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German Pages 624 Year 2014
Carl Schmitt Der Schatten Gottes Introspektionen, Tagebücher und Briefe 1921 bis 1924
Herausgegeben von Gerd Giesler, Ernst Hüsmert und Wolfgang H. Spindler
Duncker & Humblot
Carl Schmitt Der Schatten Gottes Introspektionen, Tagebücher und Briefe 1921 bis 1924
Carl Schmitt Der Schatten Gottes Introspektionen, Tagebücher und Briefe 1921 bis 1924
Herausgegeben von Gerd Giesler, Ernst Hüsmert und Wolfgang H. Spindler
Duncker & Humblot Berlin
Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf und der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten © 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Werksatz Schmidt & Schulz GmbH, Gräfenhainichen Druck: AZ Druck und Datentechnik, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-14308-5 (Print) ISBN 978-3-428-54308-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-84308-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞ Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Seitdem die Tagebücher aus der Zeit 1912 bis 1915, der Militärzeit 1915 bis 1919 und der brisanten Jahre 1930 bis 1934 gedruckt vorliegen, hat sich das öffentliche Bild von Carl Schmitt gewandelt. Bis dahin war es fast ausschließlich von seinen Werken und einigen Briefwechseln bestimmt. Sie bildeten die Grundlage der – mitunter äußerst – kritischen Auseinandersetzung. Mit Ausnahme des 1991 veröffentlichten „Glossarium“ waren private Äußerungen Schmitts kaum bekannt. Jeder, der ihn aus der Nähe erlebt hatte, wusste, wie sehr er es in Gesprächen vermied, Persönliches preiszugeben. Insofern war es eine richtungweisende, mit dem Nachlassverwalter freilich abgesprochene Entscheidung von Ernst Hüsmert und Gerd Giesler – beide über Jahrzehnte mit Schmitt bekannt und eng vertraut –, erste Tagebuchtexte Schmitts trotz heikler, ja intimer Passagen von 2003 an zu veröffentlichen. Das jenseits aller Kontroversen unbestreitbare Faktum, dass Schmitt einer der einflussreichsten deutschen Gelehrten des 20. Jahrhunderts war, ist einer der tragenden Gründe, seinen Publikationen autobiographisches Material an die Seite zu stellen. Dieses Material hilft, den Lebenskontext seines Denkens und Schaffens besser zu verstehen und in die Interpretation miteinzubeziehen. Vor allem aber wird der Autor in einer Komplexität vor Augen geführt, die vorschnelle Einordnungen fraglich oder obsolet werden lassen. Mögen auch „peinliche“ Seiten ans Licht kommen – mit Voyeurismus hat dies nichts zu tun. Die Gestalt Schmitts ist neben ihrer primär juristischen und politischen Bedeutung ein Fall der modernen Kulturgeschichte. Sie steht für den nervösen, von Unrast getriebenen und gleichzeitig produktiven (Künstler-) Typus nach 1900, der die unverbindlich gewordenen Grenzen, zumal in der Sexualität, durch Selbstbeschränkungen zu ersetzen versucht. Noch im krisenhaften Scheitern zeigt sich das Bemühen um politische und biographische Stabilität. Schmitt hat fast alle Jahre seines Lebens Tagebuch geführt. Da mutet es paradox an, wenn er in einer 1918 geschriebenen Parodie die zur Wissenschaft stilisierte Tagebuchschreiberei als „Buribunkologie“ verhöhnt und noch 30 Jahre später sich gegen narzisstischen Privatismus und „Pepysmus“ in Ernst Jüngers „Strahlungen“ wendet (vgl. Glossarium, Eintragung vom 18. 4. 1948). Seine eigenen Tagebuchnotizen dienten ihm offenbar zur ständigen Selbstvergewisserung, wofür auch ihre häufige, mit Datum gekennzeichnete Relektüre spricht. Das erinnert an den nur wenig jüngeren Tagebuchschreiber Heimito von Doderer, der täglich Aufzeichnungen machte, um – wie er sagte – „mit sich selbst nicht zu intim“ zu werden. Darüber hinaus schufen die Notizen einen Gedankenvorrat, der Schmitt jederzeit zur Verfügung stand. Es mag dabei überraschen, dass Schmitt sich eher selten auf politische oder kulturelle Ereignisse bezieht. Die Aufzeichnungen lassen vor allem seine Freundes-
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Vorwort
und Kollegenbeziehungen, seine Alltagserfahrung, seine Lektüre- und Gedankenwelten und nicht zuletzt seine seelischen und erotischen Obsessionen hervortreten. Die drei Teile des vorliegenden Bandes unterscheiden sich hinsichtlich Gattung, Trägermaterial und literarischer Qualität. Teil I umfasst Notizen von August 1921 bis August 1922, die auf losen, ursprünglich ungeordneten Blättern festgehalten und zum Teil nicht einem genauen Datum zuzuordnen sind; auch gibt es erhebliche Lücken in der Chronologie. Die Reihenfolge musste hier nach inhaltlichen Kriterien (re-)konstruiert werden. Die Notizen bestehen teils aus Entwürfen von Briefen an Schmitts damalige Geliebte Kathleen Murray, deren Originale nicht überkommen sind, teils aus Entwürfen von Korrespondenzen mit anderen Adressaten wie zum Beispiel Ernst Robert Curtius. Im Übrigen handelt es sich um Selbstbeobachtungen und Erwägungen zu den Obsessionen, die Schmitt bedrängen. Ab Mitte März bis zweite Hälfte August 1922 führt er täglich Tagebuch, und zwar zunächst über den Aufenthalt in Marburg bei Kathleen Murray, dann über die ersten Monate als neu installierter Ordinarius der Universität Bonn. In Teil II werden chronologisch notierte Aufzeichnungen der Jahre 1923 und 1924 aus einer fest eingebundenen Kladde wiedergegeben, die außer den Tagesereignissen erneut dramatische Selbstaussagen enthalten. Teil III mit dem markanten, von Schmitt selbst gewählten Titel „Der Schatten Gottes“ besteht aus einer durch Seitenzahlen festgelegten Abfolge von Aufzeichnungen, bei denen jedoch eine Datumsangabe oft fehlt. Der Zeitraum der Notate reicht von August 1922 bis April 1925. Inhaltlich wechseln Ideen zu Vorlesungen, Selbstcharakterisierungen, aphoristisch zugespitzte Beobachtungen und Kommentare mit Entwürfen von Briefen, vor allem an seine spätere zweite Frau Duška Todorović. „Der Schatten Gottes“ hebt sich mit seiner freieren, assoziativen Anlage von dem teilweise parallel geführten „strengen“ Tagebuch ab. Man wird ihn als eine Art modernes Hypomnema ansehen können. Auch in diesem Teil kommt Schmitts innere Zerrissenheit zwischen tiefen Depressionen und hochfliegenden Plänen und Phantasien zum Vorschein. Nicht die Finsternis, sondern der „noch schwärzer“ erscheinende Schatten bildet für Schmitt den Gegenbegriff zum Licht (s. Teil III, S. 405). Dieser Schatten liegt „auf allen irdischen Dingen“ (ebd., S. 396) wie auf seinem Leben. Zur Begründung liefert Schmitt einen substantialen Gottesbegriff. „Gott wirft einen Schatten, weil er eine Substanz hat, weil er nicht nur eine Ikonostase, ein Funktionsbegriff, ein leerer Fakt ist, sondern etwas Kompaktes“ (ebd., S. 456). Die Herausgeber sind davon überzeugt, dass der Gedanke des Schatten Gottes über dem Gesamt der Introspektionen, der Tagebücher und der Brief(entwürf)e des gewählten Zeitraums steht. Weil die so betitelten Aufzeichnungen ohne die Lebensumstände Schmitts kaum zugänglich wären, sind sie an den dritten und letzten Teil dieses Buches gerückt; sie bilden gewissermaßen das Achtergewicht. Auf Motive, die im „Schatten Gottes“ wiederkehren, wird freilich bereits im Anmerkungsapparat der beiden voraufgehenden Teile verwiesen. Die hier abgedruckten Tage- und Gedankenbücher sind der erste Teil der erhaltenen Aufzeichnungen Schmitts aus den 1920er Jahren. Der zweite Teil – ebenso mit Tag-für-TagNotizen von etwa gleichem Umfang – umfasst die Jahre 1925 bis 1929. Aus dieser Zeit liegen zudem etwa gleichumfängliche Aufzeichnungen eines sogenannten Denktagebuches vor. Mit Ausnahme einiger Eigennamen und kürzerer, zum Beispiel englischsprachiger Sätze in lateinischer Kurrentschrift sind alle hier präsentierten Notizen in enggeschriebener, teilweise schwer lesbarer Gabelsberger Kurzschrift verfasst. Überschriebene Linien, Alter und mangelhafte Qualität des von Schmitt verwendeten Papiers, verblasste Stellen und ähnliche Pro-
Vorwort
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bleme haben die Transkribierung wieder vor große Herausforderungen gestellt. Unvermeidliche Fehllesungen, zumal bei Eigennamen von unbekannten oder nur einmal vorkommenden Personen oder Orten, konnten erst im Zuge der langen Phase der Annotierung korrigiert werden, jedenfalls weitgehend. So mutierte beispielsweise ein seltsamer Herr „Astschläger“ allmählich zu dem bekannten Freikorpsangehörigen und Aktivisten Albert Leo Schlageter. Die vorliegenden Editionen erheben trotz akribischer Vorgehensweise und jahrelanger Beschäftigung mit den Texten nicht den Anspruch historisch-kritischer Ausgaben. Sie sind vielmehr als verlässliche Arbeitsfassungen zu betrachten, die durch erneute Beschäftigung mit den Originalen verbessert werden können. Die editorische Arbeit an den einzelnen Teilen ist von der ersten Transkription durch den Stenographie-Sachverständigen Hans Gebhardt (†) bis zu den letzten Bearbeitungsschritten der Herausgeber im Nachlass Carl Schmitts im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen (Abteilung Rheinland, Standort Düsseldorf, Dezernat R 2) dokumentiert. Nicht lesbare Stellen sind ausgelassen worden und mit Punkten zwischen Kleiner- und Größerzeichen gekennzeichnet, bei fraglich gebliebenen Stellen steht ein Fragezeichen . Sinngemäße Ergänzungen sind zwischen eckige Klammern [ ] gesetzt. Vom linken Seitenrand zur Mitte hingezogene Linien markieren von Schmitt vorgenommene