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German Pages 288 Year 2020
Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Band 34
Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa Teil 3 Herausgegeben von Gilbert H. Gornig Adrianna A. Michel
Duncker & Humblot · Berlin
Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa
Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Herausgeber im Auftrag der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn: Gilbert H. Gornig, Christian Hillgruber, Hans-Detlef Horn, Bernhard Kempen, Eckart Klein, Hans v. Mangoldt, Adrianna A. Michel, Dietrich Murswiek, Dietrich Rauschning
Band 34
Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa Teil 3
Herausgegeben von Gilbert H. Gornig Adrianna A. Michel
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Die Bände 1 – 19 der „Staats- und völkerrechtlichen Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht“ erschienen im Verlag Wissenschaft und Politik, Köln
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p gmbh, Rimpar Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 1434-8705 ISBN 978-3-428-18047-9 (Print) ISBN 978-3-428-58047-7 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort In drei Symposien 2016 bis 2018 beschäftigte sich die Studiengruppe für Politik und Völkerrecht mit dem Ersten Weltkrieg. Behandelt werden die rechtlichen Fragen der Auseinandersetzung und die Folgen der Friedensverträge, aber auch die Auswirkungen des Krieges auf die Staatengemeinschaft weltweit bis zum heutigen Tag. Der dritte Band widmet sich den nichteuropäischen Staaten, die am Großen Krieg mitwirkten. Nicht nur die europäischen Staaten waren am Ersten Weltkrieg beteiligt, sondern auch Staaten in Asien, Afrika und Amerika, wobei die südamerikanischen Länder nicht in Kriegshandlungen verwickelt wurden. Der Vertrag von Sèvres, der niemals in Kraft trat, hätte die Türkei zerstückelt. Der Vertrag von Lausanne hingegen bescherte der Region für lange Zeit einen stabilen Frieden, weil er den herrschenden Kräfteverhältnissen in der Region gerecht wurde und den Türken ihr nationales Selbstbestimmungsrecht gewährleistete. Im November des ersten Kriegsjahres eröffneten zaristische Truppen die Offensive im Kaukasus. Im Winter 1914/15 wollten die Osmanen zurückschlagen. Doch der Versuch schlug fehl; er mündete in einer schweren Niederlage in der Schlacht von Sarıkamıs¸. Der Beitrag über Palästina und den Zionismus verdeutlicht, dass historische Ansprüche auf ein Territorium völkerrechtlich unbedeutend sind. Der am 14. Mai 1948 auf der Versammlung des Jüdischen Nationalrats ausgerufene Staat Israel konnte sich aber mit effektiver Staatsgewalt gegen die Angriffe auf sein Territorium und sein Volk durch die Nachbarn behaupten. Der am 15. November 1988 in Algier ausgerufene Staat Palästina kam hingegen nicht zustande. Das Sykes-Picot-Abkommen aus dem Jahr 1916 definierte die gemeinsam vereinbarten Einfluss- und Kontrollbereiche der Staaten Frankreich und Vereinigtes Königreich. Auch die Naba-Masa-Unruhen und der frühe Nahostkonflikt zeigen, dass dieses Gebiet, in dem Juden und Araber leben, noch lange auf Frieden warten muss. Das Mandatssystem des Völkerbundes wurde für die Verwaltung der früheren deutschen Schutzgebiete und für die ehemals türkischen Gebiete im Nahen Osten durch Siegermächte des Ersten Weltkriegs geschaffen. Kennzeichnend für das Mandatssystem ist, dass die Verwaltung der Mandatsgebiete auf der Grundlage von Mandatsverträgen unter der Aufsicht des Völkerbundes aufgrund bestimmter Vorgaben in der Völkerbundsatzung erfolgte. Das frühe Ende des Kolonialzeitalters für Deutschland brachte den Vorteil mit sich, dass es von den schweren und teilweise lang andauernden Problemen der Entkolonialisierung verschont blieb. Wenn die Ereignisse in Afrika auch militärisch weniger bedeutsam waren als die großen Schlachten an der Westfront, so kann doch der Blick von Afrika her wichtige Erkenntnisse über diesen globalen Krieg bringen. Die Modernität Chinas und sein gespaltenes Verhältnis zum Rechtsstaat und zur internationalen Rechtsordnung sind zu einem Teil nur dann ver-
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Vorwort
ständlich, wenn die Folgen des Ersten Weltkriegs in Fernost betrachtet und diese in die rechtliche und die historische Entwicklung vor und nach dem Ersten Weltkrieg eingeordnet werden. Das Staatsgebiet Japans sah zu Beginn des Ersten Weltkrieges im Jahre 1914 anders aus als heute. Infolge unterschiedlicher Erwerbstatbestände gehörten nicht nur die Inseln, die heute das Staatsgebiet Japans ausmachen, dazu, sondern auch viele weitere Teile des Fernen Ostens wie die sog. nördlichen Kurilen bis zur Halbinsel Kamtschatka, Formosa und die Pescadoren. Die Fragen der Verteilung der Landmasse Ostasiens unter die dort um Einfluss streitenden Staaten waren beherrschendes Thema auch in der Zeit des Ersten Weltkrieges. Lateinamerika stellte im Ersten Weltkrieg keinen Hauptschauplatz des Konflikts dar. Zwar hatte sich der Seekrieg auch in mittel- und südamerikanische Gewässer verlagert. Insgesamt blieb diese Weltregion jedoch jenseits der Schlachtfelder. Das bedeutet allerdings nicht, dass sich die Rolle der lateinamerikanischen Staaten in einer Beobachterrolle erschöpfte. Der Krieg hinterließ auch dort „tiefe Spuren“. Am Ende wird die Aussage diskutiert, ob es ohne den Ersten Weltkrieg keinen Faschismus und keinen Nationalsozialismus gäbe. Aber erst das Zusammenwirken der verschiedenen Faktoren machte die Nachkriegskonstellation in den 1920er Jahren so brisant. Am Anfang dieses Jahrzehnts standen bittere Enttäuschungen, utopische Hoffnungen, utopische Hoffnungslosigkeit und eine leicht durchschaubare Selbstbezogenheit der Siegermächte – eine Gemengelage, die Chaos und politische Kuriositäten begünstigte (von Bredow). In diesem dritten Teil der Trilogie behandelt Roland Banken das Schicksal des Osmanischen Reiches sowie den Friedensvertrag von Sèvres und den Vertrag von Lausanne. Gilbert H. Gornig widmet sich Palästina, dem Volk der Israeliten, dem Zionismus und dem Staate Israel sowie dem Schicksal der Palästinenser. Andreas Raffeiner beschäftigt sich mit dem Sykes-Picot-Abkommen, den Nabi-Masa-Unruhen und den Anfängen des Nahostkonflikts sowie der Kaukasusfront. Holger Kremser setzt sich mit dem Mandatssystem des Völkerbunds auseinander. Michael Pesek beleuchtet die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs in Afrika und dort in den Kolonialstaaten. Dass der Große Krieg auch im Fernen Osten stattfand, zeigen die Ausführungen von Georg Gesk, der sich China widmet, sowie Heinrich Menkhaus, der Japans Rolle im Ersten Weltkrieg beleuchtet. Norbert Bernsdorff verfolgt den Verlauf des Ersten Weltkriegs in Lateinamerika und damit die Fronten jenseits der Schlachtfelder. Die Trilogie endet mit einem Beitrag von Wilfried von Bredow über den Einfluss des Ersten Weltkriegs auf Faschismus und Nationalsozialismus. Die Herausgeber danken erneut Frau Heike Frank und den Mitarbeitern des Verlages Duncker & Humblot für die gute Zusammenarbeit. Marburg, im Frühjahr 2020
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Foreword In three symposia from 2016 to 2018, the Study Group for Politics and International Law dealt with the First World War. The legal issues of conflict and the consequences of the peace treaties are discussed, but also the effects of the war on the international community worldwide up to the present day. The third volume is dedicated to the non-European states that participated in the Great War. Not only the European states were involved in the First World War, but also states in Asia, Africa and America, whereby the South American countries were not involved in warfare. The Treaty of Sèvres, which never came into force, would have dismembered Turkey. The Treaty of Lausanne, on the other hand, provided the region with a stable peace for a long time because it lived up to the prevailing balance of power in the region and guaranteed the Turks their national right of self-determination. In November of the first year of the war, Tsarist troops opened the offensive in the Caucasus. In the winter of 1914/15, the Ottomans wanted to fight back. But the attempt failed; he ended in a serious defeat at the Battle of Sarıkamıs¸. The article on Palestine and Zionism makes it clear that historical claims to a territory are irrelevant under international law. The state of Israel, proclaimed at the assembly of the Jewish National Council on May 14, 1948, could assert itself with effective state authority against the attacks on its territory and its people by its neighbors. The proclaimed on 15 November 1988 in Algiers Palestine, however, did not materialize. The SykesPicot Agreement of 1916 defined the jointly agreed areas of influence and control of the states of France and the United Kingdom. The Naba Masa riots and the early Middle East conflict also show that this area, where Jews and Arabs live, has to wait a long time for peace. The mandate system of the League of Nations was created for the administration of the former German protected areas and for the former Turkish areas in the Middle East by victorious powers of the First World War. Characteristic of the mandate system is that the administration of the mandate areas on the basis of mandate contracts under the supervision of the League of Nations was done on the basis of certain provisions in the League of Nations. The early end of the German colonial era for Germany brought with it the advantage that it was spared the severe and sometimes long-lasting problems of decolonization. Even if events in Africa were less important militarily than the great battles on the Western Front, the view from Africa can bring important insights into this global war. The modernity of China and its split relationship to the rule of law and the international legal system are understandable to a large extent only when the consequences of the First World War in the Far East are considered and these are classified in the legal and historical development before and after the First World War. The state of Japan looked different at the beginning of World War I in 1914 than it does today. As a result
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Foreword
of different acquisitions, not only the islands that make up Japan’s state territory were included, but also many other parts of the Far East, such as the so-called Northern Kuril Islands, Kamchatka Peninsula, Formosa and the Pescadores. The questions of the distribution of the landmass of East Asia among the countries that were in conflict there were dominant topics during the First World War. Latin America was not a major theater of conflict during the First World War. The naval war had shifted to Central and South American waters. Overall, however, this world region remained beyond the battlefields. This does not mean, however, that the role of the Latin American states was exhausted in an observer role. The war also left “deep marks” there. At the end, the statement is discussed whether without the First World War there would be no Fascism and no National Socialism. But it was the interaction of the various factors that made the postwar constellation in the 1920s so explosive. The beginning of this decade saw bitter disappointments, utopian hopes, utopian hopelessness and an easily comprehensible self-centeredness of the victorious powers – a mixed situation that favored chaos and political curiosities (von Bredow). In this third part of the trilogy Roland Banken deals with the fate of the Ottoman Empire as well as the Treaty of Sèvres and the Treaty of Lausanne. Gilbert H. Gornig is dedicated to Palestine, the people of the Israelites, Zionism and the state of Israel, as well as the fate of the Palestinians. Andreas Raffeiner deals with the Sykes-Picot Agreement, the Nabi Masa riots and the beginnings of the Middle East conflict and the Caucasus front. Holger Kremser deals with the mandate system of the League of Nations. Michael Pesek highlights the effects of the First World War in Africa and there in the colonial states. The fact that the Great War also took place in the Far East is demonstrated by the remarks by Georg Gesk, who is dedicated to China, and Heinrich Menkhaus, who examines Japan’s role in the First World War. Norbert Bernsdorff follows the course of the First World War in Latin America and thus the fronts beyond the battlefields. The trilogy ends with a contribution by Wilfried von Bredow on the influence of the First World War on Fascism and National Socialism. The editors thank again Mrs. Heike Frank and the coworkers of the publishing house Duncker & Humblot for the good co-operation. Marburg, April 2020
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Inhaltsverzeichnis Roland Banken Der Vertrag von Sèvres 1920 und seine Änderungen durch den Vertrag von Lausanne 1923 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Andreas Raffeiner Die Kaukasus-Front, ein vergessener Kriegsschauplatz im Ersten Weltkrieg . . . Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gilbert H. Gornig Der Beginn der Palästinafrage und des Nahostkonflikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Andreas Raffeiner Das Sykes-Picot-Abkommen, die Nabi-Masa-Unruhen und die Anfänge des Nahostkonflikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Holger Kremser Das Mandatssystem des Völkerbundes und seine Folgen bis heute . . . . . . . . . . . 127 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Michael Pesek Afrika im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Georg Gesk China und der Erste Weltkrieg. Kiautschou und die Pazifikregion . . . . . . . . . . . 171 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Heinrich Menkhaus Das Verhältnis zwischen dem Deutschen Reich und dem Großjapanischen Reich im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Norbert Bernsdorff Lateinamerika und der Erste Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Wilfried von Bredow Der Einfluss des Ersten Weltkriegs auf Faschismus und Nationalsozialismus . . 241 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
Content Roland Banken The Treaty of Sèvres 1920 and its Amendments by the Treaty of Lausanne 1923 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Andreas Raffeiner The Caucasus Front, a Forgotten Theatre of War in the First World War . . . . . . Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gilbert H. Gornig The Beginning of the Palestine Question and the Middle East Conflict . . . . . . . 61 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Andreas Raffeiner The Sykes-Picot Agreement, the Nabi Masa Riots and the Beginnings of the Middle East Conflict . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Holger Kremser The Mandate System of the League of Nations and its Consequences to this Day 127 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Michael Pesek Africa in the First World War . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Georg Gesk China and the First World War. Jiaozhou and the Pacific Region . . . . . . . . . . . . 171 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Heinrich Menkhaus The Relationship between the German Reich and the Greater Japan Empire during the First World War . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Norbert Bernsdorff Latin America and the First World War . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Wilfried von Bredow The Impact of World War I on Fascism and National Socialism . . . . . . . . . . . . . 241 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 The Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 List of Names . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Subject Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations Abs. AJIL Anm. Art. Aufl. B.C.E. BBKL. Bd. Bde. bzw. d. h. ders. Doc. dt. ebd. EJGK EPIL f. (ff.) Fn. Frhr. v. frz. FS Hrsg. i. V. m. ibid. IGH JCA JO JöR Kap. k.k. k. und k. KNV KolBl. Kön LNTS LoN m. w. N. Mio. n. Chr. N.F.
Absatz American Journal of International Law Anmerkung Artikel Auflage before the Common Era bzw. before the Christian Era Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon Band Bände beziehungsweise das heißt derselbe Document deutsch ebenda Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur Encyclopedia of Public International Law folgende (Seiten) Fußnote Freiherr von Französisch Festschrift Herausgeber in Verbindung mit ibidem Internationaler Gerichtshof Jewish Colonization Association Journal officiel Jahrbuch des öffentlichen Rechts Kapitel kaiserlich-königlich kaiserlich und königlich Konstituierende Nationalversammlung Deutsches Kolonialblatt Buch der Könige League of Nations Treaty Series League of Nations mit weiteren Nachweisen Millionen nach Christi Geburt Neue Folge
12 NATO Neudr. Nr. NZfIR o. A. PLO RDI Red. Res. RGBl. Rn. russ. S. sog. u. a. UdSSR UN UNDP UNICEF UNO UNTS US USA US-amerik. v. Chr. vgl. VN vol. WRV WTO z. B. ZaöRV
Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations North Atlantic Treaty Organization Neudruck Nummer Niemeyers Zeitschrift für Internationales Recht ohne Autorenangabe Palästinensische Befreiungsorganisation Droit international et de Legislation Comparée Redaktion Resolution Reichsgesetzblatt Randnummer russisch Seite sogenannte unter anderem Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken United Nations United Nations Development Programme United Nations Children’s Fund United Nations Organization United Nations Treaty Series United States United States of America US-amerikanisch vor Christi Geburt vergleiche Vereinte Nationen volume Weimarer Reichsverfassung World Trade Organisation zum Beispiel Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
Der Vertrag von Sèvres 1920 und seine Änderungen durch den Vertrag von Lausanne 1923 Von Roland Banken I. Einleitung Der Erste Weltkrieg und die nachfolgenden Friedensschlüsse veränderten nicht nur die jahrhundertealte Ordnung zwischen den Völkern Mittel- und Osteuropas. Auch im Orient führte die Niederlage eines großen Vielvölkerstaates, des Osmanischen Reiches,1 zu einer historischen Zäsur, die nicht nur die politische Landkarte dieser Weltregion völlig veränderte, sondern auch durch Flucht und Vertreibung von mehr als einer Million Menschen begleitet war. Das Osmanische Reich war auf Grundlage eines geheimen deutsch-türkischen Bündnisvertrages vom 2. August 1914 auf Seiten der Mittelmächte in den Krieg eingetreten.2 Die Kriegshandlungen begannen am 28. Oktober 1914 mit einem Überraschungsangriff zweier zuvor unter osmanischer Flagge umgewidmeter deutscher Schlachtkreuzer auf die russischen Schwarzmeerhäfen.3 Am 12. November 1914 rief Mehmet V. (1909 – 1918) in seiner Doppelrolle als Kalif und als Sultan des Osmanischen Reiches formal den Dschihad aus.4 Dieser Kriegseintritt, forciert von der seinerzeit in Konstantinopel herrschenden Regierung des sogenannten „Komitees für Einheit und Fortschritt“ (KEF), wurde von den Türken als historische Gelegenheit angesehen, um die seit vielen Jahrzehnten immer enger gewordenen vertraglichen, politischen und wirtschaftlichen Fesseln der europäischen Großmächte abzuschütteln.5 Die Mächte der Triple Entente6 wie-
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Die Bezeichnungen Osmanisches Reich und Türkei werden im weiteren Verlauf regelmäßig synonym verwendet. Die heutige Türkische Republik ist darüber hinaus völkerrechtlich identisch mit dem Osmanischen Reich, vgl. R. Banken, Die Verträge von Sèvres 1920 und Lausanne 1923. Eine völkerrechtliche Untersuchung zur Beendigung des Ersten Weltkriegs und zur Auflösung der sogenannten „Orientalischen Frage“ durch die Friedensverträge zwischen den alliierten Mächten und der Türkei, 2014, S. 415 f. 2 Text: J. Hohlfeld, Dokumente der Deutschen Politik und Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart, Bd. II: Das Zeitalter Wilhelms II. 1890 – 1916, 1951, S. 294. Zu den genauen Hintergründen für das Bündnis mit Deutschland, siehe F. Ahmad, The Late Ottoman Empire, in: M. Kent (Hrsg.), The Great Powers and the End of the Ottoman Empire, 1996, S. 13 ff. 3 Vgl. K. Wolf, Gallipoli 1915. Das deutsch-türkische Militärbündnis im Ersten Weltkrieg, 2008, S. 34 ff. Dies war die sogenannte „Goeben“- und „Breslau“-Affäre. 4 D. Fromkin, A Peace to End all Peace: Creating the Modern Middle East, 1914 – 1922, 1989, S. 109. 5 Vgl. F. Ahmad (Anm. 2), S. 17.
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derum sahen darin die bereits seit Jahrzehnten herbeigesehnte Möglichkeit, im Falle des Sieges auch diese, in technologischer Hinsicht noch weitgehend unterentwickelte, Weltregion nach ihren eigenen Vorstellungen neu gestalten zu können.7 Der Waffenstillstand von Mudros, der am 30. Oktober 1918 von einer osmanischen Delegation auf dem Flaggschiff der britischen Mittelmeerflotte H. M. S. Agamemnon in der Hafenbucht von Mudros auf der ägäischen Insel Limnos unterzeichnet wurde,8 beendete zwar offiziell die Feindseligkeiten am nahöstlichen Kriegsschauplatz; es sollte jedoch noch bis zum Juli 1923 dauern, bis der Kriegszustand völkerrechtlich durch einen Friedensvertrag beendet werden konnte. Im Zentrum dieser Entwicklung steht der am 10. August 1920, mehr als 20 Monate nach dem Waffenstillstand von Mudros geschlossene Friedensvertrag von Sèvres, dem letzten der fünf Pariser Vorortverträge9. Es hatte also sehr lange gedauert, bis sich die drei Hauptsiegermächte, das Vereinigte Königreich, Frankreich und Italien, darauf hatten verständigen können, wie das infolge der türkischen Niederlage entstandene Machtvakuum im Orient ausgefüllt werden sollte. Auf der Pariser Friedenskonferenz hatte der Vertrag mit den Türken im Vergleich zu den Problemen in Europa und den Friedensschlüssen mit den anderen Kriegsgegnern außerdem nur eine untergeordnete Rolle gespielt.10 Uneinigkeit unter den Siegern, die undurchsichtige Rolle der Vereinigten Staaten von Amerika bei der vorgesehenen Nachkriegsordnung in Anatolien,11 ebenso wie die sich rasch ausbreitenden Unruhen im Innern des Osmanischen Reichs und die Invasion griechischer Truppen verkomplizierten die Situation. Der Vertrag von Sèvres sollte nach dem Willen der Siegermächte eine quasi-koloniale Ordnung auf den Gebieten umsetzen, die bis dahin zum Osmanischen Imperium gehört hatten. Dazu zählte die Absicht, auch das Gebiet der heutigen Türkei weitgehend zu zerstückeln und in Einflusssphären aufzuteilen. Als die Bevollmächtigten des Sultans diesen Vertragsentwurf im Pariser Vorort Sèvres unterzeichneten, war er allerdings das Papier nicht mehr wert, auf das er geschrieben stand. Die türkische Bevölkerung widersetzte sich dem Diktatfrieden; und die vielen Monate, die 6
Die Triple Entente bestand, basierend auf einem Bündnisvertrag vom 5. 9. 1915, zwischen dem Vereinigten Königreich, Frankreich und Russland. Im Kriegsverlauf stieß Italien dazu; Russland schied aus. 7 Vgl. R. Banken (Anm. 1), S. 33 ff. 8 Text: C. M. Parry (Hrsg.), The Consolidated Treaty Series, Bd. 224 (1918 – 1919), 1981, S. 169 ff.; P. C. Helmreich, From Paris to Sèvres. The Partition of the Ottoman Empire at the Peace Conference of 1919 – 1920, 1974, Anhang A. Zur Vertiefung, siehe vor allem G. Dyer, The Turkish Armistice of 1918, in: International Journal of Middle Easter Studies, Nr. 8, 1972, S. 144 f. 9 Text: Auswärtiges Amt (Hrsg.), Materialien betreffend die Friedensverhandlungen, Teil XII: Die acht Verträge von Sèvres, 1921; G. F. Martens/H. Triepel (Hrsg.), Recueil Général des Traités et Autres Actes Relatifs aux Rapports de Droit International, troisième série, Bd. 12, Neudruck 1963, S. 664 ff. 10 R. Banken (Anm. 1), S. 138. 11 Vgl. L. Evans, United States Policy and the Partition of Turkey, 1914 – 1924, 1965; P. C. Helmreich (Anm. 8), S. 50 ff.
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seit dem Waffenstillstand vergangen waren, nutzten sie, um den Widerstand gegen die Siegerwillkür zu formieren. Am Ende gelang es ihnen unter General Mustafa Kemal, später genannt Atatürk (1881 – 1938), die Machtverhältnisse zu ihren Gunsten umzukehren. Mit ihrem Sieg über die zwischenzeitlich in Anatolien einmarschierten Griechen und dem Sturz Sultan Mehmet VI. (1919 – 1922) verhinderten sie gleichzeitig die Ratifizierung des Vertrages; und so mussten die Kapitel über den Frieden im Orient im November 1922, vier Jahre nach dem Waffenstillstand von Mudros, nahezu komplett neugeschrieben werden. Im Unterschied zu den Pariser Vorortverträgen erfolgten in diesem Fall direkte Verhandlungen auf Augenhöhe zwischen den eigentlichen Siegermächten und der 1923 ausgerufenen Türkischen Republik. Sie mündeten in die am 24. Juli 1923 geschlossenen Verträge von Lausanne.12 Der Frieden von Lausanne gab der Region eine völlig andere Nachkriegsordnung, als es der Vertrag von Sèvres vorgesehen hatte. II. Probleme der Nachkriegsordnung für das Osmanische Reich Die Vorgeschichte des Vertrages von Sèvres beginnt nicht erst mit der Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg. Vielmehr sollte der Diktatfrieden den Schlusspunkt bilden zu einer Entwicklung, die bereits im frühen 19. Jahrhundert eingesetzt und seinerzeit wie kaum ein anderes Thema die europäischen Kabinette beherrscht hatte13. Das einstige Weltreich der Osmanen hatte schon in den Jahrzehnten vor dem Weltkrieg große Gebietsverluste hinnehmen müssen; und aus der einstigen Bedrohung des Abendlandes war im 19. Jahrhundert zusehends ein außenpolitischer Spielball der europäischen Großmächte geworden.14 Im Inneren war die Koexistenz, die seine Völkerschaften seit Jahrhunderten unter der Herrschaft des Sultans vereint hatte, zusehends brüchig geworden – im Westen sprach man bald vom „Kranken Mann am Bosporus“, wenn vom Osmanischen Reich die Rede war15. Angesichts dieses Niedergangs verwundert es somit nicht, dass schon seit langem Teilungspläne unter den europäischen Mächten diskutiert worden waren16. Dass es trotzdem in dieser Form bis zum Ersten Weltkrieg fortbestehen konnte, verdankte es in erster Linie dem Umstand, dass sich die Großmächte um eine Gefährdung des politischen Gleichgewichts gesorgt hatten.17 Bereits im Berliner Vertrag vom 13. Juli 1878 hatte das 12
Text: G. F. Martens/H. Triepel (Anm. 9), Bd. 13, S. 342 ff. Vgl. W. Baumgart, Vom Europäischen Konzert zum Völkerbund. Friedensschlüsse und Friedenssicherung von Wien bis Versailles, 1974, S. 33 ff. 14 Vgl. S. J. Shaw/E. K. Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II: Reform, Revolution, and Republic: The Rise of Modern Turkey, 1808 – 1975, 1977, S. 55 ff. 15 R. Banken (Anm. 1), S. 16. Die Metapher wird Zar Nikolaus I. zugeschrieben, als er dem britischen Botschafter 1853 ein Angebot zur Aufteilung des Osmanischen Reichs unterbreitete. 16 Vgl. W. Baumgart (Anm. 13), S. 33. 17 R. Banken (Anm. 1), S. 18. 13
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Osmanische Reich ca. 40 % seines Territoriums eingebüßt;18 und zuletzt hatten die Balkankriege von 1912/13 zu einer nahezu vollständigen Beendigung seiner Souveränität über die europäischen Teile geführt.19 Das überwiegend von Türken bewohnte Kernland Anatolien und die Meerengen mit der Hauptstadt Konstantinopel waren jedoch von solchen Gebietsabtretungen bislang (noch) verschont geblieben. In den sogenannten Dardanellenverträgen von 1840 und 184120 und in den Friedensverträgen 1856 und 187821 war die territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit des osmanischen Staates sogar unter die Garantie der Mächte gestellt worden. Diese Haltung war mit dessen Kriegseintritt auf Seiten der Mittelmächte 1914 endgültig revidiert worden.22 Mit den Worten des britischen Premierministers Herbert Henry Asquith (1906 – 1916) hatten für das Osmanische Reich mit diesem Schritt „[…] die Totenglocken nicht nur in Europa, sondern auch in Asien zu läuten begonnen“23. 1. Meerengenfrage Die lange Beibehaltung des völkerrechtlichen Status Quo im Osmanischen Reich war vor allem dem britisch-russischen Gegensatz um die türkischen Meerengen Dardanellen und Bosporus geschuldet gewesen, der bis 1914 das eigentliche Kernproblem der sogenannten „Orientalischen Frage“ ausgemacht hatte.24 Nichts hätte das Mächtegleichgewicht mehr gestört als die Herrschaft einer der untereinander rivalisierenden Großmächte über diesen geostrategischen Angelpunkt zwischen Europa und Asien.25 Völkerrechtlich handelte es sich um internationale Meerengen, seitdem Russland zu einem Uferstaat des Schwarzen Meeres geworden war und damit das Recht auf freie Durchfahrt beanspruchen konnte.26 Das Recht der freien Durchfahrt von Handelsschiffen aller Nationen durch Dardanellen und Bosporus war erstmals im Vertrag von Adrianopel vom 14. September 1829 vertraglich festgeschrieben worden.27 Für auswärtige Kriegsschiffe hatte sich indessen schon frühzeitig eine Sonderregelung zu dem bereits damals geltenden Völkerrecht durchgesetzt, die be18
M. S. Anderson, The Eastern Question 1774 – 1923, 1966, S. 143. Zu den Balkankriegen, vgl. H. N. Howard, The Partition of Turkey. A Diplomatic History, 1913 – 1932, 1966, S. 21 ff. 20 Texte: C. M. Parry (Anm. 8), Bd. 90 (1840), 1969, S. 285 ff., Bd. 92 (1841 – 1842), 1969, S. 7 ff. 21 Text: C. M. Parry (Anm. 8), Bd. 114 (1855 – 1856), 1969, S. 409 ff. 22 M. Kent, Great Britain and the End of the Ottoman Empire, in: ders. (Hrsg.), The Great Powers and the End of the Ottoman Empire, 1996, S. 185. 23 The London Times, Nov. 10, 1914, S. 9, eigene Übersetzung. 24 Überblick: S. Birkner, Die Durchfahrtsrechte von Handels- und Kriegsschiffen durch die Türkischen Meerengen, 2002, S. 17 ff.; R. Banken (Anm. 1), S. 105 ff. 25 R. Banken (Anm. 1), S. 9. 26 E. Brüel, International Straits. A Treatise on International Law, Bd. I: The General Legal Position of International Straits, 1947, S. 98 ff. 27 Text: C. M. Parry (Anm. 8), Bd. 80 (1829 – 1830), 1969, S. 83 ff. 19
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sagte, dass die türkischen Meerengen für fremde Kriegsschiffe in Friedenszeiten grundsätzlich gesperrt bleiben mussten.28 Man sprach von der sogenannten „Alten Osmanischen Regel“ (ancienne règle de l’ Empire Ottoman), weil dieser Zustand seit der Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453 fortgedauert hatte.29 Der Grund lag darin, dass der Aufenthalt von Kriegsschiffen in diesen Gewässern leicht zu einer existentiellen Bedrohung für die osmanische Integrität, und damit einhergehend des europäischen Gleichgewichts, hätte erwachsen können.30 Besonders empfindlich war dadurch naturgemäß Russland betroffen gewesen, denn seinen Kriegsschiffen war so die Passage ins Mittelmeer versperrt, während anderseits auch keine Kriegsschiffe der Westmächte ins Schwarze Meer einfahren durften.31 Bis zu seinem Untergang 1917 hatte das Zarenreich deshalb immer wieder das Ziel verfolgt, die Meerengen zu beherrschen, war aber jedes Mal durch das Eingreifen der westlichen Mächte daran gehindert worden.32 Seit den Dardanellenkonventionen von 1840/41 war die „Alte Osmanische Regel“ fortlaufend als zwingender Rechtssatz des europäischen Völkerrechts proklamiert und unter Garantie der Großmächte gestellt worden,33 zuletzt im Pontusvertrag vom 13. März 1871.34 Schon wenige Wochen vor dem Angriff auf die russischen Häfen hatte die osmanische Regierung jedoch die deutschen Kriegsschiffe in die Meerengen einfahren lassen und damit gegen diese Regel verstoßen. Bald darauf sperrte sie die Dardanellen für Handelsschiffe der Entente, wodurch es in Russland zu Versorgungsengpässen kam. Der gewaltsame Durchbruchsversuch im Westen 1915 war für die Entente das wohl größte militärische Fiasko im gesamten Ersten Weltkrieg.35 Im Friedensvertrag mit der Türkei musste deshalb eine neue Ordnung gefunden werden, wobei das Prinzip der Freiheit der Meerengen mit dem Souveränitätsanspruch der Türkei über sein Küstenmeer und ihren Sicherheitsinteressen in Einklang zu bringen war.
