sind in jedem Fall an die (betroffenen) nationalen Justizbehörden weiterzuleiten; sie stellen Beweismittel dar, die in den Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren der Mitgliedstaaten, in dem sich ihre Verwendung erforderlich erweist, zulässig sind. 293 Daher wurden auf Drängen verschiedener Mitgliedstaaten eine Reihe von Kontrollmechanismen 294 und umfangreiche Bestimmungen zum Datenschutz und zur Sicherung der Freiheitsrechte der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer in die Verordnung mit aufgenommen. 295 Darüber hinaus sind die Kontrolleure von OLAF beim Tätigwerden vor Ort an die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten 296 sowie in vollem Umfang an die Menschenrechte und GrundABI. L 136 vom 31.5.1999. Siehe bereits oben 1. Kapitel, S. 100 f. 289 V gI. Art. I ff. OLAF-VO. 290 V gI. Art. 3 I OLAF-VO i. V. m. Art. 5 und 7 Kontrollverordnung. 291 Art. 6 VI OLAF-VO. 292 Art. 5 OLAF-VO. 29J V gI. Art. 9 11, I\I und 10 OLAF-VO. 294 Zur institutionellen Kontrolle von OLAF siehe GIeß. EuZW 1999.618 (620). m VgI. Art. 6, 814 OLAF-VO. 29h V gI. Art. 3 I OLAF-VO i. V. m. Art. 6 Kontrollverordnung. 287 288
A. Rechtsquellen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen
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freiheiten 297 gebunden. Hierdurch und durch die subsidiäre Geltung des nationalen Rechts dürfte eine umfassende Wahrung der Rechte der von den Untersuchungen betroffenen Personen weitgehend sichergestellt sein. 298 Während der Rechtsschutz gegenüber internen Untersuchungen der OLAF ausdrücklich geregelt ist und eine Beschwerde beim Direktor gemäß Art. 90 11 Beamtenstatut und nach abgeschlossenem Beschwerdeverfahren die Klage vor dem EuGH gemäß Art. 91 des Statuts beinhaltet,299 ist der Rechtsschutz gegenüber den externen Untersuchungen indes nicht geregelt. Unmittelbarer Rechtsschutz durch die nationalen Gerichte dürfte ausgeschlossen sein, da die Europäischen Gemeinschaften und ihre Bediensteten gemäß Art. 12 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschajten 300 Immunität vor den Gerichten der Mitgliedstaaten genießen. 301 Möglicherweise könnten die innerstaatlichen Gerichte durch die Verweigerung der Anerkennung der von OLAF gewonnenen Erkenntnisse als Beweismittel mittelbaren Rechtsschutz gewähren,302 wobei sie sich damit in Widerspruch zur entgegenstehenden Regelung des Art. 9 11 2 OLAF-VO begeben. Hier sind die rechts setzenden Organe der EG aufgerufen, eine entsprechende Regelung zu normieren.
3. Regelungen im Rahmen des Schengen- Verbunds Für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen war vor allem das Schengener Übereinkommen betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 19. Juni 1990 (SDÜ)303 aufgrund seiner Neuerungen im Bereich der polizeilichen Zusammenarbeit sowie der Einrichtung des Schengener Informationssystems (SIS) von erheblicher Bedeutung. 304 Kernstück des gesamten SDÜ war der Abbau der Binnengrenzen zur vollständigen Verwirklichung der Freiheit des Personenverkehrs zwischen den Vertragsstaaten. 30S Um Ausführlich Erwägung 10 OLAF-VO. m Kritisch jedoch Gieß, EuZW 1999,618 (620 f.). m Vgl. Art. 14 OLAF-VO. lCt) ABI. L 152 vom 13.7.1967, 13.
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)01 Zur Möglichkeit, die Immunität aufheben zu lassen siehe Henrichs, EuR 1987, 75 (89); vgl. auch Art. 6 Anhang OLAF-VO. 302 So Gieß, EuZW 1999,618 (621). 10) BGBI. 1993 11, 1010, 1902; 1994 11, 631; 1996 11, 242, 2542; 1997 11, 966; hierzu ausführlich Schomburg, in: SchomburgiLagodny, Internationale Rechtshilfe, Hauptteil IV , S. 911 ff. mit Verweisen auf die umfangreiche Literatur zu diesem Übereinkommen. )04 Viele der im Übrigen geregelten Bereiche waren bereits Gegenstand bestehender biund multilateraler Übereinkommen. lOS Gemäß Art. 2 I SDÜ dürfen die Binnengrenzen seit Inkrafttreten des SDÜ an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden. Im Gegensatz dazu war Unionsbürgern gemäß Art. 18 EGV die Freizügigkeit innerhalb der Mitgliedstaaten nur unter be-
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Teil 1, 2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
den als Folge des Abbaus der Grenzkontrollen wirklichen oder vermeintlichen Sicherheitsverlust zu kompensieren, enthält das SDÜ eine Vielzahl von Ausgleichsmaßnahmen. 306 Die Art. 3-8 SDÜ treffen Regelungen, wie Sicherheitskontrollen von den Binnengrenzen an die Außengrenzen verlagert und die Kontrollen harmonisiert werden können. 307 Der für die vorliegende Arbeit wichtigere Titel III SDÜ Polizei und Sicherheit regelt die polizeiliche Zusammenarbeit zur vorbeugenden Bekämpfung und der Aufklärung von strafbaren Handiungen 308 zusätzlich besonderer Spezialkapite1. 309 Erstmalig wurde in dem Übereinkommen eine völkerrechtliche Pflicht zur Leistung von polizeilicher Rechts- und Amtshilfe im präventiven Bereich aufgenommen. 3lO Auch die Ermöglichung grenzüberschreitender Observation und Nacheile im repressiven Bereich311 stellt ebenso wie die Ermöglichung von direkten Kontakten zwischen den Polizeidienststellen312 ein Novum der internationalen Zusammenarbeit der Polizeibehörden dar. 3I3 In den Art. 48-69 SDÜ des dritten Titels finden sich zum anderen auch Regelungen zur justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen. 314 Sie sollen die direkten Kontakte und die Zusammenarbeit zwischen den lustizbehörden der Vertrags staaten erleichtern und stimmten Vorbehalten gewährt, dazu Schütz, AöR 120 (1995), 509 ff.; vg\. auch Würz, SDÜ, S. 39 ff. Inzwischen bestehen die Unterschiede zwischen Schengen-Reisenden und den Unionsbürgern nicht mehr. 306 Namentlich zum Schutz der Außengrenzen (Titel 11 SDÜ), zur Erleichterung der polizeilichen und justitiellen Zusammenarbeit (Titel III SDÜ) und zur Ermöglichung einer zentralen Personen- und Objektdatensammlung durch die Einrichtung eines zentralen Informationssystems (Titel IV SDÜ). 307 Zu weiteren Einzelheiten siehe Nanz, ZAR 1994,99 ff.; Harings, GrenzüberschreitendeZusammenarbeit, S. 65 f.; Hailbronner, ZAR 1995, 3 ff.; Widholm, Zusammenarbeit, S. 3, 21 f.; Würz, SDÜ, S. 41 ff.; ausführlich auch das von der Kommission dem Rat vorgelegte Übereinkommen über das Überschreiten der Außengrenzen, KOM (1993) 684. 308 Vg\. Art. 39-47 SDÜ. 309 Art. 70-76 SDÜ betrafen Betäubungsmittel und die Art. 77-91 SDÜ Feuerwaffen und Munition. 310 Vg\. Art. 39 SDÜ. Die innerstaatlichen Regelungen über die Rechtshilfe in Strafsachen des IRG gelten nicht für präventives Tätigwerden der Polizeibehörden. Anderweitige völkerrechtliche Übereinkommen zur Zusammenarbeit im präventiv-polizeilichen Bereich waren bis zum Abschluss des SDÜ nur vereinzelt vorhanden, vg\. den Österreichischen Vertrag über die Rechts- und Amtshilfe in Verwaltungssachen von 1988, GAB\. 1990.721. 311 Art. 40,41 SDÜ. m Art. 46 SDÜ. JL1 Potocki, in: Delmas-Marty, Criminal Policy. S. 185 (187). Die Möglichkeit der grenzüberschreitenden Observation bestand zwar schon spätestens seit den 60er Jahren. jedoch immer als Gegenstand von Rechtshilfeübereinkommen. so z. B. für die Benelux-Staaten im Rahmen des BeNeLuxÜbk, hierzu unten 2. Kapitel. S. 162. ) 14 Dass die Vorschriften über die justitielle Zusammenarbeit dem Titel "Polizei und Sicherheit" untergeordnet wurden. spiegelt die zunehmende Verpolizeilichung der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen wider und hat zum Teil heftige Reaktionen ausgelöst, vg\. Schomburg, NJW 1995, 1932 Fn. 4.
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beschleunigen. Aufbauend auf den entsprechenden Übereinkommen des Europarats regeln Art. 48-53 SDÜ die Rechtshilfe in Strafsachen, die Art. 59-66 SDÜ die Auslieferung und die Art. 67-69 SDÜ die Übertragung der Vollstreckung von Strafurteilen. Die internationalen Übereinkommen zur internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen werden von dem SDÜ folglich nicht verdrängt, sondern durch die Art. 48 ff. SDÜ ergänzt. Eine wichtige Regelung wurde mit den Art. 54-58 SDÜ vorgenommen, in denen die Bestimmungen zum Verbot der Doppelbestrafung des entsprechenden, noch nicht in Kraft getretenen EPZ-Übereinkommen nahezu wortgleich übernommen wurden. Soweit die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Polizeibehörden betroffen ist, muss entsprechend diesen Regelungen des SDÜ immer genau differenziert werden zwischen präventiv- und repressiv-polizeilichen Maßnahmen. Das mit dem Titel IV SDÜ geschaffene SIS hat ebenfalls eine herausragende Bedeutung, da es nicht nur die wichtigste technische Ausgleichsmaßnahme darstellt,315 sondern mit ihm auch unmittelbare Eingriffsbefugnisse in die Rechte betroffener Personen geschaffen wurden. 316 Infolge der Integration des gesamten Schengener acquis in das Recht der Europäischen Union ist das SDÜ auch in das Recht der Europäischen Union übernommen worden. Bestimmte Regelungen des SDÜ werden daher mit Inkrafttreten des EURhÜbk außer Kraft gesetzt. 317
III. Bilaterale Regelungen zwischen europäischen Staaten Obgleich die multilateralen Übereinkommen in Europa die Bedeutung bilateraler Übereinkommen immer mehr in den Hintergrund drängen, ermöglichen sie doch gerade auf die spezifischen geographischen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der jeweiligen Grenzstaaten angepasste Detailregelungen für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen, die in einem großen Konsens im Rahmen multilateraler Übereinkommen nicht möglich gewesen wären. Während die europäischen Staatenjedoch zunehmend ihre zwischenstaatliche Zusammenarbeit im Rahmen der Europäischen Union und des Europarats regeln, verbleiben insbesondere für die Rechtshilfe- und Auslieferungsbeziehungen zu den Staaten anderer Kontinente allein die bilateralen Übereinkommen das klassische Regelungsmittel. 318 Im Folgenden soll jedoch nur eine kurze Übersicht über die europäischen Übereinkommen gegeben werden, wobei auf die Regelungen mit m Widizo/III, Zusammenarbeit, S. 26. )16 Vgl. Würz, SDÜ, S. 36 Rn. 22 f. -'17 Dies gilt gemäß Art. 2 EU-RhÜbk für die Art. 49 Iit. a), 52, 53 und 73 SDÜ . .1IR Zu den bilateralen Auslieferungs- und Rechtshilfeverträgen der Bundesrepublik Deutschland Grüt;:llerIPöt;:, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, Bd. 11, sowie SclzomburglLagodny, European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice 1994, 379 (380 ff.). 11 Ziegenhahn
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Teil 1, 2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
den Staaten der mittel- und osteuropäischen Staaten (MOE-Staaten) nicht eingegangen werden soII. 3I9 J. Zusatzübereinkommen zu den Rechtshilfekonventionen des Europarats
Zwischen den Vertragsstaaten der Mutterkonventionen des Europarats, insbesondere des EuAIÜbk und des EuRhÜbk, bestehen zahlreiche bilaterale Ergänzungsverträge, die weitere Vereinfachungen der Geschäftswege enthalten oder zum Teil auch die polizeiliche Rechtshilfe einbeziehen. 320
2. Bilaterale Abkommen über die justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen Das Übereinkommen zwischen den Königreich Belgien, dem Großherzogtum Luxemburg und dem Königreich der Niederlande über die Auslieferung und Rechtshilfe in Strafsachen vom 27. Juni 1962 (BeNeLuxÜbk)321 wurde geschaffen, um den besonderen und intensiven Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten der neben den Europäischen Gemeinschaften bestehenden Benelux-Wirtschafts union gerecht werden zu können. Seine eigenständige Bedeutung hat das BeNeLuxÜbk bis heute nicht eingebüßt, denn die Rechtshilfekonventionen neueren Datums bauen auf ihm auf und ergänzen es. 322 Die Bundesrepublik Deutschland hat neben den unter (1.) genannten Zusatzübereinkommen zu den Europaratskonventionen mit verschiedenen europäischen Staaten, wie Portugal,323 Tunesien,324 dem ehemaligen Jugoslawien 325 und MonaC0 326 weitere eigenständige Abkommen über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen geschlossen, die sich inhaltlich jedoch nicht wesentlich von dem EuRhÜbk unterscheiden. 327
319 Hierzu jedoch Mokros, in: LiskenlDenninger. HB des PoJizeirechts. S. 927 ff. 320 Scheller. Ermächtigungsgrundlagen. S. 44. 321 Traite Benelux d'extradition et d'entraide judiciaire en matiere penale vom
27.6.1962. geändert durch das Protocole completant et modifiant le traite Benelux d'extradition et d'entraidejudiciaire en matiere penale vom 11. März 1974, BGB!. 195911,27, 582. abgedruckt bei Grüt::.nerIPöt::.. Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen. Bd. 11. BIO!. m Vg!. nur Art. I I Jit. d) EU-RhÜbk . m Abkommen vom 15.6.1964. BGB!. 196711.2345.196811.169. 324 Abkommen vom 19.7.1966. BGB!. 196911. 1157. 197011.127. m Abkommen vom 1.10.1974. BGB!. 197511. 1167. 1975 11.228. 32h Abkommen vom 21.5.1962. BGB!. 196411. 1297. 196511.405. m Scheller. Ermächtigungsgrundlagen. S. 44.
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3. Bilaterale Abkommen über die Zusammenarbeit der Polizei- und Zollbehörden Neben den die internationale Rechtshilfe in Strafsachen regelnden bilateralen Abkommen existieren des Weiteren völkerrechtliche Verträge der Bundesrepublik Deutschland über die Zusammenarbeit der Polizei- und der Zollbehörden in den Grenzregionen. So existiert zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Belgien bereits seit 1959 das Abkommen über die dienstlichen Beziehungen zwischen den deutschen und belgischen Polizeibehörden, welches die Einrichtung eines so genannten Verbindungsdienstes zur gegenseitigen Unterrichtung über strafbare Handlungen und Ereignisse im Grenzgebiet, die dringend Maßnahmen erfordern, regelt. 328 Im Jahre 1988 verpflichteten sich Österreich und die Bundesrepublik Deutschland in einem bilateralen Abkommen zur umfassenden Zusammenarbeit sowohl ihrer Verwaltungsbehörden als auch der Polizeibehörden. 329 Dieses Übereinkommen enthält Rechtshilfeverpflichtungen und Verfahrensregelungen sowohl für die Bereiche der Zollverwaltung als auch für die präventive Tätigkeit der Polizeibehörden. 330 Auch zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland existiert ein entsprechendes, die polizeiliche Zusammenarbeit regelndes Übereinkommen. m Das auf Art. 39 IV SDÜ beruhende Abkommen soll insbesondere dazu dienen, die Zusammenarbeit der Behörden und Dienststellen mit polizeilichen und zollrechtlichen Aufgaben im deutsch-französischen Grenzgebiet zu verbessern. Die darin enthaltenen Regelungen der Zusammenarbeit zum Zwecke der Gefahrenabwehr, der präventiven Verbrechensbekämpfung und der Strafverfolgung sind auch Gegenstand ähnlicher, bereits bestehender Übereinkünfte zwischen Deutschland und Luxemburg sowie den Niederlanden. Schließlich wurden im Rahmen des Erweiterungsprozesses der Europäischen Union auch zahlreiche bilaterale Abkommen bzw. Regierungsübereinkommen mit den MOE-Staaten geschlossen. 332
Scheller, Ermächtigungsgrundlagen. S. 44 f. V gl. das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Österreich über die Amts- und Rechtshilfe in Verwaltungssachen vom 31.5.1988. BGBI. 199011,358, 1334. 3)0 ScheUer, Ermächtigungsgrundlagen. S. 44; vgl. hierzu auch Burgstaller, in: FS Triffterer (1996). 733 ff. 331 Vgl. das Deutsch-Französische Abkommen über die Zusammenarbeit der Polizei- und Zollbehörden in den Grenzgebieten vom 9.10.1997. BGBI. 199811.2479; vgl. allerdings auch das bereits am 1978 in Kraft getretene Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik über die Zusammenarbeit der Polizeibehörden im deutsch-französischen Grenzbereich vom 3.2.1977. BGBI. 197811. 1402; hierzu kurz Scheller, Ermächtigungsgrundlagen. S. 45 . .m Vgl. hierzu ausführlich Mokros, in: LiskenlDenninger. HB des Polizeirechts, S. 927 ff. 3,8
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Teil 1. 2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
4. Regierungs- bzw. Verwa!tungsübereinkommen Schließlich existieren zahlreiche Abkommen der Bundesrepublik Deutschland, die nicht den Charakter eines völkerrechtlichen Vertrages im Sinne von § 5911 1 GG haben. die so genannten Regierungs- bzw. Verwaltungsabkommen. Sie können nach Art. 59 II 2 GG von der Exekutive geschlossen und erfüllt werden. bedürfen keiner innerstaatlichen Ratifikation durch den Gesetzgeber und stellen folglich auch kein formelles Gesetzesrecht der Bundesrepublik Deutschland, sondern Verwaltungsvorschriften dar. m Solche Regierungsübereinkommen bestehen mit den USA, Großbritannien, Mexiko, Marokko, Kenia und Senegal und beschränken sich in der Regel auf Gegenseitigkeitszusicherungen für die justitielle oder polizeiliche Zusammenarbeit zwischen den StaatenY·
IV. Innerstaatliche Rechtsgrundlagen in der Bundesrepublik Deutschland Im Folgenden sollen zunächst kurz die allgemeinen verfassungsrechtlichen und sodann die spezifischen einfachgesetzlichen Grundlagen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in der Bundesrepublik Deutschland dargestellt werden. Entsprechend den innerstaatlichen Vorschriften in der Bundesrepublik Deutschland über die Zuständigkeit und die Verfahren der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen finden sich derartige Regelungen auch in den nationalen Rechtsordnungen anderer Staaten. An dieser Stelle kann aufgrund des begrenzten Umfangs jedoch keine rechtsvergleichende Darstellung über die innerstaatlichen Bestimmungen in anderen europäischen Staaten gegeben werden. Insoweit sei auf entsprechende weiterführende Literatur verwiesen. 335 Jedoch soll im Rahmen der Untersuchung der innerstaatlichen Rechtsgrundlagen ein rechtsvergleichender
m 1m Einzelnen Geiger. GG und Völkerrecht. § 32 III I; Schweitzer. Staatsrecht III. Rn. 189 ff. ))-1 Vgl. Nagel. Beweisaufnahme. S. 44. sowie Scheller. Ermächtigungsgrundlagen. S. 45. jeweils mit Nachweisen über die FundsteIlen der entsprechenden Notenwechsel zwischen den Regierungen. )~ Zu den innerstaatlichen Rechtsgrundlagen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen siehe insbesondere GrütZllerlPörz. Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen. Bd.IV: Nagel. Beweisaufnahme im Ausland: Rechtsgrundlagen und Praxis der internationalen Rechtshilfe für das deutsche Strafverfahren. 1988; im Einzelnen auch etwa zum österreichischen Auslieferungsrecht Bllrgsraller. in: FS Triffterer (1996).733 ff.; Linke. NStZ 198 I. 378 ff.: SclnmigllOjer. Auslieferung und Internationales Strafrecht. 1988: für die nordischen Länder Lahri. in: Eser/Lagodny. Principles and Procedures. S. 305 ff.: zum Vereinigten Königreich Gilberr. Aspects of Extradition Law. 1991: zu Schottland Bro\l"ll. in: JanseniKoster/Zutphen. National Judiciary. S. 175 ff.
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Blick auf die Auslieferungs- und Rechtshilfegesetze jedenfalls der Mitgliedstaaten der Europäischen Union geworfen werden. 336
1. Die veifassungsrechtlichen Grundlagen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit Die Bundesrepublik Deutschland ist entsprechend ihren verfassungsrechtlichen Grundlagen nicht als geschlossener Nationalstaat klassischer Prägung konzipiert, sondern bewusst offen für die europäische Integration und die internationale Zusammenarbeit gestaltet, wie sich aus der Präambel und Art. 24 I GG ergibt. m Die Aussage der Präambel, wonach das deutsche Volk" von dem Willen beseelt [ist], als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen," stellt nicht nur ein politisches Bekenntnis dar, sondern normiert auch ein Rechtsgebot, das vom Bundesverfassungsgericht zu Auslegungszwecken herangezogen wird. m Neben der Präambel und dem Art. 24 GG normieren auch die Art. 25, 26, 32 und 59 GG die "Öffnung der deutschen Staatlichkeit" für die internationale Zusammenarbeit. Diese Normen beinhalten das Verfassungsprinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit, 339 das die deutschen Staatsorgane zur völkerrechtsfreundlichen Auslegung der deutschen Rechtsordnung 340 und zur aktiven Förderung der internationalen Zusammenarbeit verpflichtet. 341 Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit, wie sie vorhergehend für den Bereich der Strafverfolgung nachgezeichnet wurde, bedarf häufig auch einer Übertragung von Hoheitsgewalt auf die jeweilige zwischenstaatliche Einrichtung oder den jeweiligen fremden Staat. Entsprechend den verschiedenen, hier bereits aufgezeigten Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, lassen sich auch deren verfassungsrechtliche Zulässigkeitskriterien danach unterteilen, ob, an wen und in welcher Form staatliche Hoheitsbefugnisse übertragen werden.
,,6 Siehe unten 2. Kapitel, S. 210 f.
m Hierzu und zum Folgenden Tomuselzat, in: HbdStR VII (1992), § 172; Vogel, Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes. S. 42 ff. m BVerfG. Urteil vom 22.10.1986 - Solallge 11, BVerfGE 73.339 (386); siehe auch BVerfG. Beschluss vom 31.3.1987. BVerfGE 75.1 (17). m BVerfGE 18. 112 (121); 31. 38 (75 0; vgl. auch BVerfGE 45,83 (96); hierzu BleckmaIlII, DÖV 1979.309 ff.; ders., DÖV 1996. 137 (140 f.). ,40 Hierzu Toml/schat, in: HbdStR VII (1992), § 172 Rn. 28 ff. ,41 Jarass/Pierotlz, GG. Art. 24 Rn. 1; Roja/lI!, in: von Münch/Kunig, GG, An. 24 Rn. 7 ff.; Toml/selzar, in: HbdStR VII (1992), § 172 Rn. 4, 37; ders., in: BK, GG, Art. 24 Rn. 3 ff.
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Teil 1,2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
a) Die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen Die Möglichkeit der Bundesrepublik Deutschland zur internationalen Zusammenarbeit wurde hauptsächlich durch Art. 24 I GG geschaffen, nach welchem "Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen" werden können. 342 Diese Übertragung von Hoheitsrechten mittels völkerrechtlicher Verträge ermöglichte insbesondere die Schaffung von internationalen Organisationen. Der mit der Übertragung ausgesprochene Verzicht auf die Ausübung bestimmter Hoheitsrechte eröffnet den geschaffenen zwischenstaatlichen und supranationalen Organisationen eigene Durchgriffsrechte auf deutschem Hoheitsgebiet und entspricht einem zum Teil folgenreichen Souveränitätsverzicht zugunsten einer supranationalen Hoheitsgewalt. 343 Dies gilt insbesondere auch für den nationalen Grundrechtsschutz, denn mit der Übertragung von Hoheitsrechten werden auch Abweichungen vom deutschen Grundrechtsstandard möglich. 344 Jedoch findet die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen ihre Grenzen in der Identität und dem Grundgefüge der geltenden Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland. 345 Verfahrensmäßig genügt zur Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 24 I GG ein einfaches Bundesgesetz, wobei sich aus dem daneben anwendbaren Art. 5911 GG ein Zustimmungserfordernis ergeben kann. 346 Alle deutschen Zustimmungsgesetze zu den Verträgen der Europäischen Gemeinschaften und zu den Folgeverträge ergingen aufgrund des Art. 24 I GG, der damit lange Zeit als "Integrationshebel" diente. Die im Zusammenhang mit der Ratifizierung des Maastrichter Vertrages geführte umfangreiche Diskussion um die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung hat schließlich zu dem neuen "Europaartikel", dem Art. 23 GG, geführt. Für das Zustimmungsgesetz zum Maastrichter Vertrag und für Zustimmungsgesetze zu künftigen Folgeverträgen stellt der neu gefasste Art. 23 I GG nunmehr die lex specialis zu Art. 24 I GG dar. 347 Der Art. 24 GG behält seine Bedeutung jedoch für jede sonstige Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen außerhalb der Europäischen Union. Ein aktuelles Beispiel hierfür stellt der Internationale Strafgerichtshof dar, welcher mit der Ratifikation des IStGH-Statuts die darin enthaltenen Hoheitsbefugnisse von der Bundesrepublik Deutschland übertragen bekommen hat. Hierzu Bleckmann, in: FS Doehring (1989), 63 ff. Vgl. hierzu Scheuing, EuR-Beiheft 1/1997,7 (16 f.). 344 Vgl. nur BVerfGE Urteil vom 22.10.1986 - Solange ll, BVerfGE 73,339. 345 Vgl. BVerfG, Urteil vom 22.10.1986 - Solange ll, BVerfGE 73, 339 (375 0; siehe auch schon BVerfG, Urteil vom 29.5.1974 - Solange I, BVerfGE 37, 271 (279). 346 Hierzu Streinz, in: Sachs, GG, Art. 24 Rn. 25; Tomuschat, in: BK, GG, Art. 24 Rn. 28 ff.; Zuleeg, in: AK, GG, Art. 24 Rn. 19. 347 Vgl. Schotz, in: MaunzlDürig/Herzog, GG, Art 23 Rn. 47; Streinz, in: Sachs, GG, Art. 23 Rn. 9. 342 343
A. Rechtsquellen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen
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b) Die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union Die Gründung der Europäischen Union mit dem Maastrichter Vertrag von 1992 erforderte eine Grundgesetzänderung, die - wie erwähnt - zur Einführung des neuen Art. 23 GG führte. Der neu gefasste Art. 23 GG erfasst daher jede weitere Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen der Entwicklung der Europäischen Union.3~8 Damit sind in erster Linie die Europäischen Gemeinschaften bezeichnet. Soweit allerdings der intergouvernementale Bereich des Unionsrechts betroffen ist, findet nach herrschender Auffassung keine Übertragung von Hoheitsrechten im Sinne des Art. 23 I 2 GG statt.3~9 Vielmehr sei aufgrund der Einordnung der intergouvernementalen Zusammenarbeit als klassisch völkerrechtliches Tätigwerden der Staaten Art. 59 11 GG die maßgebliche verfassungsrechtliche Norrn. 35o Bedeutung erlangt die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union i. w. S. insbesondere für die Frage der Zurechung von Hoheitsakten ihrer Organe, insbesondere auch hinsichtlich errichteter eigenständiger zwischenstaatlicher Institionen. Für den Bereich der supranationalen Zusammenarbeit ist hier das Amt für Betrugsbekämpfung OLAF anzuführen, welches die eigenen Hoheitsbefugnisse jedoch nicht mehr unmittelbar von den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, sondern von den hierfür eigens mit Kompetenzen ausgestatteten Organen der EG übertragen bekommen hat. Im Bereich der intergouvernementalen Zusammenarbeit ist mit der Schaffung des Europäischen Polizeiamts Europol eine zwischenstaatliche Einrichtung enstanden, die bereits derzeit mit Durchgriffsbefugnissen gegenüber dem Bürger ausgestattet ist und in naher Zukunft wahrscheinlich auch Exekutivbefugnisse erlangen wird. Fraglich ist schließlich, ob Art. 23 GG auch Rechtsgrundlage für die Übertragung von Hoheitsrechten auf andere Mitgliedstaaten im Rahmen der intergouvernementalen Zusammenarbeit nach Titel VI EUV sein kann. 351 c) Die Übertragung von Hoheitsrechten auf fremde Staaten Die grenzüberschreitende Nacheile und Observation sowie das Tätigwerden multinationaler Errnittlungstearns auf dem Hoheitsgebiet verschiedener Mitgliedstaaten der Europäischen Union, wie sie in den verschiedenen Rechtsgrundlagen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen vorgesehen sind, be348 Art. 24 I GG ist künftig nunmehr für andere zwischenstaatliche Einrichtungen, denen Hoheitsrechte übertragen werden, maßgeblich. 34~ So Pechsteill, in: Geiger, Völkerrechtlicher Vertrag, S. 31 (36 ff.); Schweitloer, Staatsrecht III, Rn. 61; a. A. Harillgs, Grenzüberschreitende Zusammenarbeit, S. 61; differenzierend Kokott, DVBI. 1996.937 ff. 350 Ausführlich Pechstein, in: Geiger. Völkerrechtlicher Vertrag. S. 31 (36 ff.). 351 Hierzu Harings, Grenzüberschreitende Zusammenarbeit. S. 61.
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Teil I, 2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
dürfen unter Umständen ebenfalls der Übertragung von Hoheitsrechten, namentlich auf andere Staaten. 352 Eine solche Übertragung von Hoheitsrechten auf andere Staaten oder deren öffentlich-rechtliche Körperschaften wird zwar nicht von Art. 24 GG erfasst,353 jedoch dürfte sie deshalb nicht zwingend als verfassungsrechtlich unzulässig zu erachten sein. 354 Vielmehr lässt sich die Zulässigkeit der Übertragung einzelner Hoheitsrechte aus der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Abtretung einzelner Gebietsteile entwickeln. 355 Etwaige Legitimationsprobleme können verhindert werden, wenn die Einwirkungsmöglichkeiten der fremden Staatsgewalt auf deutsche Staatsbürger Beschränkungen unterworfen sind. 356
d) Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten Die Bundesrepublik Deutschland ist indes nicht schrankenlos zur Übertragung von Hoheitsrechten ermächtigt. Wo die genauen Grenzen hingegen zu ziehen sind, ist umstritten. Als anerkanntes Minimum wird man die Grundsätze ansehen können, deren Unabänderlichkeit in Art. 79 III GG festgelegt sind, da diese selbst der Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen sind. Zu diesen Grenzen zählen nach ständiger Rechtsprechung insbesondere der Grundrechtsteil des Grundgesetzes. 357 Die konkreten Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten sind vom Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Hoheitsübertragungen auf die Europäischen Gemeinschaften und die Europäische Union umfassend herausgearbeitet worden. Aufgrund der Besonderheiten der supranationalen Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaften, die den Erlass von Normen umfasst, welche im Hoheitsbereich der jeweiligen Mitgliedstaaten unmittelbar Geltung beanspruchen und dem innerstaatlichen Recht vorgehen, stellte sich daher insbesondere die Frage, ob und inwieweit die Grundrechte der nationalen Verfassungsord352
1991.
Ausführlich Rauser, Die Übertragung von Hoheitsrechten auf ausländische Staaten,
353 BVerfG 68,1 (69); Beyerlin, Rechtsprobleme, S. 245 f.; Geiger, GG und Völkerrecht, S. 143; Jarass/Pieroth, GG, Art. 24 Rn. 5; Randelzho/er, in: Maunz/DüriglHerzog, GG, Art. 24 Rn. 52 f.; Rauser, Hoheitsrechte, S. 231; Tomuschat, in: BK, GG, Art. 24 Rn. 44; ScheUer, JZ 1992, 904 (909); Scheuing, EuR-Beiheft 1/1997, 7 (! 7). 354 So jedoch Jarass/Pieroth, GG, Art. 24 Rn. 5; Tomuschat, in: BK, GG, Art. 24 Rn. 44; zweifelnd Geiger, GG und Völkerrecht, S. 142 f.; Streinz, in: Sachs, GG, Art. 24 Rn. 15,20. m Vgl. ausführlich Rauser, Hoheitsrechte, S. 315 ff.; siehe auch Harings, Grenzüberschreitende Zusammenarbeit, S. 62. 356 Harings, Grenzüberschreitende Zusammenarbeit, S. 62; Schmidt-Aßmann, AöR 116 (1991),329 (341); vgl. etwa die Einschränkungen bei der Vornahme grenzüberschreitender Strafverfolgungsmaßnahmen in den entsprechenden Rechtsgrundlagen der Zusammenarbeit. 357 Siehe bereits BVerfG, Beschluss vom 29.5.1974 - Solange I, BVerfGE 37,271 (280); siehe zu den (grundrechtlichen) Grenzen von Hoheitsübertragungen auch Geiger, GG und Völkerrecht, S. 183 ff.; Schweitzer, Staatsrecht II1, Rn. 70 ff.
A. Rechtsquellen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen
169
nungen der Mitgliedstaaten durch die Hoheitsübertragung begrenzt werden und ob sie andererseits auch Schranken des Gemeinschaftsrechts darstellen können. 358 ImSolange I-Beschluss stellte das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich klar, dass es sich vorbehalte, die entscheidungserhebliche Vorschrift des Gemeinschaftsrechts auf die Übereinstimmung mit den Grundrechten des Grundgesetzes zu überprüfen, ,,[s]olange der Integrationsprozess der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten ist, dass das Gemeinschaftsrecht auch einen von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten enthält, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist".359 Demgernäss hat das Bundesverfassungsgericht eine in der Bundesrepublik Deutschland anzuwendende EWG-Verordnung, die der EuGH als unbedenklich beurteilt hatte, in vollem Umfang an Grundrechten des Grundgesetzes überprüft. Allerdings hat es dabei trotzdem keinen nationalen Grundrechtsschutz im engeren Sinne betrieben, sondern vielmehr ausdrücklich anerkannt, dass auch Gemeinschaftsinteressen Einschränkungen deutscher Grundrechte zu rechtfertigen vermögen. 360 Nach massiver Kritik 361 am Solange I-Beschluss sowohl unter prozessrechtlichen als auch materiell-rechtlichen Gesichtspunkten erklärte das Bundesverfassungsgericht nach mehreren Zwischenstufen362 schließlich im Solange II-Beschluss, dass "seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben" wird, "solange die Europäischen Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften [ ... ] gewährleisten".363 Des Weiteren wurde erklärt, dass Art. 24 I GG es ermögliche, die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland derart zu öffnen, dass ihr ausschließlicher Herrschaftsanspruch für ihren Hoheitsbereich zurückgenommen und der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle innerhalb dieses Hoheitsbereichs Raum geschaffen wird. Die Ermächtigung des Art. 24 I GG sei indes nicht ohne Grenzen, denn 358 Vgl. mit ausführlichen Nachweisen Hofmann, Grenzüberschreitende Sachverhalte, S. 74 f. m BVerfG, Beschluss vom 29.5.1974 - Solange I, BVerfGE 37, 271 (285). 360 BVerfG, Beschluss vom 29.5.1974 - Solange I, BVerfGE 37, 271 (289). 361 Siehe schon die abweichende Meinung der Richter Rupp, Hirsch und Wand, BVerfGE 37,291 ff.; ferner lpsen, EuR 1975, I ff.; Scheuner, AöR 100 (1975),30 ff.; Zu leeg, DÖV 1975, 44 ff.; vgl. auch mit weiteren Nachweisen Hofmann, Grenzüberschreitende Sachverhalte, S. 78 Fn. 25. 362 BVerfG, Beschluss vom 25.7.1979 - Vielleicht-Beschluss, BVerfGE 52,187; Beschluss vom 14.2.1983 - Lenkzeiten, NJW 1983, 1258; vgl. zum letzteren Beschluss Scheuing, EuR 1985, 229 (269 f.). 363 BVerfGE 73,339 (387) - Solange U; siehe auch die umfangreichen Nachweise zur Reaktion des Schrifttums auf diesen grundlegenden Beschluss des BVerfG bei Hofmann, Grenzüberschreitende Sachverhalte, S. 78 Fn. 25.
170
Teil 1, 2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
durch die Einräumung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen dürfe nicht die Identität der geltenden Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland durch Einbruch in ihr Grundgefüge, in die sie konstituierenden Strukturen aufgegeben werden. Die den Grundrechten zugrunde liegenden Rechtsprinzipien stellen dabei ein unverzichtbares, zum Grundgefüge der Verfassung gehörendes Essentiale dar. 364 Wenn aufgrund einer Hoheitsübertragung der Grundrechtsschutz entfallen soll, dann muss statt dessen eine Grundrechtsgeltung gewährleistet sein, die nach Inhalt und Wirksamkeit dem Grundrechtsschutz, wie er nach dem Grundgesetz unabdingbar ist, im Wesentlichen gleichkommt. 365 Umstritten geblieben ist nach dem Solange lI-Beschluss, ob der vom Bundesverfassungsgericht zugunsten des EuGH ausgesprochene Kontrollverzicht materiellrechtlich fundiert oder nur verfahrensrechtlich gemeint war und als solcher überhaupt zulässig war. 366 In seiner Entscheidung zur EG-Tabakrichtlinie aus dem Jahre 1989 367 bestätigte das Bundesverfassungsgericht, dass seine Gerichtsbarkeit aufgrund einer allgemeinen Vermutung für einen angemessenen Grundrechtsschutz durch die Gemeinschaftsorgane suspendiert sei. 368 Bemerkenswert ist hierzu, dass die EG-Richtlinie vom Bundesverfassungsgericht wohl als ein Verstoß gegen die Art. 5, 14 und 2 I GG gewertet wurde, eine Überprüfung durch den EuGH am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte jedoch zum entgegengesetzten Ergebnis gekommen ist. 369 Mit der Verfassungsänderung im Rahmen des Ratifikationsverfahrens des Maastrichter Vertrages ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dem Grundsatz nach in Art. 23 I GG niedergelegt worden. Jedoch ist die vom Bundesverfassungsgericht seit dem Solange lI-Beschluss geprägte Formulierung "einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell [zu] gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist", nur zum Teil übernommen worden. Es fehlen insbesondere die möglicherweise entscheidenden Konkretisierungen durch den Begriff "generell" und die Formulierung BVerfGE 73,339 (376) - Solange IJ, unter Verweis auf Solange I und Eurocolltrol. BVerfGE 73,339 (376) - Solange IJ. 366 Siehe dazu Everling, EuR 1990, 195 (201 ff.); Friauf, in: Friauf, KarllScholz, Europarecht und Grundgesetz, S. 11 (29); Herdegen, EuGRZ 1989, 309 f.; Kirchhof, EuRBeiheft 1/1991, 11 (22 ff.); Schotz, in: Friauf, KarllScholz, Europarecht und Grundgesetz, S. 53 (81 f.). 367 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1989 - EG-Tabakrichtlinie, EuGRZ 1989,339 f. 368 Herdegell, EuGRZ 1989, 309 (312). 369 Vgl. Schotz, NJW 1990,941 (945); hierzu Hofmann, Grenzüberschreitende Sachverhalte, S. 83; siehe auch Simma/WeilerlZöckler, Kompetenzen und Grundrechte: Beschränkungen der Tabakwerbung aus der Sicht des Europarechts, 1999. sowie die Schlussanträge des Generalanwalts Fennelly vom 15.6.2000 in der Rs. C-376/98 - BUlldesrepublik Deutschland v. Europäisches ParlameIlt und Rat der EU, unter . 364 365
A. Rechtsquellen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen
171
"unabdingbar gebotener Grundrechtsschutz" . Der Wortlaut des Art. 23 I GG lässt dadurch eine durchaus andere Interpretation zu, als die im Gemeinschaftsrecht oder in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vorgesehene. 370 Wenn sich das Bundesverfassungsgericht zunächst die Möglichkeit der Grundrechtsprüfung offengehalten hat, spricht das dafür, dass es kein verfassungsrechtliches Gebot zur Rücknahme des Grundrechtsschutzes nach erfolgter Hoheitsübertragung gibt. Daher ist zu fragen, ob die Tatsache, dass die Europäischen Gemeinschaften über einen vergleichbaren Grundrechtsschutz verfügen, ein verfassungsrechtliches Gebot zur Übertragung der Grundrechtsschutzes schafft. 371 Die Übertragung von Hoheitsrechten zur Ermöglichung der grenzüberschreitenden Zusammenarbdt steht daher in engem Zusammenhang mit der Frage, ob und in welchem Maße der Menschenrechtsschutz des von den verschiedenen Formen der Zusammenarbeit betroffenen Individuums verändert wird. 2. Die einJachgesetzlichen Grundlagen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit
a) Innerstaatliche Umsetzung völkerrechtlicher Übereinkommen Wichtigste Grundlage der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen sind die entsprechenden völkerrechtlichen Übereinkommen. Sie verpflichten zwar in erster Linie allein die Staaten, können jedoch nach entsprechender innerstaatlicher Umsetzung auch die nationalen Behörden und Gerichte berechtigen und verpflichten. Die innerstaatliche Umsetzung völkerrechtlicher Übereinkommen erfolgt in der Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 59 11 1 GG durch den Erlass eines entsprechenden Zustimmungsgesetzes. 372 Nach Inkrafttreten des Zustimmungs gesetzes ist das völkerrechtliche Übereinkommen innerstaatlich anwendbar; es erlangt damit den Rang einfachen Bundesrechts. 373 b) Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen Nicht immer werden die Grundlagen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in den völkerrechtlichen Regelungen abschließend geregelt. Vielmehr achten sie regelmäßig die innerstaatlichen Rechtsordnungen der Vertrags staaten Vgl. zu dieser Problematik Hofmann, Grenzüberschreitende Sachverhalte, S. 93 ff. Hierzu Hofmann, Grenzüberschreitende Sachverhalte, S. 83; Schotz, NJW 1990, 941 (945). 372 Statt vieler Geiger, GG und Völkerrecht, § 3211 m. w. N. J7J Der innerstaatliche Rang von transformiertem Völkerrecht ist in der Regel Angelegenheit eines jeden Staates; vgl. hierzu bereits BVerfGE 6, 309 (362). 370 371
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Teil 1, 2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
und überlassen ihnen die Regelung von Zulässigkeits-, Zuständigkeits- und Verfahrensfragen. Daher stellt neben den völkerrechtlichen Übereinkommen das Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vom 23. Dezember 1982 (IRG)374 die grundlegende innerstaatliche Regelung in der Bundesrepublik Deutschland dar. Das IRG als Nachfolgegesetz des Deutschen Auslieferungsgesetz von 1929 (DAG) findet immer ergänzend zu den völkerrechtlichen Übereinkommen Anwendung und regelt umfassend alle Voraussetzung der klassischen Formen der internationalen Rechtshilfe 375 sowie der Zusammenarbeit der Polizei behörden bei der Strafverfolgung. Soweit keine entsprechenden völkerrechtlichen Regelungen bestehen, ist das IRG allein maßgebend. Vorbehaltlich entsprechender völkerrechtlicher Verträge und ihren innerstaatlichen Umsetzungsakten 376 stellt das IRG somit die wichtigste innerstaatliche Rechtsquelle für grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen dar. Während in Teil 1 der Anwendungsbereich des Gesetzes festgelegt wird, finden sich in Teil 2 ausführliche Regelungen über die Zulässigkeit und das innerstaatliche Verfahren der Auslieferung. 377 Insbesondere werden hier die Auslieferungsvoraussetzungen, die Auslieferungshindernisse, die Verfahrens- und Zuständigkeitsregeln und die Rechtsmittel des Auslieferungsverfahrens geregelt. Hier finden sich auch die später näher zu untersuchenden Auslieferungs- und Rechtshilfehindernisse wieder. 378 Als moderne Regelung des Auslieferungsrechts hervorzuheben ist die Möglichkeit der vereinfachten Auslieferung nach § 41 IRG. Die sonstige Rechtshilfe in Strafsachen wird in Teil 5 geregelt, welcher insbesondere allgemeine Fragen der Zulässigkeit einer Rechtshilfeleistung sowie die einzelnen Rechtshilfemaßnahmen der Zeugenvernehmung, Durchsuchung, Beschlagnahme und Herausgabe von Gegenständen umfasst. 379 Als weitere moderne Vorschrift ist hier § 67 lit. a) IRG hervorzuheben, welche die Rechtshilfe an zwischen- und überstaatliche Einrichtungen regelt und aufgrund der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland gegenüber den Vereinten Nationen im
374 Gesetz über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen vom 23.12.1982, BGB!. 1982 I, 2071,1994 1,1537,1997 1,1650,1663; ausführlich hierzu VoglerlWilkitzki, Kommentar zum Gesetz über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Loseblattsammlung. Stand April 2000, sowie Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen. Kommentar zum Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 1998. 375 Unter der internationalen Rechtshilfe i. w. S. ist die internationale Zusammenarbeit nationaler lustizbehörden bei der Strafverfolgung zu verstehen; zu den klassischen Formen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen gehören die Auslieferung, die sonstige Rechtshilfe und die Vollstreckungshilfe. 376 V g!. nur § 1 III IRG; hierzu Lagodny, in: SchomburgiLagodny. Internationale Rechtshilfe, IRG, § 1 Rn. 5 ff. 377 Vg!. §§ 2-42 IRG. 378 Siehe unten 2. Kapitel, S. 191 ff. m Vg!. §§ 59-72 IRG.
A. Rechtsquellen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen
173
Zusammenhang mit den Kriegsverbrechertribunalen eingeführt werden musste. 380 Die polizeiliche Rechtshilfe vollzieht sich gemäß § 59 IRG nach den Regeln des internationalen Rechtshilfeverkehrs,381 während die Vollstreckungshilfe und das so genannte Exequaturverfahren in Teil 4 geregelt werden. 382 Von herausragender Bedeutung für die vorliegende Untersuchung ist indes die äußerst umstrittene Vorschrift des § 73 IRG, wonach die "Leistung von Rechtshilfe ... unzulässig [ist], wenn sie den wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen würde." Diese Vorschrift ist das Einfallstor für die Frage der Anwendbarkeit von Grund- und Menschenrechten auf die internationale Rechtshilfe in Strafsachen, denn zu den Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung gehören unumstritten die Grundrechte des Grundgesetzes in ihrem Kerngehalt. Die Probleme ergeben sich indes nicht nur aus der Frage nach der grundsätzlichen Reichweite der Grundrechte im Rahmen dieser Bestimmung, sondern auch aus dem möglichen Konflikt einer solchen Verweigerung mit einer entsprechenden völkerrechtlichen Rechtshilfeverpflichtung, die nicht nur nach § 1 IRG vorrangig sein dürfte. 383 c) Bundeskriminalamtsgesetz Mit dem Gesetz über das Bundeskriminalamt und die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in kriminalpolizeilichen Angelegenheiten vom 7. Juli 1997 (BKAG)3H4 wurde das Gesetz über die Errichtung eines Bundeskriminalpolizeiamtes von 1973 geändert. Das alte BKAG enthielt keine eigenen Eingriffsbefug-
nisse; es galten die jeweiligen Befugnisse der Landespolizeigesetze sowie durch Verweisungen teilweise die des Bundesgrenzschutzes. 3H5 Laut des Regierungsentwurfes war es hingegen Hauptziel des neuen BKAG, umfassend in Umsetzung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum VoikszähiungsurteiPX6 informationelle Befugnisse zu schaffen. m Hierfür wurde ein Kompromiss zwischen Vgl. auch § 74 lit. a) IRG. Z. B. nach dem SDÜ. m Vgl. §§ 48-58 IRG. m Auf diese Zusammenhänge sei an dieser Stelle nur hingewiesen; im Einzelnen werden sie an verschiedenen Stellen der folgenden Seiten wieder aufgegriffen und vertieft; für einen Überblick vgl. die grundSätzlich divergierenden Auffassungen der jeweiligen Bearbeiter in den Kommentaren zu § 73 IRG, vgl. LaRodny. in: Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, IRG, § 73 Rn. I ff., und Vogler, in: Vogler/Wilkitzki, IRG, § 73 Rn. I ff. .1~4 BGBI. 1997 1,1650; hierzu Hetzer, ZRP 1999,19 ff.; RieRel, NJW 1997,3408 ff.; Schreiber, NJW 1997, 2137 ff. )Xl Scheller, Ermächtigungsgrundlagen, S. 46 . .1~~ Hierzu im Zusammenhang mit den Eingriffsbefugnissen im Rahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen Scheller, Ermächtigungsgrundlagen, S. 137 ff. .1~7 Vgl. BT-Drs. 13/1550, I und 19; vgl. nunmehr die Befugnisse in §§ 7 ff. BKAG. WJ
J~I
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Teil 1, 2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
den Erfordernissen der bundesweiten und internationalen Informationsverarbeitung für Gefahrenabwehr und Strafverfolgung einerseits und Datenschutz andererseits gesucht. Jedoch scheint mit § 1011 BKAG, der zu weitergehenden Übermittlungen an Nachrichtendienste genutzt werden könnte, ein weiterer Schritt weg von der informationellen Gewaltenteilung und vom Trennungsprinzip hin zum Kooperationsprinzip zwischen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden einerseits und Nachrichtendiensten andererseits getan worden zu sein. 388 Mit dem neuen BKAG sind darüber hinaus auch die Zuständigkeiten des Bundeskriminalamtes im Bereich der internationalen Zusammenarbeit erweitert worden, etwa für den Dienstverkehr mit ausländischen Polizei- und Justizbehörden 389 sowie im Rahmen des internationalen (INPOL), des Schengener (SIS) bzw. des Europäischen (EIS) Informations systems und als Nationale Stelle im Sinne des Art. 4 EuropolÜbk. 390 Insgesamt bestehen für das Bundeskriminalamt gemäß dem neuen BKAG erstmals erschöpfende Aufgaben- und Befugniszuweisungen für die innerstaatliche und die internationale Zusammenarbeit mit Polizei- und Strafverfolgungsbehörden. 391 d) Polizeigesetze der Bundesländer Die Polizeigesetze der verschiedenen Bundesländer regeln Aufgaben, Befugnisse, Organisation und Verfahren der Tätigkeit der allgemeinen Polizeibehörden sowie des Polizeivollzugsdienstes. Neben der polizeilichen Generalklausel bestehen verschiedene für die Straftatenbekämpfung bedeutsame Spezialbefugnisse wie etwa die Identifikationsfeststellung oder die Beschlagnahme. Des Weiteren wurden seit den 80er Jahren aufgrund der allgemeinen Datenschutzdiskussion und des Volkszählungsurteils des Bundesverfassungsgerichts weitergehende Befugnisse zur Informationserhebung, -speicherung und Datenübermittlung (auch ins Ausland) sowie sonstige Datenschutzbestimmungen geschaffen. 392 Insbesondere in den 90er Jahren wurden als Reaktion auf den Bedeutungszuwachs polizeilicher Zusammenarbeit in Grenzregionen zunehmend Regelungen zum grenzüberschreitenden Tätigwerden von Polizeibehörden in die landesrechtlichen Vorschriften aufgenommen.
388 So Riegel, NJW 1997. 3408 (3409); ausführlich hierzu mit umfangreichen Nachweisen Paefjgen/Gärditz, KritV 2000. 65 ff. 389 Vgl. § 3 11 BKAG. früher § 10 BKAG. )91l Ausführlich hierzu Riegel, NJW 1997.3408 (3410 f.) . .191 V gl. in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung des Bundesnachrichtendienstes. welcher gemäß § 3 Verbrechensbekämpfungsgesetz (G 10) n. F. im Ausland Daten erheben kann. die er im Inland nicht erheben dürfte. aber die dann dennoch im Rahmen des G 10 weitergenutzt werden können. hierzu und zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14.7.1999 Paefjgell, StV 1999.668 t1 )92 Sche/ler, Ermächtigungsgrundlagen. S. 47.
A. Rechtsquellen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen
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e) Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten Bei den Richtlinienfür den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten vom 18. September 1984 (RiV ASt)393 in der Fassung vom 1. März 1993 handelt es sich um Vereinbarungen der Bundesregierung mit den Regierungen der Länder über Zuständigkeiten und Einzelfragen bezüglich der Rechtshilfe zur Strafverfolgung. Es handelt sich somit um Verwaltungsvorschriften und nicht um formelJe Gesetze. Sie binden folglich nur im verwaltungsinternen Bereich die Exekutive, mithin die Staatsanwaltschaften, Polizeibehörden und die Ministerialverwaltung. Die Judikative ist nicht an sie gebunden. 394 Eine Ausnahme besteht nur, soweit Gerichte Aufgaben der Justizverwaltung ausüben, die nicht der richterlichen Unabhängigkeit unterliegen, wie z. B. die Bewilligungsentscheidung der internationalen Rechtshilfe. 395 Im Verhältnis zu den Vorschriften des IRG sind sie nachrangig, können jedoch gesetzesinterpretierende und ermessenslenkende Wirkung entfalten. 396 f) Zuständigkeitsvereinbarungen des Bundes mit den Ländern
und Delegationserlasse
Am 1. Juli 1993 schloss die Bundesregierung mit den Landesregierungen der Bundesländer eine Vereinbarung über die Zuständigkeit im Rechtshilfeverkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten (Zuständigkeits V), 397 in welcher sie den Landesregierungen die ihr nach Art. 74 IRG zustehende Befugnis zur Entscheidung über eingehende Rechtshilfeersuchen und zur StelJung von ausgehenden Rechtshilfeersuchen übertrug. 39M Den Bundesländern wurde des Weiteren die Befugnis eingeräumt, diese Zuständigkeiten weiter auf nachgeordnete Justizbehörden zu übertragen. 399
V. Würdigung und Ausblick Die vorangegangene Untersuchung hat einen umfassenden Überblick über die Vielzahl und Vielfalt an bestehenden und in Kürze in Kraft tretenden Rechtsm BAnz. Nr. 176 vom 18.9.1984 i. V. m. der Beilage Nr. 47/84 sowie die Amts-lVerordnungsblätter der Länder; Änderungsbekanntmachung in BAnz. Nr. 40a vom 27.2.1993. )Y4 Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, Anhang 11, S. 1359. 3Y5 Junker, DRiZ 1985,161 ff.; Nagel, Beweisaufnahme, S. 49. )Y' Vgl. Scheller, Ermächtigungsgrundlagen, S. 48. JY7 BAnz. 1993.6383. lYH )YY
Vgl. Art. I und 2 ZuständigkeitsV. Vgl. Art. 3 ZuständigkeitsV.
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Teil 1, 2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
quellen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen geschaffen. Diese Zusammenschau hat gezeigt, dass die Staaten zunehmend dazu neigen, deliktsspezifische Rechtsgrundlagen zu schaffen und in diese zum Teil umfangreichste Detailregelungen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit aufzunehmen. Diese Tendenz ist insoweit begrüßenswert, als sie neuen Entwicklungen sowohl auf der Ebene der Straftatenbegehung als auch der Straftatenbekämpfung gerecht werden kann. Problematisch ist indes der Umstand, dass die Vielzahl der Regelungsmechanismen in der Praxis kaum noch zu überschauen ist und der Rechtsanwender stetigen Unsicherheiten bezüglich des räumlichen und inhaltlichen Anwendungsbereiches der Übereinkommen ausgesetzt ist. Statt eine Überschaubarkeit durch einheitliche Regelungen zu schaffen, zeichnet sich weltweit die Tendenz zu deliktsspezifischen Übereinkommen ab, die den Praktiker in einem Verfahren zur Anwendung verschiedener Regeln bei der Verfolgung tateinheitlich begangener Delikte zwingen. 4OO Wenngleich die innovativen Regelungen innerhalb dieser modernen Vertrags werke zu loben sind, bleibt anzumerken, dass sie letztlich aber auch zur steigenden Unübersichtlichkeit des geltenden Rechts bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen beitragen. So ergeben sich besondere Schwierigkeiten bereits aus den Unklarheiten über den Anwendungsbereich der Übereinkommen, die "vorläufig" zwischen zwei oder mehreren Staaten angewendet werden. 401 Diese Unsicherheiten der Anwendung werden dadurch verstärkt, dass die ursprünglich jedenfalls aufgrund ihrer Entstehungsherkunft leicht zuzuordnenden Übereinkommen des Europarats und zum Teil auch der Europäischen Union zunehmend auch Staaten offen stehen, die nicht Mitgliedstaaten der entsprechenden internationalen Organisationen sind. Des Weiteren wird in der Praxis die Rechtsfindung maßgeblich auch durch die schwer zugänglichen und zahlreichen Vorbehalte und Erklärungen zu der inhaltlichen und räumlichen Anwendung der Europarats- und der EU-Übereinkommen erschwert. 402 Dies führt nicht nur zu Unsicherheiten bei der Rechtsfindung und Rechtsanwendung, sondern auch zu zahlreichen Parallel normierungen innerhalb eines Rechtsraumes, deren Kollision vorprogrammiert zu sein scheint. 40) Schließlich erfordert die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Polizei- und lustizbehörden nicht nur gute Fremdsprachenkenntnisse, sondern auch eine gute Kenntnis über das im 400
V gl. hierzu das Beispiel bei Schamburg. ZRP 1999.237 (238).
Vgl. etwa die EPZ-Übereinkommen und die Übereinkommen der dritten Säule der EU; hierzu auch Koering-Joulin. in: Delmas-Marty. Criminal Policy. S. 169 (173). 402 Schamburg. ZRP 1999.237 (238); mit der Einrichtung des EJN bei der Europäischen Kommission sollte hier Abhilfe geschaffen werden; inzwischen ist indes ein weiterer Vorschlag für die Verbesserung des Austausch zwischen den kooperierenden nationalen Justizbehörden umgesetzt worden. namentlich das Projekt EUROJUST. vgl. hierzu ScllOmburg. Kriminalistik 2000. \3 tT.; ders .. ZRP 1999. 237 ff. 40) So Lagodny. in: Schomburg/Lagodny. Internationale Rechtshilfe. Hauptteil V D. S. 1131 Rn. 16. 401
A. Rechtsquellen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen
177
konkreten Fall anzuwendende aktuelle fremde nationale Recht. 404 Die hierfür bisher vorgesehenen formellen Auskunftswege 405 sind insbesondere in einer Haftsache zu langwierig. 406 Aufgrund der zahlreichen Kritik an den Mutterkonventionen des Europarats sowie aufgrund der durch die vielen Zusatzprotokolle und bilateralen Verträge geschaffenen Unübersichtlichkeit im Bereich des Rechtshilfeverkehrs und den Problemen bei der Rechtsfindung wurden in der Vergangenheit die verschiedensten Vorschläge gemacht und Reformbemühungen unternommen. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang insbesondere der Versuch des Europarats, eine einheitliche und umfassende Rechtshilfekonvention zu entwickeln, die in einem allgemeinen Teil alle Grundfragen klärt und im besonderen Teil die Spezialinstrumente der Zusammenarbeit regelt. 407 Dem Anspruch an eine einheitliche Rechtshilfekonvention werden jedoch weder das EU-RhÜbk der Europäischen Union noch das UN-TranskrimÜbk der Vereinten Nationen gerecht. Trotz der einmütigen Bekundungen der verschiedenen Staaten zur Notwendigkeit einer Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen muss bereits an dieser Stelle festgestellt werden, dass die Vielfalt der erarbeiteten und unterzeichneten Übereinkommen nicht zu einer Vereinfachung der Zusammenarbeit beigetragen haben. 408 Allerdings ist zuzugestehen, dass die modernen Möglichkeiten der Internetrecherche inzwischen leicht Zugang zu den Informationen über den Gegenstand, den Zeichnungs- und Ratifikationsstand sowie etwaigen Vorbehalten und Erklärungen zu den meisten Übereinkommen bieten. 409 Ein weiterer wichtiger Schritt zur besseren Rechtsfindung dürfte die Einrichtung der supranationalen Dokumentationsund Clearings teile EUROJUST darstellen. 4 !O Auffällig geworden ist des Weiteren, dass die wenigsten Rechtsgrundlagen der Zusammenarbeit die Rechte der von etwaigen Strafverfolgungsmaßnahmen betroffenen Personen regeln. Jedoch ist auch hier die Tendenz festzustellen, dass zunehmend einzelne Klauseln mit individualschützendem Charakter oder aber grundsätzliche Bekenntnisse zum Schutz der Menschenrechte in die Übereinkommen 404 V gl. Kühne, 1Z 1998,876 f., unter Verweis auf den "Transactie-Beschluss" des BGH, NStZ 1998, 149; siehe auch Lagodny, NStZ 1997,265. 405 Vg1. das EuAuskÜbk i,? Verbindung mit dem auf das Strafverfahren bezogene ZPEuAuskUbk bzw. Art. 57 SOU. der auch für Rechtsauskünfte anwendbar sein sollte (str.). 406 Vgl. die Beispiele bei Hertweck, Kriminalistik 1995. 721 ff. 407 Vgl. Draft European Comprehensive Convention on International Co-operation in Criminal Matters. Europarats-Dok. PC-Oc/INF (96) 13; abgedruckt bei Bassiouni, International Criminal Law, Vol. 11. Appendix 19. mit Erläuterungen von Wilkitzki, ebd., S. 755 ff. 408 Koering-Joulin, in: Delmas-Marty. Criminal Policy, S. 169 (174). 409 V gl. nur die Webseiten des Europarats und des Europäischen 1ustitiellen Netzes der EU . 410 Vgl. Schomburg, N1W 1995, 1931 (1934); ders., StV 1997,383 (385); ders., ZRP 1999.237 (239).
12 Ziegenhahn
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Teil 1,2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
aufgenommen werden. Hierauf ist jedoch in einer tiefergehenden Untersuchung der Rechtsgrundlagen unten in Abschnitt (C) erneut zurückzukommen.
B. Systematisierung und rechtliche Qualifizierung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen Nachdem im vorangegangenen Abschnitt ein umfassender Überblick über die verschiedenen Rechtsgrundlagen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen geschaffen wurde, sollen im folgenden Abschnitt die verschiedenen Formen der Zusammenarbeit in aller Kürze systematisiert und ihre Rechtsverbindlichkeit für die Staaten und für den Einzelnen näher untersucht werden. Die Systematisierung der verschiedenen Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit dient in erster Linie dem Ziel, Schwerpunkte und Tendenzen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit herauszufiltern. Im Anschluss können die einzelnen Kooperationsmechanismen auf ihre rechtliche Qualität untersucht werden, um so diejenigen Formen der Zusammenarbeit der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit herauszuarbeiten, die die Menschenrechte des Einzelnen tangieren können. Entscheidend sind daher nur diejenigen Formen der Zusammenarbeit, die zu unmittelbaren hoheitlichen Eingriffen in die Rechte des Einzelnen berechtigen.
I. Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen Hierbei sind zunächst die klassischen Formen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen von den modernen Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit abzugrenzen. Beide Kategorien haben nach der hier zugrunde gelegten Terminologie gemein, dass die entsprechenden Rechtsgrundlagen die Zusammenarbeit allein der innerstaatlichen Behörden und Gerichte regeln. Dem gegenüber stehen die Formen der Zusammenarbeit, die unabhängig von den einzelnen Maßnahmen die Zusammenarbeit innerstaatlicher und supra- bzw. zwischenstaatlicher Behörden und Gerichte zum Gegenstand haben. Die Anpassung des nationalen Straf- und Strafverfahrensrechts mittels völkerrechtlicher Übereinkünfte stellt schließlich einen weiteren großen Bereich der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit der Staaten dar.
1. Klassische Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit Die vorangegangene Darstellung der Rechtsquellen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen hat ergeben, dass die internationale Rechtshilfe in Strafsachen nach wie vor den Schwerpunkt der grenzüberschreitenden Zusammen-
B. Systematisierung und rechtliche Qualifizierung
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arbeit in Strafsachen bildet. Zu der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen sind entsprechend dem Drei-Pfeiler-Modell die Auslieferung, die sonstige Rechtshilfe und die Vollstreckungshilfe zu zählen. Neben den so genannten Mutterkonventionen des Europarats zur Auslieferung und Rechtshilfe existieren heute zwischen den europäischen Staaten eine ganze Reihe weiterer völkerrechtlicher Verträge, die zwar keine neuen Auslieferungs- oder Rechtshilfepflichten aufstellen, aber die Ursprungsverträge verbessern und modernen Errnittlungsmethoden und Kommunikationsmitteln anpassen sollen. Diese der effizienten Durchführung der jeweiligen nationalen Verfahren dienenden Verbesserungen werden des Weiteren von einer Abschaffung klassischer Rechtshilfe- und Auslieferungsvoraussetzungen begleitet, was ebenfalls einer schnellen, effektiven grenzüberschreitenden Verbrechensbekämpfung dienen soll.
2. Moderne Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit Unter modernen Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit seien vorliegend solche Maßnahmen der grenzüberschreitenden Strafverfolgung zu verstehen, die nicht zu den klassischen Rechtshilfemaßnahmen zu zählen sind. Damit gehören all diejenigen Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zu den modernen Formen, die etwa ein hoheitliches Tätigwerden auf fremdem Staatsgebiet oder neue multinationale Strafverfolgungsmaßnahmen ermöglichen. Des Weiteren sind hier auch aufgrund der enormen Fortentwicklung der Kommunikationsund Datenverarbeitungstechnologie im letzten Jahrzehnt alle Formen der grenzüberschreitenden Datenerhebung, -verarbeitung und -übennittlung hinzuzurechnen. In der Regel handelt es sich bei den modernen Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit um repressive und präventive Strafverfolgungsmaßnahmen der innerstaatlichen Polizei- und Zollbehörden.
3. Zusammenarbeit mit zwischenstaatlichen und supranationalen Institutionen Die Regelungen, die eine Zusammenarbeit mit zwischenstaatlichen und supranationalen Institutionen ermöglichen, lassen sich danach unterscheiden, ob nationale Strafverfolgungsbehörden zur Zusammenarbeit mit zwischenstaatlichen oder supranationalen Behörden und Organe verpflichtet sind. Diese Form der Zusammenarbeit kann grundSätzlich die klassischen wie die modernen Formen grenzüberschreitender Strafverfolgung umfassen. Darüber hinaus ermöglichen die Rechtsgrundlagen zum Teil auch ein selbständiges hoheitliches Tätigwerden zwischenstaatlicher oder supranationaler Behörden. Dieser Unterscheidung ist für die Zurechnung möglicher Eingriffe in Individualrechtspositionen von erheblicher Bedeutung. 12*
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Teil I. 2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
4. Angleichung des nationalen Straf- und Strafveifahrensrechts Neben dem tatsächlichen Tätigwerden nationaler und zwischenstaatlicher Institutionen bei der grenzüberschreitenden Strafverfolgung macht die Angleichung des nationalen Straf- und Strafverfahrensrechts einen beträchtlichen Anteil an der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen aus. Diese Form der Kooperation. die zwar mittelbar auch der Verbesserung der grenzüberschreitenden Strafverfolgung wie auch der Stärkung der subjektiven Rechte der betroffenen Individuen dient, hat aber keine direkten Auswirkungen auf die Menschenrechte des Einzelnen. Sie ist daher im Rahmen der vorliegenden Untersuchung zu vernachlässigen.
11. Rechtsqualität der grenzüberschreitenden Strafverfolgungsmaßnahmen
J. Dijferenzierungskriterien Für die Frage nach möglichen Grenzen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen aus der Sicht des Individuums müssen die Handlungsformen und Rechtsakte, die auf der Grundlage zwischenstaatlicher Regelungen und völkerrechtlicher Übereinkommen ermöglicht werden, untersucht und in ihrer Wirkung rechtlich eingeordnet werden. Hierfür ist zunächst erforderlich, für die zahlreichen vorstehend nach geographischem und inhaltlichem Anwendungsbereich unterschiedenen Formen der Zusammenarbeit ein rechtliches Differenzierungskriterium aufzustellen. Erst hiernach ist die für den Menschenrechtsschutz maßgebliche rechtliche Zuordnung einzelner Kooperationsformen und der darauf beruhenden konkreten Maßnahmen nationaler, supranationaler oder zwischenstaatlicher Behörden und Institutionen möglich.
a) Qualifikation nach der Rechtsquelle der verschiedenen Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit Besonders naheliegend ist es. die verschiedenen Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit nach der rechtlichen Qualität der ihr zugrunde liegenden Ermächtigungsgrundlagen zu unterscheiden. Wie bereits dargestellt. findet die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen ihre Grundlage in erster Linie in völkerrechtlichen Übereinkommen sowie den entsprechenden innerstaatlichen Ermächtigungsnormen. Daneben lassen sich allerdings auch informelle Kooperationsstrukturen abgrenzen. insbesondere im Bereich der präventiven Strafverfolgung durch Polizeibehörden. die nicht auf völkerrechtlich verbindlichen Übereinkommen beruhen. sondern ihre Grundlage in Regierungsabsprachen oder
B. Systematisierung und rechtliche Qualifizierung
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Verwaltungs abkommen oder allein im nationalen Polizei- und Ordnungsrecht finden. Die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union hat darüber hinaus zwei weitere Rechtsgrundlagen der Zusammenarbeit etabliert, namentlich die Rechtsakte im Rahmen der intergouvernementalen Zusammenarbeit nach Titel VI EUV einerseits und die Rechtsakte im Rahmen der supranationalen Zusammenarbeit nach dem Gemeinschaftsrecht andererseits. Die verschiedenen Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen lassen sich folglich danach unterscheiden, ob sie auf völkerrechtlichen Übereinkommen, völkerrechtlichem soft law, intergouvernementalem und supranationalem Recht der Europäischen Union, informellen Regierungsabsprachen, sonstigen zwischenstaatlichen Vereinbarungen oder auf dem innerstaatlichem Recht beruhen. Der Umfang der Bindung an die Menschenrechte der Völkerrechtsordnung ergibt sich hierbei aus der entsprechenden Bindung der rechtssetzenden Organe. Hier können sich Menschenrechte folglich bereits im Rahmen der Rechtsschöpfung auswirken. b) Qualifikation nach der Zurechnung des auf den jeweiligen Rechtsgrundlagen der Zusammenarbeit beruhenden Hoheitsaktes Eine Unterscheidung der Ermächtigungsgrundlagen allein nach ihrer Rechtsquelle vernachlässigt indes, dass es für die Frage der Verletzung subjekti ver Rechte nicht allein darauf ankommt, ob sich die völkerrechtliche oder innerstaatliche Ermächtigungsgrundlage im Einklang mit den Menschenrechten der Völkerrechtsordnung befinden. Vielmehr wird es im Einzelfall die Ausführung von Maßnahmen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit sein, welche den Einzelnen in seinen individuellen Rechten verletzen kann. Hier kommt es dann nicht allein auf die rechtliche Zuordnung der Ermächtigungsgrundlage an, sondern auf die Frage, ob und in welchem Umfang das ausführende Organ an die Menschenrechte gebunden und zu diesem konkreten Rechtseingriff berechtigt ist. Daher ist neben der Abgrenzung der Ermächtigungsgrundlagen der Zusammenarbeit nach ihrer normativen Qualität eine weitere Abgrenzung nach der Zuordnung des jeweiligen, hierauf beruhenden (inner- oder zwischenstaatlichen) Hoheitsaktes vorzunehmen. Dies bezieht in die rechtliche Zuordnung die Frage nach dem handelnden Organ ein. Entscheidend für die rechtliche Zuordnung von Maßnahmen im Rahmen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit ist daher bei allen Formen der Zusammenarbeit, welchem Hoheitsträger die konkreten Handlungen zuzurechnen sind. Zurechnungsobjekte sind in erster Linie die Staaten, aufgrund der Möglichkeit der Übertragung von Hoheitsgewalt, aber auch die Organe internationaler und vor allem supranationaler Organisationen. Die verschiedenen Handlungsformen im Rahmen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen haben gemein, dass sie einen entsprechenden, die Menschenrechte möglicherweise tangierenden
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Teil 1, 2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
Hoheitsakt nach sich ziehen. Nach innerstaatlichem Verständnis sind Hoheitsakte alle Akte der Exekutive, Legislative und Judikative, die in Ausübung von Hoheitsbefugnissen getätigt werden;411 eine damit verbundene und im Einzelfall ausgeübte Zwangsgewalt wird nicht vorausgesetzt. 412 Schon die bloße Präsenz amtlicher Eigenschaft wird als Hoheitsakt qualifiziert. 4I3 Dieses innerstaatliche Begriffsverständnis erfasst indes nicht die Ausübung von hoheitlichen Befugnissen durch internationale und supranationale Institutionen. Jedoch können einzelstaatliche Definitionen als Anhaltspunkte für eine völkerrechtliche Begriffsbildung herangezogen werden. 414 Daher kann vorliegend auch das Differenzierungskriterium des (eingreifenden) Hoheitsaktes herangezogen werden, um die der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen entspringenden Strafverfolgungsmaßnahmen rechtlich zu qualifizieren. Hierbei soll im Folgenden zwischen Rechtsakten innerstaatlicher Institutionen (Strafverfolgungsbehörden oder Gerichte), zwischenstaatlicher Institutionen (EUIPJZS, Europol, IStGH oder Interpol) und supranationaler Institutionen (EG-Kommission oder OLAF) unterschieden werden.
2. Rechtsakte innerstaatlicher Institutionen und Organe
Die Rechtsakte innerstaatlicher Institutionen und Organe lassen sich insbesondere nach dem Grad der Auslandsberührung unterscheiden. Im Völkerrecht besteht ein aus der territorialen Souveränität und der Gebietshoheit der Staaten fließendes grundsätzliches Verbot, Hoheitsakte auf fremdem Territorium zu setzen. 415 Ausnahmen davon gelten nur in den Fällen, in denen sich die Hoheitsakte nicht auf das Gebiet eines anderen Staates auswirken, oder in den Fällen, in denen die Ausübung vom betreffenden Staat genehmigt wurde. 416 So kann man entsprechend ihrem Grad an Auslandsberührung zwischen Hoheitsakten mit rein innerstaatlicher Wirkung, Hoheitsakten mit extraterritorialer Wirkung und Hoheitsakten auf fremdem Staatsgebiet unterscheiden. Obgleich die neuere Entwicklung der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit Erscheinungs411 Vgl. Geck, in: Strupp/Schlochauer, WVR, BD. I, 795; Schlochauer, Extraterritoriale Wirkung, S. 9; Siegrist, Hoheitsakte, S. 2 m. w. N. 412 Okrosek, ÖZöRVR 35 (1985), 325 (331 f.). 413 Okrosek, ÖZöRVR 35 (1985), 325 (335). 414 Okrosek, ÖZöRVR 35 (1985), 325 (326). 415 Zwischen territorialer Souveränität und Gebietshoheit ist zu differenzieren: mit der aus der territorialen Souveränität fließenden Gebietshoheit bezeichnet man die tatsächliche Herrschaft eines Staates auf seinem Hoheitsgebiet; vgl. hierzu DahmiDelbrückIWolfrum, Völkerrecht, Bd. 1/1, S. 318 f.; Schweitzer, Staatsrecht III, Rn. 576; Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 1363, 1504; Verdross/Simma, Völkerrecht, §§ 1038 ff. 416 Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 1363, 1504.
B. Systematisierung und rechtliche Qualifizierung
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formen der Auslandsberührungm hervorgerufen hat, die systematisch von den herkömmlichen Formen im Rahmen des Völkerrechts abzugrenzen sind, soll im Folgenden an dieser Differenzierung festgehalten werden. a) Hoheitsakte mit ausschließlich innerstaatlicher Wirkung Hoheitsakte mit ausschließlich innerstaatlicher Wirkung stellen im Grunde genommen keine Probleme für die Fragen des Individualrechtsschutzes dar, da insoweit regelmäßig eine umfassende Bindung der nationalen Hoheitsträger an die Grundrechte gegeben ist. Zu diesen Hoheitsakten mit ausschließlich innerstaatlicher Wirkung zählt unter anderem die Vornahmehandlung im Rahmen eines ausländischen Rechtshilfeersuchens im Inland, welche auch allein die Grundrechte des Grundgesetzes berühren kann.-l IB Probleme für den Individualrechtsschutz können innerstaatliche Rechtsakte indes dann aufwerfen, wenn sie in Ausführung supranationaler Gemeinschaftsrechtsakte vorgenommen werden und daher regelmäßig nicht an den Grundrechten der Bundesrepublik Deutschland überprüft werden dürfen. Gleiches gilt in den Fällen. in denen die Staaten durch völkerrechtliche Übereinkommen zur Vornahme bestimmter innerstaatlicher Koopertionsmaßnahmen verpflichtet sind, da auch hier der Grund- und Menschenrechtsschutz regelmäßig eine Einschränkung erfährt.-l 19 b) Hoheitsakte mit extraterritorialer Wirkung Von den Hoheitsakten mit ausschließlich innerstaatlicher Wirkung sind Hoheitsakte mit extraterritorialer Wirkung abzugrenzen. Sie werden zwar ebenfalls auf dem eigenen Hoheitsgebiet vorgenommen, jedoch reichen ihre rechtlichen oder faktischen Wirkungen darüber hinaus. -l2O Dies setzt voraus, dass Personen und Sachen aufJremdem Hoheitsgebiet von den Rechtswirkungen unmittelbar betroffen werden. m In Betracht kommen hierfür insbesondere die Leistungshandlungen im Rahmen von ausländischen Rechtshilfeersuchen oder die Eingabe von
m Dazu Schmidt-Aßmann, in: FS Lerche, 513 (520); ders., DVBI. 1993,924 (935); ders., in: FS Bernhardt (1995), 1283 (1302). m Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, Einleitung, Rn. 91 ff.; IRG Rn. 12 f. vor § 2, Rn. 6 ff. vor § 59. 419 Hierzu im Einzelnen unten 2. Teil. 420 Geck, in: Strupp/Schlochauer, WVR, BD. I, 795; Meng, in: EPIL 11 (1995), 337 ff.; Rauser, Hoheitsrechte, S. 115; Schlochauer, Extraterritoriale Wirkung, S. 10; Siegrist. Hoheitsakte, S. 2. 421 Beyerlin, Rechtsprobleme, S. 240; ähnlich Schwarze, Jurisdiktionsabgrenzung, S. 13, der rein faktische extraterritoriale Wirkungen ausschließt.
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Daten in ein von mehreren Staaten unterhaltenes Infonnationssystem. 422 Die Unterscheidung von Leistungs- und Vornahmeennächtigung im innerstaatlichen Recht ist insbesondere für die Geltung des Gesetzesvorbehalts von Bedeutung, welcher das materiell-rechtliche innerstaatliche Dürfen der ausführenden Organe bestimmt. 423 Die Leistungsermächtigung betrifft die Frage, ob der ersuchte Staat innerstaatlich gerade zur Leistung gegenüber dem ersuchenden Staat befugt ist, das heißt, es sind die Zulässigkeit und die Voraussetzungen der Rechtshilfehandlung zu prüfen. 424 Die Vornahmeermächtigung betrifft hingegen die Frage, ob der ersuchte Staat innerstaatlich dazu ennächtigt ist, sich des Menschen, des Gegenstandes oder etwa der Infonnation zu bemächtigten, die dann nach außen gegeben werden soll. Die Vornahmeennächtigung ist anders als die Leistungsennächtigung keine Besonderheit des Rechtshilferechts, sondern findet ihre materiell- und verfahrensrechtlichen Grundlagen im innerstaatlichen Strafverfahrensrecht. Der Unterschied besteht allein in der Zielrichtung dieser Maßnahmen. Wegen Art. 19 IV GG müssen beide Ennächtigungen gerichtlich überprüfbar sein, wenn die Person geltend macht, in ihren Rechten verletzt zu sein. Einen besonderen Fall der Hoheitsakte mit extraterritorialer Wirkung stellen die so genannten transnationalen Hoheitsakte dar. Sie erfassen nicht nur Sachverhalte mit Auslandsberührung, sondern begründen darüber hinaus auch im Ausland durchsetzbare Rechtspositionen. Die Anerkennung solcher Rechtspositionen kann sich dabei jedoch nur aus völkerrechtlichen Abmachungen zwischen den Staaten oder aus supranationalem Recht ergeben. 425 Abhängig von den handelnden staatlichen Organen lassen sich trans nationale Verwaltungsakte426 und trans nationale Vgl. Harings, Grenzüberschreitende Zusammenarbeit, S. 151 Hierzu und zum Folgenden Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, Einlei tung, Rn. 91 ff. 424 Siehe auch Schomburg, in: SchomburgiLagodny, Internationale Rechtshilfe, Hauptteil III B, S. 830 Rn. 3. 425 Nach der Act-oJ-state-Doktrin können ausländische Hoheitsakte innerstaatlich von Verwaltungsbehörden oder Gerichten nicht auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft werden, sondern müssen anerkannt werden. Die vorbehaltslose Anerkennung ausländischer Hoheitsakte nach der Act-oJ-state-Doktrin ist in der Literatur jedoch heftig umstritten. Nach Ansicht der deutschen Rechtsprechung schreibt das Völkerrecht selbst weder die Anerkennung vor noch verbietet es sie; die deutschen Gerichte erkennen daher ausländische Hoheitsakte grundsätzlich an. Soweit sie indes extraterritoriale Auswirkungen haben, wird ihnen unter Berufung auf das Territorialitätsprinzip die Anerkennung versagt, vgl. BGHZ 20, 4 (10); 25,134 (140); 32, 256 (259); 33,195 (197); 56, 66 (69); zum Streitstand in der Literatur Schweitzer, Staatsrecht III, Rn. 576; Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 1487 ff.; im Einzelnen auch unten 5. Kapitel, S. 360 ff. 426 V gl. hierzu Harings, Grenzüberschreitende Zusammenarbeit, S. 151 ff.; zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung von Verwaltungsentscheidungen im Rahmen der EG Neßler, Richtlinienrecht, S. 5; Schmidt-Aßmann, DVBI. 1993,924 (935); ders., EuR 1996,270 (299 ff.); zum Zusammenhang zwischen Anerkennung und Rechtsangleichung Happe, Grenzüberschreitende Wirkung, S. 83 ff.; zum Visum nach Art. IO I SDU Harings, Grenzüberschreitende Zusammenarbeit, S. 152. 422 423
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Gerichtsentscheidungen427 unterscheiden. Das Wesen der Transnationalität dieser Hoheitsakte liegt darin, dass ihre Wirkung automatisch im gesamten Gebiet der betroffenen Staaten eintritt und nicht erst infolge eines anerkennenden Behördenaktes. 428 Besondere Bedeutung erlangen diese Hoheitsakte in der Form der Anerkennung ausländischer Gerichtentscheidungen im Bereich der grenzüberschreitenden Kriminalität. c) Hoheitsakte auf fremdem Staatsgebiet Hoheitsakte auf fremden Staatsgebiet unterscheiden sich von den Hoheitsakten mit extraterritorialer Wirkung dadurch, dass sich das handelnde staatliche Organ während des Erlasses des Hoheitsaktes auf fremdem Staatsgebiet befindet. 429 Diese Form der grenzüberschreitenden Kooperation ist von der Rechts- und Amtshilfe abzugrenzen, welche zugunsten eines fremden Staates auf dem eigenen Territorium vorgenommen wird. 43o Zu den in der Literatur behandelten Fällen der Hoheitsakte auf fremdem Staatsgebiet zählen die völkerrechtswidrige Entführung, die Nacheile zur Strafverfolgung, Zustellungen im Ausland sowie die Durchführung von Ermiulungsmaßnahmen und die Beweisaufnahme auf fremdem Staatsgebiet. 431 Gerade letztere erlangen im Bereich der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen in Europa zunehmend an Bedeutung. 432 So regeln insbesondere die im Rahmen der Europäischen Union jüngst geschaffenen Rechtsgrundlagen der Zusammenarbeit die Möglichkeit der grenzüberschreitenden Observation und Nacheile, der verdeckten Ermittlung auf fremdem Staatsgebiet oder die Durchführung kontrollierter Lieferung. 433 Nicht in diese Fallgruppe gehört die Tätigkeit der Verbindungsbeamten bei Europol.434 Sie werden zwar formell am 427 Zur Anerkennung von nationalen Gerichtsentscheidungen im Bereich des Gemeinschaftsrechts vgl. die Verordnung zum gemeinschaftlichen Markenrecht, VO Nr. 40/94 des Rates vom 20.12.1993, ABI. L 11 (1994), 1; zurtransnationalen Wirkung von Gerichtsentscheidungen außerhalb des EG-Rechts aufgrund Art. 26 EuGVÜ Neßler, Richtlinienrecht, S. 11 f.; zu Gerichtsentscheidungen nach Art. 111 II SDÜ im Rahmen des Schengener Informationssystems Harings, Grenzüberschreitende Zusammenarbeit, S. 153. 428 Für den Bereich des Gemeinschaftsrechts Neßler, Richtlinienrecht, S. ll f., 22. 429 V gl. z. B. Grabitz, in: EPIL I (1992), 20; Rauser, Hoheitsrechte, S. 115 f.; Siegrist, Hoheitsakte, S. 1 ff. m. w. N. 430 Vgl. für den Bereich der Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen ScheUer, Ermächtigungsgrundlagen, S. 64 ff., 110 ff. 431 Vgl. Geimer, Beweisaufnahme, S. 17 ff.; Okrosek, ÖZöRVR 35 (1985), 325 ff.; Sieg rist, Hoheitsakte, S. 106 ff. 432 Vgl. auch Art. 32 EUV, nach weIchem sich der Rat vorbehält, die Bedingungen und die Grenzen festzulegen, innerhalb weIcher die in Art. 30 und 31 EUV genannten zuständigen Behörden im Hoheitsgebiet eines anderen Staates tätig werden dürfen. 433 V gl. nur Klip, in: SwartlKlip, Extraterritorial Investigation, S. 211 ff. 434 Vgl. Art. 5 EuropolÜbk.
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Sitz von Europol in Den Haag tätig, haben aber keinerlei außenwirksame Befugnisse auf niederländischem Territorium, sondern vertreten lediglich die Interessen der jeweiligen nationalen Stelle bei Europol.435 Die Rechtmäßigkeit der Vornahme und Vollstreckung von Hoheitsakten auf fremdem Staatsgebiet steht regelmäßig unter dem Vorbehalt der Genehmigung des betroffenen Staates. Solche Genehmigungen werden in der Regel durch genannte völkerrechtliche Übereinkünfte antizipiert, können jedoch im Einzelfall auch nachträglich konkludent oder ausdrücklich vorgenommen werden. 436
3. Rechtsakte zwischenstaatlicher und supranationaler Institutionen und Organe Von den Hoheitsakten innerstaatlicher Institutionen und Organe lässt sich schließlich eine moderne Form des hoheitlichen Tätigwerdens auf fremdem Staatsgebiet unterscheiden, namentlich das Tätigwerden zwischenstaatlicher und supranationaler Institutionen auf dem Territorium ihrer Mitgliedstaaten. Während es sich bei den innerstaatlichen Hoheitsakten auf fremdem Staatsgebiet bzw. mit extraterritorialer Wirkung um eine auf horizontaler Ebene durchgeführte Form der Staatenkooperation handelt, sind Rechtsakte zwischenstaatlicher und supranationaler Institutionen einer vertikalen Ebene zuzuordnen. Allerdings ist hierbei zu unterscheiden, ob die Staaten als Mitglieder zwischenstaatlicher Organisationen unmittelbar an Rechtssetzungsprozessen teilnehmen, etwa durch den Abschluss völkerrechtlicher Übereinkommen, oder ob die von ihnen geschaffenen Organe selbständig und mit unmittelbarer Wirkung für die Mitgliedstaaten rechts setzend tätig werden. Während im ersten Fall das hoheitliche Tätigwerden demjeweiligen Staat zuzurechnen ist und unter dem Vorbehalt der innerstaatlichen Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten bzw. zur Rechtssetzung steht, handelt es sich bei den eigenständigen Hoheitsakten der internationalen Institutionen um solche, die nicht zwangsläufig einem einzelnen Staat, sondern nur der entsprechenden internationalen bzw. supranationalen Organisation zuzurechnen sind. a) Rechtsakte internationaler Organisationen im Allgemeinen Hier ist dann nach den rechtlichen und faktischen Auswirkungen der jeweiligen Hoheitsakte zu unterscheiden. Bei einer Großzahl der Beschlüsse und Richtlinien internationaler Organisationen handelt es sich um Rechtsakte ohne rechtliche Verbindlichkeit für die Mitgliedstaaten und ihre Staatsangehörigen. So zählen etwa die Verhaltenscodices der OECD, die Richtlinien der Vereinten Nationen oder des Europarats zum so genannten soft law und erlangen keine über ihre politische 435 436
Harings, Grenzüberschreitende Zusammenarbeit, S. 154. Im Einzelnen Sieg rist, Hoheitsakte, S. 25 ff., 106 ff.
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Wirkung hinausgehende Bindungskraft. 437 Anders verhält es sich indes mit völkerrechtlichen Übereinkommen, die im Rahmen der internationalen Organisationen erarbeitet werden. Diese erlangen eine völkerrechtliche Verbindlichkeit zwischen den jeweiligen Vertrags staaten kraft ihrer Unterzeichnung und Ratifikation sowie eine innerstaatliche Verbindlichkeit kraft ihrer Inkorporation in das nationale Recht. Damit sind sie indes nicht mehr als Akte der jeweiligen internationalen Institution, sondern als Akte der Vertragsstaaten einzuordnen. Hingegen gibt es internationale Institutionen, die unmittelbar zur Rechtssetzung in den Mitgliedstaaten befugt sind. Hierzu zählen etwa die Vereinten Nationen, deren Befugnisse zur Rechtssetzung im Bereich des Kapitels VII der Charta rechtsverbindliche Wirkung in' den (betroffenen) Mitgliedstaaten entfalten können. 438 Kapitel VII UN-Charta hat insbesondere im Rahmen des internationalen Menschenrechtsschutz Bedeutung erlangt und schließlich auch die Einsetzung der Kriegsverbrechertribunale für Jugoslawien und Ruanda ermöglicht. Die völkerrechtliche Befugnis zu einem solchen unmittelbaren, hoheitlichen Tätigwerden der Organe internationaler Organisationen auf dem Territorium eines Mitgliedstaats ergibt sich aus einer Hoheitsübertragung bei der Gründung der internationalen Organisation oder beim Beitritt eines Staates zu dieser. Bezüglich dieser originären Rechtssetzungskompetenzen der internationalen Organisationen stellt sich im vorliegenden Zusammenhang die Frage, ob und in welchem Umfang deren Organe an individualrechtliche Positionen, insbesondere an die Menschenrechte der Völkerrechtsordnung gebunden sind. b) Supranationale Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaften Dies hat insbesondere Bedeutung für das hoheitliche Handeln der Organe der Europäischen Gemeinschaften, die mit unmittelbarer Wirkung Rechtsakte auf dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten erlassen können, und erlangt im Rahmen dieser Untersuchung etwa Bedeutung für das Tätigwerden der Kommission auf dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten im Rahmen von Wettbewerbsverstößen und der Betrugsbekämpfung. Da deren Hoheitsakte den Europäischen Gemeinschaften als eigene supranationale Rechtsakte mit unmittelbarer rechtlicher Wirkung für die Mitgliedstaaten zuzurechnen sind,439 stellt sich sowohl für die supranationalen 437
Siehe nur Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 9 Rn. 3 f.
Gemäß Art. 39 UN-Charta ist der Sicherheitsrat befugt, im Fall einer Bedrohung oder eines Bruchs des Friedens oder einer Angriffshandlung Empfehlungen abzugeben oder zu beschließen, welche Maßnahmen auf Grund der Art. 41 und 42 UN-Charta zu treffen sind. Art. 41 f. UN-Charta ermächtigen den Sicherheitsrat zu gewaltlosen und militärischen Sanktionen. 439 Zum Rechtsstatus der Europäischen Gemeinschaften sowie zur unmittelbaren Geltung der Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten siehe statt vieler Oppennann, Europarecht, Rn. 151 ff.. 510 ff. 438
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Organe als auch für die zur Ausführung von Gemeinschaftsrecht verpflichteten nationalen Strafverfolgungsorgane die Frage der Bindung und Reichweite an die Menschenrechte der Völkerrechtsordnung. 44o c) Intergouvernementale Rechtsakte der Europäischen Union Vom supranationalen Hoheitshandeln der Gemeinschaftsorgane sind die Maßnahmen im Bereich der intergouvernementalen Zusammenarbeit nach Titel VI EUV zwingend zu unterscheiden. 441 Im Gegensatz zu den supranationalen Rechtsakten der Gemeinschaftsorgane finden die intergouvernementalen Rechtsakte ausdrücklich keine unmittelbare Anwendung in den Mitgliedstaaten. 442 Zwar stellen die Maßnahmen nach Art. 34 EUV (völkerrechtlich) bindende Beschlüsse und Rechtsakte der Europäischen Union dar, jedoch ausschließlich in einem "intergouvernemental-völkerrechtlichen" und nichtjustiziablen Sinne. 443 Insbesondere das mit den Richtlinien des Gemeinschaftsrechts grundsätzlich vergleichbare Instrument der "Rahmenbeschlüsse" erzeugt in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union nur eine mittelbare, den völkerrechtlichen Verträgen vergleichbare, rechtliche Bindungswirkung. 444 Eine ähnliche Wirkung könnten künftig Maßnahmen der Europol-Bediensteten haben, wenn ihnen durch eine Vertragsänderung, wie sie in Art. 3011 lit. a) und b) EUV bereits angedeutet wird, eigenständige operative (Errnittlungs-)Befugnisse auf dem Territorium der Mitgliedstaaten eingeräumt werden. Neben der lustitiabilität der Rechtsakte der Europäischen Union stellt sich des Weiteren auch die Frage der Zurechenbarkeit dieser Rechtsakte. Da nach wie vor hochumstritten ist, ob die Europäische Union eine europäische Körperschaft mit eigener Völkerrechtssubjektivität darstellt,445 bleibt schließ440 Zur Bindung der Organe der Europäischen Gemeinschaft an die Grund- und Menschenrechte siehe die zahlreichen Nachweise zum Schrifttum bei Oppermann, Europarecht, vor Rn. 489; im Einzelnen auch unten 6. Kapitel, S. 447 ff. 441 Gemeint sind insbesondere die "Rechtsakte der Europäischen Union" gemäß Art. 34 EUV. 442 Art. 3411 lit. b) Satz 2, lit. c) Satz 2 EUV spricht den Rahmenbeschlüssen und den Beschlüssen die unmittelbare Wirksamkeit ausdrücklich ab; für Durchführungsmaßnahmen zu den Beschlüssen gemäß Art. 34 11 lit. c) Satz 2 EUV sowie für die mitgliedstaatlichen Übereinkommen gemäß Art. 34 II 4 EUV fehlt allerdings eine entsprechende Regelung. 443 So Fennelly, in: den Boer, Flexibility and Legitimacy, S. 69 (76); Oppermann, Europarecht, Rn. 582; Pechstein, EuR 1999, 1 (23); ders., in: Geiger, Völkerrechtlicher Vertrag, S. 31 ff.; zur lustitiabilität der Rechtsakte im Rahmen der PJZS siehe ausführlich unten 3. Kapitel, S. 264 ff. 444 V gl. Harings, EuR-Beiheft 2/1998, 81 (88); Streinz, EuZW 1998, 137 (142). 44S Hierzu ausführlich Busse, Die völkerrechtliche Einordnung der Europäischen Union, 1999; die Völkerrechtssubjektivität der Europäischen Union ablehnend Pechstein/König, Europäische Union, Rn. 58 ff.; für die Europäische Union als neue europäische Körperschaft bzw. Organisation Dörr, EuR 1995, 334 (335 ff.); Ress, EuR-Beiheft 2/1995, 27
C. Individualrechte in den Rechtsgrundlagen der Zusammenarbeit
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lieh zu klären, wem die nach Titel VI EUV erlassenen Rechtsakte zuzurechnen sind. Sofern man den Rechtsakten aufgrund ihres intergouvernementalen Charakters ausschließlich eine völkerrechtliche Bindungswirkung zuschreibt, sind sie allein den Mitgliedstaaten selbst zuzurechnen. Vertritt man indes, dass die Europäische Union eine eigenständige Körperschaft mit eigenen, die Mitgliedstaaten bindenden Rechtssetzungsbefugnissen darstellt, dann ließen sich diese Rechtsakte jedenfalls im Rahmen ihrer völkerrechtlichen Bindungswirkung der Europäischen Union selbst zurechnen.
III. Ergebnis Im Ergebnis lassen sich daher zwei verschiedene Zurechnungsebenen unterscheiden. Bei den Formen der "klassischen" grenzüberschreitenden Zusammenarbeit von Staaten bleiben allein letztere die Zurechnungsobjekte staatlichen Handeins. Die Verantwortlichkeit für die Rechtsfolgen von Hoheitsakten ist daher bei den Staaten zu suchen. Dies kommt in der Mehrzahl der Fälle zum Tragen, namentlich in all diejenigen, in denen Staaten völkerrechtliche Übereinkommen oder sonstige völkerrechtliche Rechtsakte innerstaatlich umsetzen und in denen innerstaatliche Strafverfolgungsbehörden in Ausführung dieser Rechtsgrundlagen Hoheitsrnaßnahmen vornehmen. Bei internationalen Organisationen kann die Setzung eines Hoheitsaktes indes nicht eindeutig einem Staat zugerechnet werden. Je nach Ausgestaltung der Institution wäre allenfalls eine Zurechnung über die Mitgliedstaaten zu konstruieren. Hierbei ist jedoch zu unterscheiden, ob es sich um eine rein zwischenstaatliche Organisation handelt oder um eine supranationale wie die EG. Letztere verfügt aufgrund ihrer Rechtssetzungskompetenz über unmittelbare Durchgriffsbefugnisse, die sie zu grundrechtserheblichen Eingriffen gegenüber den Staatsbürgern ihrer Mitgliedstaaten berechtigen. Zurechnungsobjekt ist daher die supranationale Organisation selbst und nicht etwa die hinter ihr stehenden Mitgliedstaaten. In einem solchen Fall ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang die jeweilige zwischenstaatliche Institution, insbesondere Organe der Europäischen Union, an die Menschenrechte der Völkerrechtsordnung gebunden sind.
C. Individualrechtliche Bezüge in den Rechtsgrundlagen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen Nachdem in den vorangegangenen Abschnitten die Rechtsgrundlagen umfassend auf ihren Reglungsgehalt hin untersucht worden sind, um die Formen und die (34); Streinz, Europarecht, Rn. 121 a; für eine Völkerrechtssubjektivität der Europäischen Union von BogdandylNettesheim, EuR 1996,3 ff.; Wessei, The European Union's Foreign and Security Policy: A Legal lnstitutional Perspective, 1999; ders., European Foreign Affairs Review 2 (1997),109 (J 13 ff.).
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Teil I, 2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
Reichweite der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen vor allem in Europa abgrenzen zu können, sollen eben diese Rechtsgrundlagen im Folgenden auf individualrechtliche Bestimmungen hin geprüft werden. Dem liegt der Umstand zugrunde, dass die Frage der Subjektstellung des Einzelnen im Rahmen des traditionellen Auslieferungs- und Rechtshilferechts hochumstritten ist. So wurde insbesondere von den Vertretern einer zweidimensionalen Sichtweise die Ansicht vertreten, dass die völkerrechtlichen Übereinkommen über die internationale Rechtshilfe allein die Rechte der beteiligten Vertragsstaaten regeln, nicht aber diejenigen der von diesen Maßnahmen möglicherweise betroffenen Individuen. 446 Da sich jedoch eine zunehmende Anerkennung der subjektiven Rechte des Einzelnen auf völkerrechtlicher Ebene beobachten lässt, soll im Folgenden geprüft werden, ob sich dies bereits in den Rechtsquellen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit in Strafsachen jüngeren Datum niedergeschlagen hat. Daher sollen im Folgenden zunächst in einem kurzen Überblick die traditionellen Schranken des internationalen Rechtshilferechts, aus welchen sich inzwischen individualrechtliche Schranken herausgebildet haben, auf ihre Bedeutung für die zwischenstaatliche Zusammenarbeit in Strafsachen hin untersucht werden. ImAnschluss ist dann gezielt auf die vorstehend erläuterten internationalen Rechtsquellen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit einzugehen. Schließlich sollen auch die innerstaatlichen Rechtsgrundlagen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen in der Bundesrepublik Deutschland auf (gesonderte) Individualrechtspositionen hin untersucht werden. I. Traditionelle Schranken des internationalen Rechtshilferechts Bei den traditionellen Schranken des internationalen Rechtshilferechts handelt es sich weitgehend um im 19. Jahrhundert entwickelte materielle Auslieferungsvoraussetzungen und -ausnahmen, die jedoch bis auf das Auslieferungsverbot eigener Staatsangehöriger ausschließlich zum Ausgleich zwischenstaatlicher Interessen gedacht waren. 44? Sie waren Ausdruck der traditionellen zweidimensionalen Sichtweise, wonach der Einzelne im Wesentlichen ein "Objekt" der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit darstellte. 448 Die traditionellen Auslieferungs- und Rechtshilfehindernisse können daher keineswegs mit den Grund- oder Menschenrechten des Einzelnen gleichgesetzt werden. Indes plädieren immer mehr Völkerrechts- und Strafrechtswissenschaftler für die Ersetzung der traditionellen Auslieferungshindernisse durch menschenrechtliche Schutzklauseln, wie z. B. bei politischen Delikten durch eine "Ausnahme bei politischer Verfolgung und men-
Vgl. im Einzelnen hierzu unten 3. Kapitel. S. 228 f. Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe. Einleitung. S. 18 Rn. 88. 448 Im Einzelnen hierzu unten 3. Kapitel. S. 228 f. 446
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C. Individualrechte in den Rechtsgrundlagen der Zusammenarbeit
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schenrechtswidriger Behandlung".449 Da die traditionellen Auslieferungs- und Rechtshilfehindernisse sich nach wie vor in den meisten völkerrechtlichen Übereinkommen und auch in den innerstaatlichen Rechtsgrundlagen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen befinden und ihnen heute auch eine vereinzelt individualrechtsschützende Bedeutung beigemessen wird, sollen sie im Folgenden kurz dargestellt und auf ihre individualschützende Bedeutung im aktuellen internationalen Rechtshilferecht untersucht werden. Während es sich bei dem Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit, dem Grundsatz der Gegenseitigkeit und dem Grundsatz der Spezialität um Rechtshilfevoraussetzungen handelt, stellen die Grundsätze der Nichtauslieferung eigener Staatsangehöriger und politischer Straftäter sowie die Grundsätze der Nichtauslieferung bei fiskalischen Delikten und bei drohender Todesstrafe Rechtshilfehindernisse dar. J. Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit
Nach dem Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit kann eine Auslieferung nur dann erfolgen, wenn das Verhalten des Verfolgten nach dem Recht beider Staaten strafbar ist. 450 Nach traditioneller Auffassung ist die Auslieferung zwar nicht der Strafrechtspflege des ersuchten Staates zuzurechnen, sondern stellt einen Akt der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit zur Unterstützung einer ausländischen Strafverfolgung dar. 451 Dennoch liefern die Staaten regelmäßig nur dann aus, wenn die fragliche Tat auch nach eigenem Recht strafbar ist,452 weshalb sich der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit in fast allen Rechtshilfe- und Auslieferungsverträgen wiederfindet. 453 Der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit ist zwar ein Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips,454 jedoch dient er vor allem dazu, den Grundsatz der Gegenseitigkeit im Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehr zu wahren. 455 Daher kann 44Y HailbronnerlOlbrich, A YR 24 (1986), 434 (465); Stein, Auslieferungsausnahme, S. 359 ff.; für die Abschaffung der traditionellen Schranken insbesondere im Auslieferungsrecht SchomburglLagodny, NStZ 1992, 353 (360), mit dem Hinweis auf die Niederlande, in der die Auslieferung eigener Staatsangehöriger unter der Bedingung möglich ist, dass eine Strafe in den Niederlanden vollstreckt wird, vgl. weitere Nachweise bei Schomburgl Lagodny, Internationale Rechtshilfe, IRG, § 2 Rn. 25. 450 Hierzu ausführlich BlakesleylLagodny, Yanderbilt Journal ofTransnational Law 24 (1991), 1 (4 ff.); Lagodny, in: Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, IRG, § 3 Rn. 2 ff.; Loos, Auslieferungsrecht, S. 54 ff.; Williams, Hague YblL 1993,94 (100 ff.). 451 BGHSt 32, 414 (322); Stein, Auslieferungsausnahme, S. 5; Oehler, in: FS 600-JahrFeier der Universität zu Köln (] 988),489 (49 I). 452 Ygl. Z. B. OLG Koblenz, Beschluss vom 19.10.1989. 453 Ygl. nur Art. 2 EuAIÜbk; Art. 2 BeNeLuxÜbk; Art. 2 UN-Modellvertrag zur Auslieferung; Art. X des deutsch-britischen Auslieferungsvertrages; § 311RG; Art. 3 EU-AIÜbk. 454 van den Wyngaert, in: Eser/Lagodny, Principles, S. 489 (492). 455 BGHSt 27, 168 (174) NJW 1977, 1598 ff.; Lagodny, in: Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, IRG, § 3 Rn. 2; Vogler/Wilkitzki, IRG, § 3 Rn. 8.