Trennungen einzelner Sinnabschnitte (vor allem in Teil III). Die Rechtschreibung ist der seit August 2006 üblich gewordenen Rechtschreibung angepasst, im Zweifel und in Fällen der Wahlmöglichkeit haben wir uns für traditionelle Schreibweisen entschieden. Diese Edition wäre ohne die Hilfe engagierter Personen und Institutionen nicht möglich gewesen. Zunächst muss an dieser Stelle erneut dem erwähnten Meister der Stenographiekundigen, Hans Gebhardt, für seine jahrelange unermüdliche Tätigkeit gedankt werden, der wie kein anderer die Schmittsche Variante der Kurzschrift nach Franz Xaver Gabelsberger (1789– 1849) beherrschte. Wolfgang Fietkau hat aus seiner Kenntnis der französischen Literatur und Kultur des 19. Jahrhunderts manche kryptische Stellen aufgehellt und fast alle Übersetzungen aus dem Französischen beigetragen, Lorenz Jäger die astrologischen Konstellationen fachgerecht beschrieben. Wolfgang Schuller und Martin Tielke haben in bewährter Weise den Herausgebern in vielen Fragen klärend zur Seite gestanden; das gilt auch für Peter Heyl, Helge Høibraaten, Milka Kličković, Günter Maschke, Florian Meinel, Reinhard Mehring, Matthias Meusch, Angela Reinthal, Erich Ruff, Thomas Schuld und Christian Tilitzki. Den Stadtplan im Vorsatz des Buches stellte uns Markus Ernzerhoff vom Bonner Stadtarchiv zur Verfügung. Ohne die bedeutende finanzielle Förderung der Transkription durch die Gerda Henkel Stiftung hätten diese Tagebücher das Licht der Welt nie erblickt. Das gilt ebenso für die Unterstützung durch die Facoltà di Lettere e Filosofia der Università di Trento mit ihrem Leiter Michele Nicoletti und dessen Mitarbeiter Francesco Ghia. Ihnen allen sind die Herausgeber zu großem Dank verpflichtet. Gedankt sei last but not least dem Landesarchiv Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf für die Bereitstellung der Archivalien, Florian Simon für die Aufnahme der Edition in den Verlag Duncker & Humblot sowie Jürgen Becker, dem Verwalter des Schmitt-Nachlasses, für die Erlaubnis, die Tagebucharchivalien zu verwenden und abzudrucken. Schließlich sind Verlag und Herausgeber der Gerda Henkel Stiftung und der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften für Druckkostenzuschüsse dankbar. Berlin, Herscheid und München im Mai 2014 Gerd Giesler, Ernst Hüsmert, Wolfgang Hariolf Spindler
Inhaltsverzeichnis Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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CARL SCHMITT DER SCHATTEN GOTTES INTROSPEKTIONEN, TAGEBÜCHER UND BRIEFE 1921 BIS 1924 Teil I
1921 1922
Tagebuch August 1921 bis August 1922 Bearbeitet von Gerd Giesler und Ernst Hüsmert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil II
1923 1924
Tagebuch 1923 und 1924 Bearbeitet von Wolfgang H. Spindler 133 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Teil III Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924 Bearbeitet von Gerd Giesler, Ernst Hüsmert und Wolfgang H. Spindler
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ANHANG Briefe, Dokumente und Abbildungen . . . . Verzeichnis der mehrfach genannten Literatur Quellen und Nachschlagewerke . . . . . . . Abbildungs- und Quellennachweis . . . . . . Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . .
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Einführung Carl Schmitt 1921/22 – vom revolutionären bayerischen Süden in den verschlafenen preußischen Norden Die Zeitspanne von 1921 bis 1924 bedeutet für Schmitt eine Phase des Aufstiegs vom „Dozenten der Rechtslehre“ an einer existenzgefährdeten bayerischen Handelshochschule über eine erste Universitätsprofessur am Rande Preußens, in Vorpommern, bis zum Ordinarius an einer der renommiertesten Universitäten im Westen der noch jungen deutschen Republik. Seine „Politische Romantik“ (1919) hat Aufsehen erregt. Die im Sommer 1920 abgeschlossene, stofflich teilweise auf die Münchener Vorlesungen zurückgreifende „Diktatur“ erscheint 1921. Bald darauf folgen „Politische Theologie“ (1922), „Römischer Katholizismus und politische Form“(1923) und „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus“ (1923). Allesamt klangvolle Titel, die bis heute geläufig sind. Das Ende des Krieges und den Zusammenbruch der Monarchie hatte Schmitt in Oberbayern erlebt.1 Neben seiner Tätigkeit im Stellvertretenden Generalkommando des I. bayerischen Armee-Korps in München – unter anderem zuständig für die Überwachung der Friedensbewegung, der Ein- und Ausfuhr von politisch brisanten Druckschriften – hatte der junge Privatdozent seit dem Sommersemester 1916 an der Reichsuniversität Straßburg Vorlesungen gehalten. Zuletzt war er dort für das Sommersemester 1918 mit einer Vorlesung zum Strafrecht, dem Fach seiner Dissertation, angekündigt. Es gibt nur wenige Informationen über sein Leben während der Zeit des Umsturzes und unmittelbar danach. Da Schmitt die linken und pazifistischen Kreise von seiner Zensurtätigkeit her kannte, dürfte ihn das Agieren der Protagonisten wie Eisner, Mühsam, Toller, Leviné kaum überrascht haben. Nach der Ermordung des von den Arbeiter- und Soldatenräten gewählten Ministerpräsidenten Kurt Eisner am 21. Februar 1919 eskaliert die Gewalt in Bayern. In München wird am 7. April die Räterepublik ausgerufen. Es herrscht Bürgerkrieg, anarchistische Räte und Freikorpsverbände entfachen ein Gemetzel. Wenige Tage vorher, am 1. April, wird der Unteroffizier Schmitt zur Stadtkommandantur versetzt und gerät damit in das Zentrum des Geschehens. Nach eigenem Bekunden erlebt er, wie ein Offizier in seiner unmittelbaren
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Vgl. ausführlich TB II, Einführung, S. 12–18. Zu allen Abkürzungen und Kurztiteln im Anmerkungsapparat s. das Literaturverzeichnis im Anhang, S. 581 ff.
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Einführung
Nähe erschossen wird. Die revolutionären Ereignisse nehmen ihn mit. Zum 30. Juni wird Schmitt „zur Wiederherstellung seiner Gesundheit … beurlaubt“ und „aus dem aktiven Heeresdienst entlassen“.2 Sein alter Förderer Hugo am Zehnhoff, gerade zum preußischen Justizminister ernannt, vermittelt ihm eine Anstellung im neu errichteten Volkswohlfahrtsministerium. Als ihm zur gleichen Zeit der Direktor der Handelshochschule München, Moritz Julius Bonn, eine Dozentur für öffentliches Recht anträgt, entscheidet sich Schmitt für die Lehrtätigkeit. Bis Ende September 1921 wird er in München unterrichten. Erhalten sind seine Aufzeichnungen zu einer Vorlesung über die „Geschichte der politischen Ideen seit der Reformation“3. Das Themenspektrum der Lehrveranstaltungen reicht jedoch bis in das Verwaltungs-, das Arbeits- und das Sozialversicherungsrecht. Max Weber, den „Star“ der akademischen Szene Münchens, lernt er kennen, als er im Wintersemester 1919/20 dessen Dozentenseminar und Vorlesung besucht. Schmitt wird Zeuge des von Rechtsradikalen angezettelten Tumultes, der entsteht, als der bekannte Nationalökonom zu erkennen gibt, dass er das Todesurteil des (später begnadigten) Eisner-Mörders billigt.4 Schmitt pflegt wie in den Vorjahren ein geselliges Leben im südlichen Schwabing nahe der Wohnung in der Schraudolphstraße 5. Das komplizierte Verhältnis zu seiner Frau Paula Carita verschlechtert sich indessen. Alice Berend hat das ungleiche Paar in ihrem 1919 erschienenen Roman „Der Glückspilz“ literarisch verewigt.5 Ein 1920 gegen „Cari“ eingeleitetes Verfahren wegen Raubverdachts wird eingestellt; in einem weiteren Verfahren wegen des Verdachts der Urkundenfälschung beauftragt Schmitt den bekannten Münchener Verteidiger Max Hirschberg.6 Schmitt beginnt, die Trugexistenz der falschen Adligen „von Dorotić“ zu ahnen. Ende 1921 trennt er sich von ihr. Zu dieser Zeit hat er bereits seine erste ordentliche Universitätsprofessur angenommen. Den im September 1921 ergangenen Ruf nach Greifswald7, an die kleinste preußische Universität, verdankt Schmitt vor allem der Empfehlung Rudolf Smends, der sich dabei auch auf Erich Kaufmann beruft. Dort‚ „in den arktischen Fluren Pommeraniens“8, kommt er freilich nie richtig an. Franz Blei, vermutlich seit 1916 mit Schmitt befreundet, spricht von Greifswald als einer „Prüfung“, ja einer „Vorhölle“.9 Schmitt kompensiert sein Unbehagen mit Reisen, sein Engagement reduziert er von Anfang an auf das Nötigste. Der Dekan der Juristischen Fakultät muss ihn am 21. Oktober 1921 auffordern, seine Vorlesungstitel anzuzeigen.10 Das Desinteresse am Greifswalder Universitätsbetrieb hat damit zu tun, dass Schmitt im August 1921 bei am Zehnhoff die Australierin Kathleen Murray kennengelernt hat, mit der ihn rasch eine große Passion verbindet und an deren Dissertation
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Schreiben des Generalkommandos vom 4. 6.1919, in: TB II, S. 511. Nachlass Schmitt RW 265-29430. Vgl. dazu Joseph Eduard Drexel, Geschichte und Geschichten. Ein Leben in Franken, Vortrag im Bayer. Rundfunk, Studio Nürnberg, 27. März 1969, Nürnberg 1969, S. 14 f. Vgl. den Auszug in TB II, S. 521–523. Mehring, Aufstieg und Fall, S. 119. Vgl. dazu Matthias Braun/Volker Pesch, Die Umstände der Berufung Carl Schmitts nach Greifswald, in: Schmittiana VII 2001, S. 195–206. Entwurf eines Briefes an Frl. Schneider vom 5. 10. 1921, Teil I, S. 9 ff. Brief an Schmitt vom 17. 11.1921, in: Blei, Briefe an Carl Schmitt S. 26 f. Mehring, Greifswalder Intermezzo, S. 323–347, hier S. 326.