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S. Birkner (Anm. 24), S. 40. Die Formulierung trat erstmals auf in Art. 11 des 1809 geschlossenen Freundschaftsvertrages zwischen dem Vereinigten Königreich und dem Osmanischen Reich und wurde in allen späteren Verträgen immer wieder verwendet, vgl. R. Banken, S. 112. Text: C. M. Parry (Anm. 8), Bd. 60 (1808 – 1809), 1969, S. 323 ff. 30 Vgl. R. Laun, Die Internationalisierung der Meerengen und Kanäle. Bericht, erstattet an die neutrale Konferenz in Stockholm, 1918, S. 118 f. 31 R. Banken (Anm. 1), S. 112. 32 Vgl. A. L. Macfie, The Straits Question 1908 – 36, 1993, S. 20 ff. 33 R. Banken (Anm. 1), S. 114. 34 Text: C. M. Parry (Anm. 8), Bd. 143 (1871 – 1872), 1977, S. 99 ff. Es gab jedoch einige Ausnahmen wie Stationsschiffe. Im Kriegsfall erhielt die osmanische Regierung ihre Handlungsfreiheit zurück, durfte aber Neutrale nicht behindern. 35 A. Palmer, Verfall und Untergang des Osmanischen Reiches, 1992, S. 327 f. 29
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2. Nationalitätenprobleme Das größte Problem der Nachkriegsordnung für die Gebiete des Osmanischen Reichs bestand darin, dass es sich hierbei um ein schlecht administriertes Vielvölkerreich handelte, dessen verschiedene religiöse, sprachliche und ethnische Gruppen unter keinem gemeinsamen staatlichen Dach mehr würden existieren können. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich die Krise vor allem durch die Separationsbestrebungen der Bulgaren und Armenier massiv verschärft, die insbesondere Russland regelmäßig ausgenutzt hatte, um den eigenen Einfluss auf die Hohe Pforte zu stärken. Bis zum Krieg ungelöst geblieben war hierbei die sogenannte „Armenische Frage“. In den sechs östlichen osmanischen Provinzen, den sogenannten „armenischen Vilayets“36 lebten am Vorabend des Ersten Weltkrieges ca. 1,5 bis 2 Millionen Armenier, die allerdings kaum über ein homogenes Siedlungsgebiet verfügten, sondern die gleichen Landstriche wie Türken und Kurden bewohnten und zwischen diesen eine Minderheit ausmachten.37 Unter den Armeniern hatten sich in den 1870er Jahren erste Separatistengruppen gebildet, die durch Anschläge auf öffentliche Einrichtungen brutale Bestrafungsaktionen der Regierung und dadurch wiederum Interventionen der Großmächte provoziert hatten.38 Nachdem die Türken 1914 mit einer Offensive in den Kaukasus gescheitert waren und den Gegenvorstoß Russlands in die östlichen Provinzen mit starker armenischer Minderheit nur unter großen Verlusten hatten auffangen können, nahmen sie 1915 furchtbare Rache an den Armeniern, denen sie Kollaboration mit dem Feind vorwarfen.39 Durch Deportationen und Tötungen kamen in diesem Jahr zwischen 1 bis 1,3 Millionen Christen ums Leben,40 nicht nur Armenier, sondern auch andere christliche Minderheiten in der südöstlichen Region – Nestorianer, Assyrer und Chaldäer.41 Nach diesem Völkermord war die „Armenische Frage“ in besonderem Maße wieder in den Fokus der öffentlichen Meinung geraten. Dadurch standen die Siegermächte später unter Druck, in den beabsichtigten Friedensvertrag Regelungen zu deren Schutz aufzunehmen; gleichzeitig hatten sie darin eine Rechtfertigung für den strengen Umgang mit der besiegten Türkei. So sollten die Türken nach dem Willen der Ententemächte nicht nur hart dafür bestraft werden, dass sie den Krieg auf Grund
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Als Vilayet bezeichnete man osmanische Verwaltungseinheiten, etwa mit Provinzen zu vergleichen. Die Armenier lebten vor allem in den Vilayets Erzerum, Bitlis, Van, Sivas, Marmuretülaziz und Diyarbekir. 37 Vgl. G. Lewy, The Armenian Massacres in Ottoman Turkey. A Disputed Genocide, 2005, S. 235 ff. 38 Vgl. A. Palmer (Anm. 35), 258 ff. 39 G. Lewy (Anm. 37), S. 176 ff. 40 R. J. Rummel, Statistics of Democide. Genocide and Mass Murder since 1900, 1998, S. 81. 41 G. Yonan, Ein vergessener Holocaust: Die Vernichtung der christlichen Assyrer in der Türkei, 1989, S. 212 ff., 251 ff.
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der Sperrung der Meerengen in die Länge gezogen hatten, sondern auch, weil sie Christen in ihrem Reich massakriert hatten.42 Die größte christliche Minderheit im Osmanischen Reich bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges waren mit bis zu 2,5 Millionen die Angehörigen des griechisch-orthodoxen millets.43 Etwa eine Million von ihnen lebte entlang der kleinasiatischen Ägäisküste in der Provinz Aidin mit dem Zentrum Smyrna (türkisch Izmir), die kulturell und wirtschaftlich eng mit dem Königreich Griechenland verbunden war. Das zweite asiatische Gebiet mit einem relativ dichten Anteil griechischer Siedlungen war das Pontusgebiet, eine historische Region an der Küste des Schwarzen Meeres um die Stadt Trabzon.44 Ungefähr 600.000 Griechen lebten in dem osmanischen Teil Thrakiens, davon möglicherweise die Hälfte in der Hauptstadt Konstantinopel.45 In Griechenland war in den letzten Jahrzehnten vor Kriegsausbruch ein nationales Sendungsbewusstsein herangewachsen, welches als Megali Idea, die „Große Idee“, bekannt geworden war und die das Ziel der Vereinigung der im Osmanischen Reich lebenden Griechen mit dem griechischen Mutterland verfolgte.46 Nach dem Sturz des deutschfreundlichen Königs Konstantin I. im Juni 1917 war Griechenland auf Seiten der Entente in den Krieg eingetreten. Zu der Kriegsbeute, mit denen die britische Regierung den griechischen Ministerpräsidenten Elefterios Venizelos geködert hatte, gehörten sowohl Thrakien als auch Teile des kleinasiatischen Küstengebiets.47 Von den Umwälzungen des Krieges nicht unberührt geblieben waren natürlich auch die nichttürkischen, aber muslimischen Bevölkerungsgruppen im Osmanischen Reich. Die Reichshälfte südlich der heutigen türkischen Südgrenze war, von den Kurden in der Provinz Mossul und in einigen Teilen Nordsyriens sowie einiger versprengter christlicher Gruppen (Ostkirchen) abgesehen, überwiegend arabisch, wobei die Araber selbst kein homogenes Volk bilden. Ihr Streben nach Unabhängigkeit und pan-arabischer Einheit war maßgeblich erst im Verlauf des Weltkrieges her-
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W. Woodwards/R. Butler, Documents on British Foreign Policy 1919 – 1936, First Series, Bd. IV, 1952, S. 661; H. Nicolson, Nachkriegsdiplomatie, Curzon: The Last Phase, 1937, S. 101. 43 R. Banken (Anm. 1), S. 74 f. Die nichtmuslimischen Gruppen im Osmanischen Reich waren traditionell in diesen „millets“ (Nationen) organisiert gewesen, kulturellen, religiösen und zivilrechtlichen Selbstverwaltungseinheiten. Dazu ausführlich: K. H. Karpat, Millets and Nationality: The Roots of Incongruity of Nation and State in the Post-Ottoman Era, in: B. Braude/B. Lewis, The Central Lands, Bd. I: Christians and Jews in the Ottoman Empire. The Functioning of a Plural Society, 1982, S. 141 ff. 44 B. Clark, Twice a Stranger. The Mass Expulsions that Forged Modern Greece and Turkey, 2006, S. 108 ff. 45 A. Alexandris, The Greek Minority of Istanbul and Greek-Turkish-Relations 1918 – 1974, 1992, S. 49 f. 46 M. L. Smith, Ionian Vision: Greece in Asia Minor 1919 – 1922, 2005, S. 90, 97 f. 47 Vgl. W. Churchill, World Crisis, P Art. IV: The Aftermath, 1974, S. 365; D. Lloyd George, The Truth about the Peace Treaties, Bd. II, 1938, S. 1210 ff.
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vorgerufen worden.48 Dazu beigetragen hatte das Vereinigte Königreich, dem es 1916 gelungen war, einen Aufstand gegen den Sultan anzufachen. In der HusseinMcMahon-Korrespondenz aus dem Jahre 1915 hatte der britische Hochkommissar in Ägypten bei dem Scherifen des Hedschas, Hussein ibn Ali, den Eindruck erweckt, das Vereinigte Königreich unterstütze eine arabische Unabhängigkeit in einem Gebiet etwa südlich des Taurus.49 Dies stand im Widerspruch zu den eigenen Abmachungen, die das Vereinigte Königreich und Frankreich etwa zur gleichen Zeit im Sykes-Picot-Abkommen gemacht hatten, worin sie nämlich die arabischen Gebiete, aber auch einen Teil Anatoliens, untereinander in Kolonien und Einflusssphären aufteilten.50 1917 hatte der britische Premierminister Arthur Balfour außerdem den Juden eine „Nationale Heimstätte“ in ihrer biblischen Heimat Palästina versprochen.51 3. Fremdkontrolle durch die Großmächte vor 1914 Der Hauptbeweggrund auf Seiten der Türken für den Kriegseintritt im November 1914 war der Wunsch gewesen, sich der Bevormundung durch die Großmächte ein für alle Mal zu entledigen.52 Streitpunkt war diesbezüglich vor allem das System der Kapitulationen – altverbrieften Fremdenrechten und exterritorialen Sonderprivilegien für auswärtige Mächte, darunter Steuer- und Zollfreiheit sowie Ausnahmen von der osmanischen Justiz.53 Sie spielten im Vertrag von Sèvres nur insofern eine Rolle, als dass dieses System unter dem Siegerdiktat in massiver Weise ausgebaut werden sollte, was sogar die Frage aufwirft, ob die danach übriggebliebene „Rumpftürkei“ überhaupt noch als ein souveräner Staat hätte bezeichnet werden dürfen. Im Zusammenhang mit der Fremdkontrolle zu nennen ist auch die sogenannte Öffentliche Osmanische Schuldenverwaltung, weil sie von den Türken ebenso als ausländische Fremdkontrolle empfunden worden war.54 Das Osmanische Reich war bereits 1875 in den Staatsbankrott geraten, woraufhin 1881 eine öffentliche Schuldenverwaltung durch die europäischen Gläubiger eingerichtet worden war, die so genannte Administration de la dette publique ottoman (ADPO).55 Zur Begleichung der Zahlun48
Vgl. E. Tauber, The Formation of Modern Syria and Iraq, 1995, S. 49 ff. Vgl. E. Kedourie, In the Anglo-Arab Labyrinth: The MacMahon-Husayn Correspondence and its Interpreters 1914 – 1939, 1976, S. 4 ff. 50 Vgl. D. Lloyd George (Anm. 47), S. 1023 ff.; H. N. Howard (Anm. 19), S. 181 ff. 51 J. C. Hurewitz, Diplomacy in the Near and Middle East. A Documentary Record, Bd. II: 1914 – 1956, 1987, S. 26. 52 F. Ahmad (Anm. 2), S. 17. 53 Deutschland und seine Verbündeten hatten im Gegensatz zu der Triple Entente 1914 darauf verzichtet. Zu den Fremdenrechten: N. Sousa, The Capitulatory Regime of Turkey. Its History, Origin and Nature, 1933, S. 51 ff. 54 Vgl. M. Birdal, The Political Economy of the Ottoman Public Debt. Insolvency and European Financial Control in the Late Nineteenth Century, 2010, S. 9. 55 Ebenda, S. 101 ff.; D. C. Blaisdell, European Financial Control in the Ottoman Empire, 1966, S. 94 ff. 49
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gen war etwa ein Drittel der osmanischen Einnahmequellen, etwa die Monopole auf Tabak und Seide, an dieses multinationale Finanzkonsortium, welches den völkerrechtlichen Schutz durch die Mächte genoss, verpfändet worden.56 III. Ereignisse bis zum Vertrag von Sèvres Nach Sperrung der Dardanellenzufahrt durch die Hohe Pforte im Oktober 1914 hatten Streitkräfte aus den britischen Dominions vergeblich versucht, die strategisch bedeutsamen Wasserstraßen zu befreien.57 Im Jahr 1917 gelang es dem Vereinigten Königreich, die osmanischen Gebiete über Palästina bis nördlich von Aleppo zu besetzen. Während des Krieges hatte die Triple-Entente mehrere geheime Abkommen abgeschlossen, die regelten, wie im Falle des Sieges mit der antizipierten Kriegsbeute umgegangen werden sollte. Es ging ihnen in erster Linie darum, ihre eigenen Machtinteressen zu befriedigen; ebenso konnte man Italien und Griechenland als Verbündete gewinnen, indem man ihnen Annexionen auf Kosten des Feindeslandes anbot. Den Anfang bildete das Zugeständnis des Vereinigten Königreichs und Frankreichs an Russland im April 1915, worin diesem aus Sorge um die Bündnistreue sogar Konstantinopel und die Meerengenregion zugesagt worden war.58 Im Sykes-PicotAbkommen vom 9. Mai 1916 vereinbarten Frankreich und das Vereinigte Königreich die Aufteilung der arabischen Reichsteile.59 Auch Italien, welches erst 1915 der Entente beigetreten war, kam später hinzu.60 Bereits 1912 hatte Italien Libyen erworben und seitdem den Dodekanes mit Rhodos besetzt.61 Als Preis für den Kriegsbeitritt auf Seiten der Entente erhielt Italien 1915 und 1917 große Gebiete in Südwestkleinasien mit der Provinz Adalia zugesprochen.62 Diese Zugeständnisse sorgten später für gewaltigen Konfliktstoff, weil Italiens militärischer Beitrag zum Sieg über die Türken gleich null war. Kompliziert wurde diese Situation dadurch, dass das Vereinigte Kö-
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D. C. Blaisdell (Anm. 55), S. 94 ff. Vgl. H. M. Sachar, The Emergence of the Middle East 1914 – 1924, 1969, S. 56 ff.; A. Palmer (Anm. 35), S. 327 f. 58 Dazu: C. J. Smith, Great Britain and the 1914 – 1915 Straits Agreement with Russia. The British Promise of November 1914, in: American Historical Review, Bd. 70/4, 1965, S. 1028 ff. Mit der Oktoberrevolution 1917 wurde diese Vereinbarung von Lenin für nichtig erklärt. 59 Text: J. C. Hurewitz (Anm. 51), S. 18 ff. Zu den Hintergründen: C. Andrew/M. KanyaForster, The Climax of French Imperial Expansion: 1914 – 1924, 1981, S. 87 ff. 60 R. Bosworth, Italy and the End of the Ottoman Empire, in: M. Kent (Hrsg.), The Great Powers and the End of the Ottoman Empire, 1996, S. 52 ff. 61 H. Wollner, Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, 2010, S. 50 ff. 62 Es handelte sich um den Vertrag von London vom 26. 4. 1915 und das Abkommen von Saint-Jean-de-Maurienne vom 18. 8. 1917. Weitere Nachweise bei R. Banken (Anm. 1), S. 44 ff.; R. Albrecht-Carrié, Italy at the Paris Peace Conference, 1966, S. 24 ff.; R. Bosworth (Anm. 60), S. 69. 57
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nigreich zwischenzeitlich auch Griechenland die gleichen Gebiete in Westkleinasien versprochen hatte.63 Während die drei Hauptalliierten in ihren geheimen Abkommen vornehmlich an Annexionen und an die Errichtung von Kolonien gedacht hatten, verkündete der USamerikanische Präsident Woodrow Wilson 1917 ein völlig anderes Programm, worin davon keine Rede mehr sein durfte, sondern welches auf dem „Prinzip der Selbstbestimmung“ der Völker beruhen sollte.64 In seinen „Vierzehn Punkten“ setzte er sich mit verschiedenen Grenzfragen auseinander.65 Punkt 12 erläuterte seine Vorstellungen für das Osmanische Reich: Darin war von einer „gesicherten Souveränität der türkischen Teile des Osmanischen Reichs“ die Rede, darunter Sicherheiten und das Recht auf autonome Entwicklung der übrigen Nationalitäten. Die freie Durchfahrt durch die Meerengen aller Nationen sollte international garantiert sein.66 Obwohl dies angesichts der bevorstehenden Schwierigkeiten nichts als eine inhaltsleere und völkerrechtlich unverbindliche Formel blieb, durften die Türken politisch auf einen gerechten Frieden hoffen. Für die Völkerschaften und Minderheiten des Osmanischen Reichs wiederum war dies ein Ansatz, um ihre nationalen Erwartungen zu verwirklichen.67 Der militärische Zusammenbruch Bulgariens im September 1918 hatte unweigerlich auch die Kapitulation des Osmanischen Reiches nach sich gezogen.68 Nach der Flucht der KEF-Regierung hatte Sultan Mehmet VI. versucht, die Sieger durch Einsetzung einer liberalen Regierung beschwichtigen zu können.69 Das Waffenstillstandsabkommen von Mudros, das am 30. Oktober 1918 abgeschlossen wurde, bedeutete jedoch faktisch eine bedingungslose Kapitulation; es enthielt nämlich eine Reihe von Generalklauseln, die den Hauptalliierten weitreichende Befugnisse einräumten und die Entwicklung bis hin zum Friedensvertrag erheblich beeinflussen sollte.70 Die „Alte Osmanische Regel“ wurde erstmals formell aufgehoben, indem die Hauptalliierten die Kontrolle über die Meerengen und die dort gelegenen Festungen erhielten (Art. 1); und schon Ende November 1918 ging die britische Kriegsflotte in Konstantinopel vor Anker.71 Hochkommissare der drei Ententemächte übernahmen die Kontrolle über das politische Geschehen in der Hauptstadt.72 Im Süden 63
N. Petsalis-Diomidis, Greece at the Paris Peace Conference 1919, 1978, S. 42 f. Zur Rolle Woodrow Wilsons siehe M. MacMillan, Die Friedensmacher. Wie der Versailler Vertrag die Welt veränderte, 2015, S. 29 ff. 65 R. S. Baker, The Public Papers of Woodrow Wilson: War and Peace: Presidential Messages, Addresses and Public Papers, Bd. V, 1970, S. 155 ff. 66 Ebenda, Bd. IV, S. 160. Frei zusammengefasst. 67 Vgl. R. Banken (Anm. 1), S. 63 ff. 68 Vgl. G. Dyer (Anm. 8), S. 144 f. 69 Vgl. U. Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1914 – 1918, 1968, S. 359 f. 70 R. Banken (Anm. 1), S. 132. 71 Vgl. G. Dyer (Anm. 8), S. 321 ff. 72 P. C. Helmreich (Anm. 8), S. 277 ff. 64
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wurde eine Waffenstillstandslinie festgelegt (Art. 16), die bis auf wenige Veränderungen im Wesentlichen die heutige türkische Südgrenze ausmacht. Alle osmanischen Garnisonen südlich dieser Linie waren aufzulösen – Mudros bedeutete daher schon den kompletten osmanischen Verlust seiner Gebietshoheit über die seit dem 16. Jahrhundert beherrschten überwiegend arabischen Regionen. Ebenso ließen sich die Alliierten das Recht einräumen, „im Falle der Bedrohung“ alle „strategischen Punkte“ innerhalb der Waffenstillstandslinie zu besetzen (Art. 7) – es war allerdings nicht festgelegt worden, wo diese „strategischen Punkte“ überhaupt lagen. Auf der Pariser Friedenskonferenz, die im Januar 1919 ihre Arbeit aufnahm, konnten sich Wilsons Prinzipien nur oberflächlich durchsetzen.73 Zu stark war das Prestigedenken der Sieger und zu ehrgeizig ihr Verlangen nach Kompensationen und Bestrafung der „Schuldigen“.74 Eine Delegation des Sultans wurde am 17. Juni 1919 durch den Zehnerrat der Friedenskonferenz immerhin angehört.75 Als sie unter Berufung auf Präsident Wilsons Punkt 12 eine Rückkehr zum Vorkriegszustand und sogar die Grenzen von 1878 forderte,76 sahen die Siegermächte darin nur einen weiteren Beweis für die politische Unfähigkeit der Türken.77 Im Hinblick auf den Türkischen Frieden kam hinzu, dass den Siegermächten nur wenig belastbare Informationen zur Verfügung standen, anhand derer man etwa die ethnographischen Verhältnisse in dem Riesenreich verlässlich hätte feststellen können.78 Die christlichen Volksgruppen nutzten dies, um mittels Landkarten, geschönten Statistiken und Bittschreiben Kapital für die Verwirklichung ihrer zum größten Teil überspannten Ziele zu wecken und eine propagandistische Wirkung zu erzielen. Der griechische Ministerpräsident Venizelos etwa, enthusiastisch unterstützt von dem britischen Premierminister David Lloyd George (1916 – 1922), schwärmte davon, große Teile Kleinasiens einschließlich Konstantinopels für das Griechentum zurückzugewinnen79. Die Armenier, von denen es nach dem Völkermord in Anatolien kaum noch welche gab, erinnerten daran, dass man den Krieg schließlich offiziell zur „Befreiung“ der Christen vom türkischen Joch geführt hatte, und propagierten ein „Großarmenien“ vom Kaukasus bis ans Mittelmeer.80 Um die Gräueltaten der Türken an den 73
Vgl. L. Evans (Anm. 11), S. 232 ff. R. Banken (Anm. 1), S. 140. 75 U. S. Department of State, Papers Relating to the Foreign Relations of the United States of America, 1919, Paris Peace Conference, Bd. IV, 1942, S. 508 ff. 76 Ebenda, S. 511. 77 Vgl. R. Banken (Anm. 1), S. 73; P. C. Helmreich (Anm. 8), S. 110. 78 Vgl. ebenda, S. 68 ff. 79 U. S. Department of State (Anm. 75), Bd. III, S. 859 ff., 871 ff.; N. Petsalis-Diomidis (Anm. 63), S. 123 ff. 80 Dazu ausführlich: R. G. Hovannisian, The Republic of Armenia, Bd. I, 1974, S. 250 ff.; J. B. Gidney, A Mandate for Armenia, 1967, S. 81 ff. Die Gebiete der sechs östlichen osmanischen Provinzen sowie darüber hinaus Adana und Mersin (Kilikien) sollten demnach mit der im Mai 1918 auf ehemals russischem Gebiet entstandenen Republik Armenien vereinigt werden. 74
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Armeniern nicht zu belohnen, entschieden die „Großen Vier“81 auf der Friedenskonferenz, dass man in diesem Fall die gegenwärtigen Bevölkerungsverhältnisse bei der Grenzziehung nicht berücksichtigen müsse.82 Die griechische Regierung sah mit der osmanischen Kapitulation den Zeitpunkt gekommen, ihre Großgriechenland/Megali-Idee in die Tat umzusetzen. Als italienische Truppen Ende März 1919 in Adalia (Antalya) eigenmächtig eine Militärbasis errichteten und bis zum Fluss Mäander vordrangen, um ihren Ansprüchen aus den geheimen Abkommen von 1915 und 1917 Nachdruck zu verleihen, erlaubten das Vereinigte Königreich, Frankreich und die USA83 dem Staate Griechenland, die Hafenstadt Smyrna zu besetzen, was am 15. Mai 1919 erfolgte.84 Offiziell wurde dies mit Artikel 7 des Waffenstillstandes begründet, weil angeblich Unruhen ausgebrochen waren.85 Es handelte sich um das folgenschwerste Ereignis der unmittelbaren Nachkriegszeit, weil es der Auslöser für die Entstehung des innertürkischen Widerstandes war; denn tatsächlich war es gerade der Handstreich von ca. 13.000 Mann starken griechischen Truppen, der die Region in eine bis November 1922 andauernde Gewaltspirale stürzte.86 Die griechische Armee dehnte ihr Besatzungsgebiet von Smyrna ausgehend weit ins Hinterland aus und errichtete eine griechische Zivilverwaltung, die das Gebiet bereits wie einen Bestandteil des Mutterlandes behandelte.87 Schon bald nach Ankunft der griechischen Truppen entwickelte sich eine rege Partisanentätigkeit.88 Während die vom Sultan ernannten wechselnden Regierungen auf eine Kooperation mit den Siegermächten hofften, widersetzte sich der als Heeresinspekteur ins Landesinnere entsandte General Kemal deren Anordnungen und organisierte von dort aus den Widerstand, indem er die allerorts entstandenen sogenannten „Gesellschaften für die Verteidigung der Rechte“ (der türkischen Nation) zusammenführte.89 Auf dem Kongress von Erzerum (Juli–August 1919) wurde der sogenannte Nationalpakt beschlossen.90 Seine Kernforderung war ein türkischer 81 Dies waren die drei Hauptalliierten, nämlich das Vereinigte Königreich, Frankreich und Italien, sowie die USA als assoziierte Macht. 82 R. G. Hovannisian (Anm. 80), S. 265; R. Banken (Anm. 1), S. 90. 83 Als diese Entscheidung getroffen wurde, hatte die italienische Regierung die Friedenskonferenz zeitweilig aus Protest verlassen. 84 Dazu ausführlich, vgl. N. Petsalis-Diomidis (Anm. 63), S. 195 ff.; R. Banken (Anm. 1), S. 144; P. C. Helmreich (Anm. 8), S. 94 ff. 85 H. M. Sachar (Anm. 57), S. 313. 86 P. M. Buzanski, The Interallied Investigation of the Greek Invasion of Smyrna, in: The Historian, Bd. 25/3, 1963, S. 325 ff.; M. L. Smith (Anm. 46), S. 111 ff. 87 Vgl. M. L. Smith (Anm. 46), S. 91 ff.; S. J. Shaw, From Empire to Republic: The Turkish War of National Liberation 1918 – 1923. A Documentary Study, Bd. II, 2000, S. 567 ff. 88 Vgl. A. Mango, Atatürk, 1999, S. 217: Mustafa Kemal bemerkte später dazu, dass die Türken „ohne diese Invasion sorglos weitergeschlafen hätten“. 89 Vgl. S. J. Shaw (Anm. 87), Bd. II, S. 639 ff. 90 Vgl. E. J. Zürcher, Turkey. A Modern History, 1997, S. 155 ff.; S. J. Shaw (Anm. 87), Bd. II, S. 678 ff.