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er auch nicht als unmittelbarer Schutz des Individuums verstanden werden. Dennoch wird ihm injüngerer Zeit eine "vermeintlich individualschützende Wirkung" unterstellt. 456 In der Tat erscheint es möglich, dass eine individualschützende Wirkung im Bereich der Strafandrohung im ersuchenden Staat erlangt werden kann, wenn letztere nicht in gleichem Maße wie im ersuchenden Staat möglich ist und eine Auslieferung auf dieser Grundlage abgelehnt werden muss. Dass es dieses Grundsatzes zum Schutz der Individualrechte noch bedarf, wird nicht nur von denjenigen angezweifelt, die den innerstaatlichen Grundrechten eine umfassende Anwendbarkeit auch im vertraglichen Rechtshilfeverkehr einräumen. 457 Auch Auslieferungsverträge jüngeren Datums wie das EU-AIÜbk suchen diese die grenzüberschreitende Zusammenarbeit hindernde Auslieferungsvoraussetzung zurückzudrängen. 458
2. Grundsatz der Gegenseitigkeit Der Grundsatz der Gegenseitigkeit macht deutlich, dass gerade völkerrechtliche Beziehungen von einem Geben und Nehmen geprägt sind. 459 Ein Staat ist in der Regel nur dann zur Auslieferung oder Rechtshilfe bereit, wenn er sicher sein kann, dass der ersuchende Staat ihn im umgekehrten Fall ebenso in einem Strafverfahren unterstützen wird. 460 Im heute immer seltener werdenden vertragslosen Rechtshilfeverkehr ergibt sich die Gegenseitigkeit aus den Erfahrungen der bisherigen Praxis sowie aus verbindlichen Zusicherungen des ersuchenden Staates. 461 Beruht die Auslieferung oder die Rechtshilfemaßnahme auf einem entsprechenden Vertrag, so geWährleisten schon die beiderseitigen völkervertraglichen Verpflichtungen die Gegenseitigkeit. 462 Für den Individualrechtsschutz ist dieses Erfordernis indes ohne Bedeutung, denn das Prinzip der Gegenseitigkeit dient ausschließlich zwischenstaatlichen Interessen. 463
Schotz, Zulieferung, S. 22. In diesem Sinne Lagodny, in: SchomburglLagodny. Internationale Rechtshilfe. IRG. § 3 Rn. 2; vgJ. aber auch Swart, in: Eser/Lagodny, Transnational Criminal Law. S. 505 ff.; a. A. Vogler/Wilkitzki, IRG, § 3 Rn. 2 m. w. N. 458 VgJ. etwa Art. 2 und 3 EU-AIÜbk. 4lY Ausführlich Illert, Das Prinzip der Gegenseitigkeit im Ausländerrecht. 1976. 460 Stein, Auslieferungsausnahme, S. 6. 46\ Häde, Der Staat 36 (1997), I (5); vgJ. hierzu auch Lagodny, in: SchomburglLagodny. Internationale Rechtshilfe, IRG, § 5 Rn. I ff. 462 Stein, Auslieferungsausnahme, S. 38. 46) Lagodnv, in: SchomburglLagodny. Internationale Rechtshilfe. IRG, § 5 Rn. 2; Nage/. Beweisaufnahme, S. 96. 456 457
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3. Grundsatz der Spezialität Eine Auslieferung ist entsprechend den klassischen Auslieferungsgrundsätzen dann unzulässig, wenn in dem ersuchenden Staat eine Verfolgung wegen eines Sachverhaltes oder einer Straftat droht, die nicht dem Auslieferungsersuchen zugrunde gelegt wurde. 464 Dieser so genannte Grundsatz der Spezialität beschränkt somit die Hoheitsgewalt des ersuchenden Staates nach erfolgter Auslieferung oder ÜbersteIlung des Verfolgten, indem dieser prinzipiell nur wegen der Tat verfolgt, verurteilt und bestraft werden darf, wegen welcher seine Auslieferung oder Überstellung bewilligt worden ist. 465 Auf sonstige vor der Auslieferung oder Überstellung begangene Handlungen darf sich die Strafverfolgung und -vollstreckung nur erstrecken, wenn der ersuchte Staat dem zustimmt. Diese Einschränkung der Strafgewalt ist nicht zuletzt erforderlich, um die Wirksamkeit der beiderseitigen Strafbarkeit zu sichern. 466 Die auf diese Weise begründete Beschränkung der Strafgewalt des ersuchenden Staates endet allerdings, wenn der Auszuliefernde das Hoheitsgebiet des Staates, an den er ausgeliefert wurde, trotz der Möglichkeit dazu nicht verlässt oder wenn er nach Verlassen des Gebiets wieder dorthin zurückkehrt. 467 Daneben dient der Grundsatz der Spezialität allerdings auch dem Schutz des Betroffenen vor übermäßiger Beeinträchtigung. 468 In Übereinkommen jüngeren Datums findet der Spezialitätsgrundsatz zugunsten einer effektiveren Strafverfolgung nur noch einschränkt Anwendung. 469
4. Grundsatz der NichtauslieJerung eigener Staatsangehöriger Das Verbot der Auslieferung eigener Staatsangehöriger ist ein auf die Souveränität der Staaten und ihre Schutzpflicht für die eigenen Staatsangehörigen zurückzuführender, historisch gewachsener Grundsatz des internationalen Rechtshilferechts,470 welcher sich auch in den meisten Verfassungen der Staaten wiederfin4M Vgl. die umfassende Regelung in Art. 14 EuAIÜbk; hierzu Schomburg. in: SchomburgiLagodny. Internationale Rechtshilfe, Hauptteil 11 A, S. 446 ff. 465 Ausführlich Vogler. in: FS Spendel (1992), 871 (874 ff.); vgl. auch Schomburgl Lagodny. Internationale Rechtshilfe, Einleitung, S. 15 Rn. 74; Stein. Auslieferungsausnahme. S. 40; Weigend. JuS 2000, 105 (109). 466 Vogler. in: FS Spendel (1992), 871 (874); siehe auch Häde. Der Staat 36 (1997), I (5 f.). 467 Vgl. Art. 14 I lit. b) EuAIÜbk. 468 Weigend. JuS 2000, 105 (109). 469 Vgl. das UN-DrogenÜbk, GeldwÜbk sowie Art. 66 SDÜ. 470 Ausführlich zur historischen Entwicklung und zur internationalen Geltung dieses Grundsatzes Oehler. Internationales Strafrecht, S. 175 ff.; Rinio. ZStW 108 (1996),354 ff.; Williams. Hague YblL 1993, 94 (96 ff.).
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det. 471 Aufgrund eines regelmäßigen Misstrauens der Staaten in die Unparteilichkeit ausländischer Gerichte, in die Fairness der von ihnen durchgeführten Verfahren und in die Angemessenheit der von ihnen angewandten Strafgesetze472 wurde dieser Grundsatz auch in die meisten klassischen Auslieferungsverträge übernommen. 473 Ein gesteigertes Vertrauen in die innerstaatlichen Standards der Verfahrensgerechtigkeit und auch des materiellen Strafrechts scheint indes dazu beigetragen zu haben, dass Auslieferungsverträge jüngeren Datums zunehmend auch die Auslieferung eigener Staatsangehöriger vorsehen,474 insbesondere innerhalb der europäischen Staatengemeinschaft. 475 Als Ausweichmöglichkeit verbleibt den Staaten in den meisten Fällen jedoch die Möglichkeit, bei Vertragsschluss bzw. Ratifikation der Übereinkommen entsprechende Vorbehalte geltend zu machen. 476 Einige Übereinkommen nehmen auch die regelmäßig vorliegenden innerstaatlichen Verbote der Auslieferung eigener Staatsangehöriger hin, verpflichten die Staaten in solchen Fällen indes zur Übernahme der Strafverfolgung im eigenen Land. 477 Diese Möglichkeit besteht allerdings nicht bei Auslieferungsersuchen der Kriegsverbrechertribunale der Vereinten Nationen,478 weshalb insbesondere die 471 V gl. nur Art. 16 11 GG; hierzu Randelzhojer, in: MaunzlDüriglHerzog, GG, Art. 16 Rn. 1 ff.; zum Verbot der Auslieferung eigener Staatsangehörigen nach französischem Verfassungsrecht siehe kurz Walter, EuGRZ 2000,303 (305). 472 Randelzhojer, in: MaunzlDüriglHerzog, GG, Art. 16 Rn. 2; Rinio, ZStW 108 (1996), 354 (381); von Bubnoff. Auslieferung, S. 58; Weigend, JuS 2000,105 (107). 473 Vgl. nur Art. 5 BeNeLuxÜbk; Art. 6 EuAIÜbk, hierzu Schomburg, in: Schomburgl Lagodny, Internationale Rechtshilfe, Hauptteil 11 A, S. 436 f. 474 Vgl. etwa Art. 15 llIi. V. m. Art. 16 X UN.-TranskrimÜbk; Art. 10 II OECDBestechUbk; Art. 7 I EU-AIUbk; Art. 5 EU-BetrugsUbk. 475 Vgl. auch Rinio, ZStW 108 (1996), 354 (81). 476 So sind gemäß Art. 711 EU-AuslÜbk Vorbehalte möglich, dass eigene Staatsangehörige entweder gar nicht oder nur unter bestimmten Voraussetzungen ausgeliefert werden dürfen. Einen solchen Vorbehalt hat z. B. Österreich erklärt, vgl. Schwaighojer, ÖJZ 1997, 17 (20). 477 Der sog. Grundsatz des aut dedere aut judicare findet sich z. B. in Art. 6 EuAI Übk; Art. 6 UN-DrogenÜbk; Art. 16 X UN-TranskrimÜbk; Art. 81 UN-TerrorBombÜbk; Art. 10 1lI OECD-BestechÜbk; vgl. zu diesem Grundsatz Plachta, MJ 6 (1999),331 ff.; ausführlich Bassiouni, Aut dedere out judicare - The Duty to Extradite or Prosecute in International Law,1995. 478 V gl. z. B. Art. 29 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien. Zwischen der sog. ÜbersteIlung an Kriegsverbrechertribunale und der klassischen Auslieferung besteht der Unterschied, dass die Verfolgten nicht der Gerichtsbarkeit eines anderen Staates, sondern einer supranationalen Gerichtsbarkeit unterstellt werden. Terminologisch differenzierend spricht man daher auch von der "Zulieferung". Zu der Problematik der Zulieferung eigener Staatsangehöriger, der erforderlichen Verfassungsänderung in der Bundesrepublik Deutschland und der entsprechenden Regelung im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs siehe nur Bausback, NJW 1999, 3319 ff.; Schmalenbach, A VR 26 (1998). 285 ff.; Sclzöbener/Bausback, DÖV 1996, 621 ff.; WirthiHarder, ZRP 2000. 144 ff.; umfangreiche weitere Literaturhinweise bei Schomburg, in: SchomburglLagodny. Internationale Rechtshilfe. Hauptteil VI AI, S. 1173
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Ratifikation des IStGH-Statuts für viele Staaten mit einer Änderung des nationalen Verfassungsrechts verbunden (gewesen) ist. 479
5. Grundsatz der Nichtauslieferung politischer Straftäter Auch das Verbot der Auslieferung aufgrund militärischer oder politischer Straftaten stellt einen historisch gewachsenen Grundsatz des internationalen Rechtshilferechts dar,480 welcher sowohl für Auslieferungen als auch für sonstige Rechtshilfemaßnahmen Geltung beansprucht. 481 Er ist allgemein auf das völkerrechtliche Prinzip der Achtung der Souveränität anderer Staaten sowie auf die Erwägung zurückzuführen, sich nicht durch die Auslieferung eines Verfolgten in die innerstaatlichen politischen Auseinandersetzungen eines anderen Staates einmischen zu wollen. 482 Im Übrigen steht dieses Auslieferungsverbot auch in engem Zusammenhang zu dem in vielen Verfassungen gewährten Recht auf Asy1.483 Der Grundsatz der Nichtauslieferung politischer Straftäter gehört nicht nur deshalb zu den sicherlich meist umstrittenen klassischen Auslieferungshindernissen, zurnal bereits die Definition des Begriffs der politischen Straftat ungeheure Abgrenzungsprobleme mit sich bringt. Diese ermöglichen es den Staaten, sich in den verschiedensten Fällen auf das in den völkerrechtlichen Übereinkommen regelmäßig enthaltene Auslieferungshindernis zurückzuziehen, wie z. B. in den für die vorliegende Untersuchung so wichtigen Fällen, in denen der Auszuliefernde im ersuchenden Staat eine unmenschliche und erniedrigende Strafe oder gar die Todesstrafe zu erwarten hat. Mehr noch als bei dem Grundsatz der Nichtauslieferung eigener Staatsangehöriger enthalten moderne Instrumente der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit nicht mehr die Möglichkeit, bei politisch motivierten Straftaten die Zusammenarbeit zu verweigern,484 insbesonRn. 23; ausführlich auch Schotz, Die Zulieferung an den Jugoslawien-Strafgerichtshof, 1999. m Hierzu in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland Wirth/Harder, ZRP 2000, 144 ff.; in Bezug auf das geltende Verfassungsrecht in anderen europäischen Staaten siehe Rinio, ZStW 108 (1998), 354 (364 ff.); für Frankreich Walter, EuGRZ 2000, 303 ff. ~80 Hierzu und zum Folgenden ausführlich Hailbronner/Olbrich, AVR 24 (1986), 434 ff.; Olbrich, Die Auslieferungsausnahme bei politischer Verfolgung, 1987; Stein, Die Auslieferungsausnahme bei politischen Delikten, 1983; van den Wyngaert, The Political Offence Exception to Extradition, 1980. ~81 Vgl. Art. 3 EuAIÜbk, hierzu Schomburg, in: SchomburglLagodny, Internationale Rechtshilfe, Hauptteil 11 A, S. 433 f.; vgl. auch Art. 2 EuRhÜbk sowie Art. 3 BeNeLuxÜbk. ~82 Weigend, JuS 2000, 105 (108). m Vgl. zu dem Verhältnis zwischen Auslieferung und Asylrecht BVerfGE 60,348 ff.; Hailbronner/Olbrich, NVwZ 1985,297 ff.; Schomburg, in: SchomburglLagodny, Internationale Rechtshilfe, IRG, § 6 Rn. 13 ff., 33 ff. ~8~ Vgl. nur Art. I EuTerrÜbk; Art. I des 1. ZP-EuAIÜbk sowie Art. 5 EU-AIÜbk, entsprechendes gilt für Rechtshilfeverträge, vgl. Art. 8 EuTerrÜbk und Art. 11 UN-TerrorBombÜbk.
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dere wenn es um die Beteiligung des Verfolgten an Völkermord, Mord oder Totschlag geht. 485
6. Grundsatz der Nichtauslieferung bei fiskalischen Delikten Der Grundsatz der Nichtauslieferung bei fiskalischen Delikten fand sich in nahezu jedem der klassischen Übereinkommen über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen und ermöglichte den um Auslieferung und Rechtshilfe ersuchten Staaten, diese unter Berufung auf fiskal- und zollrechtliche Straftaten zu verweigern. 486 Keineswegs handelte es sich dabei um ein absolutes Verbot, sondern die Entscheidung über die Ausführung des entsprechenden Auslieferungs- oder Rechtshilfeersuchens stand im Ermessen des ersuchten Staates. Dies galt auch für solche Fälle, in welchen insbesondere eine Rechtshilfemaßnahme für den Betroffenen von Vorteil gewesen wäre. 487 Schon die Zusatzprotokolle zu den Europaratsübereinkommen 488 sowie nahezu alle modernen Übereinkommen 489 haben die fakultati ve Klausel der Verweigerung von Rechtshilfemaßnahmen unter Berufung auf fiskal- und zollrechtliche Straftaten aufgehoben bzw. ausgeschlossen, so dass dieser Grundsatz für die gegenwärtige Praxis der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen weitgehend bedeutungslos geworden sein dürfte.
7. Grundsatz der Nichtauslieferung bei drohender Todesstrafe Von erheblicher gegenwärtiger Bedeutung ist indes der Grundsatz der Nichtauslieferung bei drohender Todesstrafe, welcher insbesondere in Auslieferungsübereinkommen zu finden ist. 490 So gestattet z. B. Art. II EuAIÜbk einem um Auslieferung ersuchten Staat die Verweigerung der Auslieferung, wenn der ersuchende Staat nicht eine ausreichende Zusicherung abgibt, die Todesstrafe nicht zu verhängen bzw. nicht zu vollstrecken. 491 Für die Bundesrepublik Deutschland han48l Vgl. nur Art 6 I 1 IRG; zur Abgrenzung des Auslieferungshindernisses bei politischen Straftaten von dem Auslieferungsverbot bei politischer Verfolgung im Sinne von § 6 II IRG vgl. nur Weigend. JuS 2000.105 (108). 486 Vgl. nur Art. 5 EuAIÜbk; Art. 2 EuRhÜbk; Art. 4 BeNeLuxÜbk. 487 Vgl. den Explanatory Report zum EuRhÜbk. Art. 2. 488 Vgl. Art. 5 EuAIÜbk; aufgehoben durch Art. 2 des 2. ZP-EuAIÜbk für die Auslieferung und Art. I des 1. ZP-EuRhÜbk für die Rechthilfe. 489 Vgl. nur Art. 18 XXII UN-TranskrimÜbk; Art. 5 III EU-BetrugsÜbk; Art. 63 SDÜ. 490 Vgl. Art. 11 EuAIÜbk; Art. 41it. d) UN-Modellvertrag; Art. 16 EuDrogenÜbk. 491 Art. 11 EuAIÜbk lautet: .. If the offence for wh ich extradition is requested is punishable by death under the law of the requesting Party. and if in respect of such offence the death-penalty is not provided for by the law ofthe requested Party or is normally not carried out. extradition may be refused unless the requesting Party gives such assurance as the requested Party considers sufficient that the death-penalty will not be carried out."
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delt es sich bei diesem fakultativen Auslieferungshindernis aufgrund der Art. 102 und Art. 211 1 GG um ein zwingendes Auslieferungsverbot. 492 Daher bedarf es für die - vom Oberlandesgericht zu prüfende - Zulässigkeit einer Auslieferung durch die Bundesrepublik Deutschland einer völkerrechtlich verbindlichen Zusicherung des ersuchenden Staates, die Todesstrafe weder zu verhängen noch zu vollstrecken. 493 Hierfür reicht etwa das von der Türkei in dem Vorbehalt zu Art. 11 EuAlÜbk niedergelegte Verfahren zur Umwandlung der Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe nicht aus. 494 Die übrigen Vertragsstaaten haben in Vorbehalten zum EuAlÜbk erklärt, die Auslieferung bei Todesstrafe entweder grundsätzlich zu verweigern oder an weitere, als die bereits in Art. 11 EuAI Übk genannten, Zusicherungen zu knüpfen. 495 Schließlich enthalten auch die meisten bilateralen Auslieferungsverträge ähnliche Klauseln wie die des Art. 11 EuAlÜbk. 496 Auffällig ist indes, dass es soweit ersichtlich keine Rechtshilfeübereinkommen gibt, in welchen es eine Art. 11 EuAlÜbk vergleichbare Verweigerungsklausel gibt,m obwohl sich bei Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen die grundsätzlich vergleichbare Frage stellt, nämlich ob Rechtshilfe an den ersuchenden Staat zu leisten ist, wenn in dem zugrunde liegenden Verfahren die Todesstrafe droht. 498 Wenngleich die Aufnahme dieser Auslieferungshindernisse bei drohender Todesstrafe lobenswert ist, muss hervorgehoben werden, dass sie aufgrund ihres fakultativen Charakters den Menschenrechtsschutz in das politische Ermessen der ersuchten Staaten stellt. Eine völkerrechtliche Pflicht zur Nichtauslieferung lässt sich hingegen aus EuAlÜbk nicht ableiten. 499
m Vgl. hierzu Schomburg, in: SchomburgiLagodny, Internationale Rechtshilfe, IRG, § 8, mit Nachweisen zur alten - noch entgegenstehenden - Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. m Vgl. nur BGHSt 34, 256 NStZ 1987,414 mit Anmerkung Meyer; zu den Anforderungen an die Zusicherung vgl. die Nachweise bei Schomburg, in: SchomburgiLagodny, Internationale Rechtshilfe, Hauptteil 11 A, S. 443 Rn. 4. mV gl. Schomburg, in SchomburgiLagodny, Internationale Rechtshilfe, HauptteilIlA, S. 443 Rn. 5 mit Nachweisen zur Rechtsprechung. mV gl. mit zahlreichen Nachweisen Lagodny/Reisner, Finn. Yb. Int'l Law 3 (1992), 237 (244). 496 V gl. mit zahlreichen Nachweisen Lagodny/Reisner, Finn. Yb. In!' 1Law 3 (1992), 237 (245 f.). 497 Auch im deutschen IRG findet sich keine Analogvorschrift zu § 8 IRG. 498 Vor dieser Fragestellung standen bereits mehrfach innerstaatliche Gerichte der Bundesrepublik Deutschland, vgl. nur BGH, NStZ 1999,634; siehe auch OLG Karlsruhe, NJW 1990,2208 = NStZ 1991,138 mit Anmerkung Lagodny; OLG Düsseldorf, StV 1994,34; weitere Nachweise unten 4. Kapitel, S. 293 f. 499 V gl. hierzu auch Peters, EuGRZ 1999, 650 ff.
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11. Individualrechtliche Bezüge in den internationalen Rechtsgrundlagen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen Hier ist grundSätzlich zu unterscheiden zwischen den klassischen Rechtshilfekonventionen der 50er Jahre, welche noch den Stand der völkerrechtlichen Praxis und der Auffassung im Schrifttum widerspiegeln, dass völkerrechtliche Übereinkommen über die internationale Zusammenarbeit in Strafsachen den Einzelnen weder berechtigen noch verpflichten können, und den moderneren völkerrechtlichen Übereinkommen jüngeren Datums. Während Übereinkommen über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit nach ursprünglicher Auffassung nur ein zweidimensionales Verhältnis zwischen den Vertragsstaaten zu regeln beabsichtigten, könnte das sich wandelnde Rechtsverständnis sowohl im Rahmen der Völkerrechtswissenschaft als auch im Rahmen der internationalen Strafrechts wissenschaft in Bezug auf die Dreidimensionalität der Rechtshilfebeziehungen zur vermehrten Integration individualrechtlicher Positionen in die völkerrechtlichen Übereinkommen geführt haben. Nach modernem Verständnis schaffen die völkerrechtlichen Übereinkommen über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen Regelungsmechanismen der Zusammenarbeit, die insgesamt einem "international-arbeitsteiligem Strafverfahren" zuzurechnen sind, dessen besonderes Merkmal die Suche nach dem Ausgleich zwischen dem Strafverfolgungsinteresse der Staaten auf der einen und den legitimen Rechtspositionen der strafrechtlich Verfolgten auf der anderen Seite ist. 500 Im Folgenden ist daher zu untersuchen, inwieweit sich dieses wandelnde Rechtsverständnis auch positivrechtlich in den völkerrechtlichen Übereinkommen niedergeschlagen hat. 1. Allgemeine Bekenntnisse zum Schutz der Menschenrechte Ausdrückliche und al1gemeine Bezugnahmen auf die Achtung der Menschenrechte des Einzelnen finden sich nur in drei der zwanzig strafrechtlichen Übereinkommen des Europarats. 50l In der Präambel des Ersten Zusatzprotokoll zum EuropäischenAuslieJerungsübereinkommen vom 15. Oktober 1975 wird unter Verweis auf Art. 3 und 9 EuAlÜbk betont, dass es wünschenswert sei, diese Vorschriften mit Blick auf einen verstärkten Schutz des Einzelnen zu ergänzen. 502 In dem Europäischen Übereinkommen über die internationale Geltung von StraJurteilen vom 500 Vgl. vor allem Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, Einleitung, S. 20 Rn. 105. 501 V gl. ETS 70, 86, 90 und 100 sowie 185; vgl. allerdings auch Lagodny/Reisner, Finn. Yb. Int'1 Law 3 (1992),237 (242), mit Beispielen entsprechender Klauseln in bilateralen Verträgen und in den innerstaatlichen Rechtshilferegelungen einiger europäischen Staaten. 502 In der Präambel des 1. ZP-EuAlÜbk heißt es: "Considering that it is desirable to supplement these Articles with a view to strengthening the protection of humanity and of individuals."
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28. Mai 1970 wird in der Präambel ebenfalls nur ein allgemeines Bekenntnis zum Schutz der Menschenwürde und der Rehabilitation von Straftätern abgegeben. Schließlich findet sich erst wieder im Übereinkommen zur Bekämpfung der Cyber-Kriminalität ein ausdrücklicher Bezug auf die Menschenrechte des Einzelnen, in welchem der angemessene Ausgleich zwischen den staatlichen Strafverfolgungsinteressen und den Interessen des Einzelnen, wie sie in der EMRK und dem IPbpR niedergelegt sind, zum ausdrücklichen Ziel erklärt wird. SOl Auch in den fünf EPZ-Übereinkommen zur justitiellen Zusammenarbeit der Europäischen Gemeinschaften finden sich nur vereinzelt Hinweise auf den Schutz der Rechte des Einzelnen. 504 Die im Rahmen der intergouvernementalen Zusammenarbeit der Europäischen Union geschlossenen Übereinkommen zur Auslieferung und sonstigen Rechtshilfe in Strafsachen enthalten hingegen regelmäßig ein ausdrückliches Bekenntnis zu den Menschenrechten der EMRK. 505 Insbesondere das erst im Mai 2000 unterzeichnete Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen enthält in der Präambel den Zusatz, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union "die justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen unbeschadet der Bestimmungen zum Schutz der Freiheit des Einzelnen" verbessern wollen. Gleichzeitig war man einhellig der Auffassung, dass aufgrund der weitgehend übereinstimmenden Strafrechtspolitiken der Mitgliedstaaten und vor allem aufgrund ihres gegenseitigen Vertrauens in das ordnungsgemäße Funktionieren der nationalen Rechtssysteme und insbesondere in die Fähigkeit der Mitgliedstaaten, zu gewährleisten, dass in Strafverfahren die Verpflichtungen aus der EMRK eingehalten werden, eine Überprüfung auch der grundlegenden Aspekte der Auslieferung gerechtfertigt ist. 5l16 Ein ausdrücklicher Verweis auf die Rechte der EMRK findet sich schließlich auch in Art. 10 IX EU-RhÜbk. 507
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Vg!. Präambel und Art. 15 CybercrimeÜbk.
50~ Vg!. die Präambel des EG-VollstrÜbk und des EG-ÜbertragÜbk: ,,[ ... ] Aware ofthe
need to take into account, in the transfer of the enforcement of criminal senten ces, the interests of all persons involved ... " bzw. " ... Aware that the transfer of proceedings in criminal matters must take account ofthe interests ofthe persons involved, in particular the victims, [ ... ]." 505 Vg!. Präambel des EU-V AlÜbk, des EU-AIÜbk und des EU-RhÜbk. 506 Erläuternder Bericht zum Übereinkommen über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, AB!. C 191 vom 23.6.1997, 13 ff., Anmerkung Ib. 507 Nach dieser Vorschrift können die Mitgliedstaaten nach freiem Ermessen in Fällen, in denen dies zweckdienlich erscheint, und mit Zustimmung ihrer zuständigen Justizbehörden die Bestimmungen dieses Artikels auch auf die Vernehmung eines Beschuldigten per Videokonferenz anwenden. In diesem Fall ist die Entscheidung, ob und in welcher Form eine Vernehmung per Videokonferenz stattfinden soll, Gegenstand einer Vereinbarung zwisehen den beteiligten Mitgliedstaaten. die diese Entscheidung im Einklang mit ihrem innerstaatlichen Recht und den einschlägigen internationalen Übereinkünften. einschließlich der EMRK von 1950, treffen.
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Teil I, 2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
Auch in den Übereinkonunen der Vereinten Nationen finden sich vereinzelt Bezugnahmen auf die Menschenrechte des Einzelnen. So verpflichtet Art. 14 UNTerrorBombÜbk dazu, dass ,,[a]ny person who is taken into custody or regarding whom any other measures are taken or proceedings are carried out pursuant to this Convention shall be guaranteed fair treatment, inc1uding enjoyment of all rights and guarantees in conforrnity with the law of the State in the territory of which that person is present and applicable provisions of international law, inc1uding internationallaw of human rights". 508
2. Vorbehalt des "ordre public" oder wesentlicher Interessen der Staaten Fast alle Übereinkonunen über die grenzüberschreitende Zusanunenarbeit in Strafsachen enthalten Klauseln, wonach ein Staat ein Ersuchen um Auslieferung, Rechtshilfe oder sonstige Kooperationsformen ablehnen kann, wenn der ersuchte Staat der Ansicht ist, dass die Erledigung des Ersuchens geeignet ist, die Souveränität, die Sicherheit, die öffentliche Ordnung (ordre public) oder andere wesentliche Interessen seines Landes zu beeinträchtigen. 509 Auch die Anerkennung ausländischer Entscheidungen kann unter dem Vorbehalt des ordre public stehen. 510 Hier stellt sich dann unmittelbar die Frage, welche Interessen und Rechtsgüter von solchen Ordre-public-Klauseln erfasst werden, insbesondere ob sie auch individualrechts schützende Bedeutung erlangen. Sowohl der Erläuternde Bericht des Europarats zum EuRhÜbk von 1959 als auch zum EuGeldwÜbk von 1990 stellen hingegen ausdrücklich klar, dass unter "wesentliche Interessen" allein staatliche, nicht etwa solche des Einzelnen zu verstehen sind. 511 In dem Erläuternden Bericht des Europarats zu dem noch nicht in Kraft getretenem KorruptÜbk 508 V gl. auch Art. 19 I UN-TerrorBombÜbk: "Nothing in this Convention shall affect other rights, obligations and responsibilities of States and indi viduals under international law, in particular the purposes and principles of the Charter of the United Nations and international humanitarian law." 509 Die Formulierung lautet in den zumeist englischsprachigen Originaltexten: "Assistance may be refused: ... if the requested Party considers that execution of the request is Iikely to prejudice the sovereignty, security, ordre public or other essential interests of its country", vgl. Art. 2 EuRhÜbk; siehe auch Art. 18lit. a) und b) EuGeldwÜbk; Art. 2611 KorruptÜbk; Art. 27 IV lit. b), Art. 29 XXIV lit. b) und Art. 3011 lit. b) CybercrimeÜbk; Art. 18 XXI lit. b) und d) UN-TranskrimÜbk; weitere Beispiele bei Lagodny/Reisner, Finn. Vb. Int'! Law 3 (1992), 237 (243 f., 259). 510 Vgl. Art. 22 11 lit. c) EuGeldwÜbk. 511 Vgl. im Explanatory Report on the European Convention on Mutual Assistance in Criminal Matters, Anmerkung zu Art. 2 EuRhÜbk; Explanatory Report on the Convention on Laundering, Search, Seizure and Confiscation of the Proceeds from Crime, Art. 18, Ziff. 61; vgl. indes Mayer, GA 1990, 508 ff., welcher Art. 2 EuRh Übk mit Art. 73 IRG vergleicht und zu dem Ergebnis kommt, dass Art. 2 EuRhÜbk sowohl den innerstaatlichen als auch den völkerrechtlichen ordre public umfasse, welcher damit auch die entsprechenden Menschenrechte beinhalte.
C. Individualrechte in den Rechtsgrundlagen der Zusammenarbeit
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von 1999 wird nunmehr jedoch ausgeführt, dass die Verweigerung unter Berufung auf die "fundamental interests of the country" in Art. 26 11 KorruptÜbk auch solche Fälle umfasst, in denen menschenrechtliche Erwägungen Vorrang haben. 512 Dies dürfte auch den im Rahmen der in den Übereinkommen der Europäischen Union enthaltenden allgemeinen Bekenntnissen zum Menschenrechtsschutz entsprechen und für die (näher zu prüfende) Annahme sprechen, dass die europäischen Staaten untereinander Rechtshilfe verweigern dürfen und sogar müssen, wenn die Durchführung gegen fundamentale Prinzipien des Rechtssystems des ersuchten Staates oder und dessen öffentliche Ordnung (ordre public) verstoßen. 3. Schutz des Lebens und der körperlichen und psychischen Integrität Der Schutz des Lebens wird vor allem durch die bereits dargestellten Verweigerungsgründe für die Auslieferung bei drohender Todesstrafe geschützt. Darüber hinaus enthalten die internationalen Übereinkommen der Zusammenarbeit keine weiteren Klauseln zum Schutz des Lebens. Jedoch enthalten diverse Übereinkommen die Möglichkeit, bei Folter und bei unmenschlicher und unwürdiger Behandlung im um Auslieferung oder Rechthilfe ersuchenden Staat das Ersuchen zu verweigern. 513 Eine weitere entsprechende individualschützende Bestimmung ist in der Regelung des Art. 55 I lit. b) IStGH-Statut zu sehen. 4. Schutz der Verteidigerrechte und eines fairen Verfahrens Das historisch gewachsene internationale Rechtshilferecht kennt keine Beschränkungen unter Berufung auf die Verteidigerrechte des betroffenen Individuums oder dessen allgemeinen Anspruch auf ein faires Verfahren. Dies lässt sich unter anderem mit dem völkerrechtlichen Grundsatz der Achtung und Anerkennung der fremden Rechtsordnung begründen. Darüber hinaus wird angeführt, dass normalerweise nur solche Staaten miteinander im Bereich des Strafrechts zusammenarbeiten, die vergleichbare Strafrechtssysteme haben. 514 Dass diese Annahme an der Realität vorbeigeht, zeigen die zahlreichen Konflikte allein der deutschen Rechtsprechung mit ausländischen Abwesenheitsurteilen. 515 Dies mag der Grund sein, weshalb in vielen Auslieferungs- und Rechtshilfeverträgenjüngeren Datums auch das Recht des Verfolgten auf ein faires Verfahren im ersuchenden Staat auf512 Vgl. Explanatory Report on the Crirninal Law Convention on Corruption vom 1.12.1998, Doc. GMC (98) 40, Ziff. 125. 51) Vgl. nur Art. 3 lit. f) UN Model Treaty on Extradition; zahlreichen weitere Nachweise bei Lagodny/Reisner, Finn. Yb. Int'l Law 3 (1992), 237 (247 f.). 514 van den Wyngaert, in: Eser/Lagodny, Principles, S. 489 (498). 515 Vgl. nur die Nachweise bei Fahrenhorst, EuGRZ 1985,629 ff.
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Teil 1, 2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
genommen wurde. 516 Eine entsprechende allgemeine Bezugnahme auf ein faires Verfahren und die Wahrung der Rechte der Verteidigung findet sich etwa in Art. 16 XIII UN-TranskrimÜbk und in der Präambel des EU-AIÜbk. Auch Art. 3 lit. g) des UN-Modellvertrages zur Auslieferung von 1990 enthält eine ausdrückliche Ausnahme, wobei diese Bestimmung im Unterschied zum Wortlaut des Art. 14 IPbpR nicht danach differenziert, ob das der Auslieferung zugrundliegende Urteil unter Verstoß gegen Fair-trial-Grundsätze zustande gekommen ist oder ob eine Auslieferung zu verweigern ist, weil dem Auszuliefernden in dem bevorstehenden Verfahren im ersuchenden Staat der Verstoß erst noch bevorsteht. Artikel 7 11 EU-V AIÜbk gewährt der in Haft genommenen Person das Recht, "einen Rechtsbeistand beizuziehen".517 Art. 2411 UN-TranskrimÜbk verpflichtet die kooperierenden Staaten, in den innerstaatlichen Rechtsordnungen einen "due process" zu sichern. Auch das Statut des internationalen Strafgerichtshofs enthält zahlreiche, dem Schutz der Rechte des Angeklagten dienende Bestimmungen. 518 Insbesondere enthält das IStGH-Statut auch ein Verbot der Verwertung rechtswidrig erlangter Beweise. 519 Ebenfalls hervorzuheben ist die ausdrückliche Verpflichtung, das Verfahren gegen den Angeklagten nur in dessen Anwesenheit durchzuführen, wobei jedoch ein Abweichen hiervon möglich ist, wenn der Angeklagte auf der Flucht ist und von einem Rechtsanwalt vertreten wird. 520 Die Aufnahme eines fakultativen Auslieferungshindernisses in Art. 3 des 2. ZP-EuAIÜbk ermöglicht einem ersuchten Staat, die beantragte Auslieferung zu verweigern, wenn diese zur Vollstreckung eines Urteils oder zur Inhaftierung aufgrund einer in Abwesenheit ergangenen Entscheidung dient. 521 Diese Regelung modifiziert somit die in Art. 1 EuAIÜbk niedergelegte völkerrechtliche Verpflichtung zu Ausliefe516 Vgl. nur die Nachweise bei Lagodny/Reisner, Finn. Yb. Int'l Law 3 (1992), 237 (257); auch in die nationalen Rechtshilfegesetze sind entsprechende Verfahrensrechte aufgenommen worden, siehe unten 2. Kapitel, S. 208 ff. 511 Hierzu Schomburg, StV 1998, 153 (156). 518 Vgl. vor allem Art. 55 IStGH-Statut; Art. 66 IStGH-Statut enthält den Grundsatz der Unschuldsvermutung; Art. 67 IStGH-Statut regelt umfassend die Rechte des Angeklagten, namentlich das Recht auf ausreichende Information, auf ausreichend Zeit, auf eine schleunige Durchführung des Verfahrens, auf einen Rechtsanwalt und einen kostenlosen Übersetzer; vgl. auch die entsprechenden Rechte des Beschuldigten und der Verteidigung im Statut des Jugoslawientribunal und in den Rules of Procedure and Evidence of the International Tribunal for the former Yugoslavia vom 11.2.1994, ILM 33 (1994),484, in der am 25.7.1997 geänderten Fassung unter . hierzu ausführlich Ambos, NStZ 1998, 123 ff.; siehe auch Currie, Criminal Law Forum 11 (2000), 143 (177 ff.). 519 Vgl. Art. 69 VII IStGH-Statut; hierzu GIeß, NStZ 2000, 57 ff.; dieses Beweisverwertungsverbot geht zurück auf Rule 95 der Rules of Procedure and Evidence of the International Tribunal for the former Yugoslavia vom 11.2.1994. 520 Vgl. Art. 63 IStGH. 521 Hierzu Fahrenhorst, EuGRZ 1985,629 (631); Schomburg/Lagodll)', NStZ 1992. 353 (554 f.); weitere Nachweise bei Lagodny/Reisner, Finn. Yb. Int'l Law 3 (1992), 237 (255 ff.).
C. Individualrechte in den Rechtsgrundlagen der Zusammenarbeit
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rung. 522 Hierbei handelt es sich grundsätzlich um eine Fakultativklausel. 523 Für Abwesenheitsurteile gilt häufig eine Fakultativklausel, so dass eine Auslieferungsverpflichtung nur dann besteht, wenn eine gerichtliche Überprüfung des Urteils in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gewährleistet ist. 524 Das Verbot von Abwesenheitsverfahren spiegelt sich schließlich auch im Europäischen Geldwäscheübereinkommen wieder, wo eine Rechtshilfeleistung unzulässig ist, wenn ein Beschlagnahmebeschluss auf eine in Abwesenheit des Betroffenen gefällte Entscheidung zurückzuführen ist. 525 5. Schutz vor diskriminierender Behandlung Als Ausfluss des Auslieferungshindernisses bei politischen Straftaten526 kann eine Auslieferung gemäß Art. 3 11 EuAIÜbk auch dann verweigert werden, wenn der ersuchte Staat ernstliche Gründe hat anzunehmen, dass das Auslieferungsersuchen wegen einer nach gemeinem Recht strafbaren Handlung gestellt worden ist, um eine Person aus rassistischen, religiösen, nationalen oder auf politischen Anschauungen beruhenden Erwägungen zu verfolgen oder zu bestrafen. 527 Diesem Artikel entsprechen bezogen auf die Auslieferung Art. 16 XIV UN-TranskrimÜbk, wobei hier zusätzlich die diskriminierende Behandlung aufgrund des Geschlechts sowie der ethnischen Herkunft verboten wird. Die im Entwurf des UN-TranskrirnÜbk noch enthaltene auf die Rechtshilfe bezogene Verweigerungsklausel528 hat indes keinen Eingang in den endgültigen Vertrag gefunden. Auch Art. 3 lit. b) UNModellvertrag zur Auslieferung von 1990 greift den Regelungsgegenstand des Art. 3 11 EuAIÜbk auf und erweitert ihn um die ethnische Herkunft, das Geschlecht und den Status des Auszuliefernden. Weitere entsprechende Klauseln enthalten Art. 12 UN-TerrorBombÜbk bezüglich der Auslieferung und Rechts522 V gl. hierzu Schomburg, in: SchomburglLagodny, Internationale Rechtshilfe, Hauptteil II A, S. 478 Rn. 1 ff., S. 429 Rn. 6 ff. m. w. N. 523 V gl. jedoch Lagodny, in: SchomburglLagodny, Internationale Rechtshilfe, IRG, § 1 Rn. 24 ff., § 8 Rn. 18 ff. und § 32 Rn. 3 f. 524 Art. XII Deutsch-Kanadischer Auslieferungsvertrag. 525 V gl. Art. 18 IV lit. f), V, VII EuGeldwÜbk. 526 Hierzu ausführlich HailbronneriOlbrich, AVR 24 (1986), 434 ff. 527 Art. 3 II EuAIÜbk lautet: "Extradition shall not be granted [ ... ] ifthe requested Party has substantial grounds for believing that arequest for extradition for an ordinary criminal offence has been made for the purpose of prosecuting or punishing a person on account of his race, religion, nationality or political opinion, or that the person' s position may be prejudiced for any of these reasons." Die Nichtauslieferung bei diskriminierender Behandlung gemäß Art. 3 II EuAlÜbk war Vorbild einer ganzen Reihe bilateraler Verträge, entsprechende Nachweise bei HailbronnerlOlbrich, AVR 24 (1986), 434 (459), Fn. 105; Lagodnyl Reisner, Finn. Vb. Int'l Law 3 (1992),237 (249 f.). 528 V gl. Art. 18 XXI lit. e) Entwurf UN-TranskrimÜbk.
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Teil I, 2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
hilfe sowie Art. 21 III IStGH-Statut bezüglich der Anwendung und der Interpretation der den Entscheidungen nach Art. 21 zugrundezulegenden Rechtsnormen. Auch die Auslieferungsübereinkommen der Europäischen Union enthalten das Gebot des Schutzes vor diskriminierender Behandlung: " ... Wie in Absatz 3 angegeben, werden mit Absatz 1 dieses Artikels Artikel 3 Absatz 2 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens und Artikel 5 des Europäischen Übereinkommens zur Bekämpfung des Terrorismus in keiner Weise geändert. Nach diesen Bestimmungen, die somit uneingeschränkt angewandt werden können, kann der ersuchte Mitgliedstaat die Auslieferung nach wie vor verweigern, wenn sie beantragt worden ist, um eine Person aus rassischen, religiösen, nationalen oder auf politischen Anschauungen beruhenden Erwägungen zu verfolgen oder zu bestrafen, oder wenn sie dazu führen würde, dass die Person der Gefahr einer Erschwerung ihrer Lage aus einem dieser Gründe ausgesetzt wäre. Die Möglichkeit, dass diese Umstände zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Laufe eines Auslieferungsverfahrens zum Tragen bmmen, dürfte rein hypothetisch sein. Da jedoch die Einhaltung der Grundrechte und Grundfreiheiten ein unumstößlicher Grundsatz der Europäischen Union ist und - wie bereits erwähntden Fortschritten zugrunde liegt, welche die Union mit diesem Übereinkommen erzielen will, wurde die Ansicht vertreten, dass der Text nicht von der vorgenannten traditionellen Regel des Schutzes von Personen gegen Strafverfolgung, die auf politischer Diskriminierung beruht, abweichen sollte und dass die Gültigkeit dieser Regel ausdrücklich zu betonen wäre". 529 Die Nichtauslieferung bei diskriminierender Behandlung gemäß Art. 311 EuAlÜbk war darüber hinaus Vorbild einer ganzen Reihe bilateraler Verträge. 530
6. Verbot der doppelten Strafveifolgung - Grundsatz des "ne bis in iden!" Unter ne bis in idem 531 versteht man nach allgemeiner Rechtsauffassung den von nationalen Strafverfahrensgesetzen vorausgesetzten und den in Rechtsstaaten regelmäßig verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz, dass ein Beschuldigter nicht wegen ein und derselben Tat verfolgt und verurteilt werden darf. 532 Einer solchen erneuten Verfolgung oder Bestrafung steht im innerstaatlichen Verfahrensrecht aus Gründen der Rechtssicherheit die materielle Rechtskraft des in derselben Sache bereits ergangenen Urteils oder Bescheides entgegen. Dieser für das 529 Erläuternder Bericht zum Übereinkommen über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, ABI. C 191 vom 23.6.1997, 13 ff., Anmerkung zu Art. 5. 530 Nachweise bei HailbronnerlOlbrich, AVR 24 (1986), 434 (459), Fn. 104. 531 "Nicht zweimal im gleichen (Prozess)." 532 Vgl. nur Art. 103 III GG; hierzu Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig/Herzog. GG. Art. 103 Rn. 283 ff.
C. Individualrechte in den Rechtsgrundlagen der Zusammenarbeit
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innerstaatliche Recht regelmäßig anerkannte Grundsatz spielt zunehmend auch für den internationalen Rechtshilfeverkehr eine besondere Bedeutung. 533 Dabei gilt jedoch zu beachten, dass es sich hierbei nicht um ein klassisches Auslieferungshindernis handelt. 534 Vielmehr findet sich erstmals in Art. 9 EuAIÜbk das Verbot der Auslieferung, wenn "der Verfolgte wegen Handlungen, derentwegen um Auslieferung ersucht wird, von den zuständigen Behörden des ersuchten Staates rechtskräftig abgeurteilt worden ist". 535 Artikel 8 EuAIÜbk ermöglicht dem ersuchten Staat darüber hinaus, die Auslieferung eines Verfolgten abzulehnen, wenn bereits ein Verfahren gegen ihn anhängig ist. 536 Der von Art. 9 EuAI Übk 537 geregelte Fall der bereits bestehenden rechtskräftigen Aburteilung im ersuchten Staat entspricht einem nationalen ne bis in idem, welches von Art. 54 SDÜ und Art. 1 ff. EG-ne-bis-in-idemÜbk um ein internationales ne bis in idem erweitert wird. 538 Danach bewirken nicht nur Verurteilungen im ersuchten Staat ein Verfahrenshindernis, sondern auch etwaige Verurteilungen in Drittstaaten. Weitere ausdrückliche Verbote der erneuten Strafverfolgung enthalten nicht nur die Statuten des 1ugoslawien- und des Ruanda-Kriegsverbrechertribunals, 539 sondern vor allem auch Art. 20 IStGH-Statut. Ebenfalls findet sich in Art. 181it. e) EuGeldwÜbk das Verbot der doppelten Bestrafung.
7. Recht auf Sicherheit und Freiheit Insbesondere im Bereich der Rechtshilfe findet sich zum Schutz von Zeugen und Sachverständigen, die vor den lustizbehörden eines ersuchenden Staates erscheinen, das Verbot, diese Personen auf dem Hoheitsgebiet des ersuchenden Staates wegen Handlungen oder Verurteilungen aus einer Zeit vor ihrer Abreise aus dem Hoheitsgebiet des ersuchten Staates zu verfolgen, zu inhaftieren oder sie sonst einer Beschränkung ihrer persönlichen Freiheit zu unterwerfen. 540 So heißt Vgl. Lagodny/Reisner, Finn. Vb. Int'l Law 3 (! 992), 237 (253 f.). Vgl. Ne-bis-in-idem-Entscheidung des BVerfG im 75. Bd., BVerfGE 75, I (5 ff.). m Vgl. hierzu nur Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, Hauptteil II A, S. 439 Rn. I ff.; weitere Ne-bis-in-idem-Regelungen finden sich in Art. I ff. EG-ne-bis-inidem-Übk, Art. 4 des 2. ZP-EuAIÜbk, Art. 8 BeNeLuxÜbk, Art. 8 II EU-AIÜbk, Art. 54-58 SDÜ und § 9 IRG. 53~ Im Gegensatz zu Art. 9 EuAIÜbk handelt es sich hier um ein fakultatives Auslieferungshindernis, vgl. Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, HauptteilIlA, S. 439 Rn. 2. 531 Sowie die entsprechende innerstaatliche Bestimmung in der Bundesrepublik Deutschland, vgl. Art. 9 IRG. m Die Vorschriften des SDÜ sind inhaltlich identisch mit den Art. 1-5 EG-ne-bis-inidemÜbk, Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, Hauptteil II A, S. 439 Rn. 2g. m Im Einzelnen hierzu Schomburg, in: SchomburgiLagodny, Internationale Rechtshilfe, Hauptteil VI A, S. 1171 ff. 540 Vgl. nur Art. 12 EuRhÜbk; Art. 18 XII, 27 UN-TranskrimÜbk; vgl. auch Art. 14 UNTerrorBombÜbk. 533 534
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Teil!, 2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
es im Erläuternden Bereicht zum EU-VAlÜbk: "In den Fällen, in denen Personen ausschließlich zum Zweck der Auslieferung im Hinblick auf die Strafverfolgung im ersuchenden Staat inhaftiert sind, wird somit auch dem Erfordernis entsprochen, die Menschenrechte und Grundfreiheiten strafrechtlich verfolgter Personen zu achten. Denn in diesen Fällen gilt für die zum Zweck der Auslieferung festgenommene Person die Unschuldsvermutung. Die Beschränkungen ihrer Freiheit müssen mithin absolut gerechtfertigt sein. Wenn die betroffene Person ihrer Auslieferung zustimmt, ist es wünschenswert, dass sie so rasch wie möglich dem ersuchenden Staat übergeben wird, damit sie dort einen Rechtsbehelf gegen ihre Inhaftierung einlegen kann. Ferner steht dies im Einklang mit dem Ziel, die Effizienz der Strafjustiz zu gewährleisten. Solange die Person, deren Auslieferung beantragt worden ist, nicht den Behörden des ersuchenden Staates übergeben worden ist, ist das Verfahren in diesem Staat blockiert, oder es wird zumindest verzögert. Ergibt sich diese Verzögerung, weil die betreffende Person ihr Recht in Anspruch nimmt, einen Rechtsbehelf gegen ihre Auslieferung einzulegen, so steht dies im Einklang mit den Grundsätzen eines gerechten Strafverfahrens. Hingegen ist diese Verzögerung durch nichts gerechtfertigt, wenn die Person nicht die Absicht hat, einen Rechtsbehelf gegen ihre Auslieferung einzulegen".541
8. Rückwirkungsverbot und sonstige Schutzklauseln Das Gebot der nulla poena sine lege enthält soweit ersichtlich nur Art. 22 ff. IStGH-Statut. Bei der grenzüberschreitenden Observation ist es nicht zulässig, Wohnungen und öffentlich nicht zugängliche Grundstücke zu betreten. 542 Auch ist es zulässig, die zu observierende Person anzuhalten und festzunehmen. 543
9. Schlussfolgerungen Die Untersuchung der völkerrechtlichen Rechtsquellen ergibt, dass in zahlreichen Übereinkommen individualrechtsschützende Normen enthalten sind. Insbesondere in jüngeren Übereinkommen finden sich regelmäßig allgemeine Bekenntnisse zu den Menschenrechten. Allerdings fehlt in den meisten klassischen Auslieferungs- und Rechtshilfeverträgen das Recht des ersuchten Staates, die Durchführung der Rechtshilfehandlung unter Berufung auf den Schutz der Menschenrechte zu verweigern. Hingegen enthalten die klassischen Auslieferungs- und 541 Erläuternder Bericht zum Übereinkommen über das vereinfachte Auslieferungsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. ABI. C 375 vom 12.12.1996. 4 ff., Anmerkung 2. 542 Art. 40 IIllit. e) SDÜ. 54) Art. 40 IIllit. f) SDÜ.
C. Individualrechte in den Rechtsgrundlagen der Zusammenarbeit
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Rechtshilfeverträge konkrete Auslieferungs- und Rechtshilfehindernisse, die durchaus zum Schutz der Menschenrechte im konkreten Fall beitragen, wie z. B. bei der Gefahr der Todesstrafe oder bei Abwesenheitsurteilen. Auch die Bundesrepublik Deutschland ist bemüht, in den Verträgen über die internationale Zusammenarbeit in Strafsachen den Schutz der Menschenrechte zu gewährleisten. 544 So finden sich in den bilateralen Verträgen der Bundesrepublik Deutschland in der Regel die Ausnahme von einer Auslieferungsverpflichtung für politische Straftaten, bei drohender politischer Verfolgung 545 sowie bei Verurteilung durch ein Ausnahmegericht, 546 die Anerkennung des Grundsatzes ne bis in idem, allerdings in der Beschränkung auf eine Aburteilung im ersuchten Staat,54? und der Ausschluss der Auslieferung bei drohender Todesstrafe, wenn nicht eine als ausreichend erachtete Zusicherung des ersuchenden Staates vorliegt, dass die Todesstrafe nicht vollstreckt wird. 548
III. Individualrechtliche Bezüge in den innerstaatlichen Rechtsgrundlagen Von den indi vidualrechtlichen Bezügen in den völkerrechtlichen Rechtsgrundlagen zwingend abzugrenzen sind entsprechende Klauseln in den innerstaatlichen Rechtsvorschriften. Die meisten völkerrechtlich normierten Auslieferungshindernisse finden ihre Entsprechung auch im innerstaatlichen Recht. Da diese regelmäßig nur subsidiär Anwendung finden,549 spielen sie für die inzwischen maßgeblich vom Völkervertragsrecht bestimmte grenzüberschreitende Zusammenarbeit nur eine nachrangige Bedeutung. Da sich etwas anderes ergeben könnte, wenn man - wie Lagodny - die These vertritt, dass jedenfalls ein großer Teil dieser innerstaatlichen Rechtsgrundlagen unabdingbaren Verfassungswerten, insbeson544
Vogler, ZStW 105 (993), 3 01 f.) mit entsprechenden Nachweisen.
Art. 4 Deutsch-Amerikanischer Auslieferungsvertrag, Art. III Deutsch-Kanadischer Auslieferungsvertrag; Art. 3 Deutsch-Belgischer Auslieferungsvertrag. 54~ Art. 13 Deutsch-Amerikanischer Auslieferungsvertrag. 547 Art. 8 Deutsch-Amerikanischer Auslieferungsvertrag, Art. VI Deutsch-Kanadischer Auslieferungsvertrag; Art. 7 Deutsch-Belgischer Auslieferungsvertrag; für den Fall der Aburteilung in einem Drittstaat findet sich nur eine Fakultativklausel, die die Auslieferung in das Ermessen des ersuchten Staates stellt, vg!. Art. 611 Deutsch-Kanadischer Auslieferungsvertrag. 54~ Vg!. nur Art. 111 des Deutsch-Britischen Auslieferungsvertrages vom 23.2.1960, BGB!. 1960 11, 2191; Art. 11 des Deutsch-Österreichischen Auslieferungsvertrages vom 22.9.1958, BGB!. 196011, 1341; Art. 12 des Deutsch-Amerikanischen Auslieferungsvertrages; Art. XI Deutsch-Kanadischer Auslieferungsvertrag; Art. 9 Deutsch-Belgischer Auslieferungsvertrag; anders noch in Art. 18 des Auslieferungsvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich vom 29.11.1951, BGB!. 1959 11, 1251; hierzu auch BVerfGE 18,112=NJW 1964,1783;Schüssler, NJW 1965, 1896ff 54Y Siehe § I 111 IRG. 545
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Teil 1, 2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
dere den Grundrechten zu entsprechen hat, und auch bei Bestehen völkerrechtlicher Verträge entsprechend heranzuziehen ist,550 bedarf es eines kurzen Blickes auf die Regelungen in der Bundesrepublik Deutschland. Zwar wäre an dieser Stelle eiri umfassender rechtsvergleichender Überblick erstrebenswert. Dieser würde den ohnehin erheblichen Umfang dieser Ausarbeitung überfrachten. Insofern sei auf die demnächst abgeschlossene Studie des Max-Planck-Institut für internationales und ausländisches Strafrecht verwiesen. 551 Jedoch ist ein kurzer Vergleich der deutschen Rechtshilfegrundlagen mit denen von Österreich und der Schweiz von eigenem und daher vorliegend herauszuarbeitendem Erkenntniswert, da letztere Staaten insbesondere im Hinblick auf die Menschenrechte sehr fortschrittliche innerstaatliche Rechtshilfegesetze geschaffen haben. Im Folgenden soll das Augenmerk auch gerade auf die Normen gelegt werden, die möglicherweise über den in den völkerrechtlichen Rechtsgrundlagen bestehenden Standard hinausgehen.
1. Bundesrepublik Deutschland Das deutsche Recht enthält ausdrückliche Beschränkungen der internationalen Zusammenarbeit namentlich für politische Delikte (§ 6 I IRG), bei drohender politischer Verfolgung (§ 611 IRG), für rein militärische Straftaten (§ 7 IRG), bei drohender Todesstrafe (§ 8 IRG), bei der Beurteilung der Tat durch deutsche Gerichte (§ 9 Nr. 1 IRG: ne bis in idem) sowie in Fällen des Eintritts der Verjährung oder einer Amnestie nach deutschem Recht (§ 9 Nr. 2 IRG). Für die Vollstreckung ausländischer Strafurteile fordert § 49 I Nr. 2 IRG, dass dem Verurteilten in dem ausländischen Verfahren rechtliches Gehör gewährt und eine angemessene Verteidigung ermöglicht worden ist. Über diese traditionellen vertraglichen oder gesetzlichen Schranken hinaus haben neue Beschränkungen unter dem Gesichtspunkt der Gefährdung von Menschenrechten bis dato keinen Niederschlag im deutschen Recht gefunden. Insbesondere die überlange Dauer des Verfahrens im ersuchenden Staat oder prozessuale Mängel in der Beweiserhebung haben im nationalen Recht nicht ausdrücklich Anerkennung als Auslieferungshindernisse gefunden. 552 Ein ausdrückliches allgemeines Verbot der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen mit Staaten, in denen die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen besteht, enthält das einfachgesetzliche Recht der Bundesrepublik Deutschland ebenIm Einzelnen hierzu unten 4. Kapitel. S. 306 f. V gl. die Gemeinschaftsstudie des Max-Planck-Institut für internationales und ausländisches Strafrecht in Freiburg im Breisgau unter Leitung von Lagodn,\', Rechtliche Grenzen und Möglichkeiten der Auslieferung in rechtsvergleichender Sicht, siehe ; vgl. bereits die umfassende Untersuchung von Lagodny/Reisner, Finn. Vb. Int'l Law 3 (1992),237 ff. m Vogler, ZStW \05 (1993), 3 (16). 550 55\
C. Individualrechte in den Rechtsgrundlagen der Zusammenarbeit
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falls nicht. 553 Mittelbar ergibt sich eine solche allgemeine Schranke jedoch aus § 73 IRG, der die Leistung von Rechtshilfe verbietet, "wenn sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen würde"; jedoch lässt der Wortlaut dieser Vorschrift den Regelungsgehalt nicht klar erkennen, so dass es einer Konkretisierung bedarf. 554 Ein Blick auf die Materialien zur Begründung des Gesetzes zeigt, dass Rechtshilfe dann gegen die wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widerspricht, "wenn das ausländische Verfahren zu elementaren verfassungsrechtlichen oder völkerrechtlichen Geboten des Menschenrechtsschutzes in offenbaren Widerspruch steht".555 Der Gesetzgeber hätte jedoch besser daran getan, anstelle der "konturlosen Ordre-public-Klausel des § 73 IRG" unmittelbar auf die EMRK Bezug zu nehmen, wie es das österreichische ARHG und das schweizerische IRSG tun. 556 Jedoch geht die Ordre-publicKlausel des § 73 IRG auch weiter als das österreichische ARHG und das schweizerische IRSG, indem sie nicht nur auf den "völkerrechtlichen Mindeststandard" abhebt, sondern auch die "unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze" der deutschen öffentlichen Ordnung einbezieht; das Gesetz hat sich damit auf eine Mischform von internationalem und nationalen ordre public festgelegt. 557 Die Berufung auf den innerstaatlichen ordre public im vertraglichen Auslieferungsverkehr setzt indes einen entsprechenden Einwand bzw. Vorbehalt in dem völkerrechtlichen Vertrag voraus. 558 Dies folgt auch aus Art. 27 WVK, der einer Vertragspartei verbietet, "sich auf ihr innerstaatliches Recht zu berufen, um die Nichterfüllung eines Vertrages zu rechtfertigen".559 § 73 IRG wirft daher die schwierige und hochumstrittene Frage auf, ob und inwieweit das Bestehen einer völkerrechtlichen Vertragsverpflichtung zur Zusammenarbeit in Strafsachen eine entsprechende Anwendung innerstaatlicher Grundrechte unmöglich bzw. eine einschränkende Auslegung nötig macht. 560 m Andererseits schreibt Schomburg, StV 1983,38 (49), dass § 1 III IRG sicher stelle, dass zwingende Grundsätze des humanitären Völkerrechts, die dem Völkervertragsrecht vorgehen, die Leistung von Rechtshilfe auch dann beherrschen und begrenzen, wenn sie im Einzelfall nicht Bestandteil des deutschen ordre public wären. 554 Vogler, ZStW 105 (1993), 3 (12, 15). m BT-Drs. 9/1338. 93; Beispiele für solche Fälle siehe Vogler, ZStW 105 (1993), 3 (15). 556 Vogler, ZStW 105 (1993), 3 (12 f., 15 f.). 557 Vogler, ZStW 105 (1993), 3 (13). 558 SO Z. B. in Art. 6 I des Deutsch-Jugoslawischen Auslieferungsvertrag, aufgrund dessen es dem BGH möglich war, eine Auslieferung eines Verfolgten nach Jugoslawien unter Heranziehung des Art. 4 III GG zu verweigern, vgl. BGHSt 27, 191 (193 ff.); siehe auch OLG Stuttgart. NJW 1993, 1939. 559 Hierzu Schweizerisches Bundesgericht, EuGRZ 1971,427; ebenso Vogler, in: VoglerlWilkitzki, IRG, § 73 Rn. 6; ders., ZStW 105 (1993), 3 (13). 560 Hierzu ausführlich Lagodny, in: SchomburgiLagodny, Internationale Rechtshilfe, IRG, § 73 Rn. 7 ff. 14 Ziegenhahn
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Teil 1,2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
Die Ausnahmeregelung des ordre public kann gerade in Fällen des Menschenrechtsschutzes Bedeutung erlangen. Dies betrifft insbesondere Fälle, in den Rechtshilfe an Staaten zu leisten ist, in welchen die verfolgte Tat mit Todesstrafe geahndet werden kann. Entsprechend der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte kommt es hierbei auf die Frage an, ob "im konkreten Fall die Ausgestaltung des ausländischen Verfahrens oder das Missverhältnis zwischen Tat und Strafdrohung dem ordre public der Bundesrepublik Deutschland widersprechen" .561
2. Weitere europäische Staaten
In den meisten innerstaatlichen Rechtsgrundlagen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit in Strafsachen finden sich denen der internationalen Verträge vergleichbare Schutzklauseln. An dieser Stelle soll indes nur auf die im Hinsicht auf den Schutz der Menschenrechte besonders vorbildlichen Auslieferungs- und Rechtshilfegesetze Österreichs und der Schweiz eingegangen werden. 562 Ausdrücklich verlangt das Österreichische Auslieferungs- und RechtshilJegesetz vom 4. Dezember 1979 (ARHG)563 die Einhaltung der Grundsätze der EMRK. Gemäß § 19 Nr. 1 und 2 sowie § 51 I Nr. 2 ARHG ist Rechtshilfe unzulässig, "wenn zu besorgen ist, dass das Strafverfahren im ersuchenden Staat den Grundsätzen der Art. 3 und 6 EMRK nicht entsprechen werde oder nicht entsprochen habe, oder wenn die im ersuchenden Staat verhängte oder zu erwartende Strafe oder vorbeugende Maßnahme in einer der Erfordernissen des Art. 3 EMRK nicht entsprechender Weise vollstreckt werden würde." Auch gemäß dem Schweizer Recht wird nach Art. 2 lit. a) Schweizer IRSG einem Ersuchen um Zusammenarbeit in Strafsachen nicht entsprochen, wenn Gründe für die Annahme bestehen, dass das Verfahren im Ausland nicht den Verfahrens grundsätzen der EMRK entspricht. Ähnliches lässt sich mit der spanischen Ordre-public-KlauseI 5M oder Art. 705 11 lit. b) der italienischen Strafprozessordnung565 erreichen. Frankreich hat hingegen die Möglichkeit eines völkerrechtlichen Vorbehaltes genutzt, um die Verpflichtungen zur Auslieferung nach dem EuAlÜbk von der Einhaltung fundamentaler verfah501 Vgl. Lagodny, in: SchomburgiLagodny, Internationale Rechtshilfe, Hauptteil II B, S. 521, Rn. 6 mit Nachweisen zur Rechtsprechung. 502 Zu den zahlreichen Grund- und Menschenrechtsklauseln der innerstaatlichen Rechtsgrundlagen der europäischen und anderer Staaten siehe nur Lagodny/Reisner, Finn. Yb. Int'l Law 3 (1992), 237 ff. mit zahlreichen Nachweisen. 5') Das Bundesgesetz über die Auslieferung und die Rechtshilfe in Strafsachen (ARHG) vom 4.12.1979 ist am 1.7.1980 in Kraft getreten; vgl. hierzu Lillke, NStZ 1981. 378 ff.; Burgstaller. in: FS Triffterer (1996), 733 ff. jf>l Hierzu Egido. zitiert von Lagodll.\IReisller. Finn. Yb. Int'l Law 3 (1992), 237. W Gemäß dieser Vorschrift ist eine Auslieferung abzulehnen, wenn das in dem ersuchenden Staat ergangene Strafurteil Teile enthält, die fundamentalen Prinzipien der italienischen Strafrechtspflege entgegenstehen.
D. Ergebnis
211
rensrechtlicher Garantien in dem ersuchenden Staat abhängig machen zu können. 566 Das Auslieferungsverbot bei Todesstrafe findet sich ebenfalls in bei den Gesetzen. So ist nach österreichischem Recht eine Auslieferung "nur zulässig, wenn gewährleistet ist, dass die Todesstrafe nicht ausgesprochen wird" (§ 20 Ziff. 1 ARHG). Art. 3711 Schweizer IRSG verbietet die Auslieferung, "wenn der ersuchende Staat nicht Gewähr bietet, dass der Verfolgte im ersuchenden Staat nicht [ ... ] hingerichtet wird." Darüber hinaus enthält der § 2 ARHG eine § 73 IRG entsprechende Vorschrift, wonach Voraussetzung einer Auslieferung die Vereinbarkeit der Maßnahme mit der öffentlichen Ordnung und anderen wesentlichen Interessen der Republik Österreich ist. 567 Allerdings stehen die Vorschriften des ARHG ebenso wie die des deutschen IRG unter dem Vorbehalt anderweitiger zwischenstaatlicher Regelungen (§ I ARHG). Wegen dieser subsidiären Geltung der gesetzlichen Bestimmungen gegenüber auslieferungsrechtlichen Vereinbarungen können die gesetzlichen Ablehnungsgründe des AHRG nicht als Begründung für die Ablehnung einer Auslieferung herangezogen werden. 568 Aus diesem Grund hat Österreich auch einen Vorbehalt zu Art. 11 EuAIÜbk erklärt, wonach es eine Zusicherung, dass die Todesstrafe zwar verhängt aber nicht vollstreckt werde, als nicht ausreichend erachtet. Besondere Erwähnung verdient schließlich das Auslieferungsverbot des § 22 AHRG, wonach in Anlehnung an skandinavische Rechtshilfegesetze in humanitären "Härtefällen" eine Auslieferung unzulässig sein kann, wenn die auszuliefernde Person - unter Berücksichtigung der Schwere der ihr zur Last gelegten strafbaren Handlung - wegen ihres jugendlichen Alters, wegen ihres seit langem bestehenden inländischen Wohnsitzes oder aus anderen, in ihren persönlichen Verhältnissen gelegenen Gründen offenbar unverhältnismäßig hart getroffen würde. Soweit in dieser Vorschrift eine gesetzliche Ausformung des Verbotes unmenschlicher Behandlung gesehen werden kann, dürfte gegen die Verweigerung einer Auslieferung auch aus zwischenstaatlicher Sicht nichts einzuwenden sein. 569
D. Ergebnis Im vielbeachteten "Appell von Genf"570 hatten sieben europäische Richter am 1. Oktober 1996 auf die zahlreichen Schwierigkeiten der nationalen Justizbehör566 Vg\. den entsprechenden Vorbehalt Frankreichs vom 15.4.1986, abgedruckt in BGB\. 1986 11, 631. 567 Hierzu kurz Burgstaller, in: FS Triffterer (1996), 733 (742).
Zu den Ablehnungsgründen im Einzelnen Linke, NStZ 1981, 378 (379). So Linke, NStZ 1981, 378 (380). 570 Zu den Richtern zählen Bemard Bertossa (Genf), Edmondo Bruti Liberati (Mailand), Gherardo Colombo (Mailand), Benoit Dejemeppe (Bliissel), Baltasar Garzon Real (Madrid) Carlos Jiminez Villarejo (Madrid) und Reaud van Ruymbeke (Rennes), der Text des ,,L' Appe1 de Geneve" findet sich unter . 568
569
14*
212
Teil I, 2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
den bei der effektiven Bekämpfung grenzüberschreitender Formen der Kriminalität in Europa hingewiesen. Sie forderten daher modernere Instrumente der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit und die Errichtung eines ..echten europäischen Rechtsraums", in welchem die Strafverfolgung nicht an den Grenzen der einzelnen Staaten enden müsse. 571 Da die Internationalisierung der Strafverfolgung in untrennbarem Zusammenhang mit der nationalen Souveränität steht,sn wurde und wird dem Drängen nach grenzüberschreitender Abstimmung und Harrnonisierung auf dem Gebiet des Strafrechts immer wieder das Argument der nationalen Souveränität entgegengehalten. 573 Denn während klassische intergouvernementale Kooperationsformen bei der Strafverfolgung die staatliche Souveränität auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts nicht berühren,574 setzen moderne Kooperationsformen weitgehende Souveränitäts verzichte voraus. Als Beispiele seien nur die grenzüberschreitende Observation und Nacheile auf dem Territorium eines anderen Staates sowie das Tätigwerden zwischenstaatlicher bzw. supranationaler Institutionen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, wie etwa von Europol oder OLAF, genannt. Vielfach überwogen daher in der Vergangenheit die Bemühungen, die klassischen Mittel der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen zu verbessern. 575 Dies konnte erreicht werden, indem durch zahlreiche Zusatz- und Ergänzungsübereinkommen zu bestehenden Rechtshilfeinstrumenten die Effektivität von Rechtshilfeverfahren erhöht, bestehende Instrumente modernisiert und neue Formen der Zusammenarbeit unter Beachtung der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte entwickelt wurden. Insbesondere wurden Kooperationsmethoden geschaffen, die die bestehenden Schlupt1öcher grenzüberschreitend tätig werdender Straftäter aufgrund unterschiedlicher Rechtssysteme überbrücken. Höchste Priorität wurde dabei der Beschleunigung von Amts- und Rechtshilfeverfahren eingeräumt. 576 Dies wurde unter anderem durch die Einsetzung von Computerund Videotechnologien (z. B. zur Durchführung von Videokonferenzen oder zur Zeugenvernehmung) und die tatsächliche und technische Verbesserung des Infor-
511 Hierfür schlugen sie unter anderem die Aufhebung des Bankgeheimnisses, die Einführung von Vorschriften, die es den Richtern ermöglichen würden, sich direkt an die Kollegen zu wenden, sowie die sofortige und direkt Übermittlung der im Wege des Rechtshilfeersuchens angeforderten Ermittlungsakten vor. mV gl. Sieber, JZ 1997,369 (370); Tiedemann, in: Kreuzer/ScheuninglSieber, Europäisierung, S. 133 (134). m Siehe etwa Jung/Schroth, GA 1983,241,242,253; Oehler, in: FS Baumann (1992), 561; vgl. auch Sieber, JZ 1997, 369 (370); kritisch dazu Weigend, ZStW 105 (1993), 774 (775). m Tiedemann, NJW 1993, 23. m Vgl. nur Nehm, DRiZ 1996,41 (42); Schomburg/Lagodny, NStZ 1992,353 ff.; dies., StV 1994,393 ff.; Schomburg, NJW 1995, 1931 ff. m Intergovernmental Expert Group Meeting on Mutual Assistance in Criminal Matters, UN-Doc. ElCN.151199817 vom 23.3.1998, S. 11.
D. Ergebnis
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mationsaustausches (z. B. durch die Ermöglichung von Spontan- bzw. Direktkontakten zwischen den Behörden verschiedener Länder) erreicht. 577 Allerdings muss kritisch angemerkt werden, dass diese Bemühungen auch zu der bereits festgestellten Uneinheitlichkeit der bestehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen, zu Überschneidungen der territorialen und materiell-rechtlichen Geltungsbereiche der einzelnen Instrumente sowie zur Zurückhaltung bei der Ratifizierung geschlossener Übereinkommen geführt hat. Die zahlreichen Versuche der Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Rahmen der intergouvernementalen Zusammenarbeit Verbesserungen durch neue Übereinkommen zu erreichen, scheiterten an den fehlenden Ratifikationen in den einzelnen Staaten. Die erarbeiteten Vertragswerke sind bis auf wenige Ausnahmen daher nicht in Kraft getreten. 578 Im Zusammenhang mit der unüberschaubaren Vielfalt von Vorschriften im Rahmen des Rechtshilfeverkehrs wurde der Weg geebnet, über eine "supranationale Clearingstelle", namentlich dem Europäischen Iustitiellen Netz (EIN), EUROIUST und UNOJUST, den nationalen Iustizbehörden den Zugang zu den verschiedenen nationalen und zwischenstaatlichen Rechtshilfeinstrumente zu erleichtern und eine zentrale Anlauf- und Informationsstelle insbesondere bei Detailfragen zum innerstaatlichen Recht anderer Staaten oder zu sonstigen Problemen bezüglich der Anwendbarkeit von Rechtshilfeinstrumenten zu bieten. Des Weiteren wird vielfach in Erwägung gezogen, im Hinblick auf den hohen Integrations- und Entwicklungsstand der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, das Konzept der internationalen Rechtshilfe - als traditionelles Instrument der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit - neu zu überdenken. 579 Angeregt wird eine möglichst weitgehende Harmonisierung von Bestimmungen des materiellen Strafrechts und des Strafverfahrensrechts sowie die Schaffung angemessener Eingriffsbefugnisse, um die internationale Zusammenarbeit erleichtern und die Bedeutung von Kompetenzkonflikten zu vermindern. 580 Solange der Gemeinsame Markt nicht mit einem "echten europäischen Rechtsraum" einhergeht, wird die Verfolgung von m Intergovernmental Expert Group Meeting on Mutual Assistance in Criminal Matters, UN-Doc. E/CN.15/199817 vom 23.3.1998, S. 11 ff. 578 Vgl. hierzu Adam, Rivista di diritto europeo 34 (1994),225 (229 f.). 579 V gl. Bomempi, Bericht über die justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der Europäischen Union vom 11.2.1998, Ausschuss für Grundfreiheiten und innere Angelegenheiten, EP-Doc. A4-0058/98, S. 7. 580 Entschließung 1.3 des Resolutionsentwurfs des Kolloqiums zum internationalen Strafrecht in Helsinki 1992, abgedruckt bei LahtilLehtonen, ZStW 105 (1993), 939 (945 ff.); hierzu Wilkitzki, ZStW 105 (1993), 821 (824); siehe auch die Empfehlungen des XV. Internationalen Strafrechtskongresses in Rio de Janeiro 1994, insbesondere zu Themall.Computerkriminalität und andere Delikte im Bereich der Informationstechnik, Ziff. V.22, und zu Thema IV, Die Regionalisierung des Internationalen Strafrechts und der Schutz der Menschenrechte bei der Internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen, Ziff. 1.3, abgedruckt in: ZStW 108 (1996), 688 (703, 712); hierzu Schomburg, European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice 1995, 98 ff.; ders., ZStW 108 (1996), 685 ff.
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Teil 1, 2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
grenzüberschreitenden Straftaten selbst innerhalb der Europäischen Union schwierig und uneffektiv bleiben. Der einzige Weg zur Lösung der von der europäischen Integration verursachten Probleme sei eine noch weitergehende Integration,581 durch welche sich eine unilaterale Ausdehnung nationalen Strafanwendungsrechts, eine Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit, eine materiellrechtliche Harmonisierung der nationalen Strafrechtssysteme und eine gezielte supranationale Nonnsetzung ermöglichen ließe. 582 Bilaterale, regionale und multinationale Rechtshilfeverträge haben den Vorteil, Sicherheit über Voraussetzungen der Zusammenarbeit und klare Verpflichtungen zu schaffen; bilaterale Verträge können dabei auf die speziellen Bedürfnisse einzelner Staaten eingehen; die multilateralen regionalen Verträge können indes dazu beitragen, einen standardisierten rechtlichen Rahmen für die Zusammenarbeit einer größeren Gruppe von Staaten zu schaffen. 583 Aber Rechtshilfe sollte auch jenseits von völkerrechtlichen Vereinbarungen möglich sein, um besonders schweren Formen grenzüberschreitender Kriminalität gerecht werden zu können. 584 Rechtshilfeverträge sind Ausdruck der Zurückhaltung von Staaten, nationale Souveränitätseinbußen zugunsten einer tieferen Zusammenarbeit hinzunehmen, denn sie berühren in den meisten Fällen nicht die innerstaatlichen Rechtsordnungen. Die Rechtshilfeverpflichtungen stehen darüber hinaus zumeist unter dem Vorbehalt des nationalen Rechts, der innerstaatlichen Kriminalpolitik und der Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit. 585 Sie können jedoch auch Einfluss auf die innerstaatliche Rechtsordnung nehmen, indem die Strafprozessordnungen der betroffenen Länder geändert und angepasst werden müssen. 586 Die Anwendung Sieber, JZ 1997,369 (379). Hierzu Pieth, ZStW 109 (1997), 756 ff.; Sieber, JZ 1997, 369 ff.; Tiedemann, in: KreuzerlScheuningiSieber, Europäisierung, S. 133 ff.; Wilkitzki, ZStW 105 (1993), 821 ff.; zur rechtsvereinheitlichenden Wirkung der Europarats-Übereinkommen Vogler, Jura 1992, 586 (587 f.); zur unilateralen Ausdehnung nationalen Strafanwendungsrechts, Verbesserung der Rechtshilfe und Harmonisierung Pieth, ZStW 109 (1997), 756 (761 ff.); Sieber, JZ 1997,369 (375 f.); vgl. zum Thema Vergemeinschaftung von Teilen der dritten Säule die analoge Problematik und das Ergebnis bei "Einwanderung, Asyl und Visum" etc., siehe HailbronnerfFhiery, ZAR 1997, 55 (56); Harmonisierung der materiellen und prozessualen Strafrechtsnormen Sieber, in: Delmas-Marty, Corpus Juris, S. 1 (6 ff.). 583 Intergovernmental Expert Group Meeting on Mutual Assistance in Criminal Matters, UN-Doc. E/CN.151199817 vom 23.3.1998, S. 11. 584 Intergovernmental Expert Group Meeting on Mutual Assistance in Criminal Matters, UN-Doc. E/CN. 151199817 vom 23.3.1998, S. 11. 585 Grass, in: Delmas-Marty, Criminal Policy, S. 23 (26); Lemonde, in: Delmas-Marty, Criminal Policy, S. 33 (34 f.). 586 V gl. in Bezug auf das in das Franzöische Prozessrecht eingeführte Prinzip "aut dedere aut judicare" Grass, in: Delmas-Marty, Criminal Policy, S. 23 (26); zur Harmonisierung des Strafprozessrechts Lemonde, in: Delmas-Marty, Criminal Policy, S. 33 (37 ff.); Rechtshilfe sei allerdings kein tauglicher Ersatz für die Harmonisierung der Strafnormen gegen die internationale Bestechung, so Pieth, ZStW 109 (1997), 756 (765). 581
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D. Ergebnis
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des Konzepts der Deregulierung, d. h. der Anerkennung ausländischer (Straf-)Entscheidungen unter Einbeziehung des Grundsatzes ne bis in idem, könnte ein erster Schritt zur Hannonisierung sein,587 wie es in den fünf skandinavischen Staaten Dänemark, Finnland, Island, Norwegen, Schweden im Rahmen des Nordischen Rates (Nordische Passunion) praktiziert wird. 588 Ein sektoraler Einstieg in ein europäisches Strafrecht scheint daher vorzugswürdig. 589 Bezogen auf die Entwicklung im Ermittlungsverfahrensrecht für Europa muss das Ziel ein Kodex von Rechtssätzen sein, der die freie Verwertbarkeit und Konvertierbarkeit aller im Ermittlungsverfahren gewonnen Beweise ermöglicht. 590 Aber auch rechtsstaatliche Erwägungen setzen einer ungezügelten Ausdehnung nationaler und zwischenstaatlicher Strafverfolgungskompetenzen notwendige Grenzen. 591 So bedarf es speziell hinsichtlich der Erweiterung von Ermittlungskompetenzen zwischenstaatlicher Behörden einer angemessenenjustitiellen Kontrolle, insbesondere einer Zuweisung einer staatsanwaltlichen Leitungsbefugnis 592 für die Kontrolle und Koordinierung von Europol und den operativen grenzüberschreitenden Polizeieinsätzen sowie einer gerichtlichen Kontrollbefugnis. 593 Der "archimedische Punkt" für die materiellen Prinzipien eines europäische Ermittlungsrechtes kann nicht in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, sondern muss auf supranationaler Ebene gesucht werden. Wenn rechtsstaatliches Strafverfahrensrecht angewandtes Verfassungsrecht sein soll, kann Ausgangspunkt für ein europäisches Ermittlungsrecht nur die europäische Verfassung sein. Es bedarf also eines Rechts, das die in der europäischen Verfassung verankerten Grundfreiheiten und Verfahrensgrundrechte respektieren und rechtsstaatliche Sicherungen der Individualrechte enthalten muss. 594 Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass in den internationalen Instrumenten und in den innerstaatlichen Rechtsgrundlagen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen die Bedeutung des Menschenrechtsschutzes immer Ostelldorf, NJW 1997, 3418 (3420). V gl. zum Ganzen auch Sieber, JZ 1997, 369 ff. 589 Ostelldorf, NJW 1997,3418 (3420). 590 Nelles, ZStW 109 (1997), 727 (749 f.). 591 Zum Spannungsverhältnis zwischen internationaler Strafverfolgung und Rechtsstaatlichkeit Riegel, JZ 1982, 312 ff.; eine Vereinfachung des Rechtshilfeverkehrs in Europa ist zwar dringend notwendig. löse jedoch nicht die Probleme der Rechtsstaatlichkeit internationaler Zusammenarbeit. so Ne/les, ZStW 109 (1997), 727 (748 f.). 592 Zur Schaffung einer zentralen EU-Ermittlungsbehörde/-Staatsanwaltschaft siehe auch den Zweiten Bericht über die Reform der Kommission vom 9.9.1999, Ausschuss unabhängiger Sachverständiger. Band II, Ziff. 5.12.10 ff. m Hierzu Bu/l, DRiZ 1998,32 (38 f.); Hirsch, ZRP 1998, 11 ff.; Klliesel. ZRP 1992, S. 164 ff. "rechtsstaatliehe Sicherungen"; Ostelldorf, NJW 1997,3418; Pralltl, DRiZ 1997. S. 234 (235). 594 Nelles, ZStW 109 (1997), 727 (752). 587
588
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Teil 1, 2. Kap.: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen
stärker anerkannt wird. Diese Tendenz wird auch auf internationalen Konferenzen und Expertentreffen zum internationalen Strafrecht positiv hervorgehoben und mit der Forderung verknüpft, eine weitere Stärkung der Achtung von Individualrechten bei Maßnahmen der grenzüberschreitenden Strafverfolgung umzusetzen. 595 Gerade in den völkerrechtlichen Verträgen jüngeren Datums finden sich regelmäßig konkrete Verweise auf die Achtung der Menschenrechte. Hierbei gilt indes zu beachten, dass allein die Aufnahme individualrechtsschützender Nonnen keinen Rückschluss auf die tatsächliche Existenz subjektiver Rechte des Einzelnen ennöglicht. Vielmehr kann es sich dabei auch um grundSätzliche Bekenntnisse handeln, welche dem Einzelnen weder materielle noch prozessuale Rechte gegenüber den kooperierenden Staaten einräumen. Dieses Problem ist im folgenden Kapitel erneut aufzugreifen, um zu ermitteln, wie sich derartige Klauseln tatsächlich auf die Individualrechte des Einzelnen auswirken. Soweit sich entsprechende individualrechtsschützende Nonnen in den innerstaatlichen Rechtsgrundlagen finden, ist des Weiteren zu beachten, dass die nationalen Regelungen häufig ausdrücklich subsidiär zu völkerrechtlichen Rechtsgrundlagen der Zusammenarbeit sind und daher mangels entsprechender Parallelbestimmungen in den völkerrechtlichen Verträgen regelmäßig nicht zur Anwendung kommen. Darüber hinaus ist hier auch der allgemeine völkerrechtliche Grundsatz anzuführen, dass eine völkerrechtliche Verpflichtung nicht unter Berufung auf nationales Recht verweigert werden kann. Trotz all dieser Bedenken kann an dieser Stelle zusammenfassend das Ergebnis bestehen bleiben, dass sich in der internationalen Staatenpraxis eine zunehmende Sensibilität für die Interessen des Einzelnen bei der grenzüberschreitenden Strafverfolgung entwickelt hat. Inwieweit hierin bereits eine grundsätzliche Änderung der klassischerweise zweidimensionalen Betrachtungsweise des Auslieferungs- und Rechtshilferechts und eine Stärkung der Stellung des beteiligten Individuums gesehen werden kann, sollen die Untersuchungen im Rahmen des 3. Kapitels erweisen.
595 Vgl. Kolloquium zum internationalen Strafrecht zur Vorbereitung des XV. Internationalen Strafrechtskongresses der AIDP, vgl. den Tagungsbericht von LahtilLehtonen, ZStW 105 (1993),938 (943); sowie die Entschließungen des XV. Internationalen Strafrechtskongress, abgedruckt in: ZStW 108 (1996), 688 ff.; hierzu auch Schomburg, ZStW 108 (1996), 685 ff.
Drittes Kapitel
Die Rechtsstellung des Einzelnen am Beispiel der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen Nachdem in den ersten beiden Kapiteln die institutionelle Einbettung und die inhaltliche Ausgestaltung der Rechtsgrundlagen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen untersucht wurden, soll im folgenden Kapitel am Beispiel der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen analysiert werden, welche Rechtsstellung dem Einzelnen bei dieser klassischen Form der grenzüberschreitenden Strafverfolgung zukommt. l Entsprechend den Ergebnissen des 2. Kapitels soll daher im Folgenden zunächst ermittelt werden, welche faktischen und rechtlichen Auswirkungen die einzelnen Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen auf die verfolgten Personen haben können (A). In einem zweiten Schritt ist sodann zu klären, welche subjektiven Rechte dem Einzelnen gegen die Vornahme entsprechender Rechtshilfemaßnahmen dem Grundsatz nach zustehen (B). Hierbei ist zunächst eine Abgrenzung der verschiedenen Rechtsquellen vorzunehmen, aus welchen sich subjektive Rechte des Einzelnen zum Schutz gegen Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen grundsätzlich ergeben können. Insbesondere im Hinblick auf die im 2. Kapitel ermittelten individualschützenden Normen in den Rechtsgrundlagen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen aber auch im Hinblick auch die für die vorliegende Untersuchung maßgeblichen Menschenrechte der Völkerrechtsordnung ist zu klären, ob diese völkerrechtlichen Normen dem Einzelnen überhaupt subjektive Rechte vermitteln oder nur so genannte Rechtsreflexe darstellen, deren Geltendmachung und Durchsetzung den Staaten vorbehalten ist. Da sich dem von Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen Bedrohten primär die Frage stellt, auf welchem Wege er sich gegen die bevorstehenden Maßnahmen wehren kann, soll schließlich in einem kurzen Exkurs ermittelt werden, welche prozessualen Möglichkeiten sich ihm bieten, um seine materiellen Rechtspositionen durchsetzen und sich gegen bevorstehende Verletzungen schützen zu können (C).
1 Hierzu ausführlich Lagodny, Die Rechtsstellung des Auszuliefernden in der Bundesrepublik Deutschland, 1989; ScheUer, Ermächtigungsgrundlagen für die internationale Rechts- und Amtshilfe zur Verbrechensbekämpfung, 1997; siehe auch Harings, Grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Polizei- und Zollverwaltungen und Rechtsschutz in Deutschland, 1998.
218
Teil 1, 3. Kap.: Rechtsstellung des Einzelnen bei internationaler Rechtshilfe
A. Überblick über mögliche Eingriffe in Individualrechte durch Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen Die im vorangegangenen Kapitel herausgearbeiteten Formen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen sollen nunmehr auf ihre Bedeutung für die Individualrechte der von entsprechenden Maßnahmen betroffenen Personen untersucht werden. Der Schwerpunkt dieser Betrachtung soll dabei zunächst auf der Auslieferung liegen, da hier die intensivsten Eingriffe in Individualrechtspositionen möglich sind. Im Anschluss können aber noch in aller Kürze die Besonderheiten bei der sonstigen Rechtshilfe in Strafsachen hervorgehoben werden. 2
I. Auslieferung Aus der typischerweise bei der Auslieferung vorliegenden "Dreierkonstellation" der Beziehungen3 und der arbeitsteiligen Vornahme des gesamten Auslieferungsverfahrens ergeben sich mehrere sukzessive Phasen. Hierbei ist stets zwischen den um Auslieferung ersuchenden und dem ersuchten Staat zu unterscheiden, welche jeweils unterschiedliche Vorbereitungshandlungen durchzuführen haben, um eine Auslieferung möglich zu machen. An die Vorbereitungshandlungen schließt sich regelmäßig ein innerstaatliches Auslieferungsverfahren im ersuchten Staat an, welches mit der Übergabe des Auszuliefernden an den ersuchenden Staat, dem Vollzug der Auslieferung, abgeschlossen wird. Schließlich findet das gesamte Auslieferungsverfahren seinen endgültigen Abschluss im ersuchenden Staat, in welchem entweder das der Auslieferung zugrundeliegende Strafverfahren oder, nach bereits erfolgter Verurteilung, die Strafvollstreckung durchgeführt wird. In all diesen vier Phasen ergeben sich zahlreiche Berührungspunkte mit den individuellen Interessen und Rechten des Auszuliefernden, die im Folgenden kurz nachgezeichnet werden sollen.
1. Vorbereitung der Auslieferung durch den ersuchenden Staat Bereits im Vorfeld einer Auslieferung werden in dem ersuchenden Staat regelmäßig Errnittlungsmaßnahmen gegen den mutmaßlichen Straftäter durchgeführt, in dessen Verlauf in zahlreiche prozessuale wie materielle Individualrechtspositionen eingegriffen werden kann. Sie hängen maßgeblich von der Errnittlungsmaßnahme selbst ab. In Betracht kommen hier etwa klassische Grundrechtseingriffe durch die verschiedenen Methoden und Zielrichtungen der InformationserhebunHierzu Scheller, Ermächtigungsgrundlagen, S. 131 ff.; Trechsel, EuGRZ 1987.69 tl Namentlich zwischen dem ersuchenden und dem ersuchten Staat einerseits und dem Auszuliefernden in Bezug auf beide Staaten andererseits. 2
3
A. Überblick über mögliche Eingriffe in Individualrechte
219
gen im Rahmen der Ermittlungsmaßnahmen. 4 Eine Identitätsfeststellung etwa durch genetischen Fingerabdruck, sonstige körperliche Untersuchungen, die Überwachung des Fernmeldeverkehrs oder Abhörmaßnahmen in Wohnräumen sind klassische Beispiele für grund- und menschenrechtserhebliche Ermittlungsmaßnahmen. 5 Sie können entweder das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch die Erhebung, Speicherung und Verarbeitung von Informationen etwa im Rahmen von polizeilicher Observation oder sonstige Spezialgrundrechte wie etwa den Schutz des Eigentums bei der Beschlagnahme berühren. 6 Regelmäßig werden diese Ermittlungshandlungen schließlich zur Durchführung eines Strafverfahrens gegen den mutmaßlichen Straftäter und möglicherweise zur Verurteilung führen. Sofern sich der mutmaßliche Straftäter vor, während oder nach Durchführung des innerstaatlichen Strafverfahrens dessen Abschluss oder der Vollstreckung einer verhängten Strafe durch Flucht entzieht, wird gegen ihn ein internationaler Haftbefehl ausgestellt werden, welcher als Grundlage für ein Auslieferungsersuchen dient. Im Rahmen dieser innerstaatlichen Verfahren kann es zu zahlreichen weiteren Grund- und Menschenrechtseingriffen kommen. Besonders gefährdet sind insbesondere die Rechte des Beschuldigten bzw. Angeklagten auf einen fairen Prozess, eine effektive Verteidigung und sonstige prozessuale Garantien. Insbesondere die bei Auslieferungen typischerweise in Abwesenheit durchgeführten Verfahren können massiv in die prozessualen Rechte des Angeklagten eingreifen. Soweit der Angeklagte bereits inhaftiert ist, können darüber hinaus auch seine Persönlichkeits- und Freiheitsrechte, die sich insbesondere aus dem Folterverbot und dem Verbot willkürlicher Inhaftierung ergeben, berührt werden. Schließlich kann auch das Ersuchen an einen ausländischen Staat um die Auslieferung eines mutmaßlichen Straftäters die Rechte des Betroffenen verletzen. Im Wesentlichen kann hier aufgrund der damit verbundenen Informationsweitergabe an ausländische Ermittlungsbehörden das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Betroffenen gefährdet sein, jedoch spielt diese Frage für das Auslieferungsrecht nur eine untergeordnete Bedeutung. 7
4 Zur Grundrechtsbetroffenheit durch Informationserhebungen im Inland vgl. nur Deutsch, Heimliche Erhebung von Informationen, S. 85 ff.; Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 23 ff.; Weßlau, Vorfeldermittlungen, S. 160 ff.; alle zitiert nach Scheller, Ermächtigungsgrundlagen, S. 200. S Allgemein hierzu Ben/er, Eingriffsrechte - Voraussetzungen und Grenzen präventi ver und repressiver Rechtseingriffe durch Polizei und Staatsanwaltschaft, 1997. 6 V gl. nur Scheller, Ermächtigungsgrundlagen, S. 199 f.; Trechsel, EuGRZ 1987, 69 (70). 7 Anders hingegen in Fällen der sonstigen Rechtshilfe in Strafsachen, siehe unten 3. Kapitel, S. 222; siehe auch Scheller, Ermächtigungsgrundlagen, S. 204 ff., 230 ff.
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Teil I, 3. Kap.: Rechtsstellung des Einzelnen bei internationaler Rechtshilfe
2. Vorbereitung der Auslieferung durch den ersuchten Staat Beim Empfang und der Verarbeitung des Auslieferungsersuchens und der damit verbundenen Informationsverwertung im ersuchten Staat kann es zwar ebenfalls zu den bereits erwähnten Eingriffen in das Persönlichkeitsrecht des Auszuliefernden kommen, jedoch spielt dies auch hier eher eine untergeordnete Rolle. Durch die (vorläufige) Inhaftierung des Auszuliefernden kann es hingegen zu zahlreichen Verletzungen der Rechte des Einzelnen kommen, indem ein Verstoß gegen die Grundsätze des fairen Verfahrens und des Verbots der willkürlichen Inhaftierung darin liegen kann, dass die Behörden des ersuchten Staates den mutmaßlichen Straftäter inhaftieren, ohne die Rechtsmäßigkeit des dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegenden Urteils und Haftbefehls (wenn auch nur summarisch) zu prüfen. 8 Darüber hinaus können durch Verweigerung der regelmäßigen Haftprüfung und der Gewähr entsprechender Beschwerdemöglichkeiten weitere fundamentale Rechte des Einzelnen verletzt werden. In Gefahr können hier vor allem die verfahrensrechtlichen Grundsätze des Anspruchs auf rechtliches Gehör, anwaltlichen Beistand, zügige Durchführung des Verfahrens oder kostenlose Bereitstellung eines Dolmetschers geraten. 9 3. Vollzug der Auslieferung durch den ersuchten Staat Auch durch die Auslieferung des mutmaßlichen Straftäters können zahlreiche Grund- und Menschenrechte verletzt werden. Insbesondere in den Fällen, in denen die auszuliefernde Person sich nicht erst kürzlich dem Forumstaat durch Flucht entzogen, sondern schon geraume Zeit im Aufenthaltsstaat gelebt und soziale Bindungen aufgebaut hat, werden mit der Entfernung des Betroffenen aus dem Aufenthaltsstaat möglicherweise zwischenmenschliche Beziehungen auseinander gerissen und somit in das Recht auf Achtung des Familienlebens eingegriffen. Auch kann durch den Vollzug der Auslieferung ein Eingriff in die körperliche Gesundheit und das psychische Wohlbefinden des Auszuliefernden liegen, wenn dieser sich in einer physischen Verfassung befindet, welche einen Transport oder den Wechsel des Aufenthaltsortes aufgrund der dabei zu befürchtenden Gesundheitsgefährdung eigentlich verbietet. 1O 8 Dieses Recht wurde den aufgrund ausländischer Auslieferungsersuchen in den USA Inhaftierten bis zum Rechtsprechungswechsel mit der bahnbrechenden Paretti-Entscheidung des Uni ted States Court of Appeals im Mai 1997 regelmäßig verweigert, vgl. hierzu ausführlich Wiehl, Mich. J. lot'! L 19 (1998), 729 ff. 9 Hierzu kurz Trechsel, EuGRZ 1987, 69 f. 10 V gl. nur OLG Stuttgart, NStZ 1987, 80, wo das Gericht eine Auslieferung an die Türkei trotz wirksamer Auslieferungsverpflichtung nach dem EuAlÜbk als unzulässig verbietet. weil der Straftäter derart schwer erkrankt ist, dass seine Inhaftierung und Auslieferung eine Verletzung von Art. 2 11 I GG darstellen würde.
A. Überblick über mögliche Eingriffe in Individualrechte
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4. Abschluss des Auslieferungsverfahrens im ersuchenden Staat Indem der Auszuliefernde aus der Hoheitsgewalt des ersuchten Staates entlassen und dem ersuchenden Staat übergeben wird, erlangt letzterer die Jurisdiktionsgewalt über die betroffene Person. Innerhalb dieser Jurisdiktionsgewalt kann der ersuchende ausländische Staat nunmehr den Ausgelieferten aburteilen oder eine bereits verhängte Strafe vollstrecken. Bei der Durchführung und dem Abschluss des der Auslieferung zugrunde liegenden Strafverfahrens im ersuchten Staat ergeben sich zunächst zahlreiche Eingriffsmöglichkeiten in die prozessualen Rechte des Angeklagten. Des Weiteren besteht die Möglichkeit, durch ein unmenschliches oder gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßendes Urteil oder durch die Verhängung der Todesstrafe die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen zu verletzen. Im Rahmen der Vollstreckung einer bereits verhängten Strafe kann es im Rahmen der Haftbedingungen zu zahlreichen Eingriffen in die Persönlichkeitsund Verfahrensrechte des Inhaftierten kommen, wie etwa bei Folter, sonstigen unmenschlichen Haftbedingungen (etwa in der Todeszelle) und fehlenden Haftprüfungsmechanismen.
11. Besonderheiten bei der sonstigen Rechtshilfe in Strafsachen Die durch sonstige Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen entstehenden Gefahren für die Individualrechte des Einzelnen entsprechen weitgehend den im Bereich der Auslieferung dargestellten. Im Schrifttum werden im Gegensatz zu der vorstehend gewählten Aufschlüsselung die verschiedenen grundund menschenrechtserheblichen Maßnahmen der arbeitsteilig vorgenommenen grenzüberschreitenden Strafverfolgung folgendermaßen abschichtet. Zunächst müsse zwischen der "Gewährung von Amts- und Rechtshilfe" und der "Inanspruchnahme von Amts- und Rechtshilfe" unterschieden werden, um im Anschluss die einzelnen typischerweise stattfindenden behördlichen Unterstützungsmaßnahmen auf ihre Grund- und Menschenrechtsrelevanz herausarbeiten zu können. Im Vergleich zur Auslieferung ergeben sich Besonderheiten aus dem Umstand, dass die Behörden des um Rechtshilfe ersuchten Staates mit der eigenständigen Durchführung von Strafverfolgungs- und Ermittlungsmaßnahmen und der anschließenden Weiterleitung der Ermiulungsergebnisse unmittelbar an einem ausländischen Strafverfahren beteiligt werden. Während lange Zeit vertreten wurde, dass es sich bei der Auslieferung um einen "neutralen Akt" bloßer (zwischenstaatlicher) Verwaltungszusammenarbeit handele, zeigt die Konstellation der sonstigen Rechtshilfe, dass die Maßnahmen der internationalen Zusammenarbeit keineswegs rein neutrale Handlungen sind. Vielmehr werden die Ermittlungsergebnisse des um Rechtshilfe ersuchten Staates unmittelbar für das ausländische Strafverfahren verwandt.
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Teil 1, 3. Kap.: Rechtsstellung des Einzelnen bei internationaler Rechtshilfe
1. Durchführung von innerstaatlichen Strafverfolgungsmaßnahmen im ersuchten Staat Im Rahmen der Durchführung von innerstaatlichen Strafverfolgungsmaßnahmen des um Rechtshilfe ersuchten Staates können grundsätzlich alle mit Errniulungsmaßnahmen der nationalen Strafverfolgungsbehörden möglichen Eingriffe in Individualrechte vorgenommen werden. Typischerweise sind hier insbesondere die Ansprüche auf ein faires Verfahren und auf den Schutz der Privatlebens und bei Beschlagnahmen, auch der Schutz des Eigentums, gefährdet.
2. Weitergabe von Ermittlungsergebnissen durch den ersuchten Staat Durch die Weitergabe der im Rahmen von sonstigen Rechtshilfemaßnahmen erlangten ErrniUlungsergebnisse an ausländische Behörden in Gestalt von Informationen können sowohl das allgemeine Persönlichkeitsrecht sowie einschlägige Spezialgrundrechte tangiert werden. I I
3. Verwertung der erlangten Ermittlungsergebnisse im ersuchenden Staat Die Weitergabe der im Rahmen von sonstigen Rechtshilfemaßnahmen erlangten Ermittlungsergebnisse kann durch deren anschließende Verwertung im ersuchenden Staat zahlreiche grund- und menschenrechtsrelevante Folgemaßnahmen auslösen, wie etwa die Verurteilung eines Angeklagten oder gar eines ursprünglichen Zeugen zur Todesstrafe, die Anordnung von Folter oder eine Strafvollstreckung unter gesundheitsgefährdenden Bedingungen. 12
III. Würdigung Die vorangegangene Skizzierung der möglichen Berührungspunkte hoheitlicher Maßnahmen im Bereich der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen mit den Interessen und Rechten des hiervon betroffenen Individuums hat ergeben, dass sich stets danach unterscheiden lässt, welcher Staat welche konkrete Maßnahme der arbeitsteilig vorgenommenen grenzüberschreitenden Strafverfolgung vornimmt. Entsprechend erscheint es auf den ersten Blick auch eindeutig, an welchen Vgl. hierzu Scheller. Ermächtigungsgrundlagen. S. 204 t'f.. 217 t'f. Vgl. hierzu nur die uneinheitliche Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland OLG Köln. NJW 1985.572 mit Verweis auf BVerfGE 18. 112 (116); OLG Karlsruhe. N1W 1990,2208 = NStZ 1991. 138 mit Anmerkung Lagodny; BGH. NStZ 1999. 634; weitere Nachweise unten 4. Kapitel. S. 293 t'f. 11
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A. Überblick über mögliche Eingriffe in Individualrechte
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Grund- und Menschenrechtsstandards die Rechtmäßigkeit des jeweiligen Hoheitshandelns zu messen ist. So dürften die innerstaatlichen Strafverfolgungsbehörden eines um Auslieferung ersuchten Staates bei der Vorbereitung und Durchführung der Auslieferung allein an die nationalen Grundrechte der eigenen innerstaatlichen Rechtsordnung und die internationalen Menschenrechtsverbürgungen des eigenen Staates gebunden sein. Im Gegenzug dürfte sich die Rechtmäßigkeit der die Auslieferung vorbereitenden Maßnahmen, der Stellung eines entsprechenden Auslieferungsersuchens und die Fortsetzung der Strafverfolgung bzw. Strafvollstreckung nach erfolgter Auslieferung ausschließlich nach den innerstaatlichen und völkerrechtlichen Verpflichtungen des ersuchenden Staates bemessen. Gleiches dürfte für die sonstige Rechtshilfe in Strafsachen gelten. Anknüpfungspunkt für die Beurteilung der jeweiligen hoheitlichen Maßnahmen wäre danach immer die Bindung der jeweils unmittelbar handelnden staatlichen Organe an die innerstaatlichen und völkerrechtlichen Verpflichtungen des eigenen Staates. Hingegen würde diese Sichtweise außer Acht lassen, dass die Folgen des hoheitlichen Handeins eines Staates gerade in den hier relevanten, regelmäßig grenzüberschreitenden Fällen auch jenseits des eigenen lurisdiktionsbereichs eintreten können. So hat die vorgenommene Skizzierung der Rechtsgefährdungen gezeigt, dass erst die Auslieferung eines Straftäters die Vollstreckung einer über ihn verhängten Strafe im ersuchenden Staat oder die Durchführung von Strafverfolgungsmaßnahmen im ersuchten Staat und die Weitergabe der erlangten Ermittlungsergebnisse an den ersuchenden Staat die Verurteilung des Straftäters, etwa zur Todesstrafe, ermöglichen. Aus diesem Grund stehen die in Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen involvierten innerstaatlichen Strafverfolgungsbehörden regelmäßig vor der schwierigen Frage, ob und in welchem Umfang sie den Grund- und Menschenrechtsstandards, an welche sie in rein innerstaatlichen Sachverhalten umfassend gebunden sind, auch in grenzüberschreitenden Fällen der Strafverfolgung Geltung verschaffen sollen, wenn der ausländische Staat etwa in viel geringerem Umfang innerstaatlich und völkerrechtlich grundund menschenrechtlichen Positionen des Einzelnen verpflichtet ist. Um dieses streitige Problem zu klären, muss im Bereich der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen zunächst stets danach unterschieden werden, ob es um die unmittelbare Vornahme der ersuchten Auslieferungs- oder Rechtshilfemaßnahme im ersuchten Staat oder um deren mittelbare Folgen im ersuchenden Staat geht. Dem entspricht die in Rechtsprechung und Schrifttum vorgenommene Unterscheidung zwischen inlands- und auslandskausalen Eingriffskonstellationen. 13 Aus der Sicht des ersuchten Staates käme es daher etwa bei der Frage nach der Zu lässigkeit einer Auslieferung darauf an, wem die unmittelbar letzte kausale I] Vgl. nur Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden. S. 94; van den Wyngaert, ICLQ 39 (1990),757 (758); zu der Unterscheidung nach ziel staats- und inlandsbezogenen Gefahren für die Verletzung von Menschenrechten siehe nur BVerwG. Beschluss vom 11. J 1.1997. NVwZ 1998.526.
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Teil!, 3. Kap.: Rechtsstellung des Einzelnen bei internationaler Rechtshilfe
Handlung, die zu einem Eingriff in grund- und menschenrechtliche Positionen führt, zugerechnet werden kann. Zu den inlandskausalen Konstellationen der Auslieferung zählen danach aus der Sicht des ersuchten Staates die einzelnen Phasen des innerstaatlichen Auslieferungsverfahrens von der vorläufigen Inhaftierung bis zur Übergabe des Auszuliefernden an den ersuchenden Staat, während die vorbereitenden Maßnahmen bis zur Stellung des Auslieferungsersuchens und die abschließenden Maßnahmen nach erfolgter Auslieferung bis zur Strafvollstreckung im ersuchenden Staat zu den auslandskausalen Konstellationen zu zählen sind. Nach erfolgter Abgrenzung in inlands- und auslandskausale Eingriffe hat der ersuchte Staat die Zulässigkeit einer Auslieferungs- oder Rechtshilfemaßnahme zu prüfen. Dabei sehen sich die innerstaatlichen Behörden und Gerichte des ersuchten Staates regelmäßig mit zwei strikt voneinander abzugrenzenden Fragen konfrontiert, deren Beantwortungjedoch Überschneidungen möglich macht. Die erste Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist, ob und in welchem Umfang dem ersuchten Staat die auf selbständiges Hoheitshandeln der Behörden und Gerichte des ersuchenden Staates zurückzuführenden Eingriffe in Grund- und Menschenrechte zugerechnet werden können. 14 Diese Frage ist in Schrifttum und Rechtsprechung hoch umstritten. Das Bundesverfassungsgericht verneint in ständiger Rechtsprechung sowohl eine Überprüfung von eingehenden Auslieferungsoder Rechtshilfeersuchen zugrundeliegenden Urteilen und Entscheidungen, solange sie nicht gegen die wesentlichen Grundsätze der deutschen Rechtsordnung oder gegen den völkerrechtlichen menschenrechtlichen Mindeststandard verstoßen. 15 Gleiches gilt für die Zurechenbarkeit selbständiger ausländischer Hoheitsakte nach erfolgter Auslieferung oder Weitergabe der im Wege der Rechtshilfe erlangten Errnittlungsergebnisse. 16 Sofern hiernach die Frage der Zurechnung positiv zu beantworten ist, muss im Anschluss geklärt werden, ob der ersuchte Staat unter Berufung auf die Bindung an innerstaatliche oder völkerrechtliche Grund- und Menschenrechte die Vornahme einer Auslieferung oder Rechtshilfemaßnahme verweigern und somit einen möglicherweise bestehenden internationalen Rechtshilfevertrag verletzen und die zwischenstaatlichen Beziehungen mit dem ersuchenden Staat gefährden muss oder aber die entsprechenden eigenen Bindungen an die Grund- und Menschenrechte missachten kann. 17 In dieserregelmäßig auftretenden Pflichtenkollision der bei der 14 Zur Frage der Zurechenbarkeit von Folgernaßnahmen im ausländischen Staat Geck, JuS 1965,221 (228); Gusy, GA 1983,81 ff.; Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 208 ff.; Scheller, Ermächtigungsgrundlagen, S. 211 ff. 15 Vgl. BVerfGE, Beschluss vom 25.3.1981, BVerfGE 59, 280 (282); Beschluss vom 7.4.1988, BvR 1560/87, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, U 161, S. 572; siehe auch OLG München vom 3.2.1982, NJW 1982, 1241. 16 Ausführlich mit zahlreichen Nachweisen unten 5. Kapitel, S. 350 ff. 17 Currie, Criminal Law Forum 11 (2000), 143.