Einführung
XIII
über Hippolyte „Taine und die englische Romantik“ (1924) er maßgeblichen Anteil haben wird. Im Herbst unternehmen die beiden eine Reise an die Mosel und geloben vor dem Altar der Pfarrkirche in Alf eine gemeinsame Zukunft. Gleichzeitig durchziehen Exaltationen und Selbstzweifel die Tagebuch-Aufzeichnungen. Schmitts Hamburger Freund Georg Eisler warnt ihn davor, sich wieder Hals über Kopf an eine Frau zu ketten. Vergeblich. In einem Brief an Kathleen vom Februar 1923 spricht Schmitt selbst von „Idolatrie“.11
Die irisch-australische Geliebte Schon das Tagebuch 1912 bis 1915 zeigte Schmitt als von Erotomanie Getriebenen. In der heftigen Liaison mit Cari, der späteren (ersten) Ehefrau, fand sie ihr Objekt, doch nur phasenweise Befriedigung. „Ich schleiche hinaus aus einer Konferenz und beiße mich vor Brunst in die Finger“, schrieb Schmitt im Alter von 24 Jahren.12 Sexuelle Libertinage verschaffte ihm keineswegs Freiheit, allenfalls Aufschub. „Mein Leib erscheint mir als mein Feind (und weil ich als guter Christ meine Feinde liebe, deshalb tue ich ihm schon mal einen besonderen Gefallen). Mein Leib ist der Kerker. Ich besteche den Kerkermeister, der mich quält. Der gönnt mir ein schönes Mädchen. Dann wird der Kerker für einige Zeit ein ganz angenehmer Aufenthalt.“13 Auch in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre ist das gnostische Muster nicht durchbrochen. Immerhin sind Ansätze zu einem Aushalten der Dauerkrise erkennbar. Dazu gehört auch, dass der aufstrebende Wissenschaftler an dem katholischen Glauben, in dem er erzogen worden ist, festhält – allen nihilistischen Anfechtungen zum Trotz. Zwar erweist er sich auch in diesen Tagebüchern als „schlechter“ Katholik, d. h. als einer, der nur selten zur Heiligen Messe, noch seltener zur Beichte geht und zum Beten meist nur dann findet, wenn er unglücklich oder verzweifelt ist. Dennoch bleibt der Katholizismus eine Form, auf die Schmitt jederzeit zurückgreifen, die er rational analysieren und, wo nötig, wissenschaftlich wie privat applizieren kann. „Der Glaube versetzt die Berge der Wissenschaftlichkeit“, notiert er im „Schatten Gottes“.14 Mitte November 1921 schreibt er an Kathleen, er lasse Donoso Cortés für sich beten, damit er wieder erlange, was er „als junger Mann jahrelang hatte und durch eine Frau“ – gemeint ist Cari – und seine „sinnlose Güte verlor: die Haltung eines Stoikers mit der eines Christen zu verbinden“.15 Paradoxerweise ist es just die Adressatin, in deren Gegenwart er von stoischer Ruhe meilenweit entfernt ist. Wer war Kathleen Murray? Schmitts Freundin wird am 16. Januar 1895 in Sydney geboren.16 Ihre Eltern stammen aus Irland. Murray studiert sechs Semester neuere Philologie an der Universität Sydney, schließt Ende 1914 mit dem B. A. ab und unterrichtet an verschiedenen Gymnasien in Australien. Mit einem scholarship-Reisestipendium kommt sie im August 1919 nach Europa und nimmt – nach einem Aufenthalt in Paris – im Wintersemes11 12 13 14 15 16
Siehe Teil III, S. 456. TB I, Eintragung vom 28. 11.1912, S. 55. TB I, Eintragung vom 17. Juli 1914, S. 168. Siehe Teil III, S. 490. Teil I, S. 17. Vgl. Mehring, Greifswalder Intermezzo, S. 326–332; ders. Aufstieg und Fall, S. 131–137.
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Einführung
ter 1919/20 in Bonn ein Promotionsstudium auf. Zwei Semester lang studiert sie an der gerade eröffneten, nunmehr französischen Universität Straßburg. Das eigentliche Doktorat führt sie im Wintersemester 1921/22 nach Marburg. Ihr ursprüngliches Vorhaben, in Bonn abzuschließen, scheitert daran, dass der Bonner Anglist Wilhelm Dibelius sie wegen ihres romanistischen Themas ablehnt. Doch verweist er sie an Ernst Robert Curtius, der seit 1920 Ordinarius für romanische und mittellateinische Philologie in Marburg ist. Dank der gemeinsamen Studienzeit in Straßburg kann Schmitt den Kontakt mit Curtius leicht herstellen und sich im November 1921 brieflich für Murray verwenden. Wenn auch Schmitt manche Interessen mit Curtius teilt, so ist sein eigentliches Ziel doch die zügige Promotion seiner Geliebten – was Curtius durchschaut. Kathleen Murray unterhält engen Kontakt mit katholischen Geistlichen. Ihre Religiosität ist ausgeprägt und gefühlsbetont, ein Gegensatz zu Schmitt, der ihn magisch anzieht. „Sie liebt den Katholizismus, sie sehnt sich nach ihm, wie sich einer in einer steinigen Stadt nach einer grünen Oase sehnt“, hält Schmitt im Februar 1922 fest.17 In Marburg schreibt sie mit Schmitts umfänglicher Fernhilfe an ihrer Dissertation. Sowohl das Tagebuch als auch etliche in die Promotionsschrift übernommene Manuskriptseiten von seiner Hand18 belegen Schmitts Rolle als Geburtshelfer. Als dieser Anfang Dezember 1921 seine in Berlin weilende Geliebte der Untreue verdächtigt und ihr seinen „Abschied“ verkündet, hält er lapidar fest: „Ich habe zum 2. Mal mit einer Frau zu tun und sehe, dass sich alles wiederholt“.19 Gleichwohl fühlt er sich verpflichtet, Kathleen weiterhin als ihr „Kampfgenosse“ und „braver Sekundant“20 zu dienen. Nach Abschluss der Arbeit und einigen Schwierigkeiten bei der Zulassung der Ausländerin kann Murray am 15. März 1922 endlich zum Rigorosum im Hauptfach Französisch und in den Nebenfächern Deutsch und Englisch antreten. In der Promotionsurkunde vom 26. Mai wird die Dissertation mit der Note „ausgezeichnet“ bewertet, das Rigorosum mit „sehr gut“. Schmitt kommt am Abend nach der mündlichen Doktorprüfung in Marburg an. Seit Mitte Februar ist klar, dass er einen Ruf nach Bonn erhalten hat. Mit Greifswald hat er nichts mehr zu tun. Schmitt bleibt bis 23. April in Marburg. Tage und Nächte verbringt er mit Kathleen. „Hingerissen und berauscht“21 von ihrer erotischen Anziehungskraft einerseits, befürchtet er andererseits, dass seine „geistige Produktivität ganz aufhört“22. Am 24. April in Bonn angekommen, bleiben dem Liebespaar nur noch wenige Tage. Der Augenblick des Abschieds naht – wie sich herausstellen wird, des Abschieds für immer. Am 5. Mai 1922 geht Kathleen in Toulon an Bord der Orient R. M. S. „Ormonde“ und landet am 10. Juni 1922 in Sydney, wo sie zwei Tage später in einem Artikel des „Morning Herald“ als „Brillant Student“23 gefeiert wird. Im Düsseldorfer Nachlass befindet sich ein ausführliches Reisetagebuch Kathleens mit der Widmung „For Carl in remembrance of happy days and glorious hopes“.24 Erhalten 17 18 19 20 21 22 23 24
Siehe Teil I, S. 54. Vgl. Mehring, Greifswalder Intermezzo, S. 344–347 (aus dem Nachlass Schmitt RW 265-21295). Teil I, Eintragung vom 1. 12.1921. Teil I, S. 25. Teil I, Eintragung vom 16. 3. 1922. Teil I, Eintragung vom 7. 4. 1922. Kopie des Artikels vom 12. 6.1922 im Nachlass (RW 265-21295), s. Abbildung im Anhang, S. 561. Nachlass Schmitt (RW 265-29420).
Einführung
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sind ferner eine Handvoll Briefe und Karten, die bis in die 1960er Jahre reichen.25 Jahrzehnte nach der Trennung beteuert Murray, in ihrer Einstellung zu ihm „unverändert geblieben“ zu sein.26 In einem an den katholischen Pfarrer von Plettenberg gerichteten Brief vom 13. Dezember 197127 erkundigt sie sich ein letztes Mal nach Schmitt, der offenbar nicht mehr geantwortet hat. Schmitts Vetter und Freund André Steinlein, der Kathleen noch zwei Tage vor ihrer Abreise „eine egoistische, anspruchsvolle dumme Person“ nannte, die Schmitt unverschämt ausbeute28, tat ihr demnach unrecht. Schmitt war nicht bloß willfähriger Ghostwriter; Kathleen Murray hat ihn allem Anschein nach wirklich geliebt. In seinem 1922 in Marburg verfassten Satirefragment „Der treue Zigeuner“29 hat Schmitt die Erfahrung seiner Abhängigkeit von Frauen verarbeitet. Ein Karpatenzigeuner muss seine Frau, die mit einer Pilgerreise Buße tun will, wie ein Lastesel tragen. Beide sterben schließlich. Am Ende der Geschichte, in einer Art von redaktionellem Nachtrag, nennt der Autor Kathleen Murray beim Namen. Die habe versichert, „niemals eine schönere Apologie des römischen Katholizismus gehört“ zu haben – eine weitere „Illustration der Legendenbildung“ (Hans Schneider), die Schmitt zeitlebens betrieben hat, wenn es um seine Person ging.