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Staat in ethnischen Grenzen auf Grundlage uneingeschränkter Souveränität.91 Der amtierenden Regierung unter Großwesir Damad Ferid Pascha wurde die Legitimation abgesprochen.92 Nachdem die Kandidaten der „Gesellschaft zur Verteidigung der Rechte“ schließlich in den Wahlen zum osmanischen Parlament am 28. Januar 1920 siegreich gewesen waren und dieses den Nationalpakt angenommen hatte, ließen die Siegermächte das Parlament auflösen und Sympathisanten der Nationalisten inhaftieren. Konstantinopel wurde, unter Berufung auf Artikel 7 des Waffenstillstandsabkommens, am 16. März 1920 auch formell in ein Besatzungsgebiet umgewandelt.93 Als die Hauptalliierten, mittlerweile ohne die USA94, sich auf den Konferenzen von London (Februar) und Sanremo (April) auf den Text des Friedensvertrages einigten, war der Einflussbereich der Sultansregierung bereits im Wesentlichen nur noch auf die Hauptstadt beschränkt.95 Die Widerstandsbewegung erhielt durch diese Maßnahme weiteren Zulauf, denn in den Augen der türkischen Bevölkerung war jegliche Zusammenarbeit mit den Alliierten gleichbedeutend mit der Unterstützung der griechischen Eindringlinge.96 Am 23. April 1920 trat, in Reaktion auf die Parlamentsauflösung in Konstantinopel, die Große Nationalversammlung in Ankara zusammen, wählte Mustafa Kemal zum Vorsitzenden einer Gegenregierung und erklärte die Unabhängigkeit des Landes sowie die „Befreiung“ des Sultans aus den Händen der Feinde der Türkei zur nationalen Aufgabe.97
IV. Bestimmungen des Vertrages von Sèvres Die Präambel sprach, wie bei allen Pariser Vorortverträgen, von einem „soliden und dauerhaften Frieden“98 – tatsächlich erwies sich ausgerechnet der türkische Frie91 Text: S. J. Shaw (Anm. 87), Bd. II, S. 696; deutsch: K. Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker – Geschichtliche Grundlagen – Umriss und gegenwärtige Bedeutung – ein Versuch, 1973, S. 558 f. und R. Banken (Anm. 1), S. 154 f. 92 R. Banken (Anm. 1), S. 153. 93 Vgl. ebenda, S. 159 ff.; S. J. Shaw (Anm. 87), Bd. II, S. 808 ff. Zur Durchführung, vgl. P. C. Helmreich (Anm. 8), S. 277 ff. Die Alliierten richteten jetzt Garnisonen und eine Besatzungsbürokratie ein. Sie übernahmen u. a. die gemeinsame Kontrolle über das Kriegs- und Marineministerium und verhängten eine Zensur. Hintergrund waren aber auch türkische Massaker in der Region Kilikien. 94 Vgl. L. Evans (Anm. 11), S. 232 ff. Die USA hatten sich nach Ablehnung der Völkerbundsatzung durch den US-Senat und Präsident Wilsons Erkrankung im Dezember 1919 offiziell von der Friedenskonferenz zurückgezogen. 95 B. C. Busch, From Mudros to Lausanne: Britain’s Frontier in East Asia, 1918 – 1923, 1976, S. 226 f. 96 C. Nur Bilge, Istanbul under Allied Occupation 1918 – 1923, 1999, S. 115. 97 S. J. Shaw, From Empire to Republic: The Turkish War of National Liberation 1918 – 1923. A Documentary Study, Bd. III/1, 2000, S. 971. 98 „Considérant que les Puissances alliées sont également désireuses que la guerre […] fasse place à une paix solide et durable“.
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den als so zerbrechlich wie das Porzellan aus der Manufaktur von Sèvres, wo am 10. August 1920 seine Unterzeichnung stattgefunden hatte. Ein großer Teil seiner Bestimmungen war wörtlich nach dem Vorbild des Versailler Vertrages ausgestaltet, vor allem die Regelungen zu den Folgen des Krieges und den territorialen Veränderungen. Der erste Teil (Art. 1 bis 26) enthielt die Völkerbundsatzung. Mit seinen äußerst harten Bedingungen ging der Vertrag von Sèvres hingegen weit über das Maß des Versailler Vertrages hinaus. Er stellte sogar die Existenz des unabhängigen türkischen Staates insgesamt in Frage.99 Neben dem Friedensvertrag schlossen die drei Hauptalliierten am gleichen Tag ein trilaterales Abkommen über Anatolien, welches sie bis zu diesem Zeitpunkt geheim gehalten hatten100 – rechtlich ein Vertrag zu Lasten Dritter, da die Türkei selbst nicht Vertragspartei war, aber gleichwohl belastet worden wäre, da die Mächte den Abzug ihrer Truppen an Bedingungen knüpften.101 In dem Abkommen ging es um die Aufteilung der restlichen Türkei in wirtschaftliche Präferenzzonen, vor allem hinsichtlich der Erlangung von Konzessionen und Handelsbeziehungen, wobei Frankreich Kilikien (die Vilajets Adana, Mersina und Osmaniye) und Italien das Vilajet Adalia und den Südwesten sowie die Rechte zur Ausbeutung der Kohlevorkommen von Eregli erhielt (Art. 5 und 7) – es handelte sich um annähernd die gleichen geographischen Räume, die im Sykes-Picot-Abkommen und den Verträgen von London 1915 und Saint-Jean-de-Maurienne 1917 vorgesehen waren.102 Das Vereinigte Königreich erhielt keine eigene Präferenzzone, aber die gleichen Rechte in seinen Mandatsgebieten (Art. 6). Gleichzeitig verpflichteten sich Frankreich und Italien innerhalb ihrer Zonen, die osmanische Regierung bei der Modernisierung der Verwaltung, der Justiz und des Finanzwesens sowie bei der wirtschaftlichen Entwicklung zu „unterstützen“ und auf den Schutz der Minderheiten zu achten (Art. 8).103 Den Hintergrund bildete auch hier die Absicht der Mächte, die Türkei in der Zukunft wirtschaftlich ausbeuten und kontrollieren zu können, nachdem die USA das ursprünglich vorgesehene Völkerbundmandat für die Türkei abgelehnt hatte und die Festlegung auf eine europäische Macht nicht hatte getroffen werden können.104 Die Annexion Zyperns durch das Vereinigte Königreich im Jahre 1914 wurde sanktioniert (Art. 115), ebenso das 1914 ausgerufene britische Protektorat über Ägypten. Das Osmanische Reich verzichtete rückwirkend auf sämtliche Hoheitsund Tributrechte in seinem bedeutendsten früheren Vasallenstaat (Art. 101). Das gleiche galt für die längst in der Vorkriegszeit errichteten französischen Protektorate 99
R. Banken (Anm. 1), S. 4, 373 f. Text: Auswärtiges Amt (Anm. 9), S. 184 ff. Zu den Hintergründen: R. Banken (Anm. 1), S. 363 ff.; P. C. Helmreich (Anm. 8), S. 253 ff. 101 Vgl. R. Banken (Anm. 1), S. 368 ff. 102 Ebenda, S. 370. 103 Präambel des Abkommens. 104 Zu den Beratungen hierüber: U. S. Department of State (Anm. 75), Bd. V, S. 579 ff.; P. C. Helmreich (Anm. 8), S. 111 ff.; R. Banken (Anm. 1), S. 364 ff. 100
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über Marokko und Tunesien (Art. 117 bis 121). Das Osmanische Reich musste ebenfalls die italienische Souveränität über die Inselgruppe der Dodekanes mit Rhodos und der kleinen Insel Kastelorizo anerkennen (Art. 122).105
Abb.: Die Türkei nach dem Vertrag von Sèvres (R. Banken, Der Vertrag von Sèvres, 2014, S. 174). R. Banken.
Viel einschneidender, und im Gegensatz zu dem Verlust der arabischen Gebiete von der Ankara-Regierung nicht akzeptiert, war der Verlust Ostthrakiens bis zur Chatalja-Linie vor der Stadtgrenze Istanbuls (Art. 84 bis 87), zumal es sich bei dem von den Türken Rumelien genannten europäischen Reichsteil um einen ethnisch 105
Italien hatte mit Griechenland am gleichen Tag der Unterzeichnung des Friedensvertrages ein Abkommen geschlossen, wonach sämtliche Inseln außer Rhodos und Kastelorizos unmittelbar nach Inkrafttreten des Friedensvertrages von Italien an Griechenland abgetreten werden sollten. Auf Rhodos sollte lokale Selbstverwaltung eingeführt und binnen 15 Jahren nach einer Abtretung Zyperns durch das Vereinigte Königreich an Griechenland ein Plebiszit durchgeführt werden. Infolge der Nichtratifizierung sah sich Italien daran nicht mehr gebunden. Siehe dazu: N. Petsalis-Diomidis (Anm. 63), S. 110, 117, 133, 253 ff.; A. F. Frangulis, La Grèce et la Crise Mondiale, Bd. I, 1926, S. 93 ff.
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völlig durchmischten Landstrich handelte. Ganz Thrakien hatte seit 1371 ununterbrochen zum Osmanischen Reich gehört. Infolge der Balkankriege hatte die Türkei bereits den westlichen Teil jenseits der Linie zwischen Enos und Midia an Bulgarien abtreten müssen, womit dort eine anerkannte Grenze entlang des Flusses Maritza entstanden war, der auch West- und Ostthrakien trennt.106 Eine Auswertung der zur Verfügung stehenden Bevölkerungsstatistiken aus der Zeit vor den Balkankriegen deuten für Westthrakien auf eine türkisch-muslimische Mehrheit hin, während in Ostthrakien griechische Bürger die Mehrheit bildeten.107 Nach dem Waffenstillstand von Mudros hatten die Alliierten die griechische Besetzung dieses Restes der Europäischen Türkei bis zur Chatalja-Linie geduldet. Ostthrakien sollte nun zusammen mit Westthrakien, worauf Bulgarien im Vertrag von Neuilly-sur-Seine vom 27. November 1919 (Art. 84 Abs. 1) verzichten musste, mit Griechenland vereinigt werden. Im Zusammenhang mit diesen Annexionen schloss Griechenland mit den anderen Alliierten zwei weitere Verträge, nämlich den Vertrag hinsichtlich Westthrakiens und den Vertrag zum Schutz von Minderheiten.108 In dem Vertrag hinsichtlich Westthrakien musste Griechenland besondere Verkehrsservitute akzeptieren, weil Bulgarien den Zugang zur Ägäis behalten sollte. Das Minderheitenschutzabkommen entsprach den 1919/20 mit den mittel- und osteuropäischen Staaten geschlossenen Vorbildern, verpflichtete Griechenland aber im Besonderen, dem Völkerbund binnen eines Jahres ein Autonomiestatut für Edirne (Adrianopel) vorzulegen. Neben Ostthrakien sollte Griechenland den Großteil der unmittelbar der türkischen Westküste vorgelagerten Ägäisinseln erhalten. Während des Ersten Weltkrieges war das völkerrechtliche Schicksal der Inseln in der Schwebe geblieben. Bereits nach dem Ersten Balkankrieg hatte die Hohe Pforte diesbezüglich einen Schiedsspruch durch die europäischen Großmächte akzeptieren müssen. Als der Schiedsspruch vom 14. Februar 1914109 sämtliche Inseln bis auf Imbros, Tenedos und Kastelorizon Griechenland zusprach, hatte die osmanische Regierung jedoch nicht auf ihre Ansprüche verzichten wollen.110 Mit Artikel 84 Abs. 3 des Vertrages von Sèvres musste die Türkei diesen Schiedsspruch nun endgültig anerkennen und zusätzlich auch zu Gunsten Griechenlands auf Imbros und Tenedos verzichten, die Teil der entmilitarisierten Meerengenzone und interalliierter Inspektion unterstellt wurden (Art. 177). Der flächenmäßig größte Verlust osmanischen Staatsgebietes in Bezug auf die heutigen türkischen Grenzen wäre mit der Herauslösung der sechs sogenannten armenischen Provinzen herbeigeführt worden. Die Armenier sollten mit Artikel 88 als „freier und unabhängiger Staat“ anerkannt werden. Artikel 89 regelte, dass die Gren106
N. Petsalis-Diomidis (Anm. 63), S. 342; R. Banken (Anm. 1), S. 206 ff. Vgl. D. Pentzopoulos, The Balkan Exchange of Minorities and its Impact upon Greece, 2002, S. 31 f. 108 Texte: Auswärtiges Amt (Anm. 9), S. 159 ff. 109 C. M. Parry (Anm. 8), Bd. 219 (1913 – 1914), 1980, S. 287 f. 110 Ebenda, S. 288. 107
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ze zwischen der Türkei und Armenien durch den Präsidenten der Vereinigten Staaten in einem Schiedsspruch festgelegt werden sollte. Vor allem die USA hatten sich auf der Pariser Friedenskonferenz für einen armenischen Staat in Anatolien eingesetzt, waren am Ende aber auch nicht bereit gewesen, diesen militärisch zu beschützen.111 Ursprünglich hatte man auch hier ein Völkerbundmandat vorgesehen, welches die USA übernehmen sollten. Nach der Ablehnung der Völkerbundsatzung durch den US-Senat war an ein solches Engagement nicht mehr zu denken gewesen. Als Präsident Wilson seine Schiedsrichterfunktion im November 1920 ausübte und die sogenannte „Wilson-Linie“ festlegte, hatte die Ankara-Regierung die östlichen Provinzen bereits zurückerobert. Im Jahr 1921 teilten die Türkei und Sowjetrussland Armenien untereinander auf, wodurch auch die türkische Ostgrenze bestätigt wurde.112 1. Sonderverwaltungsgebiete und Autonomiegebiete Andere Gebiete blieben zunächst nominell unter osmanischer Souveränität, hätten in tatsächlicher Hinsicht aber nichts anderes bedeutet als weitere Gebietsabtretungen nach Zeitablauf. Durch besondere Statute sollte die künftige Verkleinerung des osmanischen Staatsgebietes vorbereitet werden. Davon nicht ausgenommen war die strategisch wichtige Meerengenzone, in der zunächst eine interalliierte Kommission die Hoheitsgewalt ausüben sollte. a) Konstantinopel und die türkischen Meerengen Dass Konstantinopel bis auf weiteres ausdrücklich unter osmanischer Souveränität bleiben sollte (Art. 36 Abs. 1), war ebenfalls keine Selbstverständlichkeit. Noch bis zum Frühjahr 1920 hatte es so ausgesehen, dass das osmanische Lebenszentrum mit dem Sitz des Sultanats-Kalifats gemeinsam mit Dardanellen und Bosporus in einen internationalen Freistaat ähnlich wie Danzig umgewandelt würde.113 Das im Vertrag von Sèvres ausgesprochene Souveränitätsanerkenntnis wurde jedoch unter die Bedingung gestellt, dass die Türkei den Friedensvertrag mitsamt dem Minderheitenschutz erfüllte. Andernfalls erhielten die alliierten Mächte nach Artikel 36 Abs. 2 die Möglichkeit, das Gebietsstatut nachträglich zu verändern. Anders als beim deutschen Rheinland (Art. 427 ff. Versailler Vertrag), welches als Sicherheit für die Erfüllung der Reparationsforderungen lediglich besetzt wurde, ging es hier also um den drohenden endgültigen Verlust des seit dem Jahre 1453 bestehenden osmanischen Lebenszentrums.
111
Vgl. J. B. Gidney (Anm. 80), S. 222 ff. Sowjetrussland und die Ankara-Regierung schlossen am 16. 3. 1921 einen Freundschaftsvertrag, worin die Grenze bestätigt wurde, vgl. Niemeyer, Jahrbuch des Völkerrechts, Bd. 9, 1926, S. 217. 113 Vgl. R. Banken (Anm. 1), S. 178 ff. 112
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In der Meerengenzone sollte die osmanische Gebietshoheit zu Gunsten einer internationalen Meerengenkommission ausgeschaltet werden (Art. 38), welche die freie und ungehinderte Durchfahrt von Kriegs- und Handelsschiffen regeln und überwachen sollte und zu diesem Zweck mit eigenen Hoheitsrechten wie Polizeigewalt ausgestattet war. Sie sollte sich aus Vertretern der drei Hauptalliierten, den Uferstaaten des Schwarzen Meeres außer Russland, schließlich der Türkei und sogar Japans zusammensetzen (Art. 40). Ein weitaus größeres Gebiet um diese Zone, die jetzt auch auf griechischem Staatsgebiet lag, wurde entmilitarisiert (Art. 179), aber die Alliierten erhielten ein bedingungsloses Besatzungsrecht darin (Art. 178 Abs. 4). Die „Alte osmanische Regel“ von der Sperrung der Meerengen für Kriegsschiffe wurde nun zu Gunsten der unbedingten und diskriminierungsfreien Öffnung in Friedenszeiten auch für Kriegsschiffe abgeschafft. Zivile Schiffe sollten in Friedens- und Kriegszeiten (hier nur solche unter der Flagge neutraler Staaten) freie Durchfahrt genießen. Die Regelungen des Vertrages von Sèvres zu den türkischen Meerengen entsprachen dem geltenden Völkerrecht für Meerengen, beseitigten den hier über viele Jahrzehnte als unbefriedigend empfundenen Sonderzustand und waren, im Gegensatz zu vielen anderen Bestimmungen, durchaus vernünftig gewesen.114 b) Kurdistan Für die Kurden enthielt der Vertrag von Sèvres das unbestimmte Versprechen auf einen künftigen eigenen Staat (Art. 62 bis 64). In Artikel 62 hieß es, dass „Gebiete mit einem dominierenden kurdischen Volkstum“ nördlich der Mandatsgebiete Syrien und Mesopotamien, östlich des Euphrats und südlich der noch festzulegenden armenischen Grenze lokale Selbstverwaltung erhalten sollten. Gegenstand war folglich das Gebiet in der heutigen Südosttürkei, obwohl das historisch als Kurdistan bezeichnete Land weit darüber hinausging und die anderen Territorien mit überwiegend kurdischer Bevölkerung eindeutig in die britischen und französischen Mandatsgebiete integriert werden sollten.115 Die Initiative für das kurdische Selbstverwaltungsstatut war von David Lloyd George ausgegangen, der dort den erwarteten französischen Einfluss hatte verhindern wollen.116 Bemerkenswert ist der Artikel, wonach die Bevölkerung in diesem Selbstverwaltungsgebiet das Recht haben sollte, sich innerhalb eines Jahres an den Völkerbundrat zu wenden, um tatsächlich die staatliche Unabhängigkeit zu erlangen. Die Türkei wurde ex ante dazu verpflichtet, die vom Völkerbund zu fällende Entscheidung anzuerkennen. Auch das an den Irak abzutretende Mossulgebiet blieb fiktiv mit dem Selbstverwaltungsgebiet verknüpft, denn der Vertrag enthielt dahingehend das weitere Versprechen, dass die Bewohner über die Verbindung mit Kurdistan entscheiden sollten, sobald dieser Staat Wirklichkeit gewor114
Ebenda, S. 192 f.; E. Brüel, International Straits. A Treatise on International Law, Bd. II: Straits Comprised by Positive Regulations, 1947, S. 354. Deshalb wurden die gleichen Grundsätze auch im Lausanner Frieden 1923 vereinbart. 115 Vgl. D. McDowall, A Modern History of the Kurds, 1996, S. 2 ff. 116 Vgl. ebenda, S. 117 ff.; P. C. Helmreich (Anm. 8), S. 203 ff.
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den wäre (Art. 64 Abs. 3). Auch hier wurden im Friedensvertrag also bei weitem keine Probleme gelöst, sondern lediglich neue Probleme für die Zukunft geschaffen.117 So fehlte etwa eine Regelung, wie genau der Wille der dortigen Bevölkerung überhaupt hätte festgestellt werden sollen. Der Völkerbundrat wurde außerdem von den Alliierten dominiert, und es war aus dem Blick der damaligen Zeit realitätsfern, dass die dortigen Kurdenstämme sich binnen eines Jahres zu einem Staatsvolk zusammenfanden. Die Bestimmungen lassen eher den Eindruck zu, dass das Vereinigte Königreich sich weiter die Hand freihalten wollte, auch diese Gebiete, die an Mesopotamien grenzten, künftig zu beeinflussen. Das Vorhaben des kurdischen Autonomiegebietes beruhte erkennbar auf fast ausschließlich strategischen Erwägungen und hatte mit dem Zugeständnis politischer Selbstbestimmung der dortigen Bevölkerung wenig zu tun. c) Smyrna Neben Kurdistan wurde auch für die sogenannte „Smyrna-Zone“ an der kleinasiatischen Westküste ein provisorisches Selbstverwaltungsstatut eingerichtet (Art. 66 bis 83). Die Zone bestand aus der Hafenstadt Izmir (griechisch Smyrna) einschließlich eines beträchtlichen Hinterlandes (Art. 66). Stadt und Hafen hatten eine kaum zu überschätzende Bedeutung für die Wirtschaft Anatoliens, da hier die Eisenbahnlinien ins Landesinnere zusammenliefen.118 Nach Ablauf von fünf Jahren sollte dort eine Abstimmung über den Anschluss an Griechenland stattfinden – wovon man selbstverständlich ausging, denn es waren keine Rechtsfolgen festgelegt, was im Falle eines Votums für den Verbleib beim Osmanischen Reich zu geschehen hätte. Die Besonderheit bei diesem Statut bestand darin, dass es mit einer umfassenden Verwaltungszession an Griechenland verbunden war.119 Bis zu der vorgesehenen Abstimmung musste die Türkei vollständig ihre Hoheitsgewalt auf Griechenland übertragen; als Zeichen der Souveränität war einzig das Hissen der Flagge auf einem Außenfort erlaubt (Art. 69). Das Statut für Smyrna hatte tatsächlich nur wenig mit der Schaffung territorialer Autonomie zu tun. Vielmehr diente es dazu, die bevorstehende Annexion durch Griechenland vorzubereiten.120 Die Bestimmungen sprachen zwar von der Errichtung eines Regionalparlaments, dessen Wahlstatut der Völkerbund zu billigen hatte; allerdings wurde die Gebietsverwaltung unmittelbar von der griechischen Regierung durch einen Statthalter vorgenommen. Griechenland war für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verantwortlich und hatte das Recht, eigene Truppen zu stationieren (Art. 71), die natürlich längst vor Ort waren. Die Selbstverwaltungszone wurde dem griechischen Zollsystem angeschlossen und in der Stadt 117
R. Banken (Anm. 1), S. 198. Vgl. M. L Smith (Anm. 46), S. 25 ff. 119 R. Banken (Anm. 1), S. 198 ff. 120 Vgl. ebenda, S. 205 f.
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immerhin ein Freihafen eingerichtet. Der zwischen Griechenland und den anderen Alliierten abgeschlossene Minderheitenschutzvertrag sollte zur Anwendung kommen (Art. 75). Die Annexion durch Griechenland wäre also nur eine Frage der Zeit gewesen. Nach Ablauf von fünf Jahren sollte der Völkerbundrat darüber entscheiden. Griechenland erhielt auf diese Weise einen Brückenkopf, der ein weiteres Ausgreifen ins Landesinnere ermöglichen sollte.121 Hätte die Sonderverwaltungszone länger Bestand gehabt und wäre es zu der absehbaren Annexion durch Griechenland gekommen, wäre ein weiterer bedrohlicher Krisenherd im Nahen Osten geschaffen worden. 2. Finanzielle und wirtschaftliche Bestimmungen Wie die übrigen Vorortverträge enthielt auch der Vertrag von Sèvres einen Kriegsschuldartikel (Art. 231 Abs. 1), der als Anknüpfungspunkt für Entschädigungen und den gegenüber der Türkei zu treffenden Maßnahmen dienen sollte.122 Reparationen verlangten die Alliierten formal nicht – sie erkannten gleichzeitig an, dass die Türkei nicht die Ressourcen dazu aufbringen konnte –, allerdings Erstattung der Besatzungskosten und Entschädigung von Privatpersonen. Im Zentrum der finanziellen Bestimmungen stand die Einrichtung einer Interalliierten Finanzkommission über den osmanischen Staat (Art. 231 ff.).123 Die Interalliierte Finanzkommission sollte eine uneingeschränkte Aufsicht und Steuerung des staatlichen türkischen Finanzwesens – ihres Haushalts, ihrer Wirtschaftsplanung, ihrer Geld- und Währungspolitik – wahrnehmen, denn die drei Hauptsiegermächte beabsichtigten, eine rigorose gemeinsame Kontrolle über sämtliche Einnahmen und Ausgaben des türkischen Staates ausüben zu können. Ideen zu einer solchen Institution hatte es schon vor dem Krieg gegeben, zurückzuführen auf das fundamentale Misstrauen der Mächte in die Fähigkeit der osmanischen Regierung, ihre Staatsschulden zu begleichen.124 Die offiziellen Aufgaben dieser Dreimächteaufsicht mit jeweils einem Vertreter des Vereinigten Königreichs, Frankreichs und Italiens bestand darin, die Kosten für die türkische Verwaltung sowie die Besatzungskosten und Entschädigungen einzubringen (Art. 236). Ihr war außerdem die Rolle der Festlegung der Anteile der osmanischen Vorkriegsschuld auf die Gebietsnachfolger zugedacht. Mithilfe einer Generalklausel (Art. 232 Abs. 1) sollte sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben „sämtliche Maßnahmen ergreifen, die sie dazu für am besten geeignet 121
Tatsächlich wurde Smyrna 1920 Aufmarschgebiet für die griechische Offensive gegen die Ankara-Regierung. 122 Vgl. J. Fisch, Krieg und Frieden im Friedensvertrag. Sprache und Geschichte, 1979, S. 207 f. Zum Thema „Kriegsschuldartikel“, vgl. auch W. von Bredow, Eyes Wide Shut, Ursachen und Beginn des Ersten Weltkrieges, in: G. H. Gornig/A. A. Michel (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Osteuropa, Teil 1, 2018, S. 13 ff. 123 Zum Folgenden ausführlich: R. Banken (Anm. 1), S. 306 ff. 124 Ebenda, S. 306.
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hielt“. Sie erhielt das Recht, überallhin Inspektoren zu entsenden, uneingeschränkte Dokumenteneinsicht zu erhalten und gegen unzulängliche Beamte vorzugehen. Die Finanzkommission sollte die komplette Geld- und Währungspolitik, die Aufnahme neuer Staatsschulden und die Vergabe von Konzessionen beaufsichtigen sowie die Außenzölle festlegen. Die Ausführung des Haushalts und die gesamte Steuerverwaltung unterstanden ihrer Aufsicht. Vor allem aber musste der Jahreshaushalt von der Finanzkommission gebilligt werden. Als Kernelement des Diktatfriedens hätte sie auf unbestimmte Zeit eine Fremdkontrolle durch die drei Hauptsiegermächte herbeigeführt und die Türkei in ein finanzielles de-facto-Protektorat verwandelt.125 Die Aufteilung der Vorkriegsschulden des Osmanischen Reiches erfolgte nach der Regel, dass jeder Gebietsnachfolger, der gleichsam in dem übernommenen Territorium in bestimmte Rechtspositionen eintrat und dort belegenes Staatsvermögen erwarb (Art. 240), nach einem von der Interalliierten Finanzkommissionen zu bestimmendem Anteil Verbindlichkeiten zu übernehmen hatte (Art. 244). Dabei ging man von dem Zustand vor den Balkankriegen mit dem Stichtag 12. Oktober 1912 aus, weil in deren Folge noch keine Lastenverteilung vorgenommen worden war (Art. 242). Das Osmanische Reich blieb als Staat bestehen, da nur Annexionen bzw. Sezessionen vorgenommen wurden. Eine Besonderheit bildeten hier die Regelungen über den Osmanischen Schuldenrat (Administration de la dette publique ottoman = ADPO). Dieser sollte künftig, ohne die Vertreter der Kriegsgegner, fortgeführt werden und diejenigen Einnahmen eintreiben, die ihm am Stichtag des 1. November 1914 zugestanden hatten. Der neu besetzte Schuldenrat erhielt zudem die Befugnis, die während des Krieges getroffenen Maßnahmen rückgängig zu machen und für nichtig zu erklären. Die neue Interalliierte Finanzkommission sollte die Rechte der osmanischen Regierung vertreten (Art. 246 Abs. 1). Ursprünglich hatte man auch überlegt, die Befugnisse der ADPO komplett auf die Interalliierte Finanzkommission zu übertragen, sich letztlich aber dagegen entschieden, weil der privatrechtliche Charakter des Gläubigergremiums zunächst beibehalten werden sollte.126 Eine Besonderheit im Friedensvertrag mit dem Osmanischen Reich war die Fortgeltung der Kapitulationen (Art. 261) und, gesondert erwähnt, der exterritorialen Justizprivilegien (Art. 136). Dies sollte gelten, bis die Türkei ein modernes Justizsystem etabliert haben würde. Die Fremdenprivilegien sollten künftig nicht mehr für die besiegten Feinde gelten, dafür aber auf die alliierten Verbündeten, etwa Armenien und Griechenland, ausgeweitet werden.