B. Subjektive Rechte des Einzelnen - materielle Rechtspositionen
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grenzüberschreitenden Strafverfolgung kooperierenden Staaten liegt das Grundproblemder internationalen Zusammenarbeit, dessen nähere Untersuchung Hauptanliegen dieser Arbeit ist und weIcher es sich vor allem im 2. Teil der Arbeit zu widmen gilt.
B. Subjektive Rechte des Einzelnen materielle Rechtspositionen gegen Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen Nachdem festgestellt wurde, dass Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen mögliche Rechte des Einzelnen beschneiden können, ist im Folgenden zu untersuchen, weIche materiellen Rechte er überhaupt geltend machen kann. Denn für einen effektiven Rechtsschutz ist nicht allein die Möglichkeit einer gerichtlichen Prüfung an sich entscheidend, sondern vor allem auch, ob das Gericht alle maßgeblichen Belange berücksichtigt und die Rechte des Verfolgten wirksam wahren kann. 18 Es gilt deshalb zu klären, auf weIche Rechte sich der Verfolgte in gerichtlichen Verfahren berufen kann und an welchem Maßstab das Gericht die Rechtmäßigkeit einer Rechtshilfemaßnahme prüfen wird. Deshalb ist im Folgenden zu ermitteln, weIche subjektiven Rechtspositionen grundsätzlich in Betracht kommen, um den Einzelnen vor Maßnahmen der internationalen Rechthilfe in Strafsachen zu schützen. Aus der grenzüberschreitenden Dimension der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen ergibt sich zwangsläufig, dass der Verfolgte mit mehreren Rechtskreisen in Berührung kommt. Fraglich ist, ob und in welchem Umfang diese Rechtskreise auch subjektive Rechte für ihn vorsehen. Hierbei lassen sich die innerstaatlichen Rechtsgewährleistungen der kooperierenden Staaten (innerstaatliche Gegenrechte ) von den völkerrechtlichen Rechtsgewährleistungen (völkerrechtliche Gegenrechte) abgrenzen. Zu den innerstaatlichen Gegenrechten zählen in erster Linie die in der vorliegenden Arbeit nicht vertieft zu prüfenden Grundrechte,19 wie sie sich aus den Verfassungsordnungen der einzelnen Staaten ergeben, sowie die in das innerstaatliche Recht inkorporierten Menschenrechte der Völkerrechtsordnung. Letztere stellen aufgrund ihres Entstehungsgrundes insbesondere auch völkerrechtliche Gegenrechte dar. Fraglich ist, auf weIcher Ebene sich die im 2. Kapitel ermittelten individualrechtsschützenden Normen in den völkerrechtlichen Rechtsgrundlagen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen auswirken. Primär handelt es sich dabei um völker18 Häde, Der Staat 36 (1997), I (12); Hofmann, Grenzüberschreitende Sachverhalte, S. 263; Lagodny, in: Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, IRG, § 12 Rn. 5. 19 Hierzu Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 129 ff.; Scheller, Ermächtigungsgrundlagen. S. 131 ff. 15 Ziegenhahn
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Teil 1,3. Kap.: Rechtsstellung des Einzelnen bei internationaler Rechtshilfe
rechtliche Nonnen - soweit sie sich nicht (auch) in den innerstaatlichen Rechtsgrundlagen wiederfinden. Für die materielle Rechtsstellung des Einzelnen ist es jedoch von außerordentlicher Bedeutung, ob und in welchem Umfang völkerrechtliche Nonnen durchsetzbare subjektive Rechte einräumen oder ob es sich dabei nur um so genannte Rechtsreflexe handelt, deren Geltendmachung und Durchsetzung den Staaten vorbehalten ist.
I. Existenz subjektiver Rechte des Einzelnen auf der Ebene des Völkerrechts Wie bereits einführend dargelegt, kommen als subjektive Rechte des Einzelnen auf der Ebene des Völkerrechts sowohl die Menschenrechte der Völkerrechtsordnung als auch die im 2. Kapitel bereits umfassend herausgearbeiteten individualrechtsschützenden Nonnen in den Rechtsgrundlagen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Betracht. Insbesondere bezogen auf letztere Nonnen ist es höchst fraglich, ob sich aus ihnen auch unmittelbare subjektive Rechte des Einzelnen ableiten lassen, da die Verträge über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen im Gegensatz zu den Menschenrechtsverträgen primär staatlichen Interessen an der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit und der effektiven Strafverfolgung dienen. Nach der klassischen zweidimensionalen Sichtweise im internationalen Rechtshilfeverkehr würden deshalb die Maßnahmen der zwischenstaatlichen Kooperation auch nur das Rechtsverhältnis zwischen den beteiligten Staaten betreffen und nicht etwa des hiervon betroffenen Strafverfolgten. Inzwischen hat sich indes auch eine dreidimensionale Sichtweise herausgebildet, wonach die Verträge über die zwischenstaatliche Zusammenarbeit in Strafsachen nicht mehr nur ausschließlich staatlichen Interessen dienen, sondern auch die des verfolgten Individuums berücksichtigen würden. Diese Tendenz hat sich bereits in der vennehrten Aufnahme von individual schützenden Nonnen und Bezugnahmen auf die Grund- und Menschenrechte des Einzelnen in den Rechtsgrundlagen jüngeren Datums gezeigt. Nichts desto trotz ist im Folgenden die Frage zu klären, ob sich hieraus auch subjektive Rechte des Einzelnen ergeben. Hierfür soll zunächst ein kurzer Überblick über die grundSätzlichen Positionen im Rechtshilferecht, namentlich der klassischen zweidimensionalen und der injüngerer Zeit zunehmend vertretenen dreidimensionalen Sichtweise gegeben werden. Im Rahmen einer Würdigung beider Auffassungen soll jedoch ein von diesen Begriffen losgelöster und mit den Ergebnissen der Völkerrechtswissenschaften im Einklang stehender Ansatz vorgeschlagen werden, mit welchem die sich hier stellende Frage der subjektiven Rechte des Einzelnen in den Rechtsgrundlagen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen grundSätzlich beantwortet werden kann. Sodann kann diese Frage auch für die Menschenrechte der Völkerrechtsordnung beantwortet werden.
B. Subjektive Rechte des Einzelnen - materielle Rechtspositionen
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1. Zweidimensionale Sichtweise im Rechtshilferecht Nach der klassischen zweidimensionalen Sichtweise berührt eine Maßnahme der zwischenstaatlichen Kooperation in Strafsachen allein das Rechtsverhältnis zwischen den beteiligten Staaten, während das hiervon betroffene Individuum nur ein "Objekt" dieser zwischenstaatlichen Kooperation ist. 20 Danach stellt eine Auslieferung oder eine Rechtshilfemaßnahme die Durchführung einer dem völkerrechtlichen Vertrag entspringenden zwischenstaatlichen Verpflichtung dar. Bindungen und Beschränkungen könnten sich daher auch nur aus der völkervertragsrechtlich determinierten Rechtsbeziehung zwischen den kooperierenden Staaten ergeben. 2 ! Das von einer Rechtshilfemaßnahme betroffene Individuum soll hingegen keine eigenen Rechte der völkerrechtlichen Verpflichtung der Staaten entgegensetzen können. 22 Unabhängig von der Stellung des Betroffenen, sei es als Beschuldigter, Verurteilter, Opfer oder Drittbeteiligter, sei er grundsätzlich allein als Objekt zwischenstaatlichen Handeins anzusehen. Diese für lange Zeit von der Rechtsprechung23 und dem Schrifttum der Bundesrepublik Deutschland24 vertretene Auffassung findet ihre dogmatische Grundlage im klassischem Völkerrecht, wonach völkerrechtliche Verträge allein die Rechte und Pflichten der beteiligten Vertragsparteien regeln. Da die Verträge über die internationale Zusammenarbeit in Strafsachen regelmäßig nur von Staaten geschlossen werden, könne der Einzelne grundSätzlich auch keine unmittelbaren Rechte aus dem völkerrechtlichen Vertrag ableiten. 25 Auch wenn die traditionellen Auslieferungs- und Rechtshilfeverträge Ausnahmetatbestände regeln,26 aufgrund welcher eine Auslieferung oder Rechtshilfeleistung verweigert werden kann, begründe ein völkerrechtlicher Vertrag über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen nach dieser Auffassung ausschließlich 20 Zu den (ehemaligen) Vertretern der zweidimensionalen Auffassung gehören Giltmeister, NJW 1991,2245 ff.; Schröder, BayVBl. 1979,231 ff.; Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 28; VOll BubIlaff, Auslieferung, Verfolgungsübernahme, Vollstreckungshilfe. 1988; vgl. auch Schwaighofer, Auslieferung, S. 60 m. w. N. 21 Grundsätzlich hierzu Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 26 ff., 137 ff.; ebenso Schröder, BayVBl. 1979,231 f. m. w. N. 22 Noch 1974 war es allgemein anerkannt, dass "nowhere in extradition law and practice can the individual [ ... ] compel the state to adhere to internationally recognized principles of extradition law", vgl. Bassioulli, International Extradition, S. 563; vgl. auch Vogler! Wilkitzki, IRG. § 12 Rn. 21. 23 Ausführlich BGHSt 34. 256 = NJW 1988, 655 =St V 1987, 211 = NStZ 1987, 414. l~ Siehe oben 3. Kapitel, Fn. 20. 25 Schröder, BayVBl. 1979,231. 26 Zu den klassischen Auslieferungs- und Rechtshilfehindernissen siehe bereits oben 2. Kapitel. S. 191 ff.; zu dieser Frage auch BreitellmoserlWilms, Mich. J.Int'l L. II (1990), 845 (880 f.) mit zahlreichen Nachweisen zum amerikanischen Schrifttum; Lagodny, RechtssteIlung des Auszuliefernden. S. 53 ff.
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Rechte und Pflichten zwischen den vertrags schließenden Staaten. 27 So könne sich der Einzelne auch nach der Transfonnation eines völkerrechtlichen Auslieferungsvertrages in innerstaatliches Recht nicht unmittelbar auf ein darin enthaltenes Verbot der Auslieferung bei drohender Todesstrafe - wie z. B. in Art. 8 EuAlÜbkberufen,2s selbst wenn diesem Verbot auch eine individualschützende Wirkung zukommt. 29 Derartige Schutznorrnen, die zugunsten des Verfolgten in den Verträgen enthalten sind, begünstigten das betroffene Individuum allenfalls mittelbar,30 denn der Schutz der Individualrechte der Betroffenen sei kein subjektives Recht, sondern allein ein Rechtsreflex aus den zugrunde liegenden Verträgen. Mit dieser Betrachtungsweise versuchen die Vertreter dieser Auffassung dem nachweisbaren Trend zur Berücksichtigung von Individualinteressen im Rechtshilferecht gerecht zu werden, indem sie die grundlegenden Menschenrechte, sofern sie die Voraussetzungen zwingenden Rechts erfüllen, als Beschränkung der völkerrechtlichen Verpflichtungen der zugrunde liegenden Auslieferungs- und Rechtshilfeverträge anerkennen. 31 AufRechte aus dem völkerrechtlichen Vertrag selbst könne sich die verfolgte Person nur dann berufen, wenn solche subjekti ven Rechte des Einzelnen eine ausdrückliche Regelung erfahren haben.
2. Von der zweidimensionalen zur dreidimensionalen Sichtweise Während also die traditionellen Auslieferungs- und Rechtshilfehindernisse ihrem historischen Ursprung entsprechend zunächst primär auf den Ausgleich zwischenstaatlicher Interessen bezogen waren und der Einzelne nach dieser zweidimensionalen Sichtweise im Wesentlichen nur das Objekt der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit darstellte,32 erkannte man in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend die Bedeutung auch der Interessen des betroffenen Individuums an. Insbesondere aufgrund der weitreichenden Anerkennung der Menschenrechte durch die internationale Staatengemeinschaft, die sich unter anderem in der Schaffung zahlreicher internationaler Menschenrechtskonventionen widerspiegelt, haben individualrechtliche Positionen zunehmende Bedeutung auch im Rahmen der Gillmeister, NJW 1991. 2245. OVG Münster, MDR 1981. 435; Gillmeister, NJW 1991,2245; von Bubnoff. Auslieferung, S. 11 f. 2' Strittig; in diesem Sinne van den W:vngaert, in: EserlLagodny, Principles. S. 489 (499); zur Frage. ob die vertraglichen Verfolgungs vorbehalte (z. B. Art. 3 II EuAIÜbk) ausnahmsweise individualrechtsbegründend sind, vgl. von Bubnoff. Auslieferung. S. 11. JO Gillmeister, NJW 1991, 2245. JI Vgl. insbesondere Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 214 ff.; ders., 140 Jahre Goltdammer's Archiv für Strafrecht (1993), 251 (261 f.). J2 V gl. zur historischen Entwicklung Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 27 ff. 27
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zwischenstaatlichen Zusammenarbeit in Strafsachen erlangt. 33 Hierauf hat sich eine auf die Rechte des Individuums ausgerichtete dreidimensionale Sichtweise herausgebildet,34 welche sich von der zweidimensionalen Sichtweise darin unterscheidet, dass der von internationalen Rechtshilfemaßnahmen Betroffene sich gegenüber den Staaten auf seine Interessen berufen kann. 35 Gewährleistet wird dies durch entsprechende innerstaatliche und völkerrechtliche Instrumentarien, welche den Betroffenen nicht nur formell-verfahrensmäßig, sondern auch materiell-inhaltlich zum Rechtssubjekt machen. 36 Ausdruck des veränderten Verständnisses ist die zunehmende Integration individualrechtlicher Schutznormen in die völkerrechtlichen Verträge der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit in Strafsachen. 3. Würdigung aus der Sicht der Välkerrechtswissenschaft Die dargestellten Auffassungen sind in erster Linie auf ein sich wandelndes Verständnis der Wirkzusammenhänge zwischen den Normen der V ölkerrechtsordnung und des innerstaatlichen Rechts zurückzuführen. Sie spiegeln darüber hinaus den in der Völkerrechtswissenschaft seit Jahrzehnten geführten Streit um die Völkerrechtssubjektivität des Einzelnen wider. 37
In der klassischen Völkerrechtslehre, unterstützt von der scharfen Trennung der dualistischen Theorie zwischen völkerrechtlichen und innerstaatlichen Normen, galten allein die Staaten als Rechtssubjekte der Völkerrechtsordnung mit eigenen Rechten und Pflichten, während der Mensch als bloßes Objekt des Völkerrechts nicht Inhaber von Rechten auf der Ebene der Völkerrechtsordnung sein konnte. 38 So war bis zum Ende des 19 . Jahrhunderts auch die Auffassung herrschend gewesen, dass der völkerrechtliche Schutz des Einzelnen nur über das Medium des Staates geWährleistet werden konnte. Aus dieser Mediatisierung des Individuums Hierzu van den "'yngaert. in: Eser/Lagodny, Principles, S. 489 ff. Vgl. ausführlich Breitellmoser/Wilms. Mich. J.Int'l L. 11 (1990), 845 (879 ff.); Dugard/vall den WYllgaert. AJIL 92 (1998), 187 ff.; Häde. Der Staat 36 (1997), 1 (12); Lagodny. Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 11 ff.; ScheUer. Ermächtigungsgrundlagen, S. 3; Schomburg. StV 1998, 153; van den W:"ngaert. in: Eser/Lagodny, Principles, S. 489 ff. 35 van den Wyngaert. in: Eser/Lagodny, Principles, S. 489 (491). 33
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36 Zur SubjektsteIlung des Einzelnen siehe Häde. Der Staat 36 (1997), 1 (12 f.); Schomburg/Lagodll)'. Internationale Rechtshilfe, Einleitung, Rn. 88 ff.; Trechsel. EuGRZ 1987, 69 (70); Weigelld. JuS 2000, 105 (110 f.). 37 Siehe hierzu statt vieler Eppillg. in: Ipsen, Völkerrecht, § 7; DahmiDelbrückIWolfrum. Völkerrecht, Bd. 111, S. 280 ff., jeweils mit zahlreichen Nachweisen zum relevanten völkerrechtlichen Schrifttum. 38 Zur sog. Objekttheorie des Völkerrechts siehe nur Epping. in: Ipsen, Völkerrecht, § 7 Rn. I; Kimminich. Völkerrecht, S. 215 ff.; Verdross/Simma. Völkerrecht, S. 255.
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heraus entwickelte sich etwa das völkerrechtliche Fremdenrecht, wonach ein Staat die Angehörigen fremder Staaten innerhalb seines Hoheitsbereiches zu schützen und ihnen (innerstaatlich) einen Mindeststandard an Rechten einzuräumen hatte. 39 Trotz ihres Ursprungs im Völkerrecht erfolgte der Schutz des Fremden nur nach Maßgabe des nationalen Rechts des Aufenthaltsstaates; gewährte dieser nicht den völkerrechtlichen Mindeststandard an Rechten, so verletzte dies nicht die Rechte des fremden Staatsangehörigen, sondern des Herkunftsstaates. 4o Nach der klassischen Völkerrechtslehre war das Individuum im Völkerrecht daher ebenso wie nach der zweidimensionalen Lehre im Rechtshilferecht vollständig mediatisiert, das heißt nicht der Einzelne wurde durch die Verletzung individualschützender Normen der Völkerrechtsordnung tangiert, sondern die Heimatstaaten in der Person ihrer Staatsangehörigen. 41 Parallel zur weitreichenden Internationalisierung des Menschenrechtsschutzes nach dem Zweiten Weltkrieg wurden dem Einzelnen über den diplomatischen Schutz und das Fremdenrecht hinaus in zahlreichen völkerrechtlichen Verträgen weitere eigene Rechtspositionen zuerkannt. 42 Aus der Tatsache, dass der Einzelne zunehmend aus völkerrechtlichen Verträgen unmittelbar berechtigt und verpflichtet wurde und unter Berücksichtigung des mit dem internationalen Menschenrechtsschutz einsetzenden Wandels der Rechtsstellung des Einzelnen schließt die moderne Völkerrechtslehre zunehmend auf eine partielle Völkerrechtssubjektivität des Individuurns. 43 Auch das Bundesverfassungsgericht stellte im Jahre 1977 klar, dass "das gegenwärtige Völkerrecht" im Bereich der "menschenrechtlichen Mindeststandards" Normen enthalte, "durch die subjektive Rechte des privaten Einzelnen unmittelbar auf der Ebene des Völkerrechts begründet werden".44 Auf derartige Regeln könne sich der Einzelne im Rahmen des jeweiligen Verfahrensrechts ebenso berufen, wie auf sonstiges objektives Recht. 45 Steht somit fest, dass der Einzelne grundsätzlich völkerrechtlich berechtigt und verpflichtet sein kann, stellt sich die Frage, welche Anforderungen völkerrechtliche Normen erfüllen müssen, damit der Einzelne subjektive Rechte ableiten und 39 Siehe nur Delbrück, GYIL 1979, 384 (389); Ermacora, Menschenrechte, Bd. H, S. 69 ff.; FroweiniStein, Die Rechtsstellung von Ausländern nach staatlichem Recht und Völkerrecht, 1987; Na/ziger, AJIL 1983, 803 ff.; Ipsen, in: ders., Völkerrecht, § 49; Verdross/Simma, Völkerrecht, §§ 1209, 1212 ff. 40 Epping, in: Ipsen, Völkerrecht, § 7 Rn. 3. 41 Schwarze, AVR 24 (1986), 408 (410); Verdross/Simma, Völkerrecht, § 47. 42 Vgl. die Übersichten bei Geck, in: FS Carstens, S. 339 ff.; Grassi, Rechtsstellung, S. 121 ff.; Seidel, AVR 38 (2000), 23 (33); zur Internationalisierung des Menschenrechtsschutzes siehe auch Ipsen, in: ders., Völkerrecht, § 48. 43 Siehe bereits Kimminich, AVR 15 (1971172),402 ff.; Mosler, RdC 140 (1974-IV), I (54 0; Schwarze, A VR 24 (1986), 408 (412 f.); Verdross/Simma, Völkerrecht, § 48. 44 BVerfGE 46,342 (362). 45Ibid.
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geltend machen kann. Hierbei ist bereits begrifflich streng zu unterscheiden zwischen einer echten völkerrechtlichen Berechtigung im Sinne einer personalen Zuordnung des Rechts einerseits und einer mittelbaren Begünstigung des Individuums andererseits. 46 Bei letzteren handelt es sich um einen Reflex aus den Rechten und Pflichten des Staates, welche den Einzelnen zwar berechtigen, deren Geltung aber ausschließlich vor innerstaatlichen und nicht etwa vor internationalen Gerichtsinstanzen durchgesetzt werden kann. 47 Es wird aber auch die Sichtweise vertreten, dass die gerichtliche Durchsetzbarkeit völkerrechtlicher Ansprüche zwar eine hinreichende, aber nicht notwendige Bedingung einer subjektiven Rechtsposition darstellt. 48 Dies beruht auf der Feststellung, dass materielle und prozessuale Rechtspositionen auseinanderfallen können, womit es auch möglich sein müsse, dass der Einzelne materiell-rechtlich Träger völkerrechtlicher Ansprüche ist, gleichwohl insoweit mediatisiert bleibt, als er zur Durchsetzung auf die Unterstützung seines Heimatstaates angewiesen ist. 49 Jedoch ermöglicht erst eine vor internationalen Gremien völkerrechtlich einklagbare und durchsetzbare Rechtsposition, dass sich das Individuum selbständig aus seiner Mediatisierung durch den Staat lösen kann und letzterer aus seiner angestammten Position als allgemeinen Garant des Menschenrechtsschutzes enthoben wird. 50 Indem dem Individuum eigene völkerrechtliche Rechtspositionen eingeräumt werden, verliert der Staat die Befugnis, sein Verhalten gegenüber den auf seinem Territorium lebenden und seiner Gebiets- und Personalhoheit unterliegenden Indi viduen nach seinem Belieben zu gestalten. 51 Erst die verfahrensrechtliche Durchsetzbarkeit der völkerrechtlichen Rechte gegenüber einem Staat qualifiziere sie als echte subjektive Rechte und ermöglicht den qualitativen Sprung zur Überwindung des Staates als Vermittler zwischen Völkerrecht und Individuen, indem dem Einzelnen durch eine Norm des Völkerrechts unmittelbar in einem (völkerrechtlichen) Verfahren die Befugnis eingeräumt wird, von einem Staat ein bestimmtes Verhalten zu verlangen. 52 Fraglich ist indes, ob es zwingend erforderlich ist, dass die völkerrechtliche Norm in einem völkerrechtlichen Verfahren geltend gemacht werden kann oder ob es genügt, dass sie innerstaatlich anwendbar ist und sich der Einzelne vor den nationalen Gerichten darauf berufen kann. So vertreten andere die Auffassung, dass es für die Qualität einer völkerrechtlichen Norm, insbesondere der Menschenrechte, darauf ankäme, ob sie auch im innerstaatlichen Recht unmittelbare Epping, in: Ipsen, Völkerrecht, § 7 Rn. 5. Epping, in: Ipsen, Völkerrecht, § 7 Rn. 5 f. 018 So Schwarze, AVR 24 (1986), 408 (414). 019 Vgl. Grassi, Rechtsstellung, S. 355; Schwarze, AVR 24 (1986), 408 (414). 50 Habe, Verfassungsstaat, S. 219. 51 Habe, Verfassungsstaat, S. 221. 52 So Epping, in: Ipsen, Völkerrecht, § 7 Rn. 5 f.; Seidel, AVR 38 (2000),23 (33); Verdross/Simma, Völkerrecht, § 424. 016 017
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Teil 1,3. Kap.: Rechtsstellung des Einzelnen bei internationaler Rechtshilfe
Anwendung findet. 53 Da völkerrechtliche Bestimmungen in der Bundesrepublik Deutschland regelmäßig über denjeweiligen Rechtsanwendungsbefehl 54 unmittelbare Anwendung fänden, käme es darauf an, ob die entsprechenden völkerrechtlichen Normen auch eine SelJ-executing-Norm darstellten. 55 Nur in einem solchen Fall würde die jeweilige völkerrechtliche Bestimmung dem Einzelnen ein subjektives Recht vermitteln, auf welches sich der Einzelne auch innerstaatlich berufen kann. 56 Handelt es sich indes um eine Non-selJ-executing-Norm, dann begründe sie nur eine völkerrechtliche Staaten verpflichtung, aus welcher sich dann allenfalls unselbständige Rechtsreflexe des Einzelnen ableiten ließen. 57 Unabhängig davon, welche der beiden zuletzt genannten Auffassungen man verfolgt, die sich im Übrigen auch nicht ausschließen, kommt es für die Frage, ob die Normen der Völkerrechtsordnung echte subjektive Rechte oder bloße Rechtsreflexe darstellen, die dem verletzenden Staat entgegengehalten werden können und verfahrensrechtlich durchsetzbar sind, im Einzelnen auf die konkreten völkerrechtlichen Normen und ihre Reichweite im Völkerrecht an.
Im Folgenden sind daher vor allem die Menschenrechte der Völkerrechtsordnung, aber auch die in den Rechtsgrundlagen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit enthaltenen individualschützenden Regelungen auf ihre Einordnung als echte subjektive Rechte oder bloße Rechtsreflexe hin zu untersuchen. Dabei kommt den Menschenrechten der Völkerrechtsordnung eine weiter reichende Bedeutung zu, denn letztlich wird - wie im 2. Kapitel festgestellt - gerade in den völkerrechtlichen Rechtsinstrumenten der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit jüngeren Datums zunehmend auf die menschenrechtlichen Mindestanforderungen im Allgemeinen und auf die Europäische Menschenrechtskonvention im Speziellen verwiesen. 11. Menschenrechte als subjektive Rechte der Völkerrechtsordnung Eine zentrale Fragestellung im Bereich des gesamten Rechtshilferechts, insbesondere in dem von den Auswirkungen auf das betroffene Individuum bedeutendsten Teilbereich der Auslieferung, ist die Geltung und Reichweite nationaler und internationaler Menschenrechte. Im Folgenden soll zunächst untersucht wer53 So jedenfalls Kirchhof, EuGRZ 1994, 16 (27) mit Verweis auf Verdross/Simma, V ölkerrecht, S. 553 f. 54 Gemeint sind hier Art. 25 S. 1 und Art. 59 II GG. 55 Kirchhof, EuGRZ 1994, 16 (27). 56Ibid. 57 Jedoch verweist Kirchhojaufweitere Normen des Völkerrechts, die nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zwar unmittelbar anwendbar sind,jedoch keine subjektiven Rechte begründen, vgl. BVerfGE 41, 126 (169); 46,342 (362); sie würden indes für die Menschenrechte keine Rolle spielen, Kirchhof, EuGRZ 1994, 16 (27 Fn. 148).
B. Subjektive Rechte des Einzelnen - materielle Rechtspositionen
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den, welchen allgemeinen Geltungsgrund und welche Bindungswirkung die Menschenrechte der Völkerrechtsordnung sowohl auf der Ebene des zwischenstaatlichen Rechts als auch auf der Ebene des innerstaatlichen Rechts besitzen. 58 Daran anschließend ist zu klären, welche Bindungswirkungen sie auf den beiden Geltungsebenen entfalten, insbesondere ob und in welchem Umfang innerstaatliche Organe an sie gebunden sind. Schließlich wird zu ermitteln sein, welche Bedeutung die gefundenen Ergebnisse für die Rechte des Einzelnen haben, namentlich ob und vor allem in welchem Umfang der Einzelne unmittelbare Rechte und Pflichten aus den Menschenrechten der Völkerrechtsordnung ableiten und durchsetzen kann. Dabei ist es von besonderer Bedeutung, die zumeist nicht konsequent vorgenommene Trennung zwischen einer völkerrechtlichen und einer innerstaatlichen Betrachtungsweise durchzuhalten. Diese Differenzierung ist für das Verständnis der Reichweite der Menschenrechte von erheblicher Bedeutung und wird in der Praxis nicht immer sauber vollzogen. 1. Übersicht über die Rechtsquellen der Menschenrechte Häufig werden die Begriffe "Grundrechte" und "Menschenrechte" als Synonyme verwandt, was trotz möglicher inhaltlicher Überschneidungen aufgrund ihrer unterschiedlichen Rechtsnatur und Wirkungsweise vermieden werden sollte. Bei den Menschenrechten handelt es sich um Rechte, die dem Menschen zum Schutz seiner Würde und Persönlichkeit zustehen. 59 Im Unterschied zu den Grundrechten handelt es sich dabei um Verpflichtungen, denen die Staaten aufgrund des V ölkerrechts, das heißt aufgrund völkerrechtlicher Verträge, Völkergewohnheitsrechts oder allgemeiner Rechtsgrundsätze unterliegen. 6o Ferner handelt es sich bei den Menschenrechten um Rechtspositionen, die den Menschen um seiner selbst willen schützen und zwar nicht nur mittelbar als Angehöriger eines Staates. 61 Menschenrechte kommen folglich auch ohne die im innerstaatlichen Recht erforderliche Differenzierung zwischen Ausländern und eigenen Staatsangehörigen aus. Die völkerrechtspositive Ausformung der Menschenrechte ist ganz überwiegend durch den Abschluss von zwischenstaatlichen Verträgen erfolgt. Nur zum Teil haben sich auf diesem Gebiet völkergewohnheitsrechtliche Normen gebildet, die als solche alle Staaten verpflichten. 62 Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über die 58 Vgl. hierzu Hofmann, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 25 Rn. 24 ff.; Kirchhof. EuGRZ 1994, 16 (27); lpsen, in: ders., Völkerrecht, § 50; zum allgemeinen Geltungsgrund der Menschenrechte Stern, in: HbdStR V (1989), § 108, S. 32 ff.; vgl. aber auch van Dijk, in: FS Ermacora (1988), 631 ff. 59 Stern, in: HbdStR V (1989), § 108 Rn. 3 ff. 60 Zur Begriffsbestimmung statt vieler Henkin, in: EPIL II (1995), 886 ff.; Klein, Menschenrechte, S. 10; Stern, Staatsrecht, Bd. IIIII, S. 246 f. 61 Henkin, Age ofRights, S. 43 ff.; Stern, in: HbdStR V (1989), § 108 Rn. 49 ff. 62 Henkin, in: EPIL II (1995), 886 ff.
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Teil I, 3. Kap.: Rechtsstellung des Einzelnen bei internationaler Rechtshilfe
für diese Untersuchung relevanten Rechtsquellen der Menschenrechte gegeben werden. a) Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts Beim Völkergewohnheitsrecht handelt es sich um eine der drei Rechtsquellen des Völkerrechts. 63 Es entsteht durch die von einer Rechtsüberzeugung (opinio iuris) getragene internationale Praxis der Völkerrechtssubjekte, insbesondere der Staaten. Im Grundsatz herrscht Einigkeit darüber, dass das Völkergewohnheitsrecht als Merkmale zum einen die allgemeine Übung und zum anderen die Anerkennung der Übung als Recht aufweist. 64 Dem entspricht auch die völkervertragsrechtliche Kodifikation in Art. 38 I lit. a) IGH-Statut. Im Rahmen des Völkergewohnheitsrechts haben sich auch einige menschenrechtliche Normen herausgebildet. Allgemein werden solche menschenrechtsschützenden Normen des Völkergewohnheitsrechts mit dem menschenrechtlichen Mindeststandard gleichgesetzt. 65 Ihm sind wenigstens das Folter- und Genozidverbot, das Verbot rassischer Diskriminierung und willkürlicher Verhaftung sowie die Anerkennung des Menschen als Rechtsperson zuzurechnen. 66 b) Menschenrechte des Völkervertragsrechts Von sehr viel größerer Bedeutung für die Internationalisierung des Individualrechtsschutzes sind die völkerrechtlichen Übereinkommen über den Schutz der Menschenrechte, über welche im Folgenden ein kurzer Überblick gegeben werden soll.67 Den ersten völkerrechtlich verbindlichen Menschenrechtsvertrag stellt die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und GrundfreiheiteIl vom 4. November 1950 (EMRK)68 dar. Sie wurde von den Mitgliedstaaten des 63 Zum Völkergewohnheitsrecht statt vieler Bernhardt, in: EPIL I (1992), 898 ff.; Geiger, GG und Völkerrecht, § 13; Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 16, S. 180 ff.; Verdross, ZaöRV 29 (1969), 635 ff. 64 Über diese Grundsätze hinaus sind Elemente und Entstehung des Völkergewohnheitsrecht indes hoch umstritten, vgl. hierzu statt vieler Bernhardt, in: EPIL I (1992), 898 ff.; DahmlDelbrückIWolfrum, Völkerrecht, Bd. l/l, S. 55 ff.; Heintschel VOll Heillegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 16 Rn. 3 ff.; Verdross, ZaöRV 29 (1969), 635 ff. 65 Klein, EuGRZ 1999, 109 (110). 66 Im Einzelnen hierzu unten 5. Kapitel, S. 331 ff. 67 Ausführlich hierzu Ipsen, in: ders., Völkerrecht, § 48 Rn. 37 ff.; Kirchhof, EuGRZ 1994, 16 ff.; Klein, in: KreuzerIScheuing/Sieber, Europäischer Grundrechtsschutz, S. 39 ff.; ders., EuGRZ 1999, 109 ff.; Reindel, Auslegung menschenrechtlicher Verträge, S. 6 ff. 68 ETS No. 5, Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms vom 4.11.1950, BGBI. 1952 11, 685, 953, am 3.9.1953 für die Bundesrepublik
B. Subjektive Rechte des Einzelnen - materielle Rechtspositionen
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1948 gegründeten Europarats unter dem Eindruck der unfassbaren Verbrechen des deutschen Nationalsozialismus und den "Pervertierungen des Rechts" sowie in Reaktion auf die Allgemeine Menschenrechtserklärung (AEMR) der Vereinten Nationen geschaffen. 69 Im Gegensatz zur letztgenannten Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen sollte die Europäische Menschenrechtskonvention ethische und rechtliche Mindeststandards verbindlich sichern und den Menschenrechtsschutz in Europa wirksam regeln. Hierfür haben sich die beteiligten Staaten vor allem an der AEMR orientiert, darüber hinaus aber das Instrument eines völkerrechtlichen Vertrags gewählt, um die völkerrechtliche Verbindlichkeit dieses Menschenrechtsinstruments zu sichern. 70 Die EMRK hat in den über fünfzig Jahren ihres Bestehens eine herausragende und nicht mehr hinwegzudenkende Rolle für die Integration der europäischen Staaten eingenommen, die unter anderem auf den ausdrücklich subjektiven Rechten des Einzelnen und auf ihrem einzigartigen Rechtsschutzsystem beruht. Sie wird daher zu Recht als Teilverfassung bzw. Grundrechtsverfassung Europas und als wesentlicher Bestandteil eines europäischen ordre public bezeichnet. 71 Ihre weitreichende Bedeutung Deutschland in Kraft getreten, BGB!. 1954 H, 14; hierzu umfassend Council of Europe, Collected Edition of the "Traveaux Preparatoires" of the European Convention on Human Rights, Bd. I (1975), Bd. 2 (1975), Bd. 3 (1976), Bd. 4 (1976), Bd. 5 (1985); Cameron, An Introduction to the European Convention on Human Rights, 1998; Ennacora/Nowak/ Tretter, Die Europäische Menschenrechtskonvention in der Rechtsprechung der österreichischen Höchstgerichte, Wien 1983; FroweiniPeukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 1996; Gearty, European Ci vii Liberties and the European Convention on Human Rights: a Comparative Study, 1997; GolsonglKarlJMiehslerlPetzold/ Rogge/Vogler/Wildhaber, Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Loseblattsammlung, 1996; Guild/Lesieur, The European Court of lustice on the European Convention on Human Rights: Who said what, when?, 1998; HarrislO'Boylel Warbrick, Law ofthe European Convention on Human Rights, 1995; Jacobs, The European Convention on Human Rights, 1996; MatscherlPetzold, Protecting Human Rights, 1990; RobertsoniMerrills, Human Rights in Europe - A Study of the European Convention on Human Rights, 1993; Seidel, Handbuch der Grund- und Menschenrechte auf staatlicher, europäischer und uni verseller Ebene, 1996; van Dijk/van Hoof, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, 1998; Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unter besonderer Berücksichtigung der schweizerischen Rechtslage, Zürich 1993. 09 Riedei, in: Neuntes deutsch-polnisches Kolloquium (1992), 93 (95). 70 Vg!. im Einzelnen zum Prozess der Erarbeitung der EMRK die Collected Edition of the ,Travaux Preparatoires' ofthe Convention on Human Rights, 1981; siehe auch Partsch, in: BettermannfNeumannfNipperdey, Grundrechte, S. 243 ff.; Riedei, Theorie der Menschenrechtsstandards, S. 65 ff. 71 Vgl. nur EGMR, Loizidou v. Türkei, Urteil vom 23.3.1995, Series A, No. 310, Ziff. 75; EKMR, Entscheidung vom 4.3.1991, EuGRZ 1991,254 (256) Ziff. 22; Bleckmann, EuGRZ 1994,149; ders., EuGRZ 1995,387; Frowein, in: Kreuzer/Scheuing/Sieber, Europäischer Grundrechtsschutz, S. 25 (27); Giegerich, in: Grabenwarter/Hammer/Pelzll Schulev-Steindl/Wiederin, Grundrechte, S. 101 (103); Herzog, EuGRZ 1990,483 (486); Hilf, in: FS Bernhardt (1995),1193 ff.; Hoffmeister, HFR 1999, 1 (3); Kälin, in: BDGVR 33 (1994),9 (10 ff.); Kirchhof, EuGRZ 1994, 16 ff.; van Dijk, in: Collected Courses ofthe
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Teil 1, 3. Kap.: Rechtsstellung des Einzelnen bei internationaler Rechtshilfe
sowohl für die völkerrechtliche als auch die innerstaatliche öffentliche Ordnung ist im Rahmen dieser Untersuchung noch ausführlich zu würdigen. 72 Ausdrückliche Anwendbarkeit auf die internationale Rechtshilfe in Strafsachen findet die Konvention jedoch nur im Rahmen des Art. 5 Nr. 1 lit. f) EMRK, wonach die rechtmäßige Festnahme eines Menschen jedenfalls dann zulässig ist, wenn "er von einem gegen ihn schwebenden Auslieferungsverfahren betroffen ist." Ob und in welchem Umfang die EMRK darüber hinaus Anwendung auf Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen findet, ist daher das besondere Anliegen der Untersuchungen im folgenden 2. Teil. Von ebenso großer Bedeutung für den vertraglichen Menschenrechtsschutz ist der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (IPbpRf3 und dessen 2. Fakultativprotokoll vom 15.12.1989 zur Abschaffung der Todesstrafe (2. ZP_IPbpR).74 Auch der IPbpR räumt dem Einzelnen ausdrücklich subjektive Rechte ein, welche er im Rahmen eines Individualbeschwerdeverfahrens vor eigens geschaffenen Institutionen im Rahmen der Vereinten Nationen, namentlich dem Menschenrechtsausschuss, auch geltend machen kann. Im Gegensatz zur EMRK fehlt dem im ersten Fakultativprotokoll zum IPbpR (1. ZP-IPbpR)75 geregelten Individualrechtsschutzverfahren jedoch ein gerichtliches Instrument der Durchsetzung, weshalb er nur eine untergeordnete Bedeutung für den Menschenrechtsschutz in Europa erlangt hat. Dies hängt insbesondere auch damit zusammen, dass die Bundesrepublik Deutschland einen Vorbehalt zum 1. ZP-IPbpR geltend gemacht hat. Nach diesem Vorbehalt ist es dem Einzelnen verwehrt, nach einem Verfahren vor den Konventionsorganen der EMRK noch eine Beschwerde beim Menschenrechtsausschuss einzulegen, um einen Instanzenzug zu verhindern. 76 Auf die internationale Rechtshilfe in StrafAcademy ofEuropean Law 1995, Bd. VI-2 (1997), 1 (47); siehe bereits Moster, ZaöRV 28 (1968),481 (495). 72 Im Einzelnen hierzu unten 6. Kapitel, S. 505 ff. 73 U.N. Covenant on Ci vil and Political Rights vom 19.12.1966, UNTS, Vol. 999, 302; BGBL 1973 11, 1534, in Kraft getreten am 23.3.1976; hierzu ausführlich Cohell-Jollatlzall, in: EPIL 11 (1995), 915 ff.; Frowein, in: HbdStR VII (1992), § 180 Rn. 33 ff.; Nowak, CCPR-Commentary, 1993. 74 BGBL 1992 11, 390; für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft seit dem 18.12.1992, BGBL 199311,880; hierzu auch OLG Karlsruhe, NStZ 1991, 138 mit Anmerkung Lagodny; Peters, EuGRZ 1999,650 (657 f.); vgl. auch das am 3.5.2002 zur Zeichnung ausgelegte 13. Zusatzprotokoll zur EMRK, das Protocol concerning the abolition ofthe death penalty in all circumstances, welches die totale Abschaffung der Todesstrafe in den Konventionsstaaten einfordert. 75 Vgl. Art. I ff. des Fakultativprotokolls zu dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966, UNTS, Vol. 999, 302; von der Bundesrepublik Deutschland 1992 ratifiziert, BGBL 1992 11, 1246, und am 25.11.1993 in Kraft getreten, BGBL 1993 11, 311. 76 V gl. BGBL 1994 11, 311; der Vorbehalt der Bundesrepublik Deutschland entspricht
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sachen findet der IPbpR nicht ausdrücklich Anwendung. Jedoch können nicht nur das Verbot der Todesstrafe nach dem 2. ZP-IPbpR sowie das Folterverbot des Art. 7 IPbpR unmittelbare Auswirkungen auf die zwischenstaatliche Zusanunenarbeit haben. Auch die zunächst auf das innerstaatliche Verfahren zugeschnittene Regel des Art. 9 III 2 IPbpR, wonach die Vollstreckung von Freiheitsentziehung vor rechtskräftiger Verurteilung nicht der Regelfall sein darf, kann auf den als Auslieferungsverfahren bezeichneten Teil der internationalen Strafverfolgung Anwendung finden. 77 Art. 15 IPbpR entspricht dem Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit im traditionellen Auslieferungsrecht. 78 Weitere regionale Menschenrechtsinstrumente sind die amerikanische, die afrikanische und die arabische Menschenrechtskonvention bzw. -charta. Die Amerikanische Konvention für Menschenrechte vom 22. November 1969 (AMRK)79 gilt heute zwischen 25 Staaten, jedoch nicht für die USA, und legt ähnlich wie die EMRK die Pflichten der Vertragsparteien fest, die in der Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten des Individuums zu wahren und allen unter ihrer Hoheitsgewalt stehenden Personen zuzusichern. 80 Die materiellen Rechte der Konvention gleichen im Wesentlichen denen der EMRK. Auch hier wurde die Verpflichtung zur Abschaffung der Todesstrafe zunächst durch ein zusätzliches Protokoll vom 8. Juni 1990 eingeführt. 81 Aufgrund von zahlreichen, die Reichweite einschränkenden Vorbehalten zu diesem Protokoll wird mit dem am 3. Mai 2002 unterzeichneten Protocol No. J3 to the Conventionfor the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, concerning the abolition of the death penalty in all circumstances nun die Todesstrafe entgültig und für alle Konventionsstaaten verboten; Vorbehalte hierzu sind nicht mehr möglich. Schließlich wurde zur Sicherung der in der Konvention niedergelegten Individualrechte die Inter-Amerikanische Kommission für Menschenrechte und der Inter-Amerikanische Gerichtshof für Menschenrechte errichtet, welche gerichtsförmige Entscheidungen im Rahmen von Staaten- und Individualbeschwerden fällen können.~2 Die Afrikanische Charta der Menschenrechte und einer Resolution des Europarats, vgl. Res. 70 (17), zitiert bei Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Einleitung zur MRK, Rn. 27. 77 Schomburg, StV 1998, 153 (155). 7K van den Wyngaert, in: Eser/Lagodny, Principles, S. 489 (492). 7~ American Convention on Human Rights, abgedruckt in ILM 1970,673; EuGRZ 1980, 435; in Kraft getreten am 18.7.1978; ausführlich HarrislLivingstone, The Inter-American System of Human Rights, 1998; Kokott, Das interamerikanische System zum Schutz der Menschenrechte, 1986; Nikken, RUDH 1990,97 ff. KO Art. 1 I AMRK. Hl Abgedruckt in ILM 1990, 1447; derzeit nur von 6 Staaten ratifiziert. H2 Vgl. Art. 33,44,45 AMRK; vgl. hierzu Buergenthal, EuGRZ 1987, 165 ff.; ders., in: EPIL" (1995),1008 ff.; Cohen-Jonathan, RGDIP 1990,455 ff.; Davidson, ICLQ 1995, 405 ff.; Farer, in: EPIL" (1995),1004 ff.
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Teil!, 3. Kap.: Rechtsstellung des Einzelnen bei internationaler Rechtshilfe
Rechte der Völker vom 26. Juni 1981 (AfCMR)83 gilt inzwischen für 51 der 53 Mitglieder der Organisation für Afrikanische Einheit (OAS) und verpflichtet ihre Vertrags staaten, wie die EMRK und die AMRK, zum Schutz der niedergelegten Menschenrechte. Auch im Rahmen dieses regionalen Vertrags werkes wacht eine (Afrikanische) Kommission für Menschenrechte und Rechte der Völker sowie ein (Afrikanischer) Gerichtshof für Menschenrechte und Rechte der Völker über die Einhaltung der Menschenrechtsgarantien. 84 Die Arabische Charta der Menschenrechte vom 15. September 1994 wurde durch eine Resolution des Rates der Arabischen Liga angenommen,85 ist aber gegenwärtig noch nicht in Kraft getreten.
Neben den allgemeinen Menschenrechtskonventionen beherrschen auch zahlreiche spezifische Vertrags werke den Menschenrechtsschutz, 86 wie das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafen von 1984 (UN-AntifolterÜbk),87 in welchem ausdrücklich Bezug genommen wird auf den Individualschutz bei der Auslieferung. So darf gemäß Art. 3 "ein Vertragsstaat [... ] eine Person nicht in einen anderen Staat ausweisen, abschieben oder an diesen ausliefern, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass sie dort Gefahr liefe, gefoltert zu werden".88 Zur Überwachung der Einhaltung dieser Verpflichtung hat die Konvention einen internationalen Ausschuss geschaffen. 89 c) Menschenrechte in Form allgemeiner Rechtsgrundsätze Neben dem Gewohnheitsrecht und den Verträgen umfasst das Völkerrecht indes noch weitere Normen, die zur Beurteilung des Staatenverhaltens herangezogen werden können und müssen. Zu diesen zählen die "von den Kulturvölkern 83 African Charter on Human and Peoples' Rights, abgedruckt in ILM 1982,59; EuGRZ 1986, 677; in Kraft getreten am 21.10.1986; ausführlich Umozurike, The African Charter on Human and Peoples' Rights, 1997. 84 Zum Individualrechtsschutz im Rahmen der AfCMR siehe Benedek. ZaöRV 54 (1994),150 ff.; Kriseh. ZaöRV 58 (1998),713 ff. 85 Resolution 5437, übersetzt in SimmaiFastenrath. Nr. 59; siehe auch die englische Übersetzung in International Commission of Jurists, The Review, No. 56, 1996, S. 60 ff. 86 Für eine umfassende Übersicht über alle spezifischen Menschenrechtsverträge siehe Ipsen. in: ders., Völkerrecht, § 48 Rn. 2 ff.; Reindei. Auslegung menschenrechtlicher Verträge, S. 6 ff. R7 United Nations Convention Against Torture and Other Cruel. Inhuman or Degrading Treatment or Punishment vom 10.12.1984, GA Res. 39/46, UN-Doc. A 39/51 (1985), BGB!. 1990 H, 246; in Kraft getreten am 26.6.1987, abgedruckt in EuGRZ 1995, 131 ff.; hierzu Hai/brollner/Randelzhojer. EuGRZ 1986,641 t'f.; Nov.·ak. EuGRZ 1985, 109 (113). RR Hierzu hierzu Hailbronner/Randelzhojer. EuGRZ 1986,641 (643 f.). 89 Vg!. Art. 17 ff. UN-AntifolterÜbk.
B. Subjektive Rechte des Einzelnen - materielle Rechtspositionen
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anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze" im Sinne von Art. 38 I lit. c) IGHStatut. 90 Hierfür kommen all die Grundsätze in Betracht, die für die nationalen Rechtssysteme von grundlegender Bedeutung sind, Leitprinzipien dieser Rechtsordnungen darstellen und aufgrund ihres Regelungsbereichs auf das Völkerrecht übertragbar sind. 91 Hierzu zählen etwa der Grundsatz, dass Verpflichtungen nach Treu und Glauben erfüllt werden müssen, dass niemand Richter in eigener Sache sein darf und das Erfordernis ausreichender Verteidigung im Strafverfahren sowie der Rechtskraft des Urteils, das Verbot des Rechtsmissbrauchs und des Verstoßes gegen die guten Sitten. 92 Auch das Fremdenrecht werde durch allgemeine Regeln beherrscht, die einen gesicherten Bestand der modernen Rechtskultur bilden. 93 Die nötige Abgrenzung zwischen allgemeinen Rechtsgrundsätzen im Sinne von Art. 38 I lit. c) IGH-Statut und den allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts wird leider nicht immer sauber vollzogen. 94 Während es sich bei den einen der Natur nach um nationales Recht handelt, welches jedoch auf die internationale Ebene übertragen wird,95 stellen die anderen originäres Völkerrecht dar und sind dem Völker gewohnheitsrecht zuzuordnen. 96 In der Praxis spielt diese Abgrenzung indes eine weniger große Rolle; vielmehr sind die Grenzen zwischen Völkergewohnheitsrecht und allgemeinen Rechtsgrundsätzen als fließend einzuordnen. 97 Schließlich ist es auch anerkannte Funktion der Rechtsgrundsätze, dass sie als Mittel zur Ausfüllung der Lücken, zur Auslegung und zur Begrenzung und Berichtigung des Vertrags- und Gewohnheitsrechts herangezogen werden können. 98 Daher kann es hier auch dahinstehen, ob man die für die Ermittlung der menschenrechtlichen Standards des Völkerrechts unverzichtbare Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 (AEMR)99 zum YO Hierzu ausführlich DahmlDelbrückIWolfrum. Völkerrecht, Bd. 1/1, S. 63 ff.; Verdross/ Simma. Völkerrecht, S. 382 ff. Y1/psen. in: ders., Völkerrecht, § 17 Rn. 3; Verdross/Simma. Völkerrecht, § 601. Y2 DahmlDelbrückIWolfrum. Völkerrecht, Bd. 111, S. 64. Y) DahmlDelbrückIWolJrum. Völkerrecht, Bd. 1/1, S. 64. Y4 SO wird regelmäßig vertreten, dass sich die allgemeinen Rechtsgrundsätze sowohl aus den Rechtsordnungen der Staaten als auch aus der internationalen Rechtsordnung ableiten lassen, vgl. nur Rodrfguez Iglesias. in: FS Bernhardt (1995), 1269 (1272). Y5 Nach Verdross/Simma handelt es sich bei den allgemeinen Rechtsgrundsätzen ihrer Entstehungsgeschichte nach um auf den völkerrechtlichen Verkehr anwendbare Grundsätze des nationalen Rechts, die im Wege einer umfassenden Rechtsvergleichung ermittelt werden, vgl. Verdross/Simma. Völkerrecht, §§ 601 f.; ebenso GraJVitzthum. in: ders., Völkerrecht, Abschnitt I, Rn. 144. Y' Ipsen. in: ders., Völkerrecht, § 17 Rn. I ff.; Kunig. in: Vitzthum, Völkerrecht, S. 159 Rn. 130 ff.; ausführlich Silagi. EuGRZ 1980,632 ff. n Vgl. Verdross/Simma. Völkerrecht, § 616. YX DahmlDelbrückIWolJrum. Völkerrecht, Bd. l/I, S. 68 f.; ähnlich Verdross/Simma. Völkerrecht, § 607 ff. W Universial Declaration of Human Rights vom 10.12.1948, GA-Res. 217 A (111), UNDoc. Al810 (\948).
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Teill, 3. Kap.: Rechtsstellung des Einzelnen bei internationaler Rechtshilfe
V ölkergewohnheitsrecht 11JO oder zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen im Sinne von Art. 38 I lit. c) IGH-Statut zählt. 101 Zweifelsohne handelt es sich dabei jedoch nicht um eine völkervertragliche Kodifikation von Menschenrechten, sondern um eine völkerrechtlich nicht verbindliche Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen. 102 Bedeutung erlangt die AEMR heute in erster Linie im Rahmen der Ermittlung des Völkergewohnheitsrechts sowie der Auslegung internationaler Menschenrechtsübereinkommen. Neben der AEMR sind zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Völkerrechts auch der Kernbestand der "europäischen Grund- und Menschenrechte" zu zählen. 103 2. Qualität der Menschenrechte als subjektive Rechte der Välkerrechtsordnung Die Unsicherheiten im internationalen Rechtshilfeverkehr bezüglich des Umfangs und des Geltungsanspruchs von Menschenrechten lassen sich auch auf eine unzureichende Differenzierung bei der Wirkungsweise völkerrechtlicher Normen zurückführen. Während zum Teil auf ihre Wirkung auf völkerrechtlicher Ebene verwiesen wird, kommt es in der Regel auch auf ihre (unmittelbare) Anwendbarkeit und Reichweite auf der Ebene der innerstaatlichen Rechtsordnungen an. Daher soll im Folgenden zunächst versucht werden, Klarheit über den allgemeinen Geltungsgrund und die Wirkungsweise völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte auf der Ebene des Völkerrechts, insbesondere jedoch auf der Ebene des innerstaatlichen Rechts, zu schaffen. Hiermit kann gleichfalls Stellung zu der im deutschen Schrifttum so umstrittenen Frage bezogen werden, ob sich für den Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehr völkerrechtliche Schranken aufzeigen lassen, die jenseits der Wirkung zwischen den kooperierenden Staaten (zweidimensionale Betrachtungsweise) auch von dem betroffenen Individuum selbst eingefordert werden können (dreidimensionale Betrachtungsweise). 104 a) Geltungsgrund und völkerrechtliche Verbindlichkeit der Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts Menschenrechtliche Positionen erlangen dadurch eine völkergewohnheitsrecht liche Geltung, dass Staaten durch eine dauerhafte und regelmäßige Praxis sowie So Salcedo, in: EPIL II (1995), 922 (925). So Stern, in: HbdStR V (1989), § 108 Rn. 59; Verdross/Simma, Völkerrecht, § 1235. 102 So stellen Resolutionen und Deklarationen internationaler Organisation wie auch die AEMR eine Rechtsquelle eigener Art dar, vgl. Dahm/DelbriickIWolfrul/l, Völkerrecht, Bd. UI, S. 69 ff.; zur Rechtsverbindlichkeit der AEMR siehe näher unten 5. Kapitel, S. 321 f. 10.\ Im Einzelnen Bleckmann, in: FS Börner (1992), 29 ff. 104 Vgl. hierzu Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 63 ff. 100
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in Überzeugung von der rechtlichen Verbindlichkeit dieser ungeschriebenen Normen überhaupt erst zu ihrer Entstehung beitragen. Hierbei ist von besonderer Bedeutung, dass völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte (im Gegensatz zum Völkervertragsrecht) auch für die Staaten Geltung erlangen, die nicht an der Herausbildung dieser entsprechenden Norm beteiligt gewesen sind. !Os Einer Bindung an diese Norm entgehen sie nur, wenn sie ihrer Geltung gegenüber der Staatengemeinschaft regelmäßig widersprechen. 106 Darüber hinaus kann die universelle Geltung einer völkergewohnheitsrechtlichen Norm nur durch die Nichtübung oder aber durch eine davon abweichende völkervertragliche Einigung der betroffenen Völkerrechts subjekte aufgehoben werden, es sei denn dass diese Norm die Qualität von ius cogens erlangt hat. Eine Norm des universalen Völkergewohnheitsrechts entfaltet daher grundsätzlich gegenüber jedem durch ihren rechtlichen Regelungsgehalt betroffenen Völkerrechtssubjekt Bindungswirkung, 107 sofern sich ein Staat nicht kontinuierlich der Entstehung dieser Norm widersetzt hat. b) Geltungsgrund und völkerrechtliche Verbindlichkeit der Menschenrechte des Völkervertragsrechts - am Beispiel der EMRK Die Menschenrechte der EMRK beanspruchen entsprechend ihres Ursprungs als VÖlkervertragsrecht nach den Grundsätzen des Völkerrechts Geltung in allen Konventionsstaaten. Mit der Unterzeichnung und Ratifikation der EMRK verpflichten sich die Staaten völkerrechtlich zum Schutz der in ihr niedergelegten Gewährleistungen gegenüber allen der Jurisdiktion des jeweiligen Vertragsstaates unterstehenden Personen. 108 Zur Sicherung dieser völkerrechtlichen Verpflichtungen wurde mit Art. 33 EMRK eine Staatenbeschwerde und mit Art. 34 EMRK eine Individualbeschwerde geschaffen. 109 Verstößt ein Staat gegen eine Verpflichtung aus der EMRK, so steht danach entweder den anderen Konventionsstaaten, vor allem aber dem betroffenen Individuum die Möglichkeit offen, vor dem eigens V gl. hierzu etwa BGH, NJW 1988, 3105 (3106) m. w. N. Zwar kann der sog. persistent objector nicht die Entstehung der völkergewohnheitsrechtlichen Norm verhindern, wohl aber seine Bindung an diese Norm, siehe nur IGH, Anglo-Norwegian Fisheries Case. ICJ-Reports 1951, 116 (131); Heintschel von Heinegg. in: Ipsen, Völkerrecht, § 16 Rn. 26 f. 107 Heintschel von Heinegg. in: Ipsen, Völkerrecht, § 16, Rn. 25. 108 V gl. nur Art. 1 EMRK. 109 Auch die anderen völkerrechtlichen Menschenrechtsinstrumente sehen spezielle Beschwerdeverfahren vor internationalen Instanzen vor. Im Rahmen des IPbpR besteht sowohl für Staaten als auch für den Einzelnen die Möglichkeit. eine Beschwerde an den Menschenrechtsausschuss der VN zu richten. welcher über die Einhaltung der Konventionsgarantien zu wachen befugt ist, hierzu Klein. EuGRZ 1999, 109 (112 ff.); mit der Ratifikation der inter-amerikanischen Menschenrechtskonvention wurde eigens ein Gerichtshof geschaffen, der dem EGMR vergleichbare Kompetenzen hat, vgl. hierzu nur Klein. in: Kreuzer! ScheuinglSieber, Europäischer Grundrechtsschutz, S. 39. lOS
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Teil 1, 3. Kap.: Rechtsstellung des Einzelnen bei internationaler Rechtshilfe
geschaffenen Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu klagen. 110 Dieser kann einen Verstoß gegen die menschenrechtlichen Verpflichtungen der EMRK feststellen und den betroffenen Staat völkerrechtlich zur Aufhebung des konventionswidrigen Verhalten verpflichten. 111 c) Subjektive Rechte Während die Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts keine selbständigen Verfahren zu ihrem Schutz anordnen, sind es indes die vertraglichen Menschenrechte der universellen und regionalen Menschenrechtsinstrumente, die über entsprechende verfahrensrechtliche Durchsetzungsmechanismen verfügen. So ergibt sich dann auch etwa aus Art. 1 EMRK selbst, dass die Menschenrechtsgarantien der EMRK Individualrechte begründen. 112 Gleiches gilt für die im IPbpR enthaltenen Garantien in Bezug auf den dortigen Art. 2 IPbpR. 113 Auf der anderen Seite wird auch vertreten, dass es bereits genüge, völkerrechtliche Rechtspositionen im innerstaatlichen Verfahrensrecht geltend machen zu können, um ihnen einen subjektiven Charakter zuzugestehen. 114 Bezogen auf die völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte sei eine solche verfahrensrechtliche Geltendrnachung jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland durch Art. 25 GG gesichert. Die verfahrensrechtlich abgesicherten Menschenrechte der einzelnen universalen und regionalen Menschenrechtsverträge verleihen dem Einzelnen unmittelbare subjektive Rechte und eine partielle Völkerrechtssubjektivität. An der partiellen Völkerrechtssubjektivität des auf internationaler Ebene beschwerdefähigen Individuums bestehen daher kein Zweifel mehr. 115 Darüber hinaus wird auch vertreten, dass ein Individuum, dessen völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte (im Rahmen von grenzüberschreitenden völkerrechtswidrigen Strafverfolgungsmaßnahmen) verletzt werden, diese sowohl gegenüber jedem anderen Staat, eingeschlossen 110 Im Einzelnen zu den Beschwerdeverfahren im Rahmen der EMRK nach Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls zur EMRK Drzemczewski, in: Collected Courses of the Academy of European Law 1995, Bd. VI-2 (1997), 121 ff.; Hobe, JA 1998, 909 ff.; MeyerLadewiglPetzold, NJW 1999, 1165 ff.; Miller, Protocol 11 ECHR, 1998; Peukert, NJW 2000,49 ff.; Schlelte, ZaöRV 56 (1996), 905 ff.; Siess-Scherz, in: GrabenwarterfThienel, Kontinuität und Wandel, S. 1 ff.; Villiger, SZIER 1999, 79 ff.; siehe unten 3. Kapitel, S. 260 ff. 111 Hierzu im Einzelnen Bleckmann, EuGRZ 1995, 387; Frowein, in: HbdStR VII (1992), § 180 Rn. 4; FroweiniPeukert, EMRK, Art. 53 Rn. 1 ff.; siehe auch Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1992. 112 FroweiniPeukert, EMRK, Einführung, Rn. 5; Kirchhof, EuGRZ 1994, 16 (27 f.). 113 Nowak, CCPR-Commentary, Einführung, Rn. 14. 114 Vgl. FroweinlKühner, ZaöRV 43 (1983), 537 (559 f.). 115 Vgl. nur Epping, in: Ipsen, Völkerrecht. § 7 Rn. 4; Klein, Menschenrechte, S. 26; VerdrosslSimma, Völkerrecht. S. 256 f.
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seinem Heimatstaat, geltend machen kann. 116 Dies folge einerseits aus seiner partikulären Völkerrechtssubjektivität und anderseits aus dem Umstand, dass Menschenrechte zu einer "objektiven internationalen öffentlichen Rechtsordnung" zu zählen seien. 117
3. Fortwirkung subjektiver Rechte der Välkerrechtsordnung auf der Ebene des innerstaatlichen Rechts Wie bereits einführend festgestellt wurde, ist die Einordnung einer völkerrechtlichen Norm als echtes subjektives Recht davon abhängig, ob der entsprechende Anspruch in einem Verfahren vor einer internationalen Instanz gegen den Staat durchgesetzt werden kann. Nichts desto trotz spielt es für die Relevanz einer individualrechtsschützenden Norm eine herausragende Bedeutung, ob und inwieweit sich der Einzelne auf diese bereits auf innerstaatlicher Ebene berufen kann. Insbesondere im hier betroffenen Bereich der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen ist es von entscheidender Bedeutung, dass der Einzelne sich bereits vor der Durchführung einer entsprechenden Rechtshilfehandlung auf etwaige entgegenstehende Menschenrechte berufen kann. Denn wenngleich der Einzelne jedenfalls die vertraglichen Menschenrechte auf völkerrechtlicher Ebene geltend machen und im Rahmen von Beschwerdemechanismen internationaler Organisationen gegenüber den Staaten durchsetzen kann, ll8 kann ein effektiver Menschenrechtsschutz nur geleistet werden, wenn er auch auf innerstaatlicher Ebene durchsetzbar ist. 119 Auch sehen längst nicht alle Menschenrechtsverträge völkerrechtliche Durchsetzungsmechanismen vor, so dass die darin dem Einzelnen eingeräumten Ansprüche möglicherweise allein Rechtsreflexe der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Staaten bleiben. 120 Ob und inwieweit diese vertraglichen aber auch die völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte die Staaten innerstaatlich binden, hängt zunächst von der entsprechenden völkerrechtlichen Norm selbst und sodann von ihrer Inkorporation in die innerstaatlichen Rechtsordnungen der betroffenen Staaten ab. 121
So Baker/Röben, ZaöRV 53 (1993), 657 (681). Baker/Röben, ZaöRV 53 (1993), 657 (681) m. w. N. 118 Im Einzelnen dazu unten 3. Kapitel, S. 259 ff. 119 V gl. Klein, Menschenrechte, S. 27; Tomuschat, EA 49 (1994), 61 (62 0. 120 Hierzu bereits oben 3. Kapitel, S. 229 ff.; siehe des Weiteren auch Giegerich, in: Grabenwarter/HammerlPelzVSchulev-SteindllWiederin, Grundrechte, S. 101 (108 ff.). 121 Grundsätzlich hierzu Partseh, in: BDGVR 6 (1964), 13 ff.; Rudolf, Völkerrecht und staatliches Recht, 1967. 116
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a) Self-executing-Charakter völkerrechtlicher Menschenrechte Ob sich für den Einzelnen unmittelbar subjektive Rechte und Pflichten aus völkerrechtlichen Menschenrechten ableiten lassen oder diese alleine die Staaten als die originären VÖlkerrechtssubjekte binden, hängt zunächst von der völkerrechtlichen Norm selbst ab. Nur wenn eine völkerrechtliche Norm die unmittelbare Anwendung vorsieht (self executing), besteht die grundsätzliche Möglichkeit, dass der Einzelne sich innerstaatlich auf sie berufen kann. 122 Handelt es sich hingegen um eine Non-self-executing-Norm, begründet sie regelmäßig nur eine Staatenverpflichtung. 123 Eine völkerrechtliche Norm hat dann Self-executing-Charakter, wenn sie nach Wortlaut, Zweck und Inhalt geeignet ist, wie eine innerstaatliche Gesetzesvorschrift rechtliche Wirkung zu erzielen. 124 b) Inkorporation völkerrechtlicher Menschenrechte in die innerstaatlichen Rechtsordnungen aa) Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts Das Völkerrecht selbst enthält keine Regelungen darüber, wie den kraft Völkerrechts bestehenden Pflichten eines Staates innerstaatlich zu entsprechen ist. '25 Vielmehr überlässt das Völkerrecht es regelmäßig den Staaten selbst, in welcher Form sie ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen die notwendige innerstaatliche Verbindlichkeit verschaffen. 126 Folglich ergibt sich die innerstaatliche Geltung des Völkerrechts regelmäßig aus den entsprechenden Verfassungsordnungen der Staaten, was dazu geführt hat, dass die innerstaatliche Anwendbarkeit des Völkerrechts in den verschiedenen Staaten nicht einheitlich geregelt ist. In den meisten Staaten findet jedenfalls das allgemeine Völkerrecht unmittelbar Anwendung, zuweilen gilt dies jedoch mit der Maßgabe, dass es zur direkten Anwendbarkeit noch 122 Dies käme allerdings nicht sehr häufig vor, vgl. Kirchhof. EuGRZ 1994, 16 (27) mit Verweis auf BVerfGE 41, 126 (169); 46, 342 (362). Im Übrigen gilt diese Aussage auch nicht für alle nationalen Rechtsordnungen gleichermaßen, vgl. nur Frowein, in: Collected Courses of the Academy of European Law 1990, Bd. 1-2 (1992), 267 (294). 123 BVerfGE 41, 126 (169); 46, 342 (362 f.); Kirchhof, EuGRZ 1994, 16 (27). 124 BVerfGE 29, 348 (360). 125 Zur innerstaatlichen Geltung des Völkerrechts siehe nur Bungert, DÖV 1994,797 ff.; Cottier, SZIER 1999,403 ff.; DahmlDelbrückIWolfrum, Völkerrecht, Bd. l/l, S. 98 ff. mit umfassenden Nachweisen zum völkerrechtlichen Schrifttum; Geiger, GG und Völkerrecht, § 3111 1; Partseh. in: BDGVR 6 (1964),13 ff.; Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, 1967; ders .. in: TunkinIWolfrum, International Law and Municipa1 Law, 24 ff.; Seidel, Das Verhältnis von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht, 1985; Silagi, EuGRZ 1980,632 ff.; Steinberger, in: HbdStR VII (1992), § 173 Rn. 18; Streinz, in: Sachs, GG, Art. 25; Tomuschat, in: HbdStR VII (1992), § 172 Rn. 12; Zu leeg. in: AK, GG, Art. 25. 126 Vgl. statt vieler Hofmann, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 25 Rn. 10 f.
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eines staatlichen Vollzugs aktes bedarf. 127 Vom innerstaatlichen Geltungsgrund zu unterscheiden ist die Frage des Rangverhältnisses im Vergleich zu innerstaatlichen Rechtsnormen. Auch hier variieren die verfassungsrechtlichen Regelungen der Staaten. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wird der Entstehungs- und Geltungsgrund verbindlichen Rechts für seinen Anwendungsbereich abschließend geregelt. So erlangen völkerrechtliche Regeln in Deutschland nur Rechtsverbindlichkeit, wenn das Grundgesetz dieses anordnet oder zu einem Rechtsanwendungsbefehl durch den deutschen Gesetzgeber ermächtigt, welcher der völkerrechtlichen Regel innerstaatlich Verbindlichkeit vermittelt. Die für den innerstaatlichen Entstehungs- und Geltungsgrund des Völkergewohnheitsrechts in der Bundesrepublik Deutschland entscheidende Bestimmung ist Art. 25 GG, welcher die allgemeinen Regeln des Völkerrechts zum Bestandteil des Bundesrechtes erklärt. 128 Bei Art. 25 GG handelt es sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts um einen "generellen Rechtsanwendungsbefehl, kraft dessen'die allgemeinen Regeln des Völkerrechts als solche mit ihrer jeweiligen völkerrechtlichen Tragweite Bestandteil des objektiven, im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland geltenden Rechts" sind. 129 Dies hat zur Folge, dass eine fragliche Regel des Völkerrechts mit ihrem jeweiligen völkerrechtlich bestimmten Inhalt und ihrer völkerrechtlich vorgegebenen Reichweite zur Anwendung kommt. 130 Die entscheidende Frage für die innerstaatliche Geltung und Reichweite völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte ist folglich, welche völkerrechtlichen Normen zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts im Sinne von Art. 25 GG zu zählen sind. Dies bestimmt sich nach dem Völkerrecht, denn Art. 25 GG definiert keinen eigenen, verfassungsautonomen Völkerrechtsbegriff, sondern bezieht sich auf den jeweiligen konkreten Bestand und Inhalt solcher Regeln. 131 Das Grundgesetz verweist somit auf die völkerrechtliche Rechtsquellenlehre, wie sie positivrechtlich in Art. 38 I lit. a)-c) 121 Siehe die nach Staatenverfassungen geordnete Darstellung bei DahmiDelbrückIWolfrum, Völkerrecht, Bd. Ill, S. 112 f., sowie Skubiszewski, in: Gedächtnisschrift für Wilhelm Kar! Geck (1989), 777 ff. 128 Art. 25 GG lautet: "Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind Bestandteil des Bundesrechts. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes." 129 BVerfGE 46,342 (363,403 f.); um einen "speziellen Rechtsanwendungsbefehl" handelt es sich hingegen bei den Zustimmungsgesetzen nach Art. 5911 GG, vgl. BVerfGE 75, 233 (244 f.); 85, 191 (204); vgl. hierzu auch Hofmann, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 25 Rn. 18 m. w. N. 130 So im Sinne der im Schrifttum zum Teil vertretenden Vollzugslehre, vgl. Geiger, GG und Völkerrecht, § 31 III 1; Steinberger, ZaöRV 48 (1988), 1 (4 ff.) m. w. N.; Streinz, in: Sachs, GG, Art. 25 Rn. 21; Zu leeg, in: AK, GG, Art. 25 Rn. 13; zu den hier nicht erheblichen Unterschieden zwischen Vollzugs- und Transformationslehre siehe auch Partsch, in: BDGVR 6 (1964), 13 (60 ff.). 131 BVerfGE 15,25 (31 f.); 16,27 (32 f.); 18,441 (448); 41,126 (160), 46,342 (367); vgl. auch BVerfG, NJW 1988, 1462 (1463).
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IGH-Statut niedergelegt ist. 132 Zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts im Sinne von Art. 25 GG gehören nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts daher neben denjenigen Normen, denen die Qualität von völkerrechtlichem ius cogens zukommt, jedenfalls die Normen des universellen Völkergewohnheitsrechts im Sinne von Art. 38 I lit. a) IGH-Statut. 133 Des Weiteren sind auch die in Art. 38 I lit. c) IGH-Statut angeführten allgemeinen Rechtsgrundsätze der Kulturnationen zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts im Sinne von Art. 25 GG zu zählen. 134 Folglich zählen alle in der Staatenpraxis universell als Völkergewohnheitsrecht anerkannten Menschenrechte zu den allgemeinen Normen des Völkerrechts im Sinne von Art. 25 GG. Im Ergebnis ist daher festzuhalten, dass die völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte unmittelbar in der innerstaatlichen Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland Anwendung finden.
bb) Menschenrechte der EMRK In der EMRK finden sich keine ausdrücklichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, die Konvention auch im innerstaatlichen Recht anwendbar zu machen. So hat auch der EGMR zutreffend eine völkerrechtliche Verpflichtung zur Anwendbarkeit der Konvention im innerstaatlichen Recht verneint. 135 Demgemäß erlangt die Konvention zunächst nur aufgrund der innerstaatlichen Rechtsordnung und demin den verschieden Mitgliedstaaten unterschiedlich geregeltem Verhältnis von Völkerrecht zum nationalen Recht die Kraft, menschenrechtswidrigen Akten von Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung und Rechtsprechung ihre Rechtsverbindlichkeit und ihre tatsächliche Gestaltungsmacht zu nehmen. Daraus resultiert der Umstand, dass die Konvention in den einzelnen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten unterschiedliche Rechtswirkungen erzeugt bzw. zum Teil überhaupt nicht innerstaatlich anwendbar ist. In der Bundesrepublik Deutschland erlangte die EMRK als völkerrechtlicher Vertrag aufgrund von Art. 59 11 GG erst durch das Zustimmungsgesetz des Bundesgesetzgebers vom 7. August 1952 innerstaatliche Geltung. 136 Erst Hofmann, in: UmbachlClemens, GG, Art. 25 Rn. 12. BVerfG, Beschluss vom 21.5.1987, NJW 1988, 1462 (1463), siehe auch BVerfGE 15,25 (32 f.); 23, 288 (317); 66, 39 (64 f.) = EuGRZ 1984, 39 (46); 75, I (34). 134 BVerfGE 23,288 (317); 31, 145 (177); vg!. auch BVerfG, NJW 1988, 1462 (1463); DahmiDelbrückIWolfrum, Völkerrecht, Bd. 1/1, S. 118; Geiger, GG und Völkerrecht, § 31 11 1; Rojahn, in: von MünchlKunig, GG, Bd. 2, Art. 25 Rn. 13; Steinberger, in: HbdStR VII (1992), § 173 Rn. 18; Streinz, in: Sachs, GG, Art. 25 Rn. 35; Tomuschat, in: HbdStR VII (1992), § 172 Rn. 12; Zuleeg, in: AK, GG, Art. 25 Rn. 17; dagegen Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 255 ff.; so auch Jarass, in: JarasslPieroth, GG, Art. 25 Rn. 2. 135 Vg!. EGMR, Urteil vom 25.3.1983, Si/ver u. a. v. Vereinigtes Königreich, Series A, No. 61 = EuGRZ 1984, 147. 136 BGB!. 195211,685,953, in Kraft getreten am 3.9.1953, vg!. Bekanntmachung vom 15.12.1954, BGB!. 195411,14. 132
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mit diesem Gesetzgebungsakt wurde der erforderliche innerstaatliche Rechtsanwendungsbefehl gegeben und der EMRK formell der Rang eines einfachen Bundesgesetzes eingeräumt. 137 Hieraus wird deutlich, dass Völkerrecht und deutsches Recht in Entstehungsquelle und Geltungsanspruch zwar verschiedenen Rechtskreisen entstammen, für ihre innerstaatliche Verbindlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland im Grundgesetz jedoch einen gemeinsamen Geltungsund Anwendungsgrund finden. 138 c) Reichweite der subjektiven Rechte des Einzelnen Des Weiteren kommt es darauf an, dass die jeweilige nationale Rechtsordnung den Anspruch der völkerrechtlichen Norm auf eine unmittelbare Anwendbarkeit anerkennt. 139 Nimmt der innerstaatliche Rechtsanwendungsbefehl den Anspruch der völkerrechtlichen Norm insoweit nicht auf, gewinnt der Einzelne kein unmittelbar anwendbares Individualrecht. 140 Die deutsche Verfassungsordnung hat jedoch mit ihren Rechtsanwendungsbefehlen nach Art. 25 und 59 11 GG die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass völkerrechtliche Normen von der innerstaatlichen Rechtsordnung aufgenommen werden.
aa) Völkergewohnheitsrecht Soweit also Menschenrechte als Normen des Völkergewohnheitsrechts anerkannt sind, erzeugen sie gemäß Art. 25 11 2 GG "Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes." Ungeschriebene Voraussetzung für diese Wirkung bleibt indes, dass die jeweilige allgemeine Regel des Völkerrechts subjektive Rechte und Pflichten auch erzeugen will und dazu ihrem Inhalt und ihrer Ausgestaltung nach fähig ist. 141 Menschenrechtliche Gewährleistungen dürften durchweg Individualrechte begründen. 142 Aus der Integration völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte über Art. 25 GG in das deutsche Bundesrecht ergibt sich die wichtige verfassungsprozessuale Folge, dass gegen eine Verletzung dieser 137 H. M., siehe ausführliche Nachweise unten 6. Kapitel, S. 520 f.; kritisch jüngst Bleckmann, EuGRZ 1994, 149 (153), welcher darlegt, dass völkerrechtliche Verträge von der demokratisch legitimierten Regierung geschlossen werden, so dass die innerstaatliche Wirkung nicht notwendigerweise auf das Zustimmungsgesetz des Parlaments zurückgeführt werden muss. 138 Kirchhof, EuGRZ 1994, 16 (18); im Einzelnen hierzu unten 6. Kapitel, S. 474 f. 139 Verdross/Simma, Völkerrecht, S. 553 f. 140 BVerfGE 73,339 (375). 141 BVerfGE 15, 25 (33 f.); 46, 342 (403); siehe auch DahmiDelbrückIWolfrum, Völkerrecht, Bd. 111, S. 119 f. 142 Vgl. BVerfGE 46,342 (362).
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Menschenrechte gestützt auf Art. 2 I, 25 GG Verfassungsbeschwerde erhoben werden kann. 143 Der menschenrechtliche Schutz der vom Grundgesetz anerkannten Grundrechte und Grundfreiheiten wirkt universal und verpflichtet insoweit jede auch ausländische - hoheitliche Gewalt; eine Verfassungsbeschwerde ist aber nur gegen deutsche Hoheitsakte statthaft. 144 bb) Völkervertragsrecht
Mit dem Vertragsgesetz wird ein konkreter Rechtsanwendungsbefehl etwa für eine Menschenrechtskonvention gegeben. 145 Die Vertragsstaaten von EMRK und IPbpR sind indes völkerrechtlich verpflichtet, den verbürgten Menschenrechten innerstaatlich Geltung zu verschaffen. Auf welche Weise dies geschehen soll, überlässt das Völkerrecht grundsätzlich den Konventionsstaaten. Weder die EMRK noch der IPbpR verlangen die Inkorporation der Übereinkommen in das innerstaatliche Recht und eine unmittelbare innerstaatliche Anwendbarkeit,146 wenngleich dies einem effektiven Menschenrechtsschutz gerecht werden würde. Jedoch machen die Art. 1 und 13 EMRK deutlich, dass die Konventionsrechte durch das Völkerrecht geschaffene subjektive Rechte sind, wovon allerdings die innerstaatliche Geltung abzugrenzen ist. 147 Die innerstaatliche Geltung völkerrechtlicher Vertrags normen wie die der EMRK und des IPbpR wird durch eine Ratifikation gemäß Art. 59 11 GG, welche sie unmittelbar als Bundesgesetze in der Bundesrepublik Deutschland anwendbar macht, erreicht. Folglich können sich Einzelne und juristische Personen auf die in den Übereinkommen verbürgten Menschenrechte gegenüber jedem Hoheitsträger berufen. Nach Auffassung einiger sei demjedoch keine größere praktische Bedeutung beizumessen, da die Grundrechte des Grundgesetzes insoweit einen weiter143 Vgl. BVerfGE 6, 389 (440); 23, 288 (300); 31,145 (77); 56, 254 (256); BVerfG, EuGRZ 1985,634; NJW 1995, 651; Geiger, GG und Völkerrecht, § 31 V 2; Giegerich, in: Grabenwarter/HammerIPelzllSchulev-SteindllWiederin, Grundrechte, S. 101007 ff.); Hofmann, in: FS Zeidler (987), Bd. 11, 1885 (886); Jarass, in: JarassIPieroth, GG, Art. 25 Rn. 7; Steinberger, in: HbdStR VII (1992), § 173 Rn. 74; Tomuschat, in: HbdStR VII (992), § 172 Rn. 16. 144 BVerfGE 66,39 (56 f.) - ohne ausdrückliche Erwähnung von Art. 1 11 GG; vgl. auch BVerfGE 31, 58 (76), 74,102 (24); hierzu auch Kirchhof, EuGRZ 1994, 16 (26). 145 Vgl. BVerfGE 75,233 (244 f.); 85,191 (204); Steinberger, in: HbdStR VII (992), § 173 Rn. 42. 146 EGMR, Si/ver u. a. v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 25.3.1983, Series A, No. 61, Ziff. 42 =EuGRZ 1984,147; Fawcett, App1ication oftheECHR, S. 4 ff.; Frowein/ Peukert, EMRK, Art. 1 Rn. 2; Frowein, in: HbdStR VII (992), § 180 Rn. 5; ders., in: Collected Courses of the Academy of European Law 1990, Bd. 1-2 (1992), 267 (293); Nowak, CCPR-Commentary, Art. 2 Rn. 48 ff., jeweils mit mit weiteren Nachweisen. 147 Im Einzelnen siehe Frowein, in: Collected Courses ofthe Academy ofEuropean Law 1990, Bd. 1-2 (992), 267 (293).
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reichenden Schutz gewähren. 148 In der Regel kann davon ausgegangen werden, dass geeignete vertragliche Normen innerstaatlich allein aufgrund des Vertragsgesetzes Anwendung finden. 149 Soweit völkervertraglich geregelte Menschenrechte zugleich Normen des Völkergewohnheitsrechts oder allgemeine Rechtsgrundsätze im Sinne von Art. 38 I lit. a und c) IGH-Statut widerspiegeln, kommt ihnen daneben natürlich noch die bereits ausgeführte innerstaatliche Wirkung zu, wie Art. 25 GG sie anordnet. Somit steht fest, dass dem Einzelnen die Menschenrechte der V ölkerrechtsordnung sowohl auf völkerrechtlicher als auch auf innerstaatlicher Ebene subjektivöffentliche Rechte einräumen, die die Staaten sowohl völkerrechtlich als auch innerstaatlich verpflichten und die prozessual auf den jeweils vorgesehenen Wegen vom betroffenen Individuum durchgesetzt werden können.
IH. Subjektive Rechte aus den Rechtsgrundlagen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen Nach den vorangegangen Erwägungen dürfte nunmehr feststehen, dass die im 2. Kapitel ermittelten individualrechtsschutzbezogenen Klauseln in den Rechtsgrundlagen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit nur in vereinzelten Fällen echte subjektive Rechte des Einzelnen vermitteln. Hierfür sind folgende Erwägungen entscheidend. Zunächst einmal steht ihre Geltendmachung häufig ausdrücklich im Ermessen der kooperierenden Staaten, indem sie als so genannte "KannRegelungen" und nicht etwa als eindeutige Ge- oder Verbote formuliert sind. Soweit indes einige Bestimmungen ausdrückliche Verbote aufstellen, hängt es des Weiteren von der konkreten Ausgestaltung dieses Verbotes ab, ob auch der Einzelne dadurch berechtigt wird. Insbesondere muss die jeweilige vertragliche Bestimmung dem Wortlaut, Zweck und Inhalt nach geeignet und bestimmt sein, dem Einzelnen subjektive Rechte zuzuweisen. Und schließlich bedarf es eines entsprechenden Anwendungsbefehles in dem jeweiligen Land, um dem Einzelnen zumindest innerstaatlichen Rechtsschutz gegen eine Verletzung zu ermöglichen, denn die völkerrechtlichen Grundlagen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen sehen konkrete Durchsetzungsmechanismen für den Einzelnen im Gegensatz zu den meisten Menschenrechtsinstrumenten gerade nicht vor. Die Frage, ob der Einzelne bereits unmittelbar aus den Rechtsgrundlagen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen subjektive Rechte ableiten kann, muss richtigerweise an der Prüfung seiner Rechtsstellung im Völkerrecht ansetzen. Hierfür bedarf es zunächst einer sauberen Abgrenzung zwischen originären RechKirchhof, EuGRZ 1994, 16 (28). Klein, Menschenrechte, S. 30; andernfalls erklärt die BRD einen entsprechenden Vorbehalt, wie etwa im Fall der Konvention über die Rechte des Kindes geschehen. 148 149
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ten und Pflichten der Staaten, daraus abzuleitenden mittelbaren Begünstigungen des Individuums und echten subjektiven Rechten des Einzelnen. Danach ist zu klären, welche Auswirkungen die Menschenrechte der Völkerrechtsordnung auf die Rechtsstellung des Einzelnen haben. Angesprochen wird damit auch die Frage, ob die internationalen Menschenrechte ausschließlich Staatenverpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland oder auch einklagbare subjektive Rechte des Einzelnen begründen. 150 So ist in erster Linie zu prüfen, ob und inwieweit dem Einzelnen bereits unmittelbar subjektive Rechte der Völkerrechtsordnung zustehen. Ergibt etwa die Untersuchung des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes, dass die Staaten umfassend zur Achtung der Individualrechte verpflichtet sind, könnte damit der Nachweis erbracht worden sein, dass die in den völkerrechtlichen Instrumenten der Zusammenarbeit enthaltenen Rechtspositionen möglicherweise ohnehin nur einen deklaratorischen Charakter haben. Auf der anderen Seite könnten die Rechtsquellen auch eine internationale Praxis widerspiegeln, die zur Entstehung bestimmter völkerrechtlicher Normen beigetragen hat. Lassen sich nach einer völkerrechtlichen Bewertung der Rechtsgrundlagen über die Zusammenarbeit subjektive Rechte ermitteln, ist in einem zweiten Schritt zu fragen, ob und inwieweit der Einzelne sich auch innerstaatlich auf diese Rechtspositionen berufen kann. Die zumindest partielle Völkerrechtssubjektivität des Individuums setzt sich mehr und mehr durch. 151 Die völkerrechtlichen Rechte und Pflichten des Einzelnen ergeben sich zum einem aus den Grundsätzen des internationalen Strafrechts, aber auch aus der Fortentwicklung menschenrechtlicher Beschwerdemechanismen wie z. B. nach der EMRK. Bei den Verträgen über die internationale Zusammenarbeit in Strafsachen handelt es sich indes um völkerrechtliche Vereinbarungen, die grundsätzlich nur die Vertrags staaten binden. Soweit in diesen Verträgen Klauseln aufgenommen werden, die sich auf die von den Rechtshilfemaßnahmen betroffenen Individuen beziehen, handelt es sich um mittelbare Rechte des Einzelnen, die er jedoch nicht gegenüber den kooperierenden Staaten geltend machen kann. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob die innerstaatlichen Rechtsgrundlagen der Zusammenarbeit subjektive Rechte vermitteln können. Hier spielt das Völkerrecht in zweierlei Hinsicht eine Rolle. Zum einen könnten Staaten durch die völkerrechtlichen Instrumente der Zusammenarbeit gezwungen sein, bestimmte Individualrechtspositionen in das innerstaatliche Recht aufzunehmen. Auf der anderen Seite hat die im 2. Kapitel vorgenommene Untersuchung der Rechtsgrundlagen der Zusammenarbeit gezeigt, dass die innerstaatlichen Regelungsmechanismen in der Regel originäre individualrechtsschützende Normen enthalten. In solchen Fällen stellt sich die äußerst umstrittene Frage, ob und inwieweit diese innerstaatliHierzu auch Kirchhof, EuGRZ 1994, 16 (26). So zum Beispiel die völkerrechtliche Deliktsfahigkeit in Bezug auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das Führen eines Angriffskrieges, etc. pp. 150 151
C. Prozessuale Möglichkeiten des Rechtsschutzes
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chen Rechtspositionen mit den völkerrechtlichen Grundlagen der Zusammenarbeit in Kollision geraten und deshalb zurücktreten müssen. 152 Auch hier dürfte eine Überprüfung der verfassungsrechtlichen Grundlagen des Indi vidualrechtsschutzes näher Aufschluss über die Verpflichtungen der kooperierenden Staaten gegenüber dem Einzelnen geben. Insbesondere ist hier das Verhältnis von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht zu problematisieren und zu fragen, ob es verfassungsrechtlich legitim ist, den innerstaatlichen Individualrechtsschutz unter Berufung auf sonstige völkerrechtliche Verpflichtungen einzuschränken. Für diese Frage dürfte wiederum das Ergebnis der Untersuchung des völkerrechtlichen Individualrechtsschutz von erheblicher Bedeutung sein, denn soweit ein Staat bereits völkerrechtlich zum Schutz der Rechte des Einzelnen verpflichtet ist, kann er sich nicht unter Berufung auf die völkerrechtliche Verpflichtung zur Zusammenarbeit in Strafsachen von dem innerstaatlichen Individualrechtsschutz lösen.
C. Prozessuale Möglichkeiten des Rechtsschutzes gegen Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen Nachdem vorstehend die grundsätzlichen Berührungspunkte von Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen und den Individualrechten des Einzelnen dargestellt wurden, stellt sich im Folgenden die Frage, ob und inwieweit die Rechtsgrundlagen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit oder aber sonstige nationale bzw. internationale Instrumente prozessuale Möglichkeiten des Rechtsschutzes vorsehen. Jedoch soll hier nur ein Überblick geschaffen werden, um die Mehrdimensionalität der Rechtsschutzmöglichkeiten aufzuzeigen. I. Rechtsschutz gegen Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen auf nationaler Ebene Für den von einer drohenden Auslieferung oder einer sonstigen Rechtshilfemaßnahme Betroffenen stellt sich primär die Frage, ob und wie er etwa seine Übers teIlung an den ersuchenden Staat oder die Durchführung der ersuchten Rechtshilfemaßnahmen verhindern kann. Der Übersichtlichkeit wegen soll dies im Folgenden am Beispiel der Auslieferung dargestellt werden, wenngleich sich für Maßnahmen der sonstigen Rechtshilfe in Strafsachen diverse Besonderheiten ergeben. 153 Im Falle eines ausländischen Auslieferungsersuchens steht es dem Betroffenen grundsätzlich frei, um Rechtsschutz im ersuchten oder aber auch im ersuchenden Staat zu suchen. Welcher der beiden Wege erfolgsversprechender ist, 152 153
Vgl. etwa § 1 III IRG. Vgl. nur Vogler. in: FS Triffterer (1996), 799 ff.
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hängt vor allem von den Umständen im Einzelfall ab und kann an dieser Stelle nicht umfassend untersucht werden. Jedoch sollen die wesentlichen Grundsätze und die wiederkehrenden Schwierigkeiten beim Rechtsschutz gegen arbeitsteilig vorgenommene grenzüberschreitende Strafverfolgungsmaßnahmen herausgearbeitet werden. 1. Der Rechtsschutz im ersuchten Staat In erster Linie hat sich der von einer Auslieferung Betroffene an die Behörden des ersuchten Staates zu halten und dort geltend zu machen, dass das Auslieferungsverfahren oder die vorgesehene Überantwortung an den ersuchenden Staat ihn in seinen Rechten verletzt. In der Bundesrepublik Deutschland ist Ausgangspunkt für die Frage nach dem Rechtsschutz Art. 19 IV GG. 154 Danach steht jedem der Rechtsweg offen, der durch eine Maßnahme der öffentlichen Gewalt in seinen Rechten verletzt wird. Zwischen den beteiligten Staaten handelt es sich bei der Auslieferung zwar um einen dem zwischenstaatlichen Recht zuzurechnenden Sachverhalt, auf der innerstaatlichen Ebene hingegen stellt die Auslieferung einen Hoheitsakt der deutschen Exekutive gegenüber einer Person dar, die sich auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland aufhält. Die Entscheidung über die Bewilligung der Auslieferung wird grundSätzlich vom Bundesministerium der Justiz getroffen. 155 Es kann an dieser Stelle dahingestellt bleiben, wie diese Bewilligungsentscheidung rechtlich einzuordnen ist, das heißt, ob es sich dabei um eine rein völkerrechtliche Willenserklärung zum Abschluss oder zur Erfüllung eines Auslieferungsvertrages, um einen Verwaltungsakt oder um einen Auslieferungsvollzugsakt handelt. 156 Jedenfalls stellt die tatsächliche Übergabe an den fremden Staat ein Handeln der deutschen öffentlichen Gewalt im Sinne von Art. 19 IV GG dar. 157 Daher ist dem von einer bevorstehenden Auslieferung Betroffenen effektiver Rechtsschutz und Zugang zu den innerstaatlichen Gerichten der Bundesrepublik Deutschland zu gewähren. a) Rechtsschutz vor den ordentlichen Gerichten Derartige Rechtsmittel im ersuchten Staat sind jedoch grundSätzlich nur solange effektiv wie die Auslieferung noch nicht vollzogen wurde, denn sobald sich der Auszuliefernde im Hoheitsbereich des ersuchenden Staates befindet, dürfte er 154 Für rechtsvergleichende Nachweise über den Rechtsschutz in anderen europäischen Staaten siehe Merli, in: HofmannIMarko/MerlilWiederin, Rechtsstaatlichkeit, S. 31 ff. 155 Vgl. § 74 I IRG. 156 V gl. hierzu die Nachweise bei Häde, Der Staat 36 (1997), 1 (10); im Einzelnen hierzu Vogler, EuGRZ 1981,417 ff. 15? Häde, Der Staat 36 (1997), 1 (10).
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kaum mehr ein praktisches Interesse daran haben, sein Recht weiterhin im ersuchten Staat zu verfolgen. 15s Zwar lässt sich aus dem Wortlaut des Art. 19 IV GG ableiten, dass nur nachfolgender Rechtsschutz zu gewährleisten ist, jedoch ergibt sich aus dem Erfordernis, dass ein effektiver Rechtsschutz zu leisten ist, dass gegen eine nicht wieder rückgängig zu machende Auslieferung auch vorheriger Rechtsschutz möglich sein muss. 159 Daher findet gemäß § 12 IRG immer dann ein gerichtliches Verfahren bei nach § 29 11 IRG zuständigen Oberlandesgericht über die Zulässigkeit der Auslieferung statt, wenn der Auszuliefernde sich mit seiner Übers teIlung an den ausländischen Staat nicht einverstanden erklärt. 160 Gegen eine negative Entscheidung des Oberlandesgerichts gibt es für den Auszuliefernden weder eine Berufung noch eine Revision. 161 Somit bleibt dem Verfolgten nur noch die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde l62 oder einer Beschwerde bei den internationalen Rechtsprechungsinstanzen l63 gegen die Zulässigkeitsentscheidung. Für die über die Bewilligung der Auslieferung entscheidende Exekutive ist die Entscheidung des zuständigen Oberlandesgerichtes nur dann verbindlich, wenn letzteres die Auslieferung als unzulässig eingestuft hat. Erklärt es die Auslieferung für zulässig, so hat nunmehr die Bundesregierung in einem zweiten Verfahrensabschnitt zu prüfen, ob sie gegenüber dem ersuchenden Staat bewilligt wird. Die Regierung ist dabei nicht an die Entscheidung des Gerichts gebunden, sondern gehalten, die Voraussetzungen und etwaige Hindernisse für die Auslieferung in eigener Verantwortung erneut zu prüfen. IM Vorbehaltlich der rechtlichen Bewertung und etwaiger völkerrechtlicher Auslieferungsverpflichtungen steht es der Bundesregierung grundsätzlich frei, die Auslieferung aus Gründen politischer Zweckmäßigkeit abzulehnen. 165 Gegen die Bewilligungsentscheidung und auch gegen die Auslieferung selbst stehen dem BetroffeTrechsel. EuGRZ 1987, 69 (70 f.). Im Einzelnen hierzu BVerfGE 37. 150 (153); 84. 34 (49); Krebs. in: von Münch, GG (1992). Art. 19 Rn. 64. 160 Vgl. § 41 IRG; mit seinem Einverständnis präkludiert er hingegen seinen Anspruch auf eine gerichtliche Überprüfung der Auslieferung. 161 Zwar sieht § 42 IRG die Anrufung des BGH durch das OLG. den Generalbundesanwalt oder die zuständige Staatsanwaltschaft vor; dabei handelt es sich aber nicht um einen Rechtsbehelf des Auszuliefernden. sondern um ein besonderes Verfahren, welches der Klärung einer Rechtsfrage von grundSätzlicher Bedeutung dient oder einen Rechtsprechungswechsel ermöglicht. 162 Hierzu unten 3. Kapitel. S. 255 ff. 163 Hierzu unten 3. Kapitel. S. 259 ff. 164 Vgl. BVerfGE 63.215 (225 f.) EuGRZ 1983. 259; GraßhoflBackhaus. EuGRZ 1996.445. 165 Vgl. BVerfGE 63.215 (226) = EuGRZ 1983, 259; Schröder. BayVBI. 1979.231 (232). 15S
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nen indes keine zusätzlichen Rechtsbehelfe zur Verfügung, 166 so dass er gegebenenfalls auf internationale Rechtsschutzinstrumente zurückgreifen muss. Im Gegensatz zu den Regelungen für die Auslieferung sieht das IRG im Fall von sonstigen Rechtshilfemaßnahmen die gerichtliche Prüfung und Entscheidung über die Zulässigkeit der Rechtshilfe auf Antrag des Betroffenen nur für den Fall der Rechtshilfe durch Herausgabe von Gegenständen vor. 167 Einem als Zeugen für ein ausländisches Verfahren in Anspruch Genommenen ist der Rechtsweg versperrt. Ob und inwieweit ein Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten nach den Vorschriften der StPO oder zu den Verwaltungs gerichten diese Rechtsschutzlücke zu schließen vermag, ist in Rechtsprechung und Schrifttum äußert umstritten und kann an dieser Stelle nicht vertieft werden. 168 Jedoch dürfte über die Frage des "ob" kein Zweifel bestehen, was sich aus der weitreichenden Bindung deutscher Hoheitsorgane an Art. 19 IV GG ergibt. b) Rechtsschutz vor den Verfassungsgerichten Der für den Menschenrechtsschutz maßgebliche Rechtsbehelf im deutschen Recht ist die Verfassungsbeschwerde, wonach jedermann mit der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt in einem Grundrecht oder einer grundrechtsgleichen Gewährleistung verletzt zu sein, Verfassungs beschwerde zum Bundesverfassungsgericht erheben kann. 169 Dem Beschwerdeführer wird hiermit ermöglicht, Eingriffe der öffentlichen Gewalt insbesondere in seine Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte abzuwehren. 170 Formell setzt eine Verfassungs beschwerde voraus, dass zunächst die Rechtsbehelfe vor den ordentlichen Gerichten ausgeschöpft und auf mögliche Grund- bzw. Menschenrechtsverletzungen hingewiesen worden ist. Nach gegenwärtig herrschender Auffassung ermöglicht die Verfassungsbeschwerde indes nicht die verfassungsrechtliche Überprüfung der innerstaatlichen Bewilligungsentscheidung im Auslieferungsverkehr, da diese nurim Verhältnis zum ersuchenden Staat, nicht aber gegenüber dem Verfolgten Rechtswirkungen erzeugt. 171 166 Hierzu Gillmeister, NJW 1991, 2245; Häde, Der Staat 36 (1997), 1 (11 f.); Vogler, in: 140 Jahre Goltdammer's Archiv für Strafrecht (1993), 251 (2570; vgl. allerdings § 33 IRG. 167 Vgl. § 61 12 i. V. m. § 66IRG. 168 Vgl. jedoch ausführlich Vogler, NJW 1982,468 ff.; ders., GA 1989,541 ff.; ders., in: FS Triffterer (1996), 799 (800 ff.); siehe auch Schroth, StV 1999, 117 ff. 169 Vgl. Art. 93 I Nr. 4 a, 94 11 GG, § 12 Nr. 8 a BVerfGG. 170 Vgl. BVerfGE 2, 287 (291); 18,315 (325); 74, 220 (226); 75, 201 (216 f.). 171 Vgl. BVerfGE 63, 215 (226) =EuGRZ 1983,259 (261) m. w. N.; GraßhoflBackhaus, EuGRZ 1996, 445 (446); ähnlich scheint es in den Niederlanden zu sein, wo sich die Judikative nicht für zuständig sieht, drohende Grund- und Menschenrechtsverletzungen durch Rechtsrnaßnahmen zu verhindern, sondern dies der Exekutive anheim stellt; hierzu van der WUt, NILR 19995, 53 (62 ff.).
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Jedoch unterliegt die gerichtliche Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung oder einer Rechtshilfemaßnahme der Anfechtung durch die Verfassungsbeschwerde. 172 Aufgrund der mit Auslieferungen regelmäßig einhergehenden schwerwiegenden Belastungen der Betroffenen hatte das Bundesverfassungsgericht in der Vergangenheit vielfach Gelegenheit, zu den Fragen des Auslieferungsrechts Stellung zu nehmen. 173 Jedoch gilt zu beachten, dass das Gericht allein die Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht, nicht hingegen die Vereinbarkeit der gerichtlichen Zulässigkeitsentscheidungen mit dem einfachen Recht, z. B. mit den Bestimmungen des IRG oder der inkorporierten völkerrechtlichen Auslieferungs- oder Rechtshilfeverträge überprüfen kann. 174 Da nach überwiegender Auffassung die Bestimmungen der EMRK ebenfalls nur den Rang eines einfachen Gesetzes haben,175 ist es einem Beschwerdeführer grundsätzlich auch verwehrt, sich unmittelbar auf die Verletzung dieser völkervertraglichen Menschenrechte zu berufen. 176 Seit seiner grundlegenden Entscheidung vom 26. März 1987 hat das Bundesverfassungsgericht jedoch anerkannt, dass ,,[b]ei der Auslegung des Grundgesetzes [... ] auch Inhalt und Entwicklung der Europäischen Menschenrechtskonvention in Betracht zu ziehen [sind und] die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes [dienen kann]".177 Menschenrechte der EMRK können nach dieser Entscheidung daher von dem Einzelnen derzeit nur auf mittelbarem Wege, das heißt über die Auslegung der innerstaatlichen Grundrechte herangezogen werden. Darüber hinaus ist es dem Beschwerdeführer nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch möglich, seine Verfassungsbeschwerde auf die Verletzung völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte zu stützen. 178 Zwar 172 Somit wird mittelbar auch Rechtsschutz gegen die Bewilligung garantiert, da letztere von der Zulässigkeit der Auslieferung abhängt. 173 Vgl. die Übersichten bei GraßhoflBackhaus, EuGRZ 1996,445 (447); Kirchhof, EuGRZ 1994, 16 (3 I f.); Zöbeley, NJW 1983, 1703 ff.; sowie unten 4. Kapitel, S. 286 ff. 174 Das BVerfG ist keine Superrevisionsinstanz, ständige Rechtsprechung seit BVerfGE 18,85 (92) = NJW 1964,1715. 175 Siehe unten 6. Kapitel, S. 474 f. 176 Vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 19.3.1984, NJW 1984, 1293 - Verfassungsmäßigkeit einer Auslieferung eines in Abwesenheit wegen Sachbeschädigung verurteilten schweizerischen Staatsbürgers an die Schweiz; mit Verweis auf die ständige Rechtsprechung BVerfGE 34, 384 (395); 41,126 (149) NJW 1976, 1491. 177 Vgl. die grundlegende Entscheidung vom 26.3.1987, BVerfGE 74,358 (370) = EuGRZ 1987,203 (206) ::: NJW 1987,2427; bestätigt durch BVerfG, Beschluss vom 29.5.1990, EuGRZ 1990, 329 (331); hierzu auch Dürig, in: MaunzlDüriglHerzoglHerzog, GG, Art. 1 H Rn. 59; Frowein, in: FS Zeidler (1987), Bd. H, 1763 ff. 178 Giegerich, in: Grabenwarter/HammerlPelzI/Schulev-SteindVWiederin, Grundrechte, S. 101 (109 ff.).
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kann er sich nicht unmittelbar auf die über Art. 25 GG in die deutsche Rechtsordnung aufgenommenen völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte berufen, jedoch kann mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden, dass "Vorschriften [... ] zu einer allgemeinen Regel des Völkerrechts im Widerspruch stehen und von dieser verdrängt werden. Wegen Art. 25 GG gehört es zur verfassungsmäßigen Ordnung, dass bei der Gestaltung und Anwendung des Bundesrechts den durch Art. 25 GG in das Bundesrecht inkorporierten allgemeinen Regeln des Völkerrechts Rechnung getragen wird. Ein Bundesgesetz, dass mit einer solchen Regel kollidiert oder von ihr verdrängt wurde, ist deshalb keine rechtswirksame Rechtsgrundlage und vermag die durch Art. 2 I GG gewährleisteten Grundrechte nicht zu beschränken". 179 Auf Menschenrechte des Völkergewohnheitsrecht können sich Beschwerdeführer daher unter Berufung auf eine Verletzung von Art. 2 I i. V. m. 25 GG berufen. Dass die eingeschränkte innerstaatliche Durchsetzbarkeit der Menschenrechte der EMRK einen massiven Wertungs widerspruch zu der völkerrechtlichen Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland aus Art. 1 EMRK sowie im Vergleich zu völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechten darstellt, wird sich im Rahmen des 2. Teiles dieser Untersuchung ergeben. Schließlich sei bereits auch an dieser Stelle rechtsvergleichend darauf hingewiesen, dass der unmittelbare Rechtsschutz gegen Verletzungen internationaler Menschenrechtsgarantien in den meisten anderen europäischen Staaten stärker ausgeprägt ist als in der Bundesrepublik Deutschland. Aufgrund ihrer monistischen Rechtssysteme finden die Regeln des Völkerrechts etwa in Österreich und den Niederlanden unmittelbare Anwendung und gehen dem einfachen Recht zum Teil sogar vor. 180 Daher ist es Betroffenen ermöglicht, sich unmittelbar auf die Verletzung der EMRK zu berufen. Auch in Frankreich, wo die EMRK zwar den Rang eines einfachen Gesetzes hat, ermöglicht eine spezifische Zuständigkeitsregelung eine abstrakte Normenkontrolle der einfachen Gesetze am Maßstab der EMRK durch den Conseil Constitutionnel. 181 2. Der Rechtsschutz im ersuchenden Staat Des Weiteren stellt sich die Frage, ob ein Auszuliefernder Rechtsschutz gegen das Einlieferungsersuchen im ersuchenden Staat erwirken kann, eine Frage, die 179 Vgl. nur BVerfGE 6, 32 (41); 6, 389 (432 f., 440); 7,111 (119); 9. 3 (11); 18.441 (451); 23,288 (300); 31,145 (177). 180 In Österreich hat die EMRK innerstaatlich den Rang von Verfassungsrecht. so dass ihre Beachtung durch den Gesetzgeber und die Verwaltungsbehörden vom Verfassungsgerichtshof überprüft werden kann, vgl. kurz Baumgartner, ZÖR 54 (1999), 117 (120 ff., l31); zur Niederlande van der Wilt, NILR 1995,53 (63 ff.). 181 Im Einzelnen zur innerstaatlichen Anwendbarkeit und Durchsetzbarkeit der EMRK in den restlichen Konventionsstaaten siehe unten 6. Kapitel. S. 475 ff.