Der Wechsel an den Rhein und die ersten Bonner Jahre – Der Anfang 1922/23 Das Greifswalder Vorlesungsverzeichnis vom Sommersemester 1922 kündigt Schmitt noch mit acht Wochenstunden an. Doch das preußische „Exil“, in dem er auch verpflichtet war, protestantisches Kirchenrecht zu lehren, ist durch die Berufung auf den Bonner Lehrstuhl Rudolf Smends, der nach Berlin wechselt, zu diesem Zeitpunkt bereits beendet. In die überschaubare Bonner Gelehrtengesellschaft wird Schmitt anscheinend sofort aufgenommen. Der Junggeselle erhält Abendeinladungen. Er geht ausgiebig spazieren, oft in Begleitung von Karl Heinrich Vormfelde, einem Professor der Landwirtschaftlichen Hochschule Poppelsdorf, den er im Mai 1922 kennenlernt. Sein Leben in Pensionszimmern, als ein zwischen Vorlesungssaal, Fakultätssitzungen, Abendgesellschaften, Restaurants und Kaffeehäusern hin und her Getriebener, deprimiert ihn jedoch. Wie ganz Bonn, leidet er unter den Restriktionen der französischen Besatzungsmacht; er hat Angst, überwacht zu werden. Ausgangssperren, Kontrollen, Schikanen bis hin zu der Forderung, dass die einheimischen Studenten die französischen Offiziere grüßen müssten, bestimmen den Alltag. Nach Eisenbahnanschlägen am 30. April, am 5. Mai und in der Nacht vom 12. auf den 13. Juni 1923 wird von den Franzosen der Belagerungszustand verhängt. Bis 18. Juni ist von 20.30 Uhr bis 5 Uhr 25 26
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Abgedruckt in: Mehring, Greifswalder Intermezzo, S. 340–343. Brief an Schmitt vom 26. 7. 1951, in: ebd., S. 342; ähnlich im Brief vom 20. 12.1960, in: ebd., S. 342 f.; s. auch die Abbildung im Anhang S. 562 f. Ebd., 343. Teil I, Eintragung vom 3. 5. 1922. Abgedruckt in: Schmittiana VII 2001, S. 19–27, erneut in diesem Band, S. 564–569. Zum satirischen Aspekt vgl. auch Ernst Hüsmert, Zwei wenig bekannte Seiten von Carl Schmitt, in: Schmittiana VI 1998, S. 289–303.
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jeglicher Straßenverkehr verboten. Später gehen die Franzosen dazu über, Personen willkürlich ins unbesetzte Gebiet auszuweisen, darunter – nach fast einjähriger Haft – Oberbürgermeister Dr. Johannes Falk (13. März 1924).30 Infolge der Besatzung geht die Zahl der Studenten an der Universität Bonn dramatisch zurück, manche Lehrstühle können nicht wiederbesetzt werden. Auch die Hyperinflation macht zu schaffen und nährt Existenzängste. Bei Schmitt häufen sich Verlassenheitsattacken und Arbeitsunlust. Seine Vorlesungen – wie in Greifswald ein Pensum von acht Wochenstunden, verteilt auf Dienstag bis Freitag –, hält er oft aus dem Stegreif. Monatelang leidet Schmitt unter der Trennung von Kathleen Murray. Mit Hilfe von Wochenberichten und Briefen nach Australien, in denen er seine Liebe idealisiert, versucht er Halt zu finden, bis im Herbst eine neue Affäre mit der Ärztin Carola Sauer beginnt, die ihn allerdings kühl behandelt und leiden lässt. Unter den neu gewonnen Bekannten auch außerhalb der eigenen Profession treten bald zwei Persönlichkeiten hervor, mit denen Schmitt Freundschaft schließt und die er sowohl einzeln als auch gemeinsam trifft. Der Musikwissenschaftler Arnold Schmitz spielt abendelang Chopin, Mozart und Opernauszüge auf dem Flügel vor und sorgt damit für einen gewissen Ausgleich zur Nervenanspannung. Wie „Der Schatten Gottes“ zeigt, spricht Schmitt mit seinem fachkundigen Freund über Musik und deutet, davon angeregt, einzelne Werke. Umgekehrt zeigt Schmitz’ 1927 erschienenes Buch „Das romantische Beethovenbild“ deutliche Spuren von Schmitts Einfluss, auch da, wo dessen „Politische Romantik“ nicht direkt zitiert wird. Schmitz kehrt die antibürgerliche Haltung Beethovens hervor. Und das im „Schatten Gottes“ festgehaltene Lachen der beiden Freunde über Rousseau31 findet seinen Widerhall in Schmitz’ These, dass der Anti-Rousseauist Beethoven nicht an die bonté naturelle des Menschen geglaubt habe.32 Mit dem Kunsthistoriker und Priester Wilhelm Neuß verbindet Schmitt die Liebe zur Kunst; naturgemäß spricht man auch über Kirche, Politik, Universitätsinterna. In einem Brief an Neuß aus Berlin-Schlachtensee vom 20. Dezember 1946 bekennt Schmitt: „Wenn ich an die Gespräche denke, die wir 1921–1928 in Bonn geführt haben, so komme ich mir leichtsinnig vor. Wer weiß, ob wir die Früchte unserer Forschungen und Erfahrungen noch einmal in einem schönen Gespräch ernten können?“33 Beide Freunde, Schmitz wie Neuß, weiht er im Laufe des Jahres 1923 in sein Eheproblem ein. Neuß’ Versuch, über einen Kölner Weihbischof die kirchliche Annullierung der Ehe voranzutreiben, scheitert. Nichtsdestoweniger verdankt Schmitt dem international vernetzten Priester interessante Bekanntschaften, etwa mit den spanischen Politikern 30
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Vgl. dazu etwa Besatzungschronik der Stadt Bonn (1935), Landesarchiv NRW Abteilung Rheinland RW 0007 Nr. 71; Bonn während der Besatzungszeit (Vom 8. Dezember 1918 bis zum 31. Januar 1926.), in: Einwohner-Buch der Stadt Bonn 1927, Bonn 1927, S. XV–XXXV, XXVIII ff. Vgl. Teil III, Eintragung vom 17. 4. 1925, S. 546. Nachweise bei Georg Pepl, Apotheose des Marsches. Die Romantikkritik des Musikwissenschaftlers Arnold Schmitz und des Staatsrechtlers Carl Schmitt, in: Musik-Wissenschaft an ihren Grenzen. Manfred Angerer zum 50. Geburtstag, hrsg. von Dominik Schweiger, Michael Staudinger, Nikolaus Urbanek, Frankfurt am Main u. a. 2004, 429–445, hier 433 f. Die Qualität des Aufsatzes leidet freilich unter der auf Nicolaus Sombart (Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt – ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos, Frankfurt am Main 1997) zurückgehenden, nach den Tagebuchveröffentlichungen keinesfalls mehr haltbaren Prämisse von Schmitts „Misogynie“. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Korrespondenznachlass Wilhelm Neuß.
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León Martín-Granizo Rodríguez und Gervasio de Artin˜ano, während er im Gegenzug Neuß seinen alten Freunden in München vorstellt. Besuche erhält Schmitt von Vetter André Steinlein und von Georg Eisler. Mit ihnen unternimmt er Reisen und Ausflüge, etwa ins elterliche Plettenberg oder an die Mosel. Unter dem Einfluss Murrays macht sich der Staatsrechtler mit irischer Dichtung und mit englischen Romantikern vertraut, liest Bloy, Barrès, Gobineau und Maurras. Am meisten beeindrucken ihn französischsprachige Symbolisten wie Villiers de L’Isle-Adam, Barbey d’Aurevilly und Huysmans, in denen er die rätselhaften Seiten menschlicher Existenz wiederfindet. Ein ständiger Begleiter ist Baudelaire mit seiner antibürgerlichen Auflehnung, die ihm anverwandt ist. Für die Parlamentarismusschrift, die zunächst als Beitrag zur Festgabe für seinen Kollegen Ernst Zitelmann erscheint, liest er im Frühjahr 1923 Sorel und Mussolini. Am 22. Januar 1923 begegnet Schmitt der fast 15 Jahre jüngeren Studentin Duška Todorović, mit der ihn bald ein zarte und inniger werdende Liebe verbindet. Am selben Tag findet er einen griffigen Titel für die Broschüre, die nun rasch abgeschlossen wird: „Römischer Katholizismus und politische Form“. In den letzten Mai-Tagen wird auch die Parlamentarismusschrift fertiggestellt sein. Ende Januar und Mitte Juni folgt Schmitt den Wochenendeinladungen von Georg und Lilly von Schnitzler nach Frankfurt am Main – er ein weitgereister Industrieller, sie eine Kunstmäzenin, die außerdem Schmitts Hang zur Astrologie teilt. Die Ostertage verbringt er im bayerischen Bad Tölz bei der befreundeten Familie Krause; vor- und nachgeschaltet werden Gesprächen in München mit Bekannten aus der Militärzeit wie dem Bibliothekar Hans Rupé, dem Hauptmann Christian Roth sowie mit den Verlegern und Publizisten Carl Muth vom „Hochland“ und Ludwig Feuchtwanger von Duncker & Humblot. Mit Letzterem fährt Schmitt weiter nach Berlin, trifft alte Freunde wie Franz Blei und Hugo am Zehnhoff. Ende April zurück in Bonn, unternimmt er mit seiner jungen Freundin Duška lange Spaziergänge in der Umgebung und übersetzt mit ihr auf der Terrasse des „Königshofs“ Gedichte von Bojić. Musik spielt eine große Rolle, man besucht Konzerte und die Kölner Oper, in der Otto Klemperer bis 1924 als Generalmusikdirektor wirkt. Durch seinen Journalistenfreund Paul Scheffer macht Schmitt die Bekanntschaft mit der lettischen Ausdruckstänzerin Sent M’Ahesa, die damals in ganz Europa auf der Bühne steht. Das alles ereignet sich neben den Vorlesungen und Seminaren und der intensiven Betreuung von Doktoranden, die er mit in Cafés und Restaurants nimmt. Schon hier deutet sich die Atmosphäre seiner „Bonner Schule“ an, die später oft beschworen worden ist. Aus Australien kommt der Geistliche McKiernan für mehrere Wochen nach Bonn. Mit ihm spricht Schmitt über Kathleen Murray, um sich am Ende von ihr frei zu machen. Wegen Rippenschmerzen begibt sich Schmitt Mitte August für einige Tage in ärztliche Behandlung bei den Barmherzigen Brüdern, was ihn nicht abhält, abends mit Bekannten in den Lokalen der Stadt Wein zu trinken. Danach – Duschka weilt in ihrer Heimat Slawonien – erholt sich Schmitt etwa sechs Wochen lang in Plettenberg, wo er zuletzt einen schweren Fahrrad-Unfall erleidet. Auch wenn er die Ärmlichkeit des Elterhauses stark empfindet und sich ihrer, etwa gegenüber Eisler, schämt, sind die Ferienaufenthalte in der Heimatstadt mit den extensiven Wanderungen eine ständige Kraftquelle. Im Oktober treffen sich Schmitt und Duška in München. Er zeigt ihr die Stadt, führt sie in Verdis „Othello“ und freut sich, dass sie bei den Freunden ankommt. „Sie macht überall den besten Eindruck, auch Haecker war sie sympathisch“, vermerkt Schmitt am 17. Oktober. Zu seinen
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Stippvisiten nach Tölz nimmt er sie jedoch nicht mit. Der Monat klingt in Bonn aus, ihre Liebe erstarkt. Schmitt fühlt sich so glücklich wie nie, als ihm Duška schließlich beteuert: „Wenn ich von Ihnen gehe, gehe ich von der Erde.“34 Am 11. Dezember verloben sie sich indirekt, Ostern 1925 wird die offiziöse Verlobung an der Mosel folgen. Die Tage von Heiligabend bis zum 30. Dezember verbringen sie gemeinsam im Kloster Heisterbach. Es sind glückliche Tage.