125
Ebenda, S. 312; D. C. Blaisdell (Anm. 55), S. 196 f. Vgl. R. Banken (Anm. 1), S. 322. Diese Möglichkeit wurde im Vertrag für die Zukunft offengehalten. 126
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3. Minderheitenschutz Die Bestimmungen über den Minderheitenschutz (Art. 140 bis 151) – denn trotz der Verkleinerung würde die Türkei ein Staat mit Minderheiten bleiben127 – enthielten einige Besonderheiten im Vergleich zu den durch das neue Völkerbundsystem begründeten Minderheitenschutzverträgen,128 was vor allem darauf zurückzuführen war, dass die Türken in der jüngeren Vergangenheit schlecht mit ihren christlichen Bevölkerungsgruppen umgegangen waren und die Mächte ein besonderes Misstrauen hegten.129 Im Zentrum standen Schutz- und Antidiskriminierungsbestimmungen, die eine unterschiedslose Behandlung und Gleichheit vor dem Gesetz nach Geburt, Rasse, Nationalität, Sprache und Religion vorschrieben und Religionsfreiheit garantierten. Daneben sollte das osmanische millet-System mit den weitreichenden Autonomierechten in kulturellen, kirchlichen und juristischen Angelegenheiten fortgeschrieben werden (Art. 149): Die Türkei sollte verpflichtet sein, sämtliche Dekrete und Gesetze, die der Sultan in der Vergangenheit im Hinblick auf Privilegien für die christlichen Bevölkerungsgruppen gewährt hatte, anzuerkennen und aufrecht zu halten. Ein weiterer wesentlicher Unterschied zu den anderen Vorortverträgen und Minderheitenschutzabkommen lag in Artikel 151, der den Hauptalliierten die Möglichkeit geben sollte, nach gemeinsamer Untersuchung mit dem Völkerbundrat zum Schutz der Minderheiten intervenieren zu dürfen. Einmalig sind auch die Regelungen des Artikels 142, der Zwangskonvertierungen zum Islam seit Kriegsbeginn für nichtig erklärte sowie der Artikel 143, der die Türkei von vornherein dazu verpflichten sollte, solche Maßnahmen anzuerkennen, die die Alliierten im Hinblick auf die gegenseitige und freiwillige Emigration von Minderheiten anordneten. Griechenland und die Türkei verpflichteten sich zu einem pactum de contrahendo, um die gegenseitige freiwillige Auswanderung von Menschen griechischer und türkischer Ethnie zu regeln. Artikel 144 sollte dazu dienen, ab dem Stichtag 1. Januar 1914 eine Wiedergutmachung an den verschleppten und vertriebenen christlichen Bürgern und deren Gemeinschaften herbeizuführen, indem ihnen ihr Eigentum zurückgewährt, zerstörte Dörfer und Kirchen wiederaufgebaut und Täter entlarvt werden sollten.130 Eine zentrale Rolle sollte hierbei eine Dreierkommission des Völkerbundes spielen. 4. Militärische Bestimmungen Der fünfte Teil (Art. 152 bis 207) des Vertrages enthielt die militärischen Bestimmungen. Er verlangte von der Türkei, ihre Streitkräfte innerhalb von sechs Monaten 127 128
1979.
Dies betraf etwa die Griechen im Pontus-Gebiet und die Armenier in Kilikien. Dazu ausführlich: C. Gütermann, Das Minderheitenschutzverfahren des Völkerbundes,
129 Vgl. die Antwortnote der Alliierten gegenüber der Delegation des Sultans in Paris: W. Woodwards/R. Butler (Anm. 42), S. 645 ff. 130 Es hatte schon Anfang 1914 Zwangsmaßnahmen gegenüber Angehörigen der griechisch-orthodoxen Minderheit gegeben, die die Alliierten miterfassen wollten, vgl. R. Banken (Anm. 1), S. 281.
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zu demobilisieren und auf die Obergrenze von 50.000 zu begrenzen (Art. 153, 155). Dabei ging es auch darum, mögliche „Schlupflöcher“ zu verhindern, weshalb die künftige Beschaffenheit der Streitkräfte sehr detailliert geregelt war.131 Die Alliierten wollten sicherstellen, auch weiterhin mit nur wenig militärischem Aufwand Druck auf die osmanische Regierung ausüben zu können, weshalb sie auch die Generalklausel des Waffenstillstandsabkommens (dort Art. 7) in einen versteckten Verweis in den Friedensvertrag aufnahmen (Art. 206).132 Außerdem sollte die stark verkleinerte und hochverschuldete „Rumpftürkei“ nicht mit den Kosten eines zu großen Militärapparats belastet werden. Der britische Außenminister Lord George Curzon meinte hierzu, dass jeder schlecht bezahlte türkische Soldat „als Räuber und als Mörder einkalkuliert“ werden müsse.133 Die bewaffneten Streitkräfte der Türkei sollten künftig neben einer 700 Mann starken Ehrengarde für den Sultan (Art. 154) – wie bereits erwähnt – auf eine Höchstzahl von 50.000 Mann begrenzt bleiben (Art. 155). Eine Luftwaffe wurde gänzlich verboten (Art. 191). Die türkische Marine sollte lediglich das Niveau für unmittelbaren Küstenschutz behalten, nachdem die von den Alliierten internierte osmanische Kriegsflotte übereignet oder abgewrackt worden war (Art. 181 ff.).134 Für das eigentliche Heer, die sogenannten „Spezialkräfte“, war sogar eine Obergrenze von 15.000 Mann geregelt (Art. 157). Die übrigen 35.000 sollten leichtbewaffnete Polizeikräfte (Gendarmerie) bilden, die auf die Provinzen zu verteilen waren (Art. 156). Deren Offizierskorps wiederum durfte die Zahl von 1.500 nicht überschreiten (Art. 159). Die Standorte, das Ersatzwesen sowie Art und Menge der Waffen, die für diese Kräfte vorgesehen waren, ebenso deren Unterstützungsmittel und Fahrzeuge oder Boote, waren exakt festgelegt.135 De facto hätte überhaupt keine osmanische Armee mehr existiert, sondern im Grunde nur noch eine leicht bewaffnete Landpolizei zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und „Spezialkräfte“ für den Grenzschutz, die beide stark reglementiert worden wären. Auch die Abrüstungsbestimmungen waren im Vergleich zu den anderen Vorortverträgen ungewöhnlich detailliert (Art. 171 ff.). Die Umsetzung dieser Bestimmungen sollten selbstverständlich durch interalliierte Kommissionen überwacht werden. Die Meerengenzone mit den Gewässern und Inseln und einem bis zu 100 Kilometer tiefen Streifen im Hinterland, durch die beabsichtigten Gebietsabtretungen künftig auch auf griechischem Staatsgebiet gelegen, wurde entmilitarisiert (Art. 177 bis 179). Darin sollte die Befehlsgewalt ausschließlich in den gemeinsamen Händen der alliierten Oberkommandierenden liegen. 131
Vgl. H. W. V. Temperley, A History of the Peace Conference of Paris, Bd. II, 1920, Neudruck 1969, S. 131 ff. 132 R. Banken (Anm. 1), S. 282. 133 W. Woodwards/R. Butler (Anm. 42), S. 358, eigene Übersetzung. 134 Ebenda, S. 338 f. Die erlaubten sieben leichten Kreuzer und sechs Torpedoboote waren namentlich einschließlich ihrer Bewaffnung genau festgelegt. 135 Dazu ausführlich: R. Banken (Anm. 1), S. 282 ff.
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5. Sonstige Bestimmungen Wie die meisten Friedensverträge der Neuzeit enthielt der Vertrag von Sèvres zahlreiche Regelungen, die sich mit den Folgen des Krieges und den Gebietsveränderungen befassten, darunter zur Aufteilung von Aktiva und Passiva sowie der Archive, zur Fortgeltung von Schuldverhältnissen, zum Wechsel der Staatsangehörigkeit, schließlich zur Amnestie und zum Gefangenenaustausch. Die Staatsangehörigkeit sollte grundsätzlich an den neuen Wohnsitz anknüpfen. Im Hinblick auf den Schutz von Kriegsgräbern wurde geregelt, dass jeglicher Boden innerhalb der Grenzen der Türkei, der Gräber alliierter Soldaten enthielt, zivilrechtliches Eigentum der Alliierten sein würde, nicht der Türkei (Art. 218).136 Eine Neuheit in der Völkerrechtspraxis waren die Strafbestimmungen der Pariser Vorortverträge – im Sèvres-Vertrag die Artikel 226 bis 230.137 Sie sollten Verstöße Deutschlands und seiner Verbündeten gegen das Haager Kriegsrecht ahnden und die Verfolgung von Individuen sicherstellen.138 Die identifizierten Täter sollten durch die Staaten ausgeliefert und durch Militärgerichte der Alliierten verurteilt werden (Art. 226). Eine Sonderbestimmung im Vertrag von Sèvres enthielt Artikel 230. Darin wurde der türkischen Regierung die Verpflichtung aufgelegt, auf Verlangen der Alliierten diejenigen Personen auszuliefern, die die Alliierten für die seit 1914 begonnenen Massaker auf dem osmanischen Territorium verantwortlich machten. Der Artikel enthielt außerdem erstmals den Gedanken eines möglichen internationalen Straftribunals, ebenso den Grundgedanken des Tatbestandes von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“.139 Bei dem Völkermord an den Armeniern und Assyro-Chaldäern handelte es sich schließlich nicht um Kriegsverbrechen, was zur Folge gehabt hätte, dass diese Taten nach damaligem Völkerrecht nach innerstaatlichem, das heißt osmanischem Recht, zu behandeln gewesen wären. In diesem Fall wären die Täter wohl in der Regel straflos geblieben, was die Alliierten auf keinen Fall hinnehmen wollten.140
136 Im Wesentlichen betraf dies die Dardanellen, wo sich besondere alliierte Kriegsgräberkommissionen um die Kriegsgräberstätten kümmern sollten. 137 Dazu: W. Form, Deutschland, die Alliierten und die Ahndung von Kriegsverbrechen nach dem Ersten Weltkrieg, in: G. H. Gornig/A. A. Michel (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Osteuropa, Teil 1, 2018, S. 185 ff.; H. Ahlbrecht, Geschichte der völkerrechtlichen Straftatbestände im 20. Jahrhundert. Unter besonderer Berücksichtigung der völkerrechtlichen Straftatbestände und den Bemühungen um einen Ständigen Internationalen Gerichtshof, 1999, S. 28 ff. 138 Erarbeitet worden waren diese Bestimmungen durch eine Kommission unter dem Vorsitz des US-Außenministers Robert Lansing: AJIL, Bd. 14, 1920, S. 95 ff. 139 Vgl. E. Schwelb, Crimes against Humanity, in: British Yearbook of International Law, Bd. 23, 1946, S. 181. 140 AJIL, Bd. 14, 1920, S. 95, 134 f.
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V. Revision des Vertrages Die Unterzeichnung des Vertrages von Sèvres führte zu einem irreparablen Schaden für das Ansehen des Sultans und ebnete damit zugleich den Boden für die spätere Abschaffung der Monarchie.141 Seit Konstituierung der Großen Nationalversammlung in Ankara am 23. April 1920 bis Ende des Jahres 1922 existierte ein Bürgerkriegszustand zwischen der de iure-Sultansregierung in Konstantinopel und der de facto-Regierung in Ankara, die jegliche Zusammenarbeit mit den Siegermächten ablehnte. Sultan Mehmet VI. ließ deren Anführer in Abwesenheit zum Tode verurteilen; das gleiche tat die Ankara-Regierung mit den offiziellen Regierungsvertretern, die sie als Hochverräter bezeichnete.142 Gleichzeitig wurde Anatolien Schauplatz des Griechisch-Türkischen Krieges, den der britische Premierminister David Lloyd George seinerzeit als die letzte historische Auseinandersetzung zwischen „westlicher Zivilisation und östlicher Barbarei“ bezeichnet hatte.143 Den Alliierten war es spätestens im Frühjahr 1920 klar geworden, dass die Durchsetzung des Friedensdiktats an die Niederwerfung der nationalistischen Bewegung Kemals gekoppelt war, was sie aber mit den eigenen zur Verfügung stehenden Truppen nicht durchführen konnten.144 So begrüßten sie das Versprechen des griechischen Ministerpräsidenten Venizelos, gegen die Ankara-Regierung vorzugehen, nachdem die türkischen Nationalisten im April 1920 die Meerengen erreicht hatten.145 Den Griechen hatte viel an den harten Bedingungen des Friedensvertrages gelegen; denn nur so konnten sie darauf hoffen, dass die Türken dessen Bedingungen ablehnen würden, was ein weiteres Ausgreifen Griechenlands nach Anatolien möglich machen würde.146 Ausgehend von der seit Mai 1919 besetzen Enklave um Smyrna war auf Grund einer Absprache zwischen der griechischen und britischen Regierung darauf eine umfassende Militäroperation eingeleitet worden, in deren Folge die türkischen Nationalisten zunächst erfolgreich zurückgedrängt wurden.147 Im Oktober 1920 kam es jedoch zu einem politischen Umschwung in Griechenland, nachdem der König Alexander völlig überraschend einer Blutvergiftung erlag. In den nachfolgenden Parlamentswahlen im November 1920 erlitt die liberale Partei Venizelos eine herbe Niederlage gegen die konservative Opposition, die sich im Wahlkampf für eine Beendigung des Krie141 Vgl. S. J. Shaw, From Empire to Republic: The Turkish War of National Liberation 1918 – 1923. A Documentary Study, Bd. IV, 2000, S. 1883. 142 S. J. Shaw, Bd. II (Anm. 87), S. 845 ff. 143 D. Lloyd George (Anm. 47), S. 1361, eigene Übersetzung. 144 Vgl. P. C. Helmreich (Anm. 8), S. 295. So kam in Bericht Marschall Fochs zu dem Ergebnis, dass man mindestens 27 Divisionen (ca. 325.000) Mann benötigte, um die Türken zu entwaffnen und unter Kontrolle zu halten. 145 M. L. Smith (Anm. 46), S. 120 ff.; P. C. Helmreich (Anm. 8), S. 317 f. Frankreich und Italien waren zunächst gegen dieses riskante Unternehmen gewesen, hatten aber auf britischem Druck nachgegeben. 146 Ebenda, S. 124. 147 Zum Kriegsverlauf: P. K. Jensen, The Greco-Turkish War, 1920 – 1922, in: International Journal of Middle Eastern Studies, Bd. 10, 1979, S. 553 ff.; M. L. Smith (Anm. 46), S. 180 ff.
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ges eingesetzt hatte und den 1917 ins Exil geschickten König Konstantin in einem Referendum zurückholte.148 Dies wiederum führte dazu, dass die Siegermächte dem weiteren Kriegsverlauf, der den Großteil ihrer Nachkriegsplanung für den Nahen Osten vernichtete, tatenlos zusahen. Frankreich und Italien erklärten, dass sie all ihre Zugeständnisse an Griechenland widerriefen;149 und auch das Vereinigte Königreich stellte im April 1921 seine finanzielle Unterstützung ein.150 Im Februar 1921 fanden erstmals Gespräche zwischen den Alliierten mit Griechenland und beiden türkischen Regierungen in London statt, um eine endgültige Lösung zu finden.151 Die Konferenz scheiterte an den überzogenen Forderungen auf türkischer und griechischer Seite. Mit der Schlacht am Sakarya-Fluss im Sommer 1921 wurde den Alliierten endgültig klar, dass die Griechen in Anatolien verloren waren. Bald darauf schied Frankreich aus der Reihe der Gegner der Ankara-Regierung aus, indem dort am 20. Oktober 1921 ein separates Abkommen geschlossen wurde, das im Gegenzug für den französischen Truppenabzug aus Kilikien wirtschaftliche Vorteile in Aussicht stellte.152 Der griechische Vorstoß auf Ankara blieb im Ergebnis undurchführbar. Besonders die Truppenversorgung fernab der Küste erwies sich als entscheidende Achillesferse des griechischen Heeres. Nach fast einjährigem Stellungskrieg am Sakarya starteten die Türken am 26. August 1922 eine militärische Gegenoffensive und vernichteten die griechische Armee in der Schlacht von Dumlupinar am 30. August 1922. Innerhalb weniger Tage erreichten die Truppen Kemals die Westküste und bescherten Griechenland das, was dort als „Kleinasiatische Katastrophe“ in die Geschichte eingegangen ist.153 Das Ende des Krieges erlebten die in Kleinasien lebenden Griechen als totalen Untergang, verursacht durch ethnischen Hass auf beiden Seiten. Ca. 220.000 Griechen wurden bis Anfang Oktober evakuiert oder flohen über die Ägäis.154 In Athen kam es am 26. September 1922 zu einer Militärrevolte, die den Sturz der Regierung und die zweite Abdankung König Konstantins erzwang.155 Die seit März 1921 sukzessive amtierenden Ministerpräsidenten Gounaris und Stratos sowie vier weitere Politiker wurden wenige Monate später zum Tode verurteilt. Der Weg für eine neue Friedenskonferenz wurde durch den Waffenstillstand von Mudanya vom 11. Oktober 1922 geebnet, mit dem die Ankara-Regierung auf der einen Seite und das Vereinigte Königreich, Frankreich und Italien auf der anderen 148
Zur Entwicklung in Griechenland: M. L. Smith (Anm. 46), S. 135. Vgl. M. L. Smith (Anm. 46), S. 166 ff.; R. Banken (Anm. 1), S. 388 f. 150 Vgl. R. Banken (Anm. 1), S. 390. 151 Vgl. P. K. Jensen (Anm. 147), S. 558; R. Banken (Anm. 1), S. 391 ff. 152 Text: G. F. Martens/H. Triepel (Anm. 9), Bd. 12, S. 862 ff.; J. C. Hurewitz (Anm. 51), S. 97 ff. Frankreich betonte, dass das Abkommen keine de iure-Anerkennung der AnkaraRegierung impliziere. 153 M. L. Smith (Anm. 46), S. 299 ff. 154 S. J. Shaw, Bd. IV (Anm. 141), S. 1740. 155 M. L. Smith (Anm. 46), S. 312 ff. 149
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Seite ein Ende der Kampfhandlungen vereinbarten.156 Griechenland trat am 14. Oktober 1922 bei. Wenige Tage später übernahm die Nationalregierung die Kontrolle in der Hauptstadt. Am 2. November 1922 erklärte die Große Nationalversammlung in Ankara das Sultanat für abgeschafft, womit die Nationalregierung unter Kemals Führung zur alleinigen Macht in der Türkei wurde.157 Mehmet VI. verließ bald darauf das Land. Sein Cousin Abdülmeschid II. blieb als Kalif noch formal Staatsoberhaupt, bis am 29. Oktober 1923 die Türkische Republik mit Ankara als Hauptstadt ausgerufen wurde.158 Der Friedensvertrag von Lausanne und 16 weitere dazugehörige Dokumente159 wurden am 24. Juli 1923 zwischen der Türkei sowie dem Vereinigten Königreich, Frankreich, Italien, Japan, Griechenland, Rumänien und dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen geschlossen und beendete den völkerrechtlichen Kriegszustand, der zwischen der Türkei und den Alliierten seit dem 5. November 1914 und zwischen der Türkei und Rumänien sowie Griechenland seit den Jahren 1916/17 bestanden hatte. Die wichtigsten Dokumente waren der eigentliche Friedensvertrag, ein gesondertes Meerengenabkommen160 und ein Abkommen zwischen Griechenland und der Türkei über die Durchführung eines gegenseitigen Bevölkerungsaustauschs. Tagungsort der Konferenz, die seit November 1922 tagte und wegen den scheinbar kompromisslosen Positionen der Teilnehmer im Februar 1923 für mehr als zwei Monate unterbrochen wurde, war das Schloss von Ouchy in Lausanne.161 Die Große Nationalversammlung der Türkei ratifizierte das Abkommen bereits am 23. August 1923, um den alliierten Truppenabzug so schnell wie möglich umzusetzen.162
VI. Der Lausanner Frieden 1. Grenzen der Türkei Der Friedensvertrag von Lausanne ließ, von Grenzkorrekturen einmal abgesehen, die Regelungen des Vertrages von Sèvres unangetastet, soweit sie die arabischen Gebiete und die rückwirkenden Anerkennungen der Protektorate in Nordafrikas und die Annexion Zyperns durch das Vereinigte Königreich betrafen (Art. 16 und 17). Alle übrigen territorialen Bestimmungen von Sèvres konnte die Türkei in ihrem Sinne re156 Text: G. F. Martens/H. Triepel (Anm. 9), Bd. 13, S. 3336 ff. Zu den Verhandlungen: S. J. Shaw (Anm. 141), Bd. IV, S. 1789 ff. Die wichtigste Regelung darin war die Evakuierung der verbleibenden griechischen Truppen und die Aufschiebung der Besetzung Ostthrakiens durch die nationaltürkischen Truppen. 157 R. Banken (Anm. 1), S. 413 ff.; S. J. Shaw (Anm. 141), Bd. IV, S. 1882 ff. 158 Vgl. R. Banken (Anm. 1), S. 414. 159 Texte: G. F. Martens/H. Triepel (Anm. 9), Bd. 13, S. 342 ff. 160 Die Meerengenkonvention wurde über Art. 23 in den Friedensvertrag integriert. 161 Zur Konferenz: Y. Yanoulopoulos, The Conference of Lausanne 1922 – 1923, 1974, S. 27 ff. 162 Vgl. R. Banken (Anm. 1), S. 423 f.
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vidieren. Die Gebietsabtretungen an die Armenier oder das Autonomiegebiet für die Kurden waren ebenso vom Tisch wie andere mit dem türkischen Staatsgebiet zusammenhängenden Interventionsrechte und Vorbehalte der Siegermächte, beispielsweise hinsichtlich Konstantinopels. Griechenland behielt Westthrakien, welches die Türkei schon im Vertrag von Konstantinopel vom 29. September 1913 an Bulgarien abgetreten hatte und welches infolge des Vertrages von Neuilly und des gesonderten seinerzeit in Sèvres unterzeichneten Vertrages an Griechenland gefallen war. Seitdem bildete, von dem Bahnhof von Karagatch bei Edirne abgesehen, der Fluss Evros (bulgarisch Maritza) die Landgrenze zwischen beiden Staaten (Art. 2), die vor dem Hintergrund des Bevölkerungsaustauschs, auch eine klare Kulturgrenze bezeichnete.163 In einem Zusatzabkommen vereinbarten die Parteien unter Einschluss Bulgariens entlang der griechisch-türkischen und bulgarisch-türkischen Landgrenze eine 30 Kilometer breite entmilitarisierte Pufferzone einzurichten.164 Die türkisch-syrische Grenze verlief nach dem Lausanner Vertrag weiter südlich als im Sèvres-Vertrag, weitgehend entlang der Trasse der Bagdadbahn (Art. 3 Ziff. 1). Der Sandschak Alexandretta (Hatay) blieb zunächst syrisch, bis die Türkei im Jahre 1939 die Annexion erreichte.165 Im Friedensvertrag nicht unmittelbar gelöst werden konnte der Streit um die Zugehörigkeit der erdölreichen Provinz Mossul mit ihrer mehrheitlich kurdischen Bevölkerung.166 Hier enthielt der Friedensvertrag mit Artikel 3 Ziff. 2 den Kompromiss, dass die Türkei und das Vereinigte Königreich als Mandatsmacht für den Irak innerhalb von neun Monaten eine Lösung finden und andernfalls der Völkerbundrat entscheiden sollte. Die Türkei hatte ein Plebiszit in der Region vorgeschlagen, was das Vereinigte Königreich abgelehnt hatte. Der Völkerbund richtete eine Kommission ein, die sich mit dem Thema befasste und die Zuteilung an den Irak vorschlug. Die Türkei akzeptierte dies und unterzeichnete am 5. Juni 1926 in Ankara mit dem Vereinigten Königreich einen entsprechenden Vertrag, der die Mossulfrage beendete.167 Als Kompensation erhielt sie eine 10 %ige Beteiligung an den irakischen Gewinnanteilen an der Erdölausbeute für Mossul für die Dauer von 25 Jahren. Bezüglich der Ägäisinseln anerkannte die Türkei endgültig den Schiedsspruch der Großmächte aus dem Jahre 1914 (Art. 14), weshalb diese Regelungen mit denen des Vertrages von Sèvres identisch waren. Hinsichtlich der Dodekanes und Kastelorizons verzichtete die Türkei auf ihre Souveränitätsrechte zu Gunsten Italiens (Art. 15). Damit erhielt Italien wenigstens teilweise Befriedigung aus dem Abkommen von 163
Ebenda, S. 433. League of Nations Treaty Series, Bd. 28, 1924, S. 141 ff. 165 Dazu ausführlich: M. Khadduri, The Alexandretta Dispute, in: AJIL, Bd. 39, 1945, S. 406 ff. 166 Dazu ausführlich: J. von Elbe, Der englisch-türkische Mossulkonflikt, in: ZaöRV, Bd. 1/1, 1929, S. 391 ff.; R. Banken (Anm. 1), S. 435 ff. 167 Text: League of Nations Treaty Series, Bd. 64, 1927, S. 379 ff. Weitere Nachweise: R. Banken (Anm. 1), S. 424. 164
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1915. Griechenland hatte dies nur widerstrebend akzeptiert; erst 1947 wurden die Inseln griechisch. 2. Minderheitenschutz Die Artikel 35 bis 45 enthielten die Minderheitenschutzbestimmungen. Sie blieben hinter dem völkerrechtlichen Standard der Völkerbundzeit zurück, denn sie nutzen ausschließlich die Religionszugehörigkeit als Kriterium, waren also auf Juden, Griechen, Armenier und Assyro-Chaldäer anwendbar. Ausschließlich Nichtmuslime sollten in der Türkei dieselben Bürgerrechte haben wie die muslimischen Türken und beispielsweise das Recht, lokale Bildungs- Religions- und Wohlfahrtseinrichtungen sowie Vereinigungen zu gründen und zu unterhalten. Das traditionelle osmanische millet-System mit seiner weitreichenden Rechtsautonomie und den Schutzmachtstellungen der Großmächte, galt als endgültig abgeschafft. Über die Bestimmungen war auf der Lausanner Konferenz heftig gestritten worden, weil die türkische Delegation unter Ismet Pascha erklärt hatte, dass die christlichen Minderheiten wegen der Sezessionsbestrebungen ihren Anspruch auf Toleranz verwirkt hätten.168 Am Ende waren die Siegermächte nicht dazu bereit gewesen, wegen dieser Regelungen den Frieden erneut aufs Spiel zu setzen.169 Nach der Gegenseitigkeitsverbürgung Griechenlands akzeptierte die türkische Regierung auch die Völkerbundgarantie (Art. 44), wonach jedes Mitglied das Recht hatte, die Verletzung der Bestimmungen anzuzeigen. Die Verlierer dieser Bestimmungen waren Gruppen, die sich ausschließlich nach Ethnie oder Sprache von der Mehrheitsbevölkerung unterschieden und damit nicht dem völkerrechtlichen Schutz des Vertrages unterfielen: Lazen, Kirkassier, Tscherkessen, vor allem aber Kurden.170 Wo im Sèvres-Vertrag noch die Aussicht auf einen eigenen Staat enthalten gewesen war, verloren die Kurden nun sogar die Eigenschaft einer Minderheit. Doch auch die Durchsetzung der Bestimmungen zum Schutz der nichtmuslimischen Minderheiten erwies sich in der Praxis als äußerst schwach.171 3. Finanzielle, wirtschaftliche und sonstige Bestimmungen Auch hinsichtlich der wirtschaftlichen und finanziellen Bestimmungen hatte sich die Türkei mit ihren Wünschen unter ihrem Verhandlungsführer Ismet Pascha überwiegend durchgesetzt. Die Kapitulationen wurden für endgültig abgeschafft erklärt 168 His Majesty’s Stationary Office, Lausanne Conference on Near Eastern Affairs 1922 – 1923: Records of proceedings and draft terms of peace, 1923, S. 190 ff. 169 Vgl. Y. Yanoulopoulos (Anm. 161), S. 74 f. 170 Vgl. R. Banken (Anm. 1), S. 459 f. 171 Vgl. I. A. Kriari-Catranis, Die Menschenrechte der orthodoxen Griechen in der Türkei, in: B. Rill, Griechenland: Politik und Perspektiven, 1999, S. 39 ff.; M. Scheuermann, Minderheitenschutz contra Konfliktverhütung? Die Minderheitenpolitik des Völkerbundes in den zwanziger Jahren, 2000, S. 369 f.