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das Bundesverfassungsgericht zweimal beschäftigt hat. 182 In bei den Fällen verneinte es die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen das deutsche Einlieferungs- und Inhaftierungsersuchen, weil die daran anknüpfende Inhaftierung des Beschwerdeführers im Ausland ein selbständiges hoheitliches Handeln des ersuchten Staates darstelle, das der Bundesrepublik Deutschland "nicht als Eingriff in die Freiheitssphäre" des Betroffenen zuzurechnen und auch "nicht am Maßstab des Grundgesetzes zu überprüfen" sei. 183 Jedoch sei nicht die Prüfung dahingehend ausgeschlossen, ob die Freiheitsentziehung im ersuchten Staat und ihre Bedingungen dem" völkerrechtlich verbindlichen menschenrechtlichen Mindeststandard" und den "unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen der deutschen öffentlichen Ordnung" entsprechen. 184 Ist durch ein deutsches Einlieferungs- und Inhaftierungsersuchen der Anstoß für die Freiheitsentziehung gegeben worden, so tragen die zuständigen Organe der Bundesrepublik Deutschland für die Wahrung dieses Standards und dieser Grundsätze von Verfassungs wegen eine eigene Verantwortung. 18S Hier wird der wesentliche Unterschied deutlich zwischen formeller Gewährleistung des Rechtsschutzes und Einschränkung der materiellen Reichweite bestimmter Rechte. 186
11. Rechtsschutz gegen Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen auf internationaler Ebene Nach Erschöpfen innerstaatlicher Rechtsmittel bleibt dem Einzelnen nur der Weg vor internationale Rechtsschutzinstanzen. Der internationale Individualrechtsschutz in Europa wird vornehmlich durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) aber auch durch den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) geleistet. Weitere regionale internationale Rechtsschutzinstanzen stellen im Rahmen der jeweils zugrunde liegenden Menschenrechtskonvention der eingesetzte Inter-Amerikanische Gerichtshof für Menschenrechte und der neu geschaffene Afrikanische Gerichtshof für Menschenrechte und Rechte der Völker dar. 187 Sie erlangen aufgrund ihrer regionalen Begrenzung zwangsläufig kaum eine 182 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 25.3.1981, BVerfGE 57, 9; hierzu ausführlich Vogler, EuGRZ 1981,417 ff; BVerfG, Beschluss vom 7.4.1988,2 BvR 1560/87, in: Eser/Lagodny/ Wilkitzki, U 161, S. 557 ff. 183 Vgl. BVerfGE 57, 9 (23 ff.). 184 Vgl. BVerfGE 57, 9 (24 f.); 59, 280 (282 f). 185 Siehe zum Meinungsstand in der Literatur: Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 320 ff, verneint das; Trechsel, EuGRZ 1987,69 (71), schränkt diesen Befund jedoch dahingehend ein, dass bei Verstößen gegen innerstaatliches Recht sehr wohl Rechtsschutz bei den Gerichten des ersuchenden Staates gesucht werden kann. 186 Hierzu Schomburg/lAgodny, NStZ 1992, 353 (355, 358). 187 Hierzu bereits kurz oben 3. Kapitel, S. 237 f.
17 Ziegenhahn
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Bedeutung für den Menschenrechtsschutz in Europa. Auf universeller Ebene gibt es indes weitere völkerrechtliche Rechtsschutzinstanzen, die der Vollständigkeit halber hier Erwähnung finden sollen, aufgrund der Themenbegrenzung auf den Menschenrechtsstandard in Europa jedoch nicht weiter vertieft werden können. Keine Gerichtshöfe im eigentlichen Sinne, aber Beschwerdemöglichkeiten bei internationalen Organisationen stellen das so genannte 1503-Verfahren der UNMenschenrechtskommission und die im Rahmen einzelner Menschenrechtsübereinkommen eingerichteten Individualbeschwerdeverfahren dar. Hierzu zählt insbesondere das mit dem (inzwischen abgeschafften) Verfahren vor der Europäischen Kommission für Menschenrechte des Europarats vergleichbare Beschwerdeverfahren auf der Grundlage des Fakultativprotokolls zu dem Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte. 188 Dem nachgestellt sind das Beschwerdeverfahren zur Konvention gegen Rassendiskriminierung von 1966, das seit März 1999 bestehende Beschwerde- und Untersuchungsverfahren zum Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau von 1997 sowie das entsprechende Verfahren der Antifolterkonvention von 1984. Die mit den Beschwerden zu diesen Konventionen befassten Ausschüsse können formell zwar keine verbindlichen Entscheidungen wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fassen,I89 doch besitzen ihre Festlegungen eine hohe politische Autorität, der sich die Vertrags staaten nur schwer entziehen können. 190 Im Folgenden soll indes ein kurzer Überblick über die Rechtsschutzmöglichkeiten vor den beiden europäischen internationalen Rechtsschutzinstanzen gegeben werden.
1. Der Europäische Gerichtshoffür Menschenrechte Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg ist für den Rechtsraum der Europäischen Menschenrechtskonvention die internationale Gerichtsinstanz für den individuellen Menschenrechtsschutz. Jedermann kann sich mit der Behauptung, von nationalen Organen oder Behörden in seinen durch die EMRK geWährleisteten Menschenrechten verletzt worden zu sein, direkt an ihn wenden. Er ist zuständig für alle die Auslegung und die Anwendung der Konvention betreffenden Sachverhalte. 191 Gegenstand einer Menschenrechtsbeschwerde kann jedoch nur ein Hoheitsakt eines Konventionsstaates sein und Prüfungsmaßstab sind allein die Garantien der EMRK. Demgegenüber ist der Gerichtshof nicht befugt, behaupteten Menschenrechtsverletzungen durch Hoheitsakte von Organen
188 Vgl. ebenfalls oben 3. Kapitel, S. 237 f. 189 Hierzu ausführlich unten 6. Kapitel, S. 479 ff. 190
Seidel, AVR 38 (2000), 23 (34).
191 Art. 32 EMRK n. F.
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der Europäischen Gemeinschaften nachzugehen,192 da sie der EMRK nicht angehören. Im Wesentlichen lassen sich im Rahmen der EMRK seit der Reform des Gerichtssysterns mit dem 11. Zusatzprotokoll zur EMRK193 eine Staatenbeschwerde und ein Individualbeschwerdeverfahren unterscheiden. 194 Bei der Staatenbeschwerde handelt es sich um eine für Fragen des Individualrechtsschutz zu vernachlässigende Möglichkeit der kollektiven Durchsetzung von Menschenrechten. Auch in der Praxis ist die Staatenbeschwerde nur ultima ratio der internationalen Politik und in der gesamten Zeit seit Schaffung dieser Beschwerdeform nur ein einziges Mal vorgekommen. Da sich für den Individualrechtsschutz im Rahmen der EMRK keine großen dogmatischen und sonstigen Schwierigkeiten ergeben, soll im Folgenden nur ein kurzer Überblick über den Ablauf und die Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Klage durch einen Einzelnen vor dem EGMR gegeben werden. Gemäß Art. 34 EMRK kann der Gerichtshof "von jeder natürlichen Person, nichtstaatlichen Organisation oder Personengruppe, die behauptet, durch eine der Hohen Vertragsparteien in einem dieser Konvention oder den Protokollen dazu anerkannten Rechte verletzt zu sein, mit einer Beschwerde befasst werden." Allerdings setzt eine solche Individualbeschwerde vor dem EGMR voraus, dass zuvor alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe ausgeschöpft worden sind. 195 In der Bundesrepublik Deutschland gilt der innerstaatliche Rechtsweg erst dann als erschöpft, wenn eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen der Verfassungsbeschwerde ergangen ist, wofür bereits der in Art. 93 lit. b) BVerfGG geregelte Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts genügt. 196 Als äußerst widersprüchlich ist in diesem Zusammenhang bereits anzumerken, dass das Bundesverfassungsgericht paradoxerweise nicht befugt ist, über Verfassungsbeschwerden zu entscheiden, die ausschließlich die Nichtbeachtung und Verlet192 Ausführlich EKMR, Entscheidung vom 9.2.1990, M & Co. v. Bundesrepublik Deutschland, Beschwerde Nr. 13258/87; hierzu ausführlich Giegerich, ZaöRV 50 (1990),836 ff.; hierzu auch unten 6. Kapitel, S. 451 ff. 193 ETS No. 155, Protocol No. 11 to the Convention for the Protection ofHuman Rights and Fundamental Freedoms, restructuring the control machinary established thereby vom 11.5.1994, EuGRZ 1994, 323, siehe hierzu den Eplanatary Report des Europarats . 194 Zum Rechtsschutzsystem nach der Reform der Beschwerdeverfahren und des EGMR durch das 11. ZP-EMRK Meyer-LadewigIPetzold, NJW 1999, 1165 ff.; Peukert, NJW 2000,49 ff.; Schermers, EPL 4 (1998), 335 ff.; Schlette, ZaöRV 56 (1996), 905 ff.; ders., JZ 1999,219 ff.; Siess-Scherz, in: GrabenwarterlThienel, Kontinuität und Wandel, S. 1 ff.; Sommer, in: Brüssow/KrekelerlMehle, Strafverteidigung, S. 647 ff.; Villiger, SZIER 1999, 79 ff.; Wittinger, NJW 2001, 1238 ff. 195 Vgl. Art. 35 EMRK. 196 Zur Frage der Rechtswegerschöpfung siehe nur FroweinlPeukert, EMRK, Art. 26 Rn. 3 ff. mit Nachweisen zur Rechtsprechung der Konventionsorgane.
17"
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zung von Menschenrechten der EMRK zum Gegenstand haben. 197 Jedoch muss der Beschwerdegegenstand der Individualbeschwerde bereits Gegenstand der Verfassungsbeschwerde gewesen sein und der Beschwerdeführer eine spezifische Verfassungsverletzung geltend gemacht haben. 198 Vom Erfordernis der vorherigen Einlegung der Verfassungs beschwerde kann indes abgesehen werden, wenn in vergleichbaren Fällen bereits ablehnende Entscheidungen ergangen sind. 199 Schließlich ist auch eine Frist von sechs Monaten zu beachten. 2OO Nach Annahme der Beschwerde wird dem der Konventionsverletzung beschuldigten Staat die Möglichkeit gegeben, schriftliche Ausführungen zur Zulässigkeit zu machen. 201 Nach anschließender Feststellung der Zulässigkeit der Klage findet eine mündliche Verhandlung vor einer Kammer statt,202 in deren Verlauf der Gerichtshof die Möglichkeit hat, gemäß Art. 39 VerfO-EGMR dem Vertrags staat vorläufige Maßnahmen zu empfehlen 203 oder nach Abschluss der mündlichen Verhandlung ein Urteil gemäß Art. 42, 44, 45 EMRK zu erlassen, in welchem er die Verletzung eines der Konventionsrechte feststellen oder ablehnen kann. 204
2. Der Gerichtshof der Europäischen Union Die Funktion der Rechtswahrung und Rechtsschutzgewährung ist im europäischen Integrationsverband beim Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in Luxemburg konzentriert. Im Rahmen seines Mandats "zur Wahrung des Rechts .. 205 ist hinsichtlich der Rechtsschutzmechanismen des Gerichtshofs zwingend danach zu unterscheiden, ob Rechtsakte im Rahmen des supranationalen Gemeinschaftsrechts oder im Rahmen des intergouvernementalen Rechts in Rede stehen, denn die Herkunft und die Rechtsqualität des jeweiligen Rechtsaktes entscheidet über die Zuständigkeit des EuGH. Daher ist im Folgenden getrennt auf die Individualrechtsschutzmöglichkeiten des Gemeinschaftsrechts und die Justitiabilität von Rechtsakten im Rahmen des Unionsrechts einzugehen.
197 Hierzu auch unten 6. Kapitel, S. 479. 198 Vgl. Wittinger, NJW 2001. 1238 (1239) m. w. N. 199 Vgl. Wittinger, NJW 2001,1238 (1239) m. w. N. 200 Vgl. nur Art. 35 I EMRK; hierzu ebenfalls nur Wittinger, NJW 2001, 1238 (1239) m.w.N. 201 Vgl. Art. 91 VerfO-EGMR. 202 Im Einzelnen zu dem Procedere nach eingelegter und zulässiger Beschwerde Wittinger, NJW 2001,1238 (1240 ff.). 203 Zum einstweiligen Rechtsschutz vor dem EGMR siehe ausführlich unten 6. Kapitel, S. 441 ff. 204 Zur Bindungswirkung dieser Urteile siehe ausführlich unten 6. Kapitel, S. 479 ff. 205 Vgl. nur Art. 220 EGV.
C. Prozessuale Möglichkeiten des Rechtsschutzes
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a) Rechtsschutz im Rahmen der 1. Säule der Europäischen Union Der EuGH ist gemäß Art. 220 EGV zuständig, die Auslegung und die Anwendung des Europäischen Gemeinschaftsrechts zu sichern. Hierbei obliegt ihm auch der Schutz der Grundrechte als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts im Sinne von Art. 611 EGV. 206 Mangels eines ausdrücklichen Grundrechtskataloges hat der EuGH Grundrechte richterrechtlich entwickelt und fortlaufend anhand konkreter Fallgestaltungen ausgeformt. 207 Das hauptsächliche Verfahren zur Überprüfung grundrechtserheblicher Rechtsfragen ist das Vorlage- bzw. Vorabentscheidungsverfahren208 gemäß Art. 234 EGV. 209 Vorlageberechtigt sind indes nur die nationalen Gerichte, die mit der Frage konfrontiert sind, wie ein Norm des Gemeinschaftsrechts oder ein Rechtsakt der Gemeinschaftsorgane auszulegen bzw. (grundrechtskonform) umzusetzen ist. Jedoch steht dem Unionsbürger nach dem Verfahren des Art. 230 EGV auch ein direktes Beschwerdeverfahren zur mittelbaren Geltendmachung von Grundrechtsverletzungen durch Gemeinschaftsorgane zur Verfügung. Für solche Klagen natürlicher und juristischer Personen ist dann das Gericht erster Instanz (EuG) zuständig und der EuGH die Rechtsmittelinstanz. 2lO Die Relevanz des Grundrechtsschutzes durch den EuG und den EuGH ist verglichen mit den nationalen Verfassungsgerichten und dem EGMR deutlich geringer. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass die Gemeinschaftsordnung über keinen eigenen Grundrechtskatalog verfügt und aufgrund dessen die Herleitung grundrechtlicher Gewährleistungen komplizierter ist. 2lI Ein weiterer Grund besteht darin, dass sich unter den einzelnen Anrufungsmöglichkeiten des EuG und des EuGH kein Rechtsmittel befindet, das eigens für die Rüge von Grund- und Menschenrechtsverletzungen vorgesehen ist. Der Rechtsweg nach Art. 230 EGV steht dem Einzelnen nur beschränkt offen, da er darlegen muss, unmittelbar und Siehe auch Art. 46 lit. d) EUV. Ausführlich zum Individualrechtsschutz nach Gemeinschaftsrecht Alkemper, Der Rechtsschutz des Einzelnen nach dem EG-Vertrag, 1995; Bleckmann, EuGRZ 1981, 257 ff.; Chwolik-Lanfennann, Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, 1994; Gersdorf, AöR 1994, 400 ff.; Giegerich, ZaöRV 50 (1990), 836 (855 ff.); Lenz, EuZW 1993, 10 ff.; Pemice, NJW 1990,2409 ff.; Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der Europäischen Union, 1994; Zuleeg, NJW 1994, 545 (546 0. 208 Zur individualrechtsschützenden Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens statt vieler Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 48 ff.; Gröpl, EuGRZ 1995, 583 ff.; König/Sander, EG-Prozessrecht, Rn. 457; von Danwitz, NJW 1993, 1108 (1110 ff.). 209 Dieses findet indes keine Anwendung mehr für Rechtsakte im Rahmen des Titel IV EGV; hier stellt Art. 68 EGV eine mit dem Amsterdamer Vertrag eingeführte Sonderregelung dar, welche die Anwendbarkeit des Art. 220 EGV ausschließt bzw. modifiziert, hierzu ausführlich Dörr/Mager, AöR 125 (2000),386 (388 ff). 210 Zum gemeinschaftsrechtlichen Individualrechtsschutz Giegerich, in: Grabenwarterl HammerlPelzl/Schulev-Steindl/Wiederin, Grundrechte, S. 101 (116 ff.). 211 Hierzu kurz Eiffler, JuS 1999, 1068 (1069). 206 207
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Teil 1, 3. Kap.: Rechtsstellung des Einzelnen bei internationaler Rechtshilfe
individuell durch eine Maßnahme eines Gemeinschaftsorgans betroffen zu sein. 212 Dies erweist sich gerade deshalb als besondere Hürde, da der größte Teil der Maßnahmen von EU-Organen Personenmehrheiten betrifft und daher die individuelle Betroffenheit fehlt. Zwar kann der Betroffene gegen die auf dem Gemeinschaftsrecht beruhende nationale Maßnahme vor den innerstaatlichen Gerichten vorgehen. Jedoch hat er keine Möglichkeit, dass nationale Gericht zur Vorlage an den EuGH gemäß Art. 230 EGV zu bewegen. Erst eine willkürliche Unterlassung der Vorlage würde unter Berufung auf die Verletzung von Art. 101 12 GG eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ermöglichen. 213 Unterlässt auch das Bundesverfassungsgericht eine Vorlage an den EuGH, könnte darin ein Verstoß gegen Art. 6 I EMRK liegen und eine Beschwerde bei dem EGMR möglich machen. 214 Sowohl prozessual als auch materiell-rechtlich besteht zwischen dem Grundrechtsschutz des EuGH und dem der nationalen Verfassungsgerichte ein dialektisches Verhältnis, welches sich aus dem Umstand ergibt, dass der EuGH die Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze betrachtet, die er im Wege der wertenden Rechtsvergleichung aus der EMRK sowie den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten ermittelt. 215 Hierbei greift der EuGH zunehmend auf die in der EMRK verankerten Grundrechte zurück. 216 Materiellrechtlich setzt die Zuständigkeit des EuGH jedoch vor allem eine gemeinschaftsrechtliche Maßnahme voraus. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung kommen hier jedoch zwei unterschiedliche Zuständigkeitsregelungen zum Tragen. Für Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaften im Rahmen des Schutzes der finanziellen Interessen nach Art. 280 EGV ist der EuGH ganz normal gemäß den Vorschriften der Art. 220 ff. EGV zuständig. Soweit hingegen die durch den Amsterdamer Vertrag in den Titel IV EGV übertragenen ehemaligen Bereiche der ZBJI betroffen sind, enthält Art. 68 EGV eine das Vorabentscheidungsverfahren des Art. 234 EGV modifizierende Regelung. 217 Diese Änderungen des Vorabentscheidungsverfahrens durch Art. 68 I EGV, durch welche den nicht letztinstanzlieh entscheidenden Gerichten der Zugang zum EuGH abgeschnitten wurde, hat nicht nur erhebliche Auswirkungen auf die Rechtseinheit, sondern auch auf den Individualrechtsschutz. 218
Hierzu Seidel, HB der Menschenrechte, S. 431 f. m Streinz, Europarecht, Rn. 580; zu dem daran anschließenden Verfahren vor dem BVerfG siehe Ende, KritV 79 (1996), 371 (373 f.). 214 So Ende, KritV 79 (1996), 371 (374 ff.). 21S V gl. jetzt Art. 6 11 EUV. 216 Baumgartner, ZÖR 54 (1999), 117 (128). 217 Hierzu ausführlich Dörr/Mager, AöR 125 (2000), 386 (388 ff.). 218 Zur Beeinträchtigung des Individualrechtsschutzes siehe nur Albors-Llorens, CMLRev. 35 (1998),1273 (1288); Dörr/Mager, AöR 125 (2000), 386 (391 f., 395 f.) m. w. N. 212
C. Prozessuale Möglichkeiten des Rechtsschutzes
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b) Rechtsschutz im Rahmen der 3. Säule der Europäischen Union Der Europäische Gerichtshof war bis zum Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages institutionell nicht in den dritten Pfeiler der Union einbezogen. 219 Jedoch bestand für die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, dem Gerichtshof eine Zuständigkeit für die Auslegung von nach Art. K.3 11 lit. c) EUV a. F. ausgearbeiteten Übereinkommen einzuräumen. 22o Allerdings ergab sich für den EuGH bis zum Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages einzig die Möglichkeit, sich im Rahmen seiner Zuständigkeit nach dem EGV über die Grenzen zwischen Gemeinschaftsund Unionskompetenzen zu dem intergouvernementalen Bereich der dritten Säule zu äußern. 221 Nicht zuletzt auf Grund der vielfach erhobenen Kritik an seiner Nichtzuständigkeit wurden dem Gerichtshof durch den Amsterdamer Vertrag schließlich eng definierte Zuständigkeiten für Streitigkeiten innerhalb der PJZS übertragen. 222 Nunmehr ist der Gerichtshof gemäß Art. 46 lit. b) EUV i. V. m. Art. 35 I EUV zuständig, "im Wege der Vorabentscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der Rahmenbeschlüsse und Beschlüsse, über die Auslegung der Übereinkommen nach diesem Titel und über die Gültigkeit und die Auslegung der dazugehörigen Durchführungsmaßnahmen" zu entscheiden. 223 Während im supranationalen Gemeinschaftsrecht das Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 234 III EGV und die Individualnichtigkeitsklage nach 219 Zur Rolle des Gerichtshofs vor Inkrafttreten des EUV von Amsterdam siehe AlborsLlorens, CMLRev. 35 (1998),1273 ff.; Fischer, EuZW 1994,747 (749); Hendry, GYIL 36 (1993),295 (313); Monar, ELR 1998,320 (330); van Gerven, in: Winter/CurtinlKeller-
mannlde Witte, European Judiciary, S. 220 (224 f.); kritisch zur fehlenden Zuständigkeit des EuGH in der ZBn Müller-Graff, in: FS Everling (1995), 925 (939); ders., in: MüllerGraff, Europäische Zusammenarbeit, S. 11 (31, 38); Neuwahl, in: BieberlMonar, Justice and Horne Affairs, S. 301 (304 ff.). 220 Vgl. Art. L EUV a. F.; solche Schieds- und Auslegungsklauseln sehen folgende nach Art. K.3 11 Ht. c) EUV a. F. geschlossene Abkommen vor: Art. 40 EuropolÜbk i. V. m. dem Europol-AuslegProt; Art. 8 11 EU-BetrugsÜbk; Art. 12 EU-BestechungsÜbk; Art. 26 Nearel II-Übk; Art. 14 EU-FahrerlaubEntzugÜbk; kritisch hierzu Condinanzi, Il diritto dell'Unione europea 1998, 579 ff. 221 EuGH, Rs. C-268/94 - Portugiesische Republik v. Rat der EU. Slg. 1-6177 (6224 ff.), wo der Gerichtshof die Argumentation der portugiesischen Regierung zurückwies, dass Maßnahmen zur Kontrolle des Drogenmißbrauchs gemäß Art. 19 des Kooperationsabkommens zwischen der EG und der Indischen Republik unter Art. K.l Ziff. 4 und 9 EUV a. F. fallen würden, statt unter Art. 129 und 130 Ht. u) EGV a. F., vgl. allerdings das umstrittene Urteil des EuGH, Rs. C-170197 - Kommission v. Rat, Urteil vom 12.5.1998, Slg. 1-2763 = JZ 1998, 1007 ff.; kritisch zu dieser Rechtsprechung Böse, EuR 1998,678; Pechstein, EuR 1999, 1 (8 ff.); siehe auch Fenelly, ICLQ 49 (2000), 1 (12 f.); zustimmend Cremer, in: CallieslBlanke, Kommentar, Art. 46 EUV Rn. 8. 222 Vgl. Art. 46lit. b) i. V. m. Art. 35 EUV. 223 Zur Zuständigkeit des EuGH nach Inkrafttreten des Amstersdamer Vertrages siehe Albors-Llorens, CMLRev. 35 (1998),1273 (1276 ff.); Dörr/Mager, AöR 125 (2000), 386 (402 ff.); Müller-Graff, integration 1997, 271 (281); Pechstein/König, Europäische Union, Rn. 390 ff.; Pechstein, EuR 1999, 1 ff.
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Teil 1, 3. Kap.: Rechtsstellung des Einzelnen bei internationaler Rechtshilfe
Art. 230 IV EGV sicherstellen, dass dem Einzelnen effektiver Rechtsschutz gegen die Beeinträchtigung seiner Rechte durch die europäische Hoheitsgewalt gewährleistet wird, weist der Individualrechtsschutz im Rahmen des intergouvernementalen Unionsrechts zahlreiche Lücken auf. Zunächst fällt bereits auf, dass sich die in Art. K.2 I EUV a. F. enthaltende ausdrückliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Beachtung der Europäischen Konvention für Menschenrechte im Rahmen der in Art. K.I numerisch aufgezählten "Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse",224 nicht mehr in dem neuen Titel VI EUV wiederfindet. 225 Darüber hinaus fehlt es an einer Art. 230 IV EGV vergleichbaren Individualnichtigkeitsklage in Art. 35 VI EUV, mit welcher sich natürliche oder juristische Personen gegen Unionsrechtsakte zur Wehr setzen können. Dies könnte den Eindruck eines "Systembruchs" erwecken, denn die Gewährung effektiven Rechtsschutzes gehört mittlerweile zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts und darüber hinaus ist die Europäische Union insgesamt durch Art. 611 EUV auf einen umfassenden Individualrechtsschutz verpflichtet. 226 Statt dessen wird dem Einzelnen auf Unionsebene der Zugang zu einer gerichtlichen Kontrolle, mit welcher er gegen ihn in seinen Rechten verletzende "europäische Hoheitsakte" vorgehen kann, verwehrt. Jedoch gilt es hier zu beachten, dass den Unionsrechtsakten im Rahmen des Titel VI EUV ausdrücklich keine unmittelbare Wirkung zukommen. 227 Folglich können die als Klagegegenstand in Betracht kommenden Beschlüsse und Rahmenbeschlüsse für Einzelpersonen in den Mitgliedstaaten auch keine Pflichten begründen und ihnen gegenüber nicht selbständig vollzogen werden. Vielmehr werden Individualrechte stets erst durch mitgliedstaatliche Maßnahmen zur Umsetzung von Beschlüssen und Rahmenbeschlüssen betroffen, gegen welche in der Regel der innerstaatliche Rechtsweg offen steht. 228 Aufgrund der mangelnden Durchgriffswirkung der intergouvernementalen Unionsrechtsakte gegenüber den Unionsbürgern und des Konstrukts der auf völkerrechtlicher Ebene basierenden 224 Die Bezugnahme auf die EMRK kann eigentlich nur von politischer Bedeutung sein, da die im Rahmen der ZBn handelnden Mitgliedstaaten ohnehin völkerrechtlich an EMRK gebunden sind. Siehe hierzu BVerfG, Beschluss zum Maastrichter Unionsvertrag, BVerfGE 89, 155 (177); Hendry, GYIL 36 (1993), 295 (307); Pechstein/König, Europäische Union, Rn. 351. 225 Statt dessen wurde jedoch die dem Inhalt nach identische Vorschrift des Art. F EUV a. F. in Art. 6 EUV übernommen und durch die Schaffung eines kollektiven Verletzungsverfahren nach Art. 7 EUV in ihrer Durchsetzbarkeit verstärkt. 226 Dörr/Mager, AöR 125 (2000), 386 (416 f.) mit zahlreichen Nachweisen zur Rechtsprechung des EuGH zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes. 227 Art. 3411 lit. b) Satz 2, lit. c) Satz 2 EUV spricht den Rahmenbeschlüssen und den Beschlüssen die unmittelbare Wirksamkeit ausdrücklich ab; für Durchführungsmaßnahmen zu den Beschlüssen gemäß Art. 3411 lit. c) Satz 2 EUV sowie für die mitgliedstaatlichen Übereinkommen gemäß Art. 34 11 4 EUV fehlt allerdings eine entsprechende Regelung; hierzu bereits oben 2. Kapitel, S. 188 ff. 228 Dörr/Mager, AöR 125 (2000), 386 (417).
C. Prozessuale Möglichkeiten des Rechtsschutzes
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Zusammenarbeit in Bereich der dritten Säule erscheint der Ausschluss des unmittelbaren Individualrechtsschutzes daher konsequent. 229 Eine unmittelbare Beeinträchtigung Einzelner durch Akte der Unions gewalt ist daher kaum denkbar. 230 Jedoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Maßnahmen im Bereich der PJZS mittelbare Auswirkungen auf den Einzelnen haben werden, nicht zu unterschätzen. Insbesondere können Beeinträchtigungen der Individualrechte durch Durchführungsmaßnahmen nach Art. 3411 4 EUV nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. 231 Des Weiteren ist es fraglich, ob und inwieweit ein angemessener Individualrechtsschutz in Fällen operativen Tätigwerdens gemeinsamer Strafverfolgungsteams der Mitgliedstaaten mit Vertretern von Europol232 oder innerstaatlicher Ennittlungen auf Anfrage von Europol233 gewährleistet werden kann. 234 Für diese Fälle ist nämlich der innerstaatliche Individualrechtsschutz gerade ungenügend, so dass sich der Ausschluss der Rechtsschutzmöglichkeiten im Rahmen des Art. 35 EUV zum Nachteil des einzelnen Individuum auswirken und einen Verstoß gegen das Gebot des effektiven Rechtsschutzes und der Achtung der Menschenrechte darstellen würde. Hier ist entweder eine erweiternde Auslegung235 oder jedenfalls eine Vertragsrevision von Nöten. Mittelbarer Individualrechtsschutz wird indes durch das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 35 I-IV EUV gewährleistet. Allerdings hat auch diese Möglichkeit des mittelbaren Rechtsschutz nur eine beschränkte Reichweite im Vergleich zum supranationalen Rechtsschutz, da weder alle Mitgliedstaaten sich der Jurisdiktion des EuGH gemäß Art. 35 11, III EUV unterworfen haben noch alle innerstaatlichen Gerichte zur Vorlage verpflichtet sind. Anders als das aus dem Gemeinschaftsrecht bekannte Vorabentscheidungsverfahren etablieren die Art. 35 I-IV EUV nicht etwa ein obligatorisches Verfahren. Vielmehr setzt das Vorabentscheidungsverfahren die entsprechende Unterwerfungserklärung eines jeden einzelnen Mitgliedstaates voraus. Eine Unterwerfungserklärung konnte bereits bei Unterzeichnung des Amsterdamer Vertrages abgegeben werden,236 ist jedoch auch 229 So Dörr/Mager, AöR 125 (2000), 386 (417); Pechstein, EuR 1999, 1 (22); ders.! König, Europäische Union, S. 200 Rn. 390. 230 So Dörr/Mager, AöR 125 (2000), 386 (417) m. w. N.; Röben, in: GrabitzlHilf, Recht der Europäischen Union, Bd. I, Art. 35 EUV Rn. 33. 231 Dörr/Mager, AöR 125 (2000), 386 (417). 232 Vgl. Art. 30 11 lit. a) EUV. 233 Vgl. Art. 3011 lit. b) EUV. 234 Monar, ELR 23 (1998), 320 (332); zum Rechtsschutz gegen Europol siehe ausführlich FroweiniKrisch, JZ 1998,589. 235 So wohl Dörr/Mager, AöR 125 (2000), 386 (417). 236 Bei der Gelegenheit der Unterzeichnung des Unions vertrages unterwerfen sich nur sechs Mitgliedstaaten der Zuständigkeit des EuGH für Vorabentscheidungsverfahren, namentlich Belgien, Deutschland, Griechenland, Luxemburg, die Niederlande und Österreich, vgl. ABI. C 340 (1997), 308.
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Teil 1, 3. Kap.: Rechtsstellung des Einzelnen bei internationaler Rechtshilfe
noch zu jedem späteren Zeitpunkt möglich. 237 Im Rahmen dieser Erklärung können die Mitgliedstaaten das Vorlagerecht entweder auf die jeweils letztinstanzlichen Gerichte beschränken238 oder aber jeder nationalen Instanz eröffnen. 239 Für die zweite Möglichkeit hat sich die Bundesrepublik Deutschland bei der Unterzeichnung des Amsterdarner Vertrages entschieden. 24O Sie besagt, dass jedem deutschen Gericht, dass eine Vorabentscheidung im Sinne von Art. 35 I EUV in einem anhängigen Verfahren für entscheidungserheblich hält, ein solches Vorlagerecht zusteht. 241 Dabei handelt es bereits dem Wortlaut nach um eine Vorlageberechtigung. Eine Vorlagepflicht kann hier, anders als im Anwendungsbereich des Art. 234 III EGV, nicht angenommen werden. 242 Indes haben die Mitgliedstaaten in einer gemeinsamen Protokollerklärung zum Amsterdamer Vertrag vereinbart, dass jeder Staat in seinem innerstaatlichen Recht über Art. 35 III EUV hinausgehen und für jedes letztinstanzliche Gericht eine Vorlagepflicht einführen kann. 243 Deutschland hat von dieser Möglichkeit ebenfalls Gebrauch gemacht und eine entsprechende Vorlagepflicht der letztinstanzlichen Gerichte begründet. 244 Umstritten ist indes die Wirkung von Vorabentscheidungen in den Mitgliedstaaten, die sich nicht der Gerichtsbarkeit des EuGH unterworfen haben. Die herrschende Ansicht vertritt, dass Urteile, welche die Ungültigkeit von Unionsrechtsakten feststellen, nur einheitlich für alle Unionsstaaten, also mit Erga237 VgI. Art. 35 II EUV; diese Technik ist keineswegs neu, sondern wurde von den Mitgliedstaaten bereits in der Vergangenheit genutzt, wenn bestimmte Abkommen mit NichtMitgliedstaaten geschlossen wurden, vgI. z. B. Art. 2 Protokoll 34 EEA, wonach die EFfAStaaten eine ähnliche Zuständigkeitserklärung abgeben konnten. Dies ist jedoch nie geschehen, vgI. hierzu Christiansen, ELR 22 (1997), 539 (543). Andere Autoren weisen auf die Ähnlichkeit von Art. 35 EUV zu der entsprechenden Formulierung im Auslegungsprotokoll zur Europol-Konvention hin, vgI. Blumann, RTD eur. 33 (1997),721 (747); den Boer, MJ 4 (1998), 310 (315); Labayle, RTD eur. 33 (1997),815 (847). Kritisch zu Art. 34 II und III EUV Albors-Llorens, CMLRev. 35 (1998), 1273 (1281 f.); Monar, ELR 23 (1998),320 (331). 238 VgI. Art. 35 III lit. a) EUV. 239 Vgl. Art. 35 III lit. b) EUV. 240 Ebenso wie Belgien, Finnland, Griechenland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Portugal und Schweden, vgI. ABI. C 120 vorn 1.5.1999, 24. 241 Vgl. das Gesetz betreffend die Anrufung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens auf dem Gebiet der polizeilichen Zusammenarbeit in Strafsachen und der justitiellen Zusammenarbeit nach Artikel 35 des EU-Vertrages vorn 6.8.1998 (EuGH-Gesetz), BGBI. 1998 I, 2035. 242 So Albors-Llorens, CMLRev. 35 (1998),1273 (1280); Dörr/Mager, AöR 125 (2000), 386 (409); Fennelly, in: den Boer, Flexibility and Legitimacy, S. 69 (77); Harings, EuRBeiheft 2/1998, 81 (92); Pechstein, EuR 1999, 1 (21); ders./König, Europäische Union, Rn. 390; a. A. Thun-Hohenstein, Amsterdam, S. 47 f., sowie Müller-Graff, integration 1997,271 (281), der einen "Redaktions fehler" vermutet. 243 Erklärung zu Art. K.7 des Vertrags über die Europäische Union, ABI. C 340, 133 (1997), BGBI. 199811,387,445. 244 VgI. § 111 EuGH-Gesetz; hierzu auch BGH, NJW 1999,3134 (3135).
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omnes- Wirkung, ergehen, und zwar unabhängig von der Abgabe einer die Zuständigkeit des EuGH begründenden Erklärung. 245 Gleiches müsse, wenngleich in eingeschränkter Form,246 auch für Auslegungsurteile des Gerichtshofs gelten, das heißt, dass auch die Staaten an die vom EuGH vorgenommene Auslegung des Sekundärrechts gebunden sind, die keine Zuständigkeitserklärung abgegeben haben. 247 Insgesamt muss daher festgestellt werden, dass der Amsterdamer Vertrag zwar eine erhebliche und fortschrittliche Ausweitung der Kompetenzen des EuGH geschaffen hat, von einem "umfassenden Rechtsschutzsystem" ,248 wie im Rahmen des Gemeinschaftsrechts, kann jedoch noch nicht gesprochen werden. Dazu fehlt es an der Möglichkeit, über die Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren zu einer einheitlichen Auslegung des sekundären Unionsrechts beitragen zu können. 249 Aufgrund der vielfältigen Restriktionen bei der A-la-carte-Zuständigkeit des Gerichtshofs und der fraglichen Reichweite und Bindungswirkung seiner Entscheidungen für die sich unterwerfenden Mitgliedstaaten besteht vielmehr das Risiko einer uneinheitlichen Rechtssprechung?50 Daher kann auch die Förderung des Individualrechtsschutzes durch das Vorabentscheidungsverfahren in den Mitgliedstaaten stark variieren und Einzelne in verschiedenen Teilen der Union ein unterschiedliches Rechtsschutzniveau genießen. 251 Des Weiteren ist zu bemängeln, dass trotz des ausdrücklichen Verweises in Art. 46lit. b) EUV die Bestimmungen des Titels VI EUV selbst nichtjustitiabel sind. 252 Gegenstand der gerichtlichen Kontrolle können nur die Sekundärrechtsakte sein, wenngleich sich hier die Möglichkeit einer inzidenten Interpretation auch des Primärrechts bietet. 253 Hinsichtlich der demokratischen Legitimation der 245 So Claasen, EuR-Beiheft 1/1999,73 (86); Pechstein, EuR 1999, 1 (21 f.); ThunHohenstein, Amsterdam, S. 47; a. A. Albors-Llorens, CMLRev. 35 (1998), 1273 (1281); Dörr/Mager, AöR 125 (2000), 386 (410); Röben, in: GrabitzlHilf, Recht der Europäischen Union, Bd. I, Art. 34 EUV Rn. 18; zur Erga-omnes-Wirkung von Ungültigkeitserklärungen im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren siehe auch König/Sander, EG-Prozessrecht, Rn. 499. 246 Vgl. König/Sander, EG-Prozessrecht, Rn. 499. 247 Pechstein, EuR 1999, 1 (22). 248 EuGH, Les Verts, Slg. 1986, l339. 249 Hierzu Albors-Llorens, CMLRev. 35 (1998), 1273 (1280 ff.). 250 Vgl. Albors-Llorens, CMLRev. 35 (1998), 1273 (1282); Dörr/Mager, AöR 125 (2000),386 (411); Monar, ELR 23 (1998), 320 (331 f.). 251 Dörr/Mager, AöR 125 (2000), 386 (411 f.). 252 So Albors-Llorens, CMLRev. 35 (1998), 1273 (1279); DörrlMager, AöR 125 (2000), 386 (412); Fennelly, in: den Boer, Flexibility and Legitimacy, S. 69 (77), Thun-Hohenstein, Amsterdam, S. 46, der auch auf die Ausnahme von dieser Regel nach Art. 40 IV 2 EUV hinweist. 253 So Dörr/Mager, AöR 125 (2000), 386 (412) m. w. N. in Fn. 104; Fennelly, in: den Boer, Flexibility and Legitimacy, S. 69 (77); vgl. auch Müller-Graff, integration 1997,271
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Teil 1, 3. Kap.: Rechtsstellung des Einzelnen bei internationaler Rechtshilfe
intergouvernementalen Zusammenarbeit ist weiter zu bemängeln, dass das Europäische Parlament in keinem der Verfahren nach Art. 35 EUV klagebefugt ist. 254 Auch dies entspricht zunächst dem Prinzip der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit, ist jedoch nicht zwingend, wie die Beteiligung der Kommission zeigt, und hätte mit der Vertragsrevision auf der Regierungskonferenz von Nizza geändert werden können. 255 Schließlich bleibt noch eine wichtige Frage offen und ungeklärt, namentlich das Verhältnis von Art. 35 I zu Art. 35 VII EUV, in denen es um die Anwendung der angenommenen Rechtsakte, also um die entsprechenden innerstaatlichen Maßnahmen der Polizei- und Strafverfolgungsbehörden geht. 256 Wie entscheidet der EuGH in Fällen, in denen es um die Frage geht, ob eine mitgliedstaatliche Maßnahme den Zielen des Art. 35 V EUV dient? Nach welchen Maßstäben lässt sich eine solche mitgliedstaatliche Behauptung bewerten und gegebenenfalls abwenden ?257
D. Ergebnis Als Ergebnis dieses 3. Kapitels zur Rechtsstellung des Einzelnen im Bereich der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen lässt sich zunächst festhalten, dass die entsprechenden Ausführungsmaßnahmen dieser Form der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit die Interessen des Einzelnen umfangreich beschränken können. Daher war die Frage zu beantworten, ob einerseits die im 2. Kapitel ermittelten individualrechtsschützenden Normen der Rechtsgrundlagen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen und andererseits die Menschenrechte der Völkerrechtsordnung dem Einzelnen subjektive Rechte vermitteln, die er entsprechenden staatlichen Eingriffen entgegenhalten kann. Nicht zu vergessen ist die im klassischen Rechtshilferecht über Jahre bestimmende Rechtsauffassung, dass der Einzelne den zwischenstaatlichen Kooperationsmaßnahmen keine eigenen Rechte entgegenhalten konnte, sondern vielmehr bloßes "Objekt" dieser Zusammenarbeit sei. Parallel zu den Entwicklungen im allgemeinen Völkerrecht setzte sich hier nach und nach eine dreidimensionale Sichtweise durch, welche den Ein(281), welcher in der Möglichkeit einer impliziten Überprüfung der Vertragsbestimmungen über die Auslegung im Rahmen des Nichtigkeitsverfahrens gemäß Art. 35 VI EUV eine Kompensation des (ihn) nicht überzeugenden Ausschlusses der Justitiabilität des Primärrechts sieht. 254 Kritisch hierzu Albors-Llorens, CMLRev. 35 (1998), 1273 (1282). m Vgl. hierzu die Vorschläge zur Reform des Gerichtssystems im Reflexionspapier des Präsidenten des Gerichtshof, EuGRZ 2000, 101 ff., und das Papier "Beitrag des Gerichtshofes und des Gerichts zur Regierungskonferenz" vom 25.2.2000, . 256 Vgl. hierzu Pechstein, EuR 1999, 1 (23 ff.). 257 Vgl. etwa das Beispiel von Pechstein/König, Europäische Union, S. 200 Rn. 390; kritisch auch Müller-Graff, integration 1997, 271 (281).
D. Ergebnis
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zeInen als "Subjekt" im Rahmen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit anerkannte. Zweifelhaft war indes, ob und inwieweit diese Subjektstellung des Einzelnen auch durch echte subjektive Rechte gewährleistet wurde. Daher war im Folgenden zunächst abstrakt abzugrenzen zwischen bloßen Rechtsreflexen, welche den Einzelnen nur mittelbar über seinen Heimatstaat berechtigen, und unmittelbaren echten subjektiven Rechten, die der Verfolgte unabhängig von staatlicher Unterstützung entweder in internationalen oder aber in innerstaatlichen Verfahren geltend machen kann. Dies führte zu der Feststellung, dass dem Einzelnen aufgrund der weitreichenden Internationalisierung des Menschenrechtsschutzes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehende völkergewohnheitsrechtliche und vertragliche Rechte zuteil wurden, insbesondere eben Menschenrechte der Völkerrechtsordnung. Jedoch gilt es auch für diese völkerrechtlichen Normen zu differenzieren, ob und inwieweit der Einzelne - sei es völkerrechtlich als auch innerstaatlich - berechtigt wird. Infolgedessen ist am Beispiel der innerstaatlichen Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland ausführlich untersucht worden, welche Voraussetzungen menschenrechtliche Normen erfüllen müssen, um dem Einzelnen durchsetzbare Rechte zu verleihen. Diese Untersuchung hat ergeben, dass die Menschenrechte der Völkerrechtsordnung dem Einzelnen sowohl auf völkerrechtlicher als auch auf innerstaatlicher Ebene grundsätzlich subjektiv-öffentliche Rechte einräumen, die die Staaten sowohl völkerrechtlich als auch innerstaatlich verpflichten und die prozessual auf den jeweils vorgesehenen Wegen vom betroffenen Individuum durchgesetzt werden können. Für die in den Rechtsgrundlagen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen enthaltenen individualrechtsschützenden Normen musste indes die Feststellung getroffen werden, dass es sich dabei regelmäßig um Rechtsreflexe handelt, deren Durchsetzung im ausdrücklichen Ermessen der Staaten liegt und den Einzelnen daher auch nicht dem Aufenthaltsstaat oder anderen Staaten gegenüber berechtigen. Auch die in Verträgen jüngeren Datum häufiger anzutreffenden Verweise auf internationale Menschenrechtsstandards räumen dem Einzelnen keine eigenen, subjektiven Rechte ein. Vielmehr handelt es sich dabei um bloße (deklaratorische) Verweise oder zwischenstaatliche Zielvorgaben, mittels welcher die Bedeutung der Menschenrechte für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen herausgestellt werden soll. Insbesondere lassen sich aus den Regelungen in den Übereinkommen aufgrund des regelmäßig fakultativen Charakters der Bestimmungen keine völkerrechtliche Pflicht zur Beachtung der Menschenrechte ableiten. Bedeutung könnten diese Verweise indes für die hoch umstrittene und erst im folgenden zweiten Teil umfassend zu untersuchende Problematik des Normenkonfliktes zwischen den völkerrechtlichen Rechtsgrundlagen der Zusammenarbeit und den völkerrechtlichen Verpflichtungen zum Schutz der Menschenrechte erlangen. Da ein effektiver Schutz der Rechte des Einzelnen auch die Möglichkeit der prozessualen Durchsetzung voraussetzt, wurde schließlich untersucht, ob und inwieweit dem Einzelnen bestimmte Rechtsschutzmechanismen gegen Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe zur Verfügung stehen. Dies hat zu dem Ergebnis ge-
270
Teil!, 3. Kap.: Rechtsstellung des Einzelnen bei internationaler Rechtshilfe
führt, dass von einigen, speziell der innerstaatlichen Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland eigenen Zuständigkeitsproblemen abgesehen, prozessualer Rechtsschutz grundsätzlich gewährleistet ist. Unklar und hoch umstritten ist indes, ob und in welchem Umfang der von Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen betroffene Einzelne materielle Rechte geltend machen kann. Insbesondere würdigen die Rechtsgrundlagen der Zusammenarbeit die Rechtsstellung des Einzelnen nur in unbefriedigender Art und Weise. So stehen innerstaatliche subjektive Rechte unter dem Vorbehalt der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Staaten. 258 Die völkerrechtlichen Grundlagen der Zusammenarbeit weisen zwar eine Tendenz der zunehmenden Würdigung der Individualrechtspositionen der Betroffenen auf, stellen die Beachtung dieser Rechte aber weitgehend in das freie Ermessen der kooperierenden Staaten. Echte subjektive Rechte erwachsen dem Einzelnen nur in den seltensten Fällen. Vielmehr begnügen sich die Rechtsgrundlagenjüngeren Datums - insbesondere im Rahmen der Europäischen Union - mit dem allgemeinen Verweis auf die EMRK, ohne dass entsprechende Ordre-publicKlauseln selbst zur Einschränkung der vertraglichen Verpflichtungen aufgenommen wären. Daher ist in dem folgenden 2. Teil zu untersuchen, inwieweit die kooperierenden Staaten durch sonstige völker-, europa- oder verfassungsrechtliche Regelungen zur Einhaltung eines angemessenen Menschenrechtsschutzes verpflichtet sind. Die Effektivität und der Umfang des Individualrechtsschutzes hängt folglich nach wie vor von der beschränkenden Wirkung völkerrechtlicher und innerstaatlicher Individualrechtspositionen ab. Diese herauszuarbeiten, ist das spezifische Anliegen des folgenden 2. Teils.
258
Vgl. etwa § 8 IRG i. V. m. § 1 III IRG.
Teil 2
Menschenrechte als Schranken der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen Zentrales Anliegen dieses zweiten Teiles ist die Suche nach den aus den Menschenrechten der Völkerrechtsordnung fließenden Grenzen des internationalen Rechtshilfeverkehrs. Angesprochen sind hiermit die internationalen Menschenrechte der verschiedenen Menschenrechtskonventionen und des Völkergewohnheitsrechts. Wenn völkerrechtliche Menschenrechte als Schranken der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen wirken, geht es nicht nur um die Begrenzung der völkerrechtlichen Vertrags freiheit der Staaten, sondern vor allem um einen Mechanismus der indirekten Durchsetzung und Umsetzung menschenrechtlicher Standards durch nationale Organe. Diese innerstaatliche Schutzfunktion der Menschenrechte steht aufgrund der überkommenen Auffassung, dass sich aus völkerrechtlichen Normen grundSätzlich keine subjektiven Rechte des Einzelnen ableiten lassen, vielfach im Abseits der Diskussion um die völkerrechtlichen Grenzen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen. Jedoch gewinnt die nationale Komponente des Menschenrechtsschutzes gegenüber fremden Völkerrechtssubjekten und deren Hoheitsansprüchen zunehmend an Bedeutung. Im Gegensatz zur direkten Durchsetzung von Menschenrechten mittels völkerrechtlicher Beschwerdeverfahren verwirklicht sich der Menschenrechtsschutz auf der innerstaatlichen Ebene dadurch, dass die völkergewohnheitsrechtlichen, aber auch die völkervertraglichen Garantien die Beurteilung von Rechtsakten oder Hoheitsakten fremder Völkerrechtssubjekte mitprägen. Die Menschenrechte wirken in diesem Bereich als Kern eines sich immer näher konkretisierenden internationalen ordre public. 1 Obgleich inzwischen allgemein anerkannt ist, dass Menschenrechte grundsätzlich geeignet sind, den internationalen Rechtshilfeverkehr der Staaten zu beschränken, besteht nur wenig Klarheit darüber, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang dies geschehen kann. Inwieweit die Menschenrechte die Behörden und Gerichte eines Staates dazu verpflichten, menschenrechtswidrige Gesetzgebungs- oder Exekutivakte im Bereich des Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehrs zu unterlassen bzw. die Anerkennung zu versagen, soll im folgenden zweiten Teil herausgearbeitet werden. Es geht folglich allein um völkerrechtliche Schranken des internationalen Rechtshilfeverkehrs, die sich jenseits der den völI
Herdegen, in: Neuntes deutsch-polnisches Kolloquium (1992), 175.
272
Teil 2, 4. Kap.: Prinzipielle Anwendbarkeit der Menschenrechte
kerrechtlichen Rechtshilfeinstrumenten immanenten Schutzklausein finden lassen. Das schließt nicht aus, dass sie den gleichen Gegenstand haben können, wie z. B. ein Auslieferungsverbot bei drohender Todesstrafe. Vielmehr kann hier die Fragestellung aufgegriffen werden, ob und inwieweit die traditionellen Schranken des Rechtshilferechts nicht bereits von internationalen Menschenrechten überlagert oder fortentwickelt wurden und entsprechend obsolet geworden sind. 2 Ziel der folgenden Kapitel ist es daher, die allgemeinen Kriterien und die Probleme der Anwendung von Menschenrechten auf den internationalen Rechtshilfeverkehr in Strafsachen herauszuarbeiten und einer kritischen Würdigung zu unterziehen (4. Kapitel). ImAnschluss sollen dann das Völkergewohnheitsrecht (5. Kapitel) und das Völkervertragsrecht (6. Kapitel) auf einzelne Menschenrechtspositionen untersucht und die Probleme ihrer Anwendbarkeit und Reichweite rechtsquellenspezifisch herausgearbeitet werden. In diesen beiden Kapiteln soll dabei der Versuch unternommen werden, die bestehenden Unsicherheiten und Meinungsunterschiede in Rechtsprechung und Schrifttum bezüglich der Reichweite der völkerrechtlichen Menschenrechtsgarantien zu reduzieren und neue Ansätze für die Lösung der Kernprobleme zu finden.
Viertes Kapitel
Prinzipielle Anwendbarkeit der Menschenrechte auf die internationale Rechtshilfe in Strafsachen Weder in der Literatur noch in der Rechtsprechung wird bestritten, dass bestimmte Menschenrechte der VÖlkerrechtsordnung auf den internationalen Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehr Anwendung finden können. Jedoch bestehen erhebliche Meinungsunterschiede darüber, welche Menschenrechte des Völkerrechts konkret Anwendung finden und in welchem Umfang sie im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen zu gewähren sind. Diese Meinungsunterschiede bestehen vor allem im Bereich des vertrags gebundenen internationalen Rechtshilfeverkehrs, in welchem die Staaten nicht nur zum Schutz der Menschenrechte, sondern aufgrund des zwischenstaatlichen Vertrages auch zur Vornahme konkreter Rechtshilfemaßnahmen völkerrechtlich verpflichtet sind. 2 Hierzu die umfangreiche Diskussion dieser Problematik in den einzelnen Beiträgen bei EseriLagodny, Principles and Procedures for a New Transnational Criminal Law, (Inter-) National Human Rights as the "Third Dimension" in International Criminal Law, S. 489-709; Hailbronner/Olbrich, AVR 24 (1986), 434 ff.; Entschließungen des xv. Internationalen Strafrechtskongresses, Die Regionalisierung des Internationalen Strafrechts und der Schutz der Menschenrechte bei der Internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen, abgedruckt in ZStW 108 (1996), 689 (711 ff.).
A. BeglÜndungen grundsätzlicher Anwendbarkeit in der Rechtsprechung
273
Dieser Normenkonflikt stellt eines der Hauptprobleme des Individualrechtsschutzes bei der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen dar. Im Folgenden soll daher zunächst ein Überblick über die verschiedenen Begründungen in der Rechtsprechung (A) und im Schrifttum (B) für die Anwendbarkeit der Menschenrechte auf die internationale Rechtshilfe in Strafsachen gegeben werden, um die unterschiedlichen dogmatischen Begründungsansätze voneinander abzugrenzen und die umstrittenen Kriterien der Anwendbarkeit herausarbeiten und zusammenfassen zu können (C). Dieses Vorgehen zielt darauf ab, die umstrittenen Kriterien der Anwendbarkeit und Reichweite der Menschenrechte im 5. und 6. Kapitel rechtsquellenspezifisch untersuchen zu können.
A. Begründungen der grundsätzlichen Anwendbarkeit in der Rechtsprechung Im Folgenden soll zunächst die Rechtsprechung internationaler Gerichtsinstanzen und Spruchkörper und sodann der nationalen Gerichte der Bundesrepublik Deutschland sowie anderer europäischer und nordamerikanischer Staaten auf die Frage der Anwendbarkeit von Menschenrechten bei der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen untersucht werden. Bei den internationalen Gerichten ist grundSätzlich zwischen solchen Institutionen zu unterscheiden, die eigens zum Schutz der Menschenrechte geschaffen wurden 3 und solchen, die der Streitschlichtung zwischen Staaten bzw. dem Schutz und der Wahrung einer internationalen bzw. supranationalen Rechtsordnung4 dienen. In diesem Rahmen ist kurz auf die Rechtsprechung der internationalen Kriegsverbrechertribunale einzugehen, die im Gegensatz zu den herkömmlichen Menschenrechtsgerichtshöfen über die völkerrechtliche Verantwortlichkeit von Individuen und nicht von Staaten für Menschenrechtsverletzungen entscheiden. Ebenso ist auf die Rechtsprechung des EuGH im Rahmen eines kurzen Exkurses einzugehen, auch wenn der EuGH in erster Linie für die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und der Anwendung von Gemein3 So der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zum Schutz der Rechte aus der EMRK, der Ausschuss für Menschenrechte der Vereinten Nationen (UN-AMR) zum Schutz der Rechte aus dem IPbpR sowie der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) zum Schutz der Menschenrechte mit den Mitteln des Völkerstrafrechts. Aufgrund seiner eingeschänkten Bedeutung für den internationalen Rechtshilfeverkehr der europäischen Staaten soll die Rechtsprechung des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes keiner vertieften Untersuchung unterzogen werden; festgehalten werden kann an dieser Stelle aber, dass er sich für grundsätzlich zuständig hält, die Auslieferungsbeziehungen der Vertragsstaaten auf ihre Konformität mit den Menschenrechten der AMRK hin zu untersuchen; vgl. nur Advisory Opinion 0/ the lnter-American Court 0/ Human Rights. No. oe - 1/82 vom 24.9.1982, zitiert bei Gilbert, Extradition Law, S. 79. 4 So der Internationale Gerichtshof (IGH) und der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH).
18 Ziegenhahn
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Teil 2. 4. Kap.: Prinzipielle Anwendbarkeit der Menschenrechte
schaftsrecht zuständig ist. Jedoch nimmt er in dieser Funktion auch die Wahrung der Grundrechte und Grundfreiheiten wahr. I. Internationale Gerichtsinstanzen und Spruchkörper
1. Der Europäische Gerichtshoffür Menschenrechte
Die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) wurden bis zum Inkrafttreten des 11. ZP-EMRK und der damit verbundenen Neustrukturierung der Beschwerdemechanismen der EMRK von der Europäischen Kommission für Menschenrechte (EKMR) des Europarats vorbereitet. 5 Letztere vertrat bereits seit den 60er Jahren in ständiger Entscheidungspraxis. dass eine Ausweisung oder Auslieferung Anlass zu einer Überprüfung nach Art. 3 der Konvention geben könne. wenn ernste Anhaltspunkte dafür vorliegen. dass das betroffene Individuum in dem ihn aufnehmenden Staat einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wird. 6 Zwar gehören die Auslieferung und die Ausweisung als solche nicht zu den ausdrücklichen Schutzgütern der Konvention. jedoch hätten sich die Vertragsstaaten ihrer Befugnis begeben. frei über den Aufenthalt von Ausländern in ihrem Hoheitsbereich zu bestimmen. 7 In der Praxis kann damit eine Auslieferung eines mutmaßlichen Straftäters in ein Land. in welchem er Folter oder unmenschlicher und erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden könnte. einen Verstoß S Zum Beschwerdeverfahren vor der Europäischen Komntission bis zum Inkrafttreten des 11. ZP-EMRK siehe statt vieler FroweiniPeukert. EMRK. Art. 25 ff.; Murswiek. JuS 1986. 175 ff.; Rogge. EuGRZ 1996.341 ff.; Stackelberg. Verfahren der deutschen Verfassungsbeschwerde und der europäischen Menschenrechtsbeschwerde. 1988. 6 Vgl. EKMR. Nazih-al-Kuzbari v. Deutschland. E 1802/62 vom 26.3.1963. YB 6 (1963).462 (480) - Auslieferung an die Türkei; X v. Österreich. E 2143/64 vom 30.6.1964. YB 7 (1964). 315 (329 ff.) - Auslieferung an Jugoslawien; Amekrane v. Vereinigtes Königreich. E 5961/72 vom 11.10.1973. YB 16 (1973). 357 (389) - Auslieferung von Gibra1tar an Marokko und Vollzug einer Todesstrafe; Brückmann v. Deutschland. E 6242/73 vom 27.5.1974. YB 17 (1974). 458 (478) - Zulieferung an die DDR; Lynas v. Schweiz. E 7317/75 vom 6.10.1976. DR 6. 141 (152) - Auslieferung an die USA; Altun v. Deutschland. E 10308/83 vom 3.5.1983. DR 36. 209 (219). Kirkwood v. Vereinigtes Königreich. E 10479/83 vom 12.3.1984. DR 37. 158 (182ff.) - Auslieferung an die USA bei drohender Todesstrafe; Memis v. Deutschland. E 10499/83 vom 15.3.1984. EuGRZ 1986. 324; EKMR. A. B. v. Frankreich. E 11722/85 vom 22.1.1987; Mansi v. Schweden. E 15658/89. DR 46.242; Soering v. Vereinigtes Königreich. E 14038/88 vom 19.1.1989. Series A. No. 161. Ziff. 94 m. w. N.; weitere Nachweise bezüglich der Rechtsprechung in Ausweisungsfällen bei Cremer. Schutz vor Auslandsfolgen. S. 111 Fn. 128.; vgl. auch Breitenmoser/Wilms. Mich. J.Int'l L. 11 (1990).845 (886) Fn. 83; FroweiniPeukert. EMRK. An. 3 Rn. 18 m. w. N. 7 Vgl. E 2143/64. YB 7. 314 (328); E 3898/68, YB 13.666 (672); E 9012/80, DR 24, 205 (211).
A. Begründungen grundsätzlicher Anwendbarkeit in der Rechtsprechung
275
gegen Art. 3 EMRK darstellen. s Diese Auffassung wird auch von dem Ministerkomitee vertreten. 9 Während sich der EGMR zunächst kaum zu der Frage der Anwendbarkeit von Menschenrechten im internationalen Rechtshilfeverkehr hat äußern müssen, 10 hat er mit seinem berühmten Urteil im Soering-Fall ll nicht nur die bisherige Rechtsauffassung der EKMR bestätigt, sondern darüber hinaus auch Kriterien für eine weitreichende Bindung der Konventionsstaaten an die EMRK in Auslieferungssituationen herausgearbeitet. 12 In dieser Entscheidung ging es um den deutschen Staatsangehörigen Jens Soering, der im Verdacht stand, in Virginia die Eltern seiner Freundin getötet zu haben, und nach Großbritannien geflohen war. Die USA stellte einen Antrag auf Auslieferung, dem Großbritannien aufgrund des bestehenden Auslieferungsvertrages auch stattgab. Gegen diese Entscheidung legte Soering erfolgreich Beschwerde bei der Menschenrechtskommission ein, 13 welche den Gerichtshof zur endgültigen Entscheidung anrief. Der EGMR nahm die Beschwerde S "La Comrnission tient asouligner que dans sa jurisprudence anterieure elle a reconnu que I' extradition d'une personne peut, dans des cas exceptionnels, poser un probleme sur le terrain de I' article 3 de la Convention lorsque I' extradition est envisagee vers un pays ou, en raison de la nature meme du regime de ce pays ou de la situation particuliere qui y regne, des droits humaines fondamentaux, tels que ceux qui sont garantis par la Convention, pourraient etre soit grossierement violes, soit entierement supprimes (X. v. Republique Federale d' Allernagne, requete No 1802/62, Annuaire 6 pp. 463-481, Altun v. Republique Federale d' Allernagne, requete No 10308/83, dec. 3.5.83, D.R. 36 p. 209, Kirkwood v. Royaume-Uni, requete No 10479/83, D.R. 37 p. 158)", so EKMR, A. B. v. Frankreich, E 11722/85 vom 22.1.1987. 9 V gl. Committee of Ministers, Res. DH (80) 9 vom 27.6.1980 "Concerning Extradition to States not Party to the European Convention on Human Rights"; siehe auch in Reaktion auf das Soering-Urteil des EGMR Committee ofMinisters, Res. DH (90) 8 vom 12.3.1990. HRCD, Vol. I, 52-54. \0 Vgl. aber zur der vorangegangenen Rechtsprechung des EGMR, X v. Österreich und Jugoslawien. Entscheidung vom 30.6.1964; X v. Niederlande, Entscheidung vom 13.12.1965; Bozano v. Frankreich, Urteil vom 18.12.1986, Series A, No. 111 =EuGRZ 1987,101; EKMR, S v. Frankreich, E 10965/84 vom 6.7.1988; Cavallo v. Frankreich, E 11985/86 vom 6.3.1989. 11 EGMR, Soering v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 7.7.1989, Series A, No. 161 = EuGRZ 1989, 314 = NJW 1990,2183 mit Anmerkung Lagodny. 12 Speziell zu dieser Entscheidung vor allem Blumenwitz, EuGRZ 1989, 326 ff.; Breitenmoser/Wilms, Mich. 1. Int'l L. 11 (1990), 845 ff.; DugardIVan den Wyngaert, AJIL 92 (1998), 187 ff.; Labayle, JCP 1990, 3452 ff.; Lagodny, NJW 1990, 2189 ff.; Lillich, AJIL 85 (1991),128 ff.; Shea, Yale 1. Int'l L. 17 (1992), 85 ff.; Sheleff, Israel Law Review 27 (1993), 3IOff.; Sudre, RGDIP 1990, 103 ff.; van den Wyngaert, ICLQ 39 (1990), 757 ff.; van der Wilt, NILR 1995,53 ff.; Vogler, in: FS Meyer (1990), 477 ff.; ders., NJW 1994, 1433 ff.; Warbrick, Mich. 1.In1'l L. 11 (1990), 1073 ff.; ZühlkeiPastille, ZaöRV 59 (1999), 749 ff. 13 Vor dem Inkrafttreten des 11. ZP-EMRK im Jahre 1998 bedurfte es gemäß Art. 25 I 1 EMRK a. F. regelmäßig zunächst einer Beschwerde bei der Menschenrechtskomrnission; erst wenn die EKMR die Beschwerde für zulässig und begründet hielt, konnte sie oder der Heimatstaat des Beschwerdeführers gemäß Art. 48 Klage vor dem EGMR erheben.
IS'
276
Teil 2, 4. Kap.: Prinzipielle Anwendbarkeit der Menschenrechte
zur Entscheidung an und erklärte die geplante Auslieferung von Soering durch Großbritannien an die USA für unvereinbar mit der EMRK, da dem Beschwerdeführer bei einer Verurteilung zur Todesstrafe in den USA ein jahrelanges Warten in der Todeszelle drohe und hierin eine unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu sehen sei. 14 Dieses Urteil hat nicht allein aufgrund seines Ergebnisses, sondern vor allem wegen der vom Gerichtshof herausgearbeiteten Prinzipien eine grundlegende und bahnbrechende Bedeutung für den Menschenrechtsschutz in den Mitgliedstaaten des Europarats im Allgemeinen und dessen Auswirkungen auf die internationale Zusammenarbeit in Strafsachen im Speziellen erlangt. Bahnbrechend war diese Entscheidung vor allem deshalb, weil sie die völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Konventionsstaaten auch für Menschenrechtsverletzungen begründete, die außerhalb ihres eigenen Hoheitsbereiches von Nicht-Konventionsstaaten verursacht werden und somit die mittelbare territoriale Anwendbarkeit der Konvention maßgeblich erweitert hat. 15 Diese scheinbare Anwendung eines "europäischen Standards" bei der Beurteilung der menschenrechtlichen Situation in den Gefängnissen der USA, für welche die EMRK keine völkerrechtliche Verbindlichkeit entfalten kann, hat jedoch auch zu massiver Kritik in Politik und Wissenschaft geführt. 16 Auch dass der Gerichtshof der Verpflichtung Großbritanniens zum Schutz der Menschenrechte des auszuliefernden Jens Soering Vorrang vor der völkerrechtlichen Auslieferungsverpflichtung einräumte, 17 hat der in Wissenschaft und Rechtsprechung so umstrittenen Frage nach dem Vorrang zwischenstaatlicher Auslieferungs- und Rechtshilfeverpflichtungen vor den Indi vidualrechten der Verfolgten neuen Auftrieb gegeben. 18 Schließlich leitete diese Entscheidung des 14 Kritisch zu dieser Interpretation von Art. 3 EMRK Giegerich, EuGRZ 1995, I (4); im Einzelnen zu den verschiedenen Aspekten des Soering-Urteils des EGMR auch unten 6. Kapitel, S. 406 ff., 409 ff., 444 ff., 465 ff. I~ SO betonte der Gerichtshof, dass die Verantwortlichkeit eines zur Auslieferung ersuchten Staates auch Beeinträchtigungen umfasse, die außerhalb seines Hoheitsbereiches eintreten und die er durch schlichtes Nichtausliefern verhindern kann. 16 Zwar hätte der EGMR auf das Verbot der .. unmenschlichen Behandlung" in der amerikanischen Verfassung oder dem für die USA verbindlichen Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) zurückgreifen können, jedoch ist er ratione materiae nur für die Prüfung einer Verletzung von Rechten der EMRK zuständig; vgl. aber kritisch Häde, Der Staat 36 (1997), I (24). 17 Ablehnend gegenüber einer solchen Interpretation der Soering-Entscheidung des EGMR indes BreitenmoserlWilms, Mich. J.Int'l L. 11 (1990), 845 (878). 18 Auch hier stellt sich die Frage, ob der EGMR der völkerrechtlichen Verpflichtung zur Auslieferung überhaupt einen Vorrang hätte einräumen können. Interessanter aber ist noch, ob diese Entscheidung auch nach allgemeinen völkerrechtlichen Kriterien Bestand haben kann, oder ob sie einen Verstoß gegen die vertragsrechtliche Verpflichtung aus dem Auslieferungsvertrag darstellt. Es ist an späterer Stelle daher zu klären, wie sich diese durch den EGMR vorgenommene Auflösung des klassischen Konfliktes unter Rückgriff auf die Grundsätze des allgemeinen Völkerrechts dogmatisch erklären lässt, vgl. hierzu unten 6. Kapitel, S. 493 ff.
A. Begründungen grundsätzlicher Anwendbarkeit in der Rechtsprechung
277
EGMR eine Weiterentwicklung der ständigen Rechtsprechung der Korrunission für Menschenrechte ein, indem erstmals auch die Eignung anderer Konventionsrechte zur Beschränkung des internationalen Rechtshilfeverkehrs bestätigt wurde. So schloss der EGMR neben der Anwendbarkeit von Art. 3 EGMR die grundsätzliche Möglichkeit einer Verletzung von Art. 6 EMRK durch Auslieferungsentscheidungen nicht aus. 19 In späteren Entscheidungen zu Ausweisungen von Ausländern rekurrierte der EGMR regelmäßig auf die Soering-Rechtsprechung und erweiterte den Rahmen der anwendbaren Menschenrechtsgarantien auf Art. 8 EMRK, welcher das Recht auf die Achtung des Privat- und Familienlebens garantiert,20 und auf Art. 5 EMRK. 21 Somit lässt sich festhalten, dass insbesondere seit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Soering feststeht, dass einzelne Garantien der EMRK den Auslieferungs- und Rechthilfeverkehr der Mitgliedstaaten beschränken können, und zwar unabhängig davon, ob die unmittelbare Verletzung von einem Konventionsstaat oder einem Nicht-Konventionsstaat verursacht wird und ob eine völkerrechtliche Verpflichtung zur Rechtshilfe existiert oder nicht. 2. Der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen Eine der ersten Entscheidungen des Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen (UN-AMR) zur Zulässigkeit von Rechtshilfemaßnahmen nach dem IPbpR ist der Fall Mbenge v. Zaire 22 aus dem Jahr 1983. Hierbei ging es um die völkerrechtlichen Anforderungen an Abwesenheitsurteile, welche nach Auffassung des UN-AMR nicht gegen den völkerrechtlichen Mindeststandard an Verfahrensrechten verstoßen, wenn der Betroffene von dem gegen ihn anhängigen Verfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, sich ihm durch Flucht entzogen hat und im Verfahren von einem ordnungsgemäß bestellten Pflichtverteidiger unter Beachtung rechtsstaatlicher Mindestanforderungen verteidigt wurde. 23 Im Gegenschluss 19 Vgl. EGMR, Soering v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 7.7.1989, Series A, No. 161, Ziff. 113; hierzu auch BreitenmoserlWilms, Mich. J.Int'l L. ll (1990),845 (883 f.), die das Soering-Urteil dahingehend interpretieren, dass grundsätzlich alle Konventionsgarantien die Auslieferung beschränken können. 20 V gl. EGMR, Djeroud v. Frankreich, Urteil vom 23.1.1991, Series A, No. 191-B EuGRZ 1993, 551; Cruz Varas v. Schweden, Urteil vom 20.3.1991, Series A, No. 201 = EuGRZ 1991, 203; Chahal v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 15.11.1996, Reports 1996-V, 1831 ff. 21 V gl. nur das Urteil des EGMR, Chahal v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 15.11.1996, Reports 1996-V, 1831, § 132; hierzu auch NiestedtfZiegenhahn, GYIL 40 (1997), 514 (527). 22 Entscheidung des UN-AMR vom 25.3.1983, EuGRZ 1983,406 f. 23 Diese Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen, vgl. nur BVerfG, Urteil vom 10.6.1988, in: Eser/LagodnylWilkitzki, U 167, S. 567 (573).
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Teil 2, 4. Kap.: Prinzipielle Anwendbarkeit der Menschenrechte
stellen Auslieferungen, denen nicht die genannten Bedingungen zugrunde liegen, einen Verstoß gegen den verfahrens rechtlichen Mindeststandard an Menschenrechten dar. Im Fall Kindler v. Canada 24 aus dem Jahre 1993 ging es um die Auslieferung eines sich in Kanada befindlichen Straftäters an die USA, wo er zum Tode verurteilt worden war. Die Menschenrechtskommission entschied, dass die Auslieferung des Verfolgten an die USA bei drohender Todesstrafe nicht gegen Art. 6 IPbpR25 verstoßen habe, da diese Vorschrift nicht die absolute Todesstrafe verbiete. 26 Insoweit lässt sich diese Entscheidung mit der oben dargestellten SoeringEntscheidung vergleichen, in welcher der EGMR ebenfalls nicht einen Verstoß gegen Art. 2 EMRK feststellen konnte, weil mangels entsprechender Ratifikation Großbritannien völkerrechtlich nicht an das Verbot der Todesstrafe von Art. 1 des 6. Zusatzprotokolls der EMRK gebunden war. 27 Bedeutsam ist diese Entscheidung aber deshalb, weil die Menschenrechtskommission hier in einem obiter dictum klarstellte, dass nur ein völkerrechtliches Verbot der Todesstrafe Kanada von seiner völkerrechtlichen Verpflichtung zur Auslieferung von Straftätern an die USA hätte befreien können, nicht jedoch das innerstaatliche Verbot der Todesstrafe, welches die Verfassung Kanadas ausdrücklich vorsah. 28 Nur wenige Monate später hatte der UN-AMR in Ng v. Kanada 29 erneut über eine Auslieferung an die USA zur Vollstreckung eines Todesurteils zu entschei24 Entscheidung des UN-AMR vom 30.7.1993, Fall Nr. 470/1991, UN-Doc. N48/40, 1-167 ff., 11-138 = HRU 1993,307 ff.; hierzu kurz Seidel, HB der Menschenrechte, S. 17; vgl. auch das vorangegangene Urteil des kanadischen Obersten Gerichtshofs vom 26.9.1991, ILR 98 (1994), 371 ff.; hierzu Williams, Loyola ofLos Angeles International & Comparative Law Journal 13 (1991), 799 ff. 25 Art. 6 I IPbpR lautet: "Jeder Mensch hat ein angeborenes Recht auf Leben. Dieses Recht ist gesetzlich zu schützen. Niemand darf seines Lebens willkürlich beraubt werden." Artikel 6 11 IPbpR lautet: "In Staaten, in denen die Todesstrafe nicht abgeschafft worden ist, darf ein Todesurteil nur für schwerste Verbrechen auf Grund von Gesetzen verhängt werden, die zur Zeit der Begehung der Tat in Kraft waren und die den Bestimmungen dieses Paktes und der Konvention über die Verhütung und die Bestrafung des Völkermordes nicht widersprechen ... 26 Darüber hinaus seien alle einschränkenden Bedingungen von Art. 6 IPbpR erfüllt gewesen: Kindler hatte ein Schwerstverbrechen begangen, er war zur Tatzeit nicht minderjährig, Grundsätze des fairen Verfahrens waren beachtet worden und Kanada hatte die Auslieferungsentscheidung nicht willkürlich oder nur summarisch getroffen, vgl. UN-AMR, HRU 1993,307 ff., Ziff. 14.1.-14.6. 27 Im Einzelnen hierzu unten 6. Kapitel, S. 405 ff. 28 Entscheidung des UN-AMR vom 30.7.1993, HRU 1993,307 ff., Ziff. 14.5.; zu dieser Frage anschaulich Peters, EuGRZ 1999,650 ff. 29 Entscheidung des UN-AMR vom 5.11.1993, Fall Nr. 469/1991, UN-Doc. N49/40, 11-189 HRU 1994, 149 ff.; hierzu kurz Seidel, HB der Menschenrechte, S. 18; vgl. auch das vorangegangene Urteil des kanadischen Obersten Gerichtshofs vom 26.9.1991, ILR 98 (1994),473 ff.; hierzu Williams, Loyola ofLos Angeles International & Comparative Law Journal 13 (1991),799 ff.
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A. Begründungen grundsätzlicher Anwendbarkeit in der Rechtsprechung
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den. Im Gegensatz zur Entscheidung Kindler v. Canada übernahm die Kommission nunmehr jedoch die Soering-Rechtsprechung des EGMR und entschied, dass Kanada mit der Auslieferung von Ng zwar nicht seine Verpflichtungen aus Art. 6 IPbpR, wohl aber aus Art. 7 IPbpR30 verletzt habe, welcher Folter oder eine grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe verbietet. 31 Der kanadische Oberste Gerichtshof hätte vorhersehen können, dass das in Kalifornien über Ng verhängte Todesurteil in der Gaskammer vollstreckt werden würde. Diese Art der Vollstreckung der Todesstrafe stelle jedoch eine unmenschliche Behandlung im Sinne der Konvention dar. Daher habe Kanada mit der Auslieferung von Ng an die USA gegen Art. 6 IPbpR verstoßen, und zwar trotz der völkerrechtlichen Verpflichtung aus dem Auslieferungsvertrag mit der USA. Folglich teilt der UN-AMR im Grundsatz die jüngere Rechtsprechung des EGMR, wonach die Menschenrechte den internationalen Rechtshilfeverkehr beschränken können, wobei den Menschenrechten der Völkerrechtsordnung, insbesondere des IPbpR, ein Vorrang vor etwaigen völkervertraglichen Verpflichtungen der Staaten zur Auslieferung oder Rechtshilfe eingeräumt wird.
3. Die UN-Kriegsverbrechertribunale und der Internationale Strafgerichts hof Da der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) seine Arbeit noch nicht aufgenommen hat, ist vorliegend auf die Rechtsprechungspraxis der UN-Kriegsverbrechertribunale für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda zurückzugreifen. 32 Die Untersuchung der Praxis dieser noch jungen internationalen Rechtsprechungsorgane dient zwar nur mittelbar der Frage nach den Grenzen der internationalen Rechtshilfe, da die Tribunale nicht über die zwischenstaatliche Zusammenarbeit zu entscheiden haben,33 jedoch müssen sich die Gerichtshöfe mangels eigener 30 Art. 7 S. 1 IPbpR lautet: "Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden." 31 Vgl. jedoch UN-AMR vom 7.4.1989, Pratt & Morgan v. Jamaica, Communications No. 210/1986, 225/1987; UN-Doc. CCPR/C/35/D/21O/1986 und 225/1987, wo die Verletzung von Art. 7 IPbpR bei zu erwartendem 1O-jährigem Aufenthalt in der Todeszelle abgelehnt wurde, wobei der UN-AMR explizit erwähnte, dass eine Verletzung von Art. 7 IPbpR in ähnlich gelagerten Fällen jedoch unter Umständen möglich sei. 32 Die Entscheidungen der beiden UN-Kriegsverbrechertribunale sind vollumfanglich im Internet bereitgestellt, vgl. für das Jugoslawientribunal . und für das Ruandatribunal ; siehe auch die Rechtsprechungsübersicht zum internationalen Straf- und Strafverfahrensrecht von Ambos/Ruegenberg, NStZRR 1998, 161 (167 ff.), 1999, 193 (200 ff.), 2000,193 (198 ff.). 33 Auch bestehen für die UN-Kriegsverbrechertribunale nicht die im Rahmen dieser Arbeit so wesentlichen Pflichtenkollisionen zwischen dem Schutz der Menschenrechte und der völkerrechtlichen Verpflichtung zur Vornahme von grenzüberschreitenden Strafverfolgungsmaßnahmen, da die Kompetenzen des Gerichtshöfe bereits im Rahmen ihrer eigenen
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Teil 2, 4. Kap.: Prinzipielle Anwendbarkeit der Menschenrechte
Durchsetzungsbefugnisse in den Aufenthaltsstaaten der mutmaßlichen Kriegsverbrecher umfassend der klassischen zwischenstaatlichen Kooperationsmechanismen der Rechtshilfe und Auslieferung bedienen, um effektiv strafverfolgend tätig werden zu können. 34 Den völkerstrafrechtlich Verfolgten stehen jedoch ebenso alle internationalen Menschenrechtsgarantien, insbesondere die fundamentalen Freiheits- und Verfahrens rechte zu, wie sie auch die Statute und Verfahrensordnungen der beiden UN-Kriegsverbrechertribunale und das IStGH-Statut vorsehen. 3s Genau auf diesen Zusammenhang zwischen den verfahrensrechtlichen Mindeststandards und der Abhängigkeit des Jugoslawientribunals von der staatlichen Kooperation stellte die Berufungskammer im viel zitierten Tadic-Verfahren ab. 36 In dem Berufungsverfahren machte die Verteidigung von Dusko Tadic die Verletzung des in Art. 21 IV lit. b) ICTY-Statut geregelten Fair-trial-Grundsatzes geltend, da ihr Mandant wegen der mangelnden Kooperation der Republik Srspska und der zivilen Autoritäten in Prijedor nicht in der Lage gewesen sei, sich angemessen zu verteidigen. 37 Die gemeinsame Berufungskammer der Ad-hoc-Tribunale entschied indes, dass gerade aufgrund der Abhängigkeit des Gerichtshofs von der staatlichen Kooperation und des Fehlens von Durchsetzungsmechanismen der von der F air-trial-Garantie umfasste Grundsatz der Waffengleichheit in einer weniger strengen Weise zu verstehen sei, und zwar dahingehend, dass von einem Gericht nur verlangt werden könne, alles in seiner Macht stehende zu tun, um eine angemessene Verteidigung zu gewährleisten. 38 Diese Ansicht der Berufungskammer ist jedoch insofern als äußerst bedenklich zu erachten, als damit die Rechte der Verteidigung zur Disposition der nicht kooperationswilligen Aufenthaltsstaaten gestellt wird. Hingegen sollte gerade von den UN-Kriegsverbrechertribunalen auch unter der Gefahr, dass Verfahren eingestellt oder erstinstanzliehe Urteile aufgeStatute unter dem Vorbehalt der Konformität mit den international anerkannten Persönlichkeits- und Verfahrensrechten stehen. 34 V gl. mit Beispielen zur grenzüberschreitenden Beweisaufnahme unter Zuhilfenahme innerstaatlicher Ennittlungs- und Starfverfolgungsbehörden International Law Association, Comrnittee on International Human Rights Law and Practice, Final Report on the Exercise of Universal lurisdiction in Respect of Gross Human Rights Offences, London Conference 2000, 16 ff., abgedruckt unter , im Folgenden: ILA, London Report on Human Rights 2000. 35 Hierzu insbesondere Ambos, NStZ 1998, 123 ff.; siehe auch bereits oben 2. Kapitel, S. 125 ff. 36 Vgl. das Urteil der ICTY-Appeals Chamber, Prosecutor v. Dusko Tadii, Urteil vom 15.7.1999, . siehe hierzu Ambos/Ruegenberg, NStZ 2000,193 (198 f.). 37 ICIY -Appeals Chamber, Prosecutor v. Dusko Tadi6, Urteil vom 15.7.1999, Ziff. 29 ff. 38 Da die erstinstanzliche Verhandlungskammer insoweit alles getan habe, sei dieser Berufungsgrund zurückzuweisen, vgl. ICTY-Appeals Chamber, Prosecutor v. Dusko Tadii, Ziff. 52, 55.
A. Begründungen grundsätzlicher Anwendbarkeit in der Rechtsprechung
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hoben werden müssen, erwartet werden können, dass die Verfahrens garantien vollumfänglich gewährleistet werden. Diesem Anspruch wollte dieselbe Berufungskammer hingegen im Verfahren gegen Jean-Bosco Barayagwiza gerecht werden, da sie dieses Verfahren mit Beschluss vom 2. November 1999 wegen zahlreicher, die Rechte des Angeklagten verletzender Verfahrensfehler eingestellt und den Angeklagten nach über drei J ahren aus der Untersuchungshaft entlassen hat. 39 Wenngleich auch hier die Verletzung von Fair-trial-Grundsätzen auf das Verhalten der Behörden des Heimatstaates des Angeklagten bzw. der Staatsanwaltschaft zurückzuführen war, entschied sich die Berufungskammer für die Einstellung des Verfahrens, um dem Ansehen internationaler Strafverfahren zu dienen und der zukünftigen Begehung derartiger Verletzungen der Verfahrensrechte vorzubeugen. 4o Die Berufungskarnmer berief sich dabei auf die abuse 0/ process doctrine, wonach ein Gericht im Falle gravierender Verletzungen der Angeklagtenrechte41 die Ausübung seiner Gerichtsbarkeit ablehnen müsse, da andernfalls die Integrität des Gerichts Schaden nehmen würde. 42 Während diese Entscheidung der an dieser Stelle geäußerten Kritik die Berechtigung zu nehmen schien, ist hervorzuheben, dass der Beschluss der Berufungskammer nur wenige Monate später, am 31. März 2000, gemäß Art. 25 ICTYStatut wieder aufgehoben und in nächster Instanz neu verhandelt worden ist, weil die Haftentlassung des Angeschuldigten im Hinblick auf die Schwere der Tatvorwürfe, nämlich Genozid, unverhältnismäßig gewesen sei. 43 Aus diesen beiden Urteilen ergibt sich für die vorliegende Untersuchung zunächst, dass die aus den international anerkannten Menschenrechten stammenden 39 V gl. den Beschluss der ICTY -Appeals Chamber, Prosecutor v. Jean-Bosco Barayagwiza, Beschluss vom 2.11.1999, , vgl. hierzu Ambos/Ruegenberg, NStZ 2000, 193 (206 f.) 40 ICTY-Appeals Chamber, Prosecutor v. Jean-Bosco Barayagwiza, Beschluss vom 2.11.1999, Ziff. 112. 41 Im Einzelnen stellte die Kammer folgende Verfahrensverstöße fest: bei seiner Festnahme in Kamerun wurde der Angeklagte nicht sofort über den gegen ihn erhobenen Vorwurf informiert; er war länger als erlaubt in Untersuchungshaft gehalten worden; es war keine Anklage innerhalb der 90-Tage-Frist erhoben worden; er ist nicht unverzüglich nach Überführung in die Haftanstalt des Tribunals einem Richter vorgeführt worden; schließlich habe es die erstinstanzliche Kammer auch versäumt, die Haftbeschwerde zu bescheiden; vgl. ICTY-Appeals Chamber, Prosecutor v. Jean-Bosco Barayagwiza, Beschluss vom 2.11.1999, Ziff. 46 ff., 52, 67 ff., 78 ff., 87 ff. 42 ICTY -Appeals Chamber, Prosecutor v. Jean-Bosco Barayagwiza, Beschluss vom 2.11.1999, Ziff. 73 ff. 43 Vgl. ICTY-Appeals Chamber, Proseeutor v. Jean-Bosco Barayagwiza, Wiederaufnahmebeschluss vom 31.3.2000 ; auch die vom (erneut) Angeschuldigten hiergegen eingelegten Rechtsbehelfe wurden von der Berufungskammer verworfen, vgl. die Beschlüsse vom 12. und 14.9 .2000, und .
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Teil 2, 4. Kap.: Prinzipielle Anwendbarkeit der Menschenrechte
und in den Statuten und Verfahrens ordnungen der UN-Kriegsverbrechertribunale niedergelegten Verfahrensrechte dem Grundsatz nach zwar volle Anerkennung seitens der Gerichtshöfe erfahren, die Praxis jedoch zeigt, dass selbst die Staatsanwaltschaft dieser im Mittelpunkt des internationalen öffentlichen Interesses stehenden Institutionen die Mindestrechte des Angeklagten und der Verteidigung nicht einhalten. Dass der Gerichtshof dieses zwar anerkannt und unter Berufung auf die Schwere der Tatvorwürfe wieder eingeschränkt hat, dürfte sich im Wesentlichen mit den Erfahrungen decken, die in der innerstaatlichen Strafverfolgungspraxis gemacht werden. Entscheidend im Zusammenhang mit der vorliegenden Arbeit ist indes die umfassende Anerkennung der entsprechenden völkerrechtlichen Verfahrensrechte der Verfolgten und deren potentielle Eignung, grenzüberschreitenden Strafverfolgungsmaßnahmen, vorliegend der Kooperation mit den Aufenthalts- und Heimatstaaten mutmaßlicher Kriegsverbrecher, völkerrechtliche (Verfahrens-)Schranken aufzuerlegen. Die künftige Praxis der UN-Kriegsverbrechertribunale und des noch einzusetzenden Internationalen Strafgerichtshofs kann somit auch einen wesentlichen Beitrag zur Anerkennung der verfahrensrechtlichen Standards bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen leisten. 4. Der Gerichtshof der Europäischen Union Dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) karn in der Vergangenheit keine eigenständige Rolle bei der Prüfung von Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen der Mitgliedstaaten zu. Dies gründet auf den eingeschränkten Kompetenzen des Gerichtshofs, welcher gemäß Art. 220 EGV ausschließlich für die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und der Anwendung von Gemeinschaftsrecht zuständig ist, wozu die zwischenstaatliche Zusammenarbeit in Strafsachen gerade nicht zählt. 44 Im Rahmen des supranationalen Gemeinschaftsrechts unterliegen der Rechtsprechung des EuGH daher bisher ausschließlich Aufenthaltsbeendigungen im Rahmen von Ausweisungen europarechtlichen Beschränkungen, nicht indes Auslieferungen oder sonstige Rechtshilfemaßnahmen. 45 In diesem Zusammenhang hat der EuGHjedoch festgestellt, dass eine Aufenthaltsbeendigung eines Unionsbürgers in einern Mitgliedstaat nur bei Vorliegen einer gegenwärtigen tatsächlichen und schweren Gefährdung der Grundinteressen der Gesellschaft erzwungen werden kann; trotz der Verübung diverser Drogendelikte dürften die Mitgliedstaaten jedoch den Zugang nicht dauerhaft beschränken. 46 Siehe oben 3. Kapitel, S. 262 ff. V gl. zur Auslieferung von Ausländern mit beschränktem Inländerstatus, namentlich den EU-Bürgern, die Entscheidung des OLG Frankfurt, NStZ-RR 2000, 27. 46 EuGH, Urteil vom 19.1.1999, Rs. C-348/96 - Calfa, EuGRZ 1999, 122; zum Aufenthaltsrecht kraft EG-Rechts siehe auch Cremer, Schutz vor Auslandsfolgen, S. 55 ff. 44 45
A. Begründungen grundsätzlicher Anwendbarkeit in der Rechtsprechung
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Eine größere Bedeutung im Rahmen seiner Zuständigkeiten für das supranationale Recht könnte der EuGH jedoch im Zusammenhang mit Ermittlungsmaßnahmen supranationaler Behörden wie dem Amt für Betrugsbekämpfung erlangen. Bereits in der Sache Hoechst47 hatte sich der Gerichtshof mit dem Schutz der Privatsphäre vor Ermittlungsmaßnahmen der Kommission auseinander zu setzen. In dem Urteil ging es um kartellrechtliche Nachprüfungsbefugnisse der Kommission und ihre Einschränkung durch die Grundrechte der betroffenen juristischen Person, insbesondere um die Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und die Rechte der Verteidigung in Verwaltungs verfahren mit Sanktionscharakter sowie um das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung. Auch in dem Urteil Orkem48 ging es um die Anwendbarkeit von Menschenrechten im Rahmen von Ermittlungsverfahren im Wettbewerbsrecht, insbesondere um das Recht eines Unternehmens, nicht gegen sich selbst aussagen zu müssen. Der EuGH setzte sich in diesem Zusammenhang ausführlich mit der mittelbaren Anwendbarkeit der EMRK im Recht der Europäischen Gemeinschaften auseinander. 49 Mit dem Arnsterdamer Vertrag ist dem EuGH jedoch auch eine (eng definierte Zuständigkeit) für Streitigkeiten innerhalb der PJZS übertragen worden,50 welche insbesondere die Gültigkeit und die Auslegung von Beschlüssen, Rahmenbeschlüssen und Übereinkommen nach Titel VI EUV sowie der entsprechenden Durchführungsmaßnahmen umfasst. 51 Zwar hat der Einzelne im Bereich der intergouvernementalen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten noch nicht die Möglichkeit einer Individualnichtigkeitsklage, wie sie Art. 230 IV EGV für natürliche und juristische Personen im Bereich des supranationalen Gemeinschaftsrechts vorsieht, jedoch können Individualrechte, insbesondere der Schutz der Grund- und Menschenrechte im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 35 I EUV umfassend berücksichtigt werden. 52 Indes finden sich derzeit noch keine Entscheidungen des EuGH zu entsprechenden Fragen des Menschenrechtsschutzes im Rahmen der intergouvernementalen Zusammenarbeit in Strafsachen nach Titel VI EUV, wenngleich die umfassende Bindung sowohl des im Rahmen der "Organleihe" tätig werdenden Rates als auch der Mitgliedstaaten an die Menschenrechte über Art. 6 11 EUV gesichert ist. 47 EuGH, Rs. 46/87 u. 227/88 - Hoechst, Urteil vom 21.09.1989, Slg. 1989, 2859; Besprechung von Ress/Ukrow, EuZW 1990, 499 ff.; siehe auch Rodriguez 19lesias, NJW 1999, 1 (7 f.). 48 EuGH, Rs. 347/87 - Orkem, Urteil vom 18.10.89, Slg. 1989, 3283; hierzu auch Rodrfguez 19lesias, NJW 1999, 1 (7 f.). 49 Hierzu auch unten 6. Kapitel, S. 448. 50 Vgl. Art. 46lit. b) i. V. m. Art. 35 EUV; hierzu bereits ausführlich oben 3. Kapitel, S. 264 ff. 51 Vgl. Art. 35 I EUV. 52 Die Pflicht des EuGH zur Überprüfung der von Art. 35 I EUV umfassten Rechtsakte und Durchführungsmaßnahmen am Maßstab der Menschenrechte ergibt sich aus Art. 6 und 7 EUV.
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Teil 2, 4. Kap.: Prinzipielle Anwendbarkeit der Menschenrechte
5. Würdigung der internationalen Rechtsprechung
Die zur Überwachung der Einhaltung von völkerrechtlichen Verpflichtungen aus Menschenrechtsverträgen eingesetzten internationalen Rechtsprechungsinstanzen haben die Menschenrechte der entsprechenden Verträge für grundSätzlich anwendbar erklärt, um der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen völkerrechtliche Schranken aufzuerlegen. Im Wesentlichen ging es hierbei um Auslieferungen, denen das menschenrechtliche Verbot von Folter bzw. unmenschlicher Behandlung sowie die Gebote der Achtung von Verfahrensrechten und des Privatlebens entgegengehalten wurden. Diese Bindung an die vertraglichen Verpflichtungen aus den Menschenrechtskonventionen ginge sogar soweit, dass den Konventionsstaaten vorhersehbare, selbständige Eingriffe in Menschenrechtspositionen durch Nicht-Konventionsstaaten zugerechnet werden könnten. Es versteht sich von selbst, dass auch nach der Praxis der internationalen Rechtsprechungsinstanzen den Konventionsstaaten nicht etwa alle außerhalb ihres Iurisdiktionsbereichs liegenden Folgen einer Auslieferung zugerechnet werden können. Daher sind die genauen Kriterien einer solchen Zurechnung und auch die im Schrifttum hiergegen geäußerten Einwände im Rahmen der rechtsquellenspezifischen U ntersuchung im 5. und 6. Kapitel erneut aufzugreifen. Auch der Umstand, dass die internationalen Gerichtsinstanzen dem völkerrechtlichen Schutz der entsprechenden Konventionsrechte regelmäßig Vorrang vor entgegengesetzten völkerrechtlichen Auslieferungs- und Rechtshilfeverpflichtungen eingeräumt haben, ist anjener Stelle unter Würdigung der entgegengesetzten Auffassungen im Schrifttum näher zu beleuchten. Bereits an dieser Stelle kann jedoch angemerkt werden, dass aus der Rechtsprechung der verschiedenen Konventionsorgane nicht zwingend geschlossen werden kann, dass die Menschenrechte generell Vorrang vor den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Staaten zur Auslieferung oder zur Rechtshilfe hätten. 53 Vielmehr sind die Rechtsprechungsinstanzen der Frage des völkerrechtlichen Vorrangs häufig ausgewichen und haben sich allein auf die Prüfung beschränkt, ob eine Auslieferung gegen Bestimmungen des jeweiligen Menschenrechtsvertrages verstößt, nicht hingegen, ob sie nach allgemeinen völkerrechtlichen Kriterien zulässig ist oder nicht. 54 Dies lässt sich jedoch damit erklären, dass die von den Staaten geschaffenen internationalen Spruchkörper wie der UN-AMR oder der EGMR entsprechend ihrer zugrunde liegenden Statute und Verträge nur befugt sind, die entsprechenden Verträge anzuwenden, denen sie ihre Existenz verdanken. Anders als beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag ist der EGMR daher allein berechtigt, die Verletzung der EMRK und nicht etwa die Verletzung oder Achtung des allgemeinen Völkerrechts zu überprüfen. Das schließt zwar nicht die Möglichkeit aus, im
53 54
van den Wyngaert, ICLQ 39 (1990), 757 (763). Hierzu auch Dugard/van den Wyngaert, AJIL 92 (1998), 187 (195).
A. Begründungen grundsätzlicher Anwendbarkeit in der Rechtsprechung
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Rahmen der Überprüfung von Eingriffen in Menschenrechte eine Abwägung hinsichtlich widerstreitender völkerrechtlicher Verpflichtungen vorzunehmen. 55 Jedoch bedarf es einer darüber hinausgehenden, umfassenden Prüfung der völkerrechtsgemäßen Auflösung der angesprochenen Norrnenkonflikte. 56 Aufgrund der materiell-rechtlich begrenzten Prüfungsbefugnis der internationalen Gerichte ist schließlich auch noch unklar geblieben, ob und inwieweit Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts auf den internationalen Rechtshilfeverkehr Anwendung finden. Einzig der UN-AMR hat in seinem bereits zitierten obiter dictum die grundsätzliche Anwendbarkeit völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte bejaht. 57 Hier ist jedoch weiterer Aufschluss in der folgenden Untersuchung der nationalen Rechtsprechung zu erwarten. Zusammenfassend bleibt an dieser Stelle festzuhalten, dass an der grundsätzlichen Anwendbarkeit von völkervertraglich vereinbarten Menschenrechten auf die internationale Rechtshilfe in Strafsachen durch die internationalen Gerichte kein Zweifel mehr besteht. Es ist vielmehr eine Frage des konkreten Falles, ob und in welchem Umfang einzelne Menschenrechte der völkerrechtlichen Zulässigkeit einer Auslieferung oder Rechtshilfemaßnahme entgegengehalten werden können. 11. Innerstaatliche Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland 1. Das Bundesveifassungsgericht In den ersten Entscheidungen, die zu rechtshilferechtlichen Sachverhalten ergangen sind, beschränkte sich das Bundesverfassungsgericht regelmäßig auf eine Prüfung der von den Beschwerdeführern gerügten Verletzung von innerstaatlichen Grundrechten. 58 Die Bindung an völkerrechtliche Menschenrechte der ersuchen55 Vgl. nur EGMR, Soering v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 7.7.1989, Series A, No. 161, Ziff. 86 ff. 56 Hierzu ausführlich unten 5. Kapitel, S. 381 ff., und 6. Kapitel, S. 493 ff. 57 Vgl. UN-AMR vom 30.7.1993, HRLJ 1993,307 ff., Ziff. 14.5. 58 Vgl. nur BVerfGE 18, 112, Beschluss vom 30.6.1964 NJW 1964, 1783 - Verfassungsmäßigkeit des bilateralen Auslieferungsvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich, welcher ausdrücklich die Auslieferung bei einer verhängten Todesstrafe erlaubte; hierzu kritisch Geck, JuS 1965, 221 ff.; Frankenberg, JZ 1986, 414 ff.; Schüssler, NJW 1965, 1896 ff.; vgl. auch die sich von dieser ersten Entscheidung distanzierende spätere Rechtsprechung in BVerfGE 60, 348 (354); BVerfGE 29, 183 Rücklieferung eines Deutschen an Österreich; BVerfGE 38, 398 - Auslieferung eines politischen Flüchtlings an Jugoslawien; zur frühen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Auslieferungsrecht siehe auch Zöbeley, NJW 1983, 1703 ff.; ausführlich zur Grundrechtsgeltung Elbing, Grundrechte, S. 17 ff., 82 ff.; Hofmann, Grenzüberschreitende Sachverhalte, S. 10 ff., 178 ff., 259 ff.; Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden, S.129ff.
=
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Teil 2, 4. Kap.: Prinzipielle Anwendbarkeit der Menschenrechte
den Staaten diente hierbei regelmäßig als Indiz für die Zulässigkeit einer Auslieferung, da man bei der Bindung eines Staates an internationale Menschenrechtskonventionen davon ausgehen könne, dass dieser sich an seine völkerrechtlichen Verpflichtungen halten werde. 59 In seiner grundlegenden Entscheidung aus dem Jahre 1981 stellte das Bundesverfassungsgericht erstmals fest, dass eine Maßnahme im Bereich der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen auch gegen den "völkerrechtlich verbindlichen menschenrechtlichen Mindeststandard" verstoßen könne. 60 Zwar setzte sich das Gericht in diesem Urteil noch nicht näher mit dem Inhalt dieses den internationalen Rechtshilfeverkehrs beschränkenden "Mindeststandards" auseinander,61 jedoch leitete es eine ständige Rechtsprechung ein, in deren Folge das Gericht den Zusammenhang zwischen Menschenrechten des Völkerrechts und der Zulässigkeit von Auslieferungs- und Rechtshilfemaßnahmen wie folgt näher konkretisiert hat. So hätten die deutschen Gerichte etwa bei der Prüfung der Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Auslieferung grundsätzlich von der Wirksamkeit des dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegenden ausländischen Strafurteils auszugehen und dessen Rechtmäßigkeit nicht nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts des ersuchenden Staates zu überprüfen. 62 Dies verhindere jedoch nicht eine "Überprüfung, ob die Auslieferung und die ihr zugrunde liegenden Akte gegen den völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard, der nach Art. 25 GG von den Gerichten der Bundesrepublik Deutschland zu beachten ist, sowie gegen unabdingbare verfassungsrechtliche Grundsätze ihrer öffentlichen Ordnung verstoßen".63 Denn gemäß Art. 25 GG seien "bei der Gestaltung der innerstaatlichen RechtsS9 Erstmals in BVerfGE 15,249 - Auslieferung an die Türkei verstößt nicht gegen die Menschenwürde; BVerfG, Beschluss vom 31.5.1994, NJW 1994,2883 - Auslieferung an Griechenland birgt nicht die Gefahr einer Menschenrechtsverletzung, da Griechenland sowohl Vertrags staat des Antifolterabkommens als auch der EMRK; zuletzt in Beschluss vom 29.5.96, EuGRZ 1996, 324 = StV 1997, 361 - Auslieferung an Spanien birgt nicht die Gefahr einer Menschenrechtsverletzung, da Mitgliedstaat der Europäischen Union und der EMRK. 60 BVerfG, Beschluss vom 20.3.1981, BVerfGE 57, 9 (25) unter Verweis auf Mosfer, RdC 140 (l974-IV), 1 (54 ff., 62). 61 Von grundlegender Bedeutung war diese Entscheidung auch deshalb, weil sich erstmals ein Beschwerdeführer gegen ein deutsches Einlieferungsersuchen richtete und das BVerfG sich deshalb eingehend mit der Bedeutung und Reichweite der Grundrechte des Grundgesetzes in Sachverhalten mit Auslandsbezug, insbesondere mit der Rechtswegegarantie des Art. 19 IV GG, und den verfassungsrechtlichen Grenzen der Anerkennung ausländischer Hoheitsakte auseinandergesetzt hat, vgl. im Einzelnen unten 5. Kapitel, S. 363 ff. 62 BVerfGE 59,280 (282); 60, 348 (355 f.); 63, 197 (206 fO; 75, I (19); BVerfG, NJW 1987,830; NJW 1994,2883. Dies entspricht dem Grundsatz der rufe ofnon inquiry, nach welchem nationale Gerichte die Rechtmäßigkeit von Entscheidungen ausländischer Gerichte und Behörden grundSätzlich anerkennen. 63 In ständiger Rechtsprechung BVerfGE 59, 280 (282 f.); 60, 348 (355 0; 63, 197 (206 f.); 63, 332 (337); 75, I (19).
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ordnung durch den Normgeber und bei der Auslegung und Anwendung von Vorschriften des innerstaatlichen Rechts durch Verwaltung und Gerichte die allgemeinen Regeln des Völkerrechts zu beachten".64 Hieraus folge insbesondere, dass "die Behörden und Gerichte der Bundesrepublik Deutschland kraft Art. 25 GG grundsätzlich daran gehindert sind, innerstaatliches Recht in einer Weise auszulegen und anzuwenden, welche die allgemeinen Regeln des Völkerrechts verletzt".65 Sie sind auch verpflichtet, alles zu unterlassen, was einer unter Verstoß gegen allgemeine Regeln des Völkerrechts vorgenommenen Handlung nichtdeutscher Hoheitsträger im Geltungsbereich des Grundgesetzes Wirksamkeit verschafft, und gehindert, an einer gegen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts verstoßenden Handlung nichtdeutscher Hoheitsträger bestimmend mitzuwirken. 66 Im Ergebnis lässt sich danach festhalten, dass entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts internationale Menschenrechte jedenfalls dann auf Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen Anwendung finden, wenn sie dem nach Art. 25 GG von den deutschen Gerichten und Behörden zu beachtenden völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard zuzurechnen sind. Zur Ermittlung dieses den Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehr grundsätzlich beschränkenden Mindeststandards könne nicht nur auf das völkerrechtliche ius cogens und, soweit keine vertragliche Verpflichtung zur Rechtshilfeleistung besteht, sonstige völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte, sondern auch auf die fundamentalen Menschenrechtsgarantien der EMRK und anderer Menschenrechtskonventionen zurückgegriffen werden. 67 Selbst die Urteile internationaler Gerichtsinstanzen seien ein Indiz für die völkerrechtliche Praxis und somit ebenfalls zur Ermittlung des völkerrechtlich verbindlichen Standards heranzuziehen. 68 Ein weiteres wichtiges Ergebnis dieser Entscheidung war jedoch die Klarstellung, dass das Bundesverfassungsgericht zwingend unterscheidet zwischen der Frage nach der Bedeutung der Grundrechtsordnung des Grundgesetzes für den deutschen Auslieferungsverkehr,69 BVerfGE 75, I (18 f.) unter Verweis auf BVerfGE 23, 288 (300); 31,145 (177). BVerfGE 75, I (19). 66 BVerfGE 75, I (19). 67 Vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 17.11.1986, NJW 1987,830, wo das BVerfG zur Bestimmung des völkerrechtlich verbindlichen menschenrechtlichen Mindeststandard auf die Art. 14 III lit. d) IPbpR, Art. 6 III EMRK und Art. 811 lit. d) AMRK verweist, oder den Beschluss vom 22.6.1992, 2 BvR 1901/91, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, U 202, S. 691 ::: NJW 1994, 2883 ::: NStZ 1994, 492, wo das Gericht die vom OLG München benutzte Methode zur Ermittlung des völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandards übernimmt, wonach von der Regelung eines Menschenrechtsstandards in der EMRK auf den völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard geschlossen werden könne. 68 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.11.86, NJW 1987,830; Beschluss vom 10.6.1988, 2 BvR 369/88, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, U 167, S. 567. 69 BVerfGE 75, I (15 ff.). 64 65
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insbesondere ihres Kernbereichs als unabdingbaren Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung, und der Bedeutung allgemeiner Regeln des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG für diesen Rechtsbereich. 70 Im Ergebnis lässt sich daher festhalten, dass das Bundesverfassungsrecht die Menschenrechte der V ölkerrechtsordnung zwar grundsätzlich als mögliche und zum Teil zwingende Grenzen des internationalen Rechtshilfeverkehrs der Bundesrepublik Deutschland erachtet,71 die Reichweite dieser im Bereich des gebundenen Rechtshilfeverkehrs indes sehr restriktiv beurteilt.