Die Bewahrung vor dem Schicksal des Othello: Dušanka Todorović Woher stammte Dušanka/Duška (auch Duschka) Todorović? Sie wurde am 13. Februar 1903 in Grosdanska (Grizanska) östlich von Agram (Zagreb) als Tochter des Vasilije Todorović und seiner Frau Julijana, geb. Belajević, geboren. Vater und Großvater väterlichseits waren nach ihren Angaben Bürgermeister und Notare.35 Die Eltern ließen sich 1910 scheiden. Duška lebte zunächst bei ihrer Mutter in Daruvar an der kroatisch-ungarischen Grenze in der Provinz Slawonien, das im k.u.k.-Reich zur ungarischen Krone und nach dem Ersten Weltkrieg zum Königreich der Serben, der Kroaten und der Slowenen gehörte. Danach war sie mit ihrem Vater in Agram. Duška wurde serbisch-orthodox getauft und blieb ihrer Konfession zeitlebens treu. Einen wohl bis in die Kindheit zurückgehenden Antisemitismus konnte sie nie ablegen; Zeitzeugen berichten, dass sie Schmitt darin übertroffen habe.36 In Bonn immatrikuliert sie sich am 4. November 1922 an der philosophischen Fakultät; sie studiert Nationalökonomie. Auf Professor Schmitt trifft Duška, als dieser eine Übersetzung für seine standesamtlichen Erkundigungen in Agram benötigt. Er lädt sie zum Essen ein, und gleich beim anschließenden gemeinsamen Spaziergang in der Bonner Abenddämmerung findet er sie „elegant und graziös“37. Dabei ist Duška damals schon etwas füllig. Den mit etwa 160 cm kleingewachsenen Schmitt überragt sie um mehr als einen halben Kopf. Aufgrund des Altersunterschiedes wird sie nicht selten für seine Tochter oder eine Assistentin gehalten. Das Tagebuch dokumentiert eine Liebesgeschichte, die – für Schmitts Verhältnisse ungewöhnlich – von sexuellem Begehren und kurzschlüssiger Befriedigung lange weitgehend frei bleibt. Schmitt ist vielmehr verliebt, bewundert Duškas Gang, ihre Bewegungen, ihre Füße; mit ihr vertieft er sich in russische und slawische Literatur. Zwar sehnt sich Schmitt bis in den Sommer 1923 hinein zugleich nach „Lola“ Sauer, steht mit ihr und noch länger und intensiver mit Kathleen Murray in Briefkontakt. Zeitweise erwägt er gar, nach Australien auszureisen. Doch in der zweiten Hälfte des Jahres kristallisiert sich deutlich eine Entscheidung für Duška heraus. Er ist ihr ergeben, hat aber auch Angst vor ihrer Weiblichkeit und bodenständigen Klugheit, die er zugleich als Basis neuen Vertrauens braucht. Nach den traumatischen Erlebnissen des zurückliegenden Jahrzehnts bleibt eine
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Teil II, Eintragung vom 31.10. 1923. Vgl. Mehring, Aufstieg und Fall, S. 153 ff. Vgl. nur etwa TB III, Eintragungen vom 15.12.1931 (S. 69) und 30. 5.1932 (S. 194) und im „Paralleltagebuch“, ebd. S. 360. Teil II, Eintragung vom 22.1. 1923.
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Reserve, die Schmitt trotz seiner Liebe und der Fürsorge um die Erkrankte nicht ablegen kann. Am 21. Juni 1924 wird er notieren: „Abends entsetzliche Traurigkeit, der Schatten des Todes, die tödliche Liebe zu dieser Frau, Angst um sie, Sorge, Hingabe, Aufopferung. Ich fühle trotz ihrer Krankheit, dass ich dieser Frau mehr Gesundheit verdanke als alle den gesunden Weibsbildern, an die ich mich geklammert habe. Beglückende Dankbarkeit, tödliche Sorge.“38 Schließlich, am 8. Februar 1926, heiratet das Paar, das zeitlebens per Sie bleiben wird, auf dem Standesamt in Bonn; Vormfelde und der protestantische Theologe Erik Peterson fungieren als Trauzeugen. Der damit vollzogene Selbstausschluss von den Sakramenten bleibt bis zum frühen Tod Duškas ein Problem39, und bildet anfangs, da Schmitts Annullierungsprozess in zwei kirchlichen Instanzen erfolglos bleibt, zudem einen Vorwand, „von den Pfaffen los[zu]komme[n]“40. Was Schmitt am 22. März 1924 über Duška schreibt, dürfte für sein Zusammenleben mit ihr insgesamt gelten: „Sie hat mich vor dem Schicksal des Othello bewahrt; sie ist mein einziger Halt.“ Dass er ungeachtet dessen noch im Jahr ihrer Trauung eine weitere, die gesamte Bonner Zeit anhaltende sexuelle Affäre mit einer Verkäuferin eingehen wird, ist Teil einer Intellektuellenbiographie, die bekanntlich nicht nur im privaten Bereich von moralischem Versagen gekennzeichnet ist. Duška Schmitt gebar am 20. August 1931 in Berlin die gemeinsame Tochter Anima Louise, die später einen spanischen Rechtshistoriker heiratete und in Spanien lebte (gest. 1983).41 Schmitts Frau starb am 3. Dezember 1950 im Alter von 47 Jahren in einem Heidelberger Krankenhaus. Der Kanonist Hans Barion hat die orthodoxe Christin unter Umgehung mancher interritueller Vorschriften katholisch beerdigt und ein Requiem gefeiert.42
Das Jahr 1924 Das Jahr 1924 beginnt mit einem Einschnitt. Duška verreist bis Anfang Mai in ihre Heimat und kehrt mit offener Tuberkulose zurück. Schmitt hat viel zu tun, er übernimmt zusätzlich die Vorlesungen seines Kollegen Erich Kaufmann, der vom Auswärtigen Amt zu Verhandlungen um Nachfolgeprobleme des Versailler Friedensschlusses als völkerrechtlicher Berater hinzugezogen wird. Er bespricht einen Aufsatz seines Kollegen Richard Thoma, den dieser zur Erinnerungsgabe für Max Weber beigetragen hat; eine heikle Angelegenheit, da auch Schmitt mit einem Beitrag in dem zweibändigen Werk vertreten ist. Nebenbei begibt er sich auf Wohnungssuche. Offenkundig versucht er sich zu disziplinieren. Von Franz Bleis „Bestiarium“ distanziert er sich: „eine Mode-Erzählung, die mich recht lächerlich macht“, heißt es am 8. Januar. Im Mai verfasst Schmitt eine polemische Rezension einer von
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Teil III, S. 536. Vgl. dazu Wolfgang Spindler, Eine Art Vergangenheitsbewältigung: Carl Schmitts Beichte 1947, Die Neue Ordnung 62 (2008), S. 309–318. Mehring, Aufstieg und Fall, S. 195. Vgl. Reinhard Mehring, „Eine Tochter ist das ganz andere“. Die junge Anima Schmitt (1931–1983), hrsg. von Gerd Giesler und Ernst Hüsmert (= Plettenberger Miniaturen, 5), 2012. Vgl. Bericht Hans Barions über die Beisetzung von Duška Schmitt am 7. 12.1950 in Plettenberg, in: Thomas Marschler, Kirchenrecht im Bannkreis von Carl Schmitt. Hans Barion vor und nach 1945, Bonn 2004, S. 491–493.