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(Art. 28), und, abgesehen von einer vorübergehenden Einschränkung der türkischen Außenzölle, wurde es der Regierung in Ankara überlassen, künftig ihre eigene Wirtschaftspolitik zu betreiben. In dem Vertrag deutete nichts mehr auf die Absicht der Siegermächte hin, die Türkei finanziell zu bevormunden. Vielmehr sollten ihre Angehörigen in der Türkei die gleichen Steuern zahlen wie Inländer, was in einem besonderen Abkommen über Niederlassung, Geschäftstätigkeit und Gerichtsbarkeit geregelt wurde. Mit diesem Abkommen, ebenso mit dem neuen Handelsabkommen,172 wurde zugleich die Abschaffung der Konsulargerichte und Fremdenpriviliegien (Kapitulationen) aufgefangen, indem die Türkei zur Einhaltung des völkerrechtlichen Mindeststandards im Fremdenrecht verpflichtet wurde.173 Im Gegensatz zu ihren Weltkriegsverbündeten brauchte die Türkei auch keine Reparationen zu leisten – der Vertrag enthielt ohnehin keine Kriegsschuldklausel mehr. Allerdings wurde Griechenland verpflichtet, die durch Verstoß gegen das Kriegsrecht in Anatolien angerichteten Schäden wiedergutzumachen (Art. 59).174 Die zentrale Regelung für die Aufteilung der osmanischen Vorkriegsschuld war Artikel 46, wobei die Vorgehensweise in den folgenden Artikeln geregelt wurde.175 Auf der Konferenz hatte die türkische Delegation versucht, mit der Auffassung durchzudringen, dass mit Gründung der Türkischen Republik ein neuer Staat entstanden sei, der nicht mit dem Osmanischen Reich identisch sei. Deshalb müsse auch eine Aufteilung der Kapitalschuld erfolgen und nicht nur der Annuitäten (jährliche Leistungen auf Zins und Tilgung).176 Obwohl diese Auffassung keine Berechtigung hatte – die Türkei hatte mit Abschaffung der Monarchie lediglich ihre Regierungsform geändert – erreichte sie am Ende eine erhebliche Erleichterung und musste für etwa 62 % der Kapitalschuld aufkommen, was schließlich 1933 auf nur noch 12 % reduziert wurde.177 Die staatsrechtlichen Folgen der Gebietsabtretungen blieben in fast identischer Weise geregelt wie im Vertrag von Sèvres.
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Text: Lausanne Conference on Near Eastern Affairs (Anm. 167), S. 521 ff. Vgl. R. Banken (Anm. 1), S. 530 ff. 174 Die hohen Reparationsforderungen der Türkei an Griechenland auf der Friedenskonferenz hatten beide Staaten Ende Mai 1923 erneut an den Rand der Eskalation gebracht. Die Abtretung des Bahnhofs von Karagatch bei Edirne war ausschlaggebend für das türkische Einlenken gewesen. 175 Dazu ausführlich: H. Alphand, Le Partage de la Dette Ottomane et son Règlement, 1928, S. 25 ff. 176 Ebenda, S. 35 ff. 177 Z. Y. Hershlag, Introduction to the Modern Economic History of the Middle East, 1980, S. 70. 173
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4. Meerengenabkommen Die erste bedeutsame Zusatzkonvention zum Friedensvertrag war das Lausanner Meerengenabkommen.178 Darin wurde vor allem die bereits mit dem Vertrag von Sèvres vorgesehene Abschaffung der alten osmanischen Regel zu Gunsten der freien und ungehinderten Durchfahrt auch von Kriegsschiffen bestätigt (Art. 1), diesmal allerdings mit einer strikten Unterscheidung zwischen Kriegs- und Zivilfahrzeugen und der Durchfahrt in Kriegs- und in Friedenszeiten. War die Türkei selbst Kriegspartei, sollte nur befreundeten und neutralen Kriegsschiffen die Passage erlaubt sein, wobei die von der Türkei zu ergreifenden Maßnahmen die Durchfahrtsfreiheit neutraler Schiffe nicht beeinträchtigen durfte. Die gleichen Regelungen galten für Luftfahrzeuge. Die Art und Weise der Durchfahrt von Kriegsschiffen- und -luftfahrzeugen einschließlich deren Verhaltensweise wurde sehr detailliert geregelt (Art. 17). Gleichzeitig wurde die internationale Meerengenkommission zur Überwachung dieser Regelungen bestätigt, allerdings im Vergleich zum Sèvres-Vertrag, wonach sie noch eigene Hoheitsgewalt hatte ausüben sollen, ohne nennenswerte Befugnisse.179 Abgesichert wurde die Durchfahrtsfreiheit durch die Beibehaltung einer teilweisen Entmilitarisierung der Uferzone (Art. 3 bis 10) – zusätzlich zur Festlandgrenze in Europa – und eine gemeinsame Garantieerklärung des Vereinigten Königreichs, Frankreichs, Italiens und Japans (Art. 18).180 Die entmilitarisierte Zone, die wesentlich kleiner ausfiel als nach dem Vertrag von Sèvres, umfasste den südlichen Teil der Halbinsel Gallipoli und das Marmarameer mitsamt Inseln, zwei 15 Kilometer breite Landstreifen auf beiden Seiten sowie die Inseln Samothrake, Lemnos (griechisch), Imbros und Tenedos (Art. 4). Inspektionsrechte und das Recht auf Truppenstationierung der Hauptalliierten, wie nach dem Sèvres-Vertrag, gab es nicht mehr. Mit der neuen Meerengenkonvention wurde ein sachgerechter Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen der westlichen Mächte und der Uferstaaten des Schwarzen Meeres an der freien Durchfahrt sowie der Türkei mit ihrem lebenswichtigen Interesse am größtmöglichen Schutz ihrer territorialen Sicherheit herbeigeführt. Gleichwohl blieb sie nur 13 Jahre lang in Kraft. Die Veränderung der politischen Großwetterlage und vor allem die Bedrohung durch das faschistische Italien führten 1936 dazu, dass die Türkei die mit Artikel 18 abgegebene Garantie als wirkungslos ansah. Im Meerengenabkommen von Montreux vom 20. Juli 1936181 erreichte sie das Recht der Wiederbewaffnung der Meerengenzone, und auch die Befugnisse der Kommission wurden vollständig auf die Türkei übertragen.
178 League of Nations Treaty Series, Bd. 28, 1924, S. 117 ff. Unterzeichnet haben das Vereinigte Königreich, Frankreich, Italien, Japan, Bulgarien, Rumänien, die Türkei und Russland, welches das Abkommen aber nicht ratifiziert hat. 179 R. Banken (Anm. 1), S. 521 f. Es ging vornehmlich noch um Meldepflichten. 180 Ebenda, S. 522 ff. 181 Text: League of Nations Treaty Series, Bd. 173, 1939, S. 213 ff. Überblick bei S. Birkner (Anm. 24), S. 89 ff.
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5. Griechisch-Türkischer Bevölkerungsaustausch Der wohl drastischste humanitäre Einschnitt bei der Nachkriegsordnung des Ersten Weltkrieges war das besondere Abkommen über die Durchführung eines Bevölkerungsaustauschs zwischen Griechenland und der Türkei, welches schon am 30. Januar 1923 unterzeichnet worden war und schon im Mai 1923 – vor dem Friedensschluss – in Kraft treten sollte.182 Es handelte sich um eine Zwangsumsiedlung, womit die bereits im Verlauf des Griechisch-Türkischen Krieges begonnene Vertreibung der christlich-orthodoxen Bürger der Türkei in geregelte Bahnen gelenkt werden sollte – letztlich wurden vor allem die geschaffenen Fakten sanktioniert. Betroffen waren insgesamt 1,6 Millionen Menschen, darunter 1,2 Millionen Angehörige des osmanischen millets und ca. 600.000 Muslime in Griechenland.183 Die verbleibenden jeweiligen Bürger mussten das Land verlassen, wobei ihnen jegliche Rückkehr untersagt wurde (Art. 1). Die Durchführung und Überwachung des Bevölkerungsaustauschs und der komplizierten Entschädigungsregelungen (Art. 8 ff.) wurden in die Hände einer Gemischten Kommission mit Mitgliedern von beiden Seiten und des Völkerbundes gelegt (Art. 11).184 Die Kriterien des Abkommens beruhten ausschließlich auf der Religion.185 Die Türken, die sich unter Kemal Atatürk auf die Idee der Kulturnation festlegten, waren in dieser Hinsicht unnachgiebig gewesen, beschuldigten sie die christlichen Bürger doch des kollektiven Hochverrats.186 Ausgenommen waren nach harten Verhandlungen die etwa 300.000 Angehörigen der griechisch-orthodoxen Gemeinde in Konstantinopel und auf den Inseln Imbros und Tenedos sowie als Gegenseitigkeitsmaßnahme die 124.000 Muslime im griechischen Westthrakien (Art. 2). Das Ökumenische Patriarchat in Konstantinopel verlor anderseits sämtliche politischen Rechte und Funktionen187 und genießt völkerrechtlich seitdem nicht mehr Schutz als eine lokale Kirche griechisch-orthodoxer türkischer Staatsbürger nach Artikel 42 Abs. 3 des Lausanner Friedensvertrages. Über die Auslegung des Abkommens und die Folgen der Zwangsumsiedlung wurde noch lange gestritten. In den folgenden Jahrzehn182 Text: G. F. Martens/H. Triepel (Anm. 9), Bd. 13, S. 422 ff. Ausführliche Darstellung: R. Banken (Anm. 1), S. 539 ff. Vermittelt worden war das Abkommen maßgeblich durch Fridthjof Nansen, seit 1921 Hochkommissar des Völkerbundes für Flüchtlingsfragen. 183 S. P. Ladas, The Exchange of Minorities – Bulgaria, Greece and Turkey, 1932, S. 438 ff. Nach der Kleinasiatischen Katastrophe waren schätzungsweise noch 500.000 Griechen in der Türkei übriggeblieben. 184 Dazu ausführlich: S. P. Ladas (Anm. 183), S. 443 ff. Bis 1930 waren gerade einmal ein Viertel der Entschädigungsfragen hinsichtlich des unbeweglichen Eigentums untersucht worden. 185 Vgl. R. Banken (Anm. 1), S. 545 f. 186 Vgl. die Ausführungen Ismet Paschas in Lausanne: Lausanne Conference on Near Eastern Affairs (Anm. 167), S. 190 ff. 187 Vgl. A. Alexandris (Anm. 45), S. 89 ff.; Yanoulopoulos (Anm. 161), S. 69 f. Die Griechen auf Imbros und Tenedos waren wiederum nach Art. 14 Abs. 2 des Friedensvertrages ausgenommen.
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ten wurden die betroffenen Bürger in beiden Staaten dennoch mit verschiedenen Maßnahmen mehr oder weniger zur Auswanderung gedrängt. Am Ende stand ein tragisches Vorbild für weitere Abkommen dieser Art, die im 20. Jahrhundert noch folgen sollten, und wodurch man versuchte, der Massenvertreibung von Bevölkerungsteilen eine legale Grundlage zu verleihen.188 Dabei missachtete das Abkommen bereits das damals geltende Völkerrecht, welches gerade einen effektiven Minderheitenschutz eingeführt hatte und stellte die Prinzipien Woodrow Wilsons auf den Kopf. Auf der anderen Seite war es wahrscheinlich eine wesentliche Voraussetzung für den stabilen Frieden, der 1923 in Lausanne geschlossen wurde, indem damit zugleich ein Schlussstrich unter revisionistische Forderungen gezogen wurde.189 VII. Zusammenfassung Die Verträge von Sèvres und Lausanne regelten auf völlig gegensätzliche Weise die Folgen der militärischen Niederlage des Osmanischen Reiches. Stellt man die Frage nach den Ursachen für das Scheitern des Diktatfriedens von Sèvres, genügt ein Verweis auf seine Bestimmungen. Es waren die Fehler und die Überheblichkeit der Sieger, die in völliger Verkennung der Situation im Osmanischen Reich und ignoranter, eigennütziger Kompromisslosigkeit, weiteres Leid von Millionen Menschen heraufbeschwört hatten. Der Lausanner Vertrag wiederum bescherte der Region für lange Zeit einen stabilen Frieden, weil er den herrschenden Kräfteverhältnissen in der Region gerecht wurde und weil die radikale Lösung der zwangsweisen Bevölkerungsumsiedlung durchgeführt wurde. Während der Vertrag von Sèvres von den Türken als nationale Demütigung empfunden wurde, verwirklichten sie mit dem Lausanner Frieden ihr nationales Selbstbestimmungsrecht. * Abstract Roland Banken: The Treaty of Sèvres 1920 and its Amendments by the Treaty of Lausanne 1923 (Der Vertrag von Sèvres 1920 und seine Änderungen durch den Vertrag von Lausanne 1923), in: World War I and its Consequences for the Coexistence of Peoples in Central and Eastern Europe (Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittelund Osteuropa), ed. by Gilbert H. Gornig and Adrianna A. Michel (Berlin 2019), pp. 13 – 47. The First World War and the subsequent peace agreements not only changed the centuriesold order of the peoples of Central and Eastern Europe. In the Orient as well, the defeat of a great multi-ethnic country, the Ottoman Empire, led to a historic break that not only changed the po188 Beispiele sind der Vertrag von Kraiova von 1940 zwischen Rumänien und Bulgarien, der Vertrag von Neu-Dehli von 1950 zwischen Indien und Pakistan. Auch Benesˇ berief sich 1944 auf das Vorbild des Lausanner Abkommens, um die Vertreibung der Sudetendeutschen zu rechtfertigen. 189 R. Banken (Anm. 1), S. 564.
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litical map of this part of the world, but also led to the flight and displacement of more than one million people from these countries. At the beginning of the First World War, the Ottoman Empire entered the war on behalf of the Central Powers as a result of a secret German-Turkish alliance treaty of August 2, 1914. War began on 28 October 1914 with a surprise attack by two former German battle cruisers, which now sailed under the Ottoman flag, to Russian Black Sea ports. On November 12, 1914, Mehmet V. (1909 – 1918) proclaimed jihad in his dual role as Sultan of the Ottoman Empire and Caliph of Islam. This declaration of war, strongly supported by the then Constantinople government, the so-called Committee of Union and Progress, was welcomed by the Turks as a historic opportunity to remove the many legal, political and economic restrictions imposed by the European powers for many decades. In contrast, the powers of the Triple Entente saw this as the longed-for opportunity, in the event of a victory, to transform this technologically underdeveloped region for its own purposes. Four years later, Mudros’ Armistice Treaty of October 30, 1918, officially ceased hostilities in the Middle East theater of war. Officially, peace did not take place until July 1923, when the state of war ended with a legally binding peace treaty. The focus was on the Treaty of Sèvres, signed on 10 August 1920, the last of the five suburban Paris agreements signed after the defeat of the German Reich and its allies. The three great victorious powers, the United Kingdom, France and Italy, had taken a long time to agree on how to fill the power vacuum in the Middle East that had arisen as a result of the defeat of the Ottomans. At the Paris Peace Conference of 1919/20, the treaty with the Turks had played only a minor role compared to the problems in Europe and the search for peace agreements with the other war opponents. Disagreements among the victors, the obscure role of the United States of America in the planned post-war order in Anatolia, as well as the rapidly spreading turmoil in the Ottoman Empire and the invasion of Greek troops made the search for a peace solution difficult. The Treaty of Sèvres, according to the wishes of the victorious powers, was to carry out a colonial order in the territories that until then belonged to the Ottoman Empire. This included the intention to examine the territory of today’s Turkey and divide it into spheres of influence. The aim was to mutilate Turkey: the European part, Thrace and parts of West Anatolia should be ceded to Greece. In the eastern regions of Anatolia, the powers wanted to create a large Armenian country and an autonomous Kurdistan. The rest of the Turkish rump state should be under their control and supervision for an indefinite time. However, when the Sultan’s plenipotentiary signed this contract in the suburb of Sévres in Paris, it was no longer worth the paper on which it was written. The Turkish people resisted its dictated regulations; in the many months that have passed since the truce, they increasingly resisted the arbitrariness of the victors. In the end, the former General Mustafa Kemal, later Atatürk (life 1881 – 1938), managed to reverse the power conditions in his favor. With their victory over the Greeks who invaded Anatolia and the fall of Sultan Mehmet VI. (1919 – 1922) they simultaneously prevented the ratification of the treaty. In November 1922, four years after the armistice of Mudros, the search for peace in the Orient had to start afresh. In contrast to the diplomacy of the Paris suburban agreements, direct negotiations took place at eye level between the victorious powers and the Turkish Republic, which were proclaimed in 1923. This resulted in the contracts of Lausanne signed on 24 July 1923. Lausanne provided the region with a completely different post-war order than the Treaty of Sèvres had intended. When asked why the dictated peace of Sèvres had failed, it is sufficient to look at its provisions. It was the mistakes and the arrogance of the victors who, in complete ignorance of the situation in the Ottoman Empire and in their quest for egoistic, self-serving and uncompromis-
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ing advantages for themselves, had caused a continuing suffering for millions of people. Sèvres was doomed to failure in the face of the new, strong Turkish opposition. The Treaty of Lausanne for the parts set in motion by the Turks provided the region with a long peacetime because it respected the prevailing balance of power in the region and because the radical solution of compulsory resettlement of the population was agreed upon. While the Treaty of Sèvres was perceived by the Turks as a national humiliation, the Treaty of Lausanne helped them realize their will to national self-determination.
Die Kaukasus-Front, ein vergessener Kriegsschauplatz im Ersten Weltkrieg Von Andreas Raffeiner I. Allgemeines und Hintergründiges 1. Allgemeine Informationen Jeder kennt die Westfront als sinnverwandtes Wort für den Stellungskrieg zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich, ferner den Krieg in den Alpen zwischen Österreich-Ungarn und Italien und allenfalls die Ostfront in Galizien, an der unzählige Soldaten der Habsburgermonarchie im Kampf gegen Truppenangehörige aus dem Zarenreich Russland ihr junges Leben lassen mussten. Aber haben Sie sich schon einmal mit der Kaukasusfront auseinandergesetzt? Die Kaukasusfront, weit weg von uns, wurde eröffnet, als Angehörige der russischen Streitmacht Anfang November 1914 die Grenzlinien zum Osmanischen Reich, wie der Name folgerichtig hindeutet, im Kaukasusgebirge überquerten. Das Osmanische Reich und das Zarenreich Russland standen sich als Konfliktparteien in diesem Gebiet, aber auch am Schwarzen Meer und im Osten Anatoliens gegenüber. Auch wenn Russland aufgrund der innenpolitischen Spannungen, die in der Oktoberrevolution mündeten, aus dem Kriegsgeschehen ausscherte, ging das sinnlose, kriegerische Töten und Blutvergießen weiter. Die Konfrontation, die im Hintergrund vom Völkermord an den Armeniern 19151 begleitet wurde, endete mit den Verträgen von Brest-Litowsk2 und Batumi,3 welche im März bzw. Juni 1918 zu Papier gebracht wurden. Dessen ungeachtet gab es weitere Gefechte u. a. zwischen den Osmanen und dem British Empire. Diese wurden erst Ende Oktober 1918 mit dem Waffenstillstand von Moudros4 beendet.
1 J. Berlin/A. Klenner (Hrsg.), Völkermord oder Umsiedlung? Das Schicksal der Armenier im Osmanischen Reich, Darstellung und Dokumente, 2006. 2 W. Baumgart, Deutsche Ostpolitik 1918 – Von Brest-Litowsk bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, 1966. 3 H. Krüger, Der Berg-Karabach-Konflikt. Eine juristische Analyse, 2009, S. 16. 4 S. Mangold-Will, Begrenzte Freundschaft: Deutschland und die Türkei 1918 – 1933, 2013, S. 13.
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2. Hintergrundgeschichte Das Osmanische Reich wollte die Gebiete, die es im Russisch-Osmanischen Krieg 1877/785 verloren hatte – und dazu zählen u. a. die Städte Artvin, Ardahan, Kars und Batumi – auf Biegen und Brechen zurückerobern. Das osmanische Interesse an diesem Kriegsschauplatz veranlasste Moskau dazu, die russischen Einheiten von der Ostfront zu verlagern.6 Das Osmanische Reich hingegen wurde vom Deutschen Reich unterstützt. Man war sich sicher, dass man diese Auseinandersetzung mit einem Erfolg beenden würde und infolge des Sieges nach Tiflis ziehen könne. Ein Erfolg hätte durchaus auch einen Aufstand der muslimischen Kaukasier gegen Russland mit sich gebracht oder vielmehr entfachen können. Das Osmanische Reich und das Deutsche Reich hatten sich zum Ziel gesetzt, den Russen den Weg zu den Ölfeldern am Kaspischen Meer zu versperren.7 Dennoch muss man wissen, dass Russland die Kaukasusfront im Vergleich zur Ostfront, so beispielsweise in Galizien, keinesfalls so wichtig war. Aber man hatte vor dem Versuch der osmanischen Einnahme der Städte Angst, und folglich plante das Zarenreich, die muslimischen Bewohner im Norden Anatoliens und Istanbuls gegen die Kosaken auszutauschen.8 Dem gegenüber stand auch die armenische nationale Befreiungsbewegung, die eine Armenische Republik9 aus der Taufe heben wollte. Dieses Unterfangen gelang ihr tatsächlich im letzten Kriegsjahr 1918, doch das junge Staatsgebilde hatte nicht lange Bestand. Die Briten sicherten den Russen ihre vollste Unterstützung zu, als es galt, die im Raum stehende Absonderung der kaukasischen Gebiete von Russland zu verhindern. II. Wer stand sich gegenüber? 1. Russen Bevor der Krieg ausbrach, bestand die russische Kaukasusarmee aus 100.000 Mann. Nomineller Befehlshaber war Generalgouverneur Graf Illarion WoronzowDaschkow.10 Als die Russen aufgrund der Niederlagen in der Schlacht bei Tannen5
I. Drury, The Russo-Turkish War 1877, 2012. E. Hinterhoff, Persia: The Stepping Stone To India. Marshall Cavendish Illustrated Encyclopedia of World War I, vol. IV, S. 499 – 503. 7 The Encyclopedia Americana, vol. 28, 1920, S. 403. 8 R. G. Hovannisian, Armenia on the Road to Independence, 1918, 1967, S. 59. 9 E. Hartmann, Geschichtsschreibung als Nationenbildung. Die armenischen Kolonien Ostmitteleuropas in der armenischen Geschichtsschreibung nach 1915, in: T. Ganjalyan/ B. Kovács/St. Troebst (Hrsg.), Armenier im östlichen Europa: Eine Anthologie, 2018, S. 494 – 528, hier S. 509. 10 R. Nachtigal, Gab es ein Minderheitenproblem in der Zarenarmee im Ersten Weltkrieg?, in: O. Überegger (Hrsg.), Minderheiten-Soldaten. Ethnizität und Identität in den Armeen des Ersten Weltkrieges (Krieg in der Geschichte, Bd. 109), 2018, S. 119 – 158, hier S. 151. 6
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berg11 und infolge der Schlacht an den Masurischen Seen12 die Hälfte ihrer Soldaten nach Ostpreußen verlagern mussten, blieb nur noch der Rest am Kaukasus zurück. Diese Soldaten wurden vom armenischen General Mowses Silikjan kommandiert. Im Kriegswendejahr 1917 wurde die Kaukasusarmee aufgelöst. Die Russen zogen sich in den Osten Anatoliens zurück, und die armenischen Truppenangehörigen hielten die Stellungen gegen die feindlichen Streitkräfte der Osmanen. Rein zahlenmäßig waren nahezu 150.000 Armenier im Einsatz, die in verschiedenen Milizen gegen die Osmanen kämpften.13 2. Osmanen Das Osmanische Reich stationierte seine 3. Armee14 in den nördlichen und östlichen Gebieten des Landes. Im zweiten Kriegsjahr wurde die Anzahl der Streitkräfte durch die Verlegung der 2. Armee gesteigert. Im Vergleich zu den Entente-Mächten waren die osmanischen Truppen unter der Führung des deutschen Generals Friedrich (Fritz) Bronsart von Schellendorf15 unterlegen. Als der Konflikt ausbrach, bestand das Truppenkontingent aus 100.000 bis 200.000 Mann, die sich durch eine schlechte Ausrüstung „auszeichneten“. 3. Armenier In den ersten Kriegswochen und -monaten des Jahres 1914 wurden im russischen Militäraufgebot Einheiten aus armenischen Freiwilligen rekrutiert. Diese bestanden keineswegs aus armenischen Einwohnern des riesengroßen Zarenreiches, denn diese waren schon an der Ostfront im Einsatz. Die neuen Einheiten setzten sich aus Armeniern aus dem Osmanischen Reich zusammen, die u. a. dem Befehlskommando von General Andranik Ozanian unterstanden. Zu Beginn der kriegerischen Auseinandersetzung bestand die Truppenstärke aus 20.000 Mann. In der Folge wuchs ihre Zahl jedoch, sodass sich General Nikolai Nikolajewitsch Judenitsch dazu entschloss, armenische Verbände mit der russischen, im Kaukasus stationierten Armee zu vereinigen oder sie aufzulösen.
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M. Pöhlmann, Tod in Mausuren: Tannenberg, 23. bis 31. August 1914, in: S. Förster/ M. Pöhlmann/D. Walter (Hrsg.), Schlachten der Weltgeschichte. Von Salamis bis Sinai, 3. Aufl. 2002, S. 279 – 293. 12 B. Marquis, Das Deutsche Reich bis zum Zweiten Weltkrieg, 2002, S. 23. 13 F. Nansen, Armenia and the Near East, 1976, S. 310. 14 R. Marz, Das Osmanische Reich auf dem Weg nach Europa: Neue osmanische Geschichtsschreibung, 2013, S. 142. 15 C. A. Krethlow, Deutsche Militärs und die Armenier 1835 – 1916. Demographische Konzepte, Sicherheitsmaßnahmen und Verstrickungen, in: R. Hosfeld/C. Pschichholz (Hrsg.), Das Deutsche Reich und der Völkermord an den Armeniern, 2017, S. 149 – 181, hier S. 160.