2. Das Bundesverwaltungsgericht
In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts spielen vor allem die einer Auslieferung aufgrund der faktischen Aufenthaltsbeendigung grundsätzlich vergleichbaren Fälle der Ausweisung eine Rolle,72 für welche das insoweit einschlägige Ausländergesetz der Bundesrepublik Deutschland in Art. 53 IV einen ausdrücklichen Verweis auf die Anwendbarkeit der Menschenrechte der EMRK bereithält. 73 Mangels einer entsprechenden Vorschrift im internationalen Rechtshilfegesetz der Bundesrepublik Deutschland74 kann die jüngere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts daher nur eingeschränkt für die BVerfGE 75, 1 (18 ff.). Vgl. insbesondere auch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts injüngerer Zeit, in welchen die Rechtsstellung des Einzelnen regelmäßig eine herausragende Stellung spielt, vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 19.10.1994, NJW 1995,651 - völkerrechtswidriger Einsatz eines V -Mannes; Beschluss vom 8.2.1995, NJW 1995, 1667 - Auslieferung nach Jugoslawien; Beschluss vom 29.5.1996, StV 1997,361 - Gefahr der Folter nach Auslieferung; Beschluss vom 8.2.1995,18.6.1997, BVerfGE 96,100 =NJW 1007,3013 StV 1997,646 mit Anmerkung Lagodny, StV 1998,157 - Individualrechtsschutz bei abgelehnter Überstellung zur Strafvollstreckung im Ausland; Beschluss vom 27.7.1999, NJW 2000, 1252 =StV 2000, 87 - Aufhebung der Auslieferungshaft. 72 Die grundsätzliche Vergleichbarkeit von Auslieferung und Ausweisung hinsichtlich des Individualrechtsschutzes, wie es schon das BVerfG in BVerfGE 63, 215 (228 f.) herausgestellt hat, werde im Schrifttum häufig übersehen, so Lagodny, in: Schomburgl Lagodny, Internationale Rechtshilfe, IRG, § 73 Rn. 21. 73 Art. 53 IV AuslG lautet: "Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der [EMRK] ergibt, dass eine Abschiebung unzulässig ist." Zu den aus der EMRK fließenden Abschiebehindernissen siehe Bath, NVwZ 1998, 1031 ff.; Buß, DÖV 1998,323 ff.; Marx, NVwZ 1998, 153 ff.; Niewerth, NVwZ 1997, 228 ff., vor allem Cremer, Der Schutz vor den Auslandsfolgen aufenthaltsbeendender Maßnahmen - Zugleich ein Beitrag zur Bestimmung der Reichweite grundrechtlicher Verantwortung für die Folgewirkung deutscher Hoheitsakte, 1994. 74 V gl. allerdings die individualrechtsschützende Wirkung der Ordre-public- Klausel des § 73 IRG, hierzu ausführlich Lagodny, in SchomburgiLagodny, Internationale Rechtshilfe, IRG, § 73; Vogler, in: Vogler/Wilkitzki, IRG, § 73. 70
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vorliegende Untersuchung herangezogen werden. 75 Jedoch ist der Verweis auf die EMRK in Art. 53 IV AuslG erst mit der Gesetzesnovelle von 199076 in das Gesetz eingefügt worden. Bis dahin war es in der verwaltungsrechtlichen Rechtsprechung hochumstritten, ob "die Ausländerbehörde bei der Ausübung des Ausweisungsennessens [ ... ] berücksichtigen muss, dass dem Ausländer in seinem Heimatland die Todesstrafe droht".77 Die damals herrschende Auffassung in der Rechtsprechung tendierte einerseits dazu, die (auslandskausalen) Folgen einer Ausweisung für die Frage ihrer Zulässigkeit unberücksichtigt zu lassen. 78 Im so genannten Todesstrafen-UrteiC9 aus dem Jahre 1987 stellt das Bundesverwaltungsgericht fest, das eine Einbeziehung der im Ausland eintretenden Folgen nicht deshalb ausgeschlossen sei, weil die deutsche Staatsgewalt die Eigenständigkeit fremder Rechtsordnungen zu respektieren hat. 8o Denn die deutsche Staatsgewalt ist dadurch nicht gehindert, bei innerstaatlichen Maßnahmen den Grundsätzen ihrer Rechtsordnung Geltung zu verschaffen. 81 Auf der anderen Seite wurde auch klargestellt, dass etwa das absolute Folterverbot des Art. 3 EMRK der Ausweisungsfreiheit der Bundesrepublik Deutschland eine einfachgesetzliche Schranke setze, die von Verwaltungsbehörden und Gerichten zu beachten sei. 82 In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts komme es jedoch nur deshalb zu einem solchen innerstaatlichen Vorrang der menschenrechtlichen Nonn vor dem deutschen Ausländerrecht, weil sie zugleich eine "allgemeine Regel des Völkerrechts" im Sinne von Art. 25 GG darstelle. 83 Inzwischen scheint übereinstimmend anerkannt zu sein, dass Art. 53 IV AuslG lediglich deklaratorisch eine bereits unmittelbar kraft der EMRK selbst bestehende und den deutschen Rechtsanwender bindende Pflicht zur Achtung der Menschenrechte bei der Ausweisung von Ausländern wiederholt. 84 Dies mag der Hintergrund für die 75 Zum Verhältnis von Ausweisung und Auslieferung siehe Frankenberg, JZ 1986,414 (416 ff.). 76 Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9.7.1990, BGBI. 1990 I, 1354,2170. 77 Vgl. BVerwG, Beschluss vom 18.7.1985 - 1 B 39, 85, zitiert bei Frankenberg, JZ 1986,414 (415). 78 Vgl. BVerwG Buchholz, 403.24 Nr. 4 zu § 10 AuslG; OVG Lüneburg, InfAuslR 1985, 199; OVG Münster, DVBI. 1983,37; alle zitiert bei Frankenberg, JZ 1986,414 (415); ausführlich zur Ausweisungsrechtsprechung des BVerwG auch Meyer, NVwZ 1984, 13 ff. 79 BVerwG, Beschluss vom 1.12.1987, BVerwGE 78,285 (293); vgl. auch BVerwGE 67, 184 (194). 80 So schon BVerfGE 31, 58 (76) - Spanier-Beschluss. 81 BVerwGE 78, 285 (293); ebenso BVerfGE 31, 58 (76). 82 V gl. nur BVerwG, DVBI. 1983, 177 (178). 83 FroweinlKühner, ZaöRV 43 (1983), 537 (559). 84 So bereits OVG Münster, DÖV 1956,381; OVG Hamburg, InfAuslR 1985, 202, in Bezug auf Art. 3 EMRK; siehe schließlich die Begründung des Regierungsentwurfs, BTDrs. 11/6321 zu Art. 53 IV AuslG = D 100.1; Weberndärfer, Schutz vor Abschiebung, S. 1 und 15; ZimmerlZimmennann, in: Huber, HB des AusiR, Vorb. B 600 Rn. 9 f.
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ausdrückliche Zurückhaltung des Bundesverwaltungsgerichts bei der Heranziehung der EMRK zur Begründung von menschenrechtlichen Ausweisungshindernissen sein, denn es zieht regelmäßig eine Bewertung am Maßstab der verfassungsrechtlichen Grundrechtsdogmatik vor, statt die insoweit eindeutige und weitergehende Rechtsprechung der Konventionsorgane zu übernehmen. 85 Darüber hinaus ist die Rechtsprechung des BVerwG für die vorliegende Untersuchung nur eingeschränkt von Nutzen. Zwar sind Abschiebung und Auslieferung insoweit sehr gut miteinander zu vergleichen, als dass durch ihren innerstaatlichen Vollzug ein Ausländer (unter Anwendung von Zwang) aus dem eigenen Hoheitsgebiet verbracht wird. Jedoch entstehen im Ausweisungsrecht mangels völkervertraglicher Verpflichtungen der Staaten eben gerade nicht die für das internationale Rechtshilferecht so typischen Normenkonflikte und Pflichtenkollisionen. 3. Der Bundesgerichtshof
Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Anwendbarkeit von Menschenrechten in Auslieferungs- und Rechtshilfeverfahren entspricht im Wesentlichen derjenigen des Bundesverfassungsgerichtes. Die vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fallkonstellationen umfassen zumeist auslandskausale Sachverhalte, in denen die einer Auslieferung zugrunde liegenden Urteile oder die zu erwartende Behandlung im ersuchenden Staat gegen die menschenrechtlichen Positionen des Betroffenen verstoßen könnten. In Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei bei der Prüfung der Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Auslieferung zwar grundsätzlich von der Wirksamkeit eines dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegenden ausländischen Strafurteils auszugehen und dessen Rechtmäßigkeit nicht zu überprüfen. 86 Etwas anderes könne jedoch gelten, wenn das dem Urteil zugrunde liegende Verfahren gegen "übergeordnete, von allen Rechtsstaaten anerkannte Grundsätze" verstößt. 87 Des Weiteren brauche die Bundesrepublik Deutschland auch aus "allgemeinen rechtlichen Gründen" dann nicht auszuliefern, wenn in dem ersuchten Staat die Gefahr einer unrechtsmäßigen Verfolgung droht. 88 Dies gelte auch, wenn die Bundesrepublik Deutschland aufgrund eines Übereinkommens völkerrechtlich zur Auslieferung verpflichtet ist. 89 85 Vgl. insbesondere BVerwG, Beschluss vorn 15.4.1997, NVwZ 1997,1127; ausführlich und kritisch zu diesem hochaktuellen Dissens zwischen EGMR und BVerwG Buß, DÖV 1998,323 ff.; Frowein, DÖV 1998,806 (809 ff.); Maaßen, ZAR 1998, 107 ff.; Simmler, DRiZ 1998, 255 ff. mit Nachweisen zur entsprechenden Rechtsprechung. 86 BGHSt 20, 198 (202) =NJW 1965, 1146; 32, 314 =NJW 1984,2046 (2047 f.); vgl. auch BVerfGE 59,280 (282 ff.). 87 BGHSt 20, 198 (202) = NJW 1965, 1146 f.; bestätigt durch BGHSt 30, 55 (61) = NJW 1981, 1166 (1167); BGHSt 32, 314 (319) = NJW 1984, 2046 (2048). 88 BGHSt 25, 374 = NJW 1974,2191. 89 BGHSt 25, 374 (380) =NJW 1974,2191 (2193).
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Hier scheint der Bundesgerichtshof mithin dem menschenrechtlichen Schutz des Einzelnen Vorrang vor der völkerrechtlichen Auslieferungsverpflichtung einzuräumen. Jedoch stellt der gleiche Senat in seiner Grundsatzentscheidung aus dem Jahre 1984 klar, dass eine entsprechende Auslieferung nur dann unzulässig sei, "wenn die unrechtmäßige Verfolgung, welche der Verfolgte im Falle seiner Auslieferung ausgesetzt wäre, einen solchen Grad erreicht, dass sie gegen unabdingbare Grundsätze verstößt, die von allen Rechtsstaaten anerkannt sind".90 Dies entspräche auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, "nach der die Gerichte auch im vertraglichen Auslieferungsverkehr gehalten sind, zu prüfen, ob die Auslieferung und die ihr zugrunde liegenden Akte gegen den völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard, der nach Art. 25 GG von den Gerichten der Bundesrepublik zu beachten ist, sowie gegen unabdingbare verfassungsrechtliche Grundsätze ihrer öffentlichen Ordnung verstoßen würden" .91 Das besage allerdings nicht, "dass eine Auslieferung - wie § 73 IRG bestirnrntstets schon dann unzulässig ist, wenn sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen würde. Denn dieser Vorschrift gehen [ ... ] die Regelungen in völkerrechtlichen Vereinbarungen und damit die des Europäischen Auslieferungsübereinkornrnen vor (§ 1 III IRG), das eine solche Einschränkung nicht enthält. Darunter sind vielmehr nur unabdingbare Grundsätze des allgemeinen humanitären Völkerrechts zu verstehen, die dem Völkervertragsrecht vorgehen und damit auch das Europäische Auslieferungsübereinkornrnen beherrschen und begrenzen".92 Hiermit scheint der Bundesgerichtshof auf das völkerrechtliche ius cogens Bezug zu nehmen. Jedoch bestätigen seine folgenden Ausführungen diesen Befund nicht, wonach eine Auslieferung unzulässig sei, "wenn der Verfolgte in dem ersuchenden Staat der Gefahr ausgesetzt wäre, durch körperliche Misshandlung (Folter) zu einem Geständnis gepresst oder nach einem Verfahren abgeurteilt zu werden, das den Grundsätzen der Art. 3, 5 und 6 EMRK, Art. 5 und 7 ff. der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 und Art. 7 und 9 ff., 14 und 15 des internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966 widerspricht" .93 Es ist äußerst missverständlich, dass der Bundesgerichtshof hier die Bestirnrnungen der EMRK, des IPbpR und vor allem der allgemeinen Menschenrechtserklärung heranzieht, denn es lässt sich kaum vorstellen, dass er all diesen Normen den zwingenden Charakter des völkerrechtlichen ius cogens zuschreibt. 94 Zu 90 BGH, Urteil vom 15.03.84, BGHSt 32, 314 = NJW 1984,2046; hierzu Vogler, JZ 1984, 900 ff. 91 BGH, NJW 1984,2046 (204) mit Verweis auf BVerfGE 59, 280 (282 ff.). 92 BGH, NJW 1984, 2046 (2048) mit Verweis auf die Begründung der Bundesregierung zum Entwurf des IRG, BT-Drs. 9/1338, S. 27 zu 2.1.5. 93 BGH, NJW 1984, 2046 (2048). 94 V gl. hierzu Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 69, der diese Entschei-
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einer KlarsteIlung dieser Rechtsprechung ist es - soweit ersichtlich - bis dato noch nicht gekommen. Hervorzuheben ist schließlich ein Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 7. Juli 1999, in welchem es um die Frage der Rechtmäßigkeit der Vornahme einer ersuchten Rechtshilfemaßnahme durch die deutschen Strafverfolgungsbehörden ging, welche in einem ausländischen Verfahren verwendet werden sollte, in welchem einem der Angeklagten die Todesstrafe drohte. 95 Hier entschied der B undesgerichtshof, dass Art. 102 i. V. m. Art. 211 1 GG den internationalen Rechtshilfeverkehr in Strafsachen dahingehend beschränken, dass deutsche Ennittlungsergebnisse für ein ausländisches Strafverfahren nur zur Verfügung gestellt werden dürfen, wenn geWährleistet ist, dass diese Ennittlungsergebnisse nicht zum Zweck der Verhängung der Todesstrafe verwertet werden. 96 Da Russland eine solche Zusicherung nicht geben wollte oder konnte, wurde das Rechtshilfeersuchen der Bundesrepublik Deutschland als unzulässig erachtet und nicht weitergeleitet. Mangels einer völkerrechtlichen Verpflichtung zur entsprechenden Rechtshilfe stand dem Beschluss des Bundesgerichtshofs auch nicht entgegen, auf die innerstaatlichen Grundrechte zu rekurrieren. Von Bedeutung ist dieser Beschluss dennoch, da er insoweit die in ständiger Rechtsprechung sowohl des Bundesverfassungsgerichts als auch zahlreicher Oberlandesgerichte praktizierte Auffassung ändert, dass Rechtshilfe im Hinblick auf Art. 102 i. V. m. Art. 211 1 GG nicht unzulässig sei, wenn dadurch in einem ausländischen Verfahren eine Verurteilung zur Todesstrafe droht. 97 Zusammenfassend lässt sich damit festhalten, dass der Bundesgerichtshof wie schon das Bundesverfassungsgericht von der grundSätzlichen Anwendbarkeit der Menschenrechte auf Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen ausgeht. Betroffen sind hiervon vor allemauslandskausale Fallkonstellationen, da der Bundesgerichtshof in inlandskausalen Fällen in der Regel nur die Grundrechte des Grundgesetzes prüft. 98 In auslandskausalen Fällen können völkerrechtliche dung dahingehend verstanden wissen will, dass der BGH den Begriff des" völkerrechtlichen Mindeststandards" mit dem Gedanken des ius cogens gleichsetzt. 95 Vgl. BGH, NStZ 1999,634; konkret geht es in diesem Beschluss um die Ablehnung eines Beweisantrages auf Vernehmung eines Zeugen im Wege der Rechtshilfe, da der den Antrag stellende, in Deutschland lebende Angeklagte diesen Zeugen der Mittäterschaft an einem Mord beschuldigte und ein entsprechendes deutsches Rechtshilferesuchen deutscher Behörden aufgrund der darin enthaltenen Informationen zum Tathergang zur Aufnahme eines Verfahrens gegen den Zeugen hätte führen können, in welchem jenem die Todesstrafe drohen würde. 96 V gl. BGH, NStZ 1999, 634 f. unter Berufung auf Lagodny, in: SchomburgiLagodny. Internationale Rechtshilfe. IRG. § 8 Rn. 26, § 59 Rn. 21 f. 97 V gl. nur OLG Köln, NJW 1985. 572 mit Verweis auf BVerfGE 18, 112 (116); OLG Karlsruhe, NJW 1990, 2208 NStZ 1991. 138 mit Anmerkung Lagodny; sowie die weiteren Nachweise unten 4. Kapitel. S. 296 ff. 98 V gl. nur BGHSt 27. 191 (193) NJW 1977. 1599; kritisch dazu Stein, NJW 1978, 2426; Entscheidung bestätigt durch BGH. Beschluss vom 15.3.1984. BGHSt 32, 314 =
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Menschenrechte den Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehr grundsätzlich auch dann beschränken, wenn die Bundesrepublik Deutschland durch einen entsprechenden völkerrechtlichen Vertrag eigentlich zur Vornahme der ersuchten Handlung verpflichtet ist. Dies scheint jedoch nur dann der Fall zu sein, wenn "unabdingbare Grundsätze des humanitären Völkerrechts" betroffen sind. Welche menschenrechtlichen Positionen der Bundesgerichtshof zu diesen Grundsätzen rechnet, kann aufgrund der Mehrdeutigkeit seiner Subsumtion nur vermutet werden. 4. Die Oberlandesgerichte Auch die meisten Oberlandesgerichte99 haben die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weitgehend übernommen, wonach eine Auslieferungsoder Rechtshilfemaßnahme unzulässig ist, wenn sie im konkreten Fall gegen den völkerrechtlichen Mindeststandard oder gegen die unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze der deutschen öffentlichen Ordnung verstößt. 100 Bei der Prüfung einer Verletzung des nach Art. 25 GG erheblichen völkerrechtlichen Mindeststandards rekurrieren die Oberlandesgerichte auf die völkerrechtlichen Gebote des Menschenrechtsschutzes, insbesondere auf die EMRK und den IPbpR, die sie jedoch meist nur zur Auslegung heranziehen und nicht direkt anwenden. 101 Daher NJW 1984, 2046 (2048) mit Anmerkung Vogler, JZ 1984, 900 ff.; BGH, NStZ 1993, 547. 99 Dass vor den Oberlandesgerichten sehr viel mehr Urteile als beim BGH gefallt wurden, hängt zum einen damit zusammen, dass das OLG erstinstanzlich zuständig ist für die Entscheidung über die Zulässigkeit von Auslieferungen und zum anderen bei Zweifeln an der Verfassungs- und Völkerrechtsgemäßheit einer Entscheidung zur Vorlage beim BVerfG verpflichtet ist, vg!. hierzu BGH, Urteil vom 8.7.86, NStZ 1986,514. 100 Vg!. OLG Frankfurt, StV 1999,264; ThürOLG, StV 1999,265; OLG Karlsruhe, StV 1999,268; OLG Düsseldorf, StV 1999,270 = AVR 37 (1999), 463; OLG Nürnberg, StV 1997,648; OLG Hamm, NStZ 1997, 194 = StraFo 1997,211 =StV 1997,364; OLG München, InfAuslR 1995,382; OLG Düsseldorf, AVR 32 (1994), 271; OLG Düsseldorf, NJW 1991,3106; OLG Koblenz, Beschluss vom 14.9.1988, Az. 1 Aus!. 8/87, diesem Beschluss liegt die Entscheidung des BVerfG vom 10.6.1988 - 2 BvR 369/88, in: Eserl Lagodny/Wilkitzki, U 167, zugrunde und betrifft eine Auslieferung aufgrund eines Abwesenheitsurteils; OLG Hamm, Beschluss vom 23.12.1986, in: Eser/Lagodnyl Wilkitzki, U 140; OLG Stuttgart, NStZ 1987,80; OLG Düsseldorf, NJW 1987,2172 = NStZ 1987,370 = StV 1987,499; OLG Stuttgart, NStZ 1987, 80; OLG Stuttgart, NJW 1985,573. 101 So OLG Karlsruhe, StV 1999,268 - ausführlich zu Art. 6 EMRK; ThürOLG, StV 1999,265 - zu Art. 6 EMRK; OLG Nürnberg, StV 1997,648 - zu Art. 6 EMRK; OLG München, InfAuslR 1995,382 - zu Art. 3 EMRK und Art. 7 IPbpR; OLG Düsseldorf, AVR 32 (1994), 271- kein Verstoß gegen ne bis in idem; OLG München, Beschluss vom 22.11.1991, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, U 198; OLG Hamm, Beschluss vom 23.12.86, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, U 140; OLG München, Beschluss vom 13.6.1989, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, U 179 - zu Art. 3 EMRK; OLG Braunschweig, Beschluss vom 28.8.1987, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, U 149 - zu Art. 6 EMRK; OLG Frankfurt,
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lehnen sie eine Verletzung des völkerrechtlichen Mindeststandards ab, 102 wenn bereits die Verletzung vertraglicher Menschenrechte nicht ersichtlich ist. 103 In einem zweiten Schritt wird von den Oberlandesgerichten sodann die Zulässigkeit einer Auslieferung an der deutschen öffentlichen Ordnung im Sinne von Art. 73 IRG und somit auch an den innerstaatlichen Grundrechten gemessen, 104 was insbesondere bei Bestehen völkervertragsrechtlicher Verpflichtungen zur Vornahme einer Auslieferungs- oder Rechtshilfemaßnahme sehr umstritten ist. IOS Die Frage des Konflikts zwischen völkerrechtlichen Auslieferungs- und Rechtshilfepflichten und dem Gebot der Achtung des Grund- oder Menschenrechtsschutzes wurde zunächst dahingehend entschieden, dass allein bei einem Verstoß gegen "übergeordnete, von allen Rechtsstaaten anerkannte Grundsätze" der Menschenrechtsschutz Vorrang haben könne. 106 Darunter fielen indes allein die "zwingenden Regeln" des Völkerrechts, so dass die theoretische Verletzung einer völkervertraglichen Menschenrechtsnormder EMRK unbeachtlich bleiben müsse, solange die Bundesrepublik Deutschland nicht einen entsprechenden Vorbehalt zur vertraglichen Auslieferungsverpflichtung geäußert hat. 107 Hier lässt sich nunmehr jedoch ein Wechsel der Rechtsprechung konstatieren, denn in der jüngeren Rechtsprechung der Oberlandesgerichte wird die Vorrangfrage in Abwendung von der ständigen Rechtsprechung des BundesverfassungsBeschluss vom 16.8.1985, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, U 116 - zu Art. 7 EMRK; OLG München, Beschluss vom 26.6.85, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, U 112 - Art. 6 EMRK; OLG Frankfurt, Beschluss vom 28.4.1982, in: Eser/Lagodny/Wi1kitzki, U 60 - zu Art. 5 III 2 EMRK; OLG München, NJW 1982,1241 - zu Art. 5 III 2, 6 I EMRK; OLG Nürnberg, NJW 1982,533 - zu Art. 6 III lit. c) EMRK; HansOLG, GA 1980,264 - zu Art. 4 V, 6 III 1it. c) EMRK); OVG Münster, MDR 1979,609 - zu Art. 6 III lit. c) EMRK. 102 Der völkerrechtliche Mindeststandard wird synonym auch als internationaler ordre public bezeichnet, vgl. nur OLG Hamm, Beschluss vom 23.12.86, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, U 140; OLG Nürnberg, NJW 1982,533. 103 Vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 23.12.86, in: Eser/Lagodny/Wi1kitzki, U 140Rechtshilfe und Art. 6 EMRK; bestätigt durch OLG Stuttgart, NStZ 1987, 80. 104 Vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 23.12.86, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, U 140, bestätigt durch OLG Stuttgart, NStZ 1987, 80; vgl. auch OLG Karlsruhe, StV 1997, 360; OLG Düsse1dorf, StV 1994, 34 = AVR 32 (1994), 278; OLG Hamm, Beschluss vom 23.12.1986, in: EserlLagodny/Wi1kitzki, U 140; OLG Stuttgart, NStZ 1987, 80 - zu Art. 2 I GG; OLG Frankfurt, Beschluss vom 9.7.1986, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, U 131 - zu Art. 73 IRG; vgl. bereits OLG Hamm, Beschluss vom 30.8.1974, in: Eser/Lagodny/ Wi1kitzki, U 7 - zu Art. 6 GG; anders indes OLG Nürnberg, NJW 1982,533. lOS V gl. hierzu die Beschlüsse der OLG Stuttgart, NJW 1985,573; OLG Stuttgart, NStZ 1987,80; OLG Karlsruhe, StV 1997,360, und OLG Düsseldorf, StV 1994,34 = AVR 32 (1994),278; OLG Karlsruhe, StV 1997,360, die den schrittweisen Wandel der Rechtsprechung nachzeichnen. 106 Vgl. OLG Nürnberg, NJW 1982, 533. 107 V gl. OLG Nürnberg, NJW 1982,533, bezogen auf die in Art. 1 EuAlÜbk enthaltene völkerrechtliche Verpflichtung zur Auslieferung und die möglichen Verletzung von Art. 6 III lit. c) EMRK.
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gerichts zunehmend zugunsten des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes entschieden. 108 Eine weitere sehr umstrittene Frage betrifft die Zulässigkeit von sonstigen Rechtshilfemaßnahmen, soweit dadurch in dem ersuchenden Land eine Verurteilung zur Todesstrafe verursacht wird. Unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hob das OLG Köln im Jahre 1985 eine Entscheidung des Amtsgerichts Köln auf, welches die Erfüllung eines Rechtshilfeersuchens der Türkei aufgrund der Vorhersehbarkeit und der Zurechenbarkeit der Verhängung einer Todesstrafe unter Verweis auf Art. 102 GG als unzulässig abgelehnt hatte. 109 Denn nach dem OLG sei es der deutschen Staatsgewalt nicht verboten, einem anderen Staat Rechtshilfe in einem Strafverfahren zu leisten, in welchem die Todesstrafe verhängt werden soll. 110 Im Ergebnis habe das Amtsgericht Köln die Rechtshilfe zu leisten, insbesondere auch weil andernfalls der Rechtshilfeverkehr mit mehreren Staaten, in denen die Todesstrafe noch gilt, erheblich eingeschränkt werden würde. Auch das OLG Karlsruhe lll schloss sich dieser Rechtsauffassung an, indem es die Rechtshilfe deutscher Behörden für ein Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof des Staates Florida für zulässig erklärte, obwohl in diesem Verfahren einem deutschen Staatsangehörigen die Todesstrafe drohte. ll2 Die Unzulässigkeit einer Rechtshilfeleistung bei drohender Todesstrafe könne weder aus Art. 2 11 1 GG noch aus Art. 102 GG abgeleitet werden. ll3 Daher ließe sich insoweit auch weder ein Rechtshilfehindernis aus dem Ordre-public- Vorbehalt des § 73 IRG noch aus Art. 3 EMRK i. V. m. Art. 2 EMRK herleiten. Da schließlich auch eine § 8 IRG entsprechende Norm für den sonstigen Rechtshilfeverkehr fehle l14 und dies als eine "Wertentscheidung des Gesetzes" einzuordnen sei,115 108 Noch offengelassen in OLG Stuttgart, NJW 1985,573; zugunsten der Individualrechte jedoch OLG München, Beschluss vom 17.5.1984, in: Eser/LagodnylWilkitzki, U 87; OLG Hamm, NStZ 1986,515; OLG Stuttgart, NStZ 1987,80; OLG Düsseldorf, NJW 1987, 2172 = NStZ 1987, 370 = StV 1987,499; OLG Düsseldorf, StV 1994,34 = AVR 32 (1994), 278; OLG München, InfAuslR 1995, 382; OLG Nürnberg, StV 1997, 648; ThürOLG, StV 1999,265; OLG Karlsruhe, StV 1999,268. 109 V gl. OLG Köln, NJW 1985, 572, mit Verweis auf BVerfGE 18, 112 (116). 110 OLG Köln, NJW 1985,572 (573). 111 OLG Karlsruhe, NStZ 1991, 138 mit ablehnender Anmerkung Lagodny; abweichend auch jüngst BGH, NStZ 1999,634. 112 Im Verfahren vor dem Circuit Court in Miami war er bereits - nicht rechtskräftigzum Tode verurteilt worden. Über das Rechtsmittel gegen dieses Urteil, welches unter anderem auch Dank der deutschen Rechtshilfeleistung möglich war, hatte der Oberste Gerichtshof zu entscheiden. 113 Unter Berufung auf die BVerfGE 18, 112 (117 f.), dessen Grundsätze auch nicht durch die spätere BVerfGE 60, 348 aufgeben worden seien, OLG Karlsruhe, NStZ 1991, 138 (139); anders allerdings OLG Düsseldorf, StV 1994,34 (35). 114 So auch die Argumentation des OLG Köln, NJW 1985,572. 115 Kritisch zu dieser Gesetzesauslegung Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, IRG, § 8 Rn. 26; sie sprechen sich gegen einen entsprechenden Umkehrschluss aus
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käme es für die Zulässigkeit der geleisteten Rechtshilfe maßgeblich darauf an, ob ein "allgemeines völkergewohnheitsrechtliches Verbot der Todesstrafe" existiere und den Rechtshilfebeitrag unstatthaft mache, was das Gericht zutreffend abgelehnt hat. "6 Jedoch wird die vom EGMR im Soering-Urteil herausgearbeitete folgenbezogene Zurechnung staatlichen Handeins vom OLG nicht erkannt. Statt dessen wird das zitierte Urteil als Begründung herangezogen, dass die EMRK und ihr 6. Zusatzprotokoll nicht etwa ein generelles Verbot der Todesstrafe enthalten. An dieser Stelle hätte das Gericht beachten müssen, dass eine Auslieferung an die Vereinigten Staaten nur deshalb keinen Verstoß gegen das Verbot der Todesstrafe in der EMRK darstellte, weil Großbritannien das 6. Zusatzprotokoll seinerzeit noch nicht ratifiziert hatte. "7 Den Nachweis eines völkergewohnheitsrechtlichen Verbots der Todesstrafe brauchte der EGMR ferner auch gar nicht zu führen, da er nur zur Prüfung einer Verletzung der EMRK befugt ist. Schließlich ist hervorzuheben, dass eine Auslieferung an Staaten, in denen dem Auszuliefernden eine Verletzung der elementaren Menschenrechte droht, insbesondere bei der Gefahr der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, von den Oberlandesgerichten regelmäßig jedenfalls dann für zulässig erachtet wird, wenn der ersuchende Staat eine ausreichende Zusicherung gibt, das menschenrechtswidrige Verhalten zu unterlassen. "8 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass an der grundsätzlichen Anwendbarkeit der Menschenrechte des Völkerrechts durch die Oberlandesgerichte keine Zweifel bestehen. Vielmehr wird von den Oberlandesgerichten zunehmend die besondere Bedeutung der Menschenrechte im internationalen Rechtshilfeverkehr gewürdigt und die Reichweite der völkerrechtlichen Verpflichtungen aus den zwischenstaatlichen Auslieferungs- und Rechtshilfeverträgen - entgegen der bisherigen ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung restriktiv ausgelegt.
§ 8 IRG aus. Man könnte darin mit Bezugnahme auf den Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung m. E. jedoch auch eine Regelungslücke sehen. 116 Zum völkerrechtlichen Verbot der Todesstrafe siehe nur Giegerich, EuGRZ 1995, 1 ff.; Peters, EuGRZ 1999, 650 ff.; Short, GLSJ 6 (1999), 721 ff. ll7 V gl. des Weiteren auch die Kritik an diesem Urteil von Lagodny, NStZ 1991, 140 f., welcher in der Zulässigkeitsentscheidung des OLG eine Missdeutung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes und einen eindeutigen Verstoß gegen Art. 2 11 1 GG sieht. 118 OLG Karlsruhe, NStZ 1999, 252 = StV 1999,272 - Auslieferung an USA; OLG Celle, StraFo 1998, 389; vgl. aber noch den abweichenden Beschluss des gleichen Senats vom 25.3.1998, NStZ-RR 1998,267 = StV 1999,264 = StraFo 1998,205; OLG Hamm, Beschluss vom 9.2.1987, in: EserlLagodnylWilkitzki, U 143; OLG Hamm, NStZ 1986, 515; OLG Stuttgart, Beschluss vom 27.5.1986, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, U 127; OLG Hamm, Beschluss vom 20.3.1985, in: Eser/LagodnylWilkitzki, U 107 - betreffen alle Auslieferungen an die Türkei.
A. Begründungen grundsätzlicher Anwendbarkeit in der Rechtsprechung
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5. Würdigung der deutschen Rechtsprechung Die Untersuchung der einschlägigen Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland bestätigt eindeutig die generelle Anwendbarkeit völkerrechtlicher Menschenrechte als Schranken für den internationalen Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehr. Im vertragsgebundenen Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehr scheinen jedoch nur solche Menschenrechtsbestimmungen für anwendbar anerkannt zu werden, die dem Vertragsrecht vorgehen. Begrifflich wird dies jedoch nur zum Teil mit dem völkerrechtlichen ius cogens erfasst. Insbesondere verweist die Rechtsprechung regelmäßig auf den "völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard", eine Formulierung, die aufgrund ihrer begrifflichen Unbestimmtheit grundsätzlich zu kritisieren ist. Hier wäre es generell vorteilhaft, wenn die deutschen Gerichte mehr Klarheit walten ließen. Auch die als positiv zu bewertende und unbestreitbar zunehmende Tendenz zur Anerkennung menschenrechtlicher Mindeststandards als Schranken des Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehrs ändert nichts daran, dass über die Ermittlung der einschlägigen Menschenrechte und ihre Reichweite im konkreten Fall, insbesondere bei Bestehen einer völkerrechtlichen Verpflichtung zur Auslieferung, erhebliche Unsicherheiten bestehen. So lassen sich nach den Vorgaben der Rechtsprechung kaum klare Kriterien herausarbeiten, welche Menschenrechte der V ölkerrechtsordnung den Status universellen Völkergewohnheitsrechts oder gar völkerrechtlichen ius cogens haben. Dies kann aber nicht allein zum Vorwurf an die Rechtsprechung gereichen, denn die Ermittlung von Völkergewohnheitsrecht ist generell vielfältigen Schwierigkeiten unterworfen. Dennoch müssten diese Kriterien klarer herausgearbeitet werden, denn nur so kann ein angemessener Ausgleich zwischen den staatlichen Interessen an effektiver Strafverfolgung und den Interessen des Einzelnen an der Achtung seiner Menschenrechte geschaffen werden. 119 Bedauerlich ist weiterhin, dass keine klare Aussage darüber getroffen werden kann, wie sich völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte auf das Bestehen völkerrechtlicher Auslieferungs- und Rechthilfeverpflichtungen auswirken. Zwar scheint es uneingeschränkt anerkannt zu sein, dass die vertraglichen Auslieferungs- und Rechthilfeverpflichtungen jedenfalls dann hinter der Pflicht zur Achtung der Menschenrechte zurücktreten, wenn die betroffenen Menschenrechte den zwingenden Charakters des ius cogens aufweisen. Dies entspricht ja auch dem Art. 53 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (WVK),120 wonach ein Vertrag nichtig ist, wenn er im Zeitpunkt seines Abschlusses im Widerspruch zu einer zwingenden Norm des allgemeinen Völker119 Vgl. hierzu Dugard/van den Wyngaert, AJIL 92 (1998), 187 ff., die die mangelnde Transparenz als eigentliche Gefahr für die Missachtung von Menschenrechte beziffern. 120 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23.5.1969 (WVK), UNTS, Vo!. 1155, 331 ff., ILM 8 (1969), 679 =JIR 15 (1969), 724, BGB!. 1985 H, 926.
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Teil 2, 4. Kap.: Prinzipielle Anwendbarkeit der Menschenrechte
rechts steht. 121 Darüber hinaus lassen einige Urteile aber den Eindruck entstehen, dass auch solche Menschenrechte, denen nicht der Charakter des ius cogens eingeräumt werden kann, die aber dennoch zu dem völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard auf dem Gebiet der strafprozessualen Menschenrechte gerechnet werden, einer völkerrechtlichen Auslieferungsverpflichtung entgegengehalten werden können. Schließlich ist insbesondere an der innerstaatlichen Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland der äußerst zurückhaltende Rückgriff auf die vertraglichen Menschenrechte der EMRK zu kritisieren, was weder der zunehmenden Bedeutung der ERMK im Rahmen der Entstehung einer "europäischen öffentlichen Ordnung" noch der völkerrechtlichen Bindung der Bundesrepublik Deutschland an die Konvention gerecht wird. 122 Aus diesen Gründen kann der kategorischen Begrenzung der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung in Deutschland auf den "völkerrechtlichen Mindeststandard" als völkerrechtliche Grenze des internationalen Rechtshilfeverkehrs so nicht gefolgt werden. Vielmehr obliegt es der deutschen Rechtsprechung die grundsätzlich in Betracht kommenden und die Bundesrepublik Deutschland bindenden völkerrechtlichen Menschenrechte herauszuarbeiten, um in einem zweiten Schritt zu untersuchen, in welchem Umfang sie Anwendung finden.
III. Innerstaatliche Rechtsprechung ausländischer Staaten
Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung kann nur ein kursorischer Überblick über die Rechtsprechung einzelner Staaten gegeben werden. l23 Jedoch kann auch nicht ganz auf diese rechts vergleichenden Hinweise verzichtet werden, da dann der internationalen Dimension sowohl der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen wie auch des Menschenrechtsschutzes nicht Rechnung getragen würde.
121 Vgl. hierzu aber die berechtigte Kritik von Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 70 ff. 122 Im Einzelnen zu diesen Fragen unten 6. Kapitel, S. 479 ff., 486 ff., 493 ff., 510 ff., 514 ff. 123 Vgl. die Gemeinschaftsstudie des Max-Planck-Institut für internationales und ausländisches Strafrecht in Freiburg im Breisgau unter Leitung von Lagodny, Rechtliche Grenzen und Möglichkeiten der Auslieferung in rechtsvergleichender Sicht, siehe ; vgJ. bereits die umfassende Untersuchung von Lagodny/Reisner, Finn. Yb. Int'l Law 3 (1992),237 (260 ff.), sowie Dugardlvan den Wyngaert, AJIL 92 (1998),187 (191,193 ff.) mit zahlreichen Beispielen zur Rechtsprechung in europäischen und anderen Staaten.
A. Begrundungen grundsätzlicher Anwendbarkeit in der Rechtsprechung
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1. Die Rechtsprechung weiterer europäischer Staaten Die Gerichte vieler Staaten lehnen es grundsätzlich ab, den Grund- und Menschenrechtsstandard im Bereich des materiellen und prozessualen Strafrecht unter Zugrundelegung eigener Grundsätze zu untersuchen und zollen statt dessen unter Anwendung der rule ofnon inquiry der fremden Rechtsordnung Respekt. 124 Jedoch lässt sich eine Tendenz erkennen, innerstaatliche Grundrechte zunehmend als Grenze von Auslieferungs- und Rechtshilfemaßnahmen anzuerkennen. So gehen in den Niederlanden die Gerichte grundsätzlich zwar davon aus, dass ein Auslieferungsersuchen in "gutem Glauben" (vertrouwensbeginsel) gestellt wird, jedoch habe die Verteidigung des Verfolgten immer das Recht, vorzubringen, das Grundund Menschenrechte im ersuchenden Staat verletzt wurden oder verletzt werden könnten. 125 Hervorzuheben ist die Entscheidung des niederländischen Verfassungsgerichtes in der Sache Short, 126 dessen Entscheidung stark von demSoeringUrteil beeinflusst wurde. Short war ein amerikanischer Soldat, welcher verdächtigt wurde, seine Frau umgebracht zu haben. Seine Übergabe an die amerikanischen Behörden wurde auf der Basis eines NATO-Truppen-Stationierungsübereinkommen zwischen den Niederlanden und der USA gefordert. Nachdem die amerikanischen Behörde sich weigerten, eine Erklärung darüber abzugeben, nicht die Todesstrafe zu verhängen oder zu vollstrecken, erklärte das niederländische Gericht die Auslieferung an die USA für unzulässig, da es andernfalls seine völkerrechtliche Bindung an das 6. ZP der EMRK verletzen würde. Zwar stünde dieser völkerrechtlichen Pflicht die grundsätzlich gleichwertige Verpflichtung aus dem NATO-Truppen-Stationierungsübereinkommen zur Auslieferung gegenüber, welche mit der Entscheidung des Gerichtes auch keinesfalls als vom 6. ZP der EMRK verdrängt angesehen werden soll; jedoch sei es notwendig, die sich widerstreitenden Interessen der Vertragspartner auszugleichen. Hierbei sei das Interesse Shorts an der Nichtauslieferung aufgrund der zu befürchtenden Todesstrafe schwerer zu gewichten als das Interesse der Niederlande an der Auslieferung aufgrund des völkerrechtlichen Vertrages mit den USA. 127 Anders als der EGMR konnte (und musste) der niederländische Verfassungsgerichtshof die Frage der völkerrecht124 V gl. die Beispiele aud der anglo-arnerikanischen und kanadischen Rechtsprechung bei Dugard/van den Wyngaert, AJIL 92 (1998),187 (189 ff.). 125 V gl. Swart, in: ders./Klip, International Crirninal Law, S. 85 (95, 112 ff.); ähnlich in BVerfG, Beschluss vorn 22.6.1992 - 2 BvR 1901/91, in: Eser/LagodnylWilkitzki, U 202; OLG München vorn 22.11.1991, in: Eser/LagodnylWilkitzki, U 198, S. 657 (673); ausführlich zur Rechtsprechung der Niederlande van der Wilt, NILR 1995,53 ff. 126 Urteil des niederländischen Verfassungsgerichts (Hoge Raad) vom 30.3.1990, NJ 249, Rechtspraak 76 (1990), 358, ILM 29 (1990), 1357 Neth. YB. Int'! L. 22 (1991), 432; vgl. auch AJIL 85 (1991), 698; hierzu auch van den Wyngaert, ILCQ 39 (1990), 757 (762); ausführlich van der Wilt, NILR 1995,53 (62 ff.). 127 Später wurde Short dann nach erklärter Zusicherung durch die amerikanischen Behörden an die USA ausgeliefert.
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lichen Bindung an den Auslieferungsvertrag problematisieren. Den Ausgleich zwischen den widerstreitenden Verpflichtungen suchte das Gericht durch eine Abwägung zu lösen, die im Ergebnis dazu führte, dass die Auslieferung für unzulässig erklärt wurde. Auch in der Schweiz finden Grund- und Menschenrechte zur Begrenzung des internationalen Rechtshilfeverkehrs Anwendung. I28 Das Schweizerische Bundesgericht hat in mehreren Fällen in Art. 3 EMRK eine Grenze der Auslieferung erblickt. 129 So handele es sich bei Art. 3 EMRK um eine "zwingende Norm" des Völkerrechts und des internationalen ordre pub/ie, die bei der Zulässigkeit einer Auslieferung stets beachtet werden muss. 130 In der Republik Irland ist ebenfalls ein sehr weitgehender Rekurs auf Grundund Menschenrechte zur Begründung von Auslieferungshindernissen festzustellen. So verweigert Irland die internationale Rechtshilfe in Strafsachen unter Berufung auf das Schutzniveau der innerstaatlichen Rechtsordnung. Insbesondere haben Gerichte eine Auslieferung in Fällen, in denen das Risiko bestand, dass der Auszuliefernde in dem ersuchenden Staat von Strafvollzugsbehörden rechtswidrig angegriffen wird oder kein gerechtes Verfahren erlangt, mit der Begründung verweigert, dass dies die Rechte des Verfolgten verletzen würde, die ihm nach der irischen Verfassung zu gewähren sind. 131 Hier werden also offenbar die Rechtsstaatsprinzipien in der Rechtsordnung des ersuchenden Staates an dem Niveau der irischen Verfassung geprüft. Das gleiche gilt für Frankreich, das sich seit jüngerer Zeit am französischen (nicht am internationalen) ordre publie, der durch nationale Grundrechte aufgefüllt wird, orientiert. Bedeutsam für die EMRK-Garantien ist in Frankreich die Wende in einer Entscheidung von 1989, in der erstmals eine Kontrolle nachfolgender nationaler Gesetze am Maßstab internationaler Verträge vorgenommen wurde. 132 In dem Urteil des italienischen Verfassungsgerichthofs in Venezia v. Ministero di Grazia e Giustizia 133 aus dem Jahr 1996 ging es um die Auslieferung von Pietro Venezia an die USA, wo er wegen Raubmordes zum Tode verurteilt worden war. 128 Schweizerisches Bundesgericht vom 18.3.1994, G. v. Bundesamtfür Polizeiwesen, No. B74382. 129 BG, Khetty, Urteil vom 22.2.1980, P 1005/80 - nicht veröffentlicht; zitiert bei Hailbronner/Olbrich, AVR 24 (1986), 434 (460) Fn. 110; Dharmajarah, Urteil vom 27.3.1981, BGE 107 Ib, 68 = EuGRZ 1981,507; Sener, Urteil vom 22.3.1983, BGE 109 Ib, 64 = EuGRZ 1983, 253; weitere Nachweise bei Villiger, HB der EMRK, S. 184 Fn. 46. 130 BG, Sener, Urteil vom 22.3.1983, BGE 109 Ib, 64 =EuGRZ 1983,253. 131 Nachweise bei Dugard/van den Wyngaert, AJIL 92 (1998),187 (191,194). I32 Mit Bezug auf die Bedeutung des 6. ZP-EMRK für die nationalen Grundrechte vgl. Conseil d'Etat vom 27.2.1987, Fidan, D.P. 198711,305; vom 14.12.1987, Gacem, J.c.P. 1988 IV, 86, zitiert bei Bianchi, AJIL 91 (1997),727 (730). I33 Corte Costituzionale, Urteil Nr. 223 vom 27.6.1996, Riv. dir. int. 1996, 815; hierzu Bianchi, AJIL 91 (1997), 727 ff.
A. Begründungen grundsätzlicher Anwendbarkeit in der Rechtsprechung
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Trotz Bestehen eines Auslieferungsvertrages zwischen den USA und Italien und einer Zusicherung der amerikanischen Strafverfolgungsbehörden, das Urteil nicht zu vollstrecken, kam das angerufene Verfassungsgericht zu dem Ergebnis, dass eine Auslieferung gegen das in Art. 2 der italienischen Verfassung gewährte Lebensrecht und das in Art. 27 verfassungsrechtlich abgesicherte Verbot der Todesstrafe verstößt. Dies begründete es trotz der Hinweise der amerikanischen Regierung, dass nationales Recht nicht den Bruch völkerrechtlicher Verpflichtungen rechtfertige, 134 damit, dass es sich bei diesen Bestimmungen um fundamentale und absolute Prinzipien der italienischen Verfassung handele, deren Einhaltung nicht von einem Entscheidungsspielraum der zuständigen italienischen Behörden und Gerichte bei der Bewertung der Effektivität und der Zuverlässigkeit der ausländischen Zusicherung abhängen dürfe. 135 Trotz der zeitgleichen Beschwerde Venezias bei der Europäischen Kommission für Menschenrechte 136 ist das Verfassungsgericht an keiner Stelle des Urteils auf die internationalen Menschenrechte eingegangen, sondern hat sich allein auf das italienische Verfassungsrecht gestützt. Das war insofern erstaunlich, als sich das Gericht in seiner bisherigen Rechtsprechung regelmäßig auf die internationale Praxis oder aber auf die Verletzung internationaler Menschenrechtsinstrumente gestützt hatte. 137 Nach der Rechtsprechung des österreichischen Verfassungsgerichtshofes verpflichte Art. 3 EMRK Österreich, die Außerlandesschaffung eines Fremden zu unterlassen, wenn diese Maßnahme (Ausweisung) die nach Art. 3 EMRK unter keinen Umständen erlaubte Folgen (unmenschliche Behandlung oder Folter) haben kann. 138 Insofern schütze Art. 3 EMRK auch vor Menschenrechtsverletzungen durch andere Staaten und habe in gewisser Weise extraterritoriale Wirkung. 139 Jedoch wird in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs mit seiner Judikatur zum Refoulement-Verbot l40 sowie 134
Auf diese Frage ist das italienische Verfassungsgericht indes nicht eingegangen.
Etwas anderes gelte beispielsweise in solchen Fällen, in denen ein bilateraler Auslieferungsvertrag nicht die Verpflichtung zur Zusicherung, sondern zur Umwandlung der Strafe in eine dem ersuchten Staat angemessene Strafe vorsieht, wie es im Auslieferungsvertrag zwischen Marokko und Italien der Fall ist, vgl. Bianchi, AJIL 91 (1997), 727 (729). 135
mV gl. die vor der Entscheidung eingereichte und nach dem Urteil hinfällig gewordene Beschwerde bei der EKMR, Venezia v. Italien, E 29966/96 vom 21.10.1996. Die Kommission hatte der italienischen Regierung nahegelegt, Venezia solange nicht auszuliefern, bis die Kommission endgültig über die Beschwerde entschieden habe, vgl. Bianchi, AJIL 91 (1997), 727 (730). 137
V gl. nur die Nachweise bei Bianchi, AJIL 91 (1997), 727 (731).
Vgl. nur Feik, ZÖR 54 (1999),19 (20) m. w. N.; zu der vergleichbaren Situation in Deutschland Giegerich, EuGRZ 1995, 1 (12). 138
139 Hier geht es allerdings um Art. 3 EMRK als Grundrecht des österreichischen Verfassungsrechts und dessen räumliche Anwendbarkeit. 140 Vgl. etwa VfSlg. 13.897/1994; VfSlg. 14.116/1995; VfSlg. 14.119/1995.
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Teil 2, 4. Kap.: Prinzipielle Anwendbarkeit der Menschenrechte
zum Verbot nach Art. 1 des 6. ZP-EMRK i. V. m. Art. 85 B-VG, nicht in einem anderen Staat zum Tode verurteilt werden zu dürfen, angeführt. 141
2. Die Rechtsprechung nordamerikanischer Staaten Zu den spektakulären Entscheidungen nationaler Gerichte im Auslieferungsrecht ist das Urteil des kanadischen Obersten Gerichts im Fall Kindler v. Canada aus dem Jahr 1991 zu zählen. 142 Nach der Entscheidung des kanadischen Justizministers, Kindler auszuliefern, ohne die USA um die Zusicherung zu ersuchen, die Todesstrafe nicht zu verhängen, hat der kanadische Oberste Gerichtshof diese Entscheidung mit der Begründung bestätigt, dass weder das kanadische Auslieferungs gesetz noch die konkrete Auslieferungsentscheidung gegen das verfassungsmäßig garantierte Lebensrecht verstoße. 143 Auch in der nationalen Rechtsprechungspraxis der USA spielten die internationalen Menschenrechte im Bereich der grenzüberschreitenden Strafverfolgung in der Vergangenheit nur eine äußerst marginale Rolle, wie der noch im Jahre 1992 entschiedene, viel zitierte Fall United States v. Alvarez-Machain bestätigt hat. 144 Die Rechtsprechungspraxis der amerikanischen Gerichte ist dabei gekennzeichnet von einer umfassenden Achtung der Souveränität anderer Staaten und derer Rechtsordnungen, was dazu führt, dass es dem Einzelnen grundsätzlich verwehrt ist, Constitutional rights gegen eine Auslieferung oder ein ausländisches Strafverfahren vorzubringen, denn "those [Constitutional] provisions have no relation to crimes committed without the jurisdiction of the United States against the laws of a foreign country".145 Auch zahlreiche weitere Entscheidungen zeigen, dass die Geltendmachung von Menschenrechten in Verfahren der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen vor den US-amerikanischen Gerichten in der Vergangenheit wenig Erfolg verzeichnen konnte. 146 Jedoch scheint sich seit Beginn der 141 Vgl. VfSlg. 13.981/1994; VfSlg. 13.995/1994; vgl. auch Verfassungsgerichtshof, Erkenntnis vom 29.6.1995, EuGRZ 1995,615 (619), zitiert von Häde, Der Staat 36 (1997), 1 (19) Fn. 113. 142 Supreme Court, Urteil vom 26.9.1991, abgedruckt in ILR 98 (1994), 371 ff.; vgl. die bereits dargestellte Enrscheidung des UN-AMR, Kindler v. Canada, Entscheidung vom 30.7.1993, HRU 1993,307 ff., sowie das Urteil des kanadischen Obersten Gerichts im Fall Reference re Ng, Urteil vom 26.9.1991, ILR 98 (1994), 473 ff.; siehe dazu S. 278 ff. 143 Supreme Court, Urteil vom 26.9.1991, ILR 98 (1994), 371 (420 ff.). 144 Vgl. die Alvarez-Machain-Entscheidung des US Supreme Courts, United States v. Alvarez-Machain, 112 S. Cl. 2188, 119 L.Ed.2d 441,60 U.S.L.W. 4523 (1992), zitiert bei BakerlRäben, ZaöRV 53 (1993),657 (679); hierzu näher unten 6. Kapitel, S. 421 f. 145 So noch in der Entscheidung Neely v.Henkel, 180 US 109, 122 (1901), zitiert von van der Wilt, NILR 1995,53 (70), und Wiehl, Mich. J. Int'l L 19 (1998), 729 (741). 146 V gl. nur die zahlreichen Rechtsprechungsnachweise bei van der Wilt, NILR 1995,53 (69 ff.), und Wiehl, Mich. J. Int'l L 19 (1998), 729 (741 ff.).
A. Begründungen grundsätzlicher Anwendbarkeit in der Rechtsprechung
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90er Jahre auch in den USA ein Rechtsprechungswechsel anzudeuten, wonach es nicht mehr zu akzeptieren sei, dass die Constitutional rights in Fällen der grenzüberschreitenden Strafverfolgung eine geringere Bedeutung erlangen als bei rein innerstaatlichen Sachverhalten. 147 Insbesondere die berühmte Parretti-Entscheidung 148 aus dem Jahre 1997 bestätigt diesen Befund, da hier erstmals die vorläufige Inhaftierung eines mutmaßlichen Straftäters auf der Basis eines ausländischen Auslieferungsersuchens als Verstoß gegen die amerikanischen Verfassungsgrundsätze eingestuft wurde, weil der ausländische Haftbefehl von den amerikanischen Behörden nicht auf Stichhaltigkeit der zugrundeliegenden Vorwürfe hin untersucht worden iSt. 149 Wenngleich die amerikanischen Gerichte hier nationale Grundrechte und keine internationalen Menschenrechte anwenden, ist in diesem Wechsel der Rechtsprechungspraxis der erhebliche Bedeutungszuwachs subjektiver Rechte des Einzelnen als Grenze zwischenstaatlicher Zusammenarbeit bei der Strafverfolgung zu erkennen. Von besonderer Bedeutung für die im Rahmen dieser Arbeit gestellten Fragen ist die Paretti-Entscheidung auch deshalb, weil der United States Court 0/ Appeals dem Schutz der Verfahrensrechte Vorrang einräumte vor dem staatlichen Interesse der Vereinigten Staaten an der Durchführung und Achtung des bestehenden Auslieferungsvertrages mit Frankreich. 150
3. Würdigung der ausländischen Rechtsprechung Der Blick auf die innerstaatliche Rechtsprechung in Europa zeigt, dass nicht nur Menschenrechte, sondern zunehmend auch Grundrechte und sonstige Verfassungsprinzipien als Schranken des internationalen Rechtshilfeverkehrs, insbesondere der Auslieferung, anerkannt werden. 151 So bestätigt auch die Analyse der ausländischen Rechtsprechung die bereits im 2. Kapitel festgestellte Tendenz in der internationalen Staatenpraxis, dass Menschenrechte eine zunehmende Bedeutung bei der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen erlangt haben. So gibt die Praxis der europäischen Staaten weiter Anlass zu der Prüfung, ob und inwieweit ein europäischer ordre public im Entstehen ist, der sich zusammensetzt aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der europäischen Staaten wie sie in den nationalen Verfassungen niedergelegt sind und sich in der EMRK widerspiegeln. 152 Vgl. Wiehl, Mich. J. Int'l L 19 (1998), 729 (733) mit zahlreichen Nachweisen. United States Court of Appeals vom Mai 1997, 112 F.3d, 1373, zitiert bei Wiehl, Mich. 1. Int'l L 19 (1998), 729 (733). 149 Ausführlich zur Paretti-Entscheidung Wiehl, Mich. 1. Int'l L 19 (1998), 729 (733 ff., 762 ff.) 150 Hierzu United States Court of Appeals vom Mai 1997, 112 F.3d, 1373 (1377 f., 1483 ). 151 Vgl. auch Lagodny, in: SchomburglLagodny, Einleitung, Rn. 111 ff., § 73 Rn. 25. 152 So auch Bianchi, AJIL 91 (1997), 727 (733). 147
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Teil 2, 4. Kap.: Prinzipielle Anwendbarkeit der Menschenrechte
B. Begründungen der grundsätzlichen Anwendbarkeit im Schrifttum Auch die Auffassungen im Schrifttum der Bundesrepublik Deutschland stimmen im Grundsatz darin überein, dass völkerrechtliche Menschenrechte die internationale Rechtshilfe in Strafsachen begrenzen können. 153 Insbesondere ist es unstreitig, dass Menschenrechte aufgrund der innerstaatlichen Bindung nahezu uneingeschränkt Anwendung finden, wenn keinerlei völkerrechtliche Verpflichtungen zur Auslieferung oder Rechtshilfe bestehen (ungebundener Rechtshilfeverkehr). Analog zur Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland lässt sich jedoch keine Übereinstimmung in der Frage finden, ob und in welchem Umfang die völkerrechtlichen Menschenrechte den vertragsgebundenen Rechtshilfeverkehr beschränken können. Daher soll im Folgenden das Schrifttum der Bundesrepublik Deutschland vor allem darauf untersucht werden, welche Kriterien für und welche gegen die nur eingeschränkte Anwendbarkeit der Menschenrechte im vertraglichen Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehr entwickelt wurden. Darüber hinaus soll besonderes Augenmerk auch auf die Ermittlung der grundsätzlich anwendbaren Menschenrechte gelegt werden, um die Unterschiede zwischen völkergewohnheitsrechtlichen und vertraglichen Rechten hervorzuheben.
I. Schrifttum der Bundesrepublik Deutschland Im Schrifttum der Bundesrepublik Deutschland finden sich zwei unmittelbar miteinander konkurrierende Auffassungen bezüglich der Reichweite von völkerrechtlichen Menschenrechten beim vertrags gebundenen Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehr. Diese beiden Auffassungen sollen im Folgenden näher vorgestellt werden, um im Anschluss auch einen Überblick über die im übrigen Schrifttum der Bundesrepublik Deutschland vertretenen Auffassungen zu geben.
1. Die" Theorie vom Vertragscharakter der Auslieferung" von Vogler Die Auffassung Voglers zur Anwendung von Menschenrechten auf die internationale Rechtshilfe in Strafsachen gründet auf der Ausgangsprämisse, dass die der Zusarnrnenarbeit zugrunde liegenden Übereinkommen und Verträge nur Rechte und Pflichten der Vertragspartner begründen, nicht jedoch subjektive Rechte einzelner Privatpersonen, es sei denn, dass sie ihnen ausdrücklich von den Vertragsparteien eingeräumt wurden. 154 Die Rechte, die einem Verfolgten im innerstaatlichen AusVogler, in: VoglerlWilkitzki, IRG, § 73 Rn. 7. Vgl. Vogler, ZStW 105 (1993), 3 ff. unter Berufung auf BVerfGE 46,214 (220); BGHSt 18,218 (220); 22, 307 (309); 30, 347 (349); siehe auch BGHSt 34, 257 (259); zustimmend Gillmeister, N1W 1991, 2245; Häde, Der Staat 36 (1997), 1 (12). 153
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B. Begründungen der grundsätzlichen Anwendbarkeit im Schrifttum
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lieferungs verfahren in seiner, nunmehr von ihm anerkannten, uneingeschränkten Stellung als Rechtssubjekt gegenüber der öffentlichen Gewalt zukämen, hätten keinerlei Auswirkungen auf die Feststellung, dass Auslieferungsverträge im Außenverhältnis nur Rechte und Pflichten zwischen den vertragschließenden Staaten begründen. 155 Diese Schlussfolgerungen gründen auf der (nicht nur) von Vogler vertretenen "Theorie vom Vertragscharakter der Auslieferung", wonach die Auslieferung definiert wird als ein völkerrechtliches Rechtsgeschäft, das durch Annahme (Bewilligung der Auslieferung) des Vertrags an gebotes (Auslieferungsersuchen) zustande kommt. 156 Danach stellt jede Auslieferung einen (eigenständigen) völkerrechtlichen Vertrags schluss dar, auch wenn ihr kein generelles Auslieferungsübereinkommen zugrunde liegt. Aus diesen Gründen deckt sich die Fragestellung nach der Anwendbarkeit der Menschenrechte mit der allgemeinen Frage nach den Grenzen der völkerrechtlichen Vertragsfreiheit. Als Grenze der völkerrechtlichen Vertrags freiheit erkennt Vogler solche völkerrechtlichen Normen an, die zwingenden Charakter haben, namentlich das ius cogens. 157 Sofern Bestimmungen des ius cogens der Vertragsfreiheit im Auslieferungsrecht Grenzen setzen, wäre widersprechendes Vertragsrecht völkerrechtswidrig, ebenso wie eine entsprechende Auslieferung. 15s Infolgedessen kommt Vogler zu dem Ergebnis, dass auf den vertragsgebundenen Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehr nur solche Menschenrechte Anwendung finden, die dem völkerrechtlichen ius cogens zugeordnet werden können. Soweit es indes um den außervertraglichen Rechtshilfeverkehr geht, seien mangels vorliegender völkervertraglicher Verpflichtung auch die im Rang unterhalb des ius cogens stehenden völkerrechtlichen Menschenrechte anwendbar.
2. Die .. Lehre vom innerstaatlichen Vollzugsakt" von Lagodny Auch Lagodny rechnet die Menschenrechte zu Normen, die die internationale Rechtshilfe in Strafsachen grundSätzlich begrenzen können und nennt sie deshalb "völkerrechtliche Gegenrechte" . 159 Im Unterschied zur Auffassung von Vogler und unter Berufung auf eine "dreidimensionale Sichtweise" des internationalen Rechtshilfeverkehrs in Strafsachen sei hierbei jedoch vor allem an dem innerstaatlichen Vollzugsakt und nicht allein an der zwischenstaatlichen Rechtshilfeverpflichtung Vgl. Vogler, ZStW 105 (1993), 3 (7). Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 33; ders., in: FS Wiarda (1990), 663 (667); ebenso Amold, BayVBI. 1974,520 (522); Geiger, GG und Völkerrecht, S. 311; Schröder, BayVBI. 1979, 231; Schwaighofer, Auslieferung, S. 60. 157 Vgl. Vogler, ZStW 105 (1993), 3 (8 f.); ders., in: Vogler/Wilkitzki, IRG, § 73 Rn. 7. 158 Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 214 ff., 219 ff.; ders., in: FS Wiarda (1990),663 (668); vgl. auch Frowein/Kühner, ZaöRV 43 (1983),537 (557). 159 Vgl. Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 63 ff. 155
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Teil 2, 4. Kap.: Prinzipielle Anwendbarkeit der Menschenrechte
anzuknüpfen. 160 Bezogen auf den völkerrechtlichen Vertragsschluss stimmt er Vogler im Grundsatz zu, dass dieser allein unter dem Vorbehalt von höherrangigen Normen des Völkerrechts stehe, dass mithin nur Menschenrechte mit der Qualität von ius cogens einem Auslieferungs- oder Rechtshilfevertrag entgegenstehen können. Jedoch komme dieser Ebene der menschenrechtlichen Grenzen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen in der Praxis nur eine geringe Bedeutung zu. Von größerer Bedeutung für den Individualrechtsschutz sei es, den innerstaatlichen Vollzugs akt auf dessen Konformität mit menschenrechtlichen Verpflichtungen der Staaten hin zu überprüfen. Er trennt daher bei der Prüfung der Zulässigkeit, etwa einer Auslieferung, zwischen dem völkerrechtlichen Vertrag als solchem, welcher mit der in ihm enthaltenen Auslieferungsverpflichtung das "völkerrechtliche Müssen" regelt, und dem innerstaatlichen Vollzugsakt, namentlich der Übergabe an den ersuchenden Staat. 161 Das Ansetzen am innerstaatlichen Vollzugsakt erfasse im Gegensatz zum völkerrechtlichen Müssen einerseits das "völkerrechtliche Dürfen" und andererseits das "innerstaatliche Dürfen" .162 Nur durch eine solche konsequente Trennung seien die Normenkonflikte zwischen vertraglichen Rechtshilfeverpflichtungen und dem völker- und verfassungsrechtlichen Gebot des Menschenrechtsschutzes aufzulösen. 163 Das für den völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz erhebliche "völkerrechtliche Dürfen" werde "zum einen bestimmt durch den - allerdings sehr geringen - Bestand an völkerrechtlichem Mindeststandard", welchen er dem ius cogens gleichsetzt und "zum anderen durch regionale Menschenrechtspakte wie dem IPbpR und [ ... ] der EMRK" .164 Dieser völkerrechtliche Bestand an Menschenrechten ginge jedoch weitgehend im "innerstaatlichen Dürfen" auf, welches in erster Linie von den Grundrechten der deutschen Verfassungsordnung bestimmt werde. 165 Ein Konflikt zwischen dem" völkerrecht160 Lagodny, NJW 1988,2146 (2147); ders., Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 63, 91; zustimmend Häde, Der Staat 36 (1997),1 (12); ebenso Schomburg, StV 1998, 153. 161 Lagodny/Schomburg, European Journal ofCrime, Criminal Law and Criminal Justice 1994, 379 (385); Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, Einleitung, S. 18. 162 Ibid. 163 Lagodny, NJW 1988,2146 (2147, 2150); ders./Schomburg, European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice 1994,379 (385). 164 Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, Einleitung, S. 18; vgl. bereits Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 93 f. 165 V gl. Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, Einleitung, S. 18; siehe zur Grundrechtsgeltung vor allem Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 128 ff.; ders., in: SchomburglLagodny, Internationale Rechtshilfe, IRG, § 73 Rn. 14 ff.; Schomburg, StV 1998, 153 ff.; die Grundrechtsanwendung im Bereich des internationalen (vertragsgebundenen) Rechtshilfeverkehrs wird des Weiteren bejaht von Gusy, GA 1983,73 ff.; Kokott, in: BDGVR 38 (1998), 71 (97); SchöbenerlBausback, DÖV 1996,621 (626 f.); Schüssler, NJW 1965, 1896 ff.; differenzierend Elbing, Grundrechte, S. 170 ff.; Häde, Der Staat 36 (1997), 1 (10); Hofmann, Grenzüberschreitende Sachverhalte, S. 264; ablehnend Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 202 ff.; ders., in: GrütznerfPötz, IRG, § 8 Rn. 7 ff., § 73 Rn. 6; ders., GA 1996,569 ff.; ders., NJW 1994, 1433 (1435); von Bubnoff, Auslieferung, S. 57.
B. Begründungen der grundsätzlichen Anwendbarkeit im Schrifttum
307
lichen Müssen" und dem "innerstaatlichen Dürfen" sei nur unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Nonnenhierarchie aufzulösen, welche den grundrechtlichen Individualrechtsschutz zum Maßstab allen staatlichen HandeIns erhebe. l66 Der Nonnenkonflikt sei damit gegen die völkerrechtliche Verpflichtung zur Vornahme einer konkret ersuchten Rechtshilfemaßnahme aufzulösen, wobei der Verstoß gegen die Verpflichtung aus einem entsprechenden Auslieferungs- oder Rechtshilfevertrag nur auf politischem Wege "gerechtfertigt" werden könne. 167 Im Ergebnis befürwortet Lagodny somit die grundsätzliche Anwendbarkeit der Menschenrechte der Völkerrechtsordnung auf die internationale Zusammenarbeit in Strafsachen, wobei er hierbei vor allem auf die in der EMRK kodifizierten Menschenrechte rekurriert. 168 3. Weitere Stellungnahmen im Schrifttum der Bundesrepublik Deutschland Die ehemalige Bundesverfassungsrichterin Graßhoffhat ausgeführt, dass die Schranke der "unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze der Bundesrepublik Deutschland", durch welche die Auslieferung an die Vereinbarkeit mit einem nationalen ordre public geknüpft wird, wohl auf weitmögliche Konkordanz von Grundrechtsschutz und Beachtung völkerrechtlicher Bindungen abziele. 169 Es liegt nahe, dass damit an die Bestimmung des Art. 1 11 GG angeknüpft wird, der "unverletzliche und unveräußerliche Menschenrechte" gewährleistet, welche die Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft bilden und deren Beachtung daher auch von fremden Staaten erwartet werden dürfeYo Diese Grundsätze stellten folglich die Geschäftsgrundlage einer jeden Auslieferungsvereinbarung dar, deren Missachtung es daher rechtfertige, die Auslieferung abzulehnen. 171 Bei der Untersuchung der Auslieferung als Rechtsinstitut zwischen Völkerrecht und Grundrechten unterscheidet Häde beispielhaft zwischen der völkerrechtlichen und der innerstaatlichen Betrachtung der individualrechtlichen Grenzen von Auslieferungen. 172 Darüber hinaus differenziert er zwischen der Frage der Anwendbar166 V gl. LagodnylSchomburg, European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice 1994, 379 (385); im Einzelnen dazu unten 5. Kapitel, S. 381 ff., 6. Kapitel, S. 493 ff. 167 Vgl. nur LagodnylSchomburg, European Journal ofCrime, Criminal Law and Criminal Justice 1994, 379 (385). 168 Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 96 ff. (zu Art. 2, 8 EMRK), S. 117, 126 (zu Art. 3 EMRK); ders., in: SchomburglLagodny, Internationale Rechtshilfe, IRG, § 73 Rn. 50 (zu den übrigen Konventionsrechten). 169 Vgl. GraßhoflBackhaus, EuGRZ 1996,445 (448). 170 GraßhoflBackhaus, EuGRZ 1996,445 (448) unter Verweis auf Evers, in: BK, GG (1982), Art. 79 III Rz. 137 f., 171; ferner Benda, in: HB des Verfassungsrechts, S. 162 m.w.N. 171 GraßhoflBackhaus, EuGRZ 1996,445 (448). 172 V gl. Häde, Der Staat 36 (1997), 1 (8 ff.).
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Teil 2, 4. Kap.: Prinzipielle Anwendbarkeit der Menschenrechte
keit von Grund- und Menschenrechten in Fällen, in denen die individualrechtserheblichen Wirkungen einer Auslieferung erst im Ausland eintreten und den Auswirkungen einer völkerrechtlichen Auslieferungsverpflichtung. 173 Hier kommt er zu dem Ergebnis, dass trotz fehlender Bindung des ausländischen Souveräns an die deutschen Verfassungsprinzipien entsprechende Menschenrechtsverletzungen in Folge einer Auslieferung an den ersuchenden Staat den deutschen Hoheitsorganen zuzurechnen sind, wenn sie über eine bloße Kausalität hinaus "hinreichend wahrscheinlich" sind. 174 Erst im Anschluss widmet er sich der Frage, welche Auswirkungen das Bestehen einer völkerrechtlichen Verpflichtung zur Auslieferung haben kann. Zur Lösung des daraus entstehenden Konfliktes schlägt er zur Harmonisierung von völkerrechtlichen und innerstaatlichen Verpflichtungen eine einschränkende Auslegung des Art. 1 III GG vor. 175 Die bestehenden völkervertraglichen Beziehungen führten daher über den Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit zu einem eingeschränkten Prüfungsmaßstab und zu einem Zurücknehmen des Schutzbereichs der Grundrechte. 176 Als zusätzliche Begründungen werden hierfür das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an einer effektiven Bekämpfung der internationalen Kriminalität sowie an der Durchführung deutscher Auslieferungsersuchen in umgekehrten Fallkonstellationen genannt. 177 Dies bedeute indes keine Aufhebung der Grundrechtsbindung der deutschen Staatsgewalt,jedoch eine Modifizierung in dem Sinne, dass die Grundrechtsbindung nur insoweit effektiv ist, als die Grundrechtsdurchsetzung im Rahmen des allgemeinen Völkerrechts und bestehender völkerrechtlicher Verträge unter Abwägung von grundrechts geschützten Interessen einerseits und politischem Gesamtinteresse gegen über der Völkergemeinschaft und dem Vertrags partner andererseits erreichbar ist. 178 Grenze dieser Einschränkung der Grundrechtsanwendung sei jedoch die Verletzung unabdingbarer verfassungsrechtlicher Grundsätze. In der Fortführung des umfassenden Völkerrechtslehrbuchs von Dahm 179 vertritt Delbrück, dass eine Auslieferung bereits nach allgemeinem Völkerrecht unzulässig sei, wenn durch sie elementare Menschenrechte verletzt werden oder die Einhaltung des völkerrechtlichen Mindeststandards ernstlich gefährdet ist. 180 Besteht jedoch eine völkerrechtliche Verpflichtung zur Auslieferung, dann sei letztere nur dann völkerrechtlich unzulässig, wenn die Erfüllung des Ersuchens gegen Vgl. Häde. Der Staat 36 (1997), 1 (18 f.). Häde. Der Staat 36 (1997), 1 (19). m Vgl. Häde. Der Staat 36 (1997),1 (21). 176 V gl. Häde. Der Staat 36 (1997), 1 (22) unter Berufung auf Bernhardt. in: FS BVerfG II (1976),154 (184); Hofmann. Grenzüberschreitende Sachverhalte, S. 68 ff., 284. 177 V gl. Häde. Der Staat 36 (1997), 1 (22 f.); vgl. auch Elbing. Grundrechte, S. 247 ff.; BVerfGE 92, 26 (43); kritisch indes Puttfarken. RIW 1995, 617 (618 ff.). 178 Häde. Der Staat 36 (1997), 1 (23); Stern. Staatsrecht, Bd. IIIIl, S. 1231. 179 Dahm, Völkerrecht, 3 Bände, 1958-1961. 180 DahmiDelbrückIWolfrum. Völkerrecht, Bd. U2, S. 280 ff. (noch nicht veröffentlicht). 173
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B. Begründungen der grundsätzlichen Anwendbarkeit im Schrifttum
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zwingende Regeln des Völkerrechts verstößt. 181 Dieser der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entsprechenden Rechtsauffassung haben sich die meisten Vertreter des staats- und völkerrechtlichen Schrifttums angeschlossen,182 so dass im Folgenden nur auf jene Vertreter einzugehen ist, die eine weitergehende Anwendbarkeit der Menschenrechte für möglich halten. Hierzu zählt Hofmann, welcher in seinem grundlegenden Werk zur Frage der Grundrechtsgeltung in grenzüberschreitenden Sachverhalten aus dem Jahre 1994,183 in welchem er sich ausführlich auch dem Bereich der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen widmet, zunächst zu demselben Ergebnis kommt. 184 Für die Frage der Anerkennung ausländischer strafrechtlicher Erkenntnisse durch die deutschen Gerichte und Behörden würde "als anzuwendender Maßstab [... ] weder das deutsche Strafprozessrecht noch die einschlägigen Grundrechtsverbürgungen des Grundgesetzes in der Ausformung in Betracht [kommen], die sie im innerstaatlichen Recht erfahren haben".185 Vielmehr müsse man sich hierfür an dem völkerrechtlichen Mindeststandard im strafprozessualen Menschenrechtsbereich orientieren. 186 Dieses im Wege der Auslegung von § 73 IRG erlangte Ergebnis steht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach eine Auslieferung unzulässig ist, wenn sie gegen den völkergewohnheitsrechtlich geltenden menschenrechtlichen Mindeststandard verstößt. 187 Weitergehend als das Bundesverfassungsgericht und auch als Delbrück kommt er jedoch auch zu dem Ergebnis, 188 dass bei einem Verstoß gegen den völkerrechtlich und - aufgrund von Art. 25 GG - auch innerstaatlich verbindlichen menschenrechtlichen Mindeststandard die entsprechende Rechtshilfemaßnahme auch dann unzulässig sei, wenn mit der Verweigerung der Vornahme der ersuchten Handlung gegen eine völkerrechtliche Verpflichtung aus einem Auslieferungs- oder Rechtshilfevertrag verstoßen werde. 189 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Kokott, welche der herrschenden Auffassung zunächst insoweit zustimmt, dass auf der Ebene des Völkerrechts nur Iuscogens-Normen vertraglichen Rechtshilfeverpflichtungen der Staaten vorgehen DahmiDelbrückIWolfrum, Völkerrecht, Bd. I/2, S. 307 ff. (noch nicht veröffentlicht). GraßhoflBackhaus, EuGRZ 1996,445 (448); Häde, Der Staat 36 (1997),1 (16 f., 23); Ipsen, in: ders., Völkerrecht, § 50 Rn. 8 f.; SchöbenerlBausback, DÖV 1996,621 (624 f.). 183 Hofmann, Grundrechte und grenzüberschreitende Sachverhalte, 1994. 184 V gl. Hofmann, Grenzüberschreitende Sachverhalte, S. 178 ff., 259 ff. 18S Hofmann, Grenzüberschreitende Sachverhalte, S. 185. 186 Hofmann, Grenzüberschreitende Sachverhalte, S. 195. 187 Hofmann, Grenzüberschreitende Sachverhalte, S. 273 mit Verweis auf den Beschluss des BVerfG vom 31. März 1987, BVerfGE 75, I. 188 Das BVerfG hat diese Frage bisher zumindest offengelassen. 189 Hofmann, Grenzüberschreitende Sachverhalte, S. 273 mit Verweis auf den Beschluss des BVerfG vom 31. März 1987, BVerfGE 75, I. 181
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Teil 2, 4. Kap.: Prinzipielle Anwendbarkeit der Menschenrechte
können. l90 Dabei differenziert sie unter Berufung auf das Soering-Urteil des EGMR zwischen einem internationalen und einem europäischen ordre pub/ie. 191 Der völkerrechtlichen Auslieferungsverpflichtung Großbritanniens sei der EGMR aufgrund des europäischen ordre pub/ie entgegengetreten, welcher das Verbot der Folter und der unmenschlichen Behandlung als anerkannte Norm des völkerrechtlichen ius eogens enthalte. 192 Inwieweit allerdings auch Menschenrechte unterhalb des Ranges von ius eogens zu diesem, andere völkerrechtliche Verpflichtungen verdrängenden europäischen ordre publie zu zählen sind, hinge davon ab, welche Menschenrechte im Einzelnen zur Ausfüllung eines europäischen oder internationalen ordre pub/ie herangezogen werden können. 193 Hier kommt Kokott zu dem Ergebnis, dass der völkerrechtliche ordre pub/ie "im weiten Sinne" nicht nur Menschenrechte mit Ius-eogens-Charakter umfasse, sondern alle dispositiven Menschenrechte des VÖlkergewohnheitsrechts und des Völkervertragsrechts. 194 Jedoch könne von letzteren unter erleichterten Voraussetzungen, insbesondere aufgrund von Verträgen, abgewichen werden,195 womit sie im Ergebnis die Auffassung der Rechtsprechung und der herrschenden Meinung stützt. Davon zwingend abzugrenzen sei jedoch der innerstaatliche ordre publie, welcher nicht nur die innerstaatlichen Grundrechte umfasse, sondern neben den völkerrechtlichen Menschenrechten mit Ius-eogens-Qualität auch alle völkergewohnheitsrechtlieh bzw. als allgemeine Rechtsgrundsätze anerkannten und die vertraglichen Menschenrechte. 196 Innerhalb dieses Rahmens sei es verfassungsrechtlich zwingend und völkerrechtlich durchaus vertretbar, eine Rechtshilfemaßnahme mit Verweis auf den "unter Rückgriff auf das Völkerrecht ausgelegten innerstaatlichen ordre publie" zu verweigern, soweit diese die Anerkennung eines völkerrechts widrigen ausländischen Hoheitsaktes voraussetzt. 197 Dabei könne auf alle völkerrechtlich anerkannten Menschenrechte zurückgegriffen werden, "deren möglichst effekti ve Verwirklichung der verfassungsrechtlich zur Völkerrechts freundlichkeit verpflichteten Bundesrepublik Deutschland obliegt". 198 Auf dieser Ebene sei es dann also auch möglich, völkerrechtlichen Verpflichtungen unter Berufung auf Menschenrechte unterhalb des Status von ius eogens entgegenzutreten.
190 Vgl. Kokott, in: BDGVR 38 (1998),71 (76 f., 89). 191 Kokott, in: BDGVR 38 (1998), 71 (74 f.); der internationale wie der europäische ordre publie sind dabei Unterformen eines völkerrechtlichen ordre publie. 192 Kokott, in: BDGVR 38 (1998), 71 (75). 193 Kokott, in: BDGVR 38 (1998), 71 (75). 194 Kokott, in: BDGVR 38 (1998), 71 (80,89). 195 Kokott, in: BDGVR 38 (1998), 71 (88). 196 Kokott, in: BDGVR 38 (1998), 71 (92 f., 99 ff.). 197 Kokott, in: BDGVR 38 (1998), 71 (92 ff.); hierzu auch Ho.fnwnn, ZaöRV 49 (1989),41 ff. 198 Kokott, in: BDGVR 38 (1998), 71 (95, 107); hierzu allgemein Bleekmann, DÖV 1996, 137ff.
B. Begründungen der grundsätzlichen Anwendbarkeit im Schrifttum
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4. Würdigung der verschiedenen Auffassungen im Schrifttum Zwar gibt es verschiedene Stimmen in der Literatur, die bereits auf der Ebene der grundsätzlichen Anwendbarkeit der Reichweite menschenrechtlicher Garantien Grenzen ziehen wollen, die sich aus dem völkerrechtlichen Geltungsgrund der jeweiligen Menschenrechtsnormergeben sollen. Dem kann aber nicht gefolgt werden, da in dieser Auffassung übersehen wird, dass Menschenrechte aufgrund ihrer Natur umfassend Geltung gegenüber jedem staatlichen Handeln beanspruchen. Die Frage ihrer Einschränkbarkeit stellt sich vielmehr erst im Bereich der Reichweite, welche sich aus dem Schutzbereich, der systematischen Stellung innerhalb der völkerrechtlichen Rechtsquellen und der durchaus dem Wandel unterliegenden Zweckrichtung des betreffenden Menschenrechts ergibt und eine gesonderte Untersuchung in jedem konkreten Fall erfordert. Nur so kann der Konflikt von menschenrechtlichen Verpflichtungen eines Staates mit völkerrechtlichen Verpflichtungen zu Rechtshilfehandlungen sauber gelöst werden, denn die Frage des Vorrangs ist keine des Geltungsgrundes, sondern der Begrenzung der Reichweite einer Norm. Diese Argumente lassen sich des Weiteren mit der sich im Wandel befindlichen völkerrechtlichen Ordnung begründen. Während Menschenrechte zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur eine marginale Rolle im Völkerrecht gespielt haben, unterliegen sie spätestens seit der Mitte dieses Jahrhunderts einem steten Bedeutungszuwachs, insbesondere auf europäischer Ebene. Der Bedeutungszuwachs der Menschenrechte auf europäischer Ebene ist nicht nur dem einzigartigen Individualrechtsschutzsystem der EMRK zu verdanken, sondern auch dem anerkannten Umstand, dass Menschenrechte auf regionaler Ebene aufgrund der kulturellen Nähe der einzelnen Staaten einer schnelleren und weitreichenderen Entwicklung unterliegen. Dem Ansatz von Hofmann dürfte die Schlussfolgerung zugrunde liegen, dass neben dem völkerrechtlichen ius cogens allen "allgemeinen Regeln des Völkerrechts" über Art. 25 GG ein Anwendungsvorrang vor den innerstaatlichen Gesetzen zukommt,199 so dass Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts, die zwar kein ius cogens, aber jedenfalls eine allgemeine Regel des Völk.errechts darstellen, die Einhaltung von vertraglichen (und somit über Art. 59 11 GG transformierten) Auslieferungs- und Rechtshilfeverpflichtungen innerstaatlich unmöglich machen. Dies lässt sich aus der umfassenden Bindung der innerstaatlichen Behörden und Gerichte an die Grundrechte2°O und somit über Art. 2 1,25 GG auch an die (entsprechenden) Menschenrechte des Völkerrechts ableiten. Der Konflikt zwischen einer vertraglichen Auslieferungspflicht und der Pflicht zur Achtung der Menschenrechte, einer im Völkerrecht möglicherweise gleichrangigen Verpflichtung, soll folglich nach innerstaatlichen Kriterien aufgelöst werden, wodurch die nach Art. 25 GG inkorporierten allgemeinen Rechtssätze 199 Hofmann, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 25 Rn. 21 mit Verweis auf die Rechtsprechung des BVerfG. 200 Diese folgt primär aus Art. 1 III GG, jedoch auch aus Art. 20 III GG.
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Tei12, 4. Kap.: Prinzipielle Anwendbarkeit der Menschenrechte
des Völkerrechts einen höheren Rang erhalten als die über Art. 59 11 GG inkorporierten vertraglichen Verpflichtungen. Dies wirft die (verfassungsrechtliche) Frage auf, warum Normen, die im Völkerrecht gleichrangig sind oder deren Rang sich zumindest nach völkerrechtlichen Regeln bestimmt, im deutschen Verfassungsrecht ein davon abweichendes Rangverhältnis erlangen. Entscheidend für diesen Teil der Untersuchung ist, dass Hofmann die völkerrechtlich begrenzende Wirkung von ius eogens anerkennt, bei Nichtvorliegen einer lus-eogens-Normjedoch die Lösung im innerstaatlichen ordre pub/ie sucht, zu welchem er nicht nur die Grundrechte, sondern über Art. 25 GG auch die Menschenrechte der Völkerrechtsordnung zählt.
11. Ausländisches Schrifttum Aufgrund der Komplexität der hier zu untersuchenden Fragestellungen kann der rechtsvergleichende Blick auf die wissenschaftliche Betrachtung dieser Thematik im ausländischen Schrifttum nur skiziziert werden. Insbesondere können an dieser Stelle nur einzelne Vertreter herausgenommen werden. Im Übrigen ist auf weiterführendes Schrifttum zu verweisen. In seiner umfassenden Analyse des österreichischen Rechtshilferechts kommt Sehwaighojer in seiner Innsbrucker Habilitationsschrift bereits 1988 zu dem Ergebnis, dass die neuen Formen der internationalen Zusammenarbeit in Europa "verstärkt rechtsstaatliches und humanitäres Gedankengut sowie moderne kriminalpolitische Vorstellungen in das internationale Strafrecht brachten". 201 Dies spiegele sich auch in dem neuen Auslieferungs- und Rechtshilfegesetz (ARHG) wider, welches die Auslieferung den fundamentalen Grundsätzen der EMRK, der Humanität und der Menschenwürde unterordne. In seiner darauf aufbauenden Analyse der Auslieferungsverbote des ARHG kommt er zu dem Ergebnis, dass nicht nur die österreichischen Grundrechte im Allgemeinen, sondern vor allem die Bestimmungen der EMRK im Speziellen dem internationalen Auslieferungsverkehr (innerstaatliche) Grenzen setzen. Ein Blick auf den im amerikanischen Auslieferungsrecht als Doyen geltenden Bassiouni ergibt schließlich, dass er ebenfalls seit langem für die Anerkennung der Individualrechte auszuliefernder Personen und somit für eine Abkehr von der lange Zeit vorherrschenden zweidimensionalen Sichtweise eingetreten ist. 202 Das gleiche gilt für den britischen Rechtshilfeexperten Geoff Gilbert, welcher bereits zu Beginn der 90er Jahre die Auffassung vertreten hat, dass gerade die in den regionalen Menschenrechtsinstrumenten geregelten Rechte eine zunehmende Bedeutung für den internationalen Rechtshilfeverkehr erlangen und letzterem individualrechtliche Schranken auferlege. 203 201
202 203
Schwaighofer, Auslieferung, S. 27. So Breitenmoser, ZaöRV 49 (1989), 828 (833). Gilbert, Extradition Law, S. 90.
B. Begründungen der grundsätzlichen Anwendbarkeit im Schrifttum
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Übereinstimmung findet sich auch im ausländischen Schrifttum jedenfalls insoweit, dass alle Menschenrechte, die den zwingenden Charakter der ius cogens aufweisen, Vorrang haben vor hiermit kollidierenden vertraglichen Verpflichtungen der Staaten im Rahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen. 204 Umstritten ist im ausländischen Schrifttum darüber hinaus ebenfalls, ob und in welchem Umfang auch völkergewohnheitsrechtliehe und vertragliche Menschenrechte ohne Ius-cogens-Qualität Vorrang vor entgegenstehenden Auslieferungsund Rechtshilfeverpflichtungen einzuräumen ist. Eine immer weiter zunehmende Anzahl ausländischen Autoren vertritt hierzu, dass bei Konflikten zwischen vertraglichen Menschenrechtsverpflichtungen und völkerrechtlichen Verpflichtungen aus Auslieferungs- und Rechtshilfeverträgen den menschenrechtlichen Verpflichtungen aufgrund ihres höheren völkerrechtlichen Ranges grundsätzlich Vorrang einzuräumen sei. 205 Dies wäre insbesondere dann der Fall, wenn sowohl der ersuchende als auch der ersuchte Staat Parteien desselben Menschenrechtsübereinkommens sind. 206 Andere vertreten hingegen, dass es keineswegs eindeutig sei, den vertraglichen Verpflichtungen zum Schutz der Menschenrechte generell Vorrang vor Auslieferungsverträgen einräumen zu müssen. 207 Insbesondere könne dies kaum gegenüber ersuchenden Staaten vertreten werden, die nicht durch das den ersuchten Staat bindende Menschenrechtsübereinkommen gebunden sind. 20B Sowohl eine internationale als auch eine nationale Gerichtsinstanz könne die Vorrangfrage nur in Bezug auf die innerstaatlichen oder völkerrechtlichen Bindungen des ersuchten Staates entscheiden, die völkerrechtliche Verpflichtung gegenüber dem dieser Jurisdiktion nicht unterworfenen ersuchenden Staat indes nicht aufheben. 209 In solchen Fällen bliebe allein die politische Lösung des Konflikts. 21O Da jedoch eine Balance zwischen dem Schutz des Einzelnen und den staatlichen Interessen an effektiver Strafverfolgung nicht auf einer Ad-hoc-Basis zum Nachteil des Individuums von einer politischen Entscheidung abhängig gemacht werden kann, bedürfe es kohärenter völkerrechtlicher Normen, die diese Konflikte bereits im Vorfeld ausreichend regeln. 211 204 V gl. bereits Institut ofinternational Law, New Problems ofExtradition, Yb. Inst. Int'l Law 60 (1983 11), 211 (223 ff.). 205 So A. H. J. Swart, Neth. Yb. Int'l Law 23 (1992), 175 (206); van der Wilt, NILR 1995,53 (76); a. A. Dugard/van den Wyngaert, AJIL 92 (1998), 187 (205 f.); Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 100 ff.; kritisch ebenfalls Currie, Criminal Law Forum II (2000), 143 (162). 206 So A. H. J. Swart, Neth. Yb. Int'l Law 23 (1992), 175 (205). 207 Vgl. Dinstein, Revue International de Droit Penal62 (1991), 31 (37). 208 So Currie, Criminal Law Forum 11 (2000), 143 (164) mit Bezug auf das SoeringUrteil des EGMR. 209 Currie, Criminal Law Forum 11 (2000), 143 (165). 210 Currie,Criminal Law Forum 11 (2000), 143 (165); ebenso bereits Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 107 f., 125. 211 Vgl. Currie, Criminal Law Forum 11 (2000), 143 (165).
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Teil 2, 4. Kap.: Prinzipielle Anwendbarkeit der Menschenrechte
C. Übersicht über umstrittene Kriterien der Anwendbarkeit und der Reichweite von Menschenrechten auf die internationale Rechtshilfe in Strafsachen Der Überblick über bestehende Auffassungen in Rechtsprechung und Schrifttum bezüglich der Frage der Anwendbarkeit menschenrechtlicher Bestimmungen des Völkerrechts auf die internationale Rechtshilfe in Strafsachen bestätigt die bereits im ersten Teil dieser Untersuchung festgestellte Tendenz der zunehmenden Achtung von Menschenrechten als Grenzen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit. So besteht an der grundsätzlichen Anwendbarkeit von Menschenrechten der Völkerrechtsordnung insbesondere auf den ungebundenen internationalen Rechtshilfeverkehr in Strafsachen kein Zweifel mehr. Jedoch hat die Untersuchung auch erhebliche Divergenzen in Bezug auf den Umfang und die Reichweite der völkergewohnheitsrechtlichen und der völkervertraglichen Menschenrechte bei der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen ergeben. Eine erste Schwierigkeit besteht bereits darin, die einschlägigen Menschenrechte der Völkerrechtsordnung zu ermitteln. So wird im deutschen Schrifttum ebenso wie in der Rechtsprechung regelmäßig auf den "völkerrechtlich verbindlichen menschenrechtlichen Standard" verwiesen, ohne dass vollends klar wäre, welche menschenrechtlichen Normen überhaupt hierzu gezählt werden können. So hat die Untersuchung insbesondere der deutschen Rechtsprechung ergeben, dass nicht etwa alle Rechtsquellen der Menschenrechte heranzuziehen sind. Vielmehr scheinen die völkervertraglichen Menschenrechte der EMRK oder des IPbpR gar keine oder jedenfalls nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Auch innerhalb der völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte scheinen nicht alle bestehenden Normen Anwendung zu finden, sondern nur diejenigen, die dem "völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard" zuzurechnen sind. Welche Bestimmungen zu diesem Mindeststandard zu zählen sind, welchen konkreten Schutzumfang sie gewähren und ob sie den Charakter von ius cogens haben müssen, wird ebenfalls in Rechtsprechung und Schrifttum uneinheitlich beantwortet. Insbesondere umstritten ist die Frage, welche Auswirkung das Bestehen einer völkerrechtlichen Auslieferungs- und Rechtshilfeverpflichtung auf die Anwendbarkeit der völkerrechtlichen Menschenrechte hat. Ein Konsens scheint jedenfalls insoweit zu bestehen, dass Menschenrechte mit Ius-cogens-Charakter andere völkerrechtliche Verpflichtungen zur zwischenstaatlichen Zusammenarbeit in Strafsachen verdrängen. Im Übrigen divergieren die verschiedenen Auffassungen erheblich. Insbesondere fällt bei der Untersuchung der deutschen Rechtsprechung auf, dass die EMRK nur eine untergeordnete Rolle bei der Beurteilung von Rechtshilfemaßnahmen spielt, da sie nicht unmittelbar zu dem völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard gezählt wird. Zu den weiteren, die Reichweite der Menschenrechte bestimmenden, umstrittenen Kriterien gehören die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um einen
C. Übersicht über umstrittene Kriterien der Anwendbarkeit
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Eingriff in entsprechende Menschenrechte bejahen zu können. Hier stellt sich als erstes die Frage, an welchen staatlichen Hoheitsakten im Rahmen der internationalen Rechtshilfe anzuknüpfen ist. Insbesondere wird zu prüfen sein, ob und unter welchen Bedingungen Staaten unmittelbare Eingriffe ausländischer Hoheitsträger zuzurechnen sind. Unklar ist auch, welche Möglichkeiten der Einschränkung des Schutzumfangs bei den jeweiligen Menschenrechten bestehen. Diese Frage spielt eine erhebliche Bedeutung im Zusammenhang mit vertraglichen Rechtshilfeverpflichtungen, die in der Praxis der Rechtsprechungsorgane regelmäßig zu einer Einschränkung des Schutzumfangs führen, sofern nicht Menschenrechte des völkerrechtlichen Mindeststandards und/oder des völkerrechtlichen ius cogens betroffen sind. Hier gilt es umfassend zu überprüfen, in welchem Verhältnis die normativen Verpflichtungen der Staaten zur Rechtshilfe in Strafsachen zu den festgestellten Menschenrechtsverbürgungen stehen und wie derartige normative Pflichtenkollisionen aufzulösen sind. Den Unsicherheiten bei der Anwendung von Menschenrechten auf Maßnahmen der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen liegen insbesondere unterschiedliche Rechtsauffassungen bezüglich der normativen Stellung von Rechtshilfemaßnahmen in den innerstaatlichen Rechtsordnungen sowie der völkerrechtlichen und innerstaatlichen Bindungswirkungen der Menschenrechte zugrunde. Die Frage der Reichweite und des Umfangs der völkerrechtlichen Menschenrechte kann daher nur unter konsequenter Differenzierung zwischen völkerrechtlicher und innerstaatlicher Betrachtungsweise vorgenommen werden. In den folgenden beiden Kapiteln soll daher versucht werden, die aufgeworfenen Fragen zur Reichweite der völkerrechtlichen Menschenrechte als Grenzen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen rechtsquellenspezifisch aufzugreifen, um die konkreten Menschenrechtspositionen des Völkergewohnheitsrecht und des Völkervertragsrechts herauszuarbeiten und ihre Reichweite unter Zugrundelegung der verschiedenen Auffassungen in Rechtsprechung und Schrifttum zu überprüfen und kritisch zu würdigen. In diesem Rahmen sollen dann, soweit erforderlich, auch eigene, zum Teil bereits angedeutete Lösungsansätze entwickelt werden.
Fünftes Kapitel
Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts als Schranken der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen Im vorangegangenen Kapitel ist deutlich geworden, dass die Anwendbarkeit der Menschenrechte der Völkerrechtsordnung auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen allgemein anerkannt wird. Streitig und problematisch ist indes die Ermittlung der einschlägigen Menschenrechtspositionen sowie die Bestimmung ihrer Reichweite im konkreten Fall. In diesem Kapitel soll nun rechtsquellenspezifisch untersucht werden, in welchem Umfang völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte der internationalen Rechthilfe in Strafsachen völkerrechtliche Grenzen auferlegen. 1 Daher sollen im Folgenden zunächst die methodischen Prämissen der Ermittlung von Völkergewohnheitsrecht erarbeitet werden (A), um sodann die für die internationale Rechtshilfe in Strafsachen einschlägigen völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte zu ermitteln (B). Schließlich sollen die Probleme der Anwendbarkeit der völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte näher beleuchtet werden, insbesondere welche Eingriffsvoraussetzungen für die Annahme eines Verstoßes gegen Völkergewohnheitsrecht erfüllt sein müssen (C) und welche Möglichkeiten der Einschränkbarkeit völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte existieren (D). Insbesondere in den letzten beiden Abschnitten soll das Augenmerk auf das Verhältnis von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht im Allgemeinen und dem potentiellen Normenkonflikt zwischen völkervertraglichen Verpflichtungen zur internationalen Rechtshilfe in Strafsachen und völkergewohnheitsrechtlichen Verpflichtungen zum Schutz der Menschenrechte im Speziellen gerichtet werden.
A. Systematik des völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechtsschutzes Ein erstes Problem bei der Frage nach der Reichweite völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte bei der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen stellen die Unsicherheiten bei der Ermittlung völkergewohnheitsrechtlicher Normen dar. Daher sollen im Folgenden kurz die Grundsätze des methodischen Vorgehens bei der Ermittlung völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte dargestellt und für I
Hierzu auch Klein, EuGRZ 1999, 109.
A. Systematik des völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechtsschutzes
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die internationale Staatenpraxis im Bereich der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen spezifiziert werden. Hierbei ist insbesondere auch eine Abgrenzung verschiedener in Rechtsprechung und Schrifttum benutzter Begriffe für völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte und ihre Verbindlichkeitsstufen vorzunehmen, welche eine klare begriffliche Trennung zwischen einfachem bzw. zwingendem Völkergewohnheitsrecht (ius cogens) und völkerrechtlichem ordre public bzw. Mindeststandard erfordert. I. Grundsätze der Entstehung völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte Entsprechend der Entstehungsweise völkergewohnheitsrechtlicher Normen im Sinne von Art. 38 I lit. b) IGH-Statut bedarf es für den Nachweis ihrer Existenz einer umfassenden Überprüfung der Praxis der internationalen Staatengemeinschaft sowie einer dieser Praxis zugrunde liegenden Rechtsüberzeugung der Völkerrechtssubjekte. 2 Dies setzt insbesondere "eine von zahlreichen, alle weltweit bestehenden Rechtskulturen repräsentierenden Staaten befolgte Praxis voraus, die allgemein in der Überzeugung geübt wird, hierzu von Völkerrechts wegen verpflichtet zu sein [ ... ]. Bei der Ermittlung von Normen des Völkergewohnheitsrechts ist in erster Linie auf das völkerrechtlich verbindliche Verhalten derjenigen Staatsorgane abzustellen, die kraft Völkerrechts oder kraft innerstaatlichen Rechts dazu berufen sind, den Staat im völkerrechtlichen Verkehr zu repräsentieren. Daneben kann sich eine solche Praxis aber auch in den Akten anderer Staatsorgane, wie des Gesetzgebers oder der Gerichte, bekunden, zumindest soweit ihr Verhalten unmittelbar völkerrechtlich erheblich ist, etwa zur Erfüllung einer völkerrechtlichen Verpflichtung oder zur Ausfüllung eines völkerrechtlichen Gestaltungsspielraums".3 Folglich können alle Verhaltensweisen der Staaten (Handlungen, Äußerungen, Unterlassen) im rechtlich relevanten oder im lediglich faktischen Bereich eine gewohnheitsrechtliche Übung im Sinne von Art. 38 I IGH-Statut darstellen. 4 Sie müssen jedoch von einer gewissen Dauer, Einheitlich2 Vgl. Art. 38 I IGH-Statut; hierzu und zum Folgenden statt vieler Dahm/Delbrückl Wolfrum, Völkerrecht, Bd. 1/1, S. 55 ff.; Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 16 Rn. 1 ff.; Hulsroj, ZÖR 1999,219 ff.; Steinberger, in: HbdStR VII (1992), § 173 Rn. 16 ff. jeweils mit zahlreichen Nachweisen zum Schrifttum sowie zur Rechtsprechung des IGH; siehe auch jüngst den Bericht der International Law Association, Committee on the Formation ofCustomary (General) International Law, London Conference 2000, abgedruckt unter . 3 B VerfG, NJW 1988, 1462 (1463) unter Verweis auf B VerfGE 46, 342 (367) = NJW 1978,485; 66, 39 (65); vgl. zur Entstehung von Völkergewohnheitsrecht auch BVerfGE 64, 1 (24); 68, I (83); 75,1 (21 ff.); 92, 277 (320); BVerfG, NJW 1995,651; Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 16 Rn. 17. 4 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 16 Rn. 1 f.; vgl. auch BVerfG, NJW 1988,1462 (1463).
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Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
keit und Verbreitung sowie Ausdruck einer allgemeinen Rechtsüberzeugung der Staaten sein, zu dem normgemäßen Verhalten verpflichtet zu sein (opinio iuris
sive necessitatis).5
Für die Entstehung und den Nachweis völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte gelten die gleichen Regeln wie für das allgemeine Völkergewohnheitsrecht. Es bedarf folglich einer umfassenden Analyse der internationalen Staatenpraxis, wenngleich in der vorliegenden Untersuchung im Wesentlichen nur die relevanten Anknüpfungspunkte beispielhaft herausgearbeitet werden sollen, die in der Praxis zur Ermittlung völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte als Schranken des internationalen Rechtshilfeverkehrs herangezogen werden können. Des Weiteren kann die bestehende Praxis in der deutschen Rechtsprechung einer kritischen Würdigung unterzogen werden. Dabei soll versucht werden, allgemeine Kriterien herauszuarbeiten, die dem Rechtsanwender die Ermittlung einschlägiger völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte in der Praxis erleichtern. 11. Für die Ermittlung völkergewohnheitsrechtlicher Normen erhebliche Bereiche der internationalen Staatenpraxis Zur Ermittlung der völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte als Schranken der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen kann folglich auch auf die verschiedenen allgemeinen und spezifischen Menschenrechtsinstrumente, auf die Übereinkommen über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen sowie auf die Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland zurückgegriffen werden. Zwar stellen völkerrechtliche Verträge über die internationale Zusammenarbeit in Strafsachen oder den internationalen Menschenrechtsschutz als solche grundsätzlich keine zur Entstehung von Völkergewohnheitsrecht beitragende Praxis dar,6 jedoch kann das in völkerrechtlichen Verträgen gebotene Verhalten gewohnheitsrechtliche Geltung erlangen, wenn es durch das Hinzutreten einer entsprechenden Rechtsüberzeugung allgemein verbindlich wird. 7 Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn sich vertragsfremde Völkerrechtssubjekte entsprechend den vertraglichen Geboten und Verboten verhalten und alle Beteiligten der Über5 IGH, North Sea Continental Shelf Case, ICJ-Reports 1969, 3 (44); IGH, Asylum Judgement, ICJ-Reports 1950, 266 (276 f.); IGH, Case Concernillg Rights of Nationals of the United States ofAmerica ill Marocco, ICJ-Reports 1952, 172 (200); BVerfGE 46, 342 (367) mit Bezug auf Art. 38 I lit. b) IGH-Statut; OppenheimlJennings/Watts, Bd. I/l, S. 27; Brownlie, Principles, S. 4 ff.; DahmlDelbrückIWolfrum, Völkerrecht, Bd. VI, S. 56; Graf Vitzthum, in: ders., Völkerrecht, Abschnitt I, Rn. 132. 6 V gl. IGH, Continental Shelf(Libyan Arab Jamahiriya v. Malta), ICJ-Reports 1985, 13 (38). 7 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 16 Rn. 22; Steillberger, in: HbdStR VII (1992), § 173 Rn. 11.