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dem Kölner Staatsrechtler Stier-Somlo betreuten Übersetzung von Hobhouse’ „Metaphysischer Staatstheorie“ – eine Retourkutsche für dessen Kritik an der Parlamentarismusschrift. Zu Schmitts Ärger reagiert die „Frankfurter Zeitung“ auf den eingereichten Text nicht in der erwarteten Geschwindigkeit; er weicht aus auf den weit weniger bekannten „Wirtschaftsdienst“ seines Freundes Kurt Singer. Als ihn der Vorsitzende der deutschen Staatsrechtslehrervereinigung Heinrich Triepel im Februar auffordert, auf der zweiten Tagung in Jena zu referieren, sagt er sofort zu. Auf den Termin Mitte April bereitet er sich jedoch nur sporadisch vor; noch unmittelbar vor seinem ersten großen Auftritt vor Kollegen stürzt er sich in Berlin in eine Affäre mit einer verheirateten Ärztin und Mutter. Bereits am 6. Februar hat sich Schmitt gefragt: „Wie ich mein Referat in Jena halten soll, ist mir ein Rätsel. Irrsinnig. Ich kann nicht mehr arbeiten. Ich bin ein erbärmlicher Dilettant. Ich schäme mich entsetzlich. Ich habe keine Klauen, das Leben zu fassen.“ In Jena hält er einen der Hauptvorträge zu Art. 48 Absatz 2 WRV. Er sieht die sog. Diktaturgewalt des Reichspräsidenten als verfassungsrechtlich beschränkt an; dessen „Maßnahmen“ könnten entgegen der herrschenden Meinung keine Gesetzeswirkung entfalten, weil der Reichspräsident sonst zusätzlicher Gesetzgeber neben dem ordentlichen gemäß Art. 60 wäre. Die meisten Kollegen lehnen seine Thesen ab, er fühlt sich wieder als Außenseiter. Immerhin knüpft er Kontakt zu seinem Koreferenten und späteren Mitstreiter im Leipziger „Preußenschlag“-Prozess, Erwin Jacobi. Auch Smend steht auf seiner Seite, sie besuchen gemeinsam die Dornburger Schlösser und führen intensive Gespräche. Mit seinen gerade erschienenen „katholischen“ Schriften findet Schmitt bei der rheinischen Zentrumspartei Anklang. Wilhelm Hamacher, der rheinländische Generalsekretär, lädt ihn zu einem Vortrag im Mai nach Köln ein, Schmitt spricht über „Romantik und Politik“; die kulturkampferprobte „KV“ (Kölner Volkszeitung) berichtet. Vor allem die Nachwuchsorganisationen des Zentrums wollen ihn auf einen sicheren Listenplatz für den Reichstag hieven. Schmitt lehnt zwar ab, der Kontakt zu Hamacher und anderen Zentrumspolitikern bleibt aber bestehen. Er fühlt sich dadurch „wichtig“43. Nach dem ersten Bonner Wintersemester reist Schmitt zu „nette(n) gebildete(n) Menschen“44 nach Bremen, wo er bei seinem alten Bekannten, Konsul Neuenhofer, und dessen Frau wohnt. In Hamburg ist er bei der Familie Eisler zu Gast. Dort lernt er Georg Eislers Base Annie Kraus kennen, auch sie Jüdin. Sie hat für Edmund Husserl gearbeitet. 1928 wird sie in Berlin für gut ein Jahr Schmitts Privatsekretärin sein. Der Frühling 1924 beendet Schmitts Pensionszimmerexistenz. Während er in Jena auf der Staatsrechtlehrertagung weilt, werden ihm die Möbel in die Endenicher Allee 20 gebracht. Die Vermieterin ist eine verwitwete Jüdin. Das schon bei der Besichtigung entwickelte Gefühl, „dass alles in Ordnung zu kommen scheint“45, mag auch auf den Eheprozess gemünzt sein. Die Ehe mit Carita ist nämlich mit Wirkung vom 2. März rechtskräftig aufgehoben. Den Tatbestand der „arglistigen Täuschung“ gibt es indessen im kirchlichen Rechtsbuch (CIC) von 1917 nicht; der am letzten Julitag in Köln gestellte Antrag auf Nichtigkeitserklärung, aufgrund dessen Schmitt am 4. November im Generalvikariat aus-
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Teil II, Eintragung vom 12.11. 1924. Teil II, Eintragung vom 14. 3.1924. Teil II, Eintragung vom 11. 3.1924.
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sagen muss, wird von den Ehegerichten der katholischen Kirche negativ beschieden werden. Nach Duškas Rückkehr aus der Heimat bringt Schmitt sie zur Erholung nach Heisterbach. Offen bleibt, ob ihre Bemerkung, nicht heiraten zu wollen, „wenn die Leibesfrucht beseitigt wird“46, nur theoretischer Natur ist. Durch das ständige Hin und Her zwischen Bonn und Heisterbach erleidet Schmitt selbst einen Ruhr-Rückfall. Trost spenden die neue Bekanntschaft mit Werner Becker, dem späteren Doktoranden und Oratorianer-Priester, Schmitts Stier-Somlo-Verriss und die Druckfahnen von Hugo Balls – bis heute unerreichtem – Essay über „Carl Schmitts Politische Theologie“ im „Hochland“. Da Schmitts ArztBruder Jup bei Duška Tuberkulose diagnostiziert, bringt sie Schmitt nach Ruppichteroth zur Kur. Im August reisen beide zunächst nach Oberstdorf und München zu erneuten medizinischen Untersuchungen, um spontan weiter nach Lugano zu fahren. In einem Kurhaus auf dem Monte Bré wird Duška sich monatelang kurieren. Von da aus besuchen beide im nahegelegenen Agnuzzo den katholischen Schriftsteller und Ex-Dadaisten Hugo Ball und dessen Frau Emmy Hennings, die ebenfalls publiziert. Es sind „wunderschöne glückliche Tage“47. Sie treffen dort auch Hermann Hesse. Schmitt will Ball davon abbringen, eine umgearbeitete Neuauflage der „Kritik der deutschen Intelligenz“ unter dem Titel „Die Folgen der Reformation“ zu veröffentlichen, da die antiprotestantische Polemik und die ahistorische Beurteilung der Französischen Revolution Anlass zu einem Skandal werden könnten – was bekanntlich auch eintraf. Über Stuttgart-Degerloch, wo er den Kollegen Bilfinger besucht, und eine weitere Zwischenstation bei Schnitzlers in Frankfurt kehrt Schmitt Mitte September nach Bonn zurück. Dort bildet sich ein Kreis von begabten Schülern und Bekannten, der sich häufig in Kaffeehäusern und in der legendär werdenden Weinstube Streng zu intensiven Gespräche trifft. Mit manchen wird Schmitt lebenslang befreundet bleiben. Zu dem Kreis gehören die Theologen Erik Peterson und Karl Eschweiler, der katholische Publizist und Frankreich-Kenner Waldemar Gurian, der Germanist und Journalist Paul Adams sowie die Doktoranden Ernst Forsthoff und Werner Becker. Wie gesonderte Datumhervorhebungen belegen, ist Schmitt die neue Bekanntschaft mit Peterson, der 1930 zum katholischen Glauben konvertieren wird, besonders wichtig; die gegenseitige Beeinflussung, etwa im Hinblick auf die Lehre von der repräsentativen Öffentlichkeit der Kirche und der Bedeutung des Akklamationsbegriffs, ist offenkundig und Gegenstand aktueller Forschungen.48 Schmitt bearbeitet seine „Politische Romantik“ für eine Neuauflage, steuert ein längeres, den Romantikbegriff präzisierendes Vorwort bei, das auch in Carl Muths „Hochland“ erscheint. Zum Thema Völkerbund, das er im zurückliegenden Jahr ausführlich in Vorlesungen behandelt hat, erarbeitet er einen größeren Beitrag für „Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft“. Die Korrekturfahnen zu diesem Aufsatz hält er zum Jahreswechsel 1924/25 in Händen. Die vorlesungsfreien Weihnachtsferien verbringt er in Lugano bei seiner geliebten Duška.
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Teil II, Eintragung vom 11. 5. 1924. Teil II, S. 364. Vgl. Giancarlo Caronello (Hrsg.), Erik Peterson. Die theologische Präsenz eines Outsiders, Berlin 2012.
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Damit erlangt Schmitts Leben zum Ausklang des Jahres eine gewisse Festigkeit. Die – zunehmend erwiderte – Liebe zu Duška Todorović, die ersten spürbaren Erfolge als Hochschullehrer und Publizist, die Ausstrahlung seines Wirkens auf das Geistesleben und die politische Vertretung des katholischen Rheinlands zeigen: Carl Schmitt ist in Bonn angekommen. Fruchtbare Jahre liegen vor ihm. Gerd Giesler und Wolfgang H. Spindler
Carl Schmitt Der Schatten Gottes Introspektionen, Tagebücher und Briefe 1921 bis 1924
Teil I Tagebuch August 1921 bis August 1922 Bearbeitet von Gerd Giesler und Ernst Hüsmert
Dieses Tagebuch besteht aus drei Teilen in unterschiedlichen Papierformaten und variierender Papierqualität; es ist in Gabelsberger Stenographie verfasst. Der erste Teil des Tagebuchs (Seiten 1–24, 25–27, 28–29, 62–75 – die Seiten 24, 25 und 27 überschneiden sich mit denen im zweiten Teil) besteht a) aus 24 losen Blättern, die Blattzählung ist im Archiv bei der Nachlassbearbeitung eingefügt worden und entspricht oft nicht der zeitlichen Abfolge der Eintragungen, Nachlass Schmitt RW 265-19585; b) hinzu kommen 1 Blatt aus dem zweiten Teil mit der Blattzählung Nr. 8, Nachlass RW 265-19585 sowie 2 Blätter ohne Blattzählung, Nachlass RW 265-19740. Alle Blätter im Format 7 × 12 cm haben eine Lochung am oberen Rand. Der zweite Teil des Tagebuchs (Seiten 24–25, 27, 30–62) besteht aus 22 Blättern; davon sind die mit der Blattzählung 1 bis 6 und 14 bis 22 im Format 10 × 16,2 cm in einer Rest-Kladde geheftet und mit einer mittig angeordneten roten senkrechten Linie als zusammengehörig identifizierbar. Die Blätter 7 sowie 9 bis 13 und eine Visitenkarte sind auf unterschiedlichen Papieren beschriftet, Blatt 8 gehört zum ersten Teil des Tagebuches. Die Blattzählung ist ebenfalls im Archiv bei der Nachlassbearbeitung eingefügt worden und entspricht meist nicht der zeitlichen Abfolge der Eintragungen. Nachlass RW 265-19585. Der dritte Teil des Tagebuches (Seiten 76–131) besteht aus 17 losen Seiten im Format 16,5 × 20,5 cm; teilweise ist eine Blattzählung eingefügt worden. Durch die konstante Angabe des Tagesdatums ist die chronologische Reihenfolge der Seiten gesichert. Nachlass Schmitt RW 265-19585.