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4. Kurden Es gab kurdische Milizen, die zum einen für die zaristischen Truppen und zum anderen für die Osmanen in den Krieg zogen. III. Vorspiel und Kriegsverlauf 1. Einleitung Der Kriegsausbruch war erst wenige Wochen alt, als in Erzurum ein armenischer Kongress über die Bühne ging. Auf der Tagesordnung stand u. a. die Festlegung der Strategie im Falle einer Konfrontation zwischen dem Zarenreich Russland und dem Osmanischen Reich.16 Das Komitee „Einheit und Fortschritt“17 in Istanbul wollte die Armenier auf Seiten der Osmanen haben. Sie beteuerten ihre Loyalität zum Reich, auch wenn sie autonom von der osmanischen Staatsführung agieren wollten. Die Regierung in Istanbul verstand diese Ansicht so, dass die Armenier detailgetreue Pläne für die Kooperation mit Russland hätten und im Fall einer kriegerischen Auseinandersetzung gegen das Osmanische Reich kämpfen würden.18 2. 1914 Als das Osmanische Reich in den Krieg eintrat, überschritt Russland Anfang 1914 die Grenze und startete mit einer Offensive in Richtung Eles¸kirt und Pasinler. Die Osmanen wollten wegen des harten Winters keineswegs gleich in die Offensive gehen. Im Gegenteil: Man blieb defensiv und verfolgte das Ziel, dank der Unterstützung durch kurdische Stammeskrieger, im richtigen Moment zuzuschlagen. Jedoch schlug das Ziel der Kavallerie, die Russen einzukreisen, fehl. Zudem erwiesen sich die kurdischen Streitkräfte als unzuverlässig. Auch wenn die Osmanen ihre Stellungen teilweise halten konnten, konnten die feindlichen Streitkräfte neue Gebiete erobern. Die russischen Errungenschaften kamen auch durch die Mithilfe armenischer Freiwilliger zustande. An der südlichen Front war der Blutzoll, den die Osmanen mit 9.000 Toten, 3.000 Gefangenen und 2.800 Deserteuren erleben mussten, sehr hoch. Zar Nikolaus II. besuchte gegen Ende des Jahres die Front und empfing gemeinsamen mit dem Präsidenten des armenischen Nationalkonzils in Tiflis den Vorsitzenden der armenischen Kirche. Der Monarch berichtete in seiner Unterredung u. a. davon, dass die Armenier, die unter dem türkischen Joch leben, Freiheit empfangen, der ruhmreichen russischen Armee beitreten und mit ihrem Blut zum Sieg beitragen 16
R. G. Hovannisian, The Armenian People from Ancient to Modern Times, 1997, S. 244. J. Berlin/A. Klenner (Hrsg.), Völkermord oder Umsiedlung? Das Schicksal der Armenier im Osmanischen Reich. Darstellung und Dokumente, 2013, S. 26 f. 18 Edward J. Erickson, Ordered to Die: A History of the Ottoman Army in the First World War, 2001, S. 97. 17
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sollen und dass die russische Flagge frei am Bosporus und an den Dardanellen wehen soll.19 Die Osmanen nahmen nach einem Gefecht die Stadt Ardahan ein. Die rebellischen Adscharen20 gewährten den Truppen Unterstützung. Zudem setzte man sich das Ziel, die russischen Truppen bei Sarıkamıs¸ zu bekämpfen.21 Die Schlacht um Sarıkamıs¸ vom 22. Dezember 1914 bis zum 15. Januar 1915,22 der ein weiteres Gefecht vorausging, endete für das osmanische Aufgebot mit einer verheerenden Niederlage. 3. 1915 Zu Beginn des zweiten Kriegsjahres stand das Hauptquartier der 3. Armee unter Beschuss. Der Befehlshaber der osmanischen Einheiten ordnete den vollständigen Rückzug an. Nach der Schlacht von Sarıkamıs¸ verblieben knapp zehn Prozent der Soldaten übrig, und die Heeresleitung trat zurück. Die armenischen Verbände trugen einen wesentlichen Anteil zur Niederlage der Osmanen bei, denn sie verschafften den Russen Zeit, ihre Armee in Sarıkamıs¸ zu konzentrieren. Der Anführer der Osmanen gab den Armeniern die Schuld an der Niederlage, zumal sie seiner Meinung nach aktiv mit den Russen kooperierten.23 Der russische General wurde für seinen Triumph in Sarıkamıs¸ gefeiert. Die anderen Entente-Mächte erwarteten sich von den Russen die Entlastung der Westfront, doch die zaristischen Truppen baten um einen Angriff über das Schwarze Meer, um ihrerseits die Front am Kaukasus zu entlasten. Die im Frühjahr in die Wege geleitete Schlacht von Gallipoli24 vom 19. Februar 1915 bis zum 9. Januar 1916 sorgte dafür, dass die Russen ihre Kräfte erneuern und sie entlastet werden konnten. Die angeführte Schlacht von Gallipoli verschlang aufgrund einiger Scharmützel die osmanischen Mittel. Die Osmanen verfügten auch nicht über genügend Truppen, um das komplette Gebiet zu sichern. Im April startete der Kampf um Van; armenische Soldaten verteidigten die Einwohner und Flüchtlinge, die Zuflucht gefunden hatten. 1.500 Soldaten standen bis zu drei Wochen im Einsatz. Ein Teil der russischen Einheiten, die aus einer Brigade Kosaken und einigen Freiwilligen bestanden, erreichte die Stadt und bestätigte die behelfsmäßige armenische Obrigkeit und den Gouver-
19 S. Shaw/E. K. Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, vol. 2: Reform, Revolution, and Republic. The Rise of Modern Turkey 1808 – 1975, 1977, S. 314 – 315. 20 H. Greenhalgh/R. L. Jarman, Adjara and the Russian Empire. 1878 – 1917, 2003. 21 S. Tucker, The European Powers in the First World War. An Encyclopedia, 1999, S. 174. 22 W. E. Allen/P. Muratoff, Caucasian Battlefields. A History of the Wars on the TurcoCaucasian Border 1828 – 1921, 1953, Reprint 1999. 23 P. Balakian, The Burning Tigris. The Armenian Genocide and America’s Response, 2003, S. 200. 24 H. A. Richter, Der Krieg im Südosten. Bd. 1: Gallipoli 1915, 2014.
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neur im Amt. Die kriegerischen Auseinandersetzungen verlagerten sich von nun an in den Westen des Territoriums.25 Ende April sandte der osmanische Innenminister einen Brief an das Oberkommando, in dem auch er die Armenier bezichtigte, mit den fremdländischen Invasoren zu kooperieren. Außerdem schrieb er, dass sie das Osmanische Reich verraten hätten und führte als Beispiel die armenische Auflehnung in der Stadt Van an. Im Mai rückten die Russen nach Erzurum vor. Die Osmanen starteten, diesen Angriff abwehrend, eine Gegenoffensive. Doch im Süden waren sie nicht erfolgreich und mussten die Stadt Malazgirt den Russen überlassen. In Van wurde das osmanische Aufgebot zurückgedrängt, und auch gab es durch armenische Rebellionen Komplikationen. Letztere sorgten dafür, dass sogar die Linien des Nachschubs unterbrochen wurden. Die Front, die sich über eine Länge von 600 km erstreckte, musste mit lediglich 50.000 Mann und über 100 Artilleriegeschützen verteidigt werden; ein schier unmögliches Unterfangen. Noch während der russischen Offensive ordnete der osmanische Befehlshaber die Deportation der in den südlichen Provinzen von Syrien und Mosul lebenden Armenier an. Die Russen, in ihre Ausgangslage zurückkehrend, starteten wiederholt eine Offensive. Doch dieses Mal unterschätzten sie die Zahl der osmanischen Truppen und verloren die Schlacht bei Malazgirt.26 Großfürst Nikolai ersetzte Illarion Woronzow-Daschkow als Kommandeur aller russischen Streitkräfte im Kaukasus. An der Front geschah bis Ende 1916 wenig Aufsehenerregendes. Die Osmanen konnten ihre Verluste keinesfalls ausgleichen. Das osmanische Oberkommando entschied aufgrund der Situation an den Fronten, dass diese Gegend nicht die Wichtigste war. Die Anzahl der für das Osmanische Reich kämpfenden Soldaten war groß, jedoch fehlte es an der Kampfkraft. Viele Angehörige des Heeres waren mäßig ausgerüstet oder unterernährt. Die Osmanen spekulierten mit weiteren russischen Offensivaktionen, doch diese wurden vom Feind nicht vorgenommen. 4. 1916 Das neue Jahr war erst wenige Tage alt, als die Armee um General Judenitsch still und leise das winterliche Quartier verließ und gegen die anatolische Stadt Erzurum marschierte. Der Winter ist ähnlich wie in Russland auch hier hart und eine unpassende Zeit, militärische Operationen durchzuführen. Die Osmanen hatten bereits im ersten Kriegsjahr aufgrund der denkbar ungünstigen Wetterverhältnisse viele Soldaten verloren. Die Gelegenheit war günstig, und so überrumpelten die Russen die feindlichen Einheiten relativ schnell.
25 E. Hinterhoff, Persia. The Stepping Stone to India, in: Marshall Cavendish Illustrated Encyclopedia of World War I, vol. 4, 1984, S. 1153 – 1157. 26 W. Bihl, Der Erste Weltkrieg 1914 – 1918, Chronik – Daten – Fakten, 2010, S. 119.
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Auch wenn die russischen Streitkräfte zahlenmäßig keinesfalls sonderlich überlegen waren, brachen sie Verteidigungsringe um Erzurum auf und konnten folglich die Stadt einnehmen. Die Osmanen zogen sich aus der Stadt zurück. In der Folge konnten die zaristischen Truppen eine weitere Stadt besetzen. Im April 1916 zogen die Russen nach Norden und nahmen Trabzon ein. Ein anderer Truppenteil zog in den Süden und besiegte die 2. Osmanische Armee. Die Verteidigungslinie von Bitlis war die letzte ihrer Art, die das Zarenreich daran hindern sollte, in die Mitte Anatoliens und nach Mesopotamien zu ziehen. Die Osmanen starteten eine Gegenoffensive, die jedoch ohne Erfolg blieb. Im Sommer konnten die Osmanen wieder einen Achtungserfolg für sich verbuchen. Zwei Städte, darunter eben auch Bitlis, konnten zurückerobert werden. Die Gefechte rund um den Van-See dauerten den ganzen Sommer lang, doch sie endeten ohne zählbares Resultat. In der Zwischenzeit entschied sich der Befehlshaber der 2. Armee für einen Angriff nach Ende der russischen Offensive. Die Osmanen kämpften gegen die russische Armee und armenische Freiwillige. Nach anfänglichen Errungenschaften wendete sich das Blatt; die Russen nutzten abermals die Nachschubsorgen der Osmanen aus und drängten sie aus den verlorengegangenen Städten. Im Herbst gingen die Angriffe der Osmanen zu Ende. Die 2. Armee hatte 30.000 Tote und Verletzte zu beklagen, während die Russen ihre Front verstärken und auch halten konnten. Die zaristische Armee verhielt sich ruhig, und an eine kriegerische Auseinandersetzung war aufgrund des sehr harten Winters nicht zu denken, auch wenn die Osmanen ihre Truppen reorganisierten. 5. 1917 Die Absichten, neue Offensiven in die Wege zu leiten, erfüllten sich für das Zarenland Russland aufgrund politischer und sozialer Krisen nicht. Mehr noch: Innerhalb der Armee gab es sehr große Unruhen, sodass es im Riesenreich in Osteuropa zur Februarrevolution27 kam. Viele Angehörige der Armee wollten nicht mehr für den Zaren kämpfen und begingen Fahnenflucht. Alles in allem waren sowohl das russische Volk als auch die Soldaten kampfesmüde; sie wollten nicht mehr am kriegerischen Geschehen teilnehmen. Selbst wenn 100.000 Soldaten die Front im Kaukasus verließen, waren noch 250.000 Russen im Kampf gegen die Osmanen im Einsatz.28 Zudem hatte die Kaukasusarmee mit vielen Krankheiten zu kämpfen. Auf diese Weise fand man die Gründe für die Typhusepidemie in der schlechten Ernährung und der mangelnden Hygiene.29
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E. N. Burdzhalov/D. J. Raleigh, Russia’s Second Revolution: The February 1917 Uprising in Petrograd, 1987. 28 F. C¸akmak, Büyük Harpte Sark Cephesi Hareketleri: Sark Vilayetlerimizde, Kafkasya’da ve Iran’da 1935 de Akademide Verilen Konferanslar, 1936, S. 260. 29 V. Serge, Year One of The Russian Revolution, 1972, S. 193.
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Ohne die Februarrevolution im Zarenreich hätte es wohl auch keine Offensive seitens der Osmanen gegeben. Sie war schlicht und einfach unrealistisch. Schon die Schlacht von Sarıkamıs¸ und die Zeit danach stellten die feindlichen Truppen vor immense Probleme, diesen Landstrich zu verteidigen. Die Februarrevolution war zweifelsohne ein Knackpunkt für die Russen, aber auch kein Vorteil für die Osmanen. Letztere zogen mehrere Divisionen vom Kriegsgeschehen ab und verlegten die Front nach Palästina und nach Mesopotamien, in den heutigen Irak. Im März 1917 proklamierte der Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten u. a. die Demokratisierung der Armee. Dadurch konnten die Angehörigen der Armee selbst ihre Vertreter wählen. Der russische Großfürst wurde kurze Zeit danach durch das „Besondere Transkaukasische Komitee“30 ersetzt. Die neue, vorübergehende Staatsbehörde hatte die Absicht, General Judentisch nach Asien zu versetzen. Jedoch kam er durch seinen Rücktritt von seinen militärischen Ämtern dieser Maßnahme zuvor. Später war es die „Westarmenische Administration“, die eine Sitzung einberief. Diese hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Maßnahmen zu ergreifen, wie etwa bis Ende des Jahres eine 20.000 Mann starke Miliz ins Leben zu rufen, die aus Regimentern aus Erzincan, Erzurum, Hınıs, Eles¸kirt, Van und Zeyton bestand. Im Spätsommer 1917 stand das russische Aufgebot kurz vor dem Ende, sogar vor der kompletten Auflösung. Grund hierfür war, dass die Struktur innerhalb des Kommandos verloren ging und auch Plünderungen auf der Tagesordnung standen. Der General der Kaukasusfront hatte die schwere Aufgabe, armenische und georgische Truppeneinheiten innerhalb der russischen Armee zu integrieren. Als Hauptgrund für diese Vorgehensweise wurde das Verhindern der Desintegration angeführt. Während der Oktoberrevolution stand die 3. Osmanische Armee auf einer fast 200 km langen Linie vom Munzur-Gebirge bis zum Schwarzen Meer. Das Aufgebot betrug etwa 30.000 Mann; dem gegenüber standen fast 90.000 russische Kämpfer, die ihre Stellungen in Trabzon und Erzurum aufstockten. Trotz der soziopolitischen Vorfälle innerhalb Russlands konnte man die kriegerische Sachlage als stabil bewerten.31 Als die Bolschewiki die Macht und die Kontrolle über Russland übernahmen, kam es in Tiflis zur Gründung des „Transkaukasischen Kommissariats“.32 Nikolos Tschcheidse33 stand dem Sejm als Vorsitzender vor. Trotzdem konnte man nicht verhindern, dass sich die militärische Obrigkeit in kleinere nationale Splittergruppen spaltete. Die Armenier gehörten dieser Föderation nicht an und wollten mithilfe der Russen eine eigene Armee, die aus acht Regimentern bestand, aufbauen.34 So waren 32.000 Mann im Einsatz. Ferner kamen noch 40.000 bis 50.000 Zivilisten 30
M. Kriegenherdt, Reise Know-How Reiseführer Georgien, 2017, S. 437. S. Yerasimos, Kurtulus Savası’nda Türk-Sovyet iliskileri 1917 – 1923, 2000, S. 11. 32 E. Reiter, Die Sezessionskonflikte in Georgien, 2009, S. 105. 33 M. Kriegenherdt (Anm. 30), Reiseführer, S. 93. 34 W. E. Allen/P. Muratoff (Anm. 22), Battlefields, S. 458. 31
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unter Waffen dazu. In Baku überließen die Russen den Armeniern jede Menge Kanonen, Munition und Maschinengewehre.35 Gegen Ende des Jahres kam es zur Unterzeichnung des Waffenstillstandes von Erzincan.36 Dieser wurde sowohl von den Russen als auch von den Osmanen unterzeichnet. Der Konflikt hatte auf beiden Seiten ein Ende gefunden.37 Die Armenier bewegten sich bis Februar 1918 zum Erstaunen der zurückziehenden Russen an die Front. Da sie auch die Stellungen annahmen und die russische Ausrüstung übernahmen, gab es in dieser Gegend keine effektive Militärmacht Russlands mehr. Die Kosaken, die Armenier und die Georgier leisteten nun Widerstand gegen die Osmanen. Auch wenn sich Russland und das Osmanische Reich geeinigt hatten, verfolgten die drei Volksgruppen die Strategie, weiter gegen die Osmanen in den Krieg zu ziehen.38 Die Briten indessen unterstützten die Kampfhandlungen der Armenier, die nach dem Rückzug der russischen Einheiten deren Stellungen hielten, finanziell.39 6. 1918 Im letzten Kriegsjahr versuchten die Osmanen mit den neuen Machthabern in Russland eine Einigung zu erzielen, zumal nach dem russischen Rückzug die südlichen Landesteile de facto ungeschützt waren. Im Januar wurden wichtige Stellungen zwischen Jerewan nach Van und Erzincan besetzt. Ozanian übernahm den Befehl über die armenischen Streitkräfte im osmanischen Gebiet, obgleich diese Einheiten lediglich aus fast 200 Offizieren und einigen Tausend Freiwilligen bestanden. Im Laufe der Zeit wurden viele Städte seitens der Osmanen zurückerobert. Auch wurden die Armenier durch die gegnerische Offensive besiegt. Von Bedeutung war der von Großwesir Talât Pascha40 mit Sowjetrussland unterzeichnete Friedensvertrag von Brest-Litowsk, der die russische Abtretung der Gebiete von Batumi, Ardahan und Kars an die Osmanen zum Inhalt hatte. Zudem vereinbarte man im Stillen, dass Russland die Aufgabe übernehmen sollte, die nationalen armenischen Streitkräfte zu entwaffnen. Im Frühjahr 1918 gingen in Trabzon Friedensverhandlungen über die Bühne, bei denen seitens der Osmanen ein Ende der 35
A. Chalabian, General Andranik and the Armenian Revolutionary Movement, 1988, S. 318. 36 T. Hoffmann/T. Savvidis, Annäherung an Armenien: Geschichte und Gegenwart, 2006, S. 119. 37 T. Swietochowski, Russian Azerbaijan 1905 – 1920: The Shaping of a National Identity in a Muslim Community, 2004, S. 119. 38 B. Gökay, A Clash of Empires: Turkey between Russian Bolshevism and British Imperialism, 1918 – 1923, 1997, S. 12. 39 K. T. C¸aglayan, British Policy Towards Transcaucasia 1917 – 1921, 2004, S. 52. 40 H.-J. Kornrumpf, Talât Pascha, Mehmed, in: M. Bernrath/K. Nehring (Hrsg.), G. Bartl (Red.), Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas, Bd. 4, 1981, S. 268 f.
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Ambitionen im Kaukasus angekündigt wurde, sobald der Sejm in Moskau das am 3. März 1918 abgeschlossene Abkommen von Brest-Litowsk akzeptieren würde.41 Dieses wurde von Russland als Basis für weitere Gespräche anerkannt. Folglich war es der Vorsitzende der Sejm-Abordnung, der die Regierung in Tiflis aufforderte, seinem Beispiel Folge zu leisten.42 Die dortige Regierung jedoch stand im Krieg mit den Osmanen.43 Im Mai wurde in Batumi eine neue Konferenz abgehalten.44 Die Osmanen forderten mehr und wollten u. a. den Landstrich von Tiflis annektieren und mit einer Bahntrasse Kars mit Baku verbinden. Sowohl die georgischen als auch die US-amerikanischen Delegierten zogen sich zurück. Die Osmanen kämpften gegen die Armenier, die eine Eroberung Jerewans abwenden konnten. Weitere Verhandlungen blieben ohne Erfolg. Nachdem die Georgier den Austritt aus der Föderation erklärten, gründeten sie wenige Tage später die Demokratische Republik Georgien,45 die vom Deutschen Reich gefördert wurde. Auch die Aserbaidschaner und Armenier folgten dem georgischen Beispiel. Die Demokratische Republik Armenien unterzeichnete den Vertrag von Batumi mit den Osmanen. In anderen Gebieten wuchs über den Sommer hinweg erfolgreich der Widerstand gegen die 3. Osmanische Armee.46 Man kann sich ausmalen, wie sich die Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und dem Osmanischen Reich verschlechterten, als deutsche Truppen in Georgien eintrafen. Die Deutschen wollten das Gebiet, explizit die Ölfelder von Baku,47 kontrollieren. Die Osmanen triumphierten über eine deutsch-georgische Armee. Berlin reagierte erbost und drohte mit der Kappung sämtlicher Hilfe und dem Rückzug deutscher Truppen aus dem Osmanischen Reich. Die osmanische Regierung stoppte den Feldzug Richtung Georgien und wandte sich kurzweilig dem Iran und Aserbaidschan zu.48 Die wilhelminischen Einheiten verließen Georgien und nahmen eine georgische Abordnung nach Berlin mit. Da aber das Deutsche Reich im November 1918 den Krieg verlor, kam es zu keiner Vertragsunterzeichnung. Der Anführer des Osmanischen Reiches wollte keinesfalls nur die verlorengegangenen osmanischen Territorien zurückerobern, sondern stellte auch Expansionspläne 41
S. Shaw/E. K. Shaw (Anm.19), History, S. 326. R. Hovannisian, The Armenian people from Ancient to Modern times, vol. 2, 1997, S. 292. 43 Ebenda. 44 S. Shaw/E. K. Shaw (Anm. 19), History, S. 326. 45 https://de.wikipedia.org/wiki/Demokratische_Republik_Armenien. 46 M. Malkasian, Gha-ra-bagh! The Emergence of the National Democratic Movement in Armenia, 1996, S. 22. 47 B. C. Busch, Mudros to Lausanne: Britain’s Frontier in West Asia, 1918 – 1923, 1976, S. 22. 48 E. J. Erickson, Ordered to Die: A History of the Ottoman Army in the First World War (Contributions in Military Studies), 2001, S. 187. 42
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in Richtung Zentralasien und Kaspisches Meer auf. Eine dafür eigens ins Leben gerufene Armee, nicht einmal größer als 14.000 bis 25.000 Mann, hatte sich das Ziel gesetzt, Baku zu erobern. Auf diese Weise wurden die britischen Streitkräfte besiegt, obgleich der deutsche Widerstand, welcher Südrussland als seine berechtigte Kriegsbeute sah, groß war. Die Auseinandersetzung der Osmanen und Armenier ging indes weiter, doch die Waffenruhe von Moudros zwang das osmanische Aufgebot zur Kapitulation und zur armenischen Besetzung von Bergkarabach. So fand der Konflikt an der Kaukasusfront ein Ende. Trotz der Niederlagen in Palästina, Mesopotamien, dem Sinai und in Persien gelang es indessen den Osmanen, die Landstriche im Osten Anatoliens wieder für sich zu gewinnen. IV. Folgen Das Ende des Krieges brachte eine starke Veränderung des status quo im Gebiet mit sich. Durch die Oktoberrevolution in Russland und die Niederlage des Osmanischen Reiches verschwanden zwei Großreiche von der Landkarte. Es entstanden neue Staaten, deren Lebensdauer aber nur von kurzer Dauer war. Die Osmanen mussten die teils harten Bedingungen des Friedensvertrages von Sèvres vom 10. August 1920 unterschreiben. Dieser hatte u. a. die Entmachtung des Sultans und die Begrenzung des Landes auf Anatolien festgelegt. Auch wenn der Erste Weltkrieg zu Ende ging, folgten noch ein Gefecht zwischen Georgien und Armenien und eine weitere Konfrontation zwischen Armenien und Aserbaidschan. Auf der anderen Seite wurde der türkische Unabhängigkeitskrieg49 angefacht, der dann 1923 die Gründung der türkischen Republik mit sich führte. Im Türkisch-Armenischen Krieg50 vom 24. September bis zum 2. Dezember 1920 wurden, bedingt durch den Vertrag von Alexandropol51 vom 18. November 1920, große Teile Ostanatoliens zurückerobert. Noch im Jahr 1920 wurde die Herrschaft Aserbaidschans in Kenntnis gesetzt, dass die Rote Armee die Grenzlinie im Norden des Landes überschritten habe. Dies geschah, weil im Westen Armenien ein großes Gebiet besetzte. Im Osten revoltierten aserbaidschanische Kommunisten. Die Regierung resignierte, ehe Moskau die Kontrolle wiederherstellte. Auch Armenien kapitulierte vor der Sowjetunion. Nach der Ausrufung der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik und der Armenischen Sozialistischen Sowjetrepublik wurde im Februar des Folgejahres Georgien von den kommunistischen Einheiten besetzt. Auf diese Weise ist es nicht falsch zu behaupten, dass sich die Sowjetisierung des Kaukasusgebiets als immediate Folge des Ersten Weltkrieges durchgesetzt hatte.
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G. Seufert/C. Kubaseck, Die Türkei: Politik, Geschichte, Kultur, 2006, S. 81. O. Janz, 14 – Der große Krieg, 2013, S. 343. 51 J. Glasneck/P. Priskil, Kemal Atatürk und die moderne Türkei, 2010, S. 118. 50
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V. Zusammenfassung Im November des ersten Kriegsjahres eröffneten zaristische Truppen die Offensive im Kaukasus. Im Winter 1914/15 wollten die Osmanen zurückschlagen. Doch der Versuch schlug fehl; er mündete in einer schweren Niederlage in der Schlacht von Sarıkamıs¸. In Ostanatolien verloren die Osmanen viele Gebiete. Nach den anfänglichen Erfolgen der Russen ging der Vorstoß aufgrund der Februarrevolution zu Ende. Mit Aserbaidschan, Armenien und dem Vereinigten Königreich traten neue Parteien in das Kriegsgeschehen am Kaukasus ein. Dass der Völkermord an den Armeniern nicht erwähnt wurde, ist sicher ein Manko. Aber angesichts der Sonderstellung und der politischen Brisanz dieser Thematik wäre es am besten, diesen Genozid in einem eigenen Aufsatz zu behandeln. Ein eigenes Unterkapitel im Rahmen der vorliegenden Abhandlung würde den Umfang um ein Vielfaches sprengen. * Abstract Andreas Raffeiner: The Caucasus Front, a Forgotten Theatre of War in the First World War (Die Kaukasus-Front, ein vergessener Kriegsschauplatz im Ersten Weltkrieg), in: World War I and its Consequences for the Coexistence of Peoples in Central and Eastern Central Europe, vol. 3 (Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittelund Ostmitteleuropa, Bd. 3), ed. by Gilbert H. Gornig and Adrianna A. Michel (Berlin 2019), pp. 49 – 60. In November of the first year of the war, Tsarist troops opened the offensive in the Caucasus. In the winter of 1914/15, the Ottomans wanted to fight back. But the attempt failed; he ended in a serious defeat at the Battle of Sarıkamıs¸. In eastern Anatolia, the Ottomans lost many areas. After the initial successes of the Russians, the advance due to the February Revolution came to an end. With Azerbaijan, Armenia and the United Kingdom, new parties entered the war in the Caucasus.
Der Beginn der Palästinafrage und des Nahostkonflikts Von Gilbert H. Gornig Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Vernichtung des Osmanischen Reiches stellte sich die Frage des Schicksals der südlich von Kleinasien liegenden Gebiete, die einst zum Osmanischen Reich gehörten. Insbesondere war das künftige Schicksal des Gebietes Palästina ungewiss. Palästina liegt an der südöstlichen Küste des Mittelmeers und bezeichnet in der Regel die Gebiete des heutigen Staates Israel, des Westjordanlandes und des Gazastreifens. I. Name Der griechische Historiker Herodot1 verwendete die Bezeichnung „Syria palaistine¯“ für den ganzen Küstenstreifen zwischen Phönizien2 (der Levante, das heißt vor allem Libanon) und der Gegend von Gaza, in der die Stadt Kadytis lag3. Die griechische Namensform „Palaistine¯“ wurde im Lateinischen zu „Palaestina“.4 Eine frühe bedeutende Schriftquelle ist ferner die um 200 v. Chr. in Alexandria entstandene jüdisch-griechische Bibelübersetzung, die Septuaginta. Hier leitet sich der Begriff vom hebräischen Wort „Pleschet“ her, mit dem die hebräische Bibel die Küstenebene südlich von Joppe (dem späteren Jaffa), ein vom Volk der Philister5 bewohntes Gebiet, bezeichnete. In der aramäischen Sprache, der damaligen Ver1 Herodot von Halikarnass(os) (* 490/480 v. Chr.; † um 430/420 v. Chr.) war ein antiker griechischer Geschichtsschreiber, Geograph und Völkerkundler. 2 Unter Phönizien (auch Phönikien) versteht man einen schmalen Landstreifen an der östlichen Mittelmeerküste auf dem Gebiet der heutigen Staaten Syrien, Libanon und Israel; dazu: History of the Phoenician Canaanites, https://phoenicia.org/history.html. 3 Herodot, Historien III, 5; dazu: H. W. Haussig (Hrsg.), A. Horneffer (Übersetzer), Herodot: Historien. Deutsche Gesamtausgabe, 3. Aufl. 1963; Herodot/H.-G. Nesselrath, Historien: Deutsche Gesamtausgabe 2017. 4 Vgl. auch D. Herz/J. Steets, Palästina – Gaza und Westbank, Geschichte, Politik, Kultur, 4. Aufl. 2002, S. 21. 5 Die Philister waren zu Beginn des 12. Jahrhunderts v. Chr. nach Kanaan gekommen, nachdem Ramses III. sie von den Grenzen Ägyptens verjagt hatte. Sie gaben sich mit der kanaanäischen Küste zufrieden, da sie Seefahrer waren. Sie lebten in den Städten Gaza, Askalon, Gath und Ekron. Dazu B. A. Levine, Die Israeliten, 1975, S. 91; C. St. Ehrlich, The Philistines in Transition. A History of the Philistines from ca. 1000 – 730 B.C.E., Studies in the History and Culture of the Ancient Near East, vol. 10, 1996.