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zeugung sind, zu dieser Verhaltensweise rechtlich verpflichtet zu sein. 8 Darüber hinaus können Nonnen völkerrechtlicher Verträge aber zur Ermittlung des Völkergewohnheitsrechts, insbesondere zum Nachweis der opinio iuris, herangezogen werden. 9 Auch die nationale Gesetzgebung sowie die nationalen Gerichts- und Verwaltungsentscheidungen können zur Ermittlung der Praxis und der Rechtsüberzeugung der einzelnen Staaten herangezogen werden. lO 1. Völkervertraglicher Menschenrechtsschutz Zwar kann nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, dass das Bestehen von Menschenrechtsübereinkommen auch zu einer Bindung auf völkergewohnheitsrechtlicher Ebene führt, da die zumeist regionalen Menschenrechtsverträge mit Ausnahme vom IPbpR keine universelle Gültigkeit anstreben und somit auch nicht ohne weiteres dem universellen Völkergewohnheitsrecht zugerechnet werden können. Unbenommen ist allerdings die Möglichkeit, dass die regionalen Menschenrechtsübereinkommen partikuläres Völkergewohnheitsrecht darstellen und auf diese Weise ebenfalls über Art. 25 GG unmittelbare Geltung in der innerstaatlichen Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland erlangen. ll Die rechtsstaatlichen Garantien und die Freiheitsrechte der regionalen Menschenrechtsinstrumente wird man daher nicht ohne weiteres als Regeln des Völkergewohnheitsrechts oder als allgemeine Rechtsgrundsätze einordnen können. 12 Sind jedoch die vertraglichen Gewährleistungen der einzelnen Menschenrechtsverträge in Kernbereichen vergleichbar, so kann jedenfalls im Verhältnis zu den durch sie gebundenen Staaten von einer mittelbaren Auswirkung auf völkergewohnheitsrechtlicher Ebene gesprochen werden. Jedenfalls ist es völkerrechtlich kaum zu vertreten, der völkerrechtlichen Pflicht zur Auslieferung z. B. bei Abwesenheitsurteilen Vorrang vor dem Schutz der Menschenrechte einzuräumen, mit der Begründung, dass sich ein entsprechendes Menschenrecht noch nicht universell völkergewohnheitsrechtlich durchgesetzt habe und deshalb auch nicht zum Bruch der vertraglichen Auslieferungsverpflichtung herangezogenen werden könne, wenn beide Staaten regionalen Menschenrechtsinstrumenten verpflichtet sind, die die Verfahrensrechte umfassend schützen. Diese Argumentation kann auch in Vgl. auch Art. 38 WVK. Steinberger, in: HbdStR VII (1992), § 173 Rn. 11. 10 Zur Rechtsprechung als eigenständige Rechtsquelle des Völkerrechts siehe Doehring, in: FS Universität Heidelberg (1986), 541 ff. II Hierzu bereits Silagi, EuGRZ 1980,632 (644 0; das BVerfG vertritt hingegen die Auffassung, dass regionales Völkergewohnheitsrecht nicht über Art. 25 GG rezipiert wird, vgl. BVerfGE 15,25 (33); 23, 288 (317); 31,145 (177); 66, 39 (64 f.); 75, I (34); Beschluss vom 21.5.1987, NJW 1988, 1462 (1463); zur Existenz regionalen Völkergewohnheitsrechts siehe ausführlich und mit weiteren Nachweisen unten 6. Kapitel, S. 502 ff. 12 V gl. Frowein, in: FS Zeidler (1987), Bd. 11, 1763 (1770). 8
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Bezug auf das in dieser Hinsicht heftig kritisierte Soering-Urteil 13 des EGMR herangezogen werden. So war der USA zwar nicht durch die EMRK, wohl aber aufgrund ihrer innerstaatlichen Verfassung eine menschenunwürdige Behandlung von dem zum Tode Verurteilten durch zu langes Warten in der Todeszelle verboten. Dass der EGMR sich nicht auf die Verfassung der USA berufen, sondern allein die Reichweite der Bindung Großbritanniens an die EMRK überprüft hat, beruht zum einen auf der eingeschränkten materiellen Prüfungskompetenz des EGMR. 14 Zum anderen hatte der EGMR auch nur zu überprüfen, ob Großbritannien, und nicht etwa die USA, durch eine Auslieferung von Soering die EMRK verletzen würde. Der völkerrechtlichen Auslieferungsverpflichtung Großbritanniens ist der EGMR daher zu Recht aufgrund eines europäischen ordre public entgegengetreten. 15 Im Zusammenhang mit der Ermittlung völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte kann auch die Allgemeine Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen (AEMR)16 herangezogen werden. Bei diesem wichtigen Menschenrechtsinstrument handelt es sich zwar nicht um einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag, sondern um eine dem soft law l7 zuzurechnende Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen, jedoch herrscht heute weitgehend Übereinstimmung, dass die AEMR völkergewohnheitsrechtlich anerkannte Menschenrechte konkretisiert. 18 Während zum Teil sogar vertreten wird, dass der gesamte Inhale 9 bzw. der größte Teil 20 der AEMR Völkergewohnheitsrecht geworden sei, beschränken andere die völkergewohnheitsrechtliche Geltung auf die grundlegenden Menschenrechte der Menschenrechtserklärung, wie das Verbot der Folter und der Diskriminierung. 21 Eine vermittelnde Ansicht stellt darauf ab, dass all diejenigen Rechte der Erklärung zu völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechten zu zählen sind, die Ausdruck der Menschenwürde sind. 22 Es sei ja kein Zufall, dass 13
Vgl. hierzu bereits oben 4. Kapitel, S. 276 ff.
14 Zur Zuständigkeit des EGMR ratione materiae siehe nur FroweiniPeukert, EMRK,
Art. I Rn. 1 ff. IS Vgl. hierzu Kokott, in: BDGVR 38 (1998), 71 (75). 16 Zur AEMR bereits oben 3. Kapitel, S. 239 f. 17 Zum soft law siehe nur Hilgenberg, EJIL 10 (1999), 499 ff. 18 Vgl. IGH, Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia Notwithstanding Security Council Resolution 276 (1970), Sondervotum des Richters Ammoun, ICJ-Reports 1971, 64; siehe auch Salcedo, in: EPIL 11 (1995), 922 (925). 19 So Nguyen QuoclDaillier/Pellet, Droit international public, S. 253. 20 So Kirchhof, EuGRZ 1994, 16 (21); Verdross/Simma, Völkerrecht, § 822 f. 21 So Institute of American Law, (Third) Restatement ofthe Foreign Relation Law ofthe United States (1987), § 701. 22 So Jennings/Watts, Oppenheim's International Law, Vol. 1/2, §§ 437, 1001 ff.; Haker/ Röben, ZaöRV 53 (1993), 657 (678).
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viele moderne Verfassungen die Menschenwürde und die daraus folgenden Individualrechte schützen. 23 Dies könne darüber hinaus als Indikator für die Anerkennung der AEMR als allgemeine Prinzipien des Rechts im Sinne von Art. 38 I lit. c) IGH-Statut genommen werden. 24 Es kann vorliegend dahinstehen, ob und inwieweit die in der AEMR enthaltenen Menschenrechte unmittelbar aufgrund ihrer Kodifizierung in der UN-Resolution und der späteren Praxis der Staaten sowie der UN-Organe selbst25 Teil des Völkergewohnheitsrechts geworden sind. Dahinstehen kann zunächst auch, ob sie unmittelbar als Schranke der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen herangezogen werden kann. 26 Jedenfalls dient die AEMR als Auslegungshilfe für die Ermittlung des Bestandes an völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechten. 27
2. Allgemeines Fremdenrecht Auf der Suche nach völkergewohnheitsrechtlich abgesicherten Menschenrechten im Auslieferungs- und Rechtshilferecht ist zu beachten, dass sich die völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte aus dem Fremdenrecht entwickelt haben. Das Fremdenrecht beinhaltet regelmäßig einen Mindeststandard an Rechten, die ein Staat einem auf seinem Territorium befindlichenjremden Staates angehörigen völkergewohnheitsrechtlich zukommen lassen muss. 28 Der völkergewohnheitsrechtliche Mindeststandard an Menschenrechten ist im Rahmen des Auslieferungs- und Rechtshilferechts weiterentwickelt und konkretisiert worden, da hier typischerweise ein Staat hoheitlich gegenüber dem Individuum eines anderen Staates tätig wird und daher eine völkerrechtliche Verantwortung gegenüber dem Herkunftsstaat auslösen kann. 29 Im Rahmen der zunehmenden universalen Akzeptanz 23 Jennings/Watts, Oppenheim's International Law, Vol. 1/2, §§ 437, 1001 ff.; Baker/ Röben, ZaöRV 53 (1993),657 (678). 24 Mann, in: Essays in Honour of Shabtei Rosanne (1989), 414 (415); Stern, in: HbdStR V (1989), § 108 Rn. 59. 25 Hierzu Kokott, in: BDGVR 38 (1998), 71 (103 f.). 26 Zu Recht verneint von Lagodny, GA 1990, 284 (285). 27 Salcedo, in: EPIL II (1995), 922 (925). 28 Zum Fremdenrecht und zur Rechtsstellung von Ausländern siehe nur Doehring, in: VVDStRL 32 (1974), 7 ff.; FroweiniStein, Die Rechtsstellung von Ausländern nach staatlichem Recht und Völkerrecht, 1987; Geiger, GG und Völkerrecht, S. 303 ff.; Ipsen, in: ders., Völkerrecht, § 50; jüngst Häußler, AVR 38 (2000),48 ff., zum Festkolloquium
an der Universität Konstanz zum 80. Geburtstag von Prof. Dr. Kar! Doehring vom 17.3.1998. 29 Dies alles betrifft indes nur die inlandskausalen Fälle, vgl. Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 71; eine Übersicht über den völkerrechtlichen Mindeststandard des Fremdenrechts gibt die Erklärung der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 13.12.1985, GA-Res. 40/144, "über die Menschenrechte von Personen, die nicht Staatsangehörige des Landes sind, in dem sie leben", VN 1986, 186; zu den fremdenrechtlichen 21 Ziegenhahn
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von Menschenrechten haben sich jedoch auch Menschenrechte völkergewohnheitsrechtlich verfestigt, die der Freiheit der Behandlung der eigenen Staatsangehörigen eine völkerrechtliche Schranke setzen. Ihre Fortentwicklung hat andere historische Gründe. Insgesamt bilden aber beide den heutigen Bestand an völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechten, die den Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehr der Staaten regeln und begrenzen. 3. Internationaler Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehr
Verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt für die Ermittlung völkergewohnheitsrechtlicher Schranken der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen in der Bundesrepublik Deutschland muss Art. 25 GG sein, denn danach ist der völkerrechtlich verbindliche menschenrechtliche Mindeststandard von den Behörden und den Gerichten der Bundesrepublik Deutschland zu beachten. 30 Gemäß Art. 25 GG sind alle "allgemeinen Regeln" des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts. Zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts im Sinne von Art. 25 GG zählen insbesondere das "universell geltende Völkerrecht, ergänzt durch anerkannte allgemeine Rechtsgrundsätze".31 Weitere Voraussetzung für die Zuordnung zu Art. 25 GG ist, dass eine in Frage stehende Völkerrechtsregel von der überwiegenden Mehrheit der Staaten, nicht notwendigerweise auch von der Bundesrepublik Deutschland, anerkannt wird. 32 Entscheidend für die Zuordnung ist folglich nicht der Inhalt einer Norm, sondern ihre Allgemeinverbindlichkeit. 33 Bei völkerrechtlichen Verträgen handelt es sich indes unstreitig nicht um allgemeine Regeln des Völkerrechts im Sinne von Art. 25 GG, da insoweit Art. 59 TI GG als lex specialis vorgeht,34 jedoch können einzelne völkervertragliche Regelungen von Art. 25 GG erfasst werden, wenn sie - rein deklaratorisch - Normen des universellen Völkerrechts oder allgemeine Rechtsgrundsätze kodifizieren. 35 Dies betrifft insbesondere die völkervertragsrechtlichen Normen, denen die Qualität von völkerrechtlichem ius cogens zukommt. 36 Regelungen im innerstaatlichen Bereich der Bundesrepublik Deutschland siehe Geiger, GG und Völkerrecht, S. 304 ff. 30 Vgl. BVerfGE 59,280 (282); BVerfG, NJW 1988, 1462 (1463). 31 BVerfGE 23, 288 (317) und BVerfGE 31,143 (177). 32 Siehe bereits BVerfGE 15,25 (34); 16,27 (33); BGH, NJW 1988,3105 (3106) = BGHSt 35, 216 = NJW 1988,3105 = StV 1989,92 mit Anmerkung Lagodny; vgl. auch Schmidt-BleibtreuiKlein, GG, Art. 25 Rn. 1; Leibholv'Rinck, GG, Art. 25 Rn. 1 33 Vgl. allerdings Silagi, EuGRZ 1980,632 (646), der allein die Normen des ius cogens als allgemeine Regeln des Völkerrechts im Sinne von Art. 25 GG ansieht. 34 BVerfGE 31,145 (178); Geiger, GG und Völkerrecht, § 3111 1; Hofmann, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 25 Rn. 16; Jarass, in: JarasslPieroth, GG, Art. 25 Rn. 1a; Steinberger, in: HbdStR VII (1992), § 173 Rn. 9; Zuleeg, in: AK, GG, Art. 25 Rn. 19. 35 Kirchhof, EuGRZ 1994, 16 (26). 36 Vgl. hierzu Hofmann, in: Umbach/C1emens, GG, Art. 25 Rn. 13,16.
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Wenngleich das Bundesverfassungsgericht regelmäßig die Anwendbarkeit des völkerrechtlich verbindlichen menschenrechtlichen Mindeststandards auf Verfahren der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen betont, muss aber hervorgehoben werden, dass es in den wenigsten Fällen tatsächlich die Prüfung einer Verletzung des völkerrechtlichen Mindeststandards vollzieht, sondern sich mit der Prüfung der "unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze der deutschen öffentlichen Ordnung" begnügt. Nur die wenigen Urteile, in denen eine Prüfung des völkerrechtlichen Mindeststandards durchgeführt wird,37 ermöglichen daher eine Analyse der Kriterien, die völkerrechtliche Normen erfüllen müssen, um zum völkerrechtlich verbindlichen menschenrechtlichen Mindeststandard bei der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen gezählt werden zu können. Wenn im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts im 75. Band noch eher beiläufig und ohne nähere Konkretisierung auf den "völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard auf dem Gebiet der strafprozessualen Menschenrechte" verwiesen wurde,38 finden sich im Beschluss vom 21. Mai 1987 nähere Ausführungen. 39 Danach zählen grundsätzlich nicht etwa nur die zwingenden lus-cogens-Normen zum völkerrechtlichen Mindeststandard, sondern auch "einfache" völkergewohnheitsrechtliche Normen sowie die anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze im Sinne des Art. 38 I lit. c) IGH-Statut. Das Bundesverfassungsgericht weist darauf hin, dass zur Ermittlung des völkerrechtlichen Mindeststandards auf dem Gebiet der strafprozessualen Menschenrechte neben dem auf dem Wege der Rechtsvergleichung ermittelten gemeinsamen Mindeststandard an nationalen Grundrechtsgewährleistungen insbesondere die einschlägigen Verbürgungen in den völkerrechtlichen Menschenrechtsinstrumenten heranzuziehen seien. 40 Der "völkerrechtliche Mindeststandard an Menschenrechten" ist mithin ein Begriff, der alle Völkerrechtsquellen umfasst. Es ist nicht herauszufiltern, ob das Bundesverfassungsgericht die Menschenrechte aus dem Völkerrecht oder aus dem Grundgesetz ableitet. Regelmäßig führt es zwar eine Doppelprüfung durch, einer entsprechenden Festlegung weicht das Bundesverfassungsgericht indes aus. 41 Der Beschränkung auf die menschenrechtlichen Mindeststandards und den Kernbestand der verfassungsrechtlichen Ordnung kann so nicht gefolgt werden. 42 Bei der Beschränkung auf das völkerrechtliche ius cogens handelt es sich vielmehr Vgl. BVerfGE 59,280 (283 ff.); 75, 1 (22 ff.). BVerfGE 75, 1 (19). 39 BVerfG, NJW 1988, 1462 ff. 40 BVerfG NJW 1988, 1462 (1463); als Auslegungshilfen für Rechtshilfeangelegenheiten können des Weiteren die Menschenrechtsinstrumente der Vereinten Nationen herangezogen werden, Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, Einleitung, S. 6. 41 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 31.8.1986 - 2 BvR 661/86, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, U 134, S. 463. 42 Hierzu bereits oben 4. Kapitel, S. 297 f. 37
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um einen Normenkonflikt, der unter Heranziehung allgemeiner völkerrechtlicher Grundsätze aufgelöst werden muss.
111. Abgrenzung völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte Die Untersuchung der prinzipiellen Anwendbarkeit der Menschenrechte der Völkerrechtsordnung auf die internationale Rechtshilfe in Strafsachen im 4. Kapitel hat bereits gezeigt, dass in der Praxis begrifflich vielfach zwischen Menschenrechten des allgemeinen und des zwingenden Völkergewohnheitsrechts sowie dem völkergewohnheitsrechtlichen Mindeststandard unterschieden wird. Entsprechend der Rechtsquellenlehre des Völkerrechts lassen sich begrifflich indes nur die Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts und des Völkervertragsrechts voneinander unterscheiden. Soweit Menschenrechte auch den "allgemeinen Rechtsgrundsätzen" im Sinne von Art. 38 I lit. c) IGH-Statut zugeordnet werden können, dürfte es sich dabei jedoch im Wesentlichen um Menschenrechte handeln, die auch völkergewohnheitsrechtliche Anerkennung erfahren haben. 43 Die völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte lassen sich darüber hinaus in ihrer Wirkung voneinander abgrenzen. Die daraus folgende, entsprechend unterschiedliche Reichweite der völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte hat zu der erwähnten Begriffsvielfalt in Rechtsprechung und Schrifttum geführt. Im Folgenden sollen daher die dieser Untersuchung zugrundegelegten Begriffe definiert werden. Die daraus folgenden Konsequenzen für die Bindungswirkung und die Reichweite (z. B. Eingriffsmöglichkeiten, Schutzpflichten, Vorrang vor Verträgen) der völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte sind dann an gegebener Stelle aufzugreifen und zu vertiefen.
1. Abgrenzung der välkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte a) Einfache völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte Zu den einfachen völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechten zählen all diejenigen völkerrechtlichen Normen, welche die Voraussetzung der völkergewohnheitsrechtlichen Entstehungsweise im Sinne von Art. 38 I lit. b) IGH-Statut erfüllen. Die Zuordnung einer Norm zu den völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechten ist folglich Grundvoraussetzung für die weitergehende Untersuchung ihrer Bindungswirkung und Reichweite.
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Hierzu unten 5. Kapitel, S. 327 f.
A. Systematik des völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechtsschutzes
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b) Völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte mit "Ius-cogens"-Charakter Bei den völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechten mit Ius-cogens-Charakter handelt es sich indes um "zwingende Normen des allgemeinen Völkerrechts".44 Sie stellen völkerrechtliche Normen und Grundsätze besonderer Bestandsqualität dar, die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit als unabdingbar angenommen und anerkannt werden und von welchen die Völkerrechtssubjekte wegen ihrer grundlegenden Bedeutung nicht abweichen können. Aufgrund ihrer fundamentalen Bedeutung für die Staatengemeinschaft ist jede andere V ölkerrechtsnorm, sei sie vertragsrechtlicher oder gewohnheitsrechtlicher Natur, rechtlich unwirksam, wenn sie inhaltlich mit einer Ius-cogens-Norm unvereinbar ist. 45 Demzufolge lassen sich aus der Zuordnung eines völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechts zum ius cogens Rückschlüsse vor allem auf dessen Bindungswirkung ziehen. c) Völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte mit "Erga-ornnes"-Charakter Unabhängig von der Ius-cogens- Wirkung einiger völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte wird allen Menschenrechten des Völkergewohnheitsrecht auch eine objektiv-rechtliche Wirkung zugeschrieben. Sie werden daher zu so genannten Erga-omnes-Normen des Völkerrechts gezählt. Die Existenz von Rechtsnormen mit Erga-omnes-Charakter wurde vom Internationalen Gerichtshof (IGH) in einemobiterdictum im Barcelona-Traction-Fall bestätigt. 46 Dort führte er aus, dass eine Unterscheidung zu treffen sei zwischen solchen Normen, die einen Staat gegenüber der gesamten internationalen Staatengemeinschaft verpflichten und solchen, die ihn nur im (bilateralen) Verhältnis zu einem anderen Staat binden. Normen, die die Interessen aller Staaten betreffen und aufgrund ihrer fundamentalen Bedeutung das Recht aller Staaten auslösen, ihre Einhaltung zu verlangen und zu schützen, seien Verpflichtungen erga omnes. 47 Ihre Geltung gegenüber der 44 Vgl. die Legaldefinition in Art. 53 S. 2 WVK; zum ius cogens im Einzelnen siehe Frowein, in: EPIL III (1997), 65 ff.; Hannikainen, Peremptory Nonns (Jus cogens) in International Law - Historical Development, Criteria, Present Status, 1988; Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, 1992; Mosler, SchwJIR 25 (1968),9 ff.; ders., RdC 140 (1974-IV), 1 (35 f.); Scheuner, ZaöRV 27 (1967), 520 ff.; Verdross, AJIL 49 (1955), 55 ff.; ablehnend zur Existenz eines ius cogens: Anhänger der positivistischen und der voluntaristischen Konzeption des Völkerrechts, vgl. Nachweise bei Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 15 Rn. 37 ff. 45 DahmiDelbrückIWolfrum, Völkerrecht, Bd. 1/1, S. 46; Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 15 Rn. 36. 46 IGH, Barcelona Traction, Light and Power Company Limited, ICJ-Reports 1970, 2 (32). 47 Das Zitat im Original lautet: ., ... an essential distinction should be drawn between the obligation of aState toward the international community as a whole, and those arising vis
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Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
gesamten Staatengemeinschaft haben die Erga-omnes-Normen daher mit dem ius cogens gemein, so dass ius cogens und Erga-omnes-Pflichten sich jedenfalls teilweise decken. 48 Jedoch müssen nicht alle Erga-omnes-Normen den zwingenden, unabdingbaren Charakter des ius cogens aufweisen. Vielmehr kann man unter Pflichten mit Erga-omnes-Charakter auch solche Normen verstehen, die zwar partikulär gesetzt werden, aber den Respekt der gesamten Staatengemeinschaft beanspruchen. Insbesondere die Menschenrechte gehören zu den Erga-omnesNormen des Völkerrechts, da ihre Einhaltung im Interesse der internationalen Staatengemeinschaft, der sie konstituierenden Staaten und der Individuen liegt. 49 Die Verletzung einer Erga-omnes-Verpflichtung stellt nicht nur ein Delikt gegenüber dem unmittelbar betroffenen Völkerrechtssubjekt dar, sondern auch eine Verletzung der Rechte der internationalen Gemeinschaft als solcher, insbesondere aller Staaten, ob sie nun konkret betroffen sind oder nicht. 50 Daher kann jeder Staat die Einhaltung der Erga-omnes-Normen erwarten und verlangen sowie Repressalien bei ihrer Verletzung ergreifen. 51 2. Weitere in Rechtsprechung und Schrifttum verwendete Begriffe a) Allgemeine Rechtsgrundsätze Menschenrechte können grundSätzlich auch anerkannte allgemeine Rechtsgrundsätze im Sinne von Art. 38 I lit. c) IGH-Statut darstellen. Jedoch ist diese Rechtsquelle - wie bereits mehrfach angesprochen - aufgrund ihrer Entstehungsweise streng von den völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechten zu unterscheiden. Es handelt sich um Grundsätze des nationalen Rechts, die in den Rechten mehr oder weniger aller Nationen übereinstimmend anerkannt sind und auch auf die zwischenstaatlichen Beziehungen Anwendung finden können. Da es für die Zuordnung eines gewissen Prinzips auch des Nachweises einer entsprechenden opinio iuris bedarf, bevor von "anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen" gesprochen werden kann,52 kann die Abgrenzung zwischen völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechten und allgemeinen Rechtsgrundsätzen in der Praxis schwer fallen. So werden insbesondere aus der im völkerrechtlichen Schrifttum avis another State [ ... ] By their very nature the former are the concern of all States. In view of the importance of the rights involved, all States can be held to have a legal interest in their protection; they are obligations erga omnes . .. IGH, Barcelona Traction. Light and Power Company Limited. ICJ-Reports 1970, 2 (32). 48 Zur Abgrenzung zwischen ius cogens und Erga-omnes-Nomen siehe Kadelbach. Zwingendes Völkerrecht, S. 31 f.; Kokott. in: BDGVR 38 (1998),71 (87 f.). 49 Kokott. in: BDGVR 38 (1998), 71 (88). 50 Kokott. in: BDGVR 38 (1998), 71 (86 f.). 51 Kokott. in: BDGVR 38 (1998), 71 (89). 52 Dahm/Delbrück/Woljrum, Völkerrecht, Bd. 1/1, S. 64 f.
A. Systematik des völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechtsschutzes
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anerkannten (subsidiären) Begrenzungsfunktion der allgemeinen Rechtsgrundsätze für die Vertragsfreiheit der Staaten53 weitreichende Schlussfolgerungen auch für die internationale Zusammenarbeit in Strafsachen gezogen. So übernähmen die allgemeinen Rechtsgrundsätze gerade in den Fällen eine Begrenzungsfunktion, wo Vertrags- und Gewohnheitsrecht sich zu zwingenden Grundsätzen des Rechts und zu elementaren Forderungen der Gerechtigkeit in Widerspruch setzen und die Anwendbarkeit der sonst vorrangigen völkerrechtlichen Rechtsquellen verhindern. 54 Aus den allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen ließen sich gewisse Normen entnehmen, aus denen sich bestimmte Mindestanforderungen (minimum standards) ergeben, wie die Behandlung von Ausländern, das Recht zur Verleihung der Staatsangehörigkeit, die Ausübung der Strafrechtspflege oder ihre Ausdehnung auf Auslandstaten. 55 So ließe sich aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen auch ableiten, dass die auf einem Auslieferungsvertrag beruhende Verpflichtung eines Staates zur Auslieferung eines Straftäters an den ersuchenden Staat entfallen muss, wenn der Ausgelieferte einer unmenschlichen Behandlung im ersuchenden Staat ausgesetzt wäre und der ausliefernde Staat dadurch genötigt würde, einer den Grundanschauungen der gesitteten Welt widersprechenden Unmenschlichkeit Vorschub zu leisten. 56 b) Völkerrechtlicher Mindeststandard und Fremdenrecht Sowohl in der Praxis der deutschen Gerichte als auch im Schrifttum findet sich im Zusammenhang mit der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen regelmäßig der Verweis auf den "völkerrechtlichen Mindeststandard" und das "Fremdenrecht". Zwischen beiden besteht ein unmittelbarer Zusammenhang, der sich in erster Linie auf die historische Entstehungsweise der ihnen zugehörigen Normen bezieht, nicht jedoch auf deren Rechtsqualität. So bezieht sich der völkerrechtliche Mindeststandard an Menschenrechten vor allem auf das Fremdenrecht und damit auf die Frage, wie Ausländer im Inland behandelt werden müssen. 57 Hierzu haben sich in der zwischenstaatlichen Praxis über Jahrhunderte Mindeststandards herausgebildet, die aufgrund ihrer Entstehungsweise zum Völkergewohnheitsrecht gerechnet werden müssen. 58 Im Auslieferungs- und Rechtshilferecht werden die "fremdenrechtlichen Mindeststandards" vor allem in den inlandskausalen Fall53 Vgl. nur DahmiDelbrückIWolfrum. Völkerrecht, Bd. VI, S. 69; Verdross/Simma. Völkerrecht, § 608. 54 DahmiDelbrückIWolfrum. Völkerrecht, Bd. 1/1, S. 69. 55 DahmiDelbrückIWolfrum. Völkerrecht, Bd. VI, S. 69. 56 DahmiDelbrückIWolfrum. Völkerrecht, Bd. VI, S. 69. 57 Zur Rechtsstellung der Ausländer ausführlich Verdross/Simma. Völkerrecht, § 1209 ff. 58 Gleichwohl besteht natürlich auch ein enger Zusammenhang zu den anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen, vgl. nur DahmiDelbrückIWolfrum. Völkerrecht, Bd. VI, S. 69.
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Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
gruppen relevant, in denen der um Auslieferung eines Ausländers ersuchte Staat bei dessen Behandlung den fremdenrechtlichen Mindeststandard einzuhalten verpflichtet ist. 59 Über die nonnative Bindungswirkung sagt die Zuordnung einer bestimmten menschenrechtlichen Position zum fremdenrechtlichen Mindeststandard indes nichts aus. Vielmehr herrscht über die Reichweite des fremdenrechtlichen Mindeststandards Streit. 60 Daher ist der in der Rechtsprechung und im Schrifttum praktizierte Rückgriff auf diese Begriffe nur bedingt hilfreich, um die Kriterien der Bindungswirkung und Reichweite der Menschenrechte der Völkerrechtsordnung zu erfassen. c) Internationaler "ordre public" Vielfach ist in der Praxis auch vom ordre public als mögliche Grenze der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen die Rede, wobei insbesondere in der Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland die Grenze zwischen internationalem und nationalen ordre public verwischt oder der Unterschied gar nicht deutlich gemacht wird. 61 Doch auch soweit begrifflich klar zwischen internationalem und nationalem ordre public unterschieden wird, findet sich kaum Übereinstimmung darüber, was der internationale ordre public nonnativ erfasst. Nach Vogler gehören dazu "nur die allgemeinen Regeln des Völkerrechts, denen unbedingte,jeder staatsvertraglichen Vereinbarung vorgehende Geltung zugeschrieben werden kann (ius cogens)".62 Nach Kokott könne zwischen einem internationalen ordre public im weiten und im engen Sinne unterschieden werden, wobei zu dem ordre public im weiten Sinne alle völkergewohnheitsrechtlich anerkannten Menschenrechte zu zählen sind, von welchen allerdings unter erleichterten Bedingungen abgewichen werden kann, insbesondere aufgrund von Verträgen. 63 Der Begriff als solcher hat für die Bestimmung der Reichweite der Menschenrechte zunächst keine Bedeutung. Er dient vielmehr der begrifflichen Ummantelung völkerrechtlicher Phänomene. Die pauschale Benutzung dieses Begriffs trägt allerdings nicht zur Klarheit über die Wirkungsweise völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte bei, sondern verwischt die Unterschiede zwischen den einzelnen Nonnen des Völkerrechts. Daher sollen im Folgenden die dahinter stehenden völLagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 71. So handele es sich beim fremdenrechtlichen Mindeststandard wie bei den nur einfach völkergewohnheitsrechtlich anerkannten Menschenrechten um dispositive Normen, Kokott, in: BDGVR 38 (1998) 71 (88); anders indes Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Bd. 111, S. 69. 61 Zur Kritik auch Vogler, in: Vogler/Wilkitzki, IRG, Art. 73 Rn. 7; zur Abgrenzung des Begriffs des internationalen ordre public von dem ordre public des Internationalen Privatrechts siehe auch ausführlich Stöcker, EuGRZ 1987,473 ff. 62 Vogler, in: Vogler/Wilkitzki, IRG, Art. 73 Rn. 7 63 Vgl. Kokott, in: BDGVR 38 (1998), 71 (86,88,89). 59
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A. Systematik des völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechtsschutzes
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kerrechtlichen Regeln, Grundsätze und Wirkungen herausgearbeitet werden. Für die vorliegende Arbeit stellt sich somit die Frage, ob und vor allem inwieweit die Menschenrechte Bestandteil eines völkerrechtlichen ordre public sind, denn nur die Klärung dieser Frage gibt Aufschluss über die Anwendbarkeit von Menschenrechten auf die koordinationsrechtlichen Verträge der Staaten über die grenzüberschreitende Zusarnrnenarbeit. Im Grundsatz herrscht Einigkeit darüber, dass die Menschenrechte das am weitesten entwickelte Gebiet des öffentlichen Völkerrechts und damit die wesentliche Grundlage für die Anerkennung eines völkerrechtlichen ordre public sind. 64 Jedoch stellt sich die Frage, welche menschenrechtlichen Prinzipien und Normen dem internationalen ordre public zuzurechnen sind. Die Zuordnung eines Prinzips oder einer Regel zum völkerrechtlichen ordre public sagt indes noch nichts darüber aus, welche Rechtsverbindlichkeit und Rangstufe diese Normen im Vergleich zu sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen haben, es sei denn es handelt sich um ius cogens. Diese Unterscheidung steht in engem Zusarnrnenhang mit der Rechtsfolge einer Verletzung von Normen des völkerrechtlichen ordre public und ist somit von fundamentaler Bedeutung für die in diesem Teil zu bearbeitende Frage nach der rechtlichen Wirkung von internationalen Menschenrechten auf die völkerrechtlichen Verträge über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen. Da letztere Ausdruck der aus dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller Staaten fließenden völkerrechtlichen Vertragsfreiheit sind, können internationale Menschenrechte in diesem Zusarnrnenhang nur dann Bedeutung erlangen, wenn sie überhaupt eine diese Freiheit beschränkende Wirkung entfalten. Um herauszufinden, ob und unter welchen Voraussetzungen internationale Menschenrechte die aus dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller Staaten fließende völkerrechtliche Vertrags freiheit einschränken bzw. Vorrang vor bestehenden völkerrechtlichen Vereinbarungen zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit erlangen können, muss allerdings in einem ersten Schritt geklärt werden, ob es eine Hierarchie der Rechtsquellen im Völkerrecht gibt und, soweit dies zu bejahen ist, durch welche Regeln diese Hierarchie bestimmt wird. Im Folgenden soll daher eine Bestandsaufnahme der Praxis der internationalen Staatengemeinschaft und der internationalen Organisationen vorgenommen werden, um die Akzeptanz von Menschenrechten als Bestandteil einer öffentlichen Ordnung nachzuweisen und als Grundlage für die Ermittlung allgemeingültiger Kriterien für deren Zuordnung zum ordre public zu nutzen. Des Weiteren muss geklärt werden, welche konkreten Auswirkungen die Zuordnung von Menschenrechten zum ordre public hat.
64 Vgl. Kälin. in: BDGVR 33 (1994),9 (16, 18 f., 21, 25 f.); Kokott. in: BDGVR 38 (1998),71 (79); dies.lHoffmeister. AJIL 1996,664 (666).
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Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
B. Ermittlung einschlägiger völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte Im Folgenden sollen einzelne völkergewohnheitsrechtlich anerkannte Individualrechtspositionen herausgearbeitet werden, wobei die Schwierigkeiten bei der Ennittlung des Völkergewohnheitsrechts, die eine umfassende rechtsvergleichende Untersuchung fordert, eine erschöpfende Ausarbeitung unmöglich machen. Von einer umfassenden Ennittlung der einschlägigen völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte muss daher abgesehen werden. Da mit der vorliegenden Untersuchung jedoch vor allem die Grundsätze der Wirkungsweise von völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechten auf die internationale Zusammenarbeit in Strafsachen untersucht und einer kritischen Würdigung unterzogen werden sollen, kommt es auf die abschließende und kommentarartige Darstellung des existierenden Völkergewohnheitsrechts nicht an. Daher sollen an dieser Stelle auch nur die allgemein anerkannten Menschenrechte sowie einige umfassend in verschiedenen vertraglichen Menschenrechtsinstrumenten kodifizierte Indi vidualrechtspositionen auf ihre Akzeptanz in der Staatenpraxis hin untersucht werden. Ein Schwerpunkt soll dabei auf die gerichtliche Praxis der Rechtsprechungsorgane der Bundesrepublik Deutschland gelegt werden. Auch soll unterstützend auf Menschenrechtsverbürgungen in völkerrechtlichen Verträgen zurückgegriffen werden, um Rückschlüsse auf die Existenz einer entsprechenden völkergewohnheitsrechtlichen Norm ziehen zu können. Im Übrigen sei auf weiterführende Literatur im Rahmen der einzelnen Menschenrechte verwiesen. Daher soll ohne Anspruch auf Abgeschlossenheit die Praxis der europäischen Staaten, insbesondere der Bundesrepublik Deutschland, auf die Anerkennung von Individualrechtspositionen im Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehr untersucht und somit ein Überblick der wichtigsten Rechtspositionen gegeben werden.
I. Persönlichkeitsrechte im Auslieferungs- und Rechtshilfeverfahren 1. Recht auf Leben Das Recht auf Leben ist zwar in verschiedenen Ausprägungen und mit divergierender Reichweite,jedoch umfassend als grundlegendes Individualrecht anerkannt. 65 Bereits das völkerrechtliche Fremdenrecht ordnet das Recht auf Leben dem unverletzlichen Minimalstandard zu, für dessen Nichteinhaltung der verantwortliche Staat haftet. 66 Daher garantieren nicht nur ein Großteil der innerstaatlichen Verfassungen 65 Vgl. hierzu die zahlreichen Literaturhinweise bei Seidel, HB der Menschenrechte, S.43. 66 Vgl. Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 286.
B. Ermittlung einschlägiger völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte
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das Recht auf Leben,67 sondern neben der Allgemeinen Menschenrechtserklärung68 auch alle universellen und regionalen Menschenrechtskonventionen. 69 Laut einer sich durchsetzenden Auffassung wird deshalb vertreten, dass das Recht auf Leben eine Norm des Völkergewohnheitsrechts darstellt. 70 Eine der wichtigsten Ausprägungen des Rechts auf Leben ist das Verbot der Todesstrafe,71 welches inzwischen ebenfalls in den großen Menschenrechtskonventionen72 sowie in den innerstaatlichen Rechtsordnungen der meisten Staaten der Welt positivrechtlich geregelt ist. 73 Dennoch ist die Todesstrafe in noch zahlreichen Staaten erlaubt, so dass man noch nicht von einem universellen völkergewohnheitsrechtlichen Verbot der Todesstrafe ausgehen kann. Allerdings ist in allen europäischen sowie in zahlreichen bilateralen Auslieferungsübereinkommen normiert, dass die Auslieferung an Staaten verweigert werden kann, in denen dem Auszuliefernden die Todesstrafe droht. 74 Daher und aufgrund der positivrechtlichen Verankerung des Verbotes der Todesstrafe in der EMRK sowie der Verpflichtung aller neuen Europaratsstaaten, das 6. ZP-EMRK zu ratifizieren, könnte dieses Verbot möglicherweise zumindest auf regionaler Ebene zu V ölkergewohnheitsrecht erstarkt sein. 75 Aus der bereits zitierten Rechtsprechung des UN-AMR ergibt sich indes, dass eine Auslieferung in ein Land, in welchem dem Straftäter die Todesstrafe droht, keinen Verstoß gegen das in Art. 6 IPbpR enthaltene Recht auf Leben darstellt. Vielmehr könne eine Auslieferung allenfalls dann verweigert werden, wenn die auszuliefernde Person im ersuchenden Land kein faires Gerichtsverfahren erhält oder der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sein könnte. 76
67 Vgl. Desch, ÖZöRVR 36 (1985), 77 (82); für die Bundesrepublik Deutschland vgl. Art. 2 II, 102 GG. 68 Vgl. Art. 3 AEMR. 69 Vgl. Art. 6 IPbpR, Art. 1 des 2. Fakultativprotokoll IPbpR; Art. 2 EMRK, Art. 4 AMRK, Art. 4 AfCMR; vgl. umfassend Seidel, HB der Menschenrechte, S. 1 ff. 70 Vgl. nur Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 287 m. w. N. 71 Zu weiteren Ausprägungen des Rechts aufLeben siehe Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 287 ff. 72 Vgl. nur Art. 2 EMRK i. V. m. 6. ZP-EMRK; Art. 6 IPbpR i. V. m. Art. 1 des 2. Fakultativprotokoll IPbpR; zu den Erklärungen und Vorbehalten der USA und Europas bezogen auf die Todesstrafe Giegerich, EuGRZ 1995, 1 (13 ff.). 73 Vgl. Giegerich, EuGRZ 1995, 1 ff.; Peters, EuGRZ 1999, 650 ff.; in der innerstaatlichen Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland findet sich das Verbot in Art. 10200. 74 Siehe oben 2. Kapitel, S. 197 ff. 75 Siehe hierzu Peters, EuGRZ 1999, 650 ff., sowie das Votum von de Meyers im Soering-Fall, EGMR, Soering v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 7.7.1989, Series A, No. 161; siehe auch unten 6. Kapitel, S. 405 ff., 409 ff. 76 Vgl. bereits UN-AMR, Kindler v. Canada und NG v. Canada; hierzu oben 4. Kapitel, S. 278 f.; siehe auch Seidel, HB der Menschenrechte, S. 17 f., 22.
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Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
In der gerichtlichen Praxis der Bundesrepublik Deutschland wird eine Auslieferung bei Todesurteilen inzwischen regelmäßig abgelehnt, sofern der ersuchende Staat nicht ausreichend zusichert, die Todesstrafe weder zu verhängen noch zu vollstrecken. 77 Hervorzuheben ist, dass die Problematik der Todesstrafe im Ausland auch in reinen Rechtshilfefällen relevant werden kann. 78 So ging es in dem 1999 entschiedenen Fall um die Frage der Zulässigkeit eines deutschen Rechtshilfeersuchens an Russland, wo dem Betroffenen aufgrund des Ersuchens möglicherweise die Verhängung einer Todesstrafe drohte. 79 Hier stellte der Bundesgerichtshof klar, dass Art. 102 i. V. m. Art. 2 11 1 GG den internationalen Rechtshilfeverkehr in Strafsachen dahingehend beschränkt, dass deutsche Ermittlungsergebnisse für ein ausländisches Strafverfahren nur zur Verfügung gestellt werden können, wenn gewährleistet wird, dass diese Ermittlungsergebnisse nicht zum Zweck der Verhängung der Todesstrafe verwertet werden. 80 Damit wurde von demBundesgerichtshof ein Rechtsprechungswechsel eingeleitet, da bis dahin die verfassungsrechtliche Ableitung des Rechtshilfeverbotes bei drohender Todesstrafe aus genannten Bestimmungen regelmäßig verneint wurde. Fraglich ist, ob und inwieweit das völkergewohnheitsrechtliche Recht auf Leben dem völkerrechtlichen ius cogens zuzuordnen ist. Als Argument für den zwingenden Charakter zumindest eines Teilausschnitts des Rechts auf Leben wird dessen Notstandsfestigkeit angeführt, wie sie die internationalen Menschenrechtspakte anordnen. 81 Dennoch dürfte auf universeller Ebene sowohl die Praxis der Staaten als auch die Rechtsprechung des UN-AMR zur Rechtmäßigkeit von Auslieferungen und zur Vollstreckung von Todesurteilen gegen die Annahme eines universellen ius cogens sprechen. Auf regionaler Ebene dürfte sich in Europa
=
77 BVerfG, Beschluss vom 30.6.64, BVerfGE 18, 112 NJW 1964, 1783; Beschluss vom 4.5.82, NJW 1982,2728; Beschluss vom 27.7.99, NJW 2000, 1252 = StV 2000, 87; BGHSt 34, 256 - hier nur Anforderungen an die Zusicherung; OLG Hamm, NStZ 1986, 515 - keine Auslieferung an die Türkei ohne entsprechende Zusicherung; OLG Düsseldorf, StV 1994,34 = AVR 32 (1994), 278 - keine Auslieferung nach EuA1Übk, wenn Todesstrafe droht; OLG Celle, NStZ-RR 1998, 287 =StV 1999,264 =StraFo 1998,205 - keine vorläufige Auslieferungshaft bei Unzulässigkeit der Auslieferung an die Türkei wegen der Gefahr der Todesstrafe; OLG Celle, StraFo 1998, 389 - Änderung der Rechtsprechung: Vorläufige Auslieferungshaft und Zulässigkeit der Auslieferung an die Türkei, da aufgrund entsprechender Zusicherung keine Gefahr der Todesstrafe; OLG Karlsruhe, NStZ 1999,252 = StV 1999,272 - Auslieferung an die USA zulässig, da aufgrund entsprechender Zusicherung keine Todesstrafe droht. 78 BGH, NStZ 1999, 634 - deutsches Rechtshilfeersuchen für unzulässig erklärt; OLG Köln, NJW 1985,572 - Rechtshilfe an Türkei für zulässig erklärt; OLG Karlsruhe, NStZ 1991, 138 - Rechtshilfe an USA für zulässig erklärt. 79 Vgl. BGH, NStZ 1999,6. 80 Unter Berufung auf Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, IRG, § 8 Rn. 26, § 59 Rn. 21 f. 81 So Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 290 mit Verweis auf Art. 4 IPbpR, Art. 15 II EMRK, Art. 27 II AMRK.
B. Ennittlung einschlägiger völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte
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jedoch etwas anderes ergeben, denn die zwingende Verpflichtung aller neuen Konventionsstaaten der EMRK, die Todesstrafe abzuschaffen, kann als plausibles Argument für die Ius-cogens-Qualität dieser völkergewohnheitsrechtlichen Norm zumindest auf europäischer Ebene herangezogen werden. 2. Recht auf körperliche Unversehrtheit Das Recht auf körperliche Unversehrtheit steht in engem Zusammenhang mit dem Recht auf Leben und findet sich daher ebenfalls in allen universellen und regionalen Menschenrechtskonventionen. 82 Darüber hinaus existieren zahlreiche spezifische internationale Vertragswerke, die ausschließlich dem umfassenden Verbot der Folter und der unmenschlichen Behandlung gewidmet sind. 83 Hierzu gehören die Antifolterkonvention der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1984,84 die Inter-Amerikanische Konvention gegen Folter vom 9. Dezember 1985 85 und die Europäische Antifolterkonvention des Europarats vom 26. November 1987. 86 Das Verbot inhumaner Behandlung nimmt des Weiteren eine zentrale Stellung in den Standard Minimum Rules for the Treatment of Prisoners ein,87 welche jedoch zu den unverbindlichen Richtlinien der UN-Organe zu zählen sind. 88 Auch die UN-Vollversammlung hat die Anwendung von Folter durch staatliche Behörden bereits unzählige Male verurteilt. Schließlich verbieten auch zahlreiche nationale Verfassungen die Anwendung der Folter. 89 Wenngleich die Staatenpraxis zum Teil hinter der universellen Ächtung der Folter als Ausdruck der opinio iuris der Staaten zurückbleiben kann, besteht grundsätzlich Einstimmigkeit darüber, dass jedenfalls das Verbot der Folter dem Völkergewohnheitsrecht angehört und darüber hinaus auch zum ius cogens zu zählen ist. 9o Streit und Abweichungen bestehen indes darüber, welche Handlungen unter den Tatbestand der Folter oder der unmenschlichen Behandlung zu subsumieren sind. Daher sollte kein Staat einer Auslieferung zustimmen, wenn zu befürchten ist, dass der AuszuV g!. Art. 7 IPbpR; Art. 3 EMRK; Art. 5 AMRK; Art. 5 II AfCMR. Vg!. daneben auch Art. 3 der vier Genfer Abkommen. 84 Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment vom 10.12.1984, UNTS, Vo!. 85,1465, BGB!. 1990 II, 246. 85 Inter-American Convention to Prevent and Punish Torture, OASTS No. 67, ILM 1986,519. 86 European Convention for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment vom 26.11.1987, ILM 1988, 1152, BGB!. 1989 II, 946 87 ECOSOC Res. 663 (XXIV) C vom 31.7.1957; hierzu Lillich/Newman, International Human Rights, S. 219. 88 Zur Bindungswirkung des so genannten soft law siehe bereits oben S. 61 ff., 201 f. 89 Vg!. nur Art. 2 II GG. 90 V g!. nur die zahlreichen Nachweise bei Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 292 f. Fn. 542, 543 und 550. 82
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Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
liefernde im ersuchenden Staat der Folter und der unmenschlichen Behandlung ausgesetzt sein könnte. Diese Möglichkeit der Verweigerung der Auslieferung unter Berufung auf das Folterverbot wird zunehmend auch völkervertragsrechtlich fixiert. 91 Eine Zuordnung der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung und Strafe zum Völkergewohnheitsrecht ist trotz der regelmäßigen Bezugnahme in Menschenrechtskonventionen92 aufgrund der Weite der darunter subsumierbaren Handlungen schwieriger vorzunehmen, als bei dem allgemeinen Folterverbot. Vielmehr muss hier in verschiedene Fallgruppen differenziert und herausgefunden werden, welche Maßnahmen zur Verweigerung einer Auslieferung oder einer sonstigen Rechtshilfemaßnahme herangezogen wurden oder werden können. In einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahre 1986 stellte sich die Frage, ob die dem Auszuliefernden im ersuchenden Staat bevorstehende Strafe gegen den völkerrechtlich verbindlichen menschenrechtlichen Mindeststandard verstößt. Hier stellte das Gericht fest, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einer Strafe jedenfalls in der Ausprägung einer Elementargarantie Teil des völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandards ist. 93 Ein Verstoß hiergegen durch die Auslieferung des Straftäters könne jedoch nur dann angenommen werden, wenn die zu erwartende Strafe unerträglich hart und unter jedem denkbaren Gesichtspunkt als unangemessen erscheint oder als solche grausam, unmenschlich oder erniedrigend ist. 94 3. Recht auf Freiheit Auch die Freiheit der Person ist in zahlreichen internationalen Konventionen positivrechtlich geregelt und geschützt. 95 In seiner konkreten Ausprägung lassen sich verschiedene Fallgruppen abgrenzen. 96 Die Frage, ob der in zahlreichen Menschenrechtskonventionen garantierte Anspruch auf eine rechtmäßige Inhaftierung auch völkergewohnheitsrechtlich anerkannt ist, hat deutsche Gerichte mehrfach im Zusammenhang mit völkerrechtswidrigen Entführungen beschäf91 Vgl. nur Art. 3 lit. f) UN Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment, sowie Art. 3 I UN Model Treaty on Extradition. 92 Vgl. nur Art. 3 EMRK; Art. 7, 10 I IPbpR. 93 BVerfG, Beschluss vom 31.8.1986, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, U 134, S. 463 (464). 94 BVerfG, Beschluss vom 31.8.1986, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, U 134, S. 463 (464); BVerfG, NJW 1994,2884; vgl. allerdings auch BVerfGE 75, 1 (16 f.), wo die Existenz eines internationalen Mindeststandards jedenfalls im Bereich der Bestrafung von Betäubungsmitteldelikten verneint wird. 95 Art. 5 EMRK; Art. 9 IPbpR. 96 Zum Schutz vor Verhaftung und Ausweisung siehe auch Art. 1 des 7. ZP-EMRK; Art. 13 IPbpR (Schutz von Ausländern gegen Ausweisung); zur sog. Alvarez-MachainDoktrin siehe BakerlRöben, ZaöRV 53 (1993), 657 ff.; zur Male-captus-bene-detentusRegel Trechsel, EuGRZ 1987,69 ff.; Vogler, ZStW 105 (1993), 3 (26).
B. Ermittlung einschlägiger völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte
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tigt. 97 Dabei stellte sich die Frage, ob eine Festnahme eines mutmaßlichen Straftäters und dessen Verbringung in den Gerichtsstaat unter Verletzung der territorialen Souveränität eines fremden Staates ein Strafverfolgungshindernis nach sich zieht. 98 Die Existenz einer völkergewohnheitsrechtlichen Regel, wonach ein Strafverfahren gegen eine Person einzustellen ist, die unter Verletzung der Gebietshoheit eines fremden Staates in den Gerichtsstaat verbracht wurde, besteht nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts indes nicht. 99 Auch im Zusammenhang mit der Rechtmäßigkeit der Auslieferungshaft haben sich die deutschen Gerichte mehrfach mit dieser Frage auseinandergesetzt. In der Regel ging es dabei um die Frage, ob ein Verstoß gegen den völkergewohnheitsrechtlichen Mindeststandard des ersuchenden Staates zur Rechtswidrigkeit der Auslieferungshaft im ersuchten Staat führt oder ob die Dauer der Auslieferungshaft selbst völkerrechtswidrig ist. 4. Schutz des Privat- und Familienlebens
Als Ausfluss des Schutzes des Privat- und Familienlebens sind in zahlreichen internationalen Menschenrechtsinstrumenten wie auch in der innerstaatlichen Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland sowohl der Schutz von Ehe und Familie 100 als auch die Unverletzlichkeit der Wohnung lOl fest integriert. 102 Regelmäßig fallen in den Schutzbereich der Familie auch die Rechte der Kinder. 103 Bedeutung haben diese sich aus diesem Rechtsinstitut ergebenden Rechte vor allem im Bereich von Ausweisungen erlangt. Auf Auslieferungen finden sie aber ebenso Anwendung. Die Unverletzlichkeit der Wohnung kann vielmehr auch im Rahmen von Durchsuchungen Bedeutung erlangen und entsprechende Rechtshilfemaßnahmen unzulässig machen. Da diese Rechte bereits im Rahmen ihrer völkervertraglichen Ausgestaltung zahlreichen Schranken unterworfen 97 Zu den Male-captus-bene-detentus-Fällen siehe Giegerich. in: Grabenwarter/Harnrnerl PelzIlSchulev-SteindllWiederin, Grundrechte, S. 101 (112); Herdegen. EuGRZ 1986, 1 ff.; Tomuschat. in: HbdStR VII (1992), § 172 Rn. 16; Trechsel. EuGRZ 1987, 69 (75 ff.). 98 BVerfG, NJW 1986. 1427 - Festnahme im Ausland; NJW 1986, 3021; NJW 1995, 651 - Einsatz eines Lockspitzels; BGH. NStZ 1985,464 - Verletzung von Hoheitsrechten; NJW 1990, 1801 - Beweisverwertung bei Völkerrechts widrigkeit ihrer Erlangung. 99 BVerfG, NJW 1986, 1427 - Festnahme im Ausland; NJW 1986, 3021; NJW 1995, 651 - Einsatz eines Lockspitzels. 100 Vgl. Art. 12, 16 AEMR; Art. 8, 12 EMRK; Art. 5 des 7. ZP-EMRK; Art. 17, 18,23 IPbpR; Art. 6 GG. 101 Vgl. Art. 12 AEMR; Art. 8 EMRK; Art. 17 IPbpR; Art. 13 GG. 102 Vgl. hierzu die zahlreichen Literaturhinweise bei Seidel. HB der Menschenrechte, S. 86 ff. 103 V gl. insbesondere das Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20.11.1989, BGBI. 1992 11, 122, sowie Art. 24 IPbpR; Art. 2 des I. ZP-EMRK; Art. 6 111 GG.
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Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
sind,l04 haben sie auf völkergewohnheitsrechtlicher Ebene bisher keine eigenständige Bedeutung erlangen können.
11. Prozessuale Garantien im Auslieferungs- und Rechtshilfeverfahren 1. Rechtsweggarantie Zu den prozessualen Garantien im Auslieferungs- und Rechtshilfeverfahren zählen insbesondere die Rechtsweggarantie sowie die sich daraus ableitenden Justizgrundrechte. Unter der Rechtsweggarantie wird allgemein das Recht verstanden, die Verletzung subjektiver Rechte des Einzelnen prozessual geltend zu machen. Es handelt sich dabei um die wichtigste Rechtsgewährleistung überhaupt, denn nicht nur die einzelnen Justizgrundrechte, sondern vor allem die Geltendmachung materieller Menschenrechte setzen ein Recht auf die Gewährung von Rechtsschutz voraus. Die Rechtsweggarantie bildet somit die Brücke zwischen den materiellen und den prozessualen Rechten. 105 Sie findet sich daher auch in allen internationalen und regionalen Menschenrechtskonventionen 106 sowie im nationalen Verfassungsrecht aller Rechtsstaaten 107 wieder. Im Bereich des internationalen Auslieferungs- oder Rechtshilferechts ergibt sich aus der Rechtsweggarantie die grundSätzliche Pflicht eines Staates, den von entsprechenden innerstaatlichen Maßnahmen betroffenen Individuen die Möglichkeit des effektiven Rechtsschutzes offen zu halten. So wurde die Rechtsweggarantie und insbesondere auch der Anspruch von Ausländern auf angemessenen Rechtsschutz vom Bundesverfassungsgericht auch als allgemeine Regel des Völkerrechts im Sinne von Art. 25 GG anerkannt. 108
2. Besondere Ausprägungen der Rechtsweggarantie Besondere Ausprägungen der Rechtsweggarantie sind die Garantie des gesetzlichen Richters, 109 insbesondere jedoch der Anspruch auf rechtliches Gehör und ein faires Gerichtsverfahren (fair trial). Die Grundsätze des rechtsstaatlichen Verfahrens sind zwar in den internationalen Menschenrechtsinstrumenten kodifiziert,ll0 jedoch ist Zurückhaltung für die Anerkennung allgemein verbindlicher Grundsätze Siehe unten 6. Kapitel, S. 423 f. Seidel, HB der Menschenrechte, S. 256. 106 Vgl. Art. 8 AEMR; Art. 5 IV, 6 I, 13 EMRK; Art. 2 III, 14 IPbpR. 107 Vgl. nur Art. 19 IV GG. 108 BVerfGE 60, 253 (303 ff.); 67,43 (63). 109 Art. 6 I EMRK; Art. 14 I IPbpR; vgl. auch Art. 101 I GG. 110 Art. 6 I-III EMRK; Art. 14 I-III IPbpR. 104 lOS
B. Ermittlung einschlägiger völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte
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der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens als allgemeine Regeln des Völkerrechts geboten. Mehr als die Feststellung, dass internationale Rechtshilfe verboten ist, wenn der Verfolgte einem willkürlichen Verfahren oder unmenschlichen Strafen ausgesetzt ist, erscheint zwar wünschenswert, ist aber wohl noch nicht vertretbar. lll Jedoch haben sich in der zwischenstaatlichen Praxis einige einzelne Verfahrensrechte völkergewohnheitsrechtlich durchgesetzt. So wurde vom Bundesverfassungsgericht der wesentliche Kern eines fairen Gerichtsverfahrens als allgemeine Regel des Völkerrechts im Sinne von Art. 25 GG anerkannt, insbesondere bei den so genannten Abwesenheitsverfahren. ll2 In mehreren Entscheidungen hatte sich das Bundesverfassungsgericht ausführlich mit der Bedeutung des völkerrechtlichen Mindeststandards für die Rechtmäßigkeitsvoraussetzung einer Auslieferung auf der Grundlage von Abwesenheitsurteilen auseinander zu setzen. 113 Diese Entscheidungen zeigen, dass das aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 I GG) und auf die Achtung der Menschenwürde (Art. 1 I GG) fließende, zwingende Gebot, dass sich ein Beschuldigter im Rahmen eines Strafverfahrens persönlich zu gegen ihn erhobenen Schuldvorwürfen äußern kann,114 nicht nur zum unverzichtbaren Bestand der deutschen öffentlichen Ordnung, sondern auch zum völkerrechtlichen Mindeststandard gehöre. 115 Jedoch sei der einschlägigen völkerrechtlichen Praxis nicht zu entnehmen, dass die Durchführung strafrechtlicher Abwesenheitsverfahren schlechthin unzulässig wäre, sondern unter bestimmten Umständen auch nicht gegen den völkerrechtlichen Mindeststandard verstoßen kann. 116 Zu den weiteren spezifischen völkergewohnheitsrechtlich zum Teil anerkannten Ausprägungen des Fair-triaL-Prinzips zählen die Unschuldsvermutung, 117 das Recht auf Durchführung eines Strafverfahrens in angemessener Frist, 118 das Recht, Vogler, ZStW 105 (1993), 3 (11). BVerfGE 59,280 (282 f.); 63, 332 (337 f.), beide Entscheidungen betrafen italienische Abwesenheitsurteile; vgl. auch BVerfG, NJW 1987,830; NJW 1991, 1411. 113 Mit der Zulässigkeit einer Auslieferung auf der Basis eines Abwesenheitsurteils beschäftigen sich folgende Entscheidungen: BVerfGE 59,280 ff. mit Nachweisen zur völkerrechtlichen Praxis; BVerfGE 61,28 ff.; 63, 332 ff.; BVerfG, Beschluss vom 17.11.1986, NJW 1987,830; Beschluss vom 10.6.1988 - 2 BvR 369/88, in: EserlLagodnylWilkitzki, U 167, S. 567 ff.; hierzu auch OLG Koblenz, Beschluss vom 14.9.1988 - I Ausl. 8/87, in: Eser/LagodnylWilkitzki, sowie jüngst BVerfG, NJW 2000, 1225. 114 Vgl. im Einzelnen BVerfGE 41,246 (249); 46, 202 (210); 54, 100 (116). l1S BVerfGE 63, 332 (337 f.); BVerfG, NJW 1987,830; Beschluss vom 10.6.1988, in: EserlLagodnylWilkitzki, U 167, S. 567 (572 f.); vgl. auch BVerfGE 59,280 (283 ff.). 116 Vgl. BVerfG, NJW 1987, 830 mit Nachweisen zur völkerrechtlichen Praxis; in BVerfGE 59, 280 vollzieht das Gericht eine rechtsvergleichende Prüfung. 117 Art. 6 II EMRK; Art. 14 II IPbpR. 118 Art. 6 I EMRK; Art. 14 III lit. c) IPbpR. 111
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22 Ziegenhahn
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Tei12, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
sich im Strafverfahren nicht selbst belasten zu müssen,119 das Recht auf Beistand eines Verteidigers,l20 das Recht auf Beziehung eines Dolmetschers 121 sowie das Recht auf Öffentlichkeit des Verfahrens. 122 Insbesondere gehöre zum vom Völkergewohnheitsrecht umfassten menschenrechtlichen Mindeststandard die Pflicht eines nationalen Gerichts, im Auslieferungs- oder Rechtshilfeverfahren einen Dolmetscher (auf Kosten der Staatskasse) hinzuziehen, wenn der Verfolgte der Gerichtssprache nicht hinreichend mächtig iSt. 123
3. Verbot der Bestrafung ohne gesetzliche GrundlageGrundsatz der .. nulla poena sine lege" Der Grundsatz nulla poena sine lege besagt, dass eine Tat nur bestraft werden darf, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Jede rückwirkende, analoge oder gewohnheits rechtliche Strafbegründung und Strafverschärfung ist nach diesem Prinzip verboten. Es findet sich nicht nur in den Menschenrechtskonventionen wieder,124 sondern stellt auch die Grundlage des klassischen Auslieferungs- und Rechtshilferechts dar, wonach entsprechende völkerrechtliche Verpflichtungen immer unter dem Vorbehalt der beiderseitigen Strafbarkeit und Verfolgbarkeit standen. In diesem Rahmen dürfte sich für diesen Grundsatz auch eine völkergewohnheitsrechtIiche Regel herausgebildet haben.
4. Verbot der doppelten Bestrafung - Grundsatz des .. ne bis in idem" Auch das Verbot der doppelten Bestrafung (ne bis in idem) gehört zu den für den internationalen Rechtshilfeverkehr besonders wichtigen Rechten des Einzelnen. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass zwischen einem "nationalen" und einem "internationalen" Verbot der doppelten Bestrafung unterschieden werden kann. 125 Sowohl die in den Menschenrechtskonventionen 126 als auch die im innerstaatlichen Recht 127 enthaltenen Ne-bis-in-idem-Bestimmungen umfassen in erster Art. 14 III lit. g) IPbpR. Art. 6 III lit. c) EMRK; Art. 14 III lit. d) IPbpR. 121 Art. 6 III lit. e) EMRK; Art. 14 III lit. f) IPbpR. 122 Art. 6 I EMRK; Art. 14 I IpbpR. 123 Vogler, ZStW 105 (1993),3 (18); BVerfG NJW 1988, 1462. 124 Art. 7 I I EMRK; Art. 15 I 2 IPbpR; Art. 103 GG; ausführlich Schroeder, NJW 1999, 89 ff. 125 Vgl. bereits oben 2. Kapitel, S. 205 f.; ausführlich zur Abgrenzung und Inhalt des ne bis in idem Specht, Die zwischenstaatliche Geltung des Grundsatzes ne bis in idem: zugleich ein Beitrag zur Auslegung des Art. 103 Abs. 3 Grundgesetz, 1998. 126 Art. 4 des 7. ZP-EMRK; Art. 14 VII IPbpR. 127 Art. 103 III GG, § 9 IRG. 119
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B. Ermittlung einschlägiger völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte
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Linie nur ein auf die doppelte Bestrafung innerhalb eines Landes abzielendes Verbot. 128 Diese Normen schützen daher nur vor einer doppelten Bestrafung durch ein und denselben Staat. 129 Auch die in den Auslieferungsübereinkommen enthaltenen Ne-bis-in-idem-Bestimmungen bezogen sich zunächst nur auf rechtskräftige Verurteilungen im ersuchten Staat. 130 Erst in den Rechtsgrundlagen der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen jüngeren Datums findet sich auch ein "internationales" Verbot der doppelten Bestrafung, wonach auch eine rechtskräftige Verurteilung in einem Drittstaat einer Auslieferung durch den ersuchten Staat entgegenstehen kann. Daher ging das Bundesverfassungsgericht in seiner berühmten Ne-bis-in-idem-Entscheidung im 75. Band auch davon aus, dass ein entsprechendes völkergewohnheitsrechtliches Verbot der doppelten Bestrafung auf internationaler Ebene zum damaligen Zeitpunkt noch nicht bestand. 1l1 Jedoch hielt das Gericht die Möglichkeit der Entstehung einer entsprechenden völkergewohnheitsrechtlichen Regel ausdrücklich für möglich. An diesem Befund dürfte sich jedenfalls auf universeller Ebene zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nichts geändert haben. Jedoch ließe sich durchaus die Ansicht vertreten, dass sich in Europa eine regionale völkergewohnheitsrechtliche Regel des ne bis in idem herausgebildet hat.
III. Gleichheitsrechte und sonstige Rechte im Auslieferungsund Rechtshilfeverfahren Die in verschiedenen internationalen Übereinkommen anerkannten Verbote der Diskriminierung, 132 die auch Eingang in diverse Rechtsgrundlagen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen gefunden haben,133 dürften indes noch keine Normen des Völkergewohnheitsrechts darstellen. ll4 Auch aus den staatlichen Schutzpflichten für Ausländer, wie sie sich aus dem Völkergewohnheitsrecht, aus einzelnen Menschenrechtskonventionen 135 und dem innerstaatlichen Verfassungsrecht 136 ableiten lassen, dürfte sich kein allgemeiner völkergewohnheitsrechtlicher Grundsatz zur Beschränkung des Auslieferungs- und Rechts128 Vgl. hierzu insbesondere BVerfGE 75, 1 (5 ff.); BGHSt 34, 334 (338); vgl. auch Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, Einleitung, Rn. 73. l29 Vgl. UN-AMR, Entscheidung vom 2.11.1987, EuGRZ 1991,15, wonach Art. 14 VII IPbpR nicht vor Strafverfolgung in zwei verschiedenen Staaten schütze. 130 Vgl. nur Art. 9 EuAlÜbk und Art. 8 BeNeLuxÜbk. 131 BVerfGE 75, 1 (18 ff.). IJ2 Vgl. Art. 26 IPbpR. 13J Siehe oben 2. Kapitel, S. 204 f. 134 Vgl. hierzu Dugard/Van den Wyngaert, AJIL 92 (1998), 187 (202). IJ5 Vgl. Art. 1 EMRK; Art. 2IPbpR. 136 Allgemein Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992.
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Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
hilfeverfahren herausgebildet haben. Vereinzelt wurden jedoch in der Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland einige sonstige Rechte im Auslieferungsund Rechtshilfeverfahren anerkannt. So handele es sich bei demSpezialitätsgrundsatz im Auslieferungsverfahren um eine allgemeine Regel des Völkerrechts im Sinne von Art. 25 GG. 137 Ebenso wurde das Verbot der Vornahme von Hoheitsakten auf dem Gebiet fremder Staaten ohne deren Zustimmung als allgemeine Regel des Völkerrechts im Sinne von Art. 25 GG anerkannt. I38 Nicht anerkannt wurde indes der Anspruch eines ausländischen Zeugen auf freies Geleit. I39
IV. Ergebnis Die vorangegangene Untersuchung der internationalen Praxis zeigt, dass ein großer Bestand völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte nachgewiesen werden kann, die im engen Zusammenhang mit Maßnahmen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen stehen und mit diesen in Konflikt geraten können. Die Untersuchung hat auch die erheblichen Unterschiede aufgewiesen, die durch die Qualifikation eines völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechts als Norm mit einfacher Bindungswirkung oder mit dem zwingenden Charakter des ius cogens entstehen. Auf diese mit der Rechtsnatur zusammenhängenden Fragen der Reichweite völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte wird in den folgenden Abschnitten vertieft einzugehen sein. An dieser Stelle kann jedoch bereits festgehalten werden, dass sich in der internationalen Staatenpraxis keine Einigkeit darüber finden lässt, welche völkergewohnheitsrechtlichen Normen in welchem Umfang zum zwingenden ius cogens zu zählen sind. 140 Allenfalls hinsichtlich einiger Elementargarantien lässt sich eine Übereinstimmung feststellen. So werden allenfalls das Recht auf Leben, das Folterverbot, die Anerkennung der Rechtsfähigkeit eines jeden Menschen und das Verbot von rassisch oder religiös motivierter Diskriminierung zu den Normen des völkerrechtlichen ius cogens gezählt. 141 Im Übrigen kann jedoch festgestellt werden, dass die elementaren Menschenrechte jedenfalls Bestandteil des im Rang niedriger stehenden allgemeinen Völkergewohnheitsrechts oder allgemeiner Rechtsgrundsätze geworden sind. 142 Sie sind vom jeweiligen Staat als Jedermannsrecht, also für alle Inländer und nicht nur für die Staatsbürger zu gewährleisten. 143 Sie entsprechen in der Regel inhaltBVerfGE 57, 9 (28). BSGE 33, 280 (284). 139 BGH, NJW 1988, 3105 (3106 ff.). 140 Vgl. bereits Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 78. 141 Hofmann, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 25 Rn. 29. 142 Frowein, in: HbdStR VII (1992), § 180 Rn. I; Kirchhof, EuGRZ 1994, 16 (26). 143 In der Bundesrepublik Deutschland ergibt sich dies aus Art. I 11 GG, vgl. Kirchhof, EuGRZ 1994, 16 (26). 137 138
C. Eingriffsvoraussetzungen für völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte
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lich dem so genannten völkerrechtlichen Mindeststandard für die Behandlung von Ausländern, zu dessen Einhaltung der Aufenthalts staat demjeweiligen Herkunftsstaat verpflichtet ist. Zu diesem Mindeststandard zählen das Recht auf Rechtssubjektivität, das Folterverbot, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit und Sicherheit der Person, einige spezifische Diskriminierungsverbote sowie das Recht auf ein faires Verfahren. 144 In Bezug auf die deutsche Rechtsprechungspraxis lässt sich nunmehr feststellen, dass der gesamte Bestand des völkerrechtlichen Mindeststandards im Bereich der Menschenrechte als allgemeine Regeln des Völkerrechts anerkannt werden,145 und zwar unabhängig davon, ob es sich insoweit um Normen mit Ius-cogens-Qualität oder um allgemeines Völkergewohnheitsrecht handelt. 146 Insbesondere die strafprozessualen Grundregeln seien hier von erheblicher Praxisrelevanz. 147 Die umstrittene Frage des Vorrangs völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte vor anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen, etwa zur Auslieferung, ist nicht auf der Ebene der Ermittlung des Inhalts völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte zu klären. Vielmehr handelt es sich dabei um Fragen der materiellen Reichweite und der formellen Bindungswirkung völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte, welche in den folgenden beiden Abschnitten problematisiert werden sollen.
C. Eingriffsvoraussetzungen für völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte Für die Frage der menschenrechtlichen Schranken des internationalen Rechtshilfeverkehrs von maßgeblicher Bedeutung ist, ob und vor allem wodurch Staaten die völkergewohnheitsrechtlichen Normen verletzen können. Dabei gilt es, verschiedene Teilaspekte sauber voneinander abzugrenzen. Insbesondere ist zunächst zu ermitteln, an welchem Hoheitsakt die Überprüfung der Vereinbarkeit von staatlichen und zwischenstaatlichen Rechtshilfemaßnahmen mit völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechten anzusetzen ist. Im Bereich der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen kann grundSätzlich unterschieden werden zwischen dem Abschluss eines völkerrechtlichen Übereinkommens über die zwischenstaatliche Zusammenarbeit und der konkreten (innerstaatlichen) Durchführung einer bestimmten Rechtshilfemaßnahme. In diesem Zusammenhang wird erneut der klassische Streit um die Rechtsnatur der Auslieferung entscheidend, denn je nach vertretener Auffassung kann die Vornahme einer Auslieferung und Rechtshilfemaßnahme als rein zwischenstaatlicher Rechtsakt gar nicht in subjektive Rechte Kirchhof, EuGRZ 1994, 16 (26). Fortentwicklung zu BVerfGE 59, 280 (283). 146 V gl. nur Hofmann. in: UmbachlClemens, 00, Art. 25 Rn. 29; Kokott. in: BDGVR 38 (1998),71 (79 ff., 89). 147 Hofmann. in: UmbachlClemens, GG, Art. 25 Rn. 29. 144
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Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
des Einzelnen eingreifen. 148 Des Weiteren ist die Frage der Dispositionsbefugnis aufzuwerfen, das heißt, ob und inwieweit es sich bei hoheitlichem Tätigwerden, sei es auf innerstaatlicher oder auf völkerrechtlicher Ebene, um tatsächliche Eingriffe in völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte handelt oder ob schlicht über den völkergewohnheitsrechtlichen Bestand an Menschenrechten disponiert wird. Daher soll im Folgenden zunächst untersucht werden, welches hoheitliche Handeln überhaupt menschenrechtsrelevant werden kann. In einem zweiten Schritt ist dann der völkerrechtliche Vertragsschluss als solcher auf seine Eingriffsqualität hin zu untersuchen, um dann schließlich die Vornahme von innerstaatlichen Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen auf ihre Wirkung hinsicht1ich des ermittelten Bestands an völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechten zu überprüfen. Schließlich ist die hochumstrittene Frage aufzugreifen, ob und unter welchen Voraussetzungen einem Staat unmittelbare Eingriffe ausländischer Hoheitsbehörden zugerechnet werden können.
I. Ermittlung des menschenrechtsrelevanten hoheitlichen Handeins Nach der Feststellung der allgemeinen Anwendbarkeit von völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechten ist zu klären, welche hoheitlichen Maßnahmen überhaupt am Maßstab der Völkerrechtsordnung gemessen werden sollen. In Betracht kommt zunächst der Abschluss eines Vertrages über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen selbst, der im Widerspruch zu einem Menschenrecht des V ölkergewohnheitsrechts stehen kann. Des Weiteren kann die auf einem bestehenden zwischenstaatlichen Auslieferungs- oder Rechtshilfevertrag beruhende Durchführungsmaßnahme eine Verletzung völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte zur Folge haben, ohne dass der zugrunde liegende Vertrag bereits einen Eingriff in völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte darstellen muss. Ein Beispiel hierfür ist die auf einer vertraglichen Verpflichtung beruhende Auslieferung, die entweder auf einem Abwesenheitsurteil basiert oder vorhersehbar eine unmenschliche Behandlung des Ausgelieferten im ersuchenden Staat nach sich zieht. Schließlich kann es zu einem Eingriff in entsprechende völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte auch bei der Durchführung einer Auslieferung oder Rechtshilfemaßnahme kommen, ohne dass eine entsprechende völkerrechtliche Verpflichtung zwischen den kooperierenden Staaten besteht. Diese Fallkonstellation unterscheidet sich insofern von der zuvor genannten, als dass hier die grundsätzliche Verpflichtung zum Schutz der völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte nicht in einen Normenkonflikt mit einer völkerrechtlichen Verpflichtung zur Auslieferung oder Rechtshilfe kommen kann. Zu den problematischen völkerrechtlichen Hoheitsakten der kooperierenden Staaten im Bereich der internationalen 148 Zur zweidimensionalen Sichtweise im Rechtshilferecht siehe bereits oben 3. Kapitel, S. 227 f., 4. Kapitel, S. 305 f.
C. Eingriffsvoraussetzungen für völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte
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Rechtshilfe in Strafsachen gehören jedoch in erster Linie der Abschluss zwischenstaatlicher Übereinkommen über die Zusammenarbeit und die (innerstaatliche) Durchführung dieser Vereinbarungen. Beide Formen des hoheitlichen Tätigwerdens können im Widerspruch zu völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechten stehen. Ob und inwieweit im konkreten Fall ein Eingriff in völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte möglich ist, soll im Folgenden untersucht werden.
11. Abschluss eines völkerrechtlichen Übereinkommens über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen Zu den möglichen menschenrechtserheblichen Rechtsakten des internationalen Rechtshilfeverkehrs gehören in erster Linie die völkerrechtlichen Verträge über die Zusammenarbeit selbst. Dabei handelt es sich um zweiseitige Rechtsakte, die im Widerspruch zu völkergewohnheitsrechtlichen Bestimmungen stehen können. So stünde etwa ein Auslieferungsvertrag, in welchem sich die Staaten dazu verpflichten, den Verfolgten im Rahmen der Auslieferungshaft keine Rechtsschutzmöglichkeiten einzuräumen, im Widerspruch zu dem bereits angesprochenen völkergewohnheitsrechtlich gefestigten Anspruch auf rechtliches Gehör. Ob und inwieweit ein Widerspruch zwischen einem Auslieferungs- oder Rechtshilfevertrag und einem völkergewohnheitsrechtlich anerkannten Menschenrecht einen Eingriff in die subjektiven Rechte des Einzelnen darstellt, hängt aufgrund ihrer unterschiedlichen Bindungswirkung davon ab, ob die Menschenrechte dispositiver oder zwingender Natur sind.
1. Eingriffin dispositive völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte Fraglich ist daher zunächst, ob in dem Abschluss eines völkerrechtlichen Übereinkommens, in welchem ausdrücklich der Schutzbereich eines völkergewohnheitsrechtlich anerkannten Menschenrechts tangiert wird, auch ein Eingriff in das entsprechende Menschenrecht zu sehen ist. Abstrakt lässt sich zunächst einmal nur eine Kollision verschiedener völkerrechtlicher Verpflichtungen feststellen. Ein solcher Widerspruch zwischen völkergewohnheitsrechtlicher Norm und vertraglicher Vereinbarung ist nach den Regeln des allgemeinen Völkerrechts aufzulösen. Danach ergibt sich eine Auflösung etwaiger Normenkonflikte zwischen V ölkergewohnheitsrecht und Völkervertragsrecht aus demLex-specialis-Grundsatz. Da das Völkergewohnheitsrecht in der Regel jedoch dispositiver Natur ist, steht es den Staaten frei, völkergewohnheitsrechtliche Bestimmungen im Wege von vertraglichen Vereinbarungen in ihrem Verhältnis untereinander abzuändern, zu ersetzen oder auszuschließen. 149 Im Falle eines Konfliktes zwischen einer Norm des Ver149
Vgl. Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 20 Rn. 2.
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Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
tragsrechts und einer Nonn des Gewohnheitsrechts gilt zwischen den Parteien der Vereinbarung daher grundsätzlich die vertragliche Regelung. Daraus ergibt sich im Ergebnis, dass durch Auslieferungs- und Rechtshilfeverträge völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte im Grundsatz nicht verletzt, sondern verdrängt werden. Im Einzelnen wird jedoch auch vertreten, dass die völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte einem völkerrechtlichen ordre pub/ic angehören,150 von welchem aufgrund seiner Erga-omnes-Wirkung nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen durch einzelne Staaten oder Staatenverbände abgewichen werden kann. 151 Folgt man dieser Auffassung, müsste man hingegen einen Eingriff in die dispositiven völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte bejahen. Insoweit entspräche diese Konstellation dann der im Folgenden untersuchten, namentlich dem Eingriff in zwingende völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte, so dass eine Entscheidung über die Zuordnung völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte zum völkerrechtlichen Bestand an Erga-omnes-Nonnen und ihrer Rechtsfolge an dieser Stelle dahinstehen kann. 152
2. Eingriffin zwingende völkergewohnheitsrechtliehe Menschenrechte Eine anerkannte Ausnahme von der Lex-specialis-Regel gilt jedoch in solchen Fällen, in denen die betroffenen völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte die Qualität von zwingendem Recht (ius cogens) aufweisen. Entsprechend der in Art. 53 Satz 1 WVK vertraglich angeordneten Rechtsfolge 153 ist ein Vertrag nichtig, wenn er im Zeitpunkt seines Abschlusses im Widerspruch zu einer zwingenden Nonn des allgemeinen Völkerrechts steht. Daher lässt sich schlussfolgern, dass etwa ein Auslieferungsvertrag, in welchem sich die Staaten zur Einschränkung des Rechtsschutzes in Auslieferungsangelegenheiten verpflichten, gemäß Art. 53 Satz 1 WVK nichtig ist, da das völkergewohnheitsrechtliche Gebot des effektiven Rechtsschutzes die Qualität von ius cogens aufweist. 154 Ebenso dürfte ein Rechtshilfevertrag gegen das völkerrechtliche ius cogens verstoßen, in dem sich die Vertragsstaaten verpflichten, bei der Beweisaufnahme auch Mittel der 150 Vgl. nur Kokott, in: BDGVR 38 (1998),71 (74 ff.) 151 Nach Kokott kann indes nur von Erga-omnes-Norrnen mit !us-cogens-Charakter unter
erleichterten Bedingungen abgewichen werden. 152 Indes ist auf diese Frage im Rahmen der Einschränkbarkeit völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte zurückzukommen, hierzu unten 5. Kapitel, S. 359 ff. 153 Dieser Bestimmung kommt darüber hinaus allerdings auch völkergewohnheitsrechtliehe Geltung zu. 154 Einer solchen Schlussfolgerung entspricht die von Vogler vertretene und in der Rechtsprechung weitläufig angenomme !us-cogens-Lösung, vgl. nur Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 215 ff.; entsprechende Nachweise zur Rechtsprechung bei Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 67 ff.
C. Eingriffsvoraussetzungen für völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte
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Folter anzuwenden. 155 In der Praxis lässt sich aber (soweit ersichtlich) kein Vertrag über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen finden, der solche offensichtlichen Menschenrechtsverletzungen zum Gegenstand hat. Vielmehr handelt es sich regelmäßig um Verträge, die zwar allgemein zu Auslieferungen und Rechtshilfemaßnahmen verpflichten, nicht aber zu Eingriffen in die Individualrechte des Einzelnen. Diese Eingriffe sind vielmehr eine (mittelbare) Folge der (innerstaatlichen) Umsetzung der völkerrechtlichen Auslieferungs- und Rechtshilfeverpflichtungen im konkreten Fall. Fraglich ist daher, ob ein Auslieferungsvertrag gemäß Art. 53 Satz 1 WVKnichtigist, wenn dem Auszuliefernden nach dessen Übergabe an den ersuchenden Staat eine unmenschliche Behandlung und Folter drohen. Dann müsste, wie Lagodny zutreffend herausgearbeitet hat, die Auslieferung zur Folter Ziel oder zumindest Zweck des Auslieferungsvertrages gewesen sein. 156 Dies wird bei allgemeinen Auslieferungsverträgen kaum gegeben sein. Auch bei Zugrundelegung der von Vogler vertretenden Auffassung, wonach es sich bei jeder einzelnen Auslieferung um einen "Einzelauslieferungsvertrag" handelt, wird man zu keinem anderen Ergebnis kommen können. 157 In der Praxis verpflichten sich die Staaten im Rahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen vertraglich zur Vornahme bestimmter Rechtshilfehandlungen sowie zur Einhaltung von bestimmten Zusicherungen. Eine ausdrückliche Disposition durch die vertraglichen Bestimmungen über völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte, insbesondere über lus-cogens-Norrnen lässt sich allenfalls theoretisch konstruieren. Findet sich indes in einem völkerrechtlichen Vertrag über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit eine Bestimmung, die die Staaten unmittelbar zu Eingriffen in Menschenrechte zwingenden Charakters verpflichtet, so tritt unzweifelhaft die Rechtsfolge des Art. 53 Satz 1 WVK ein, wobei dann zu prüfen wäre, ob nur die einzelne Bestimmung oder der ganze Vertrag nichtig ist. Auf die Frage der Rechtfertigung eines solchen Eingriffs kommt es dann nicht mehr an.
III. Vornahme konkreter Auslieferungs- und Rechtshilfemaßnahmen In der Praxis der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen sind es folglich nicht die völkerrechtlichen Auslieferungs- und Rechtshilferegelungen selbst, die in völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte eingreifen, sondern regelmäßig deren Umsetzung durch die innerstaatlichen Behörden. Unter der Prämisse der strikten Trennung zwischen völkerrechtlicher und innerstaatlicher Betrachtungsweise muss hier zunächst gefragt werden, ob und inwieweit es sich bei die155 Das Folterverbot gehört anerkanntermaßen zum völkerrechtlichen Bestand an luscogens-Normen, siehe bereits oben 5. Kapitel, S. 334 f. 156 Vgl. Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 87 ff. 157 Vgl. hierzu nur Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 87 ff.
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Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
sen innerstaatlichen Rechtsakten um ein völkerrechtserhebliches Tätigwerden der Staaten handelt. Soweit dies bejaht werden kann, ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob mit dieser Form des hoheitlichen Tätigwerdens über bestehendes Völkergewohnheitsrecht disponiert werden kann oder ob es als zurechenbarer Eingriff in die entsprechende völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechtsnorm zu werten ist. Diese Unterscheidung ist deshalb von Bedeutung, weil die internationale Rechtshilfe in Strafsachen nach (bereits dargestellter) klassischer Auffassung ausschließlich zwischenstaatliche Hoheitsakte bewirke (Vertragstheorie), die nicht zur Verletzung von subjektiven Rechten Einzelner führen könnten. Im Gegensatz dazu wird vor allem imjüngeren Schrifttum vertreten, dass zwischen völkerrechtlichem Vertragsschluss und innerstaatlicher Ausführung dergestalt unterschieden werden muss, dass letztere eine Hoheitsmaßnahme darstelle, die sowohl unter dem Vorbehalt völkerrechtlicher als auch innerstaatlicher Individualrechte stehe (Lehre vom innerstaatlichen Vollzugsakt bzw. erweiterte Vertragstheorie ). Im Folgenden muss dieser dogmatische Streit daher erneut aufgegriffen werden, indem man je nach vertretener Rechtsauffassung die Frage der Eingriffsvoraussetzungen klärt. Jedoch soll im Rahmen einer Würdigung dieser beiden Rechtsansichten versucht werden, die Unerheblichkeit dieses Streites für die Frage der Eingriffsqualität hoheitlichen Handeins aufzuzeigen.
1. Eingriff in völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte unter Zugrundelegung der" Vertragstheorie" In der Vergangenheit ging man davon aus, dass die internationale Rechtshilfe allein zwischenstaatliche Hoheitsakte bewirke, die nicht unmittelbar in die Grundoder Menschenrechte des Einzelnen eingreifen können. ISS Nach der so genannten zweidimensionalen Sichtweise standen allein die völkerrechtlichen Verträge unter dem Vorbehalt der Völkerrechtsgemäßheit. Jedoch wurde auch die Durchführung der diesen Verträgen zugrunde liegenden Rechtshilfemaßnahmen dem Völkerrecht zugerechnet, indem man in jeder Vornahme einer vertraglich geregelten Rechtshilfemaßnahme einen völkerrechtlichen Einzelvertrag sah. IS9 So sei in dem Ersuchen um Auslieferung oder Rechtshilfe ein Angebot und in der Bewilligung der Auslieferung bzw. der Rechtshilfe eine Annahme zum Abschluss eines solchen völkerrechtlichen Einzelvertrages zu sehen. 160 Bei der Bewilligungsentscheidung handele es sich um den "Teilakt eines völkerrechtlichen Rechtsgeschäfts".161 Allein dieser Einzelvertrag bzw. die jeweiligen "Teilakte" seien die maßgeblichen Hierzu bereits oben 3. Kapitel, S. 228 ff. 159 Vgl. Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 33,43; ders., EuGRZ 1981,417. 160 Vogler, in: FS Triffterer (1996), 799 (802); ebenso Geiger, GG und Völkerrecht, S. 311. 161 Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 33,43; ders., EuGRZ 1981,417. 158
C. Eingriffsvoraussetzungen für völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte
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Hoheitsrnaßnahmen, welche auf ihre Konformität mit dem Völkerrecht hin zu überprüfen seien. 162 Als völkerrechtlicher Vertrag gelten dann nach dieser Auffassung die bereits oben herausgearbeiteten Grundsätze für den Eingriff in völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte durch andere völkerrechtliche Verträge. Sie sind nur insoweit erheblich, als sie dem "allgemein anerkannten Menschenrechtsbestand des Völkerrechts", 163 dem "internationalen ordre public", das heißt dem völkerrechtlichen ius cogens widersprechen. 164 2. Eingriff in välkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte unter Zugrundelegung der "Lehre vom innerstaatlichen Vollzugsakt"
Die oben dargestellte und insbesondere von Vogler vertretene Auffassung zur Wirkungsweise des internationalen Rechtshilferechts auf den Individualrechtsschutz hat die deutsche Rechtsprechung maßgeblich beeinflusst. 165 In zahlreichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs der 80er und 90er Jahre wurden seine Ausführungen zum Vertragscharakter der Auslieferung herangezogen, um die Grenzen des völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechtsschutzes aufzuzeigen. Erst Lagodny ist es zu verdanken, dass dem in Einklang mit dem traditionellen Völkerrecht stehenden Ansatz Voglers eine moderne Sichtweise entgegengesetzt wurde. 166 Entsprechend der von ihm vertretenen und bereits oben dargestellten dreidimensionalen Sichtweise des internationalen Rechtshilferechts ist die konkrete Durchführung eines Rechtshilfeersuchens nicht ein staatlicher Hoheitsakt, der ausschließlich auf der Ebene des Völkerrechts Bedeutung erlangt. Vielmehr handele es sich dabei (auch) um einen innerstaatlichen Vollzugsakt, welcher vor allem an der innerstaatlichen Rechtsordnung (innerstaatliches Dürfen) aber auch am Völkerrecht (völkerrechtliches Dürfen) zu messen sei. 167 Das "völkerrechtliche Dürfen" werde dabei einerseits von einem geringen Bestand an völkerrechtlichem Mindeststandardlius cogens und andererseits von regionalen Menschenrechtsverträgen bestimmt. 168 Dabei handele es sich um völkerrechtliche Individualgarantien, die materiell vom Grund162 Inzwischen gesteht Vogler zu, dass die Bewilligungsentscheidung neben der völkerrechtlichen Seite auch eine innerstaatliche habe und mit der Bewilligungsentscheidung regelmäßig in die Rechte des Betroffenen eingegriffen wird, vgl. Vogler, in: FS Triffterer (1996), 799 (802 f.). 163 Vogler, NJW 1994, 1433 (1435). 164 Vgl. Vogler, in: Vogler/Wilkitzki, IRG, Art. 73 Rn. 7; vgl. auch unten 5. Kapitel, S. 371 ff. 165 Vgl. ausführlich Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 67 ff. 166 Erstmals Lagodny, NJW 1988, 2146 (2147). 167 Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, Einleitung, S. 17 f. 168 Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, Einleitung, S. 18.
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Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
gesetz aufgenommen werden und daher auch im Rahmen des "innerstaatlichen Dürfens" zu beachten seien. 169 Aufgrund der Begrenzung der vom Grundgesetz aufgenommen völkerrechtlichen Menschenrechte auf den "völkerrechtlichem Mindeststandardlius cogens" kommt Lagodny jedoch zu dem gleichen Ergebnis wie Vogler, nämlich dass nur völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte des ius cogens einen Eingriff in die subjektiven Rechte des Einzelnen darstellen können. 3. Würdigung und eigener Lösungsansatz Die beiden dargestellten Auffassungen haben sich bereits insofern aneinander angenähert, als dass Vogler die Bindung der innerstaatlichen Gerichte und Behörden an die Grundrechte des Grundgesetzes und die inkorporierten Menschenrechte der Völkerrechtsordnung, mithin die subjektiv-rechtliche Bedeutung des "völkerrechtlichen Einzelvertrags" inzwischen anerkennt. 170 Dies gelte insbesondere für den ungebundenen Rechtshilfeverkehr. 171 Im Fall des vertragsgebundenen Rechtshilfeverkehrs, welcher in der Praxis die Regel darstellt, kommen die beiden Auffassungen indes wieder zu unterschiedlichen Ergebnissen. Nach Vogler könne die innerstaatliche Bewilligung bzw. Vornahme einer konkreten Rechthilfemaßnahme beim Bestehen einer vertraglichen Auslieferungs- oder Rechtshilfeverpflichtung nur dann einen die Zulässigkeit tangierenden Eingriff in Rechte des Einzelnen darstellen, wenn durch sie eine menschenrechtliche Bestimmung mit Ius-cogensQualität verletzt wird. 172 Damit befindet er sich im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, welches im vertrags gebundenen Rechtshilfeverkehr ebenfalls nur den völkerrechtlichen Mindeststandard und somit das ius cogens für geeignet hält, durch die vertragliche Verpflichtung verletzt zu werden. Mit dieser Abweichung von seiner ursprünglichen strengen Ansicht dürfte sich Voglers jüngere Auffassung nicht mehr abweichend von Lagodnys Grundsätzen auf die Qualifikation der Eingriffsvoraussetzungen auswirken. Vielmehr werden die hiermit angesprochenen und nach wie vor bestehenden (dogmatischen) Differenzen erst auf der Ebene der Rechtfertigung eines Eingriffs in völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte wieder aktuell. Beiden Ansätzen ist indes entgegenzuhalten, bei der Frage der Reichweite (einfacher) völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte, sei es auf völkerrechtlicher oder es auf innerstaatlicher Ebene, nicht ausreichend zwischen den Voraussetzungen an einen Eingriff und der Rechtsfertigung eines solchen zu differenzieren. 169
Ibid.
V gl. Vogler, in: FS Triffterer (1996), 799 (802 f.). Vgl. Vogler, in: FS Triffterer (1996), 799 (802 f.); ders., NJW 1994, 1433 (1435). 172 Vogler, in: Vog1erlWi1kitzki, IRG, Art. 73 Rn. 7; ders., NJW 1994, 1433 (1435 f.).
170 171
C. Eingriffsvoraussetzungen für völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte
349
Insbesondere im Hinblick auf die (inzwischen) von beiden Autoren anerkannte innerstaatliche Relevanz des Völkerrechts wäre die Frage zu klären gewesen, ob die "allgemeinen Regeln des Völkerrechts" im Sinne von Art. 25 GG tatsächlich nur den" völkerrechtlichen Mindeststandard" im Sinne des völkerrechtlichen ius cogens umfassen l73 oder darüber hinaus auch die dispositiven völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte. So wird etwa von Hofmann vertreten, dass der völkerrechtliche Mindeststandard durchaus größer sei als der Bestand an menschenrechtlichem ius cogens. 174 Folgt man dieser Auffassung, kann nicht bereits auf der Ebene des Eingriffs das dispositive Völkerrecht ausgeschlossen werden. Aber auch auf völkerrechtlicher Ebene ist insbesondere im Hinblick auf die objektiv-rechtliche Wirkung völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte nicht ohne weiteres von einer zulässigen Disposition über völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte auszugehen. Vielmehr kann auch hier die Auffassung vertreten werden, dass völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte nicht ohne weiteres im Wege von möglicherweise nur bilateralen vertraglichen Vereinbarungen zwischen zwei Staaten in ihrem Verhältnis untereinander abgeändert, ersetzt oder ausgeschlossen werden können. Auf diese Weise kommt man auch zu einer übereinstimmenden Bewertung der völkerrechtlichen und der innerstaatlichen Wirkung und Reichweite völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte. IV. Zurechenbarkeit von unmittelbaren Eingriffen anderer Staaten
Eine weitere in dieser Untersuchung bisher noch nicht vertiefte, aber hochumstrittene Frage betrifft die Zurechenbarkeit eines erfolgten oder bevorstehenden Eingriffs in (völkergewohnheitsrechtliche) Menschenrechte durch einen anderen Staat bzw. dessen Hoheitsträger. Sie stellt sich beispielsweise, wenn die Bundesrepublik Deutschland von einem Staat um die Auslieferung eines inhaftierten Straftäters ersucht wird, dem im ersuchenden Staat Folter oder eine sonstige unmenschliche Behandlung droht. Hier hat also noch kein unmittelbarer Eingriff in (völkergewohnheitsrechtliche) Menschenrechte stattgefunden; er steht vielmehr noch (vorhersehbar) bevor. Ein Beispiel für einen bereits eingetretenen Eingriff in Menschenrechte wäre das Ersuchen der Bundesrepublik Deutschland um die Inhaftierung und Auslieferung des im ersuchenden Staat in Abwesenheit verurteilten Straftäters. In beiden Fällen werden die unmittelbaren Eingriffe in völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte von den Hoheitsträgern des die Bundesrepublik Deutschland um Auslieferung ersuchenden Staat vorgenommen. Klassischer-
173 174
So auch GraßhoflBackhaus, EuGRZ 1996,445 (448). Vgl. Hofmann, Grenzüberschreitende Sachverhalte, S. 275 ff., 284.
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Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
weise beruft sich der Auszuliefernde im ersuchten Staat auf die vorangegangene bzw. drohende Verletzung seiner Menschenrechte, um seine Auslieferung an den ersuchenden Staat zu verhindern. Für die Bewilligungsbehörde stellt sich daher ebenso wie für etwa um Rechtsschutz ersuchte Gerichte die Frage, ob diese vom ersuchenden Staat unmittelbar verursachten Menschenrechtsverletzungen mittelbar auch der Bundesrepublik Deutschland zugerechnet werden können. Schließlich ist sie in die Ursachenkette insoweit eingebunden, als sie es - unbefangen betrachtet - durch Verweigerung der Auslieferung selbst in der Hand hat, einen bevorstehenden Eingriff zu verhindern bzw. einem bereits erfolgten Eingriff durch die Verweigerung seiner innerstaatlichen Anerkennung Wirksamkeit zu verschaffen. Bei diesen beiden dargestellten Beispielsfällen handelt es sich um die so genannten auslandskausalen Fallkonstellationen, denn die letzte Ursache für den Eingriff in ein Individualrecht des Einzelnen wird von den Hoheitsträgern eines anderen Staates gesetzt. Im Bereich des Ausländerrechts werden solche Eingriffskonstellationen unter dem Begriff "zielstaatsbezogene Eingriffe" erfasst. Hier wie dort stellt sich die enorm umstrittene Frage, ob und vor allem in welchem Umfang ausländische Hoheitsakte (auch) als eigenständige Eingriffe des nur mittelbar beteiligten anderen Staates, etwa der um Auslieferung ersuchten Bundesrepublik Deutschland, gewertet werden können. In der internationalen Praxis sind ebenso wie im Schrifttum verschiedene Auffassungen zu dieser Fragestellung entwickelt worden, deren gemeinsamer Nenner die auf allgemeinen völkerrechtlichen Grundsätzen beruhende Feststellung ist, dass ausländische Hoheitsakte dem sie mittelbar verursachenden bzw. diese nur anerkennenden Staat nicht zwingend zugerechnet werden müssen. Vielmehr sind die Wirkungen staatlicher Hoheitsakte im Grundsatz räumlich auf das Territorium des sie unmittelbar vornehmenden Staates begrenzt. 175 Hierbei ist jedoch regelmäßig zwischen der räumlichen Wirkung und der Durchsetzung von staatlichen Hoheitsakten zu differenzieren, wobei der extraterritorialen Durchsetzung staatlicher Hoheitsakte engere Grenzen auferlegt sind. 176 Im Folgenden sollen die in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen Grundsätze der extraterritorialen Geltung und der Zurechnung ausländischer Hoheitsakte kurz aufgezeigt werden, um im Anschluss ebenfalls in aller Kürze die dieser Untersuchung zugrunde liegende Rechtsauffassung darzulegen. Dabei ist grundsätzlich zwischen den bereits angesprochenen Fallkonstellationen zu unterscheiden. So geht es zum einen um die Zurechnung vorhersehbarer Eingriffe (aufgrund der Mitverursachung menschenrechtstangierender fremder Hoheitsakte) und zum anderen um die Zurechnung bereits vollzogener Eingriffe (aufgrund der Anerkennung menschenrechtstangierender fremder Hoheitsakte).
175 176
Ausführlich DahmiDelbrückIWolfrum. Völkerrecht, Bd. I/l, S. 319 ff. DahmiDelbrückIWolfrum. Völkerrecht, Bd. I/l, S. 483.
C. Eingriffsvoraussetzungen für völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte
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1. Lösungsansätze in der Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland In der Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland wurde die Frage der Zurechenbarkeit von Individualrechtsverletzungen aufgrund von Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe insbesondere im Rahmen der Prüfung von Grundrechtseingriffen untersucht. So stellte das Bundesverfassungsgericht in zwei grundlegenden Entscheidungen zur Zulässigkeit deutscher Auslieferungsersuchen fest, dass eine Verletzung der Grundrechte "nicht schon deshalb schlechthin ausgeschlossen [sei], weil es sich bei dem Auslieferungsersuchen um eine völkerrechtliche Willenserklärung handelt".177 Vielmehr würden die Grundrechte in ihrem sachlichen Geltungsumfang die deutsche öffentliche Gewalt auch binden, soweit Wirkungen ihres Handeins außerhalb des Hoheitsbereiches der Bundesrepublik Deutschland eintreten. 178 Allerdings bewirke das Auslieferungsersuchen im konkreten Fall "weder unmittelbar noch mittelbar einen der Bundesrepublik Deutschland zurechenbaren Eingriff in die Freiheit des Beschwerdeführers", weil die Inhaftierung des Beschwerdeführers ein "selbständiges hoheitliches Verhalten eines fremden Staates im Bereich seiner Hoheitsgewalt [darstelle], das vom Bundesverfassungsgericht nicht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetz überprüft werden kann".179 Vorbehaltlich besonderer völkerrechtlicher Verpflichtungen sei es eine innerstaatliche Angelegenheit des ersuchten Staates, ob und unter welchen Voraussetzungen er die betroffene Person in Haft nehme. 180 Daher lehnte das Gericht die vom Beschwerdeführer gerügte (mittelbare) Verletzung von Art. 2 11 2, 104 I 1 GG durch das deutsche Auslieferungsersuchen ab. 181 Dies schließe jedoch nicht eine Prüfung dahingehend aus, ob die Freiheitsentziehung und ihre Bedingungen dem völkerrechtlich verbindlichen menschenrechtlichen Mindeststandard widersprechen. 182 Für die Wahrung dieses Standards würden die zuständigen Organe der Bundesrepublik Deutschland von Verfassungs wegen eine 177 BVerfG, Beschluss vom 25.3.1981, BVerfGE 57, 9 (23); Beschluss vom 7.4.1988, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, U 161, S. 557 (560). 178 BVerfG, Beschluss vom 25.3.1981, BVerfGE 57, 9 (23); Beschluss vom 7.4.1988, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, U 161, S. 557 (560). 179 BVerfG, Beschluss vom 25.3.1981, BVerfGE 57, 9 (23 f.); im Folgenden führt das Gericht aus, dass die Entscheidung über das ob und die Voraussetzung einer Inhaftierung des Auszuliefernden vorbehaltlich besonderer völkerrechtlicher Verpflichtungen regelmäßig eine innerstaatliche Angelegenheit des ersuchten Staates sei. 180 BVerfG, Beschluss vom 25.3.1981, BVerfGE 57, 9 (24). 181 Neben den genannten Grundrechten prüfte das Gericht auch die vom Beschwerdeführer gerügte Verletzung von Art. 19 IV GG, welche es ebenfalls ablehnte, vgl. BVerfG, Beschluss vom 25.3.1981, BVerfGE 57, 9 (21 ff.). 182 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 25.3.1981, BVerfGE 57, 9 (24 f.) unter Verweise auf Mosler, RdC 140 (I974-IV), I (54 ff., 62); Beschluss vom 7.4.1988, in: Eser/Lagodny/ Wilkitzki, U 161, S. 557 (560): in bei den Fällen lehnte es diese Möglichkeit ohne die Angabe näherer Gründe zwar ab, jedoch wird hier die für diesen Teil der Untersuchung maßgebliche Differenzierung deutlich.
352
Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
eigene Verantwortung tragen. 183 Dahinter verbirgt sich das Bekenntnis zur folgenorientierten Zurechnung staatlichen Handeins, und zwar auch dann, wenn die Folgen außerhalb des deutschen Hoheitsgebietes eintreten. 184 Wenngleich das selbständige hoheitliche Verhalten eines fremden Staates zwar nicht einen zurechenbaren Eingriff in die innerstaatlichen Grundrechte der Bundesrepublik Deutschland darstellen könne, sei zumindest ein Eingriff in Menschenrechte der Völkerrechtsordnung einer Zurechnung offen. 2. Lösungsansätze im Schrifttum der Bundesrepublik Deutschland a) Lehre vom faktischen Grundrechtseingriff Die Frage der Zurechenbarkeit von Individualrechtsverletzungen aufgrund von Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe ist auch im (verfassungsrechtlichen) Schrifttum der Bundesrepublik Deutschland in erster Linie mit Bezug auf den Schutz der Grundrechte aufgegriffen worden. So unterscheidet H eintzen zwischen völkerrechtlichen Rechtsakten der Bundesrepublik Deutschland, die nach ihrer (verfassungsrechtlich nach Art. 5911 GG zwingend erforderlichen) Umsetzung in das innerstaatliche Recht Rechtswirkungen zwischen Staat und Individuumentfalten können und solchen, die apriori allein die rechtlichen Beziehungen zwischen souveränen Staaten betreffen. 18s Hierzu zählten insbesondere die Umsetzung der Verträge über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen, welche für sich genommen zwar rechtsförrnliche Akte der Bundesrepublik darstellen, deren mögliche Auswirkungen auf die Grundrechte jedoch nur faktischer Natur sein könnten. 186 Eventuelle Individualrechtsbeeinträchtigungen seien daher keine unmittelbare Rechtsfolge dieser Akte, sondern sie ließen sich nur mittels der Figur des "faktischen Grundrechtseingriffs" erfassen. 187 Die völkerrechtlichen Rechtsakte der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen stellen danach etwa dann einen rechtsförrnlichen Grundrechtseingriff dar, wenn "dieser Rechtsakt Rechtsfolgen zumindest auch im Verhältnis zwischen der deutschen Staatsgewalt und den ihr unterworfenen Grundrechtsträgern entfaltet und nicht nur auf der grundrechtsindifferenten Ebene der zwischenstaatlichen BVerfG, Beschluss vom 7.4.1988, in: Eser/LagodnylWilkitzki, U 161, S. 557 (560). So schon BVerfGE 57, 9 (23); vgl. jedoch zu den erhöhten Anforderungen an die Oarlegungslast von menschenrechtswidriger Behandlung im ersuchenden Staat BVerfG, NJW 1994,2883. 185 Heintzen, OV81. 1988,621. 186 Heintzen, OVBI. 1988, 621 mit Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 57, 9 (22 ff.) - Einlieferungsersuchen; 63, 343 (372 f.) - Zustellung vom/ins Ausland; BVerfG, EuGRZ 1986,18 = NJW 1986,1427 - Verhaftung im Ausland. 187 Heintzen, OVBI. 1998, 621 f. 183
184
C. Eingriffsvoraussetzungen für völkergewohnheitsrechtliehe Menschenrechte
353
Beziehungen" .188 In den hier angesprochenen auslandskausalen Fällen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen gelte jedoch die Besonderheit, dass das selbständige Tätigwerden eines ausländischen Souveräns den Zurechnungszusammenhang unterbricht. So ließen sich "belastende Folgewirkungen, die von einem ausländischen Staat allein oder gemeinsam mit der Bundesrepublik Deutschland, verursacht worden sind" nicht den deutschen Hoheitsträgern als Grundrechtseingriff zurechnen. 189 Mangels entsprechender Zurechenbarkeit liege in derartigen Fällen weder ein rechts förmlicher noch eine faktischer Grundrechtseingriff vor. 190 Auch der deutsche Berichterstatter auf der Staatsrechtslehrertagung von 1997, Bethge, welcher den internationalen Kontext der Problematik des Grundrechtseingriffs unbeachtet lässt, kommt in seiner Analyse des deutschen Rechts zu diesem Ergebnis. 191 Damit stehen beide Vertreter im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts soweit es um die Zurechung ausländischer Hoheitsakte unter Zugrundelegung der Grundrechte des Grundgesetzes geht. 192
b) Menschenrechtliche Schutzpflichten der Staaten Eine Zurechung fremder Hoheitsakte als mittelbare Eingriffe der Bundesrepublik Deutschland in subjektive Rechte der von Rechtshilfemaßnahmen betroffenen Individuen lässt sich indes mit der objektiv-rechtlichen Seite der Grundrechte begründen. Grundrechte verpflichten Staaten in erster Linie dazu, unmittelbare hoheitliche Eingriffe in subjektive Rechtspositionen des Einzelnen zu vermeiden (status negativus). Die staatlichen Schutzpflichten verpflichten die Staaten indes, (fremde) Eingriffe in die subjektiven Rechtspositionen des Einzelnen durch Dritte zu verhindern (status positivus). Im Rahmen der sich aus den Grundrechten ablei188 Heintzen, DVBI. 1998,621 (622); daher sei es eigentlich egal, ob Vertragstheorie oder erweiterte Vertragstheorie, wenn man nur konsequent auf eine solche innerstaatliche Betrachtungsweise abstellt. 189 Heintzen, DVBI. 1998,621 (622) unter Berufung auf BVerfGE 57, 9 - Einlieferungsersuchen; 66, 39 - Nachrüstung. 190 Heintzen, DVBI. 1998, 621 (622), wobei er darauf hinweist, dass das Begriffspaar "rechtsförmlicher" und "nicht-rechtsförrnlicher" Eingriff in der staatsrechtlichen Literatur der Bundesrepublik Deutschland synonym verwandt wird mit dem Begriffspaar des "rechtlichen" und "faktischen" Eingriffs. 191 Vgl. Bethge, in: VVDStRL 57 (1998), 7 ff.; zitiert und kritisiert von Frowein, DÖV 1998, 806 (811), der daher auf den Bericht der Schweizerin Weber-Dürfer, VVDStRL 57 (1998),57 ff., verweist, welche ausführlich auf die EMRK eingeht. 192 Zu einem anderen Ergebnis wird man indes kommen, wenn man - wie jüngst vertreten - die innerstaatlichen Grundrechte völkerrechtlich auflädt, das heißt unter Bezug auf die Menschenrechte der Völkerrechtsordnung, hierzu Kokott, in: BDGVR 38 (1998), 71 ff.