1921 [Montag] 8. 8. 21 Nach dem Abendessen bei am Zehnhoff 1 am Bett. Sehe, dass er nichts von meinem alten Rat beachtet. Mein Leben verflucht, die elende Geschichte meiner Ehe. Um 12 müde fort; auf Fräulein Schneider 2 gewartet in der kleinen Konditorei bei dem Hotel. Ein paar Kölner mit ihrer lustigen Aussprache. Aber ich bin zu sehr desillusioniert. Heute Mittag habe ich gesehen, wie einer von einem westfälisch sprechenden Mann hinausgeschmissen wurde. Welch ein Leben. Traurig, müde, meine einzige Hoffnung ist Georg Eisler 3, aber könnte er mich nicht leid werden? Dienstag, 9. 8. 21 Müde auf, Fräulein Schneider war schon bei am Zehnhoff, wir tranken zusammen Tee, dann begleitete ich am Zehnhoff zum Bad, half ihm beim An- und Ausziehen, dann für mich etwas spazieren, Schinken gegessen, der 10 Mark kostete, aber gut war; im Restaurant Hohenzollern etwas am Cortes 4 geschrieben. Müde, gegessen, nachher bis 1/2 5 Uhr schön
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Hugo am Zehnhoff (1855–1930), langjähriger Förderer Schmitts seit dessen Referendarzeit, prominenter Zentrumspolitiker, Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses (1898–1908) und des Reichstags (1899–1918), von 1919 bis 1927 erster parlamentarischer Justizminister Preußens. Vgl. TB I, S. 405–409 und Register. Schmitt logierte bei seinem Berliner Aufenthalt im preußischen Justizministerium, Wilhelmstraße 65. In einem Brief v. 27. 12.1925 charakterisiert Schmitts Bekannter Walter Fuchs (s. Anm. 418) am Zehnhoff: „… erinnere mich eines unvergesslichen Eindrucks: plötzlich schlürfte ein mir massig erscheinendes, ungefüges, vielleicht asthmatisches Etwas, ein Alp oder Nickelmann, ein großer gefüllter Schatten, vielleicht mit plieren Augen, vielleicht prustend auf ausladenden Füßen stöhnend vorüber, im Treppenhaus, – ich fragte Sie und dachte dann: so der Minister“. (RW 265-4594). Nichte von am Zehnhoff, die in seinem Haus lebte. Bernhard Georg Eisler (1892–1983), enger Freund Schmitts nach dem Tod seines Bruders, Fritz Eisler (1887–1914), bis zur Emigration nach England 1934 kaufmännische Tätigkeit im Verlag seines Vaters in Hamburg, ab 1940 in New York, 1963 wieder in Hamburg, 1983 zwei versöhnliche Telephongespräche mit Schmitt. Im Sommer 1921 hatte Eisler Schmitt öfter um Rat in einer Versicherungsangelegenheit der väterlichen Firma gefragt. Briefe von Georg Eisler an Schmitt befinden sich im Schmitt-Nachlass RW 265-3121 ff. Vgl. das Kurzportrait in: TB I, S. 402 f., sowie Mehring, Hamburger Verlegerfamilie. Donoso Cortés, Juan Maria de la Salud, Marqués de Valdegamas (1809–1853), span. Staatsphilosoph und Politiker. Es handelt sich um erste Entwürfe für den Aufsatz „Die Staatsphilosophie der Gegen-
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geschlafen. Dann mit Professor Leidig 5, dem Abgeordneten der Deutschen Volkspartei, und dem Kammer-Gerichtspräsidenten Roth6 spazieren. In der schön Kaffee getrunken. Abends zusammen gegessen, Pilsener getrunken. Dann im „Ohrenstein“7 herrlicher Rotwein, gut unterhalten über die Revolution, von der Leidig erzählte. Am Zehnhoff rühmte das gute Essen: Schnepfen mit Pommery‚ Austern herrlich. Geil, aufgeregt ins Bett. Mittwoch, 10. 8. 21 Meine Frau8 schreibt mir nicht, auch gut. Um 8 auf, um 9 für mich gefrühstückt. Dann herumgesessen in den Zelten9‚ mit Entsetzen die Menschen besehen, traurig an meine Liebe gedacht, dem Wahnsinn nahe. Nach dem Essen fuhren am Zehnhoff und Fräulein Schneider nach , ich fuhr nicht mit, schlief zu Hause, trank nachher Kaffee. Im Cafe Hohenzollern, notierte behaglich über Cortés, Angst wegen meiner Frau, weinte, weil sie nicht schreibt. Abends mit Fräulein Schneider im Konzert. Donnerstag, 11. 8. [1921] Morgens am Zehnhoff zum Bad begleitet, angezogen. Nach dem Essen geschlafen, um 5 nach Hannover. Mit dem Bummelzug, etwas in der Stadt herumgelaufen, dann Georg Eisler getroffen. Er sah schön aus, sehr gesund. Ich war unbeschreiblich erfreut, gerührt und musste weinen. Wir übernachteten im Hotel Royal am Bahnhof, aßen bei Stekow zu Abend, tranken Beaujolais, sprachen über den Vetter 10, den Georg in Kiel getroffen hat, war stolz, solche Freunde zu haben. Sprachen noch bis 1/2 1. In dem wunderbaren Bett geschlafen, um 5 Uhr morgens fuhr Georg weiter, er hat mir 300 Mark gegeben. Großartiges Hotel. Freitag, 12. 8. 21 Müde, um 8.50 unternehmend im Bahnhof Hannover gefrühstückt, dann nach Oeynhausen zurück. Am Zehnhoff nicht mehr getroffen. Mir gleichgültig, wäre beinahe weggereist. Meine Frau schreibt nicht. Wütend. Nach dem Essen geschlafen. Abends tranken wir eine Flasche Chablis. Ich ging nachher noch wütend und geil in die Operette, entsetzlich, elend, wütend, aber es nützt nichts.
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revolution“, dessen Manuskript Schmitt im Sommer 1922 abschließt, s. S. 107. Er ist der erste (von vier) Aufsätzen zu dem spanischen Gegenrevolutionär; zuerst erschienen im Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 14 (1922), S. 121–131, gleichzeitig bildet er das 4. Kapitel in Schmitt, Politische Theologie. Eugen Leidig (1861–1935), Jurist u. Politiker, Syndikus verschiedenerer Industrieverbände, Gründungsmitglied der DVP, Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses bis 1932. Richard Roth (geb. 1856), seit 1910 Senatspräsident beim Kammergericht. Cafe Ohrenstein, Kurfürstenstraße 75. Cari/Charita (Carita) Dorotić (1883–1968), Schmitts erste Frau, von der er zwar getrennt lebte, die aber weiterhin in der gemeinsamen Wohnung München, Schraudolphstraße 5, wohnte. Die Ehe wurde 1924 für nichtig erklärt. Vgl. Mehring, Aufstieg und Fall, sowie Martin Tielke, Die Bibliothek Carl Schmitts, in: Schmittiana NF I 2011, S. 284, Anm. 50. Promenade am Spreeufer am Rand des Tiergartens, Ausflugslokale seit dem 18. Jh. (Zelte). André Steinlein (1891–1965), Rechtsanwalt und Notar in Lothringen, Vetter Schmitts aus der mütterlichen Linie (Sohn von André Steinlein sen. und Margarethe Steinlein).
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Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922
Samstag, 13. 8. 21 Mit am Zehnhoff an die Salinen spazieren, nachmittags mit Fräulein Schneider und am Zehnhoff zum Siel, über Frau Leidig unterhalten. Sonntag, 14. 8. 21 Großer Ausflug mit Fräulein Schneider, Blank11, Leidig in den Teutoburger Wald, Hermannsdenkmal und Externsteine mit Kreuzabnahme. Sehr erholt, müde nach Hause. Montag, 15. 8. 21 Abends mit Weinand11a und Leidigs im Rodensteiner.12 Nachher Pension. An Georg geschrieben, wie Weinand von erzählte. Dienstag, 16. 8. 21 Morgens Fräulein Schneider an die Bahn gebracht, dann mit am Zehnhoff spazieren, im Bahnhof gegessen, Weinand vergebens erwartet. Begleitete am Zehnhoff an den Zug nach Osnabrück. Ging dann zu Weinand, trank mit ihm im Königshof Kaffee. Wir sprachen über deutsche Universitäten usw. Vergaß, ihm das Zitat von Blei13 über Simmel-Literatur zu geben. Dann zum Zug; erst musste ich stehen, nachher fand ich einen Platz, sprach aber mit niemand, kam ziemlich frisch in Berlin an, ging zu Fuß nach Hause. Abends noch etwas über die Straße, aß ein Schinkenbrot, aufgeregt und doch müde ins Bett. Mittwoch, 17. 8. 21 Behaglich im Arbeitszimmer einiges erledigt. Briefe geschrieben an die Stadt Duisburg werden. Abends aßen wir schön zu Abend. Es war noch ein Assessor Kreuzwald22 aus Köln da, ein dicker, selbstgefälliger Münsterländer, der es wohl zu einem wohlhabenden Rechtsanwalt bringt. Ekelhaft und müde. Raserei der Dysästhesie. Samstag, 20. 8. 21 Wartete lange auf Miss Murray, mit der ich mich dummerweise fürs [Kaiser-]FriedrichMuseum verabredet hatte um 10 Uhr. Endlich kam sie um 11. Sie übernachtete also im Zimmer neben mir, doch war ich ganz gleichgültig.
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Paul Schubart (1845 – ca. 1920), Jurist, Geh. Seehandlungsrat, Autor des in 26 Auflagen erschienenen Buches Die Verfassung und Verwaltung des Deutschen Reiches und des Preußischen Staates, Breslau 1880 bis 1918. Georges Sorel (1847–1922), franz. Sozialphilosoph, auf den in Deutschland zuerst Schmitt hingewiesen hat, vgl. Schmitt, Diktatur, S. 147 f., s. auch Anm. 460. Friedrich Karl Dombois (1931 gest.), Senatspräsident am preußischen Oberverwaltungsgericht. Unter den Linden 46. Wilhelm Kisky (1881–1953), Dr. phil., Historiker und Archivar, mit am Zehnhoff befreundet, 1913 Direktor des Archivs der Fürsten von Salm in Anholt, nach Kriegsdienst 1920–1924 im Reichsarchiv in Berlin, ab 1928 Leiter der Archivberatungsstelle der rheinischen Provinzialverwaltung. Nicht ermittelt.