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kehrssprache des Vorderen Orients, wurde das Gebiet der Philister Pelischtaim genannt, aus dem dann Palästina wurde. Der Name „Palästina“ geht also nach dieser Ansicht auf die Philister zurück.6 Die Römer organisierten nach dem Bar-Kochba-Aufstand7 (132 bis 135 n. Chr.) diesen östlichen Teil ihres Reiches neu und legten die Provinzen Syria und Judaea zur Provinz Syria Palaestina zusammen. Im Jahr 193/194 n. Chr. wurde diese Provinz wieder geteilt und unter anderem die Provinz Palaestina gebildet. Dieser Name wurde auch in der byzantinischen, arabischen und osmanischen Zeit verwendet.8 In der Spätantike wurden auch einige Gebiete östlich des Jordan geographisch zur Provinz Palästina gerechnet. In verschiedenen historischen Abhandlungen trägt die Region Palästina andere Namen wie Cisjordanien, Kanaan oder Gelobtes Land oder Heiliges Land.9 Die Bezeichnung Cisjordanien bedeutet das Land diesseits des Flusses Jordan, gemeint ist damit das Land vom Jordan westwärts bis zum Mittelmeer. Das größere Transjordanien („Land jenseits des Jordan“), also östlich vom Fluss Jordan war bis 1950 der offizielle Staatsname Jordaniens.10 „Kanaan“ wurde im Altertum hauptsächlich als Bezeichnung der Region zwischen dem Mittelmeer im Westen und dem Jordan sowie dem Toten Meer im Osten verwendet und ab Ende des 2. Jahrtausend v. Chr. auch auf das Gebiet Palästina ausgeweitet. Der Name Kanaan erschien in ägyptischen Hieroglyphen auf der Merenptah-Stele im 13. Jahrhundert v. Chr. Der Gebrauch des Namens Kanaan ist noch unter Seleukos I.11 belegt. Auch in der Bibel heißt das Land Kanaan. Die römische Besatzung ersetzte „Kanaan“ durch die Bezeichnung Syria.12
6 R. Geyer/E. von Vietsch, Israel. Geschichte, in: Die Große Enzyklopädie der Erde. Alles über Staaten, Völker, Kulturen von den ersten Spuren der Geschichte bis zur Gegenwart, Bd. 6: Vorderasien, 1972, S. 253. 7 Es handelt sich hierbei um den jüdischen Aufstand gegen das Römische Reich von 132 bis 135 n. Chr. unter der Führung von Simon bar Kochba. 8 https://de.wikipedia.org/wiki/Philister#Schriftquellen (alle Internetquellen wurden zum letzten Mal am 10. 3. 2019 aufgerufen und kontrolliert). 9 https://de.wikipedia.org/wiki/Pal%C3 %A4stina_(Region). 10 https://de.wikipedia.org/wiki/Pal%C3 %A4stina_(Region). Herkunft und Gebrauch des Landesnamens. 11 Seleukos I. (* um 358 v. Chr.; † 281 v. Chr.) war ein makedonischer Feldherr unter Alexander dem Großen und später König des von ihm selbst gegründeten Seleukidenreiches. Er gehörte zu den Diadochen. Darunter sind die Feldherren Alexanders des Großen und deren Söhne (auch als Epigonen bezeichnet) zu verstehen, die nach Alexanders Tod 323 v. Chr. das Reich des Alexander unter sich aufteilten und sich mit wechselnden Bündnissen in insgesamt sechs Diadochenkriegen bekämpften. Vgl. dazu H. Bengtson, Die Diadochen. Die Nachfolger Alexanders (323 – 281 v. Chr.), 1987. 12 https://de.wikipedia.org/wiki/Kanaan.
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Palästina ist für das Judentum, für alle christlichen Konfessionen und für den Islam das Heilige Land.13 Für die christlichen Konfessionen sind drei Stätten allen gemeinsam heilig: die Basilika der Geburt in Bethlehem, das Grab der Mutter Jesu, Maria, in Jerusalem am Ölberg und die Basilika des Heiligen Grabes in der Altstadt Jerusalems. Heute umfasst die Bezeichnung Palästina üblicherweise das Gebiet zwischen dem östlichen Mittelmeer und der Grabenbruchzone von Jordan und Totem Meer – also das Staatsgebiet Israels sowie die seit 1967 von Israel besetzten Palästinensergebiete (Westjordanland einschließlich Ostjerusalem sowie den Gazastreifen). II. Geschichtlicher Hintergrund des israelisch-palästinensischen Konflikts Die Ursachen des israelisch-palästinensischen Konflikts sind zahlreich. Die völkerrechtliche Auseinandersetzung um die Zugehörigkeit des Gebietes Palästina wird auch mit historischen Verweisen geführt. Es ist daher sinnvoll in gebotener Kürze das Schicksal des Gebietes in der Geschichte darzulegen, um damit den Grundstein für ein Verständnis der – völkerrechtlich in der Regel irrelevanten – Argumente derjenigen zu legen, die auf das Gebiet Anspruch erheben. Die schriftliche Hauptquelle für die Geschichte Palästinas stellt die hebräische Bibel dar, die in ihren wesentlichen Teilen wohl in Babylonien im 6. Jahrhundert v. Chr. während des Babylonischen Exils entstand.14 Die Ereignisse in jenen Zeiten stehen ganz im Zeichen des Wirkens eines Gottes. Geschichte und Glauben sind eng verflochten. Archäologische Entdeckungen und andere antike Schriften bestätigen aber viele Ereignisse, von denen im Alten Testament die Rede ist.15 13
Das Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und Jordanien 1949 (Text: http://ava lon.law.yale.edu/20th_century/arm03.asp) enthält in Art. VIII Abs. 2 eine Regelung über den freien Zugang zu den heiligen Stätten („free access to the Holy Places and cultural institutions and use of the cemetery on the Mount of Olives“). Nach der Besetzung des Ostteils von Palästina gewährte Israel in einem Gesetz aus dem Jahre 1967 die Freiheit des Zugangs zu den heiligen Stätten für die Angehörigen der verschiedenen Religionen. In den Jahren 1949 bis 1967 hingegen, als die Heiligen Stätten unter der Kontrolle Jordaniens waren, war allen Israelis der Zugang nach Ostjerusalem, einschließlich der Altstadt, untersagt; vgl. M. Gilbert, Jerusalem in the Twentieth Century, 1996, S. 254. Vgl. auch: Israel Lexikon – Leben in Israel (Folge 2): Religionsfreiheit in Israel – Eine grundlegende Garantie, https://haolam.de/artikel_ 4011.html. 14 Die Bibel der Juden ist der dreiteilige Tanach, der sich aus der Tora (Weisung), dem Nevi’im (Propheten) und Ketuvim (Schriften) zusammensetzt. Diese Schriften entstanden seit etwa 1200 v. Chr. in der Levante (Länder des östlichen Mittelmeerraums) und im Vorderen Orient und wurden bis 135 n. Chr. kanonisiert (unter „Kanon“ versteht man eine festgelegte Liste der Bücher). Das Christentum übernahm alle Bücher des Tanachs, ordnete sie anders an und stellte sie als Altes Testament dem Neuen Testament voran. Beide Teile wurden bis zum 3. Jahrhundert für kanonisch erklärt. 15 Vgl. etwa das Buch von: W. Keller, Und die Bibel hat doch recht. Forscher beweisen die historische Wahrheit, 1964.
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1. Ägyptische und persische Vormacht Seit der frühen Bronzezeit (rund 3200 bis 2200 v. Chr.16) sind im Gebiet des heutigen Palästina zahlreiche Stadtstaaten nachgewiesen, die unter ägyptischem Einfluss standen. In der mittleren Bronzezeit (2000 bis 1550 v. Chr.) stand das Land ebenfalls unter ägyptischem Einfluss. Um 1550 v. Chr. war Palästina ägyptische Provinz geworden. Im 2. Jahrtausend vor Chr. bildeten die Amoriter in Palästina kleine Staatswesen.17 Das Gebiet war als Verbindung zu den Gegnern Ägyptens in Kleinasien, wie den Hethitern18, strategisch bedeutsam. Das Ende der Spätbronzezeit (1300 bis 800 v. Chr.) ist gekennzeichnet durch Wanderbewegungen. Ab dem 12. Jahrhundert v. Chr. verlor Ägypten immer mehr an Einfluss in der Region. Die Philister19 bewohnten ab dem 12. Jahrhundert v. Chr. die Küsten des historischen Palästinas. Die Aramäer20 kamen aus der Wüstenregion und siedelten in der nicht durch kanaanäische Stadtstaaten in Anspruch genommenen westjordanischen Region.21 Die Israeliten stammen nach dem 1. Buch Mose von den zwölf Söhnen22 Jakobs23 ab , dessen Vater Isaak, der Sohn des Abraham25, war. Zum Volk wuchsen sie nach 24
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Beginn und Dauer variieren jeweils nach den örtlichen Gegebenheiten. R. Geyer/E. von Vietsch (Anm. 6), Israel, in: Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 6, S. 253. 18 Die Hethiter waren ein Volk des Altertums, das im 2. Jahrtausend v. Chr. in Kleinasien, Syrien und Kanaan (Teile des heutigen Libanon und Israel) politisch und militärisch einflussreich war. Vgl. dazu J. Klinger. Die Hethiter, 2007; M. Gerhards, Die biblischen „Hethiter“, in: Die Welt des Orients, Bd. 39, 2009, S. 145 ff. 19 Dazu oben Anm. 5. 20 Die Aramäer sind eine semitische Völkergruppe, die seit der ausgehenden Bronzezeit in der Levante und in Nordmesopotamien mehrere Reiche gründeten; vgl. G. M. Schwartz, The Origins of the Aramaeans in Syria and Northern Mesopotamia: Research Problems and Potential Strategies, in: O. M. C. Haex/H. H. Curvers/P. M. M. G. Akkermans (Hrsg.), To the Euphrates and Beyond. Archaeological Studies in Honour of Maurits N. van Loon, 1989, S. 282 ff. 21 Jesus sprach Aramäisch, das war die Umgangssprache in Galiläa. Hebräisch war die Sprache in Jerusalem, im Tempel und in der Synagoge. 22 Seine Söhne sind: Sechs von Lea: Ruben, Simeon, Levi, Juda, Isaschar, Sebulon; zwei von Rachel: Joseph und Benjamin; ferner zwei von Bilha: Dan und Naphtali; zwei von Silpa: Gas und Asser. Vgl. V. Maag, Jakob-Esau-Edom, in: Theologische Zeitschrift 13 (1957), S. 418 ff. 23 Der Name Israel bedeutet wörtlich „isra“ Diener und „él“ Gott, damit ist Jakob (1 Mose/ Genesis 32, 29) gemeint, der Stammvater der Israeliten. – „Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen. Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißt du? Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst.“ (1. Mose/Genesis 32, 29, 30). 24 Genau genommen hatte Jakob (oder auch Israel) zwölf Söhne, von denen zehn als Stammväter der zwölf Stämme Israel gelten – die Stammväter der zwei letzten Stämme sind aufgrund der Landlosigkeit des Stammes Levi Kindeskinder Jakobs (1. Mose/Genesis 46, 1 – 26; 49,1 – 27 und Numeri 26,5 – 51). 17
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dem 2. Buch Mose erst in der Sklaverei in Ägypten zusammen. In die Sklaverei seien die Israeliten infolge einer Hungersnot geraten, die Jakobs Söhne und ihre Familien veranlasst habe, in Ägypten Getreidevorräte zu kaufen. Ein späterer Pharao, vermutlich Ramses II.26, habe sie dann dort zur Zwangsarbeit verpflichtet.27 Mose28 und schließlich Josua29 führten schließlich die Israeliten in das Kanaan30 genannte Gebiet: „Dir und deinen Nachkommen nach dir gebe ich das Land, in dem du als Fremder weilst, das ganze Land Kanaan zum ewigen Besitz und ich werde für sie Gott sein“31. Die Israeliten siedelten in größeren und kleineren Gruppen zwischen den Niederlassungen der Nichtisraeliten in verschiedenen Regionen westlich des Jordan, nämlich in – von Norden nach Süden – Galiläa, Ephraim und Juda und östlich des Jordan in Gilead32.33 Sie organisierten sich als ein lockerer Zwölf-Stämmebund um ein Stammesheiligtum. Es waren wohl Hebräer, um die es in der Exodus-Legende, also beim Auszug aus Ägypten, geht. Erst mit dem Eintritt ins „Gelobte Land“ kann man sie Israeliten nennen.34 Addierte man alle Jahresangaben der Bibel rückläufig, so wären die „Kinder Israels“ um 1876 v. Chr. in Ägypten gewesen. Der Auszug unter Moses wäre dann im Jahr 1446 v. Chr. erfolgt und die anschließende Landnahme Kanaans durch die Hebräer hätte im Jahr 1406 v. Chr. begonnen.35 25 In 1 Mose/Genesis 12 heißt es: „Und der Herr sprach zu Abram: ,Geh aus deinem Vaterlande und von deiner Freundschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen (…)‘“. Abrahams Vater soll Abkömmling eines aramäischen Stammes gewesen sein. Er sei einst aus Ur am Euphrat ausgewandert. Es war etwa im 2. Jahrtausend v. Chr. R. Geyer/E. von Vietsch (Anm. 6), Israel, in: Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 6, 1971, S. 253. 26 R. Geyer/E. von Vietsch (Anm. 6), Israel, in: Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 6, S. 254. 27 2. Mose (Exodus) 11 – 14. 28 Moses war wohl Hebräer aus dem Stamme des Levi, des Sohnes von Jakob. R. Geyer/ E. von Vietsch (Anm. 6), Israel, in: Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 6, S. 254. 29 „Nachdem Mose, der Knecht des HERRN, gestorben war, sprach der HERR zu Josua, dem Sohn Nuns, Moses Diener: Mein Knecht Mose ist gestorben; so mach dich nun auf und zieh über den Jordan, du und dies ganze Volk, in das Land, das ich ihnen, den Israeliten, gegeben habe“ (Buch Josua 1,2). 30 Dazu B. A. Levine (Anm. 5), Die Israeliten, S. 78 ff. 31 1 Mose/Genesis 17,8. Vgl. auch 5. Mose (Deuteronomium) 32, 49: „Geh hinauf in das Gebirge Abarim, das du vor dir siehst, steig auf den Berg Nebo, der in Moab gegenüber Jericho liegt, und schau auf das Land Kanaan, das ich den Israeliten als Grundbesitz geben werde“. 32 Gilead ist ein biblisches Land, das östlich des Jordans zwischen dem Fluss Jarmuk im Norden an der Grenze zu Damaskus und dem Fluss Nahr ez-Zarqa (Jabbok) im Süden an der Grenze zu Ammon liegt. https://de.wikipedia.org/wiki/Gilead. 33 B. A. Levine (Anm. 5), Die Israeliten, S. 81. 34 Die Mythen der Bibel (IV): Der Auszug aus Ägypten, National Geographic, Heft 8/2008, S. 112; https://www.nationalgeographic.de/geschichte-und-zivilisation/die-my then-der-bibel-iv-der-auszug-aus-aegypten. 35 Nimmt man dagegen an, dass die „Kinder Israels“ die königliche Hauptstadt Pi-Ramesse gebaut haben, wären sie, da Ramses II. von 1279 bis 1213 v. Chr. regierte, noch im späten
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Abb. 1: Die Aufteilung des Landes unter die zwölf Stämme. This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license.
In Zeiten der Gefahr waren die Stämme unter der Leitung charismatischer Führer, der „Richter“36, zu gegenseitiger Hilfe verpflichtet (Buch der Richter).37 Die frühen Angehörigen dieses Volkes werden in der Bibel mit Bezug auf ihre hebräische Spra13. Jahrhundert v. Chr. in Ägypten gewesen, also zwei ganze Jahrhunderte nach der Datierung in der Bibel. So: Die Mythen der Bibel (IV): Der Auszug aus Ägypten, National Geographic, Heft 8/2008, S. 112; https://www.nationalgeographic.de/geschichte-und-zivilisation/diemythen-der-bibel-iv-der-auszug-aus-aegypten. Wieder andere Berechnungen bei R. Geyer/ E. von Vietsch (Anm. 6), Israel, in: Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 6, S. 254. Vgl. ferner M. Wurmbrand/C. Roth, Das Volk der Juden. 4000 Jahre Kampf ums Überleben, 1999, S. 16 ff. 36 Sie waren keine Richter im eigentlichen Sinne; vgl. dazu M. Wurmbrand/C. Roth (Anm. 35), Das Volk der Juden, S. 28 f.; B. A. Levine (Anm. 5), Die Israeliten, S. 79. 37 Das Buch der Richter ist ein Teil des Tanach und somit des Alten Testaments. Dazu R. Geyer/E. von Vietsch (Anm. 6), Israel, in: Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 6, S. 255.
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che auch „Hebräer“ genannt. Später nannten sie sich Israeliten. Die Nachkommen der Israeliten sind die Juden.38 Die ständige Bedrohung durch die Philister39, die die Israeliten als Eindringlinge betrachteten, veranlasste nach Auskunft der Bibel40 die israelitischen Stämme, sich unter einem König zu vereinigen. Der erste in der Bibel erwähnte König war Saul41, der die Grenzen der israelitischen Macht erheblich erweiterte. Er starb im Kampf gegen die Philister, aber von eigener Hand.42 Sein Nachfolger wurde David43, der in Hebron zum König ausgerufen wurde. Von hier aus begann etwa im Jahre 1002 v. Chr. David seine Herrschaft erst über Judäa, dann über alle Stämme Israels auszudehnen. Er besiegte die Philister um 1000 v. Chr.44 Die Stärke Israels und die Schwäche der angrenzenden Reiche ermöglichten es König David nach der Bibel45, einen großen, unabhängigen Staat zu schaffen46, dessen Hauptstadt er nach Jerusalem47 ver38 Anders: Sh. Sand, Die Erfindung des Landes Israel. Mythos und Wahrheit, 3. Aufl. 2016, S. 24 ff., 30. Er bestreitet die Existenz einer jüdischen Volkes. Das exilierte Volk unterscheide sich nicht von seinen Nachbarn: „Nicht von ungefähr ähnelten die jemenitischen Juden so sehr den jemenitischen Muslimen, waren die nordafrikanischen Juden den Berbern derselben Region zum Verwechseln ähnlich, ebenso wie die äthiopischen Juden ihren afrikanischen Nachbarn, die Juden aus Cochin den übrigen Bewohnern dieser Region im Südwesten des indischen Subkontinents, oder die osteuropäischen Juden den türkischen und slawischen Stämmen im Kaukasus und in Südostrussland.“ 39 Dazu R. Geyer/E. von Vietsch (Anm. 6), Israel, in: Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 6, S. 255. 40 Die Philister werden in der Bibel zuerst in 1. Mose/Genesis 10,14 erwähnt. 41 Unter Saul, erfolgt der Übergang von einem losen Zusammenschluss einzelner Stämme Israels zu einem fest gefügten Staat. Er entstammte einer angesehenen Familie aus dem Stamme Benjamin, des jüngsten Jakobsohnes. Vgl. zu ihm: O. Kaiser, Der historische und der biblische König Saul, in: Zeitschrift für die Alttestamentliche Wissenschaft, Bd. 122 (2011), S. 520 – 545 und 123 (2012), S. 1 – 14; S. Kreuzer, Saul, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Bd. 8, 1994, Sp. 1423 – 1429; H. Bezzel, Saul. Israels König in Tradition, Redaktion und früher Rezeption, 2015; W. Dietrich, Die Herrschaft Sauls und der Norden Israels, in: C. G. den Hertog u. a. (Hrsg.), Saxa loquentur. Studien zur Archäologie Palästinas/Israels, 2003, S. 39 ff.; K.-D. Schunck, König Saul – Etappen seines Weges zum Aufbau eines israelitischen Staates, in: Biblische Zeitschrift, N.F. 36 (1992), S. 195 ff.; ferner: M. Wurmbrand/C. Roth (Anm. 35), Das Volk der Juden, S. 30 ff. 42 1 Samuel 31,4 – 6. 43 David war laut 1. und 2. Buch Samuel, dem 1. Buch der Könige und dem 1. Buch der Chronik des Tanach und des Alten Testaments der Bibel König von Juda (1 Samuel 16,1) als Nachfolger Sauls zeitweise auch von Israel (2 Samuel 5,3). Beide Reiche waren in Personalunion miteinander verbunden; vgl. auch A. A. Fischer, David, in: https://www.bibelwissen schaft.de/stichwort/16233/. 44 1 Samuel 18,17 – 28. 45 Dazu mit vielen Nachweisen: A. A. Fischer, David, Kap. 3.1., in: https://www.bibelwis senschaft.de/stichwort/16233/. 46 Vgl. dazu St. A. Nitsche, König David. Sein Leben – seine Zeit – seine Welt, 2002. 47 Bei der Eroberung Jerusalems durch die Israeliten war Jerusalem ein unbedeutendes Dorf mit wenigen hundert jebusitischen Einwohnern und etwa zwei Hektar Ausdehnung. Es lag auf einer Kuppe südlich des heutigen Tempelberges an der Nahtstelle zwischen dem
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legte. Sein Reich umfasste mit dem Ostjordanland auch Teile Syriens mit Damaskus.48 Unter der Herrschaft von Davids Sohn König Salomo im 10. Jahrhundert v. Chr. genoss das Land eine Zeit des Friedens und des Wohlstandes.49 Nach Salomos Tod im Jahr 922 v. Chr. weigerten sich die nördlichen Stämme den Sohn Salomos als neuen König anzuerkennen, so dass das Reich zerfiel. Es entstanden die beiden Teilstaaten Israel und Juda.50 Es galt bei den Israeliten jedenfalls als unumstößlich, dass ihnen Kanaan aufgrund eines göttlichen Versprechens gehörte.51 Nachdem die Großreiche in Ägypten und Mesopotamien wieder erstarkt waren, interessierten sich diese für die zwischen ihnen liegenden Stadt- und Kleinstaaten, die sich in den zurückliegenden Jahrhunderten einer gewissen Unabhängigkeit erfreuten. So griff Assyrien die wohlhabenden Städte Kanaans an und besiegte das Nordreich Israel nach 200 Jahren Blüte 722/721 v. Chr.52 Der assyrische König siedelte in den Städten Menschen aus dem Osten an.53 Die Bevölkerung nannte man von nun an nach der Hauptstadt Samaria Samariter. Nach der Zerstörung des Königreiches Israel durch die Assyrer bemühte sich das vorerst vor Eroberung verschonte Königreich Juda im Süden, legitimer Nachfolger aller israelitischen Stämme zu werden. Juda wurde 586 v. Chr. von den Babyloniern unter König Nebukadnezar II. besiegt. Die Hauptstadt Jerusalem wurde zerstört und die Bevölkerung nach Babylon umgesiedelt (Babylonisches Exil)54. Die Rückkehr der Judäer nach Palästina erfolgte dann nach und nach.
Nordreich Israel und dem Südreichs Juda. Die Jebusiter waren nach dem Zeugnis des Alten Testamentes ein kanaanitischer Stamm. Vgl. R. Geyer/E. von Vietsch (Anm. 6), Israel, in: Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 6, S. 255. 48 Dazu R. Geyer/E. von Vietsch (Anm. 6), Israel, in: Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 6, S. 255. 49 Vgl. 1. Buch der Könige, Kap. 1 – 11, sowie das 2. Buch der Chronik, Kap. 1 – 91; ferner: Kön 3,5 – 15. Schließlich: Matthäus 6,28 – 29, Lukas 12,27. Vgl. I. Finkelstein/N. A. Silberman, David und Salomo. Archäologen entschlüsseln einen Mythos, 2006; B. A. Levine (Anm. 5), Die Israeliten, S. 113 ff. 50 Dazu M. Wurmbrand/C. Roth (Anm. 35), Das Volk der Juden, S. 37 ff., 43 ff.; R. Geyer/ E. von Vietsch (Anm. 6), Israel, in: Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 6, S. 256; B. A. Levine (Anm. 5), Die Israeliten, S. 127 ff.; Sh. Sand (Anm. 38), Die Erfindung Israels, S. 40 f. Zum Staate Judäa vgl. Sh. Sand (Anm. 38), Die Erfindung Israels, S. 114 ff. 51 B. A. Levine (Anm. 5), Die Israeliten, S. 127. 52 B. A. Levine (Anm. 5), Die Israeliten, S. 136 f. 53 Könige 17,24 – 41, 24: „Und der König von Assyrien brachte Leute aus Babel und aus Kutha und aus Awa und aus Hamath und aus Sepharwaim und ließ sie an Stelle der Kinder Israel in den Städten Samarias wohnen; und sie nahmen Samaria in Besitz und wohnten in seinen Städten.“ 54 Nach dem Buch Jeremia mussten bis zum Jahre 582 bei drei Ausweisungsaktionen insgesamt 4600 Menschen ihre Heimat verlassen (Jeremiah 52, 28 – 30). Vgl. M. Wurmbrand/ C. Roth (Anm. 35), Das Volk der Juden, S. 52 ff.
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Abb. 2: Oldtidens_Israel_&_Judea.svg.http://www.jewishvirtuallibrary.org/ map-of-israel-and-judah-733-bce. Oldtidens_Israel_&_Judea.svg: FinnWikiNo. File: Oldtidens_Israel_&_Judea.svg licensed with Cc-by-sa-3.0, GFDL.