23 Ziegenhahn
354
Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
tenden Schutzpflichten des Staates im innerstaatlichen Kontext handelt es sich dabei regelmäßig um Eingriffe durch Private. 193 Ebenso wie im nationalen Verfassungsrecht werden auch im Recht des internationalen Menschenrechtsschutzes Schutzpflichten gegenüber dem einzelnen Individuum anerkannt. 194 Staatliche Schutzpflichten können sich aus dem objektiven Charakter der Menschenrechte ergeben und umfassen die Pflicht eines Staates, den Einzelnen vor Übergriffen Dritter zu schützen. 195 Sofern Menschenrechte einer öffentlichen Ordnung, dem völkerrechtlichen ordre public, zuzuordnen sind, reicht es nicht aus, dass ein Staat die unmittelbare Verletzung eines Menschenrechts unterlässt. Er ist vielmehr auch verpflichtet, die öffentliche Ordnung und die von ihr umfassten Rechtsgüter vor Angriffen von Dritten einschließlich anderer Individuen zu schützen. 196 Im vorliegenden Kontext wird durch das Prinzip der staatlichen Schutzpflicht die mögliche Pflicht der Bundesrepublik Deutschland erfasst, den Einzelnen vor hoheitlichen Eingriffen anderer Staaten in seine völkergewohnheitsrechtlich anerkannten Menschenrechte zu schützen. Dabei ist der Eingriff durch den fremden Staat nicht als unmittelbarer Eingriff (der deutschen Hoheitsträger) zu werten, sondern als mittelbarer, der darin liegt, dass der Staat den Eingriff hätte verhindern müssen. Im Rahmen der Zurechnung ausländischer Hoheitsakte als mittelbare Eingriffe stellt sich jedoch die Frage, ob und in welchem Umfang die Grund- bzw. Menschenrechte des Einzelnen die Staaten verpflichten, die Rechtsträger vor Verletzungen ihrer Rechte zu schützen. Das umfasst nicht nur die Frage nach den Anforderungen an die Intensität eines ausländischen Eingriffes, sondern auch, ob und inwieweit der Staat überhaupt in der Lage ist, den Rechtsträger zu schützen. So hat die Bundesrepublik Deutschland bei Rechtseingriffen im Ausland regelmäßig keinerlei eigene Hoheitsbefugnisse, die ihm ein Einschreiten ermöglichen. Jedoch kann ein Staat einen unmittelbaren Eingriff eines anderen Staates dadurch verhindern, dass er die ersuchte Rechtshilfemaßnahme verweigert. Aus den Menschenrechten der Völkerrechtsordnung abzuleitende staatliche Schutzpflichten im Rahmen des internationalen Rechtshilfeverkehrs sind insbesondere im Rahmen der vertraglichen Menschenrechte der EMRK näher konkretisiert worden. 197 So ergebe sich die Ausdehnung der Verantwortlichkeit im System der EMRK aus einer Verknüpfung zwischen dem gefährdeten Recht und 193 Zu den grundrechtlichen Schutzpflichten Klein, NJW 1989,1633 ff.; Bleckmann, in: FS Bemhardt (1995), 309 ff.; ausführlich Dietlein. Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992. 194 Kokott. in: BDGVR 38 (1998), 71 (80). 195 Kokott, in: BDGVR 38 (1998), 71 (80). 196 Kokott. in: BDGVR 38 (1998), 71 (80). 197 Ausführlich Bleckmann. in: FS Bemhardt (1995), 309 ff.; Buß. DÖV 1998,323 (326 ff.).
C. Eingriffsvoraussetzungen für völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte
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Art. 1 EMRK, wonach die Vertragsstaaten allen ihrer Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen die in der Konvention niedergelegten Rechte und Freiheiten zu sichern haben. In ständiger Rechtsprechung hat die Kommission bestätigt, dass eine Auslieferung an einen Staat, in welchem dem Auszuliefernden schwere unmenschliche Behandlungen drohen, die Verantwortlichkeit des ausliefernden Konventionsstaat nach Art. 3 EMRK i. V. m. Art. 1 EMRK auslösen kann. 198 Somit habe ein Staat auch für die im Ausland eintretenden Folgen einer Auslieferung einzutreten. 199 Anknüpfungspunkt für die Feststellung eines Konventionsverstoßes in einem solchen Falle sei der Umstand, dass der ausliefernde Staat erst gerade durch sein Verhalten den Konventionsverstoß im Zielland ermöglicht und ihm damit der durch sein Tun herbeigeführte Konventionsverstoß zugerechnet werden müsse. 2OO Diese Rechtsprechung, wonach die konventionswidrige Pflichtverletzung eines Staates im Akt der Übergabe des Auszuliefernden an ein fremdes Staatsorgan liegt, da sie ein wesentliches kausales Element für die spätere Menschenrechtsverletzung setzt, wird auch vom Schrifttum anerkannt. 201 So sei es in einem solchen Fall irrelevant, wo die konventionswidrige Behandlung tatsächlich stattfinde. 202 Auch Vogler stimmt dieser Rechtsprechung zu, denn ein Staat könne sich nicht von seiner Verantwortlichkeit befreien, nur weil die Folgen seines Handeins auf fremdem Hoheitsgebiet zum Tragen kommen und auf das Tätigwerden fremder Hoheitsträger zurückzuführen sind. Dies führe jedenfalls dann zu einer Verantwortlichkeit unter Menschenrechtsgesichtpunkten, wenn er für die Übergabe des Betroffenen an den Staat, der letztlich die menschenrechtswidrige Handlung vornimmt, verantwortlich ist. 203 Dies gelte jedoch nur, soweit es sich um potentielle Verletzungen von Art. 3 EMRK handele. Die Nichtbeachtung eines bestimmten Minimums an Verfahrensrechten im Sinne von Art. 6 EMRK im ersuchenden Staat sei indes schwerer zu werten als eine dem ausliefernden Staat zurechenbare Menschenrechtsverletzung. Hier würde die Verknüpfung mit Art. 1 EMRK alleine nicht ausreichen, eine extraterritoriale Ausweitung des Verantwortungsbereiches zu begründen. 204 Ein entsprechendes zusätzliches Argument ergäbe sich aus der Natur der Auslieferung als ein völkerrechtlicher Vertrag, welchemjedenfalls dann völkerrechtliche Schranken gesetzt sind, wenn er einem Verstoß gegen ius cogens entspricht. 205 EKMR, E 10479/83, DR 37,158 (183); E 10308/83, DR 36, 209 (219). EGMR, Soering v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 7.7.1989, Series A, No. 161, Ziff.86. 200 FroweiniPeukert, EMRK, Art. 3 Rn. 18; ZimmerlZimmermann, in: Huber, HB des AusIR, Art. 1 EMRK Rn. 2, Art. 3 EMRK Rn. 20 ff. 201 Kokott, in: BDGVR 38 (1998), 71 (80 f.). 202 Vgl. ZimmerlZimmermann, in: Huber, HB des AusiR, Art. 3 EMRK Rn. 16. 203 Vogler, in: FS Wiarda (1990), 663 (667). 204 Vogler, in: FS Wiarda (1990), 663 (667). 205 Vogler, in: FS Wiarda (1990), 663 (667 f.). 198 199
23*
356
Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts c) Beihilfe zur Verletzung des Völkerrechts
Eine weitere Möglichkeit der Zurechnung eines Eingriffs gerade in subjektive Rechte der Völkerrechtsordnung wurde bereits von Dahm mit seiner Theorie vom "aiding and abetting"206 aufgestellt. Danach ist in der mittelbaren Beteiligung eines Staates an der unmittelbaren Verletzung völkerrechtlicher Normen eines anderen Staates eine Beihilfe zur V erletzung des Völkerrechts zu sehen. 207 Der Rückgriff auf "the means of aiding and abetting" steht im Einklang mit den modernen Entwicklungen im Völkerrecht. So hat die International Law Commission im Rahmen ihres Versuches,208 das Recht der Staatenverantwortlichkeit zu kodifizieren, unter dem Titel "Aid or Assistance by aState to another State for the Comrnission of an internationally Wrongful Act" in Art. 27 eine Regelung zum "aiding and abetting" getroffen. 209 Die Konstruktion der Beihilfe zur Menschenrechtsverletzung ist im Schrifttum auch auf den internationalen Rechtshilfeverkehr übertragen worden. 210 So kann nach Kokott dieses Konstrukt als dogmatische Begründung für die extraterritoriale Ausweitung der staatlichen Verantwortlichkeit herangezogen werden. 211 Ausführlich hat sich auch Trechsel im Jahre 1987 dieser Frage gewidmet und neben dem Argument der Folgenbezogenheit staatlicher Eingriffe eine Analogie zum strafrechtlichen Teilnahme- und Täterbegriff herangezogen, um die extraterritoriale Verantwortlichkeit der Staaten für Eingriffe außerhalb ihres Hoheitsgebietes zu begründen. 212
Dahm, Völkerrecht, Bd. I, S. 288. 207 Hierzu auch Klein, in: FS Schlochauer (1981), 425 ff. 208 Vgl. International Law Commission, International Law Commission Report 1996, Chapter IlI, State Responsibility, siehe unter ; zur Fifty-fifth session der ILC siehe sowie im State Responsibility E1ectronic Archive . 209 Die Regelung lautet: "Aid or assistance by aState to another State, if it is established that it is rendered for the commission of an internationally wrongful act carried out by the latter, itself constitutes an internationally wrongful act, even if, taken alone, such aid or assistance would not constitute the breach of an international obligation." Hierzu auch der Report des Special Rapporteur CrawJord, Third Report on State Responsibility, UN-Doc. A/CN.4/507 vom 15.3.2000; zum "aiding and abetting" siehe ferner bereits Ermacora, in: FS Verdross (1980), 357 ff., und die kritischen Anmerkungen von Vogler, in: FS Wiarda (1990),663 (666). 210 Zustimmend zur Frage der Anwendbarkeit des Rechtes der Staatenverantwortlichkeit auf Menschenrechtsverletzungen BakerlRöben, ZaöRV 53 (1993), 657 (680); Polakiewicz, ZaöRV 52 (1992), S 140 (163). 211 Ausführlich Kokott, in: BDGVR 38 (1998), 71 (92 ff.). 212 Vgl. Trechsel, EuGRZ 1987, 69 (77 f.) mit Hinweisen zur Rechtsprechung der Schweiz; vgl. auch Breitenmoser, ZaöRV 49 (1989), 828 ff. 206
C. Eingriffsvoraussetzungen für völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte
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3. Würdigung Folglich kann vorliegend zunächst festgehalten werden, dass sich aus den Menschenrechten der Völkerrechtsordnung grundsätzlich staatliche Schutzpflichten ableiten lassen, welche zu einer Zurechnung mittelbarer Eingriffe in völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte durch ausländische Staaten führen können, wenn ein Staat diesen Eingriff etwa durch die Ablehnung eines Rechtshilfeersuchens vermeiden kann. Während die Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland hierbei auf den völkerrechtlichen Mindeststandard abstellt, wird im Schrifttum das völkerrechtliche ius cogens als materielle Mindestschwelle einer Zurechung genannt. Ob darüber hinaus auch Eingriffe in einfache völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte über das Konstrukt der staatlichen Schutzpflicht zugerechnet werden können, steht indes in engem Zusammenhang mit der immer wiederkehrenden Frage der Reichweite von Menschenrechten im Bereich des vertragsgebundenen Rechtshilfeverkehrs, wo die Schutzpflicht des Staates mit seiner vertraglichen Pflicht zur Vornahme der ersuchten Rechtshilfehandlung kollidiert, und dort erneut aufgegriffen werden muss. 213 Ebenfalls ist die angesprochene Konstruktion der "Beihilfe zur Verletzung des Völkerrechts" im Rahmen der im folgenden Abschnitt (D) zu untersuchenden Frage der Einschränkbarkeit, namentlich im Zusammenhang mit der Reichweite von erga omnes wirkenden völkerrechtlichen Verpflichtungen, im Rahmen der internationalen öffentlichen Ordnung weiter zu vertiefen.
V. Ergebnis Demzufolge können an dieser Stelle folgende Ergebnisse festgehalten werden. Als Eingriffe in völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte kommen grundsätzlich zwei Formen des hoheitlichen Tätigwerden in Betracht, namentlich der völkerrechtliche Vertragsschluss über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen selbst und die konkrete innerstaatliche Vornahme einer Maßnahme des internationalen Rechtshilferechts. Für die Frage des Eingriffs kann es dahinstehen, ob es sich bei der innerstaatlichen Vornahme der Rechtshilfemaßnahme zugleich um einen völkerrechtlichen Einzelvertrag handelt, da die innerstaatlichen Behörden in jedem Fall an die völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte gebunden sind. Dies ergibt sich einerseits aus der unmittelbaren völkerrechtlichen Verpflichtung des betreffenden Staates, welcher sich das Handeln seiner Organe zurechnen lassen muss, und andererseits aus der innerstaatlichen Bindung staatlicher Hoheitsträger an die völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte, welche aus Art. 25 GG folgt. Als Eingriffskonstellationen kommen daher regelmäßig der Abschluss eines Auslieferungs- oder Rechtshilfeübereinkommens oder der innerstaatliche 213
Siehe unten 5. Kapitel, S. 367 ff.
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Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
Ausführungsakt in Betracht, wobei bezogen auf letzteren zwischen einem (unmittelbaren) Eingriff des ersuchten Staat und des ersuchenden Staates unterschieden werden kann. Diese Unterscheidung entspricht der bereits an anderer Stelle dargestellten Differenzierung zwischen inlandskausalen und auslandskausalen Fallgruppen, wobei letztere zusätzlich noch die Frage der Zurechnung ausländischer Hoheitsakte (als mittelbare Eingriffe) umfasst. Schließlich spielt es auf der Ebene des Eingriffs keine Rolle, ob Staaten durch völkerrechtliche Verträge zur Vornahme bestimmter Rechtshilfemaßnahmen verpflichtet sind. Das Problem dieses hierdurch entstehenden Norrnenkonflikts ist vielmehr die aus dem Verfassungsrecht hinlänglich bekannte Frage der Rechtfertigung eines Eingriffs in Individualrechte, betrifft jedoch vorliegend die völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte. Dieser Frage wird sich im Folgenden zu widmen sein.
D. Einschränkbarkeit völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte Nicht jeder Eingriff in den Schutzbereich völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte führt zu einer Verletzung des jeweiligen Individualrechts, welche auch prozessual geltend gemacht werden kann. Vielmehr wird in der Praxis der internationalen Staatengemeinschaft und insbesondere in der Praxis der Bundesrepublik Deutschland die Reichweite völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte eingeschränkt. Regelmäßig rechtfertigen die Staaten die nur eingeschränkte Anwendbarkeit der Menschenrechte im Bereich der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen mit verschiedenen völkerrechtlichen Argumenten. So müsse die grundsätzliche Bindung der Staaten an die Menschenrechte in den typischerweise grenzüberschreitenden Fällen der internationalen Rechtshilfe aufgrund der Achtung der territorialen Souveränität der anderen Staaten eingeschränkt werden, was zu einer uneingeschränkten Anerkennung der unter ihrer Jurisdiktion erlassenen Hoheitsakte führt. Des Weiteren seien die Staaten bereits völkervertraglich durch entsprechende Übereinkommen über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen gebunden, wobei es sich um Verpflichtungen handelt, die den staatlichen Interessen an effektiver Strafverfolgung und zwischenstaatlicher Zusammenarbeit dienen und hinter welchen die Individualrechte zurücktreten müssten. Auch die Menschenrechte Dritter wären ein grundsätzlich legitimer Grund, völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte nur eingeschränkt zur Anwendung kommen zu lassen. Nach einem kurzen Überblick über die verschiedenen, hier angesprochenen Argumente für die Einschränkbarkeit der Menschenrechte bei der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen ist jedoch zu klären, ob und inwieweit die verschiedenen dogmatischen Rechtfertigungen dieser Einschränkungen (noch) nachvollziehbar sind. Hier kann jedoch nur eine skizzenhafte Darstellung der verschiedenen Auffassungen gegeben werden. Daher sollen die entscheidenden Argumente für die begrenzte Anwendbarkeit der völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte
D. Einschränkbarkeit völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte
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dargestellt und kritisch hinterfragt werden. Im Anschluss soll versucht werden, für die wichtigsten Argumente Alternativlösungen aufzuzeigen, deren rechtspolitisches Ziel die umfassende Anerkennung von Menschenrechten in den zwischenstaatlichen Beziehungen darstellt. I. Pflicht zur Anerkennung ausländischer Hoheitsakte ("rule of non inquiry")
Die Zusammenarbeit der Staaten bei der grenzüberschreitenden Strafverfolgung ist wie jede zwischenstaatliche Kooperation von dem Prinzip der Gegenseitigkeit gekennzeichnet. So beruhen die einzelnen Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen auf dem Prinzip der gegenseitigen Arbeitsteilung bei der grenzüberschreitenden Strafverfolgung. 214 Die Auslieferungshaft eines mutmaßlichen Straftäters beispielsweise stellt einen Teil der gegen den Verfolgten durchgeführten Strafverfolgung insgesamt dar. 21S Die Effektivität dieser Arbeitsteilung bei der grenzüberschreitenden Strafverfolgung hängt u. a. von der Bereitschaft der kooperierenden Staaten ab, die einzelnen strafrechtlichen Entscheidungen anderer Staaten den eigenen Strafverfolgungsmaßnahmen zugrunde zu legen bzw. entsprechende gerichtliche oder behördliche Entscheidungen (gegenseitig) anzuerkennen. So ist eine (rechtmäßige) Verurteilung im ersuchenden Staat die Voraussetzung für die Inhaftierung des Verfolgten im ausliefernden Staat oder die (rechtmäßige) Beweisaufnahme im ausländischen Staat Voraussetzung für eine Verurteilung im Gerichts- bzw. Urteils staat des Strafverfolgten. Im Rahmen dieser Effekti vitätserwägungen spielt der Grundsatz der Anerkennung ausländischer Hoheitsakte eine enorme Rolle. Insbesondere führt er dazu, dass ausländische Hoheitsakte nicht oder nur eingeschränkt auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft werden. Dies hat zur Folge, dass möglicherweise unter Verstoß gegen völkergewohnheitsrechtliehe Menschenrechte zustande gekommene Urteile des um Rechtshilfe ersuchenden Staates vom ersuchten Staat pauschal anerkannt und der innerstaatlichen Rechtshilfemaßnahme zugrunde gelegt werden. Die sich hier stellende Frage nach der Einschränkbarkeit völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte des von Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen betroffenen Individuums steht folglich in engem Zusammenhang mit dem Grundsatz der Anerkennung ausländischer Hoheitsakte. Denn hat sich ein Staat der Möglichkeit begeben, die Hoheitsakte eines anderen Staates am Maßstab der eigenen Rechtsordnung zu überprüfen, entfällt auch die eingangs dargestellte Möglichkeit, jedenfalls unter Rückgriff auf die innerstaatliche Bindung an die Normen der Völkerrechtsordnung den V gl. nur Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, Einleitung, S. 20 Rn. 105. BVerfG, Beschluss vom 6.7.1982, BVerfGE 61, 28 (34); Beschluss vom 27.7.1999, NJW 2000, 1252 = StV 2000, 87. 214 215
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Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
ausländischen Hoheitsakt auf dessen Eingriffsqualität in menschenrechtliche Positionen hin zu prüfen. Daher soll im Folgenden der Grundsatz der Anerkennung kurz dargestellt werden, um im Anschluss auf dessen Reichweite in der internationalen Staatenpraxis einzugehen. Im Rahmen der Würdigung der Staatenpraxis soll schließlich herausgearbeitet werden, dass die Zurückhaltung staatlicher Gerichte bei der Überprüfung fremder Hoheitsakte weder rechtspolitisch befriedigend noch den sich aus den Menschenrechten der Völkerrechtsordnung ergebenden Pflichten angemessen ist. Alternativ sollen Vorschläge unterbreitet werden, wie ein angemessenes Verhältnis zwischen dem Bedürfnis nach effekti ver Strafverfolgung, die in begrenztem Rahmen der Anerkennung von Entscheidungen ausländischer Gerichte und Behörden bedarf/16 und den Individualrechten der von grenzüberschreitenden Strafverfolgungsmaßnahmen betroffenen Individuen geschaffen werden kann. 1. Der Grundsatz der Anerkennung ausländischer Hoheitsakte Der Grundsatz der Anerkennung ausländischer Hoheitsakte entstammt dem klassischen Völkerrecht und umfasst die Frage, ob und wieweit ein Staat verpflichtet ist, fremden Hoheitsakten mit (mittelbarem oder unmittelbarem) extraterritorialem Geltungsanspruch auf seinem eigenen Hoheitsgebiet Geltung zu verschaffen. 217 Hierbei ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen ausländischen Hoheitsakten, die im Wege des Zwanges vollstreckt oder sonst im Verwaltungswege durchgesetzt werden müssen und solchen, die keiner Vollstreckung bedürfen, sondern eine mittelbar feststellende oder gestaltende Rechtswirkung haben. 218 Bezogen auf die erste Fallgruppe gilt, dass kein Staat völkerrechtlich verpflichtet ist, in seinem territorialen Herrschaftsbereich "die Vornahme oder die Vollstreckung von Hoheitsakten eines anderen Staates durch dessen Organe zu dulden [ ... ] oder dafür - im Wege der Rechtshilfe - seine Hand zu reichen. Das Völkerrecht verbietet freilich solche Duldung oder Mithilfe auch nicht, es stellt sie den Staaten frei".219 Dieser Freiheit begeben sich die Staaten jedoch durch den Abschluss von 216 Vgl. die zahlreichen Initiativen im Rahmen der intergouvemementalen Zusammenarbeit in der Europäischen Union zur "Schaffung eines einheitlichen Rechtsraumes", dessen Grundlage auch die gegenseitige Anerkennung ausländischer Hoheitsakte ist, vgl. hierzu nur Kommission der Europäischen Union, Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen, ABI. C 12 vom 15.1.2001. 217 Ausführlich hierzu DahmiDelbrückIWolfrum, Völkerrecht, Bd. 1/1, S. 482 ff.; Hector, Das völkerrechtliche Abwägungsgebot, S. 297 ff. 218 DahmiDelbrückIWolfrum, Völkerrecht, Bd. 1/1, S. 484; Geiger, GGund Völkerrecht, S.350. 219 BVerfG, Beschluss vom 22.3.1983, BVerfGE 63, 343 (361), zum Deutsch-Österreichischen Rechtshilfevertrag von 1970 und unter Verweis auf StIGH, Lotus-Case, Series A,
D. Einschränkbarkeit völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte
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Rechtshilfeverträgen, in welchen sie sich verpflichten, Hoheitsakte eines anderen Staates anzuerkennen und ihnen innerstaatliche Wirkung zu verschaffen. 22o So ist der um Auslieferung ersuchte Staat beispielsweise verpflichtet, im Wege der Rechtshilfe einen ausländischen Haftbefehl zu vollstrecken und den mutmaßlichen Straftäter in vorläufige Auslieferungshaft zu nehmen. Im Unterschied dazu handelt es sich bei der zweiten Fallgruppe um solche Hoheitsakte, deren vom fremden Staat beabsichtigte Feststellungs- und Gestaltungswirkung von anderen Staaten zu respektieren ist. 221 So hat ein um Auslieferung ersuchter Staat nicht etwa das diesem Ersuchen zugrunde liegende gerichtliche Urteil in Frage zu stellen und unter Maßgabe der eigenen Rechtsordnung erneut zu überprüfen. Diese für die Praxis der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen ungemein wichtige Anerkennung ausländischer Gerichtsentscheidungen wird nicht allein durch den Abschluss zwischenstaatlicher Übereinkommen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen zur Pflicht der Staaten. Vielmehr hat sie sich in der internationalen Praxis durchgesetzt und wird in den Common-law-Staaten auch als rule of non inquiry bezeichnet. 222 Danach sind die den Auslieferungs- oder Rechtshilfeersuchen zugrunde liegenden ausländischen Hoheitsakte von den Gerichten und Behörden des ersuchten Staates anzuerkennen und nicht etwa nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts des ersuchenden Staates zu überprüfen,223 sondern der Durchführung der ersuchten Rechtshilfemaßnahmen zugrunde zu legen. Eine Überprüfung der Rechtsakte des ausländischen Staates liefe darauf hinaus, eigene Maßstäbe an ein kulturell völlig anders gewachsenes Rechtsverständnis anzulegen. 224 Da jedoch durch die pauschale Anerkennung fremder Hoheitsakte die Gebietshoheit des potentiellen Wirkungs staates eingeschränkt wird und andererseits die pauschale Nichtanerkennung fremder Hoheitsakte die Zuständigkeit anderer Staaten zur Normierung ihrer inneren Angelegenheiten in Frage stellen würde,225 haben sich in der Rechtsprechung und im völkerrechtlichen Schrifttum einige Grundregeln herausgebildet, die eine Entscheidung in solchen Fällen ermöglichen. Insbesondere haben sich völkerrechtliche Grenzen für die grundsätzliche Verpflichtung der Anerkennung ausländischer Hoheitsakte durchgesetzt. Da diese sich insbesondere aus den Menschenrechten ergeben können, sind sie im Folgenden kurz darzustellen. No. 10 (1927), 18; IGH, Corfu Channel-Case, ICJ-Reports 1949,4 (35); Geck, in: Strupp/ Schlochauer, WVR, BD. I, 795 f. 220 Vgl. Geiger, GG und Völkerrecht, S. 350; Verdross/Simma, Völkerrecht, §§ 1020 f. 221 DahmlDelbrückIWolfrum, Völkerrecht, Bd. 111, S. 484. 222 V gl. nur Dugard/van den Wyngaert, AJIL 92 (1998), 187 (189 ff.); Kokott, in: BDGVR 38 (1998), 71 (92 ff.). 223 Vgl. nur deutsche Rechtsprechung oben 4. Kapitel, S. 286 ff.; siehe auch Meng, in: EPIL 11 (1995), 337 ff.; Rauser, Hoheitsrechte, S. 216. 224 Vgl. Breitenmoser, in: Eser/Lagodny, Principles and Procedures, S. 689 (701). 225 DahmlDelbrückIWolfrum, Völkerrecht, Bd. 1/1, S. 485.
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Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
2. Grenzen der Verpflichtung zur Anerkennung ausländischer Hoheitsakte in der Praxis der Rechtsprechungsorgane
Wenngleich die nationalen Rechtsprechungsorgane ausländische Hoheitsakte regelmäßig anerkennen, haben sie zugleich di verse Grenzen dieser Anerkennungspflicht herausgearbeitet. 226 Solche Grenzen können einerseits Normen der innerstaatlichen und andererseits Normen der internationalen Rechtsordnung sein. Nach ständiger Rechtsprechung haben die Gerichte in der Bundesrepublik Deutschland bei der Prüfung der Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Auslieferung von der Wirksamkeit eines dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegenden ausländischen Strafurteils auszugehen und dessen Rechtmäßigkeit nicht nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts des ersuchenden Staates zu überprüfen. 227 Auch bei der Frage der Verwertung von im Wege der Rechtshilfe im Ausland durchgeführten Beweisaufnahmen sei grundsätzlich von der Rechtmäßigkeit der ausländischen Rechtshilfemaßnahmen auszugehen. 228 Über die Wirksamkeit eines (ausländischen) Verfahrens aktes entscheide stets das Recht dessen Staates, in dessen Hoheitsbereich er vorgenommen worden ist (locus regit actum).229 Etwas anderes gelte indes, wenn die ausländischen Hoheitsakte unter Verstoß "gegen übergeordnete, von allen Rechtsstaaten anerkannte Grundsätze" zustande gekommen sind. 230 Insbesondere unter Berufung auf die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts prüfen die deutsche Gerichte daher, "ob die Auslieferung und die ihr zugrunde liegenden Akte gegen den völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard, der nach Art. 25 GG von den Gerichten der Bundesrepublik Deutschland 226 Hierzu und zum Folgenden ausführlich Herdegen, ZaöRV 47 (1987), 221 (226 ff.); ders., in: Neuntes deutsch-polnisches Kolloquium (1992), 175 (176 ff.); Geiger, GG und Völkerrecht, S. 351 ff.; 227 BVerfG, Beschluss vom 19.3.84, NJW 1984, 1293; BVerfG, Beschluss vom 31.08.86, in: EserlLagodny/Wilkitzki, U 134, S. 463; BVerfG, Beschluss vom 21.5.87, NJW 1988, 1462; BVerfG, Beschluss vom 25.11.91, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, U 199, S. 685; BVerfG, Beschluss vom 7.12.94, BVerfGE 91, 335 = NJW 1995,649; BVerfG, Beschluss vom 22.6.92, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, U 202, S. 691 = NJW 1994, 2883 = NStZ 1994,492; BVerfG, Beschluss vom 29.5.96, EuGRZ 1996,324 = StV 1997,361; BGHSt 34, 334; OLG Nümberg, NJW 1982,533; OLG Düsseldorf, AVR 32 (1994), 271; OLG Nümberg, StV 1997,648; siehe auch Vogler, in: Vogler/Wilkitzki, IRG, § 73 Rn. 14. 228 BGHSt 34, 334 - Beweisverwertung ausländischer Polizeiprotokolle bei verweigerter Rechtshilfe; BVerfG, Beschluss vom 22.6.1992, in: EserlLagodny/Wilkitzki, U 202, S. 691 =NJW 1994, 2883 =NStZ 1994, 492, zugrunde liegend OLG München, Beschluss vom 22.11.91, in: EserlLagodny/Wilkitzki, U 198, S. 657; BVerfG, Beschluss vom 29.5.96, EuGRZ 1996,324 = StV 1997,361 - beide Urteile betreffen die Beweisverwertung nach Folter. 229 BGHSt 20,198 (200); KG, NJW 1972, 1018; OLG Nümberg, NJW 1982,533 (534); OLG Karlsruhe, MDR 1988,800; BVerfG, Beschluss vom 30.9.1987,2 BvR 510/85. 230 So Vogler, in: Vogler/Wilkitzki, IRG, § 73 Rn. 14 mit Verweis auf BGHSt 20, 198 (201) = NJW 1965, 1146; siehe insbesondere die vorstehend zitierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.
D. Einschränkbarkeit völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte
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zu beachten ist, sowie gegen unabdingbare verfassungsrechtliche Grundsätze ihrer öffentlichen Ordnung verstoßen".231 Diese Rechtsprechung umfasst folglich zwei generelle Ausnahmen von der Pflicht zur Anerkennung ausländischer Hoheits akte , namentlich den Verstoß des betreffenden fremden Hoheitsaktes gegen internationalen und den innerstaatlichen ordre public. 232 Normativ schlagen sich diese Grenzen der Anerkennung fremden Rechts bzw. ausländischer Hoheitsakte in Art. 6 EGBGB und § 73 IRG nieder. Dieser Rechtsprechung liegt wiederum die generelle Beschränkung auf den "völkerrechtlich verbindlichen menschenrechtlichen Mindeststandard" zugrunde, welche zu einem eingeschränkten Prüfungsumfang in der Praxis der deutschen Behörden und Rechtsprechungsorgane führt. Entsprechend der ständigen Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland umfasst dieser nur das völkerrechtliche ius cogens, so dass es bereits auf dieser Ebene zu einer maßgeblichen Beschränkung der aus dem Völkergewohnheitsrecht fließenden Rechte des Einzelnen kommt. Auch gemäß der im amerikanischen Raum greifenden Act-oJ-state-Doktrin dürfen amerikanische Gerichte die Gültigkeit eines fremden Hoheitsaktes grundsätzlich nicht auf seine Übereinstimmung mit dem Völkerrecht oder dem innerstaatlichen Recht überprüfen, wenn dieser Hoheitsakt in Ausübung ausschließlicher Zuständigkeit und im öffentlichen Interesse ergangen ist. 233 Es besteht aber in der amerikanischen Rechtspraxis Einigkeit darüber, dass die USA nicht etwa völkerrechtlich verpflichtet sind, völkerrechtswidrige Hoheitsakte hinzunehmen. 234 Vielmehr kann die Anerkennung von unter Verstoß gegen völkerrechtliche Normen zustande gekommenen Hoheitsakten verweigert werden. Anders ist die Rechtslage allerdings dann zu beurteilen, wenn zwischen den entsprechenden Staaten völkerrechtliche Übereinkünfte bestehen, nach welchen die Geltendmachung eines völkerrechtlich konkretisierten Ordre-public- Vorbehalts ausgeschlossen ist. 235 Uneinigkeit scheint darüber hinaus auch zu bestehen, soweit es um die - gerade hier so bedeutsame - Frage der Anwendbarkeit der
231 In ständiger Rechtsprechung BVerfGE 59, 280 (282 f.); 60, 348 (355 f.); 63, 197 (206 f.); 63, 332 (337); 75, 1 (19). 232 Darüber hinaus könne der ausländische Hoheitsakt auch am Recht des ihn erlassenden Staates überprüft werden, vgl. DahmiDelbrückIWolfrum, Völkerrecht, Bd. 1/1, S. 486 m. w. N. in Fn. 11. 233 Vgl. Institute of American Law, (Third) Restatement ofthe Foreign Relation Law of the United States (1987), §§ 443 ff.; zur Act-oJ-state-Doktrin siehe Fonteyne, in: EPIL I (1992), 17 ff.; vgl. auch die Nachweise zu angloamerikanischen Rechtsprechung bei Dahml DelbrückIWolfrum, Völkerrecht, Bd. 1/1, S. 487 ff. 234 Vgl. etwa den Sabbatino-Fall aus dem Jahre 1964 zur völkerrechts widrigen Enteignung, zitiert bei Geiger, GG und Völkerrecht, S. 353; weitere Nachweise aus der amerikanischen Rechtsprechung bei Kokott, in: BDGVR 38 (1998), 71 (94) Fn. 72; siehe auch Herdegen, in: Neuntes deutsch-polnisches Kolloquium (1992), 175. 235 Siehe Kokott, in: BDGVR 38 (1998), 71 (95).
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Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
Act-o/-state-Doktrin in Fällen von schweren Menschenrechtsverletzungen geht. 236
In die kontinentaleuropäische Rechtsprechung hat die Act-o/-state-Doktrin in ihrer strikten Form indes keine Aufnahme gefunden. Vielmehr sprechen europäische Gerichte Hoheitsakten anderer Staaten ihre rechtliche Wirkung ab, wenn sie zum innerstaatlichen oder zum völkerrechtlichen ordre public im Widerspruch stehen. 237 Aus der erst im folgenden Kapitel zu vertiefenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte scheint indes hervorzugehen, dass sich dieses internationale Gericht nicht an die von den nationalen Gerichten beachtete ruZe 0/ non inquiry hält. 238 3. Würdigung
Die generelle Anerkennung von ausländischen Hoheits akten , die ein fremder Staat auf seinem Territorium vornimmt, entspricht zwar dem Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten, ist aber weder durch diesen noch durch andere allgemeine völkerrechtliche Grundsätze geboten. 239 Insbesondere erscheint es mit der völkerrechtlichen Bindung der Staaten an die Menschenrechte des Einzelnen nicht vereinbar, wenn sich Staaten mittels völkerrechtlicher Rechtshilfeübereinkommen dergestalt binden, dass ihnen jede Prüfungskompetenz über die von ihnen innerstaatlich zugrunde zu legenden ausländischen Hoheitsakte genommen wird. Zwar muss im Bereich der völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte zugestanden werden, dass Staaten über diese jedenfalls insoweit disponieren können, als sie nicht dem völkerrechtlichen ius cogens angehören. In Folge dessen überschneidet sich die Frage nach den Grenzen der Verpflichtung zur Anerkennung ausländischer Hoheitsakte mit der Frage nach der Auflösung der durch internationale Verträge über die Rechtshilfe in Strafsachen potentiell entstehenden Normenkonflikte. Jenseits einer völkerrechtlichen Verpflichtung zur Vornahme einer bestimmten ersuchten Rechtshilfemaßnahme dürfte jeder Staat aufgrund seiner eigenen Rechtsordnung verpflichtet sein, völkerrechtswidrigen ausländischen Hoheitsakten eine innerstaatliche Wirksamkeit zu verwehren. Dies gilt insbesondere für menschenrechtswidrige Vgl. die beiden Nachweise bei DahmiDelbrückIWolfrum, Völkerrecht, Bd. 1/1, S. 489. Vgl. die Nachweise bei DahmiDelbrückIWolfrum, Völkerrecht, Bd. 1/1, S. 490 f. 238 So Gi/bert, Web Journal of Current Legal Issues (Web JCU) 1995 mit Verweis auf das Soering-Urteil des EGMR, . 239 BVerfG, Beschluss vom 22.3.1983 über den Deutsch-Österreichischen Rechtshilfevertrag von 1970, BVerfGE 63,343 (361) m. w. N.; CarterfTrimble, International Law, S. 679; Geiger, GG und Völkerrecht, S. 350; Hector, Das völkerrechtliche Abwägungsgebot, S. 308 ff. mit umfangreichen Nachweisen zum Schrifttum; Kokott, in: BDGVR 38 (1998),71 (94); Meng, in: EPIL 11 (1995), 337 (338). 236 237
D. Einschränkbarkeit völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte
365
Hoheitsakte,240 und zwar unabhängig davon, ob Ius-cogens-Normen oder im Rang darunter stehende Menschenrechte verletzt wurden. Hierin ist ein wirksames Mittel zu sehen, völkerrechtliche Menschenrechte durchzusetzen und somit deren Effektivität zu stärken. 241 Die Frage der Anwendung fremden Rechts und der Anerkennung fremder Hoheitsakte muss daher völlig losgelöst von der Frage einer möglichen völkerrechtlichen Verpflichtung aus einem Auslieferungs- oder Rechtshilfevertrag beantwortet werden. Andernfalls werden die dogmatischen Zusammenhänge vorschnell verwischt, denn bei der Anwendung bzw. Anerkennung ausländischer Hoheitsakte geht es um die Wirksamkeitsverschaffung fremden Rechts in der innerstaatlichen Rechtsordnung. Diese steht zunächst unter dem Vorbehalt des innerstaatlichen ordre public, denn aus dem Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten folgt, dass kein Staat die wesentlichen Grundsätze seiner eigenen Rechtsordnung gegenüber dem fremden Hoheitsakt zurücktreten lassen muss. 242 Der innerstaatliche ordre public verhindert, dass die Behörden und Gerichte des ersuchten Staates durch Anerkennung ausländischen Rechts oder ausländischer Hoheitsakte Entscheidungen fällen, die fundamentalen Prinzipien der eigenen Rechtsordnung widersprechen. Dabei kann der ordre public weit ausgelegt werden, da es völkerrechtlich weder eine Verpflichtung zur Anerkennung fremder Staaten noch zur Anerkennung oder Durchsetzung fremder Hoheitsakte gibt. Über Art. 25 GG wird der innerstaatliche ordre public ausgefüllt durch die völkergewohnheitsrechtlichen und über Art. 59 II GG durch die völkervertraglichen Menschenrechte. In Folge dessen stehen fremdem Recht bzw. ausländischen Hoheitsakten alle völkerrechtlichen Menschenrechte entgegen. Hat der fremde Staat gegen entsprechende Normen des Völker(gewohnheits-) rechts verstoßen, ist der Forumstaat aufgrund seines innerstaatlichen ordre public verpflichtet, diesen die Anwendung bzw. die Anerkennung zu versagen. Dem entspricht die völkerrechtliche Wertung unter Rückgriff auf den internationalen ordre public, welcher dem Schutz der fundamentalen Prinzipien der Völkerrechtsordnung dient, dessen Hauptbestandteil die Menschenrechte darstellen. So kann der Grundsatz der Anerkennung ausländischer Hoheitsakte dann keine Anwendung finden, wenn fundamentale Prinzipien des Völkerrechts verletzt werden. Daher kann einem Staat die Achtung eines unter Verletzung fremdenrechtlicher Mindeststandards zustande gekommenen Hoheitsaktes völkerrechtlich verboten sein,243 wobei die Frage aufzuwerfen ist, ob der Staat (völkerrechtlich) dazu gezwungen ist, die Anerkennung eines ausländischen 240 DahmiDelbrückIWolfrum, Völkerrecht, Bd. 111, S. 493; Verdross/Simma, Völkerrecht, § 786. 241 Vgl. bereits Verdross/Simma, Völkerrecht, § 778. 242 Geiger, GG und Völkerrecht, S. 354. 243 Hofmann. ZaöRV 49 (1989),41 (54); Geiger. GG und Völkerrecht, S. 353.
366
Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
Hoheitsaktes zu verweigern. Dies muss jedenfalls dann bejaht werden, wenn die Anerkennung des fremden Hoheitsaktes einer Ius-cogens-Norm widerspricht. 244 Eine weitere Ausnahme von dem Grundsatz der Anerkennung ausländischer Hoheitsakte dürfte sich aus der Bindung der europäischen Staaten an die Menschenrechte der EMRK ergeben. So erscheint eine Begrenzung des materiellrechtlichen Prüfungsumfangs der innerstaatlichen Behörden und Gerichte auf einen "völkerrechtlichen Mindeststandard" nicht mehr zeitgemäß, wenn damit allein auf die Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts rekurriert werden soll. Vielmehr entspräche es einer konsequenten Durchsetzung der Menschenrechte der EMRK, wenn die kooperierenden europäischen Staaten die Bestimmungen der Konvention dem internationalen Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehr zugrunde legten. Aber auch im Rahmen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit mit anderen Nicht-Konventionsstaaten sollte es möglich sein, die Grenzen der Anerkennung ausländischer Hoheitsakte aus der EMRK direkt abzuleiten. Erst in einem nächsten Schritt kann geprüft werden, wie sich etwa die völkerrechtliche Verpflichtung zur Vornahme der menschenrechtswidrigen Handlung auswirkt. Es geht dann um den Konflikt zwischen sich widersprechenden Normen des Völkerrechts, namentlich der Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte einerseits und zur Einhaltung der völkerrechtlichen Verpflichtungen aus Verträgen über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen andererseits. Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass die Menschenrechte über ihre sich im innerstaatlichen Recht fortsetzende Geltungskraft innerstaatliche Behörden und Gerichte zu einer indirekten Durch- und Umsetzung menschenrechtlicher Standards zwingen. 245 Dies stellt eine wichtige Grundlage des internationalen Menschenrechtsschutzes dar, zumal den in Rede stehenden völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechten aufgrund der nur begrenzt zuständigen völkerrechtlichen Rechtsschutzinstanzen gerade und meistens nur auf diese Weise zur Achtung und Durchsetzung verholfen werden kann. 11. Normenkollisionen aufgrund vertraglicher Verpflichtungen zur internationalen Rechtshilfe in Strafsachen In den vorangegangenen Kapiteln wurde versucht, die umfassende Anwendbarkeit der völkerrechtlichen Menschenrechtsgarantien auf Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen aufzuzeigen. Dabei wurde bereits an mehreren Stellen das Grundproblem deutlich, dass Staaten zugunsten einer effektiven Ko244 Kokott, in: BDGVR 38 (1998), 71 (95); auf einen Verstoß des fremdenrechtlichen Mindeststandards abstellend Hofmann, ZaöRV 49 (1989), 41 (54); auf besonders schwere Völkerrechtsverstöße abstellend Geiger, GG und Völkerrecht, S. 353 245 Hierzu Herdegen, in: Neuntes deutsch-polnisches Kolloquium (1992), 175 f.
D. Einschränkbarkeit völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte
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operation und aufgrund ihrer gegenseitigen völkervertragsrechtlichen Verpflichtungen zur Zusammenarbeit den umfassenden Menschenrechtsschutz zurückstellen. In der Praxis schrecken die Staaten nicht nur aus diplomatischen Gründen regelmäßig davor zurück, unter Berufung auf mögliche Menschenrechtsverletzungen im anderen Staat eine Rechtshilfeleistung zu verweigern. Dahinter steht auch die (durchaus berechtigte) Befürchtung, die einvernehmliche Zusammenarbeit der Staaten bei der gemeinsamen Kriminalitätsbekämpfung zu gefährden und in einer umgekehrten Konstellation ebenfalls keine Rechtshilfe geleistet zu bekommen. Aus diesen politischen Gründen berufen sich die Staaten gerne auf den Vorrang der völkerrechtlichen Verträge über die Zusammenarbeit. Somit werden die völkergewohnheitsrechtlichen und völkervertraglichen Menschenrechte in Konflikt mit den entsprechenden Auslieferungs- und Rechtshilfeverträgen gestellt. Menschenrechten solle nur dann ein Vorrang einzuräumen sein, wenn sie die Qualität universellen ius cogens besitzen oder wenn die zugrunde liegenden Kooperationsverträge entsprechende Ausnahmen zulassen. Andernfalls müsse aus Gründen der Völkerrechtsfreundlichkeit die ersuchte Rechtshilfeleistung erbracht werden. Wenngleich diese Vorgehensweise unter Gesichtspunkten der Verhältnismäßigkeit in verschiedenen Konstellationen annehmbar erscheint, so bedarf die Begründung aus zweierlei Gründen einer weitergehenden Untersuchung. Das Problem der Kollision von Menschenrechten mit den völkerrechtlichen Verträgen über die Rechtshilfe in Strafsachen wirft die grundsätzliche Frage auf, ob völkerrechtliche Normen einer Rangordnung im Sinne einer Normenhierarchie unterliegen. Das Problem einer Rangordnung der Völkerrechtsquellen stellt sich immer dann, wenn zwei oder mehrere völkerrechtliche Normen zueinander in Widerspruch geraten, wobei diese Normen nicht zwingend derselben Rechtsquelle angehören müssen. Eine solche Situation ergibt sich beispielsweise dann, wenn ein Staat aufgrund eines bi- oder multilateralen völkerrechtlichen Übereinkommens grundSätzlich verpflichtet ist, Straftäter an die Vertragspartner auszuliefern, und eine solche Auslieferung die Folter des betroffenen Individuums im anderen Staat zur Folge hätte. Hier kollidieren die völkervertragliche Verpflichtung zur Auslieferung des Straftäters mit dem völkergewohnheitsrechtlich uneingeschränkt anerkannten Verbot der Folter, dessen Verletzung durch den ersuchenden Staat nach den oben genannten Kriterien auch dem ausliefernden Staat zuzurechnen wäre.
Im Folgenden soll indes aufgezeigt werden, dass diese Schlussfolgerungen in Rechtsprechung und Schrifttum zu kurz greifen und das komplexe Normengeflecht von völkerrechtlichen und innerstaatlichen Regelungen außer Acht lassen. Daher soll zunächst ein Überblick über den Streitstand hinsichtlich des Vorrangs von Auslieferungs- und Rechtshilfeverpflichtungen gegenüber den Menschenrechten des Völkergewohnheitsrechts gegeben werden, um im Anschluss im Rahmen einer verfassungsrechtlichen und einer völkerrechtlichen Betrachtungsweise einen eigenständigen Versuch der Auflösung der Normenkonflikte zu unternehmen.
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Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
1. Überblick über den Streitstand a) Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland Mit dem Problem des Normenkonfliktes zwischen Menschenrechtsverbürgungen und Auslieferungs- und Rechtshilfeverpflichtungen hat sich das Bundesverfassungsgericht erstmals im Jahre 1987 in seiner viel zitierten Ne-bis-in-idem-Entscheidung aus dem 75. Band auseinandergesetzt, in welcher es zu prüfen hatte, ob der durch das Europäische Auslieferungsübereinkommen begründeten Verpflichtung zur Auslieferung eines Straftäters an die Türkei ein völkerrechtliches Verbot der Mehrfachbestrafung entgegenstehe. 246 Das Gericht legte ausdrücklich dar, dass nicht etwa jede Norm des völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandards auf Auslieferungs- oder Rechtshilfeverfahren anwendbar sei, sondern sobald völkerrechtliche Verträge die Bundesrepublik Deutschland zur Zusarnrnenarbeit verpflichten, eine solche Verpflichtung zur Auslieferung nur durch eine höherrangigere Norm des völkerrechtlichen ius cogens aufgehoben werden könne. 247 Nach einer umfangreichen Prüfung der internationalen Staatenpraxis kommt das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Ergebnis, dass der Grundsatz des ne bis in idem zwar insoweit eine allgemeine Regel des Völkerrechts im Sinne von Art. 25 GG darstelle, als er die erneute Verurteilung eines Angeklagten wegen desselben Lebenssachverhalts im seiben Land umfasse. 248 Eine allgemeine Regel des Völkerrechts, wonach eine Person wegen desselben Lebenssachverhalts in einem anderen Staat nicht erneut angeklagt und verurteilt werden dürfe, ließe sich trotz entsprechender Tendenzen jedoch noch nicht nachweisen. 249 Daher brauchte das Bundesverfassungsgericht auch nicht die aufgeworfene Frage zu beantworten, "ob eine solche Regel, so sie bestünde, zum Katalog jener Normen gehörte, die den völkerrechtlichen Mindeststandard auf dem Gebiet der Menschenrechte darstellen, oder die Qualität von zwingendem Völkerrecht aufwiese".25o Diese abschließende Passage des Urteils verdeutlicht, dass das Gericht wohl differenziert zwischen dem völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard und dem völkerrechtlichen ius cogens, und allein letztere Rechtsquelle geeignet erscheint, völkerrechtliche Verpflichtungen zu Auslieferungs- und Rechtshilfehandlungen zu verdrängen. Diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach nur Verstöße gegen "übergeordnete, von allen Rechtsstaat anerkannte Grundsätze" einer vertraglichen Auslieferungs- oder Rechtshilfeverpflichtung vorgehen, ist vom BunVgl. BVerfG, Beschluss vom 31.3.1987, BVerfGE 75, I ff. (ne bis in idem). BVerfGE 75, I (20); zur Existenz von ius cogens hat das Gericht bereits in BVerfGE 18,441 (448 f.), positiv Stellung genommen. 248 BVerfGE 75, 1 (23 f.). 249 BVerfGE 75, I (24 ff., 33) 250 BVerfGE 75, I (34). 246 247
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desgerichtshof2 51 und von einigen Oberlandesgerichten252 zunächst weitgehend übernommen worden. Gelegentlich wurde die Problematik des Vorrangs auch nur angesprochen und eine Entscheidung darüber im Ergebnis offengelassen. 253 Jedoch finden sich vor allem in jüngerer Zeit Entscheidungen, in welchen dem Schutz auch solcher Individualrechte Vorrang eingeräumt wird vor etwaigen völkerrechtlichen Verpflichtungen aus den Verträgen über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen, die nicht den zwingenden Charakter der ius cogens aufweisen. So hat der Bundesgerichtshof jüngst entschieden, dass die Grundrechte des Grundgesetzes von der Ordre-public- Klausel des Art 73 IRG umfasst werden und darüber hinaus, entgegen Art. 1 III IRG, zur Verweigerung einer Auslieferung trotz Bestehens einer vertraglichen Verpflichtung zwingen. 254 Insbesondere greifen jedoch die Oberlandesgerichte - auch unter Berufung auf Lagodny - zunehmend auf Art. 73 IRG zurück, um etwa bei unverhältnismäßigen Strafen eine Auslieferung oder Rechtshilfemaßnahme zu verweigern, obgleich die Bundesrepublik Deutschland vertraglich zu ihrer Vornahme verpflichtet wäre. 255 Die Oberlandesgerichte berufen sich hierbei auf den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsatz, wonach eine "Auslieferung und die ihr zugrunde liegenden Akte [nicht] [ ... ] gegen unabdingbare verfassungsrechtliche Grundsätze ihrer öffentlichen Ordnung verstoßen" dürfen. 256 Dem Gericht obliege es dabei, den Inhalt der unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze ihrer öffentlichen deutschen Ordnung zu bestimmen. 257 Inhaltlich werde der ordre public im Sinne von § 73 IRG demnach durch eine Mischung von unabdingbaren Verfassungsgrundsätzen und elementaren Menschenrechten bestimmt und müsse auch "ohne Unterschied auf den vertraglichen wie auf den vertraglosen Rechtshilfeverkehr angewandt" werden. 258 Im "Lichte des modernen Völkerrechts und des geltenden Verfassungs251 Offengelassen in BGHSt 25, 374 =NJW 1974,2191; analog zur Rechtsprechung des BVerfG entschieden in BGHSt 32,314 = NJW 1984, 2046 mit Anmerkung Vogler, JZ 1984, 900; unter Berufung auf mangelnde Zuständigkeit eine Entscheidung über diese verfassungs- und völkerrechtliche Fragen auch abgelehnt in BGH, NStZ 1986,514. 252 Vgl. nur OLG Nürnberg, NJW 1982,533; OLG München, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, U 87; OLG Düsseldorf, NJW 1987, 2172 =NStZ 1987,370 =StV 1987,499; OLG Karlsruhe, NJW 1990, 2208 =NStZ 1991, 138 mit Anmerkung Lagodny; OLG Düsseldorf, AVR 32 (1994), 271 =StV 1994,31. 253 Vgl. BVerfG, NJW 1988, 1462 (1464); OLG Stuttgart, NJW 1985,573. 254 Vgl. BGH, NStZ 1993,547. 255 Vgl. OLG Karlsruhe, StV 1997,360 unter Verweis auf Lagodny, in: Schomburgl Lagodny, Internationale Rechtshilfe, IRG, § 9 Rn. 2; OLG Zweibrücken, StV 1996, 105; vgl. auch BGH, NStZ 1993,547, wonach eine .. Auslieferung nicht gewährt werden [darf], wenn den Verfolgten in dem ersuchenden Staat eine Strafe erwartet, die unerträglich hart ist und unter jedem denkbaren Gesichtspunkt als unangemessen erscheint." 256 Vgl. OLG Stuttgart, NStZ 1987,80, mit Verweis auf BVerfGE 59,280 (282). 257 OLG Stuttgart, NStZ 1987, 80. 258 OLG Stuttgart, NStZ 1987, 80; im vorliegenden Fall war der auszuliefernde Straftäter derart schwer erkrankt, dass dessen Auslieferung eine Verletzung von Art. 211 I GG dar-
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rechts" seien die deutschen Gerichte und Staatsanwaltschaften zwingend verpflichtet, eine Auslieferung trotz vertraglicher Auslieferungsverpflichtung für unzulässig zu erklären, wenn sie gegen die Grundrechte des Grundgesetzes verstößt, ohne dass es darauf ankäme, ob die "Wirkungen staatlichen Handeins im Inland oder im Ausland eintreten".259 Begründet wird diese strenge Bindung an die Grundrechte des Grundgesetzes mit Art. 1 III GG. Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass sich in der Rechtsprechung zumindest eine Tendenz herauskristallisiert, auch völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechten im Rang unter dem ius cogens Vorrang vor vertraglichen Auslieferungsund Rechtshilfeverpflichtungen einzuräumen. b) Schrifttum der Bundesrepublik Deutschland aa) Begrenzte Reichweite von Menschenrechten bei vertragsgebundenem Rechtshilfeverkehr - Zur "lus-cogens "-Lösung Voglers In seinem Grundlagenwerk zum Auslieferungsrecht aus dem Jahre 1970 begründete Vogler die bereits mehrfach dargestellte lus-cogens-Lösung, wonach aufgrund des Vertragscharakters einer jeden Rechtshilfeleistung dieser nur höherrangige Normen des Völkerrechts entgegenstehen konnten. Der Konflikt zwischen einer vertraglichen Auslieferungsverpflichtung und völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechten war demnach immer zugunsten der Vertragsbindung zu entscheiden, solange nicht ein Menschenrecht mit lus-cogens-Charakter betroffen war. Die Auflösung dieses Normenkonfliktes erfolgte daher streng im Sinne der klassischen Normenhierarchie des Völkerrechts und unterliegt folgendem Syllogismus: die völkerrechtliche Grenze der völkerrechtlichen Vertragsfreiheit wird durch ius cogens erzeugt; die einzelne Auslieferung ist ein völkerrechtlicher Vertrag; folglich beschränkt das völkerrechtliche ius cogens die staatliche Auslieferungsbefugnis. 26O In dieser Restriktion der Wirkungsweise von Menschenrechten auf die zwischenstaatlichen Beziehungen der handelnden Völkerrechts subjekte sieht Lagodny die überkommene, klassische Auffassung von der Zweidimensionalität rechtshilferechtlicher Beziehungen begründet. 261 Dieser Kritik entgegnend räumt Vogler inzwischen ein, dass man durchaus, so wie es die moderne dreidimensionale Sichtweise erfordert, zwischen dem völkerstellen würde, so dass dessen Auslieferung an die Türkei trotz Auslieferungsverpflichtung nach dem EuAlÜbk unzulässig sei. 259 Vgl. OLG Düsseldorf, AVR 32 (1994), 278 StV 1994,34 (34 f.); hingegen noch anders bei BVerfGE 18, 112; OLG Köln, NJW 1985, 572; OLG Karlsruhe, NStZ 1991, 138. 260 Vgl. Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 66. 26\ Vgl. Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 67.
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rechtlichen "Müssen" und "Dürfen" und dem innerstaatlichen "Dürfen" unterscheiden könne. In der Tat dürfe der strafrechtlich Verfolgte nicht lediglich Gegenstand staatlichen Handeins sein, sondern erlange im innerstaatlichen Auslieferungsverfahren die uneingeschränkte Stellung eines Rechtssubjekts. 262 Jedoch könne auch auf dieser Ebene kein anderer Maßstab als im Völkerrecht angewendet werden. Wie auf der zwischenstaatlichen Ebene des Völkerrechts ergebe sich auch im innerstaatlichen Recht ein Konflikt zwischen Menschenrechten der Völkerrechtsordnung und den in Auslieferungs- und Rechtshilfeverträgen niedergelegten völkerrechtlichen Verpflichtungen des Staates. Während die Rechtshilfeübereinkommen ebenso wie völkervertragliche Kodifizierungen der Menschenrechte (jedenfalls nach deutschem Verfassungsrecht) über Art. 59 11 GG innerstaatlich den Rang eines einfachen Bundesgesetzes erlangen, würden die menschenrechtlichen Ius-cogens-Normen über Art. 25 GG Eingang in die innerstaatliche Normenhierarchie finden. 263 Der auf völkerrechtlicher Ebene festgestellte Normenkonflikt müsse (analog zum Völkerrecht) nach dem allgemeinen Grundsatz "lex posterior derogat legi priori" aufgelöst werden. 264 Dementsprechend werde mit jedem Einzelauslieferungsvertrag jede vertragliche Menschenrechtsnorm verdrängt. Lediglich für die dem ius cogens zuzurechnenden Menschenrechte würde sich die auf völkerrechtlicher Ebene gefundene Vorrangwirkung auch im innerstaatlichen Recht durchsetzen. 265 Die Möglichkeit der Berücksichtigung der vertraglich kodifizierten Menschenrechte bei der Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes würden nichts am innerstaatlichen Rang der vertraglichen Menschenrechte ändern. 266 Die ebenfalls äußerst umstrittene Frage des Vorrangs der Grundrechte der deutschen Verfassungsordnung sei hingegen unter Verweis auf die WVK aufzulösen, wonach Normen der innerstaatlichen Rechtsordnungen völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht entgegengehalten werden können. Nur so sei Art. 73 IRG zu verstehen, hinter dessen Ordre-public-Klausel sich der internationale ordre public verberge. 267 Im Ergebnis lassen sich einer völkerrechtlichen Auslieferungs- oder Rechtshilfeverpflichtung daher nur höherrangige und zum völkerrechtlichen ius cogens gehörende Menschenrechte entgegenhalten, sei es auf völkerrechtlicher oder auf innerstaatlicher Ebene.
Vogler, ZStW 105 (1993), 3 (7). Vgl. Vogler, ZStW 105 (1993), 3 (11). 264 Vogler, ZStW 105 (1993), 3 (10). 265 Vgl. Vogler, ZStW 105 (1993), 3 (11). 266 Vogler, ZStW 105 (1993), 3 (11). 267 Vogler, in: VoglerlWilkitzki. IRG, § 73 Rn. 7 ff. 262
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bb) Kritik an der .. Ius-cogens"-Lösung durch Lagodny In seiner grundlegenden Monographie zur Rechtsstellung des Einzelnen im Auslieferungsrecht greift Lagodny den Lösungsvorschlag von Vogler aus methodischen Gründen auf und kommt zu dem Ergebnis, dass die praktische Relevanz des völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechtsschutz aufgrund der Restriktion auf das ius cogens in der Praxis des internationalen Rechtshilfeverkehrs nahezu bedeutungslos sei. Dies liege zum einen darin begründet, dass bereits die Ermittlung des auslieferungsrechtlich relevanten Bestands an zwingendem Völkerrecht nicht unerhebliche Schwierigkeiten bereite, da sich im Völkerrecht keine Einigung darüber finden ließe, welche konkreten Menschenrechte in welchem Umfang zum ius cogens zu rechnen sind. 268 Eine Untersuchung der einschlägigen Rechtsprechung und Literatur ließe erkennen, dass zu den zwingenden Normen des Völkerrechts jedenfalls nur die "fundamentalen" Menschenrechte zu zählen seien. Hier führe die Unbestimmtheit des Begriffs indes nicht zu einem Erkenntnisgewinn, vielmehr könne eine restriktive Auslegung ergeben, dass allein völkerstrafrechtliche Verbotstatbestände wie z. B. das Verbot des Völkermordes, des SklavenhandeIs und der Misshandlung von Kriegsgefangenen 269 die Qualität von ius cogens besäßen. Diese spielen für den zwischenstaatlichen Auslieferungs- und Rechthilfeverkehr allerdings nur eine sehr untergeordnete Rolle. 270 Auch die regelmäßigen Verweise auf die in völkerrechtlichen Konventionen kodifizierten Menschenrechte würden letztlich nicht dabei helfen, den Bestand an rechtshilferechtlich relevanten Menschenrechten mit Ius-cogens-Qualität einzugrenzen. 271 In engem Zusammenhang mit der Unbestimmtheit des völkerrechtlichen ius cogens stünde auch das Problem der Bestimmungskompetenz, das heißt der Frage, wer darüber entscheiden dürfe, ob eine Norm dem ius cogens zuzurechnen ist oder nicht. Während dies grundsätzlich der Staatenpraxis und der Rechtsprechung internationaler Gerichte vorbehalten sei, gebe es im Auslieferungs- und Rechtshilferecht eben gerade keine zuständige internationale Gerichtsinstanz. 272 Entscheidender sei jedoch, dass ein völkerrechtliches Übereinkommen über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen selten mit dem Inhalt und zum Zweck eines Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 78. Ausführlich zum Völkerstrafrecht, insbesondere auch im Zusammenhang mit dem Schutz der Menschenrechte Ahlbrecht, Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert, 1999; Ambos, DRiZ 1998, 251 ff.; Bianchi, EJIL 1999, 237 ff.; Eser, in: FS Jescheck (1985), 1353 ff.; Kastner, JA 1995, 802 ff.; Roggemann, NJW 1994, 1436 ff.; Smislvan .der Borght, ILM 38 (1999), 918 ff.; Warbrick, in: BaumlRiedeIl Schaefer, Menschenrechtsschutz, S. 257 ff.; Werle, ZStW 109 (1997), 809 ff. 270 Z. B. für die Auslieferung an Kriegsverbrechertribunale, vgl. hierzu Bausback, NJW 1999, 3319 ff.; Schmalenbach, AVR 36 (1998), 285 ff.; Scholz, Die Zulieferung an den Jugoslawien-Strafgerichtshof, 1999. 271 Vgl. Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 79 f. 272 Vgl. Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 82 f. 268
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Verstoßes gegen lus-eogens-Normen geschlossen werde. Auch bei einzelnen Bestimmungen eines solchen Vertrages oder gar bei einem Einzelauslieferungsvertrag ließe sich nur schwerlich ein Verstoß gegen ius eogens nachweisen. 273 Aus diesen Erwägungen zieht Lagodny den Schluss, dass dem völkerrechtlichen Vertragsschluss im Auslieferungs- und Rechtshilferecht zwar grundsätzlich Schranken durch Menschenrechte mit lus-eogens-Charakter gesetzt werden, dass die Menschenrechte ihre eigentliche Bedeutung indes erst auf der Ebene des innerstaatlichen Rechts erlangten. So ermögliche das Ansetzen an der eigentlichen Auslieferungs- oder Rechtshilfemaßnahme nicht nur einen Rückgriff auf den völkerrechtlichen Individualrechtsschutz der Menschenrechtskonventionen, sondern auch auf verfassungsrechtliche Grenzen des Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehrs. m Für die Frage des Normenkonfliktes ergebe sich jedoch, dass im Bereich des gebundenen Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehrs der Konflikt zwischen der völkerrechtlichen Verpflichtung eines Staates etwa zur Auslieferung und der völkerrechtlichen Verpflichtung zur Beachtung der Menschenrechte der EMRK keiner normativen Auflösung zugänglich ist. Vielmehr könne ein solcher Konflikt nur auf politischem Wege gelöst werden, indem der ersuchte Staat den ersuchenden Staat um die Rücknahme seines Ersuchens bittet. 275 Dies gelte sowohl für inlandskausale wie für auslandskausale Fallkonstellationen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen. 276 c) Würdigung Indem Vogler davon ausgeht, dass die Staaten bei jeder einzelnen Auslieferung immer zugleich einen völkerrechtlichen Vertrag für gerade diesen konkreten Fall abschließen, kommt man konsequenterweise zu dem Ergebnis, dass beim vertragsgebundenen Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehr immer zwei Verträge zugrunde liegen. Der eine regelt die generelle Verpflichtung zur gegenseitigen Auslieferung und der andere die konkrete Erfüllung dieser vertraglichen Verpflichtung, namentlich die Auslieferung bzw. die sonstige Rechtshilfemaßnahme. Dann erscheint jedoch Voglers Feststellung widersprüchlich, dass beim außervertragliehen Rechtshilfeverkehr mangels vorliegender völkervertraglicher Verpflichtung alle Menschenrechte der Völkerrechtsordnung anwendbar seien, auch solche, die nicht dem ius eogens zugerechnet werden können. Nach dem von Vogler in diesem Zusarnrnenhang eingebrachten Grundsatz "lex posterior derogat legi priori" dürfte es eigentlich unerheblich sein, ob ein genereller Auslieferungsvertrag beVgl. Lagodny. Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 85 ff. Lagodny. Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 91. 275 Lagodny. Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 109. 276 Lagodny. Rechtsstellung des Auszuliefernden, S. 125; vgl. zur Lösung des Konflikts auch Lagodny. in: Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, IRG, § 73 Rn. 43 ff. 273
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steht oder nicht. In jedem Fall würde mit dem nachfolgenden Einzelvertrag über einfaches Völkergewohnheitsrecht wie über vertragliche Menschenrechtsverpflichtungen disponiert werden. Daher weist die Argumentation Voglers bereits an diesem Punkt Schwächen auf. Doch auch sein Einlenken hinsichtlich der Rechtssubjektivität des Einzelnen auf innerstaatlicher Ebene und der entsprechenden Auflösung der Normenkonflikte unter Heranziehung der verfassungsrechtlichen Normenhierarchie des Grundgesetzes erscheint nicht konsequent. So gehören nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den gemäß Art. 25 GG verbindlichen allgemeinen Regeln des Völkerrechts nicht nur die Normen des völkerrechtlichen ius cogens. Hier bedarf es daher einer saubereren Bestimmung derjenigen völkergewohnheitsrechtlichen Normen, die dem Einzelnen innerstaatlich unmittelbare Rechte verleihen und anderen vertraglichen Verpflichtungen der Bundesrepublik entgegengehalten werden können. Der Kritik von Lagodny an der Ius-cogens-Lösung Voglers ist zwar insofern zuzustimmen, als dass die Prüfung des völkerrechtlichen Vertragsschlusses auf dessen Konformität mit dem völkerrechtlichen ius cogens im Bereich des Auslieferungs- und Rechtshilferecht nicht weiterführt. Denn in der Tat wird es kaum einen Auslieferungsvertrag geben, der Klauseln aufnimmt, die im Widerspruch zum ius cogens stehen werden. Die Verletzung von Menschenrechten wird nämlich nicht bereits durch den Vertragsschluss eintreten, wohl auch dann nicht, wenn man der These von Vogler folgt, dass jede Auslieferung einen eigenen Vertragsschluss darstellt. Menschenrechtsverletzungen sind vielmehr immer erst auf ein bestimmtes Verhalten innerstaatlicher Behörden in einem konkreten Fall zurückzuführen. Jedoch ist seiner Kritik, bezogen auf die mangelnde Bestimmungskompetenz und dass es kein kompetentes Gremium gäbe, welches über die Existenz von völkerrechtlichen Gegenrechten der Qualität von ius cogens entscheiden könne, entgegenzuhalten, dass jedenfalls der IGH grundSätzlich über eine solche Streitigkeit entscheiden dürfte. In der Praxis dürfte diese Möglichkeit natürlich keine Rolle spielen, denn es liegt in der Natur der auf gegenseitiger Arbeitsteilung beruhenden internationalen Rechtshilfe, dass die Staaten in erster Linie miteinander kooperieren wollen. Zur Vermeidung politischer Konflikte wäre ein solches unparteiisches Gremium wie der IGH sicher eine Möglichkeit, Streit um eine Auslieferung zu schlichten, wenngleich die Dauer eines solchen Verfahrens der grenzüberschreitenden Strafverfolgung jede Effektivität nehmen dürfte. Ein weiterer Gesichtspunkt an Lagodnys Kritik an der Ius-cogens-Lösung überzeugt nicht vollends. So scheint Lagodny zu übersehen, dass eine Ius-cogensNorm nicht nur ein objektives Verbot aufstellt, gegen sie zu verstoßen. Darüber hinaus umfasst sie auch die Pflicht eines etwa um die Auslieferung eines Straftäters ersuchten Staates, welchem im ersuchenden Staat Folter droht, diesen durch das völkerrechtliche Folterverbot unmittelbar berechtigten und in der Jurisdiktionsgewalt des ersuchten Staates stehenden Einzelnen vor dem bevorstehenden
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Verstoß gegen die Ius-cogens-Bestimmung durch den ersuchenden Staat zu schützen. Dieser von Lagodny im Bereich des Grundrechtsschutzes herangezogene Grundsatz der staatlichen Schutzpflichten dürfte auch für das völkerrechtliche ius cogens gelten. In dieser objektiven Wirkung einzelner Menschenrechte liegt die eigentliche Bedeutung des Menschenrechtsschutzes, denn wie das Soering-Urteil des EGMR und die oben gemachten Ausführungen zur Zurechenbarkeit ausländischen Hoheitshandelns zeigen, 277 lässt sich die Verletzung einer Norm bereits damit begründen, dass durch eine Auslieferung an einen dritten Staat die Ursache für eine spätere und von dem ausliefernden Staat nicht mehr beeinflussbare Menschenrechtsverletzung geschaffen wird. Hier geht es nicht um die Verletzung durch einen Vertrags schluss, sondern um die Zurechnung einer Menschenrechtsverletzung jenseits eines Vertrages. Die Frage danach, ob es sich bei dem verletzten Menschenrecht um eine Ius-cogens-Bestimmung gehandelt hat oder nicht, kann da nur zweitrangig sein. Letztlich dient die Ius-cogens-Konstruktion gegenwärtig nur zur zwischenstaatlichen Rechtfertigung, dass eine vertragliche Auslieferungsverpflichtung nicht eingehalten wird. d) Weiteres Vorgehen In der Praxis des internationalen Rechtshilferechts lassen sich zunächst zwei verschiedene Ebenen von Normen- und Pflichtenkollisionen unterscheiden, namentlich der Kollision von Menschenrechten mit völkerrechtlichen wie mit innerstaatlichen Rechtshilfebestimmungen. Beide Konfliktebenen sind jeweils unter Rückgriff auf völkerrechtliche Grundsätze einerseits und innerstaatliche Grundsätze andererseits aufzulösen. Auf der Suche nach einer Lösung für derartige Normenkonflikte soll zunächst untersucht werden, ob und wie sich dieser Normenkonflikt auf der Ebene des innerstaatlichen Rechts auswirkt. Hier muss die Frage aufgeworfen werden, in welchem Verhältnis die allgemeinen Regeln des Völkerrechts im Sinne von Art. 25 GG zu sonstigen völkervertraglichen Verpflichtungen stehen. In einem zweiten Schritt ist unter Berücksichtigung eines dualistischen Ansatzes zu prüfen, nach welchen völkerrechtlichen Kriterien die Auflösung des Normenkonflikts vorzunehmen ist. 2. Verfassungsrechtliche Auflösung der Normen- bzw. Pflichtenkollision Die über die Zulässigkeit von Maßnahmen der internationalen Rechthilfe entscheidenden Behörden und Gerichte sind, jedenfalls in der Bundesrepublik
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Siehe oben 5. Kapitel. S. 350 ff.
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Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
Deutschland, über Art. 1 III GG zunächst umfassend an die Grundrechte 278 und über Art. 20 III GG an die innerstaatliche Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland gebunden. Hiervon werden unabhängig von ihrenjeweiligen Rechtsquellen auch die Menschenrechte der V ölkerrechtsordnung erfasst. 279 Da nicht nur die Menschenrechte, sondern auch die vertraglichen Verpflichtungen aus Auslieferungs- und Rechtshilfeverträgen der Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 59 11 GG unmittelbar im innerstaatlichen Recht Anwendung finden, setzen sich die angesprochenen völkerrechtlichen Normenkonflikte auch auf der innerstaatlichen Ebene fort. Im Folgenden soll versucht, diese Normenkonflikte unter Heranziehung verfassungsrechtlicher Grundsätze aufzulösen. Dafür ist zunächst erneut auf den innerstaatlichen Rang völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte einzugehen, wobei besonderes Augenmerk auf die Differenzierung zwischen einfachen und Ius-cogens-Normen zu richten ist. Danach dürfte sich auch das Verhältnis zu etwaigen vertraglichen Rechtshilfeverpflichtungen oder sonstigen innerstaatlichen Rechtshilferegelungen bestimmen lassen. a) Innerstaatlicher Rang völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte Die gewohnheitsrechtlichen Menschenrechte erlangen ihre innerstaatliche Geltungskraft über Art. 25 GG. Danach gehen die zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts zählenden Menschenrechte jedenfalls den einfachen Bundesgesetzen vor. Während früher noch vertreten wurde, dass den allgemeinen Regeln des Völkerrechts darüber hinaus auch Vorrang vor dem Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland einzuräumen sei,280 ist bis heute weiterhin umstritten, ob sie nicht entsprechend ihres Anwendungsbefehls in Art. 25 GG wenigstens Verfassungsrang haben müssten. Dafür spräche zum einen die Tatsache, dass die allgemeinen Regeln unmittelbar über eine Norm des Grundgesetzes innerstaatlich Anwendung finden und zum anderen, dass es kaum eine allgemeine Regel des Völkerrechts geben wird, die den grundlegenden Normen, Prinzipien und Wertungen des Grundgesetzes widersprechen wird. 281 Die herrschende Meinung wendet gegen eine solche Einordnung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts als Verfassungsrecht vor allem ein, dass sich der dadurch mögliche Verfassungswandel 278 Vgl. nur BVerfGE 31, 58 (72 f.); 63,181 (195); Heintzen, Auswärtige Beziehungen, S. 97 ff.; Hofmann, Grenzüberschreitende Sachverhalte, S. 13 ff., 21 mit weiteren Nachweisen; abweichend, aber im Grundsatz zustimmend Elbing, Grundrechte, S. 72 ff., 82 ff. 279 Klein, Menschenrechte, S. 30. 280 So noch BVerfGE 1,208 (233); aus dem Schrifttum Menzel, BK, GG, Art. 25, S. 10 m.w.N. 281 So Steinberger, in: HbdStR VII (1992), § 173 Rn. 61 ff.; Streinz, in: Sachs, GG, Art. 25 Rn. 85; für den Verfassungsrang Doehring, in: VVDStRL 32 (1974), 7 (22 f.); Herzog, EuGRZ 1990,483 (486); Partsch, in: BDGVR 6 (1964),13 (61) m. w. N.
D. Einschränkbarkeit völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte
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nicht mit Art. 79 I GG vereinbaren ließe. 282 Sie vertritt deshalb, dass die allgemeinen Regeln des Völkerrechts zwischen dem einfachen Recht und dem Verfassungsrecht stehen. 283 Die aufgeworfene Frage des Verfassungsrangs der allgemeinen Regeln des Völkerrechts im Recht der Bundesrepublik Deutschland ist für die vorliegende Untersuchung indes von nebensächlicher Bedeutung, da die mit den allgemeinen Regeln des Völkerrechts konkurrierenden Verträge über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen über Art. 5911 GG in die innerdeutsche Rechtsordnung gelangen und damit den in jedem Fall niedrigeren Rang eines einfachen Bundesgesetzes einnehmen. 284 Daher ist es für die vorliegende Untersuchung von entscheidender Bedeutung, welche Menschenrechte der Völkerrechtsordnung zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts im Sinne von Art. 25 GG zu zählen sind. b) Kollision mit völkerrechtlichen Auslieferungs- und Rechtshilfeverpflichtungen Der in Art. 25 Satz 2 GG niedergelegte Vorrang ist als ein Anwendungsvorrang vor Gesetzen und rangniedrigeren Normen zu verstehen. 285 Dieser verpflichtet den Rechtsanwender, eine verfassungskonforme und somit völkerrechtskonforme Auslegung der kollidierenden innerstaatlichen Norm vorzunehmen. 286 Erst wenn eine solche nicht möglich ist, wird die entgegenstehende innerstaatliche Rechtsnorm im konkreten Fall von der völkerrechtlichen verdrängt. 287 Jedoch wird eine gegen eine allgemeine Regel des Völkerrechts verstoßende Norm nicht etwa nichtig, sondern ist auf den fraglichen Sachverhalt nicht anzuwenden. 288 Eine Aus282 Vgl. das obiter dictum in BVerfGE 47, 365 (378), mit welchem sich das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich gegen einen Verfassungsrang der allgemeinen Regeln des Völkerrechts ausspricht. 283 Für eine Einordnung zwischen Verfassungsrecht und (formellem) Gesetzesrecht BVerfGE 6, 309 (363); 37,271 (279) =EuGRZ 1974, 5 (7); DahmiDelbrnckIWolfrum, Völkerrecht, Bd. 111, S. 121; Geiger, GG und Völkerrecht, § 31 IV; Hofmann. in: Umbach/Clemens, GG, Art. 25 Rn. 23; Kirchhof. EuGRZ 1994, 16 (26); Maunz. in: MaunzlDürig/Herzog/Herzog, GG, Art. 25 Rn. 24; Partsch, in: BDGVR 6 (1964),13 (61); Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 2, Art. 25 Rn. 37; Steinberger, in: HbdStR VII (1992), § 173 Rn. 57 ff.; Tomuschat. ZaöRV 28 (1968), 48 (63); Zuleeg. in: AK, GG, Art. 25 Rn. 23 alle m. w. N. 284 Vgl. nur Art. 25 S. 2 G. 285 BVerfGE 23, 288 (316 f.); 36, 342 (365); Steinberger, in: HbdStR VII (1992). § 173 Rn. 24. 286 BVerfGE 64, 1 (20), Klein. Menschenrechte, S. 30; Steinberger, in: HbdStR VII (1992). § 173 Rn. 56. 287 Vgl. etwa BVerfGE 23, 288 (316): "Der Sinn der unmittelbaren Geltung der allgemeinen Regel!1 des Völkerrechts liegt darin, kollidierendes innerstaatliches Recht zu verdrängen oder seine völkerrechtskonforme Anwendung zu bewirken"; es besteht folglich ein Anwendungsvorrang. 288 Hofmann, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 25 Rn. 21.
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Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
nahme gilt insoweit für völkerrechtliche Regelungen, die dem völkerrechtlichen
ius cogens zuzurechnen sind. 289 Aufgrund des generellen Anwendungsbefehls und
des Anwendungsvorrangs gemäß Art. 25 Satz 2 GG sind Gesetzgeber, Regierung, Verwaltung und Gerichte unmittelbar an die allgemeinen Regeln des Völkerrechts gebunden. Der Gesetzgeber kann die innerstaatliche Beachtung und Anwendung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts auch nicht durch Gesetz ausschließen. 29o Rechtsprechung und vollziehender Gewalt der Bundesrepublik Deutschland ist es verwehrt, innerstaatliches Gesetzesrecht in einer Weise auszulegen und anzuwenden, welche die allgemeinen Regeln des Völkerrechts, mithin die strafprozessualen Menschenrechte, verletzt. 291 Sie haben statt dessen eine völkerrechts konforme Auslegung und Anwendung rangniedrigerer Normen vorzunehmen 292 und alles zu unterlassen, was einer unter Verstoß gegen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts vorgenommenen Handlung nichtdeutscher Hoheitsträger im Geltungsbereich des Grundgesetzes Wirksamkeit verschafft. 293 Aus diesem Grund überprüfen die deutschen Gerichte für die Frage der Zulässigkeit einer Auslieferung, ob in dem der Auslieferung zugrunde liegenden ausländischen Urteil oder Strafverfahren der "völkerrechtlich verbindliche Mindeststandard" an rechts staatlicher Verfahrensgestaltung beachtet worden ist. 294 Die deutschen Behörden und Gerichte sind des Weiteren auch daran gehindert, an einer gegen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts verstoßenden Handlung nichtdeutscher Hoheitsträger bestimmend mitzuwirken. 295 Dies wirkt sich für den Auslieferungsverkehr dergestalt aus, dass die deutschen Behörden folglich nach innerstaatlichem Recht daran gehindert sind, etwa durch die Auslieferung eines Straftäters in ein Land, in dessen Gefängnissen ihm eine unmenschliche Behandlung und Folter droht, eine Verletzung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts zu verursachen. In der Praxis müssen Gerichte, die Zweifel an der Existenz oder der Tragweite einer allgemeinen Völkerrechtsregel haben, diese Frage nach Art. 10011 GG dem Bundesverfassungsgericht vorlegen. 296 Behörden haben nicht die Möglichkeit der Vorlage an 289 Vgl. hierzu Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 2, Art. 25 Rn. 37; zumius cogens auch Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 340 ff. 290 BVerfGE 6,309 (363); 41, 126 (160); BVerfG, NJW 1988, 1462 (1463); dies gilt jedoch nicht für den verfassungsändemden Gesetzgeber, denn Art. 25 ist nicht von der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 III GG erfasst, vgl. auch Steinberger, in: HbdStR VII (1992), § 173 Rn. 50. 291 Vgl. BVerfG, NJW 1988, 1462 (1463); vgl. auch BVerfGE 23,288 (316); 75, 1 (19). 292 BVerfGE 23, 288 (316 f.); 36, 342 (365); Hofmann, in: FS Zeidler (1987), Bd. 11, 1885 (1885 f.); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 25 Rn. 5; Steinberger, in: HbdStR VII (1992), § 173 Rn. 50. 293 BVerfG, NJW 1987,2155; NJW 1988,1462 (1463). 294 V gl. nur BVerfGE 59, 280 (282 f.); 63, 332 (337); OLG Karlsruhe, NJW 1984, 572; ausführliche weitere Nachweise bereits oben 4. Kapitel, S. 286 ff. 295 BVerfGE 75, 1 (19). 296 Benda/Klein, Lehrbuch des Verfassungsrechts, Rn. 865 f.
D. Einschränkbarkeit völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte
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das Bundesverfassungsgericht zur konkreten Normenkontrolle, sondern müssen sich entscheiden und die verfassungsrechtliche Bewertung einem nachfolgenden Gerichtsverfahren überlassen. 297 Zu einer verfassungsrechtlichen Überprüfung kommt es, wenn das betroffene Individuum unter Berufung auf eine Verletzung von Art. 25 GG i. V. m. Art. 2 I GG Verfassungsbeschwerde einlegt. 298 c) Kollision mit innerstaatlichen Auslieferungs- und Rechtshilfeverpflichtungen Eine weitere Kollision ließe sich zwischen den völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechten und den Grundrechten des Grundgesetzes denken. Hier spielt die fragliche Einordnung keine Rolle, da sich nationaler und internationaler Grundrechtsschutz gegenseitig ergänzen. Eine letzte Kollisionsmöglichkeit besteht zwischen dem Völkergewohnheitsrecht und dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit. 299 Auch hier ist kein Problem zu sehen, da es letztlich auf die Auflösung des Konfliktes nach völkerrechtlichen Gesichtspunkten ankommt. Für die vorliegende Untersuchung spielt es daher eine untergeordnete Rolle, ob die allgemeinen Regeln des Völkerrechts den Rang von Verfassungsrecht haben oder nicht. d) Schlussfolgerung Der Versuch der Auflösung von Normenkonflikten zwischen völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechten und vertraglichen Auslieferungs- und Rechtshilfeverpflichtungen auf der Ebene des deutschen Verfassungsrechts hat gezeigt, dass jedenfalls all den Menschenrechten ein Vorrang einzuräumen ist, die über Art. 25 GG zum unmittelbaren Bestandteil der innerstaatlichen Verfassungsordnung werden. Da sich jedoch im verfassungsrechtlichen Schrifttum keine Einigkeit finden lässt, welche Menschenrechte über die Ius-cogens-Normen hinaus zu den allgemeinen Regeln im Sinne von Art. 25 GG zählen, hat die konsequente Anwendung des Verfassungsrechts keinen Erkenntnisgewinn gegenüber der bisherigen Rechtsprechung und den restriktiven Auffassungen im Schrifttum ergeben, wonach allein der völkerrechtlich verbindliche menschenrechtliche Mindeststandard, der nur von fundamentalen Menschenrechten und allen Rechtsstaaten zugrunde liegenden Grundsätzen ausgefüllt wird, Vorrang vor völkerrechtlichen Rechtshilfeverpflichtungen erlangen kann. Insoweit muss hier auf das Völkerrecht verwiesen werden, zumal sich der Bestand an allgemeinen Regeln im Sinne des 297
298 299
Klein, Menschenrechte, S. 31. Vgl. nur BVerfGE 6, 389 (440); 23, 288 (300); 56, 254 (256). Zum Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit Bleckmann, DÖV 1996, 137 ff.
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Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
Art. 25 GG nach dem Völkerrecht richtet. Bewusst ausgelassen wurde vorliegend auch die Frage, ob und inwieweit die Menschenrechte regionaler Menschenrechtsübereinkommen zugleich Bestandteil des (zwingenden) Völkergewohnheitsrechts sein und (auch) über Art. 25 GG unmittelbare innerstaatliche Geltung (mit dem entsprechenden Rang als übergesetzliches Recht) erlangen können. Diese im Rahmen des 6. Kapitels näher zu behandelnde Frage3°O würde auch nichts an dem vorliegenden Befund ändern, dass zur Auflösung der Normenkonflikte auf die völkerrechtliche Ebene abzustellen ist. 3. Völkerrechtskonforme Auflösung der Normen- bzw. Pflichtenkollision Im Folgenden ist daher zu untersuchen, nach welchen völkerrechtlichen Kriterien die Auflösung dieser Normenkonflikte vorzunehmen ist. Hier geht es letztlich um die Frage der Rechtsverbindlichkeit der vorstehend ermittelten V ölkergewohnheitsrechte. Hierfür sind nicht nur die vielfältigen Begrenzungsmöglichkeiten der staatlichen Dispositionsbefugnisse im Völkerrecht heranzuziehen, sondern vor allem ist die Reichweite von lus-cogens-Menschenrechten und von einfachen völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechten innerhalb der völkerrechtlichen Normenhierarchie zu untersuchen. Dabei kann als herrschende Meinung bereits hingenommen werden, dass jedenfalls die lus-cogens-Normen den vertraglichen Verpflichtungen vorgehen. Die entscheidende Frage ist hier demnach, ob aus der Zuordnung aller völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte zum völkerrechtlichen ordre public und aus der daraus abzuleitenden Erga-omnes-Wirkung die Dispositionsbefugnis der Staaten über allgemeine völkergewohnheitsrechtliche Normen begrenzt wird. Hierfür ist zu untersuchen, ob sich im Völkerrecht eine Normenhierarchie ermitteln lässt, die über den angesprochenen Vorrang des ius cogens hinaus weitergehende Bindungen der Staaten an Menschenrechte des V ölkergewohnheitsrechts begründet. a) Existenz einer internationalen öffentlichen Ordnung Das Völkerrecht besteht aus einer Vielzahl von Normen, die sich entsprechend ihrer Entstehungsweise und in Anlehnung an Art. 38 I lit. a)-c) IGH-Statut in internationale Übereinkünfte, Gewohnheitsrecht und von den Kulturvölkern anerkannte allgemeine Rechtsgrundsätze unterscheiden lassen. 301 Die interna300 Siehe unten 6. Kapitel, S. 486, 502 ff.; zu dieser Frage auch Silagi, EuGRZ 1980,632 (641); Steinberger, in: HbdStR VII (1992), § 173 Rn. 13. 301 Zum Begriff und zur Geltung der Rechtsquellen im Völkerrecht siehe nur laenicke, in: WVR, Bd. I1I, 766 ff.; DahmlDelbrückIWolfrum, Völkerrecht, Bd. I/l, S. 27 ff.; Monaco, in: EPIL IV (2000),467 ff.; Nguyen QuoclDaillieriPellet, Droit international public, S. 103 f. ; Verdross/Simma, Völkerrecht, S. 321,jeweils mit zahlreichen Nachweisen zum Schrifttum.
D. Einschränkbarkeit völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte
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tionalen Übereinkünfte, das heißt die mit dem Willen zur Rechtssetzung vereinbarten Regeln des internationalen Verkehrs, stellen neben dem Völkergewohnheitsrecht dabei die wichtigste Quelle des Völkerrechts dar. 302 Im klassischen Völkerrecht regelten die internationalen Übereinkommen vor allem die unmittelbaren Beziehungen zwischen den Staaten, den originären Völkerrechtssubjekten. Es handelte sich dabei in der Regel um Verträge, die entweder Verpflichtungen zur Leistung und Gegenleistung begründeten oder das zukünftige Verhalten der Vertragsparteien in gleicher Weise verbindlich regeln sollten (Kooperationsverträge).303 Als Beispiele für solche Verträge sind insbesondere Freundschafts- und Handelsverträge anzuführen, aber auch die für die vorliegende Untersuchung maßgeblichen Verträge über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen. Das klassische Völkerrecht beruht vor allem auf den synallagmatischen Beziehungen zwischen den Staaten und wird daher auch "Kooperationsvölkerrecht" genannt. 304 Neben der kooperationsrechtlichen war das klassische Völkerrecht zudem auch von einer koordinationsrechtIichen Komponente gekennzeichnet, welche sich durch Regelungen zur Kompetenzabgrenzung zwischen den Staaten auszeichnet. 305 Das "Koordinationsvölkerrecht" entsprach in erster Linie dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller Staaten, als den einzigen originären Völkerrechtssubjekten, und bestand primär aus den die räumlichen, zeitlichen und personellen Kompetenzen abgrenzenden Normen des allgemeinen Völkerrechts. 306 Bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Kreis der Völkerrechtssubjekte schrittweise um die der Internationalen Organisationen erweitert, welche nach entsprechender Übertragung staatlicher Kompetenzen die zwischenstaatliche Zusammenarbeit institutionalisieren und koordinieren sollten. Hiermit sollten die sich als Folge der Öffnung der Handelsmärkte und der nationalen Grenzen abzeichnenden grenzüberschreitenden Probleme, die allein auf nationaler Ebene nicht mehr erfolgversprechend zu lösen waren und ein Zusammenwirken aller Akteure erforderten' gelöst werden. 307 Auch diese Gründungsverträge der internationalen Organisationen waren Bestandteil des Koordinationsvölkerrechts. 308 Im modernen Völkerrecht entstehen jedoch zunehmend völkerrechtliche Normen, denen nicht nur eine koordinationsrechtliche, sondern darüber hinaus auch DahmlDelbrückIWolfrum, Völkerrecht, Bd. 1/1, S. 49. DahmlDelbrückIWolfrum, Völkerrecht, Bd. 1/1, S. 50; Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 9 Rn. 4; hierzu auch Bleckmann, AVR 34 (1996), 218 ff. 304 Vgl. nur DahmlDelbrückIWolfrum, Völkerrecht, Bd. 111, S. 39. 305 DahmlDelbrückIWolfrum, Völkerrecht, Bd. 111, S. 316. 306 Vgl. DahmlDelbrückIWolfrum, Völkerrecht, Bd. 1/1, S. 316 f. 307 Hierzu Delbrück, IJGLS 1 (1993),9 ff.; DahmlDelbrückIWolfrum, Völkerrecht, Bd. 111, S. 13; Dicke, Internationale Organisationen, S. 45 ff. 308 DahmlDelbrückIWolfrum, Völkerrecht, Bd. IIl, S. 31. 302 303
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Teil2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
eine objektiv-rechtliche Bedeutung zuzumessen wird. Darunter sind solche Normen zu verstehen, die einen objektiven Rechtszustand begründen, der nicht nur die an der Entstehung dieser Rechtsnormen beteiligten Staaten bindet und verpflichtet, sondern alle Staaten der internationalen Staatengemeinschaft. Zu solchen objektivrechtlichen Normen zählen insbesondere solche, die Ausdruck grundlegender Werte des Völkerrechts sind und dem Schutz dieser gemeinsamen Interessen der gesamten Staatengemeinschaft dienen. 309 Ihre objektiv-rechtliche Wirkung ist daher auch unabhängig von ihrer eigentlichen Entstehungsweise. Vielmehr sind alle Rechtsquellen des Völkerrechts grundsätzlich geeignet, Normen mit objektivrechtlicher Bindungskraft hervorzubringen. Diese Normen haben sich inzwischen zu einem festen Bestandteil der Völkerrechtsordnung entwickelt, so dass sie nicht nur zum Entstehen einer öffentlichen Ordnung bzw. eines öffentlichen Völkerrechts beigetragen, sondern einen irreversiblen "Prozess der Konstitutionalisierung" der Völkerrechtsordnung in Gang gesetzt haben. 3IO Aufgrund der herausragenden Bedeutung der völkerrechtlichen Menschenrechte für die Entstehung dieser öffentlichen Ordnung sei darüber hinaus auch eine "Entstaatlichung des V ölkerrechts" festzustellen. 3l1 Im Folgenden soll herausgearbeitet werden, welche Normen zur Entstehung dieser internationalen öffentlichen Ordnung, dem völkerrechtlichen ordre public, im Einzelnen beigetragen haben. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Grenzen zwischen den verschiedenen Normen des Völkerrechts, die Bestandteil des völkerrechtlichen ordre public sein können, fließend sind. Ihr gemeinsamer Nenner ist allerdings ihre fundamentale Bedeutung für die internationale Staatengemeinschaft.
aa) Völkerrechtliche Normen mit zwingendem Charakter - "ius cogens" Das moderne Völkerrecht zeichnet sich dadurch aus, dass die Staaten nicht nur die Anerkennung solcher objektiven Regime als Bestandteil einer öffentlichen Ordnung angenommen haben, sondern darüber hinaus auch zur Entstehung von Prinzipien und Normen beigetragen haben, die von fundamentaler und übergeordneter Bedeutung für das Funktionieren der zwischenstaatlichen Beziehungen sind und einem gemeinsamen Interesse am Schutz der internationalen Ordnung entsprechen. 312 Zu solchen übergeordneten Normen zählen gerade die zwingenKokott. in: BDGVR 38 (1998), 71 (77 f.). Kokott. in: BDGVR 38 (1998), 71 (79); hierzu insbesondere auch Cottier. SZIER 1999,403 (412 ff.); Frowein. in: BDGVR 39 (1999),427 ff.; WeilerlPaulus. EJIL 8 (1997), 545 ff.; von einem "Weltinnenrecht" spricht in diesem Zusammenhang Delbrück. in: Kühne, Blauhelme, S. 101 ff. 311 Kokott. in: BDGVR 38 (1998),71 (78). 312 Kokott. in: BDGVR 38 (1998), 71 (78). 309
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den Normen des Völkerrechts, das völkerrechtliche ius cogens. Wie bereits ausgeführt, handelt es sich dabei um objektiv-rechtliche Normen und Grundsätze des Völkergewohnheitsrechts, die von so fundamentaler Bedeutung für die Staatengemeinschaft und daher so zwingend sind, dass jede andere Völkerrechtsnorm, sei sie vertragsrechtlicher oder gewohnheitsrechtlicher Natur, rechtlich unwirksam ist, wenn sie inhaltlich mit einer Ius-cogens-Norm unvereinbar ist.
bb) Völkerrechtliche Normen mit objektivem Geltungsanspruch "erga omnes" Unterhalb der Schwelle von ius cogens gibt es indes weitere Normen, die bereits per terminem auf eine objektiv-rechtliche Wirkung hinweisen, die so genannten Erga-omnes-Normen. 3I3 Hierzu sind - wie bereits ausgeführt - insbesondere die völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte zu zählen. Jedoch können nicht nur Normen des Völkergewohnheitsrechts, sondern auch völkerrechtliche Verträge einen objektiv-rechtlichen Charakter aufweisen. 314 Hierzu zählen etwa institutionelle Gründungsverträge mit Verfassungscharakter wie die der Vereinten Nationen oder der Europäischen Union. Neben diesen institutionellen Verträgen internationaler Organisationen existieren im Völkerrecht weitere Verträge, denen ein objektiv-rechtlicher Charakter zukommt, wie territoriale Verfügungsverträge und multilaterale Statusverträge über die Rechtsstellung einzelner Staaten, eines Gebietes oder einer internationalen Verkehrsstraße. 315 Insbesondere zählen hierzu auch die universellen und regionalen Menschenrechtsinstrumente, wie der IPbpR und die EMRK. Diese völkerrechtlichen Regelungen l16 haben gemeinsam, dass sie einen objektiven Rechtszustand begründen, der nicht nur die Vertragsparteien untereinander bindet, sondern einen Achtungsanspruch auch gegenüber den Staaten erhebt, die an dessen Entstehung 313 Die lus-cogens-Normen stellen sicherlich das Herz der internationalen öffentlichen Ordnung dar; daneben gibt es aber auch andere, im (öffentlichen) Interesse der Staatengemeinschaft liegende Prinzipien, vgl. nur laenicke, in: EPIL 11 (1995), 1348; hierzu ausführlich Delbrück, in: Liber amoricum Günther laenicke (1998), 17 ff. 314 Vgl. IGH, Reparationfor Injuries Suffered in the Service ofthe United Nations, ICJReports 1949, 174 (185): " ... fifty States, representing the vast majority of the members of the international community, had the power, in conformity with internationallaw, to bring into being an entity possessing objective international personality, and not merely personality recognized by them." 315 Dazu Klein, Statusverträge, S. 184 ff., 302 f.; ferner O'Connell, State Succession, S.14. 316 Partikuläres Völkerrecht ist aufgrund seiner geographischen Dimension (ratione personae) oder seiner inhaltlichen Ausgestaltung (ratione materiae) im Grundsatz nur für einen Teil der Völkerrechtssubjekte verbindlich, vgl. nur DahmiDelbrückIWolfrum, Völkerrecht, Bd. 1/1, S. 31 ff., 61.
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nicht beteiligt waren. 317 Sie werden deshalb auch als objektive Regime bezeichnet werden. 318 Objektiv-rechtliche Verträge gelten folglich nicht nur zwischen den Vertragsparteien, sondern auch gegenüber am Vertrag nicht beteiligten dritten Staaten. 319 Aufgrund ihrer allgemeinen Bindungswirkung gegenüber allen Staaten, braucht eine Verletzung dieser objektiv-rechtlichen Verträge von dritten Staaten nicht als rechtens anerkannt werden. 320 Sie werden daher zu den Elementen einer internationalen öffentlichen Ordnung gezählt. 321
ce) Internationaler" ordre publie" Das moderne Völkerrecht enthält Normen sowohl des Völkervertragsrechts als auch des allgemeinen Völkergewohnheitsrecht, die von so fundamentaler Bedeutung für die gesamte Staatengemeinschaft sind, dass sie jedenfalls erga omnes gegenüber allen Staaten und Völkerrechtssubjekten gelten und zum Teil sogar luseogens-Charakter entfalten und unabdingbar sind. Die Summe dieser Normen stellt den völkerrechtlichen ordre publie im weiten Sinne dar. Aus der Zuordnung einer völkerrechtlichen Norm, sei es vertraglicher oder gewohnheitsrechtlicher Art, zum internationalen ordre publie kann gefolgert werden, dass ein Verstoß gegen diese Normen von der Staatengemeinschaft nicht anerkannt werden muss. Des Weiteren zieht ein Verstoß gegen den völkerrechtlichen ordre publie eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit des verletzenden Staates nach sich. Diese kann darin bestehen, dass sich der Staat gegenüber der internationalen Gemeinschaft dergestalt zu verantworten hat, dass sein völkerrechtlich erhebliches Verhalten nicht anerkannt zu werden braucht und der Verstoß von der Staatengemeinschaft verurteilt werden kann. Für den Schutz von Menschenrechten bedeutet das, dass vertragliche Verpflichtungen, die einen solchen Verstoß verursachen würden, nicht eingehalten werden müssen. Der völkerrechtliche ordre publie ist zwar nicht gleichzusetzen mit dem völkerrechtlichen ius eogens, jedoch steht die völkerrechtliche öffentliche Ordnung in engem Zusammenhang mit dem völkerrechtlichen ius eogens. 322 Diese gemeinschaftsorientierten Verpflichtungen eines Staates können (aber müssen nicht) zu 317 Dazu Kelsen. Principles oflntemational Law, S. 345 f.; vgl. auch Schwarzenberger. RdC 87 (1955-1), 195 (258 f.), nach dem auch solche Verträge Dritten gegenüber nur mit deren Einwilligung wirken, die freilich auch stillschweigend erteilt werden könne. 318 }aenicke. in: BDGVR 7 (1967), 77 (123). 319 IGH, Reparation for Injuries Suffered in the Service of the United Nations. ICJReports 1949, 174 (185). 320 Kadelbach. Zwingendes Völkerrechts, S. 31. 321 }aenicke. in: BDGVR 7 (1967), 77 (800; Mosler. RED! 21 (1968),523 ff.; ders .• RdC 140 (1974-IV), 1 (34 ff.). 322 V gl. Frowein. in: EPIL III (1997), 757; }aenicke. in: BDGVR 7 (1967), 77 (82).
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spezifischen völkerrechtlichen Pflichten gegenüber allen anderen Staaten erwachsen, mit der Folge, dass jeder andere Staat die Einhaltung dieser Verpflichtungen im Namen der Völkergemeinschaft einfordern kann. 323 Sie können dadurch die völkerrechtliche Vertrags- und Handlungsfreiheit der Staaten und somit die Möglichkeit der Regelung ihrer eigenen Interessen völkerrechtlich begrenzen. Dieses moderne Völkerrecht gewinnt zunehmend an Bedeutung und bildet die Grundlage einer internationalen öffentlichen Ordnung, mithin eines völkerrechtlichen ordre public. Im Ergebnis ist daher festzuhalten, dass die Vertragsfreiheit der Staaten und ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen durch menschenrechtliche Positionen begrenzt bzw. aufgehoben werden können. Solche menschenrechtlichen Positionen sind Bestandteil eines internationalen ordre public. Dabei gilt aufgrund der Eigenart des Völkerrechts zu beachten, dass der international öffentlich-rechtliche ordre public im Gegensatz zum international privatrechtlichen ordre public nicht die Anwendbarkeit einer fremden, sondern innerhalb einer geschlossenen Rechtsordnung die Anwendung von im Rang niedriger stehenden Normen verhindert. Der ordre public bestimmt also nicht die Grenzen der Anwendbarkeit von im Grundsatz gleichrangigen Normen wie im IPR (was sich auf der souveränen Gleichheit der Staaten und der grundsätzlichen Anerkennung der fremden Rechtsordnung gründet), sondern die Grenzen der Anwendbarkeit von Normen innerhalb eines geschlossenen Systems, namentlich des internationalen öffentlichen Rechts. Hier wird die strukturelle Ähnlichkeit zum innerstaatlichen Verfassungsrecht deutlich, das sich ebenso durch die Existenz einer Normenpyramide auszeichnet. Grenze für das nach Völkerrecht zu beurteilende Handeln der Staaten ist mithin der internationale ordre public.
dd) ZuordnungskriterienJür den völkerrechtlichen "ordre public" Zusammenfassend lässt sich somit feststellen, dass zum völkerrechtlichen ordre public all jene völkervertrags- oder völkergewohnheitsrechtlichen Normen und Prinzipien zu zählen sind, welche die völkerrechtliche Gemeinschaft insgesamt schützen und eine objektive, allgemein geltende Ordnung errichten und gewährleisten sollen. 324 Damit eröffnen sie eine neue Dimensionen in den zwischenstaatlichen Beziehungen, denn im Unterschied zu den klassischen koordinationsrechtlichen Verträgen lassen sie nicht nur Rechte und Pflichten zwischen zwei oder mehreren Staaten entstehen, sondern begründen objektive Ordnungen, die dem allgemeinen Völkerrecht angehören und - entweder selbständig oder zusätzlich - die Staaten gegenüber der internationalen Staatengemeinschaft im Ganzen 323 V gl. zur Abgrenzung von ius eogens, internationalem ordre publie und Erga-omnesNormen Kadelbaeh, Zwingendes Völkerrecht, S. 26 ff. 324 V gl. Kokott, in: BDGVR 38 (1998),71 (78); kritisch zur Existenz eines völkerrechtlichen ordre publie Heintsehel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 15 Rn. 40.