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Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922
Sonntag, 21. 8. 21 Wir fuhren zusammen im Auto, am Zehnhoff war krank, Miss Murray und ich zur Hedwigskirche.23 Freute mich über die Andacht von Miss Murray. Dann zu Hause. Abends mit Kisky gesungen, Prinz Eugen und Volkslieder, verschiedene Lieder mit Miss Murray, die mich sehr ergriffen. My Dark Rosaleen.24 Montag, 22. 8. 21 Miss Murray möchte gern hier wohnen, sie fürchtet sich vor ihrer Hausfrau; ich bat am Zehnhoff, ihr das zu gestatten; er tat es. Sie war sehr freundlich gegen mich, aber wohl nur aus naivem Egoismus. Ich wollte jeden Tag abfahren, tat es aber nicht. Ich las die Gutachten über die Auseinandersetzung mit dem Kaiser.24a Nachmittags . Abends kam Georg Eisler, holte ihn am Lehrter Bahnhof ab. Wir aßen zusammen bei Lutter und Wegener.25 Er fuhr mit der Untergrundbahn nach Hause. Er will nach Pößneck in Sachsen wegen eines Prokuristen. Wir sprachen sehr freundlich miteinander. Dienstag, 23. 8. 21 Früh nach Dahlem. Zum Bildhauer wegen eines Steines für Lilli Eisler.26 Mit der Elektrischen zurück. Zu Hause (kamen zur [gleichen] Zeit) ein Eilbrief von meiner Frau; Ruf nach Greifswald27; war sehr froh darüber, das erreicht zu haben, weiter aber nichts. Am Zehnhoff gratulierte mir herzlich und ließ eine Flasche Wein kommen; nach dem Essen kam auch Miss Murray, war außerordentlich froh, dass ich mich herzlich darüber freute und trank mit. Fuhr nachmittags nicht nach Dahlem, telephonierte, dass ich nicht kommen könnte. Nachmittags bei Kaffee mit Geheimrat Huber 28 und Kisky gefeiert, Miss Murray war nicht da, worüber ich einen heftigen Schmerz empfand. Wie dumm. Abends nochmals eine Flasche Wein. Dann ging am Zehnhoff ins Bett, ich lief über die Kurstraße, Anna Koch, Leipziger Straße 90 IV, wunderschön, freundlich, lustig, sie verlangte, soll sie lieben. Dann nach Hause, gleich ins Bett; abends zog Miss Murray bei uns ein. Mittwoch, 24. 8. 21 Früh auf, um 8 Uhr, nach Dahlem, zu Georg Eisler. Freute sich unbeschreiblich, dass ich Ordinarius in Greifwald wurde und machte gleich wieder Pläne. Wir fuhren zusammen in Die St. Hedwigskirche in Berlin wurde von 1747 bis 1773 nach Plänen von Knobelsdorff und Legeay vor allem für die neu zugewanderten Katholiken aus Schlesien gebaut. Seit Gründung des Bistums Berlin 1930 Bischofskirche. 24 Berühmtes Gedicht des irischen Dichters James Clarence Mangan (1803–1849). 24a Vermutlich handelt es sich um die Forderung der alliierten Siegermächte, Kaiser Wilhelm II. auszuliefern und vor einem internationalen Tribunal anzuklagen, vgl. Gerd Hankel, Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2001, S. 74–87. 25 Charlottenstrasse 49, beim Gendarmenmarkt. 26 Julie (Lilly) Eisler, Schwester von Fritz und Georg Eisler, war nach der Geburt ihres zweiten Kindes im August 1920 in Berlin gestorben, vgl. Mehring, Hamburger Verlegerfamilie, S. 9. 27 Vgl. Matthias Miguel Braun u. Volker Pesch, Die Umstände der Berufung Carl Schmitts nach Greifswald, in: Schmittiana VII 2001, S. 197–206; Mehring, Greifswalder Intermezzo. 28 Ministerialdirigent in der Justizverwaltung des Justizministeriums. 23
August–Oktober 1921
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die Stadt, er ging zum Essen. Ich wartete nach dem Essen auf ihn (spielte mit Miss Murray schön 4-händig); um 3 Uhr kam Eisler, er ruhte sich in meinem Zimmer aus, ich unterhielt mich schön mit Miss Murray und spielte Norma29 usw. Um 1/2 5 mit Georg zum Anhalter Bahnhof gefahren, wir aßen etwas, schrieben Karten über meine Berufung. Brachte ihn an den Zug; dann nach Hause zurückgefahren, mit Miss Murray gespielt. Donnerstag, 25. 8. 21 Morgens mit Geheimrat Wende30 auf der Veranda des Justizministeriums, über meine Berufung verhandelt. Er erinnert mich an den Freund von Heinrich Bahr31 aus Straßburg, einen Husarenoffizier. Fröhlich, dass alles so glatt ging. [Für die Zeit bis 11. September 1921 fehlen Tagebuch-Eintragungen] An K. Sonntagmorgen (11. 9. 21) Von jeder Messe, die ich höre, bin ich überwältigt. Ich gehe zur Messe und zu Gott, als ginge ich zu Dir. Auf der Straße aber, sobald ich aus dem Hause Gottes heraustrete, bin ich traurig wie ein verlassenes Kind. Wie schmerzt es mich, dass ich Dich morgen nicht sehe; seit einer Woche lebte ich von der Hoffnung, Dich morgen zu sehen. O vous tous ma peine est profonde.32 Wie viele Menschen sehen Dich in Köln33, hören Deine Stimme und dürfen Dich etwas fragen. Ich beneide den Trambahn-Schaffner, der Dir das Billett gibt, den Briefträger, der Dir den Brief gibt, ich beneide jeden der kleinen Füchse, die Dich umgeben. O die glücklichen Füchse. Sie werden mir zu indirekten Sündern. Ich glaube, dass die Füchse eine privilegierte Rasse sind. Dem Menschensohn muss das schon aufgefallen sein, denn er sagte: die Füchse haben ihren Hain, aber des Menschen Sohn [hat nichts, wo er sein Haupt hinlege].34 Ich las die Gutachten über die Auseinandersetzung mit dem Kaiser. . Die Füchse sehen Kathleen Murray und spielen mit ihr. Aber meine Sehnsucht streckt ihre Arme vergebens aus und verblutet in leerer Einsamkeit wie ein Kreuzfahrer im Sande der syrischen Wüste. (Im gleichen Brief über Cortes, seine dämonische Kraft, die Gottesliebe, [h]asta enloquecer por ti35). 5.1. 21 [nachträglich mit Tinte überschriebenes Datum, korrekt vermutlich Mittwoch, 5.10.21] Sehr verehrtes liebes Fräulein Schneider, Ihr Brief mit seinen liebenswürdigen Glückwünschen erreichte mich in einer Zeit, da ich die Vorbereitungen überlegte, die notwendig sein 29 30
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Oper von Vincenzo Bellini. Schmitt spielte seit seiner Jugendzeit Klavierauszüge von Opern. Erich Wende (1884–1966), Dr. jur., seit 1917 im preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung tätig, 1921 Ministerialrat in Abtlg. UI, zuständig für Universitäten, enger Mitarbeiter des Kultusministers Carl Heinrich Becker. Nicht ermittelt. Dt. Oh Ihr allesamt, mein Schmerz sitzt tief. Aus Paul Verlaine, Gaspar Hauser chante. Von Köln aus, wo sie im Sommer 1921 wohnte, siehe Teil III, S. 402, versuchte Kathleen Murray Kontakte wegen ihrer geplanten Promotion herzustellen, s. Anm. 50. Nach Lk 9,57. „Si quieres conocer al verdadero Dios, mira al que te ama hasta enloquecer por tí“. Juan Donoso Cortés, Ensayo sobre el catolicismo, el liberalismo y el socialismo. In: Obras de Juan Donoso Cortés, Tomo 4, Madrid 1854, S. 268. Dt. Wenn Du den wahrhaftigen Gott erkennen möchtest, betrachte denjenigen, der dich liebt, bis er verrückt wird nach dir.
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Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922
werden, um die Reise in die arktischen Fluren Pommeraniens36 anzutreten, um, mit anderen Worten, aus dem südlichen, kaum 100 km von Italien entfernten Teil unseres Vaterlandes in jenen anderen Teil zu wandern, dessen Entfernung vom Vater Rhein ebenso groß ist, wie seine Nähe zu den Eisfeldern Skandinaviens-Spitzbergens würde ich sagen, wenn nicht schon beim Klang dieses Namens Ihr zartes Blut vor Kälte in den Adern erstarrte. Demnach bereits mit einem Fuß in der Ostsee stehend, wenn auch mit dem anderen noch diesseits des Limes zögernd, mit der einen Hälfte meiner Nase noch die warmen Lüfte Italiens einatmend, während an die andere schon der Salzgeruch heringsreicher Meeresfluten dringt; das eine Ohr erfüllt mit den Schalmeien Vergils, während in dem anderen bereits das Geheul der Geister gefallener Schwedenkrieger tönt – in dieser zerspaltenen, wenig stabilen Stellung trifft mich Ihr Brief, treibt mir in das eine Auge eine Träne der Freude, in das andere dagegen eine solche Wehmut und vermehrt also noch die Zwiespältigkeit meiner Existenz. Denn mit welcher anderen Empfindung als der freudiger Dankbarkeit könnte ich Ihr liebenswürdiges Interesse an meinem argen Schicksal und die Erinnerung an Ihre fröhlichen Unterhaltungen am Fuße des Wasenberges in [den] Vogesen37 aufnehmen und wie anders als in tiefster Melancholie bemerken, dass auch Ihr Gemüt von den Nebeln [darüber geschrieben: Nebelschwaden] des Wasenberges nicht unberührt geblieben zu sein scheint? Ist es schwierig, auf die [Blödheit] bewusster