25 Ziegenhahn
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verpflichten. 325 Das entscheidende Merkmal für die Zuordnung eines Prinzip oder einer Norm zum völkerrechtlichen ordre public ist ihr objektiver Geltungsanspruch bzw. Anwendungsbefehl (sowohl ratione materiae als auch ratione personae), mithin ihr Erga-omnes-Charakter. Im wesentlichen lassen sich drei Kategorien von Verbindlichkeiten der internationalen öffentlichen Ordnung unterscheiden, namentlich solche Normen, die die Entstehung und Fortentwicklung des Völkerrechts selbst oder die organisatorische Struktur der Staatengemeinschaft regeln sowie solche, die die fundamentalen Interessen der internationalen Gemeinschaft schützen. 326 In die letztgenannte Kategorie fallen insbesondere die Menschenrechte der Völkerrechtsordnung.
ee) Menschenrechte als Kernbestanteil des internationalen "ordre public" Im Grundsatz wird heute nicht mehr bestritten, dass der Schutz der Menschenrechte eine die fundamentalen Interessen der internationalen Gemeinschaft betreffenden Angelegenheit "of international concern" geworden ist. 327 Dennoch stellt sich hier die Frage, welche Voraussetzungen Menschenrechte erfüllen müssen, um zum Bestandteil der internationalen öffentlichen Ordnung zu werden. Grundvoraussetzung für die Zuordnung einer Norm zum völkerrechtlichen ordre public ist ihr objektiver Charakter. Der objektive Charakter von Menschenrechtsverträgen wurde bereits im Jahre 1961 ausdrücklich in der viel zitierten Entscheidung der Europäischen Menschenrechtskommission Österreich v. Italien 328 hervorgehoben. Die Kommission legte dar, dass die Hohen Vertrags staaten sich mit der EMRK nicht zwecks Wahrung der jeweiligen nationalen Interessen gegenseitig Rechte und Pflichten gewähren, sondern die Ziele und Ideale des Europarats realisieren und zu diesem Zweck eine auf dem gemeinsamen Erbe aufbauende öffentliche Ordnung der freien Demokratien Europas schaffen wollten. 329 Hierbei nahm die Kommission Bezug auf die bekannte Passage in der Präambel der EMRK, welche das "gemeinsame Erbe an geistigen Gütern, politischen Überlieferungen, Achtung der Freiheit und Vorherrschaft des Gesetzes" anruft. 330 Die Pflichten und Rechte m Vgl. nur Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Bd. III, S. 52 ff.; Jaenicke, in: EPIL 11 (1995), 1348 (1349). 326 V gl. Jaenicke, in: EPIL 11 (1995), 1348 (1350). 321 Vgl. Cottier, SZIER 1999,403 (416) mit Verweis auf Ennacora, RdC 124 (1968 11), 371 ff., und Salcedo, RdC 257 (1996),35 (66), bezüglich der Domaine-reserve-Klausel des Art. 2 (7) UN-Charta. 328 EKMR, E 788/60 vom 11.1.1961, Österreich v. Italien, YB 4 (1961), 116 ff. 329 EKMR, E 788/60 vom 11.1.1961, Österreich v. Italien, YB 4 (1961), 116 (140). 330 Ebenso vertritt der Gerichtshof die Ansicht, dass die Konvention " ... creates, over and above a network of mutual, bilateral undertakings, objective obligations which, in the words of the Preamble, benefit from a collective enforcement"; vgl. EGMR, Irland v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 18.1.1978, Series A. No. 25, Ziff. 90.
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der Vertragsparteien seien nicht allein die Folge gegenseitiger Verpflichtungen, sondern auch Ausdruck einer objektiven öffentlichen Ordnung. Seit dieser bahnbrechenden Entscheidung der Europäischen Menschenrechtskornrnission bezieht sich auch der Inter-Amerikanische Menschenrechtsgerichtshof regelmäßig auf diese Passage. 331 Auch der IGH erkennt den objektiven Charakter von einigen menschenrechtlichen Normen an und zählt dazu solche zwischenstaatlichen Verpflichtungen, welche ihrer Natur nach Angelegenheit aller Staaten sind und deshalb erga omnes wirken. Hierzu gehören neben dem Genozidverbot alle fundamentalen Rechte des Menschen, wie sie etwa im gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen von 1949 mit seinen Verboten der willkürlichen Tötung, Folter, Geiselnahme und Hinrichtung ohne faires Verfahren verankert sind. 332 Die International Law Commission (ILC) beurteilt in diesem Sinne schwere und weitverbreitete Verletzungen der Verbote der Sklaverei, des Völkermordes und der Apartheid wegen ihrer grundlegenden Bedeutung für den Schutz der fundamentalen Interessen der Staatengemeinschaft als internationale Verbrechen von Staaten. 333 Der objektiv-rechtliche Charakter dieser Schutznormen erklärt sich aus Art. 40 m des Entwurfes zur Staatenverantwortlichkeit, wonach durch ein "internationales Verbrechen" alle Staaten der internationalen Staatengemeinschaft als verletzt anzusehen sind. Jenseits dieser nur auf allerschwersten Verletzungen beruhenden internationalen Verbrechen erkennt die ILC auch den objektiv-rechtlichen Charakter solcher Normen an, die im Rahmen eines multilateralen Vertrages vereinbart wurden und dem kollektiven Interesse aller Vertragsparteien dienen. Hierzu zählen insbesondere multilaterale Verträge zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten. 334 Der öffentlich-rechtliche Cha331 Vgl. I-AGMR, Gutachten Nr. OC-2/82 vom 24.9.1982, EuGRZ 1984,202 (206)Wirkung von Vorbehalten auf das Inkrafttreten der AMRK; I-AGMR, Order of May 18, 1995, Jean Paul Genie Lacayo v. Nicaragua, Diss. Op. of Judge A. A. Cancado Trinidade, HRLJ 1996,107 (108,110). 332 IGH, Barcelona Traction, Light and Power Company Limited, ICJ-Reports 1970, 2 (33 f.); Nicaragua (Military and Para-Military Activities in and against Nicaragua), ICJReports 1986, 14 (218), wo der Gerichtshof feststellt, dass die Garantie des Art. 3 GFK gewohnheitsrechtlich gelte und die Konventionen auch außerhalb ihres vertraglichen Anwendungsbereiches (nicht-internationaler Konflikt) zu beachten sei; vgl. auch schon IGH, Corfu Channel, ICJ-Reports 1949,4 (22), wo der Gerichtshof noch allgemein von "elernentary considerations ofhumanity" sprach, welche allerdings von den Staaten injeder Situation zu beachten seien. 333 Absatz 2 lautet: "An internationally wrongful act which results from the breach by a State of an international obligation so essential for the protection of fundamental interests of the international cornmunity that its breach is recognized as a crime by that cornmunity as a whole constitutes an international crime." Absatz 3 lautet: "Subject to paragraph 2, and on the basis of the mIes of internationallaw in force, an international crime may result, inter alia, from: ... a serious breach on a widespread scale of an international obligation of essential importance for safeguarding the human being, such as those prohibiting slavery, genocide and apartheid." Vgl. Draft Articles on State Responsibjlity, ILC Report 1996, . 334 Vgl. Art. 40.
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Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
rakter von "Verträgen mit humanitärem Charakter", zu denen auch die Menschenrechtskonventionen zählen,335 kommt schließlich auch in Art. 60 V WVK zum Ausdruck, wonach selbst erhebliche Vertrags verletzungen einer Partei andere Vertragsparteien nicht zur Beendigung oder Suspendierung solcher Verträge berechtigen. 336 Statt dessen werden in den Menschenrechtskonventionen die Möglichkeit der Suspendierung der Vertragspflichten auf Notstandsituationen beschränkt und die Vertragsparteien bei schweren Vertragsverletzungen durch einen Vertragspartner auf den Weg der Staatenbeschwerde verwiesen. Im Ergebnis herrscht damit Einigkeit darüber, dass die Menschenrechte das am weitesten entwickelte Gebiet des öffentlichen Völkerrechts und damit die wesentlichste Grundlage für die Anerkennung eines völkerrechtlichen ordre public sind. 337 b) Auswirkungen auf die völkerrechtliche Normenhierarchie Während das innerstaatliche Recht regelmäßig eine Rangordnung der verschiedenen Rechtsnormen enthält, existiert im Völkerrecht keine dem innerstaatlichen Recht vergleichbare Normenhierarchie. 338 Aus der von Art. 38 I lit. a)-d) IGH-Statut vorgegeben Reihenfolge kann indes kein unmittelbarer Rückschluss auf das Verhältnis zwischen den dort aufgeführten Rechtsquellen gezogen werden. 339 Vielmehr fehlt es an formalen, auf alle Konfliktfälle anwendbare Kollisionsregeln, so dass die Auflösung eines Konfliktes zwischen verschiedenen völkerrechtlichen Normen regelmäßig Schwierigkeiten bereitet. Einzig die nachrangige Bedeutung der "richterlichen Entscheidungen" und der "Lehrmeinung der fähigsten Völkerrechtler" wird durch den Wortlaut der Bestimmung/41) in dem von "Hilfsmitteln zur Feststellung von Rechtsnormen" die Rede ist, deutlich. Trotz des Fehlens eines hierarchischen Verhältnisses der formalen Quellen des Völkerrechts m V gl. nur Sinclair, Vienna Convention, S. 190; Suy, in: FS Mosler (1983), 939 ff Hierzu Kälin, in: BDGVR 33 (1994), 9 (10 f.); Verdross/Simma, Völkerrecht, §§ 813 f; vgl. dazu auch I-AGMR, Gutachten Nr. OC-2/82 vom 24.9.1982, EuGRZ 1984, 202 (206). 337 Vgl. Kälin, in: BDGVR 33 (1994),9 (16,18 f., 21, 25 f); Kokott, in: BDGVR 38 (1998), 71 (79); dies.lHoffmeister, AJIL 1996, 664 (666). 338 Zur Frage der Existenz einer Normenhierarchie im Völkerrecht siehe Meron, AJIL 80 (1986), I ff.; WeileriPaulus, EJIL 8 (1997), 545 ff mit umfangreichen Nachweisen zu den rechtstheoretischen Ansätzen der Begründung einer entsprechenden Normenhierarchie im Völkerrecht; siehe auch Jaenicke, in: WVR, Bd. III, 766 (773); Karl, in: EPIL IV (2000), 935 ff.; Nguyen QuoclDaillier/Pellet, Droit international public, S. 106; für eine Hierarchie Akehurst, BYIL 47 (1974/75), 273 ff.; Bos, NILR 25 (1978),334 ff.; Monaco, in: EPIL IV (2000), 467 ff. 339 Vgl. Jaenicke, in: WVR, Bd. III, 766; Mosler, RdC 140 (l974-IV), I (99); Nguyen Quocl DaillierlPellet, Droit international public, S. 106. 340 Den Ausgangspunkt der Auslegung völkerrechtlicher Verträge bildet der Wortlaut der entsprechenden Bestimmung. vgl. nur Art. 31 II WVK. 336
D. Einschränkbarkeit völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte
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lässt sich eine Hierarchie der Rechtsquellen nachweisen. So wird im völkerrechtlichen Schrifttum zwischen einer willkürlichen und einer strukturellen Form unterschieden. Unter einer willkürlichen Hierarchie versteht man Normenkonflikte, bei denen die Anwendung konkurrierender Verträge auf dem Willen der Vertragsstaaten beruhen, ohne dass es auf den Inhalt der Normen ankommt. 341 Den Begriff der strukturellen Hierarchie verknüpft man indes mit der vorstehend dargestellten zunehmenden Institutionalisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen, wie sie sich in der Entstehung des internationalen ordre public äußert. 342 Aus den ihm zuzurechnenden Normen und ihren Funktionen, die sie innerhalb dieser Ordnung wahrnehmen, ergäbe sich eine entsprechende strukturelle Hierarchie. 343 Insbesondere letztere, die vielleicht besser als funktionelle Hierarchie bezeichnet werden sollte, könnte zu einer Lösung der im Rahmen dieser Arbeit entscheidenden und bereits mehrfach berührten Frage führen, ob und in welchem Umfang völkerrechtliche Menschenrechte die staatliche Dispositionsbefugnis im Bereich der internationalen Rechtshilfe einschränken und mit welchen Folgen ein möglicher Verstoß verbunden ist.
aa) Absoluter Vorrang von "lus-cogens"-Normen Die auch völkergewohnheitsrechtlich geltende Bestimmung des Art. 53 WVK, wonachjede andere Norm des Vertrags- oder Völkergewohnheitsrechts nichtig ist, die mit einer lus-cogens-Norm unvereinbar ist, führt zu einem absoluten Vorrang der lus-cogens-Normen gegenüber den restlichen völkerrechtlichen Normen. Artikel 53 WVK vermittelt den Eindruck, dass Verträge generell im Rang unter Normen stehen, die anderen Rechtsquellen entstammen. 344 Auch werden das Völkergewohnheitsrecht und die allgemeinen Rechtsprinzipien im Schrifttum regelmäßig an die Spitze einer Hierarchie der Rechtsquellen gestellt. 345 Das bedeutet indes noch nicht, das Verträge, die gegen solche Rechtssätze verstoßen, ungültig sind. 346 Vielmehr besteht ebenso Übereinstimmung, dass die überwiegende Mehrzahl der völkerrechtlichen Normen dispositiver Natur ist. 347 Menschenrechte mit lus-cogens-Charakter verdrängen daher aufgrund ihres Ranges und der damit verVgl. nur Rouncounas, RdC 206 (1987 IV), 9 (61). Rouncounas, RdC 206 (1987 IV), 9 (61). 343 Rouncounas, RdC 206 (1987 IV), 9 (61). 344 Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 26. 345 Zum Gewohnheitsrecht in diesem Zusammenhang Kelsen, Principles of International Law, S. 314; zu allgemeinen Rechtsprinzipien Jaenicke, in: BDGVR 7 (1967), 77 (91 ). 346 Bezüglich des Gewohnheitsrechts bereits Lauterpacht, Law ofTreaties, Report, UNDoc. AlCN.4/63, YILC 1953-11,90 (154). 347 Lauterpacht, Law ofTreaties, Report, UN-Doc. AlCN.4/63, YILC 1953-11,90 (154). 341
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bundenen Intensität der Verpflichtung alle anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen eines Staates. 348
bb) Völkervertragliche Derogationsverbote bzw. Kollisionsklauseln Neben Art. 53 WVK gibt es noch weitere völkervertragliche Derogationsverbote bzw. Kollisionsklauseln. 349 So kann in solchen völkerrechtlichen Verträgen eine Einschränkung der staatlichen Dispositionsbefugnisse gesehen werden, in denen entweder explizit ein Vorrang vor älteren Verträgen erklärt wird oder in denen sich die Vertragsstaaten verpflichten, keine von den Bestimmungen des Vertrages abweichende Vereinbarungen zu treffen. 350 Hierzu zählen auch solche, in der Regel multilateralen Übereinkünfte, in denen festgelegt wird, dass im Falle eines Konfliktes partikulärer Vereinbarungen mit dem entsprechenden Vertrag letzterer Vorrang habe. 351 Solche Klauseln sollen im Folgenden daher Kollisionsnormen genannt werden, da sie festlegen, welches Recht bei konkurrierenden vertraglichen Verpflichtungen gelten soll.352 Im Gegensatz zum ius cogens zieht eine Kollision mit einem solchen Vertrag keine Nichtigkeit der widersprechenden Willenserklärung, Hoheitsmaßnahme oder Vertragsbestimmung nach sich, sondern bewirkt einen Anwendungsvorrang des gesamten Vertrages. Die Kollisionsnormen multilateraler Konventionen wie der Art. 103 UN-Charta sichern dadurch dem ganzen Vertragszweck einen Anwendungsvorrang und damit die Integrität der durch sie geschaffenen Organisation und der von ihr verfolgten Ziele. 353 Neben solchen Kollisionsklauseln in völkerrechtlichen Verträgen finden sich auch Bestimmungen, die einen Minimalbestand von Vertragspflichten festlegen, von den die Vertragsstaaten auch bei Kündigung durch einen Beteiligten, in Notstandssituationen oder nach Vertragsverletzungen anderer Partnerstaaten nicht entbunden werden können. Es handelt sich hierbei um Vertragsbestimmungen, die die Einhaltung bestimmter materieller Pflichten garantieren sollen und demzufolge Kernschutzbestimmungen genannt werden. 354 Hier sind zum Beispiel die Notstandsbestimmungen der internationalen Menschenrechtskonventionen wie Art. 4 IPbpR, 15 11 EMRK und Art. 27 11 AMRK zu nennen, die Verbote einseitiger Abweichung von Vertragspflichten enthalten. Zwar lässt sich von dem Schutz ein348
Kokott. in: BDGVR 38 (1998), 71 (77,88,89).
Hierzu und zum Folgenden ausführlich Meron. AJIL 80 (1986), 1 (3 ff.); Mus. NILR 1998,208 (209 ff.); Wilting. Vertragskonkurrenz, S. 54 ff., 65 ff. 350 Hierzu Kadelbach. Zwingendes Völkerrecht, S. 27 ff. 351 Siehe vor allem Art. 103 UN-Charta. 352 So Kadelbach. Zwingendes Völkerrecht, S. 27. 353 Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 29. 354 Kadelbach. Zwingendes Völkerrecht, S. 28. 349
D. Einschränkbarkeit völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte
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zelner Vertragsbestimmungen durch solche Notstandsklauseln nicht etwa auf den zwingenden Charakter dieser Vertragsverpflichtungen schließen,355 da die Notstandsbestimmungen ja durch Kündigung oder Vorbehalte ausgeschlossen werden können, doch muss im Einzelfall geprüft werden, ob die durch die Notstandsbestimmungen geschützten Normen der Menschenrechtskonventionen nicht zugleich Pflichten des (zwingenden) Gewohnheitsrechts sind. 356 Im Gegensatz zu Verträgen mit Kollisionsnormen zielen Verträge mit Kernschutzbestimmungen nicht etwa auf den Schutz des organisatorischen Rahmens der beteiligten Staaten ab. Statt dessen heben die Verbote partikulärer Vereinbarungen und einseitiger Abweichungen insbesondere des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechtspakte auf den Schutzbereich und den materiellen Gehalt einiger Bestimmungen innerhalb des von ihnen geregelten Normenkomplexes ab, von welchen nur unter erschwerten Bedingungen abgewichen werden darf. Dies lässt sich allein mit der höheren Wertigkeit der zu schützenden Rechte erklären, weshalb alle Arten von Vorrangklauselnjedenfalls ein Indiz sein können für das Vorliegen eines entsprechenden ius cogens. Kollisionsklauseln wie in Art. 103 UN-Charta sind indes nicht in den internationalen Menschenrechtsinstrumenten enthalten. Statt dessen finden sich in ihnen nur die genannten Kernschutzbestimmungen.
ce) Verbot von Verträgen zu Lasten Dritter Der völkerrechtlichen Vertragsautonomie der Staaten wird des Weiteren durch den allgemeinen Rechtsgrundsatz, dass Rechte dritter Staaten der Dispositionsbefugnis der Vertragspartner entzogen sind, eine materielle Grenze gesetzt. Entsprechende Verträge zu Lasten Dritter sind daher für die Betroffenen" res inter alios actae d. h. unverbindlich. 357 Im Unterschied zur Rechtsfolge eines Verstoßes gegen eine lus-cogens-Norm zieht die Nichtbeachtung des Verbotes, Verträge zu Lasten Dritter zu schließen, nicht die Nichtigkeit des gesamten Vertrages mit sich, sondern bleibt nur für den belasteten Staat rechtlich unverbindlich und wirkungslos. Für die Vertrags partner bleibt der Vertrag indes formal bestehen, auch wenn er in Teilbereichen nicht vollzogen werden darf. 358 H,
Vgl. die lLC im Kommentar über den Vorentwurf zur späteren WVK, YlLC 1966-II, 248. Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 29. 357 V gl. Art. 34 WVK, der dem Gewohnheitsrecht zuzuordnen ist, vgl. Sinclair, Vienna Convention, S. 98 ff. 358 Siehe CrawJord, Creation of States, S. 80; Sinclair, Vienna Convention, S. 98 ff. 355
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Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
dd) Eingeschränkte Dispositionsfreiheit auch über einfaches Völkergewohnheitsrecht Am Ende der völkerrechtlichen Normenpyramide stehen indes die völkergewohnheitsrechtlichen Normen, die nicht die erhöhte Geltungskraft zwingenden V ölkerrechts aufweisen. Über sie könne grundsätzlich frei disponiert werden. Das gelte auch für die einfachen völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte und den fremdenrechtlichen Mindeststandard, Normen von welchen unter erleichterten Bedingungen abgewichen werden kann, insbesondere aufgrund von Verträgen. 359 Trotz ihres Erga-omnes-Charakters berechtige ein (drohender) Verstoß gegen dispositive Menschenrechte nicht zu Repressalien und "nicht ohne weiteres" zur Nichteinhaltung von anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen wie Auslieferungs verträgen. 360 Ein Verstoß gegen eine Erga-omnes-Verpflichtung führt grundsätzlich nicht zur Nichtigkeit des staatlichen Handeins oder der staatlichen Willenserklärung, kann jedoch Anlass geben zu spezifischen Prozeduren oder Sanktionen durch internationale Organisationen oder zur Nichtanerkennung der Rechtsfolgen des (widrigen) Tätigwerdens. 361 Aus der Qualifizierung einer Norm als objektivrechtlich ergeben sich für die Reichweite und Bindungswirkung folgende Konsequenzen: die Einhaltung der Menschenrechte mit Erga-omnes-Charakter kann kollektiv durchgesetzt werden; die Staatengemeinschaft ist darüber hinaus zur Sanktion von Menschenrechtsverletzungen verpflichtet; aus dem Erga-omnesCharakter fließen staatliche Schutzpflichten, die den Staat zum entsprechenden Individualschutz verpflichten (Drittwirkung); schließlich stellen objektiv-rechtliche Menschenrechte den Maßstab und die Schranke für die internationalen Beziehungen dar. 362 Eine wichtige Folge der Zuordnung einer menschenrechtlichen Norm zum völkerrechtlichen ordre public ist die Möglichkeit aller dieser öffentlichen Ordnung unterworfenen Staaten, unabhängig von der eigenen Betroffenheit gegen eine Verletzung dieser Norm vorgehen zu können. 363 In diesem Sinne entKokott, in: BDGVR 38 (1998), 71 (86, 88, 89). So Kokott, in: BDGVR 38 (1998),71 (89). 361 Jaenicke, in: EPIL 11 (1995), 1348 (1349), vgl. hierzu auch Frowein, in: EPIL III (1997), 757 (758); insbesondere zur völkerrechtlichen Verantwortlichkeit für Menschenrechtsverletzungen Dinstein, in: FS Bemhardt (1995), 331 (339 ff.); Ermacora, in: FS Verdross (1980),357 ff.; Verdross/Simma, Völkerrecht, § 1262 ff. mit Verweis aufILC; zur Durchsetzung von Erga-omnes- Verpflichtungen siehe IGH, Barcelona Traction, Light and Power Company Limited, IO-Reports 1970, 3 (32); Frowein, in: FS Mosler (1983),241 ff.; Delbrück, in: Liber amoricum Günther laenicke (1998), 17 ff. 362 Vgl. Kokott, in: BDBVR 38 (1998), 71 (80 ff.). 363 Kälin bezeichnet daher die kollektive Durchsetzbarkeit als "erste Dimension der objektiven Geltung der Menschenrechte", vgl. Kälin, in: BDGVR 33 (1994), 9 (13); siehe auch Frowein, in: Collected Courses of the Academy of European Law 1990, Bd. 1-2 (1992), 267 (280). 359
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D. Einschränkbarkeit völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte
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spricht es dem, von der Europäischen Menschenrechtskommission hervorgehobenen, objektiven Charakter der in der EMRK niedergelegten Rechte und Pflichten,364 dass alle Vertragsparteien ungeachtet ihrer Beziehung zu den Opfern VOn Konventionsverletzungen Staatenbeschwerde gemäß Art. 24 EMRK erheben können. 365 Die kollektive Durchsetzbarkeit der von der Konvention geschaffenen objektiven Verpflichtungen wurde in späteren Fällen sowohl VOn der Kommission 366 als auch vom Gerichtshof367 bestätigt. Die Möglichkeit der kollektiven oder einzelstaatlichen Durchsetzbarkeit von Menschenrechten folgt konsequenterweise aus der Annahme, dass die Verletzung von erga omnes wirkenden Verpflichtungen die Interessen und Rechte aller Staaten verletzt. 368 Dies spiegelt sich auch in Art. 40 11 lit. e) und f) des Entwurfes der International Law Commission (ILC) zur Staatenverantwortlichkeit wider. 369 Sie findet sich in Form der Staatenbeschwerde in drei regionalen und vier universellen Menschenrechtsverträgen wieder. 370 Die Staaten werden folglich zu Garanten der "europäischen öffentlichen Ordnung". 371 In der Praxis wird das Instrument der Staatenbeschwerde jedoch selten benutzt
364 Der ordre public der EMRK umfasst prinzipiell alle Garantien des Vertragswerkes, vg!. Kälin, in: BDGVR 33 (1994),9 (11) Fn. 10. 365 Dies hatte in der zitierten Entscheidung der Menschenrechtskommission zur Folge, dass Österreich auch Ereignisse rügen konnte, die sich vor seiner Ratifikation der EMRK zugetragen hatten, vg!. EKMR, Beschwerde Nr. 788/60, YB 4 (1961),116 (140 f.); Mechanismen der kollektiven Durchsetzung auch außerhalb von Menschenrechtskonventionen, vg!. 1503-Mechanismus der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen. 366 Vg!. EKMR, Beschwerde Nr. 9116/80, Temelmatsch v. die Schweiz, Bericht vom 5.5.1982, DR 31, Ziff. 62-64,128; vg!. auch die Ausführungen der EKMR im Fall Chrysostomos u. a. v. Türkei vom 4.3.1991, ZaöRV 51 (1991), 156 ff.; hierzu Simma, in: Delbrück, International Law Enforcement (1993),135 f. 367 EGMR, Irland v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 18.1.1978, Series A, No. 25,90. 368 Kokott, in: BDGVR 38 (1998), 71 (80). 369 ILC-Entwurf zur Staatenverantwortlichkeit von 1996, Report of the ILC on State Responsability, GAOR, 51st session, Supp!. No. Al51119, . Nach Art. 40 gilt ein Staat verletzt, " ... ifthe right infringed by the act of aState arises from a multilateral treaty or from a rule of customary international law, any other State party to the multilateral treaty or bound by the relevant rule of customary international law, if it is established that: the right has been created or is established in its favour; the infringement of the right by the act of aState necessarily affects the enjoyment of the rights or the performance of the obligations of the other States parties to the multilateral treaty or bound by the rule of customary international law; or the right has been created or is established for the protection of human rights and fundamental freedoms." 370 Ausführlich Kälin, in: BDGVR 33 (1994),9 (13 f.); immer mehr internationale Konventionen enthalten Verpflichtungen, bestimmte schwere Menschenrechtsverletzungen zu bestrafen, so z. B. Art. 4 lit. a) der Internationalen Konvention zur Eliminierung aller Formen der Rassendiskriminierung. 37\ Frowein, in: Collected Courses of the Academy of European Law 1990, Bd. 1-2 (1992), 267 (281, 282).
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Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
und statt dessen auf diplomatische Mittel und Wege zurückgegriffen, einen Verstoß zu rügen. 372 Als weitere Folge ihres objektiv-recqtlichen Charakters können Menschenrechte zunehmend auch staatliche Schutzpflichten auslösen. 373 So haben die Vertragsstaaten der EMRK zunächst die primäre Verpflichtung, die spezifischen Individualrechte zu achten, was dem klassischen Grundrechtsverständnis entspricht, wonach die Grundrechte in erster Linie Abwehrrechte darstellen. In Parallele zum innerstaatlichen Verfassungsrecht, aber vor allem in Konsequenz aus der Zuordnung von Menschenrechten zum völkerrechtlichen ordre public genügt es indes nicht, dass der Staat die Verletzung von Menschenrechten unterlässt. Die umfassende Bindung an die die öffentliche Ordnung statuierenden Menschenrechte gebietet es, sie auch gegenüber Angriffen von Dritten einschließlich anderer Individuen durchzusetzen, zum Beispiel durch Maßnahmen des Gesetzgebers oder der Exekutive. 374 Der status positivus der Menschenrechte der EMRK ergibt sich zum Teil bereits aus dem Wortlaut der einzelnen Bestimmungen375 und ist im Übrigen in einer umfassenden Rechtsprechung auch für andere Bestimmungen vomEGMR herausgearbeitet worden. 376 Ähnlich wie das deutsche Bundesverfassungsgericht gesteht der EGMR dabei den Staaten allerdings den erforderlichen Beurteilungsspielraum hinsichtlich des "Wie" der Schutzpflichterfüllung zu. 377 Gerade die Individualbeschwerdeverfahren tragen zur Durchsetzung dieser Schutzpflichten bei. 378 In engem Zusammenhang mit den Schutzpflichten der Staaten steht die Frage nach der Geltung der Menschenrechte zwischen Privaten. 379 Wenngleich es soweit klar ist, dass die Bestimmungen von Menschenrechtskonventionen keine unmittelbaren Rechte und Pflichten zwischen Privaten aufstellen, so beeinflussen sie doch als Teil einer öffentlichen Ordnung das Ver372 Hierzu nur Frowein, in: Collected Courses of the Academy of European Law 1990, Bd. 1-2 (1992), 267 (281 ff.); Kälin, in: BDGVR 33 (1994),9 (14,17). 373 Ausführlich in diesem Zusammenhang Kälin, in: BDGVR 33 (1994), 9 (27 ff.); Kokott, in: BDGVR 38 (1998), 71 (80). 374 V gl. Kälin, in: BDGVR 33 (1994), 9 (29). 375 So lautet Art. 2 1 EMRK, das das "Recht jedes Menschen auf das Leben [ ... ] gesetzlich geschützt" wird. Der innerstaatliche Gesetzgeber ist mithin aufgefordert, das Recht auf Leben durch spezielle Gesetze zu schützen. 376 Vgl. EGMR, Marckx v. Belgien, Urteil vom 13.6.1978, Series A, No. 31, Ziff. 14 f. = EuGRZ 1979,454; lohnston u. a. v. Irland, Series A, No. 112 = EuGRZ 1987,313 (318); LOpez Ostra v. Spanien, Urteil vom 9.12.1994, Series A, No. 303-C =EuGRZ 1995, 530; A. u. a. gegen Dänemark, Urteil vom 8.2.1996, Reports 1996-1, 85 (103), § 67 = EuGRZ 1996, 192 ff.; Gustafsson v. Schweden, Urteil vom 25.4.1996, Reports 1996-11, 637, § 45; dazu Bleckmann, in: FS Bemhardt (1995), 309 ff.; Frowein, in: Collected Courses of the Academy of European Law 1990, Bd. 1-2 (1992), 267 (296 f.). 377 Kokott, in: BDGVR 38 (1998), 71 (81) m. w. N. 378 Vgl. Kälin, in: BDGVR 33 (1994), S. 9 (30). 379 Vgl. Kokott, in: BDGVR 38 (1998), 71 (81).
D. Einschränkbarkeit völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte
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hältnis zwischen Privaten. Im Ergebnis ist hieraus zu folgern, dass Erga-omnesVerpflichtungen anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen (wie z. B. aus Auslieferungsübereinkommen) entgegenstehen. Insbesondere kann eine Erga-omnesNorm die Anwendung ausländischen Rechts (durch Ablehnung eines Rechtshilfeersuchens) unmöglich machen.
III. Konsequenzen für die internationale Rechtshilfe in Strafsachen Die Untersuchung der Einschränkbarkeit völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte hat zunächst ergeben, dass Menschenrechte in der Praxis des internationalen Rechtshilfeverkehrs regelmäßig eine Einschränkung finden, soweit es um die Anerkennung ausländischer Hoheitsakte geht. Anerkannte Grenze dieser Wirksamkeitsverschaffung fremden Rechts war der innerstaatliche und der internationale ordre pub/ie. Beide werden ausgefüllt von dem völkerrechtlichen Mindeststandard an Menschenrechten, zu welchem insbesondere im Fall des vertraglichen Rechtshilfeverkehrs nur die fundamentalen Menschenrechte, namentlich das ius eogens, gezählt wird. Mangels einer völkerrechtlichen Pflicht zur Anerkennung ausländischer Hoheitsakte und aufgrund der umfassenden Bindung innerstaatlicher Behörden und Gerichte an die völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte können hierzu im Widerspruch stehende ausländische Hoheitsakte nicht uneingeschränkt anerkannt werden. Soweit es sich um die Verletzung einfacher völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte im ungebundenen Rechtshilfeverkehr handelt, ist die Anerkennung des ausländischen Hoheitsaktes zwingend zu versagen. Soweit sich die Staaten im Rahmen völkerrechtlicher Auslieferungs- und Rechtshilfeverträge verpflichtet haben, ist zunächst der Weg einer völkerrechtskonformen Auslegung zu beschreiten, um den menschenrechtlichen Verpflichtungen zur Durchsetzung zu verhelfen. Sollte dies nicht möglich sein, ist sodann zu prüfen, wie sich unter Rückgriff sowohl auf verfassungsrechtliche als auch auf völkerrechtliche Grundsätze eine Auflösung dieses Normenkonfliktes herbeiführen lässt. Der Versuch der Auflösung der immer wiederkehrenden Normenkonflikte zwischen Menschenrechten der Völkerrechtsordnung und Verträgen über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen hat zunächst ergeben, dass in der internationalen Praxis regelmäßig nur Ius-eogens-Menschenrechten Vorrang eingeräumt wird vor völkerrechtlichen Verpflichtungen zur Auslieferung und Rechtshilfe. Der Versuch, bereits auf verfassungsrechtlicher Ebene eine weitergehende Bindung der innerstaatlichen Gerichte und Behörden nachzuweisen, sah sich der Schwierigkeit ausgesetzt, dass bereits über die Zuordnung einer völkergewohnheitsrechtlichen Norm zu den "allgemeinen Regeln des Völkerrechts" im Sinne des Art. 25 GG eine Entscheidung über den Vorrang vor vertraglichen Verpflichtungen getroffen wird, welche über Art. 59 11 GG nur den Rang eines einfachen Gesetzes erlangen. Da es in Rechtsprechung und Schrifttum hochumstritten ist, ob und in welchem
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Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
Umfang auch einfache völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte von Art. 25 GG erfasst werden und darüber hinaus die Zuordnung sich ohnehin nach dem V ölkerrecht richtet, führte der Versuch der verfassungsrechtlichen Auflösung zu keinem weiteren Erkenntnisgewinn. Die Untersuchung der völkerrechtlichen Praxis und des völkerrechtlichen Schrifttums hat indes ergeben, dass zwischenstaatliche Beziehungen nach modernem Völkerrecht nicht mehr ausschließlich zur Disposition der beteiligten Staaten stehen, sondern einer Beschränkung durch Prinzipien und Normen unterliegen, die die Staatengemeinschaft insgesamt schützen und ihre Aufrechterhaltung gewährleisten sollen. Diese gemeinschaftsorientierten Prinzipien und Normen bilden eine internationale öffentliche Ordnung, den völkerrechtlichen ordre public. Er ist das Ergebnis eines neuen "öffentlichen" Völkerrechts, welches sich durch unabdingbare Prinzipien wie ius cogens sowie erga omnes geltende Verpflichtungen auszeichnet. 380 Menschenrechte sind grundSätzlich Bestandteil des völkerrechtlichen ordre public. Jedoch haben nicht alle Menschenrechte eine derart fundamentale und universale Bedeutung, dass sie anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen vorgehen. Es ist daher zu unterscheiden zwischen zwingenden und dispositiven völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechten. Allein die zwingenden Menschenrechte können uneingeschränkt zur Nichteinhaltung einer anderweitigen völkerrechtlichen Verpflichtung, wie zum Beispiel eines Auslieferungsübereinkommens, berechtigen. Aufgrund der Begrenzung auf zwingende Menschenrechte ergeben sich auf der Ebene des Völkerrechts nur wenige zwingende menschenrechtliche Grenzen für die internationale Zusammenarbeit in Strafsachen. Jedoch besitzen auch die völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte, denen nicht die zwingende Kraft des ius cogens zuzuschreiben ist, aufgrund ihrer generellen Erga-omnes-Wirkung eine erhöhte Bestandskraft. Aufgrund dieser objektivrechtlichen Geltung sind sie auch zu dem die völkerrechtlichen Beziehungen regelnden internationalen ordre public zu zählen und können unter gewissen Voraussetzungen auch vertragliche Verpflichtungen der Staaten verdrängen. Dies richtet sich vor allem danach, in welchem Verhältnis die jeweiligen Pflichten eines Staates zueinander stehen. Mit anderen Worten ist hier eine klassische Güterabwägung vorzunehmen, wie sie der innerstaatlichen Grund- und Verfassungsrechtsdogmatik bestens vertraut ist. Der entscheidende Unterschied zwischen Iuscogens- Normen und den einfachen völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte besteht folglich darin, dass ein Verstoß gegen das ius cogens zwingend zur Nichtbeachtung des jeweiligen staatlichen Handeins führen muss und ein Verstoß gegen einfache völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte eine Güterabwägung erforderlich macht. Im Ergebnis ist es daher auch möglich, dass den einfachen völker380 Zur Herausbildung eines völkerrechtlichen ordre public siehe bereits laenicke, in: BDGVR 7 (1967), 77 ff.; ders., in: EPIL 11 (1995), 1348; siehe nunmehr Kälin, in: BDGVR 33 (1994),9 ff.; Kokott, in: BDGVR 38 (1998), 71 ff.
E. Ergebnis
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gewohnheits rechtlichen Menschenrechte ein Vorrang vor der vertraglichen Verpflichtung einzuräumen ist.
E. Ergebnis Die einleitend im 5. Kapitel vorgenommene Darstellung der Systematik des völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechtsschutzes hat ergeben, dass zur ihrer Ermittlung nicht nur auf die internationale Staatenpraxis im Bereich des Fremdenrechts und des Auslieferungs- und Rechtshilferechts zurückgegriffen werden kann, sondern auf den in völkerrechtlichen Verträgen kodifizierten Bestand an Menschenrechten. ImBereich der völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte ist indes begrifflich zu differenzieren zwischen einfachem und zwingendem Völkergewohnheitsrecht. Diese Unterscheidung betrifft in erster Linie die unterschiedliche Bindungswirkung der Rechte. In jedem Fall kommt aber den völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechten bei der Kategorien Erga-omnes- Wirkung zu. Darüber hinaus sind auch die in der Praxis regelmäßig verwendeten Begriffe des völkerrechtlichen Mindeststandards und des internationalen ordre public voneinander zu unterscheiden. Während in der Praxis zum völkerrechtlichen Mindeststandard zumeist nur die Menschenrechte mit Iuscogens-Charakter gezählt werden, umfasst der internationale ordre public darüber hinaus auch einfache, völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte. Die Untersuchung des Bestands völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte hat sodann ergeben, dass sich zahlreiche subjektive Rechtspositionen des Einzelnen nachweisen lassen, die durch die internationale Rechtshilfe tangiert werden können. Insbesondere die zum ius cogens zu zählenden Menschenrechte, wie das Folterverbot oder der Anspruch auf ein faires Verfahren, werden in der Praxis häufig zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen herangezogen. Gerade in der Praxis der deutschen Rechtsprechungsorgane zum Auslieferungs- und Rechtshilferecht nehmen die völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte mit Ius-cogensCharakter einen festen Platz ein. Andere völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte, die sich ebenfalls ermitteln ließen, werden hingegen nur mit Zurückhaltung herangezogen. Das liegt zum einen an den grundsätzlichen Schwierigkeiten bei der Ermittlung von Völkergewohnheitsrecht und zum anderen an der in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen Auffassung, dass nur Menschenrechte mit Ius-cogens-Charakter eine vertragliche Verpflichtung zu Auslieferungs- und Rechtshilfemaßnahmen verdrängen können. Da es Anliegen dieser Untersuchung war, diese Rechtsauffassung kritisch zu hinterfragen, wurden im nächsten Schritt die Voraussetzungen untersucht, die an hoheitliches Tätigwerden zu stellen sind, um von einem Eingriff in völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte sprechen zu können. Hier wurde zunächst
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Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
festgestellt, dass bei den menschenrechtsrelevanten Hoheitsakten im Bereich des internationalen Rechtshilfeverkehrs beachtet werden muss, dass nicht alle Maßnahmen gleichermaßen geeignet sind, in völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte einzugreifen. Insbesondere der völkerrechtliche Vertragsschluss als solcher erweist sich in der Praxis als wenig relevant für den Bestand der völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte. Vielmehr sind es die innerstaatlichen Ausführungsmaßnahmen, die in völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte eingreifen können. Bei der Frage, ob jeder Eingriff zugleich eine Verletzung des völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechts darstellt, gilt des Weiteren zu beachten, dass das Völkergewohnheitsrecht im Grunde dispositiver Natur ist und somit staatlichem Handeln nur bedingt Grenzen auferlegen kann. U nproblematisch kann ein Eingriff bejaht werden, soweit das betroffene Menschenrecht die Qualität von ius cogens aufweist. In einem solchen Fall ist der entsprechenden Durchführungsmaßnahme sowohl auf innerstaatlicher wie auf völkerrechtlicher Ebene die Anerkennung zu versagen. Bei den einfachen Menschenrechten des Völkergewohnheitsrechts ist indes zu prüfen, ob es sich bei der hoheitlichen Maßnahme um einen unzulässigen Eingriff oder eine zulässige Disposition handelt. Dabei gilt indes stets zu beachten, dass den Menschenrechten eine Ergaomnes-Wirkung zukommt, die einer willkürlichen Disposition entgegenstehen. Nationale Behörden und Gerichte können daher nicht ohne weiteres (einseitig) über nachgewiesene völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte disponieren. Sie sind vielmehr sowohl völkerrechtlich als auch innerstaatlich, in der Bundesrepublik Deutschland über Art. 25 GG, umfassend an die Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts gebunden. Die umstrittene Frage, ob völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte aufgrund einer völkervertraglichen Auslieferungs- und Rechtshilfeverpflichtung zurücktreten muss, ist aber keine Frage des Eingriffs, sondern der Rechtfertigung. Eine Frage des Eingriffs stellt indes das Problem der Zurechenbarkeit von hoheitlichen Eingriffen anderer Staaten dar. Grundsätzlich sind unmittelbare Hoheitsakte fremder Staaten nicht als eigene Eingriffe zuzurechnen. Indes gilt zu beachten, dass gerade im Bereich der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen ausländische Hoheitsakte einen Teil der "arbeitsteilig durchgeführten internationalen Strafverfolgung" darstellen. Indem ein Staat einen Straftäter an einen anderen Staat ausliefert, in welchem er gefoltert wird, ist der ausliefernde Staat mittelbar an der Verletzung des Folterverbotes beteiligt. Umgekehrt kann er auch durch die Anerkennung eines gegen die Grundsätze des fairen Verfahrens verstoßenden Urteils als Voraussetzung für eine Auslieferung oder sonstige Rechtshilfemaßnahme dem völkerrechts widrigen Verhalten eines fremden Staates auf dem eigenen Territorium Geltung verschaffen. Hier hat die Untersuchung von Rechtsprechung und Schrifttum zu dem Ergebnis geführt, dass die objektivrechtliche Bedeutung und der Erga-omnes-Charakter der Menschenrechte dem Staat und seinen Organen völkerrechtliche Schutzpflichten auferlegen, die ihm
E. Ergebnis
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im Einzelfall verbieten, einen ausländischen völkerrechts widrigen Hoheitsakt anzuerkennen bzw. durch die Vornahme einer Auslieferungs- oder Rechtshilfemaßnahme zu ermöglichen. Dies gilt grundsätzlich sowohl für einfache als auch für zwingende völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte. Jedoch kann es im Fall des vertragsgebundenen Rechtshilfeverkehrs fraglich sein, ob die völkerrechtliche Pflicht zum Schutz der Menschenrechte nicht im Rang unter der völkerrechtlichen Verpflichtung zur Vornahme der entsprechenden Rechtshilfemaßnahme steht. Dieser regelmäßig wiederkehrende Normenkonflikt ist indes erneut eine Frage der Rechtfertigung des konkreten Eingriffs. So kann die Rechtswidrigkeit eines Eingriffs in völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte etwa dadurch entfallen, dass ein Staat völkerrechtlich verpflichtet ist, ausländische Hoheitsakte anzuerkennen. Hier ergab die Untersuchung der einschlägigen Rechtsprechung und des Schrifttums, dass diese Anerkennung unter dem Vorbehalt sowohl des internationalen als auch des innerstaatlichen ordre public steht. Beide werden ausgefüllt durch den gesicherten Bestand an völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechten, so dass die Anerkennung eines ausländischen Hoheitsaktes zu verweigern ist, wenn er unter Verstoß gegen konkrete Menschenrechte zustande gekommen ist. Soweit sich hier die bereits angesprochenen Normenkonflikte ergeben, sind diese entweder nach verfassungsrechtlichen oder nach völkerrechtlichen Kriterien aufzulösen. Der Versuch einer verfassungsrechtlichen Auflösung dieser Normenkonflikte hat ergeben, dass in Rechtsprechung und Schrifttum allein den Menschenrechten des ius cogens Vorrang vor den jeweiligen vertraglichen Verpflichtungen zur internationalen Rechtshilfe eingeräumt wird. Dies ergibt sich innerstaatlich aus dem Rang des ius cogens, welches als "allgemeine Regel des Völkerrechts" gemäß Art. 25 Vorrang vor den über Art. 5911 GG ins innerstaatliche Recht inkorporierten vertraglichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland erlangt. Jedoch lässt sich keine Einigkeit in Rechtsprechung und Schrifttum zu der Frage finden, ob auch einfache völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte über Art. 25 GG Eingang in die innerstaatliche Rechtsordnung finden. Daher hat die Untersuchung der Rechtsprechung und des Schrifttums keinen Erkenntnisgewinn gebracht. Da es darüber hinaus völkerrechtlich unzulässig ist, sich völkerrechtlichen Verpflichtungen unter Berufung auf entgegenstehendes Recht zu entziehen, war diese Streitfrage der Zuordnung und der innerstaatlichen Reichweite der völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte unter Rückgriff auf völkerrechtliche Kriterien zu klären. Dieser Versuch der völkerrechtskonformen Auflösung der Normenkonflikte hat schließlich ergeben, dass die völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte einer internationalen öffentlichen Ordnung, dem internationalen ordre public, angehören. Aus der Funktion des internationalen ordre public und dem Geltungsanspruch und der Reichweite der völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte ergeben sich völkerrechtliche Grenzen für den internationalen
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Teil 2, 5. Kap.: Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts
Rechtshilfeverkehr in Strafsachen auf zwei verschiedenen Ebenen. Zum einen wirken sich die gewohnheitsrechtlichen Menschenrechte begrenzend auf die völkerrechtliche Vertragsfreiheit der Staaten aus. So sind die Staaten beim Abschluss von Auslieferungs- und Rechtshilfeübereinkommen ebenso wie bei der Interpretation und Anwendung von bestehenden vertraglichen Pflichten an völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte gebunden. 381 Dies wirkt sich dergestalt aus, dass keine Vertragsbestimmungen geschaffen werden dürfen, die im Widerspruch zu einer Norm des völkerrechtlichen ius cogens stehen. Ein Zuwiderhandeln hat die Nichtigkeit des gesamten Vertrages zur Folge. Vertragsbestimmungen hingegen, die mit einer sonstigen völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechtsnorm im Widerspruch stehen, sind darauf zu untersuchen, ob die Vertragsstaaten zielgerichtet über ein bestehendes völkergewohnheitsrechtliches Menschenrecht disponieren wollten. Nur in einem solchen Fall kann davon ausgegangen werden, dass die konkrete Rechtsposition des Einzelnen ihre völkerrechtliche Geltung in und zwischen den Vertragsstaaten verloren hat. Dies liegt in der grundsätzlich dispositiven Natur des Völkergewohnheitsrechts begründet. Ergibt die Auslegung des Vertrages indes nicht diese gewollte und zielgerichtete Disposition über das Menschenrecht, dann haben insbesondere die innerstaatlichen Behörden und Gerichte den Vertrag völkerrechtskonform auszulegen und anzuwenden. Anders gestaltet sich die Situation im Falle eines menschenrechtlich neutralen Vertrages, wenn die innerstaatlichen Durchführungsmaßnahmen zur Verletzung völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechte führt. Hier gilt für das ius co gens das bereits Gesagte, namentlich, dass der entsprechende Staat sowie dessen Behörden und Gerichte ungeachtet der völkerrechtlichen Verpflichtung aus dem Auslieferungs- oder Rechtshilfevertrag der lus-cogens-Norm Vorrang einzuräumen haben. Dies ergibt sich aus der völkerrechtlichen Normenhierarchie, an deren Spitze die lus-cogens-Normen stehen. Diese völkerrechtliche Bewertung wirkt schließlich auch auf der innerstaatlichen Ebene fort. Die verfassungsrechtliche Auflösung dieses Normenkonfliktes kommt zum gleichen Ergebnis. Soweit völkergewohnheitsrechtliche Menschenrechte, die nicht den zwingenden Charakter des ius cogens aufweisen, im Konflikt mit vertraglichen Verpflichtungen eines Staates stehen, ist festgestellt worden, dass sich jedenfalls aus der Ergaomnes-Wirkung der Menschenrechte die Verpflichtung des Staates, insbesondere der rechtsanwendenden Behörden und Gerichte, ergibt, eine Güterabwägung vorzunehmen. Aus dem fehlenden Charakter einer zwingenden Verpflichtung kann indes nicht (mehr) geschlossen werden, dass die einfachen völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte zur freien Disposition stünden. Vielmehr sind auch sie Bestandteil einer sich immer weiter konkretisierenden internationalen öffentlichen Ordnung, eines internationalen ordre public, welche völkerrecht38\
kehr.
Gleiches gilt natürlich auch für den vertragsfreien Auslieferungs- und Rechtshilfever-
E. Ergebnis
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liehe Prinzipien und Grundsätze enthält, deren Einhaltung von fundamentaler Bedeutung für die gesamte Staatengemeinschaft ist. Hierzu zählen insbesondere die völker(gewohnheits)rechtlichen Menschenrechte.
26 Ziegenhahn
Sechstes Kapitel
Menschenrechte des Vertragsrechts als Schranken der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen am Beispiel der EMRK Nachdem nunmehr die völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechte eingängig auf ihre Funktion als Grenzen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen untersucht wurden, sollen im folgenden Kapitel die Menschenrechte des Vertragsrechts einer entsprechenden Analyse unterzogen werden. Auch hierbei steht nach den Ergebnissen des 4. Kapitels nicht mehr die Frage im Vordergrund, ob die Menschenrechte des Vertragsrechts Anwendung finden, sondern in welchem Umfang sie die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen beschränken können. Hierfür soll zunächst einleitend ein kurzer Überblick über die Systematik des Menschenrechtsschutzes, wie er der vorliegenden Arbeit zugrunde gelegt wird, geschaffen werden (A). Im Anschluss sollen die Schutzbereiche der einschlägigen Menschenrechte im Hinblick auf Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen untersucht werden (B). Schließlich stellen sich analog zu den Prüfungspunkten im Rahmen des Völkergewohnheitsrechts die Fragen der Eingriffsqualität hoheitlichen HandeIns (C) und der rechtsquellenspezifischen Einschränkbarkeit der jeweiligen Menschenrechte, denn nicht jeder Eingriff in vertragliche Menschenrechte ist gleichzusetzen mit deren Verletzung (D). Neben den konventionsimmanenten Schranken der Anwendbarkeit vertraglicher Menschenrechte soll sich auch in diesem Kapitel umfassend der entscheidenden Frage nach der Auflösung von Normenkollisionen zwischen den vertraglichen Menschenrechtsverpflichtungen und konkreten Verpflichtungen aus Auslieferungsund Rechtshilfeverträgen gewidmet werden (E).
A. Systematik des völkervertraglichen Menschenrechtsschutzes I. Abgrenzung der völkervertraglichen Rechtsquellen der Menschenrechte Wie bereits im ersten Teil dieser Untersuchung dargestellt wurde, existieren zahlreiche völkerrechtliche Menschenrechtsverträge. Die einzige allgemeine Menschenrechtskonvention mit universellem Geltungsanspruch ist der IPbpR. Aufgrund ihrer selbständigen Rechtsschutzsysteme haben jedoch vor allem die regio-
A. Systematik des völkervertraglichen Menschenrechtsschutzes
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nalen Menschenrechtsinstrumente, insbesondere die EMRK, eine herausragende Bedeutung für den Individualrechtsschutz des Einzelnen erlangt. Daher und aufgrund des generellen Schwerpunkts dieser Untersuchung auf der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen in Europa soll im Rahmen der folgenden Untersuchung der Reichweite völkervertraglicher Menschenrechte als Schranken der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen der Schwerpunkt auf die EMRK gelegt werden. Soweit es sich als sinnvoll und erforderlich erweist, um allgemeine Grundsätze zu ermitteln, soll hierbei auch auf die übrigen Menschenrechtsinstrumente verwiesen werden.
11. Methodisches Vorgehen bei der Ermittlung der Menschenrechte der EMRK Die EMRK ist nicht speziell darauf zugeschnitten, die internationale Zusammenarbeit in Strafsachen aus der Sicht des Individuums zu beschränken. l Insbesondere erlaubt Art. 5 Nr. Ilit. f) EMRK ausdrücklich die rechtmäßige Festnahme eines Menschen, wenn "er von einem gegen ihn schwebenden Auslieferungsverfahren betroffen ist." Daraus kann geschlossen werden, dass eine Auslieferung grundSätzlich erlaubt ist. Auch enthält die EMRK keine dem Art. 2 I GG entsprechende Auffangnorm,2 wonach die allgemeine Handlungsfreiheit des Einzelnen geschützt wird. Dennoch kann seit dem Urteil des EGMR im Fall Soering als gesichert gelten, dass auf Maßnahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen jedenfalls Art. 3 und Art. 6 EMRK Anwendung finden. 3 Die jüngere Rechtsprechung des EGMR bestätigt, dass über diese beiden Konventionsgarantien hinaus grundsätzlich auch die übrigen Bestimmungen der EMRK auf den internationalen Rechtshilfeverkehr Anwendung finden können. 4 Daher sind im Folgenden alle möglicherweise einschlägigen Konventionsrechte auf ihre Eignung als Grenzen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen zu untersuchen, denn nicht alle Menschenrechte der EMRK eignen sich gleichermaßen zur Beschränkung der 1 van den Wyngaert. in: EserlLagodny. Principles. S. 489 (491); vgl. auch ZühlkeiPastille. ZaöRV 59 (1999), 749 (755 ff., 766), die nach einer umfassenden Auslegung der EMRK und unter Rückgriff auf die Rechtsprechung der Konventionsorgane zu dem Ergebnis kommen, dass "all rights laid out in the Convention can control extradition"; einschränkend indes Dugard/van den Wyngaert, AJIL 92 (1998), 187 (205), nach denen sich aus der Untersuchung der Rechtsprechung ergäbe. dass "not all human rights qualify as potential obstacles to extradition"; in Betracht kämen jedoch "the dead penalty, torture, cruel, inhuman or degrading treatment or punishment, discrirnination, the right to a fair trial and the right to privacy", vgl. ebd., S. 195 ff. 2 Hierzu auch Lagodny, Rechtstellung des Auszuliefernden, S. 97. J Vgl. im Einzelnen bereits oben 4. Kapitel, S. 275 ff.; hierzu auch BreitenmoserlWilms, Mich. J.Int'l L. 11 (1990), 845 (883 ff.), die das Soering-Urteil so interpretieren, dass grundsätzlich alle Konventionsgarantien auf die Auslieferung Anwendung finden können. 4 Vgl. im Einzelnen bereits oben 4. Kapitel, S. 275 ff.
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Teil 2, 6. Kap.: Menschenrechte des Völkervertragsrechts
grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen. Zur Ermittlung der Reichweite der einzelnen Konventionsrechte soll neben der Auslegung des Normtextes insbesondere die Rechtsprechungspraxis der Konventionsorgane, aber auch die der innerstaatlichen Gerichte der Bundesrepublik Deutschland und anderer Konventionsstaaten herangezogen werden. 5
111. Übersicht über die möglicherweise einschlägigen Konventionsrechte Analog zu den völkergewohnheitsrechtlichen Menschenrechten können auch die Menschenrechte der EMRK in drei Gruppen eingeteilt werden, namentlich die Persönlichkeitsrechte, die prozessualen Garantien und die Gleichheitsrechte. 6 Zu den für den internationalen Rechtshilfeverkehr bedeutsamen Persönlichkeitsrechten zählen vor allem der Schutz des Lebens (Art. 2 EMRK und 6. ZP-EMRK) und das Verbot von Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung und Strafe (Art. 3 EMRK). Des Weiteren zählen zu dieser Kategorie das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK) und das Gebot der Achtung der Privatsphäre (Art. 8 EMRK). Zu den prozessualen Garantien zählen insbesondere der zahlreiche Grundsätze eines fairen Verfahrens umfassende Art. 6 EMRK sowie die Rechtsschutzgarantie des Art. 13 EMRK. Auch das Rückwirkungsverbot des Art. 7 EMRK kann eine eigenständige Bedeutung für den internationalen Rechtshilfeverkehr erlangen. Zu der dritten Gruppe der Gleichheitsrechte ist einzig das Verbot der Diskriminierung (Art. 14 EMRK) zu zählen. Im Übrigen soll innerhalb dieser Kategorie geprüft werden, ob sich aus der EMRK sonstige Rechte des Einzelnen im Auslieferungs- und Rechtshilfeverfahren ergeben. Hier kann insbesondere geprüft werden, ob die regelmäßig in den Rechtshilfeübereinkommen geregelten traditionellen Auslieferungshindernisse (jedenfalls zum Teil) nicht auch von der EMRK erfasst werden. S Einen umfassenden Überblick über die Konventionsrechte geben die Kommentierungen zur EMRK von FroweiniPeukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRKKommentar, 1996; Golsong/Karl/Miehsler/PetzoldiRoggelVogler/Wildhaber. Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Loseblattsammlung, 1996; Harris/O'Boyle/Warbrick. Law of the European Convention on Human Rights, 1995; Jacobs. The European Convention on Human Rights, 1996; van Dijk/van Hoof, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, 1998; Villiger. Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unter besonderer Berücksichtigung der schweizerischen Rechtslage, Zürich 1993; siehe darüber hinaus vor allem Frowein. in: Collected Courses of the Academy of European Law 1990, Bd. 1-2 (1992), 267 (307 ff.). 6 Eine andere Möglichkeit, die einzelnen Konventionsgarantien typologisch einzuordnen, besteht darin, zwischen den elementarsten Menschenrechten (Art. 2, 3, 4 und 7 EMRK), den liberalen Freiheitsrechten (Art. 8,9, 12, 14 EMRK und Art. I des 4. ZPEMRK) und den rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien (Art. 5,6,7 und 13 EMRK) zu unterscheiden, vgl. Frowein. JuS 1986, 845 ff.; Riedei. in: Neuntes deutsch-polnisches Kolloquium (1992), 93 (95).
B. Ennittlung der Schutzbereiche einzelner Konventionsrechte
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B. Ermittlung der Schutzbereiche einzelner Konventionsrechte Im Folgenden sind zunächst die Persönlichkeitsrechte (I), sodann prozessuale Garantien (11) und schließlich Gleichheitsrechte und sonstige Rechte im Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehr (III) zu untersuchen. Hierbei wird innerhalb der einzelnen Konventionsrechte auch eine Unterscheidung zwischen inlandskausalen und auslandskausalen Eingriffskonstellationen vorzunehmen sein.
I. Persönlichkeitsrechte im Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehr 1. Schutz des Lebens - Art. 2 EMRK und 6. Zusatzprotokoll zur EMRK
Der Schutz des Lebens gemäß Art. 2 EMRK und das Verbot der Todesstrafe gemäß dem 6. ZP-EMRK gehören neben dem Folterverbot des Art. 3 EMRK aufgrund ihres engen Zusammenhangs mit der Menschenwürde zu den fundamentalen Garantien der EMRK. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn diese Bestimmungen auch von herausgehobener Bedeutung für den Individualrechtsschutz bei der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen sind. Das Verbot der Auslieferung an Staaten, in denen dem auszuliefernden Straftäter die Todesstrafe droht, ist inzwischen in vielen Auslieferungsverträgen und innerstaatlichen Rechtshilfegesetzen jüngeren Datums enthalten. Da jedoch nicht alle Rechtsgrundlagen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen entsprechende Klauseln enthalten und die Todesstrafe noch in drei der Konventionsstaaten 7 sowie vielen anderen Staaten (insbesondere in den USA und China) erlaubt ist,8 stellt sich die Frage, ob sich unmittelbar aus der EMRK ein grundsätzliches Auslieferungsverbot bei drohender Todesstrafe ableiten lässt und wenn ja, welche Bedeutung dies für den internationalen Rechtshilfeverkehr der Vertragsstaaten hat. Darüber hinaus ist zu klären, ob und inwieweit der Schutz des
7 Nachdem die Ukraine am 22.2.2000 ein Gesetz zum Verbot der Todesstrafe verabschiedet hat (vgl. SZ Nr. 69 vom 23.3.2000, 9) und somit auch auf Druck des Europarats ihrer Verpflichtung zur Abschaffung der Todesstrafe bei der Aufnahme als neues Mitglied im November 1995 nachgekommen ist, kann die Todesstrafe gegenwärtig (nur) noch in drei der 41 Mitgliedstaaten vollstreckt werden. Hierzu zählen die Türkei, Russland und Albanien. Letztere sind aber ebenso wie die Ukraine als Neumitglieder des Europarats verpflichtet, das 6. ZP-EMRK zu ratifizieren, vgl. Res. 1044 (1994) der Parlamentarischen Versammlung vom 4.10.1994, On the Abolition of the Capital Punishment, Ziff. 6; hierzu auch Peters, EuGRZ 1999,650 (655 f.). 8 Als Sanktion für Betäubungsmittelstraftaten z. B. ist die Todesstrafe noch in mehr als zwanzig Ländern vorgesehen; dazu zählen Länder wie Ägypten, Indonesien, Iran, Malaysia, Philippinen, Taiwan, China und die Türkei, vgl. Tresh, Rauschgiftbekämpfung, S. 157 ff.; zitiert bei Körner, BtMG, 3. Aufl. (1990), Anhang C 19.
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Teil 2, 6. Kap.: Menschenrechte des Völkervertragsrechts
Lebens und das Verbot der Todesstrafe sich auch auf Maßnahmen der sonstigen Rechtshilfe in Strafsachen übertragen lässt. 9
a) Recht auf Leben Gemäß Art. 2 I 1 EMRK wird das Recht jedes Menschen auf das Leben gesetzlich geschützt. 10 Bereits eine bloße Lebensgefährdung kann den Schutzbereich des Art. 2 EMRK berühren. 11 Gerade die für die internationale Rechtshilfe in Strafsachen so bedeutsamen Fälle der Auslieferung bei Todesurteilen fallen jedoch explizit nicht unter den Schutz dieser Vorschrift, denn gemäß Art. 2 I 2 EMRK ist die von einem Gericht verhängte Todesstrafe nicht konventionswidrig. Folglich kann auch die Vollstreckung einer Todesstrafe oder die Auslieferung an einen Staat, in dem die Todesstrafe vollstreckt wird, nicht gegen Art. 2 EMRK verstoßen. Aus diesem Grund musste die Kommission bereits in Kirkwood v. Vereinigtes Königreich 12 und später auch der Gerichtshof im Fall Soering v. Vereinigtes Königreich J3 eine Verletzung von Art. 2 EMRK durch eine Auslieferung der Beschwerdeführer an die USA ablehnen, wo ihnen die Todesstrafe drohte. Da eine dynamische Auslegung nicht gegen den Wortlaut vorgenommen werden kann,14 blieb den Konventionsorganen in beiden Fällen nur die Möglichkeit, auf Art. 3 EMRK auszuweichen. 15 Art. 2 EMRK umfasst mithin nicht den Schutz vor Auslieferungen oder Rechtshilfemaßnahmen an Staaten, in denen dem Verfolgten die Todesstrafe droht.
9 Zu der Bedeutung der Todesstrafe für Rechtshilfeersuchen der Bundesrepublik Deutschland siehe jüngst BGH, Beschluss vom 7.7.1999, NStZ 1999,634 ff. 10 Zum Schutzbereich von Art. 2 EMRK siehe auch Frowein, in: Collected Courses of the Academy ofEuropean Law 1990, Bd. 1-2 (1992), 267 (307 f.); Kneihs, in: GrabenwarterlThienel, Kontinuität und Wandel, S. 21 (22 ff.); Villiger, HB der EMRK, S. 171 ff. 11 FroweiniPeukert, EMKR, Art. 2 Rn. 6; vgl. zu dem Konflikt des Staates zwischen der effektiven Bekämpfung des Terrorismus und der Pflicht, nach Maßgabe der Möglichkeiten menschliches Leben, einschließlich dessen von Terroristen, zu achten und zu schützen, EGMR, McCann u. a. v. Vereinigtes Königreich, Series A, No. 324, Ziff. 187. 12 EKMR, Kirkwood v. Vereinigtes Königreich, E 10479/83 vom 12.3.1984, DR 37, 158. 13 EGMR, Soering v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 7.7.1989, Series A, No. 161 = EuGRZ 1989,314 = NJW 1990,2183 mit Anmerkung Lagodny. 14 Hierzu Giegerich, EuGRZ 1995, 1 (4); eingehend Vogler, in: FS Meyer (1990), 477 ff. IS Noch vor dem Inkrafttreten des 6. ZP-EMRK erkannte die Europäische Kommission für Menschenrechte, dass ein Überlappungsbereich von Art. 2 und Art. 3 EMRK existiert. Auch wenn aus Art. 2 EMRK folge, dass die Todesstrafe erlaubt sei, schließe das nicht aus, dass Verfahrens verzögerungen einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellen können; hierzu auch Peters, EuGRZ 1999, 650 (654); van Dijk/van Hoof, ECHR, S. 303 f.
B. Ermittlung der Schutzbereiche einzelner Konventionsrechte
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b) Verbot der Todesstrafe Da Art. 2 I 2 EMRK die Todesstrafe noch uneingeschränkt als Ausnahme zum Recht auf Leben zuließ, bedurfte es eines Zusatzprotokolls zur EMRK, um ein allgemeines (ursprünglich noch nicht durchsetzbares) Verbot der Todesstrafe zu kodifizieren. Das 6. Zusatzprotokoll zur EMRK vom 28. April 1983 (6. ZP-EMRK)16 enthält in seinem Artikel 1 Satz 1 die Verpflichtung der Vertragsstaaten, das Leben umfassend zu schützen und Todesstrafe und Hinrichtung zu verbieten. 17 Gemäß Artikel 1 Satz 2 des Protokolls darf niemand zur Todesstrafe verurteilt oder hingerichtet werden. Das macht deutlich, dass hier nicht nur eine objektive Verpflichtung der Staaten, sondern auch ein subjektives Recht der Straftäter statuiert wird. 18 In den beiden genannten Entscheidungen Kirkwood und Soering war es den Konventionsorganen jedoch verwehrt, auf das 6. ZP-EMRK zurückzugreifen, da es von Großbritannien seinerzeit noch nicht ratifiziert worden war. 19 Erstmals hätte die Europäische Kornrnission für Menschenrechte jedoch im Rahmen einer Beschwerde gegen Frankreich vom 22. Januar 1987 die Möglichkeit gehabt, die Auswirkungen des 6. ZP-EMRK auf den internationalen Rechtshilfeverkehr zu untersuchen. 2o Auch hier ging es um die Auslieferung eines in den USA zum Tode verurteilten Straftäters, nur dass Frankreich bereits an das 6. ZPEMRK gebunden war. Jedoch musste die Beschwerde mangels Ausschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges von der Kornrnission bereits als unzulässig zurückgewiesen werden. 21 Dennoch hatte der EGMR inzwischen im Rahmen von 16 Protokoll Nr. 6 zur Konvention der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe vom 28.4.1983, ETS No. 114, BGBL 1988 H, 662; in Kraft getreten am 1.3.1985 und gegenwärtig (6.5.2002) von 40 Staaten ratifiziert, also mehr als drei Viertel der 41 Vertragsstaaten. Nicht ratifiziert haben die Staaten Armenien, Bosnien und Herzegovina, Türkei, Russland. Zur Entstehungsgeschichte vgl. das Explanatory Memorandum zum 6. ZP, abgedruckt in HRU 1985, 77, sowie Frowein, in: Collected Courses ofthe Academy ofEuropean Law 1990, Bd. 1-2 (1992), 267 (309 f.); van Dijk/van Hoof, ECHR, S. 678 ff. Vgl. allerdings auch das jüngst am 3.5.2002 in Vilnia unterzeichnete Protokoll Nr. 13 zur EMRK betreffend die Abschaffung der Todesstrafe unter allen Umständen, ETS No. 187, abgedruckt unter . 17 Zum 6. ZP-EMRK siehe Hartig, EuGRZ 1983,270 ff. Ausführlich zur Abschaffung der Todesstrafe im Völkerrecht Giegerich, EuGRZ 1995,1 ff.; Peters, EuGRZ 1999,650 ff. 18 van Dijk/van Hoof, ECHR, S. 679. 19 Das Vereinigte Königreich hat die Todesstrafe erst 1998 abgeschafft und Art. 1 und 2 des 6. ZP-EMRK in die britische Human Rights Bill inkorporiert; hierzu Judge, Public Law 1999, S. 6-13. 20 EKMR, A. B. v. Frankreich, E 11722/85 vom 22.1.1987: ..Quant au fond,le requerant estime que la Comrnission devrait etre amenee a interpreter de fa\on extensive le fait que la France a adhere au Protocole No 6. Ce Protocole devrait etre interprete en combinaison avec l'article 2 de la Convention." 21 EKMR, A. B. v. Frankreich, E 11722/85 vom 22.1.1987: ..La Comrnission en conclut que dans les circonstances de la presente affaire, la requete se heurte en tout etat de cause al' exception de non-epuisement des voies de recours internes et doit etre declaree irrecev-
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Teil 2, 6. Kap.: Menschenrechte des Völkervertragsrechts
Beschwerden gegen Ausweisungen mehrfach Gelegenheit, die im Rahmen des Soering-Urteils aufgestellten Grundsätze bezüglich der extraterritorialen Geltung von Konventionsrechten auch auf Art. 2 EMRK i. V. m. Art. 1 des 6. ZP-EMRK weiterzuentwickeln 22 und für die Auslieferung als anwendbar zu erklären. Danach verstößt ein an das 6. ZP-EMRK gebundener Staat gegen seine vertragliche Verpflichtung, wenn ein Flüchtiger in einen Staat ausgewiesen wird, in dem er ernsthaft Gefahr läuft, zum Tode verurteilt oder hingerichtet zu werden. Dies gelte nach der Rechtsprechung der Kommission auch für Auslieferungen. 23 Danach dürfte feststehen, dass ein an das 6. ZP-EMRK gebundener Konventionsstaat sich in Widerspruch zu seinen Verpflichtungen aus der EMRK verhält, wenn er Straftäter an Staaten ausliefert, in denen diesen die Verhängung oder die Vollstreckung der Todesstrafe droht. Da jedoch nicht jeder Eingriff in den Schutzbereich eines Konventionsrechts eine Verletzung darstellt, sind an anderer Stelle die auch im Soering-Urteil aufgeworfenen Fragen bezüglich der (extraterritorialen) Reichweite der Konventionsbestimmungen und ihre Schranken zu prüfen. 24 In Anwendung der vom Gerichtshof im Fall Soering herausgearbeiteten Grundsätze der Folgenbezogenheit der Konventionsrechte berührt eine Auslieferung an einen Staat, in dem die Todesstrafe vollstreckt wird, grundSätzlich den Schutzbereich von Art. 2 EMRK i. V. m. Art. 1 Satz 1 des 6. ZP-EMRK. Gleiches dürfte für Rechtshilfemaßnahmen dienen, die konkret zu einer entsprechenden Verurteilung eines Straftäters führen können. Mit dem am 3. Mai 2002 unterzeichneten 13. Zusatzprotokoll zur EMRK (13. ZP-EMRKfs wird das 6. Zusatzprotokoll um das totale Verbot der Todesstrafe erweitert, indem diese nunmehr auch nicht mehr für Straftaten zulässig ist, die in Kriegszeiten und bei der Gefahr von Krieg verübt worden. Bemerkenswert ist, dass das 13. ZP-EMRK die Erklärung von Vorbehalten ausdrücklich ausschließt. 26
able en application de l'article 27 par. 3 (art. 27-3) de la Convention"; vgl. aber EKMR, Aylor-Davis v. Frankreich, E 22742/93, DR 76-B (1994),164 (170) = RUDH 1994, 195: hier sicherte die US-Regierung jedoch Frankreich zu, dass der Beschwerdeführer nicht zum Tode verurteilt werde, weshalb die Auslieferung im konkreten Fall ebenfalls keinen Verstoß gegen Art. 2 EMRK i. V. m. Art. I des 6. ZP-EMRK darstellte. 22 Siehe hierzu die Urteile des EGMR, Cruz Varas v. Schweden, Urteil vom 20.3.1991, Series A, No. 281, Ziff. 69 f. = EuGRZ 1991,203; Vilvarajah u. a. v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 30.10.1991, Series A, No. 215, Ziff. 101-116 = HRLJ 1991,432 = NVwZ 1992, 869; Chahal v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 15.11.1996, Reports 1996-V, 1831, §§ 73-107. 23 Vgl. EKMR, Aylor-Davis v. Frankreich, E 22742/93, DR 76-B (1994), 164 (170) = RUDH 1994, 195. 24 Siehe unten 6. Kapitel, S. 459 ff. 2S Protocol No. 13 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, conceming the abolition of the death penalty in all circumstances, Text abgedruckt unter . 26 Vgl. Art. 2 und 3 des 13. ZP-EMRK.
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2. Folter, unmenschliche und erniedrigende Behandlung und StrafeArt. 3 EMRK Das umfassende Folterverbot des Art. 3 EMRK stellt aufgrund seines engen Zusammenhangs zur Menschenwürde eines der wichtigsten Konventionsrechte dar. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung unterworfen werden. 27 Im Bereich der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen sind zahlreiche auslandskausale Konstellationen denkbar, in denen dieses grundlegende Menschenrecht gefährdet sein kann. So können die Haftbedingungen im ersuchenden Land oder die Art und Höhe der einem Auslieferungsersuchen zugrunde liegenden Strafe Anlass zur Vermutung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK geben. 28 Im Zusammenhang mit Maßnahmen sonstiger Rechtshilfe in Strafsachen stellt sich dagegen z. B. die Frage nach der Verwertbarkeit von Beweismitteln, die unter Anwendung einer unter Art. 3 EMRK fallenden Behandlung erlangt wurden. a) Todesstrafe Die Frage der Anwendbarkeit von Art. 3 EMRK auf Auslieferungen spielte in der Rechtsprechung der Konventionsorgane bereits mehrfach eine Rolle. In einer Reihe von Fällen wendeten sich die Betroffenen hierbei gegen die Auslieferung zur Vollstreckung einer Todesstrafe. So prüfte die Kommission bereits im Jahre 1973 die Zulässigkeit einer Auslieferung am Maßstab von Art. 3 EMRK. In dem zugrunde liegenden Fall Amekrane v. Großbritannien ging es um einen marokkanischen Offizier, der nach einem missglückten Putschversuch von Marokko nach Gibraltar geflohen und von Großbritannien unverzüglich nach Marokko ausgeliefert worden war. In Marokko wurde er zum Tode verurteilt und hingerichtet. Die Kommission hat daher eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch Großbritannien für möglich gehalten. 29 Zu einer Überprüfung durch den Gerichtshof ist es indes nicht gekommen, da die britische Regierung der die Beschwerde führenden Ehefrau eine Entschädigung zubilligte. Auch im Fall Kirkwood v. Vereinigtes Königreich 30 schloss die Kommission nicht die Möglichkeit der Verletzung von Art. 3 EMRK aus, wenn der Beschwerdeführer an die USA ausgeliefert würde, wo ihn 27 Zum Schutzbereich des Art. 3 EMRK siehe statt vieler FroweiniPeukert, EMRK, S. 40 ff.; Villiger, HB der EMRK, S. 174 ff., mit umfangreichen Nachweisen zum Schrifttum. 28 Hierzu Frowein, in: Collected Courses of the Academy of European Law 1990, Bd. 1-2 (1992), 267 (315 ff.); ZimmerfZimmermann, in: Huber, HB des AusiR, Art. 3 EMRK. 29 EKMR, Amekrane v. Vereinigtes Königreich, E 5961/72 vom 19.7.1972, YB 16,356 (386 f.) = CD 44, 101 ff. 30 EKMR, Kirkwood v. Vereinigtes Königreich, E 10479/83 vom 12.3.1984, DR 37,158.
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die Todesstrafe erwartete. 3l Schließlich nutzte der EGMR im Fall Soering v. Vereinigtes Königreich 32 dann die Möglichkeit, sich ausführlich mit der Problematik der Auslieferung bei drohender Todesstrafe und dem Schutzbereich von Art. 3 EMRK auseinander zu setzen. Da entsprechend der ständigen Rechtsprechung der Konventionsorgane Art. 5 I lit. f) EMRK die grundsätzliche Anwendbarkeit anderer Konventionsrechte auf Auslieferungen nicht ausschließt,33 stellt sich bei Auslieferungen zur Vollstreckung einer Todesstrafe zunächst die Frage, ob bereits die Todesstrafe selbst eine unzulässige Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK darstellt. Dem steht jedoch der Wortlaut von Art. 2 I EMRK entgegen, wonach die Todesstrafe unter bestimmten Voraussetzungen zugelassen ist. Entsprechend den allgemeinen völkerrechtlichen Auslegungsregeln 34 und der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die Konvention jedoch immer als Ganzes zu lesen und in Übereinstimmung mit ihren Bestimmungen in ihrem Zusammenhang auszulegen. 3s Daher musste der Gerichtshof im Fall Soering Art. 3 EMRK im Einklang mit Art. 2 EMRK auslegen und konnte die Todesstrafe nicht einfach als unmenschliche und erniedrigende Strafe oder Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK bezeichnen. 36 Einer dynamischen Auslegung der beiden Bestimmungen über den ausdrücklichen Wortlaut von Art. 2 EMRK hinaus stand entgegen, dass die Konventionsstaaten das Verbot der Todesstrafe explizit in Art. 1 des 6. ZPEMRK verankert hatten. 37 Da Großbritannien zum damaligen Zeitpunkt noch nicht an das 6. ZP-EMRK gebunden war, mussten die Richter auch die Möglich31 Jedoch kam sie zu dem Ergebnis, dass der Beschwerdeführer die Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen Behandlung nicht hinreichend nachgewiesen habe. 32 EGMR, Soering v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 7.7.1989, Series A, No. 161 = EuGRZ 1989,314 = NJW 1990,2183. 33 Vgl. nur EGMR, Soering v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 7.7.1989, Series A, No. 161, Ziff. 85. 34 V gl. Art. 31 und 33 WVK; zwar finden diese Bestimmungen gemäß Art. 4 WVK nur auf solche Verträge Anwendung, die Staaten nach Inkrafttreten der WVK geschlossen haben, jedoch besitzen die in der WVK kodifizierten Auslegungsgrundsätze inzwischen völkergewohnheitsrechtliche Geltung, vgl. nur EGMR, Golder v. Vereinigtes Königreich, Series A, No. 18 (1975), S. 5 (14) EuGRZ 1975,91; BVerfGE 40, 141 (167); Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 11 Rn. 11; Köck, Vertragsinterpretation, S. 79 Fn. 4; Martenczuk, Rechtsbindung, S. 51 Fn. 104; OppenheimlJennings/Watts, Bd. 112, S. 1271; Ress, in: Simma, Interpretation, Rn. 8. 35 V gl. Art. 31 I WVK. Siehe auch EGMR, Soering v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 7.7.1989, Series A, No. 161, Ziff. 103; Klaas v. Bundesrepublik Deutschland, Urteil vom 6.9.1978, Series A, No. 28, Ziff. 68 = EuGRZ 1979, 278; hierzu auch Frowein/ Peukert, EMRK, Einführung, Rn. 7 ff.; Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 5 ff. 36 Vgl. bereits EGMR, Klaas v. Bundesrepublik Deutschland, Urteil vom 6.9.1978, Series A, No. 28, Ziff. 68 =EuGRZ 1979, 278. 37 Hierzu EGMR, Soering v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 7.7.1989, Series A, No. 161, Ziff. 102 f.; hierzu auch Blumenwitz, EuGRZ 1989, 326 ff.
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keit einer Verletzung von Art. 3 EMRK durch die drohende Todesstrafe verneinen. Demgegenüber hat der Richter De Meyer in einem abweichenden Votum zum Soering-Urteil vertreten, dass die Todesstrafe nicht im Einklang stünde mit der gegenwärtigen Rechtsauffassung in Europa und kein europäischer Staat irgend jemand ausliefern dürfe, wenn hiermit das Risiko der Todesstrafe im ersuchenden Staat verbunden sei. 38 Er ging davon aus, dass das Verbot der Todesstrafe zur "öffentlichen Ordnung Europas" gehöre und dem 6. ZP-EMRK nur deklaratorisehe, nicht aber eine konstitutive Bedeutung beizumessen sei. 39 Diese abweichende Meinung ist zwar rechtspolitisch wünschenswert, jedoch liefe sie auf das Bestehen eines völkergewohnheitsrechtlichen (regionalen) Verbots der Todesstrafe hinaus, welchem jedenfalls zum Zeitpunkt der Soering-Entscheidung gewichtige Gründe entgegengehalten werden konnten. 40 b) Todeszellensyndrom Der Gerichtshof hatte daher zu prüfen, ob nicht das jahrelange Warten in der Todeszelle und das dadurch verursachte "Todeszellensyndrom" eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung darstellen kann. Nach ständiger Rechtsprechung wird die unmenschliche Behandlung allgemein definiert als eine Behandlung, die absichtlich schwere psychische und physische Leiden verursacht. 41 Hierbei sei sowohl auf die Intention als auch auf die konkrete Wirkung der jeweiligen Maßnahmen für den Betroffenen abzustellen. Letztere müssen ein gewisses Minimum an Schwere erreichen, was sich wiederum nur nach den Umständen des Einzelfalles beurteilen ließe, "wie zum Beispiel die Art der Behandlung oder Bestrafung und der Zusammenhang, in dem sie erfolgte, die Art und Weise ihrer Vollstreckung, ihre zeitliche Dauer, ihre physischen und geistigen Wirkungen, und in einigen Fällen Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers".42 Als Faktoren für die Beurteilung, ob das Todeszellensyndrom so schwerwiegend ist, dass es Art. 3 EMRK verletzt, nannte die Kommission "die Relevanz des Rechts38 Vgl. die abweichende Meinung des Richters de Meyer, abgedruckt in EuGRZ 1989, 325 f. 39 de Meyer, EuGRZ 1989, 325 (326). 40 Vgl. hierzu bereits oben 5. Kapitel, S. 331 f., siehe auch Blumenwitz, EuGRZ 1989, 326 (327); Peters, EuGRZ 1999,650 (654 ff.). 41 So die vielfach zitierte und von der Kommission im sog. Griechenland-Fall herausgearbeitete Definition in der Beschwerde von Dänemark, Norwegen, Schweden und Niederlande v. Griechenland, E 3321/67, E 3322/67 und E 2244/67, YB 12, 186. 42 EGMR, Irland v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 18.1.78, Series A, No. 25, Ziff. 162 =EuGRZ 1979, 149 (153); Tyrer v. Vereinigtes Königreich, Series A, No. 26, Ziff. 29 und 35 = EuGRZ 1979, 162; Soering v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 7.7.1989, Series A, No. 161, Ziff. 100.
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behelfssystems für den Schutz des Lebensrechts, die Verzögerung durch Verfahrensrückstau und die Möglichkeit der Umwandlung der Strafe im Fall überlanger Haft im Todestrakt".43 Im Fall Soering waren es hingegen das jugendliche Alter und der Geisteszustand, die den Beschwerdeführer nach einer Auslieferung an die USA der realen Gefahr einer Behandlung ausgesetzt hätten, welche nach Auffassung des EGMR die Schwelle des nach Art. 3 EMRK Zulässigen überschritt und den zu erwartenden langjährigen Aufenthalt in der Todeszelle zu einer unmenschlichen Behandlung anwachsen ließ. 44 Daher kam der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass der drohende Aufenthalt von Soering in der Todeszelle in den USA unter den Tatbestand der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Art. 3 EMRK fiele. c) Folter Da die Konvention keine Legaldefinition von Folter enthält, muss bei der Begriffsbestimmung auf die in ständiger Rechtsprechung herausgearbeiteten Kriterien zurückgegriffen werden. So hat der Gerichtshof im Fall Irland v. Vereinigtes Königreich Folter definiert als vorbedachte unmenschliche Behandlung, die sehr ernstes und grausames Leiden hervorruft. 45 Nach der Kommission gehören dazu sowohl massive Eingriffe in die körperliche Integrität, als auch moderne Verhörtechniken, die zwar nicht unmittelbar in die körperliche Integrität eingreifen, aber, wenn sie systematisch durchgeführt werden, die Willensfreiheit eines Gefolterten aufheben. 46 Entscheidend sei damit, dass es sich um Misshandlungen physischer wie psychischer Art handele, die ein bestimmtes Ziel verfolgen, etwa das Erpressen von Geständnissen. 47 Anhand dieser Intention könne die Abgrenzung zur unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung erfolgen. 48 Der Begriff 43 EKMR, Kirkwoodv. Vereinigtes Königreich, E 10479/83 vom 12.3.1984, DR 37,158 (184); im konkreten Fall- bezogen auf das Rechtsbehelfssystem von Kalifornien - verneinte die Kommission einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK, vgl. S. 188 ff. 44 Vgl. die ausführliche Auseinandersetzung des Gerichtshofs mit dieser Frage in EGMR, Soering v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 7.7.1989, Series A, No. 161, Ziff. 100 ff. 45 EGMR, Irland v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 18.1.78, Series A, No. 25, Ziff. 167. 46 EKMR, Irland v. Vereinigtes Königreich, YB 19, 512, 794; der Gerichtshof hat dagegen die sog. fünfVerhörtechniken, die von britischen Sicherheitsbehörden in Nordirland verwendet wurden, als unmenschliche Behandlung eingestuft, weil sie zwar erhebliche physische und psychische Leiden verursachten, nicht jedoch in jener besonderen Intensität und Grausamkeit, wie das Wort Folter andeutete, EGMR, Irland v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 18.1.78, Series A, No. 25, Ziff. 167; hierzu auch FroweiniPeukert, EMRK, Art. 3 Rn. 3, 5. 47 V gl. EKMR, Dänemark, Norwegen, Schweden und Niederlande v. Griechenland, E 3321/67, E 3322/67 und E 2244/67, YB 12, 186. 48 Vgl. HarrislO'BoylelWarbrick, ECHR, S. 60.
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der Folter in Art. 3 EMRK entspricht somit weitgehend der Definition von Folter in der UN-Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe von 1984,49 wonach jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen zugefügt werden, und die von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichen oder stillschweigenden Einverständnis verursacht wird, untersagt ist. 50 Dies hat für den internationalen Rechtshilfeverkehr die Folge, dass eine Auslieferung an Staaten, in welchen der Auszuliefernde Gefahr läuft, gefoltert zu werden, grundSätzlich den Schutzbereich von Art. 3 EMRK berührt. 51 d) Unmenschliche oder erniedrigende Strafe Nach ständiger Rechtsprechung der Konventionsorgane fällt nicht jede staatliche Strafe in den Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK. Vielmehr mache das Erfordernis einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe deutlich, dass diese sich von der Bestrafung im Allgemeinen unterscheiden müsse. 52 Insoweit muss also noch ein zusätzliches Element hinzukommen. Eine unmenschliche Strafe kann entsprechend dem oben Gesagten vorliegen, wenn sie besonders grausam oder mit Schmerzen verbunden ist. Eine erniedrigende Bestrafung - wie die Prügelstrafe - erfordert indes ein zusätzliches Moment der Demütigung. 53 Im übrigen sind auch hier insbesondere die Umstände des Einzelfalles in die Bewertung mit einzubeziehen. Insbesondere dürfe eine Strafe nicht unverhältnismäßig in Beziehung zum verübten Verbrechen sein. 54 So hatte die Kommission im Fall Brückmann zu prüfen, ob die Zu lieferung der Beschwerdeführerin an die DDR aufgrund der hohen Strafe, die sie dort erwartete, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellen könnte. 55 Die Zusicherung der DDR, keine höhere als die in der BundesreSiehe oben 3. Kapitel, S. 239. Vgl. Art. 1 I der UN-Folterkonvention. 51 Eine der ersten Entscheidung der Kommission hierzu stammt aus dem Jahre 1962, vgl. EKMR, X v. Bundesrepublik Deutschland, YB 5, 256 (260). 52 EGMR, Tyrer v. Vereinigtes Königreich, Series A, No. 26, Ziff. 30 = EuGRZ 1979, 162 (164). 53 Vgl. EGMR, Tyrer v. Vereinigtes Königreich, Series A, No. 26, Ziff. 29 und 35 = EuGRZ 1979, 162 (164 f.): Der Beschwerdeführer wurde wegen einer Körperverletzung zu drei Stockschlägen verurteilt. Ausschlaggebend für die Einordnung dieser Bestrafung als erniedrigend war einerseits der Umstand, dass ein Mensch gegenüber einem anderen Menschen physische Gewalt ausüben durfte und den Betroffen somit zum Objekt staatlichen HandeIns degradierte. Erschwerend kam andererseits hinzu, dass die Strafe auf dem nackten Gesäß ausgeübt wurde; vgl. hierzu auch die Besprechung von Riedel, EuGRZ 1977, 484. 54 Peters, EuGRZ 1999,650 (654). 55 EKMR, Brückmann v. Deutschland, E 6242/73 vom 27.5.1974, YB 17 (1974), 458 (478) =EuGRZ 1974, 113 (114). 49
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publik Deutschland zulässige Höchststrafe zu verhängen, änderte nichts daran, dass die Kommission eine Verletzung der EMRK für möglich hielt. 56 Zu den schwierigen Grenzfällen gehört indes eine Entscheidung aus dem Jahr 1985, welche eine Auslieferung nach den USA betraf. Der Beschwerdeführer war unzüchtiger Handlungen mit Knaben in zwei Fällen beschuldigt, wofür ihm nach Vorbringen des Beschwerdeführers eine Freiheitsstrafe von mindestens 50 Jahren drohte. Zwar kam die Kommission zu dem Schluss, dass die Gefahr einer unmenschlichen Behandlung nicht hinreichend glaubhaft gemacht worden sei, dennoch hätte die Kommission hier sehr wohl eine Konventionsverletzung annehmen und damit künftigen Auslieferungen vorbeugen können, denen Sanktionen nachfolgen, die den Schwere grad einer unmenschlichen Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK erreichen. 57 Jedoch verneint die Kommission in ständiger Praxis, dass in der Länge einer zu erwartenden Strafe allein keine unmenschliche Behandlung liegen könne. 58 3. Recht auf Freiheit und Sicherheit - Art. 5 EMRK
Die Bestimmung des Art. 5 EMRK stellt in erster Linie ein wichtiges Persönlichkeitsrecht dar, indem sie in Absatz 1 Satz 1 jedem Menschen das unveräußerliche Recht auf Freiheit und Sicherheit gewährt. 59 Dabei schützt Art. 5 EMRK die Freiheit des Einzelnen in ihrer klassischen Ausprägung als körperliche Freiheit, also die Freiheit, den Aufenthaltsort ungehindert von Zwang selbst wählen und verändern zu können. 6o Insbesondere schützt diese Vorschrift vor willkürlicher Festnahme und Haft,61 indem sie numerisch unter Buchstaben a) bis f) abschließend die Gründe definiert, in denen eine Freiheitsentziehung zulässig ist (Rechtmäßigkeit der Haft). Um das grundsätzliche Recht auf Freiheit und Sicherheit 56lbid. 57 So Trechsel, EuGRZ 1987, 69 (73). 58 EKMR, E 5471/72, CD 43; 7057/75, DR 6, 127; 7994/77, DR 14,238. 59 Ausführlich Errera, in: Collected Courses of the Academy of European Law 1995, Bd. VI-2 (1997), 245 (258 ff.); Frowein, in: Collected Courses ofthe Academy ofEuropean Law 1990, Bd. 1-2 (1992), 267 (317 ff.); Gillmeister, NJW 1991,2245 (2249 ff.); Gollwitzer, in: LöwelRosenberg, StPO, Bd. 6/2, Art. 5; Murdoch, ELR 23 (1998), 31 ff.; Vi/tiger, HB der EMRK, S. 191 ff.; vgl. auch Trechsel, StV 1992, 187 ff.; Sommer, in: Brüssow/Krekeler/Meh1e, Strafverteidigung, S. 647 (692 ff.); zur Überprüfung polizeilicher Maßnahmen Eiffler, NJW 1999, 762 ff. 60 EGMR, Engel u. a. v. Niederlande, Urteil vom 8.6.1976, Series A, No. 22, Ziff. 57 = EuGRZ 1976,221 (224); Guzzardi v. Italien, Series A, No. 39, Ziff. 92 = EuGRZ 1983, 633; EKMR, EuGRZ 1979,421; FroweiniPeukert, EMRK, Art. 5 Rn. 9; Trechsel, EuGRZ 1980,514 (515). 61 EGMR, Engel u. a. v. Niederlande, Urteil vom 8.6.1976, Series A, No. 22, Ziff. 57 = EuGRZ 1976,221 (224); Guzzardi v. Italien, Series A, No. 39, Ziff. 92 = EuGRZ 1983, 633.
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auch gewährleisten zu können, garantiert Art. 5 EMRK in seinen Absätzen 2-4 dem Festgenommenen und Inhaftierten des Weiteren Verfahrensrechte, die der Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Haft dienen (prozessuale Rechte des Inhaftierten). Insgesamt ist stets streng zu unterscheiden zwischen einer rechtmäßigen Festnahme und Inhaftierung zum Zwecke der (innerstaatlichen) Strafverfolgung gemäß Art. 5 I lit. c) EMRK und der rechtmäßigen Festnahme und Inhaftierung im Rahmen eines schwebenden Auslieferungsverfahrens gemäß Art. 5 I lit. f) EMRK. Während im ersten Fall dem Inhaftierten gemäß Art. 5 III EMRK die unverzügliche Vorführung vor einen Richter oder einer vergleichbaren Person zusteht, hat der im Rahmen eines Auslieferungsverfahren Inhaftierte gemäß Art. 5 IV EMRK allein das Recht, "ein Verfahren zu beantragen, in dem von einem Gericht unverzüglich über die Rechtmäßigkeit der Haft entschieden und im Falle der Widerrechtlichkeit seine Entlassung angeordnet wird." Diese Differenzierung entspricht der (noch) herrschenden Auffassung, dass es sich bei dem Auslieferungsverfahren nicht um eine strafrechtliche Anklage im Sinne von Art. 6 I EMRK, sondern um ein (innerstaatliches) Verwaltungsverfahren handelt. 62 Artikel 5 I lit. f) EMRK betrifft folglich inlandskausale Fälle der Auslieferung, in denen die Verantwortlichkeit für Konventionsverletzungen beim ersuchten Staat liegt, da der Betroffene von diesem zur Durchführung des innerstaatlichen Auslieferungsverfahrens und zur Sicherung der Auslieferung (vorläufig) in Haft genommen wird. 63 Auslandskausale Konstellationen könnten sich indes dann ergeben, wenn dem Auszuliefernden im Rahmen eines ihm drohenden Strafverfahrens oder der ihm drohenden Strafvollstreckung im ersuchenden Staat nicht die unter Art. 5 EMRK zugesicherten Rechte gewährt werden. Eine Anwendbarkeit von Art. 5 EMRK auf Fälle der sonstigen Rechtshilfe erscheint zwar zunächst entbehrlich, jedoch lassen sich grundsätzlich auch Konstellationen denken, in denen eine Inhaftierung auf Beweismitteln beruht, die zwar im Wege der sonstigen Rechtshilfe, aber im ersuchten Staat auf rechtswidrige Weise erlangt wurden. 64 Hier wäre dann zu fragen, ob die darauf basierende Untersuchungshaft rechtmäßig ist. 62 V gl. auch van den Wyngaert. ICLQ 39 (1990). 757 (773) Fn. 75; zu diesem strittigen Punkt siehe ausführlich unten 6. Kapitel, S. 426 f. 6) Zur Auslieferung und Auslieferungshaft in der Bundesrepublik Deutschland siehe Gillmeister, NJW 1991,2245 (2249 ff.); Schomburg, in: Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, IRG, vor § 15 Rn. I ff.; Wilkitzki, in: Vogler/Wilkitzki, IRG, § 15 IRG. 64 Die Frage der Verwertbarkeit von im Wege der Rechtshilfe erlangten Beweismitteln stellt ein Grundsatzproblem des internationalen Rechtshilfeverkehrs dar, vgl. hierzu BGHSt 34,334; Giegerich, in: Grabenwarter/HammerlPelzl/Schulev-Steindl/Wiederin, Grundrechte, S. 101 (111); Gleß. NStZ 2000, 57 ff. mit zahlreichen Nachweise auch zur Rechtsprechung; ausführlich bereits Nagel. Beweisaufnahme im Ausland: Rechtsgrundlagen und Praxis der internationalen Rechtshilfe für das deutsche Strafverfahren, 1988.
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Im Rahmen der inlandskausalen Fälle des Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehrs gibt Art. 5 EMRK vor allem Anlass zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der (vorläufigen) Auslieferungshaft selbst und der umfassenden Gewährung der prozessualen Rechten des Inhaftierten. a) Rechtmäßigkeit der Auslieferungshaft Das grundsätzliche Recht auf Freiheit eines Menschen wird dadurch beschränkt, dass er im Falle eines schwebenden Auslieferungsverfahrens festgenommen und inhaftiert werden kann. Art. 5 I lit. f) EMRK fordert als rein formale Garantie allein die Rechtmäßigkeit seiner Festnahme und Inhaftierung. Hierfür genügt es, wenn sie auf einer im innerstaatlichen Recht vorgesehenen materiellrechtlichen Grundlage beruht und der Haftgrund "schwebendes Auslieferungsverfahren" gegeben ist. 65 Lässt das innerstaatliche Recht die Verhaftung zu diesen Zwecken ZU,66 genügt bereits die Einleitung eines Auslieferungsverfahren mit der Absicht, die Auslieferung sicherzustellen. 67 Ein Anspruch auf Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Auslieferung selbst ergibt sich daraus indes nicht. 68 Es genügt vielmehr, dass das Auslieferungsersuchen nicht primafaeie unzulässig oder unbegründet ist. 69 Die Auslieferungshaft ist selbst dann zulässig, wenn sich schließlich im innerstaatlichen Verfahren erweist, dass die Auslieferung unzulässig ist. 70 Die Überprüfung der Zulässigkeit der Auslieferung bezieht sich auch nicht darauf, ob das innerstaatliche Verfahren seinerseits rechtmäßig ist. 71 65 Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 5 I EMRK, vgl. auch Froweinl Peukert, EMRK, Art. 5 Rn. 24 ff. 66 Die innerstaatliche materiell-rechtliche Grundlage in der Bundesrepublik Deutschland ist § 15 IRG. Dessen Absatz I lautet: "Nach dem Eingang des Auslieferungsersuchens kann gegen den Verfolgten die Auslieferungshaft angeordnet werden, wenn (1.) die Gefahr besteht, dass er sich dem Auslieferungsverfahren entziehen werde, oder (2.) auf Grund bestimmter Tatsachen der dringende Verdacht begründet ist, dass der Verfolgte die Ermittlung der Wahrheit in dem ausländischen Verfahren oder im Auslieferungsverfahren erschweren werde." Absatz 2 lautet: "Absatz I gilt nicht, wenn die Auslieferung von vornherein unzulässig erscheint." 67 EKMR, Caprino v. Vereinigtes Königreich, E 6871175, DR 22, 5 =EuGRZ 1982, 534; FroweiniPeukert, EMRK, Art. 5 Rn. 97 ff.; Gollwitzer, in: LöwelRosenberg, StPO, Bd. 612, Art. 5 Rn. 88; Trechsel, EuGRz 1980,514 (527). 68 EKMR, Caprino v. Vereinigtes Königreich, E 6871175, DR 22, 5 (22) Ziff. 65 = EuGRZ 1982, 534; anders noch die Entscheidung der Kommission in DR 12, 14; vgl. des Weiteren Trechsel, EuGRZ 1980, 527; Velu/Ergec, CEDH, Commentaire, S. 280 ff., Ziff. 334; allgemein zum Umfang der Überprüfung des Eingriffs und der Gesetzmäßigkeit des Verfahrens FroweiniPeukert, EMRK, Art. 5 Rn. 29 ff. 69 V gl. EGMR, Sanchez-Reisse v. Schweiz, Urteil vom 21.1 0.1986, Series A, No. 107, Ziff. 57 =EuGRZ 1988,523. 70 FroweiniPeukert, EMRK, Art. 5 Rn. 92; Trechsel, EuGRZ 1987,69 (71). 71 ZimmerfZimmermann, in: Huber, HB des AusiR, Art. 5 EMRK Rn. 2.
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Etwas anderes kann jedoch in den Fällen gelten, in denen sich die Rechtswidrigkeit einer Auslieferung auch auf die dieser Maßnahme vorangehende Haft erstreckt. Über eine solche Konstellation hatten die Konventionsorgane im vielbeachteten Fall Bozano72 zu befinden. Hier war der in Italien in Abwesenheit zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilte Beschwerdeführer nach Frankreich geflohen, wo er nach anfänglicher Auslieferungshaft wieder freigelassen wurde, weil ein französisches Gericht entschieden hatte, dass eine Auslieferung an Italien aufgrund des zugrunde liegenden Abwesenheitsurteils (nach französischem Recht) unzulässig sei. Trotz dieser Gerichtsentscheidung wurde der Beschwerdeführer erneut verhaftet und ohne weiteres in die Schweiz abgeschoben, von wo eine Auslieferung nach Italien möglich war und auch durchgeführt wurde. Der Klage des Beschwerdeführers gegen die Abschiebung vor einem französischen Verwaltungsgericht im Jahre 1981 wurde mit der Begründung stattgegeben, dass es der französischen Verwaltung offenbar nicht um die Entfernung des Beschwerdeführers von französischem Territorium gegangen sei, sondern allein um die Umgehung der unzulässigen Auslieferung,73 Von den drei bei der Kommission gegen Italien, Frankreich und die Schweiz eingereichten Beschwerden,74 wurde allein die gegen Frankreich für zulässig erachter7 5 und später vom Gerichtshof zur Entscheidung angenommen. Dieser nahm eine Verletzung von Art. 5 I EMRK an, weil die französischen Behörden die Festnahme des Beschwerdeführers nicht im Rahmen eines ordnungsgemäßen Ausweisungsverfahren vornahmen, sondern unter Verletzung des Willkürverbots zur Umgehung der für unzulässig erachteten Auslieferung. 76 Diese Entscheidung stellte trotz der berechtigten Kritik im Schrifttum an der Zurückhaltung des Gerichtshofs 77 eine große Errungenschaft dar, da sie erstmals die verschleierte Auslieferung als einen Verstoß gegen die Menschenrechte ächtete. Somit sind nunmehr auch die, von innerstaatlichen Gerichten immer wieder hingenommenen, völkerrechtswidrigen Entführungen zur Umgehung von regulären Auslieferungsverfahren als gegen die Grund- und Menschenrechtsstandards verstoßende grenzüberschreitende Strafverfolgungsmaßnahmen zu beurteilen. 78 72 EGMR, Bozano v. Frankreich, Urteil vom 18.12.86, Series A, No. 111 = EuGRZ 1987, 101; dazu FroweiniPeukert, EMRK, Art. 5 Rn. 83; Herdegen, EuGRZ 1986, 3; Trechsel, EuGRZ 1987, 69 (76). 73 Urteil des Court of Appeal von Limoges, zitiert in EGMR, Bozano v. Frankreich, Urteil vom 18.12.86, Series A, No. 111, Ziff. 35 f. =EuGRZ 1987, 101. 74 EKMR, Bozano v. Frankreich, ·Beschwerde 9990/82, Bozano v. Italien, Beschwerde 9991/82, und Bozano v. Schweiz, Beschwerde 9909/82. 75 EKMR, Bozano v. Frankreich, E 9990/82 vom 15.5.84, DR 39, 119. 76 EGMR, Bozano v. Frankreich, Urteil vom 18.12.86, Series A, No. 111, Ziff. 35 f. = EuGRZ 1987, 101. 77 Vgl. Trechsel, EuGRZ 1987,69 (77). 78 Errera, in: Collected Courses of the Academy of European Law 1995, Bd. VI-2 (1997), 245 (262); Trechsel, EuGRZ 1987, 69; van den Wyngaert, ICLQ 39 (1990), 757 (774).
27 Ziegen hahn
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Teil 2, 6. Kap.: Menschenrechte des Völkervertragsrechts
Die Rechtmäßigkeit der Auslieferungshaft kann des Weiteren dadurch entfallen, dass die Inhaftierung unverhältnismäßig lange aufrecht erhalten wird. 79 Zwar gelte der in Art. 5 III EMRK für die Untersuchungshaft nach Art. 5 I lit. c) EMRK niedergelegte Beschleunigungsgrundsatz ausdrücklich nicht für die Auslieferungshaft,8o jedoch obliege es den Konventionsorganen auch in Bezug auf die Auslieferungshaft deren Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit zu prüfen. 81 So könne eine überlange Auslieferungshaft die ursprüngliche Rechtmäßigkeit entfallen lassen, wenn die Durchführung des zugrunde liegenden Verfahrens nicht mit der notwendigen Gewissenhaftigkeit und Beschleunigung erfolgt,82 es sei denn, dass die Ursachen für die Verzögerung in der Person des Auszuliefernden selbst begründet liegen. 83 So finden sich in der deutschen Rechtsprechung mehrfach Urteile, in denen die Auslieferungshaft für unverhältnismäßig und unzulässig erklärt wurde. 84 Im Fall Scott hatte sich der Gerichtshof indes mit der Konstellation auseinander zu setzen, dass der nach Art. 5 I lit. c) EMRK zunächst rechtmäßig in Untersuchungshaft genommene Beschwerdeführer nach der Aufhebung der Untersuchungshaft nicht freigelassen wurde. 85 Die spanischen Behörden behielten ihn vielmehr weiterhin in Haft, weil gegen ihn ein internationaler Haftbefehl bestand, aufgrund welchem er nach Großbritannien ausgeliefert werden sollte. Da die Fortsetzung seiner Haft weder willkürlich noch unrechtmäßig war, sondern in Übereinstimmung mit dem nationalen Recht erfolgte, verneinte der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 5 I EMRK. 19 Zur einfachgesetzlichen und zur völkervertraglichen Regelung der Höchstdauer der Auslieferungshaft vgl. nur Gillmeister, NJW 1991, 2245 (22500. 80 Selbst die Auslieferungshaft zum Zweck der Strafverfolgung falle nur unter die Spezialvorschrift des Art. 5 I lit. f), so dass auch deren Dauer nicht am Maßstab des Art. 5 ur EMRK zu überprüfen sei, vgl. FroweiniPeukert, EMRK, Art. 5 Rn. 100 mit dem Verweis auf die Entscheidung EKMR, Lynas v. Schweiz, DR 6, 141 (152). 81 EKMR, Caprino v. Vereinigtes Königreich, E 6871175, DR 22, 5 (22) Ziff. 67; vgl. auch Trechsel, EuGRZ 1987,69 (71) m. w. N.; zur Geltung des Beschleunigungsgrundsatzes bei der Auslieferungshaft im deutschen Recht vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 27.7.1999, StV 2000, 87. 82 Vgl. EGMR, Quinn v. Frankreich, Urteil vom 2.3.1995, Series A, No. 311, Ziff. 47 f.; Kolompar v. Belgien, Series A, No. 235-C =EuGRZ 1983, 118, sowie EKMR, E 13706/88 vom 9.12.88; zum Fall Quinn siehe auch Errera. in: Collected Courses ofthe Academy of European Law 1995, Bd. VI-2 (1997), 245 (261); gleiches gilt natürlich auch für Ausweisungsfalle, vgl. nur EGMR, Chahal v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 15.11.