Nach einer Eroberung durch die Perser wurde Juda, zusammen mit dem israelitischen Samaria bis etwa 445 v. Chr., eine persische Provinz und es regierte ein persischer Statthalter.55 2. Hellenistische Herrschaft Im Jahr 332 v. Chr. eroberte Alexander der Große die Region des heutigen Palästina und vertrieb die Perser. Nach seinem Tod (323 v. Chr.) wurde das Land Schau-
55 Dazu R. Geyer/E. von Vietsch (Anm. 6), Israel, in: Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 6, S. 256.
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platz von Auseinandersetzungen der Diadochenkriege56. Im Jahr 301 fiel das Land an Ptolemaios I.57 von Ägypten und blieb bis 200 v. Chr. unter der Herrschaft der makedonisch-griechischen Dynastie der Ptolemäer.58 Die Seleukiden, eine andere makedonische Dynastie, erhoben ebenfalls Ansprüche. Der südliche Teil Syriens mit der heutigen Hauptstadt Damaskus kam 200 v. Chr. zum Seleukidenreich59. Als Koilesyrien60 wurde dieses Gebiet meist mit Phönizien und Palästina zu einer politischen Einheit zusammengefasst. Die Juden wehrten sich jedoch unter der Führung der Makka bäer61 aus dem Geschlecht der Hasmonäer gegen die Herrschaft der Seleukiden und errichteten zwischen 141 und 63 v. Chr. einen unabhängigen jüdischen Staat. Es heißt in 1 Makkabäer 15,3362 : „Wir haben kein fremdes Land besetzt und uns nichts an56 Mit Diadochenkriege bezeichnet man die kriegerischen Auseinandersetzungen der Nachfolger (Diadochen) Alexanders des Großen. Vgl. auch oben Anm. 11. Vgl. zu den Diadochenkriegen: http://www.manfred-hiebl.de/mittelalter-genealogie/_hellenismus/d/diado chenkriege.html. 57 Nach der Schlacht bei Ipsos 301 v. Chr. (dazu R. A. Billows, The Campaign of Ipsos [302 – 301 B.C.], in: Antigonos the One-Eyed and the Creation of the Hellenistic State, 1997, S. 175 ff.) konnte Ptolemaios I. Süd-Syrien und Palästina seinem Reich eingliedern; http:// www.manfred-hiebl.de/mittelalter-genealogie/_hellenismus/p/ptolemaios_1_soter_koenig_282/ ptolemaios_1_soter_koenig_282.html. Dazu ferner G. Wirth, Ptolemaios I., in: Paulys Realency clopädie der classischen Altertumswissenschaft, Band XXIII, 2, 1959, Sp. 2467 – 2484; J. Seibert, Untersuchungen zur Geschichte Ptolemaios’ I., 1969; http://www.manfred-hiebl.de/mit telalter-genealogie/_hellenismus/p/ptolemaios_1_soter_koenig_282/ptolemaios_1_soter_ko enig_282.html. 58 Dazu: St. Pfeiffer, Die Ptolemäer. Im Reich der Kleopatra, 2017; M. Frenschkowski, Ptolemäer, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL), Bd. 7, 1994, Sp. 1019 – 1024. 59 Das Seleukidenreich gehörte zu den Diadochenstaaten. Das Reich umfasste die Gebiete von Kleinasien, Palästina, Mesopotamien, Babylonien, Medien, Persien und Baktrien. Dazu vgl.: J. Wolski, The Seleucids. The Decline and Fall of their Empire, 1999; http://www.man fred-hiebl.de/mittelalter-genealogie/_hellenismus/s/seleukiden.html.; https://de.wikipedia.org/ wiki/Seleukidenreich. 60 Seit der Diadochenzeit wurde der Name Koilesyrien (der griechische Name bedeutet „hohles Syrien“) auf das gesamte südliche Syrien zum Teil unter Einbeziehung von Palästina und Phönizien, ausgedehnt, G. Beer, Koile Syria, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Bd. XI, 1, 1921, Sp. 1050 – 1052; https://de.wikipedia.org/wiki/Koilesy rien. 61 Makkabäer sind die Nachkommen des Judas Makkabi, aus dem Geschlecht der Hasmonäer, der in der Nachfolge seines Vaters Mattathias die Herrschaft der Seleukiden über das jüdische Volk zu brechen suchte (Makkabäer-Aufstand). Vgl. ferner: B. Bar-Kochva, Judas Maccabaeus. The Jewish Struggle against the Seleucids, 1989; R. Geyer/E. von Vietsch (Anm. 6), Israel, in: Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 6, S. 257; Th. Fischer, Seleukiden und Makkabäer. Beiträge zur Seleukidengeschichte und zu den politischen Ereignissen in Judäa während der 1. Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr., 1980; https://de.wikipedia.org/wiki/ Makkab%C3 %A4er. 62 Das 1. Buch der Makkabäer erzählt die Geschichte der Unabhängigkeitskämpfe der Juden gegen die Seleukiden (175 bis 140 v. Chr.). Das Buch ist deuterokanonisch. Darunter versteht man Schriften des Alten Testaments, die von der katholischen Kirche, teilweise von der orthodoxen Kirche sowie den altorientalischen Kirchen als Bestandteil der Bibel angesehen
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geeignet, was uns nicht gehörte, sondern wir haben nur das Erbe unserer Väter zurückgeholt, das unsere Feinde zu Unrecht vorübergehend an sich gerissen hatten“. Der Hasmonäerherrscher nahm um 104 v. Chr. auch den Königstitel an. Gegen Ende der Herrschaft der Seleukiden im Jahre 63 v. Chr. beschränkte sich deren Reichsgebiet nur noch auf Syrien. Während der hellenistischen Herrschaft veränderte sich die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung in Palästina. Bis zur Eroberung des Landes lebten in der Region Judäer und Samariter im Landesinneren, Phönizier63 in der nördlichen Küstenebene und Edomiter64 und Nabatäer65 in ihren angestammten Gebieten im Süden. Dazu kamen nun makedonische Griechen, die sich hier ansiedelten.66 3. Römische Herrschaft Im Jahre 63 v. Chr. wurde Palästina als Teil der Provinz Syrien römisch. Der aus der Bibel bekannte Herodes67 war 37 bis 4 v. Chr. König eines weite Teile Palästinas umfassenden Reiches. Zur Sicherung seines eigenen Königtums, in das ihn der Römische Senat 40 v. Chr. eingesetzt hatte, ließ er den letzten Hasmonäerfürsten werden, aber vom Judentum und von den Kirchen der Reformation für apokryph gehalten werden. 63 Ethnologisch handelt es sich bei den Phöniziern wahrscheinlich um Kanaanäer oder Aramäer. Sie besiedelten die Levante. Die Phönizier waren in Stadtstaaten organisiert und bildeten kein einheitliches Reich. Sie standen lange unter dem Einfluss von Großreichen wie Ägypten, Assyrien, Babylonien und dem Perserreich. Das als Phönizien bezeichnete Gebiet erstreckt sich entlang der östlichen Mittelmeerküste. Dazu gehört das Hinterland mit dem Karmel-Gebirge als natürliche Grenze; W. Röllig, Phönizier, Phönizien, in: O. Edzard/M. P. Streck (Hrsg.), Reallexikon der Assyriologie, Bd. 10, 2005, S. 526 ff.; ders., Phönizier und Griechen im Mittelmeerraum, in: H. Breuninger/R. P. Sieferle (Hrsg.), Markt und Macht in der Geschichte, 1995, S. 45 ff.; ferner: https://de.wikipedia.org/wiki/Ph%C3 %B6nizier. 64 Die Edomiter waren ein Nachbarvolk Israels. Sie wohnten etwa ab dem 13. Jahrhundert v. Chr. in dem Sexr genannten Bergland o¨stlich der Senke zwischen dem Toten Meer und dem Roten Meer. Das Land westlich der Senke wurde von den Edomitern erst spa¨ter besiedelt, sie wanderten etwa erst 587 v. Chr. vom Ostjordanland nach Pala¨stina ein. – In der Bibel wird das Volk der Edomiter auf Jakobs Bruder Esau zuru¨ckgefu¨hrt (1. Mose/Genesis 36,1 – 19). Nach 1. Mose/Genesis 36 wanderte Esau mit seiner Familie in das Bergland Sexr aus (1. Mose/ Genesis 36,31 – 39), weil fu¨r beide Bru¨der nebeneinander nicht genu¨gend Land vorhanden war. Das Verha¨ltnis zwischen den Bru¨dern Jakob und Esau war von Anfang an spannungsgeladen – die Zwillinge sollen bereits im Mutterleib miteinander geka¨mpft haben (1. Mose/ Genesis 25,22 – 23), auch das Verha¨ltnis der Vo¨lker Israel und Edom war von Konflikten bestimmt. Vgl. https://www.die-bibel.de/lightbox/basisbibel/sachwort/sachwort/anzeigen/de tails/edom-edomiter-1/. 65 Wahrscheinlich wanderten die Nabatäer im 1. Jahrtausend v. Chr. von Arabien aus in das Gebiet zwischen dem Roten Meer und dem Toten Meer ein. Nach der Einwanderung der Edomiter (um 550 v. Chr.) zogen die Nabatäer in das Ostjordanland. Möglicherweise vertrieben sie die Edomiter. Vgl. E. A. Knauf, Nabatäer, in: Reallexikon der Assyriologie, Bd. IX, 1998, S. 2 ff. https://de.wikipedia.org/wiki/Nabat%C3 %A4er. 66 https://de.wikipedia.org/wiki/Pal%C3 %A4stina_(Region). 67 Er war der Sohn eines Makkabäerfeldherrn.
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30 v. Chr. hinrichten.68 Nach dessen Tod wurden seine Söhne Fürsten von Judäa, Galiläa und dem Norden des Ostjordanlandes. Palästina gehörte teils zur kaiserlichen Provinz Syrien, teils zu Judäa, das als eigene Provinz bestehen blieb. Der jüdische Aufstand in den Jahren 66 bis 73 n. Chr. wurde unter dem Befehl des späteren Kaisers Titus niedergeschlagen. Es war der erste der drei großen jüdischen Aufstände gegen die Römer im 1. und 2. Jahrhundert nach Christi Geburt. Bei der Eroberung Jerusalems durch römische Truppen im Jahr 70 n. Chr. wurde der Tempel Jerusalems in Brand gesetzt, zerstört und geplündert.69 Der zweite Aufstand war der DiasporaAufstand70 115 bis 117 n. Chr., der dritte der Bar-Kochba-Aufstand71 von 132 bis 135 n. Chr. Nach dem Zusammenbruch des Bar-Kochba-Aufstands wurde der Name der Provinz Judäa in Syria Palaestina72 umgewandelt, um die Erinnerung an das jüdische Königreich und die Heimat der Juden auch im Namen der Region zu beseitigen.73 Eine Zerstreuung der Juden74, Diaspora genannt, über die Grenzen Palästinas hinaus, folgte bis zur Neuzeit. Sie zogen in entlegene römische Provinzen bis nach Spanien. In den Städten am Rhein wie Worms, Mainz, Koblenz und Köln entstanden jüdische Gemeinden.75 Viele wanderten auch nach Osteuropa aus, als die Verfolgungen aus religiösem Fanatismus in West- und Mitteleuropa zunahmen.76 Palästina erlangte als Heiliges Land der Christen neue Bedeutung, als der römische Kaiser Konstantin I. das Christentum 313 zur gleichberechtigten Religion erklärte. Seit der Reichsteilung von 395 gehörte Palästina zum Oströmischen Reich und war also vom Untergang des Weströmischen Reiches im 5. Jahrhundert nicht betroffen.
68 R. Geyer/E. von Vietsch (Anm. 6), Israel, in: Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 6, S. 257. 69 Dazu auch R. Geyer/E. von Vietsch (Anm. 6), Israel, in: Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 6, S. 257. 70 Der Diaspora-Aufstand erfolgte während der Herrschaft des römischen Kaisers Trajan. T. D. Barnes, Trajan and the Jews, in: Journal of Jewish Studies 40 (1989), S. 145 ff.; A. Fuks, Aspects of the Jewish Revolt in A.D. 115 – 117, in: Journal of Roman Studies 51 (1961), S. 98 ff. 71 Vgl. Anm. 7. 72 Dazu https://en.wikipedia.org/wiki/Syria_Palaestina. 73 H. H. Ben-Sasson, A History of the Jewish People, 1976, S. 334: „In an effort to wipe out all memory of the bond between the Jews and the land, Hadrian changed the name of the province from Iudaea to Syria-Palestina, a name that became common in non-Jewish literature.“ 74 Sh. Sand (Anm. 38), Die Erfindung Israels, S. 24 ff., bestreitet, dass es einen antiken jüdischen Volksstamm gegeben habe. 75 R. Geyer/E. von Vietsch (Anm. 6), Israel, in: Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 6, S. 257. 76 Vgl. dazu R. Geyer/E. von Vietsch (Anm. 6), Israel, in: Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 6, S. 257, 258.
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Abb. 3: Reich Herodes des Großen bzw. Judäa im 1. Jahrhundert. Quelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/de/d/d9/Pal%C3 %A4stina-Herodes.png jUrheber = http://de.wikipedia.org/wiki/Benutzer:Thomas_Ihle.
4. Arabische Eroberung Nach einer Besetzung der persischen Sassaniden zwischen 614 und 629 endete die oströmische Herrschaft schließlich, als muslimische Araber mit der Armee des zweiten Kalifen Umar ibn al-Chattab, auch Omar genannt,77 in Palästina einfielen und 638 77 H. Busse, Omar’s image as the conqueror of Jerusalem, in: Jerusalem Studies in Arabic and Islam, 8, 1986, S. 149 ff. – Die Sunniten betrachten Umar ibn al-Chattab als einen der vier
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Jerusalem eroberten. Im Jahr 691 errichteten die Muslime auf dem Tempelberg den Felsendom, so dass nun neben den Juden und den Christen auch die Muslime eine heilige Stätte in Palästina hatten. Gegen Ende des 11. Jahrhunderts wurden in Palästina vier christliche Kreuzfahrer staaten78 (Outremer79) errichtet, darunter im Jahr 1099 das Königreich Jerusalem unter Balduin von Boulogne80. Der Sunnit Sultan Saladin81 besiegte im Jahr 1187 in der Schlacht bei Hattin82 ein Heer der Kreuzfahrer, besetzte Palästina und eroberte Jerusalem. Die Kirchen und Tempel wurden zum großen Teil in Moscheen umgewandelt. Nach der endgültigen Eroberung Jerusalems durch die Muslime im Jahr 1244 war Akkon im nördlichen Palästina einer der letzten Zufluchtsorte der Kreuzfahrer. Am 18. Mai 1291 eroberten die Truppen des ägyptischen Mamluken83-Sultans al-Malik al-Asraf Chalil84 auch diesen Stützpunkt85. Damit waren die Kreuzzüge endgültig gescheitert. 5. Osmanisches Reich a) Organisation und Bevölkerung Im Jahre 1516 besiegten die osmanischen Türken die Mamluken. Daraufhin wurden Ägypten, Syrien und Palästina für 400 Jahre in das Osmanische Reich eingegliedert.86 Das Land gliederte sich in Provinzen und einzelne Verwaltungsbezirke, die „rechtgeleiteten“ Kalifen. Die imamitischen Schiiten erkennen ihn dagegen nicht als Kalifen an. 78 Von Süden nach Norden an der Küste des östlichen Mittelmeers: das Königreich Jerusalem, die Grafschaft Tripolis, das Fürstentum Antiochia und die Grafschaft Edessa. 79 Von altfranzösisch: outre mer, oltre mer, jenseits des Meeres bzw. Übersee. 80 Im Jahr 1096 brach Balduin (frz. Baudouin de Boulogne) zum Ersten Kreuzzug auf; Balduin wurde am Weihnachtstag (25. 12. 1100) von Daimbert von Pisa, dem lateinischen Patriarchen von Jerusalem zum ersten König von Jerusalem gekrönt; S. Schein, Balduin I., in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, 1980, Sp. 13; https://de.wikipedia.org/wiki/Balduin_I._(Jerusa lem). 81 Saladin gilt in der muslimischen Welt als legendärer Sultan von Ägypten und Syrien, weil er Jerusalem zurückeroberte. Vgl. dazu A. Ehrenkreutz, Saladin, 1972; H. Möhring, Saladin, Der Sultan und seine Zeit 1138 – 1193, 2005; P. Thöne, Saladin, in: BiographischBibliographisches Kirchenlexikon (BBKL), Bd. 25, 2005, Sp. 1211 – 1221. 82 Die Schlacht bei Hattin am 4. 7. 1187 war die größte militärische Niederlage der Kreuzfahrer, sie führte zur Niederlage der Kreuzfahrerstaaten. Das Königreich Jerusalem fiel an die Muslime. Das Schlachtfeld befand sich zwischen Akkon und dem See Genezareth. 83 Die Mamluken waren in vielen islamischen Herrschaftsgebieten Militärsklaven zentral asiatischer, türkischer oder kaukasischer Herkunft. 84 Dazu vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Al-Ashraf_Khalil. 85 Dazu E. Stickel, Der Fall von Akkon – Untersuchungen zum Abklingen des Kreuzzuggedankens am Ende des 13. Jahrhunderts, 1975. 86 M. Wolffsohn, Wem gehört das Heilige Land? Die Wurzeln des Streits zwischen Juden und Arabern, 2003, S. 222.
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keiner zentralen Verwaltung unterstanden.87 Die Vilayets88 waren in Sandschaks (türk. Sancak, engl. Sanjak)89 untergliedert. Diese wiederum waren unterteilt in Timars, Kadiluks (the Gerichtsbezirke) und Zeamets.90 Palästina gehörte zu den Vilayets Beirut91 (seit 1888) und Syria92 sowie dem selbstständigen Mutessariflik Jerusalem (seit 1872)93 ; es war also keine selbstständige Einheit.94 Im Jahr 1839 begann im Osmanischen Reich eine Periode tiefgreifender Reformen, die Tanzimat95-Ära. Um mit den europäischen Mächten mithalten zu können, wurden in dieser Zeit umfangreiche Reformen in Angriff genommen.96 Die Epoche endete 1876 mit der Annahme der Osmanischen Verfassung. Hinsichtlich der Region Palästina ist die Landreform von 1858 von besonderer Bedeutung, da mit ihr Landerwerb, Landbesitz und Landübertragung geregelt wurde.97 Dies führte allerdings im Ergebnis zunächst zu einer Konzentration größerer Landflächen im Eigentum von wenigen Großgrundbesitzern.98 Erst als im weiteren Verlauf der Reformen auch Ausländer Grundstücke im eigenen Namen erwerben konnten, sollte sich der Eigentumserwerb als folgenreich für die Zukunft Palästinas herausstellen.99 Die europäischen „Kolonisationsvereine“100 konnten nun nämlich größere und zusammenhängende 87 D. Horowitz/M. Lissak, Origins of the Israeli Polity. Palestine under the Mandate, 1978, S. 32; A. Flores, Die Entwicklung der palästinensischen Nationalbewegung, in: Mejcher, Helmut (Hrsg.), Die Palästina-Frage 1917 – 1948: historische Ursprünge und internationale Dimensionen eines Nationenkonflikts, 2. Aufl. 1993, S. 89. 88 Sie sind mit Provinzen vergleichbar. Vgl. eine Karte der Vilayets des Osmanischen Reiches um 1885, in: https://en.wikipedia.org/wiki/Vilayet. Vgl. ferner A. Birken, Die Provinzen des Osmanischen Reiches, in: Beihefte zum Tübinger Atlas des Vorderen Orients, Bd. 13, 1976, S. 22. 89 Die Sandschaks sind mit Bezirken zu vergleichen; vgl. J. Deny/M. Kunt, Sandjak, in: Encyclopaedia of Islam, Bd. 9, 1997, S. 11 ff.; https://de.wikipedia.org/wiki/Sandschak_(Osmanisches_Reich); https://en.wikipedia.org/wiki/Sanjak. 90 https://en.wikipedia.org/wiki/Sanjak. 91 Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Beirut_Vilayet. 92 Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Syria_Vilayet. 93 Das Mutessariflik war ein osmanischer Bezirk mit besonderem Verwaltungsstatus, der 1872 gegründet wurde. Der Bezirk umfasste Jerusalem (Kudüs) sowie die anderen Hauptorte Gaza, Jaffa, Hebron, Bethlehem und Be’er Scheva. Vor 1872 war das Mutessariflik von Jerusalem offiziell ein Sandschak; vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Mutesarriflik_Jerusalem. 94 G. Krämer, Geschichte Palästinas, 2002, S. 56; D. Horowitz/M. Lissak (Anm. 87), Origins of the Israeli Polity, S. 32. 95 Tanzimat ist osmanisch und bedeutet Anordnungen, Neuordnung. 96 D. Herz/J. Steets (Anm. 4), Palästina, S. 26. 97 G. Krämer (Anm. 94), Geschichte Palästinas, S. 100. 98 D. Herz/J. Steets (Anm. 4), Palästina, S. 26. 99 S. Hörmann, Palästina, in: G. Gornig (Hrsg.), Krisengebiete der Welt. Völkerrechtliche und politische Aspekte, 2011, S. 251 ff. (255). 100 Vgl. A. Green, Old Networks, New Connections: The Emergence of the Jewish International, in: A. Green/V. Viaene (Hrsg.), Religious Internationals in the Modern World. Globalization and Faith Communities since 1750, 2012, S. 53 ff. (65 ff.).
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Abb. 4: Osmanisches Reich um 1900. Map-of-Ottoman-Empire-in-1900-Latvian.svg licensed with PD-self.
Flächen erwerben und damit dem Traum von einer Besiedelung des „Gelobten Landes“ – aber auch einer Staatsgründung – näher kommen. Staaten im Sinne des Völkerrechts entstanden nämlich historisch in erster Linie dadurch, dass sich eine Bevölkerungsgruppe auf staatenlosem Gebiet, das sie als ihr Eigentum betrachtete, bewusst zu einer staatlichen Gemeinschaft verband. Auf diese Weise entstanden einst die meisten Staaten wie noch im 19. Jahrhundert der Staat Liberia101, der von aus den USA heimgekehrten Personen gegründet wurde. Zur Errichtung eines Staates bedarf es entsprechend der Drei-Elemente-Lehre102 also zunächst des Erwerbs von Staatsgebiet. Hieran knüpfen die weiteren Vorgänge, insbesondere die Etablierung der Staatsgewalt an, die auch für die Schaffung einer Staatsangehörigkeit sorgen wird. Die Frage nach der Entstehung des Staates konzentriert sich dann vor allem darauf, inwiefern sich die Staatsgewalt auf dem betroffenen Gebiet durchgesetzt hat. Während der Zeit der osmanischen Herrschaft war Palästina nur dünn besiedelt. Am Anfang des 19. Jahrhunderts lebten zwischen 275.000 und 300.000 Menschen 101 Auf Druck der US-amerikanischen und britischen Regierungen trat Liberia im Jahr 1917 auf der Seite der Alliierten in den Ersten Weltkrieg ein. 102 Vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1928, S. 394 ff. Vgl. auch G. Gornig, Österreich, die Tschechoslowakei und das Schicksal des Sudetenlandes bis heute. Auch ein Beitrag zur Entstehung von Staaten, in: G. Gornig/A. Michel (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Bd. 2, 2019, S. 89 ff.
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im Land. 90 % der Bewohner waren muslimische Araber, 7.000 bis 10.000 Juden und 20.000 bis 30.000 christliche Araber.103 Zu Beginn der jüdischen Einwanderung im Jahr 1881 lebten 457.000 Menschen in Palästina. Davon waren 400.000 Muslime, 13.000 bis 20.000 Juden und 42.000 Christen, zumeist griechisch-orthodoxer Konfession. Hinzu kamen einige Tausend dauerhaft in Palästina lebende Juden, die keine osmanischen Bürger waren.104 b) Zionismus Bereits in den 40er und 50er Jahren des 19. Jahrhunderts forderten Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinde die Rückkehr der Juden in das „verheißene Land“ – Eretz Israel105. Es handelt sich um die Region zwischen Mittelmeer und dem Jordan, umfasste teilweise aber auch Gebiete östlich des Jordan.106 In jener Zeit ging es nicht um nationalistische, sondern vornehmlich um religiöse Motive. Mit der zunehmenden relativen Emanzipation der Juden in Europa,107 der Zuerkennung von Bürgerrechten an die Juden, eingeleitet durch die Französische Revolution, und der damit einhergehenden Assimilation in die jungen europäischen Nationen entstand in religiösen Kreisen die Sorge um den Verlust jüdischer Identität.108 Zudem gab es einen um sich greifenden Antisemitismus in Europa, insbesondere Pogrome im zaristischen Russland in den 1880er Jahren109, so dass aus zwei Gründen politisch der Wille nach eigener Staatlichkeit wuchs.110 Es entstand die Bewegung des Zionis-
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Zahlen nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Pal%C3 %A4stina_(Region). Zahlen nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Pal%C3 %A4stina_(Region). Heute leben in Israel über 8,3 Millionen Menschen (Stand 2014), darunter sind etwa 6,1 Millionen Juden (ca. 73,5 %) und 1,7 Millionen nichtjüdische Araber. https://de.wikipedia.org/wiki/Israel. 105 Eretz Israel bedeutet wörtlich übersetzt „Land Israel(s)“. Es handelt sich um eine traditionelle hebräische Bezeichnung für das Land, das in der Bibel in der Regel Kanaan genannt wird. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Eretz_Israel. Kritisch dem Zionismus gegenüberstehend: Sh. Sand (Anm. 38), Die Erfindung Israels, S. 23 ff. (37). Er betrachtet „Eretz Israel“ als eine Erfindung. 106 Sh. Sand (Anm. 38), Die Erfindung Israels, S. 37. 107 Vgl. Toleranzedikt von Kaiser Joseph II. in Wien, 1782. Text: https://reader.digitalesammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10495061_00007.html. Im Patent vom 2. 1. 1782 wurden auch den Juden größere Freiheiten in der Religionsausübung zugestanden. Ferner: https://de.wikipedia.org/wiki/J%C3 %BCdische_Emanzipation. 108 D. Rosenthal, Die Israelis: Leben in einem außergewöhnlichen Land, 2007, S. 263; S. Hörmann (Anm. 99), in: G. Gornig, S. 251 ff. (256). 109 I. M. Aronson, Troubled Waters. The Origins of the Anti-Jewish Pogroms in Russia, 1990, S. 167 ff.; A. Pfahl-Traughber, Antisemitismus in Russland, in: Ch. Butterwegge/ S. Jäger (Hrsg.), Rassismus in Europa. 2. Aufl. 1993, S. 28 ff. 110 A. Schölch, Europa und Palästina 1838 – 1917, in: H. Mejcher (Hrsg.), Die PalästinaFrage 1917 – 1948: historische Ursprünge und internationale Dimensionen eines Nationenkonflikts, 2. Aufl. 1993, S. 40; G. Shimoni, Die Entstehung des Zionismus, in: E. W. Stegemann (Hrsg.), 100 Jahre Zionismus: von der Verwirklichung einer Vision, 2000, S. 46 ff. (49). 104
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mus.111 Zionismus bezeichnet eine Nationalbewegung der Juden, die einen jüdischen Nationalstaat in Palästina anstrebt. Bereits in den 1860er Jahren begann die jüdische Neubesiedelung Palästinas.112 Der französische Baron Edmond Rothschild113 erwarb im Jahr 1882 Grundstücke in Palästina und förderte die Gründung der Städte Zichron Ja’akow114 und Rischon leZion115. Im Jahr 1889 übergab er 25.000 Hektar palästinensischen Agrarlandes mit den sich darauf befindenden Ansiedlungen an die Jewish Colonization Association116. Im Jahre 1897 berief Theodor Herzl117 den ersten Zionistenkongress118 in Basel ein. Dort wurde das Basler Programm formuliert: „Der Zionismus erstrebt die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina für diejenigen Juden, die sich nicht anderswo assimilieren können oder wollen.“119
111 Zuerst wird Zion in der Bibel in 2. Samuel 5,7 erwähnt: „David aber eroberte die Burg Zion; das ist Davids Stadt.“ Zion war ursprünglich eine antike Burg der Jebusiter in der Stadt Jerusalem. Dann wurde Zion nicht nur für die Burg, sondern auch für die Stadt, in der die Burg stand, verwendet. Nachdem David die Festung von Zion eroberte, wurde sie Stadt Davids genannt (1.Könige 8,1; 1.Chronik 11,5; 2.Chronik 5,2). Als Salomon den Tempel in Jerusalem errichtete, wurde der Begriff Zion erweitert und beinhaltete auch den Tempel und dessen Umgebung (Psalms 2,6; 48,2, 11 – 12; 132,13). Schließlich wurde die Stadt Jerusalem Zion genannt, das Land von Judäa und das Volk von Israel insgesamt (Jesaja 40,9; Jeremiah 31,12; Sacharja 9,13). Die wichtigste Verwendung des Wortes „Zion“ ist im theologischen Sinn. Zion wird bildlich für Israel, als Volk Gottes verwendet (Jesaja 60,14). Siehe Was ist Zion? Was ist der Berg Zion? Was ist die biblische Bedeutung von Zion?, in: https://www.gotquestions.org/ Deutsch/zion.html. Die Bezeichnung Zionismus wurde erstmals anlässlich einer Diskussionsveranstaltung in Wien am 23. 1. 1892 von Nathan Birnbaum gebraucht; W. Laqueur, A History of Zionism, 1972, S. 13. 112 E. Petry, Ländliche Kolonisation in Palästina. – Deutsche Juden und früher Zionismus am Ende des 19. Jahrhunderts, 2004, S. 244; G. Shimoni (Anm. 110), in: E. W. Stegemann, S. 46 ff. (50). 113 R. Aaronsohn, Rothschild and Early Jewish Colonization in Palestine, 2000, S. 53 ff. 114 Die Stadt wurde im Jahr 1882 von jüdischen Einwanderern mit Unterstützung von Baron Edmond de Rothschild gegründet. Dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Zichron_Ja%E2 % 80 %99akow. 115 Rischon LeZion wurde im Jahr 1882 als Moschawa von russischen Immigranten gegründet. Dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Rischon_LeZion. 116 Die Jewish Colonization Association (Abk.: JCA, auch: ICA) wurde am 11. 9. 1891 von Baron Maurice de Hirsch als Aktiengesellschaft nach englischem Recht gegründet. Das Ziel der Gesellschaft war, die Emigration von Juden aus Russland und anderen osteuropäischen Staaten zu unterstützen, indem man sie in Landwirtschaftskolonien ansiedelte, deren Land zuvor von der JCA gekauft wurde, vor allem in Nord- und Südamerika. Im Januar 1900 übertrug Baron Edmond Rothschild der JCA die Verantwortung für seine Dörfer in Palästina. Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Jewish_Colonization_Association. 117 Vgl. auch Theodor Herzl und der Zionismus, in: http://www.judentum-projekt.de/per soenlichkeiten/geschichte/herzl/. 118 Zu den 35 Zionistenkongressen vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Zionistenkongress. 119 Zitiert nach: D. Hulme, Theodor Herzl, der Vater des Zionismus, in: http://www.vision journal.de/node/2123.
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Herzl verstand die „Judenfrage“ als eine internationale politische Frage, die entsprechend auf der Ebene der internationalen Politik behandelt werden müsse. Er hielt die Judenfrage in seiner nur 86 Seiten starken Schrift „Der Judenstaat“ „weder für eine sociale, noch für eine religiöse, wenn sie sich auch noch so und anders färbt. Sie ist eine nationale Frage, und um sie zu lösen, müssen wir sie vor Allem zu einer politischen Weltfrage machen, die im Rathe der Culturvölker zu regeln sein wird. Wir sind ein Volk, Ein Volk.“120 Herzls Büchlein wurde damit zum Gründungsmanifest der zionistischen Bewegung.121 Herzl schlug ein praktisches Programm für die Sammlung von finanziellen Mitteln unter Juden in aller Welt durch eine Organisation vor, die sich für die praktische Realisierung dieses Zieles einsetzen sollte (diese Organisation hieß dann nach ihrer Gründung die Zionistische Organisation). Er legte damit den Grundstein für die spätere Gründung eines jüdischen Staates.122 Im Bewusstsein der Juden war Palästina immer das „Heilige Land“, das mit der Bibel und der Geschichte des jüdischen Volkes eng verbunden ist. Die Bedürfnisse der arabischen Bevölkerung spielten in dieser Tradition kaum eine Rolle.123 Für Shlomo Sand hingegen war die „jüdische Heimkehr“ vor allem „eine wirkungsvolle Erfindung (…), die ein neues Kolonisierungswerk rechtfertigen sollte und auf das Wohlwollen der westlichen Welt zielte, vor allem auf das der christlich-protestantischen, der sogar die Urheberschaft dieser Idee zukommt.“124 Unabhängigkeit von seiner Argumentation ist jedenfalls richtig, dass historische Ansprüche keine Landnahme rechtfertigen können, egal, ob es ein Volk der Juden gab oder nicht. Wenn das so wäre müssten wir die Welt so organisieren, wie sie vor Hunderten oder Tausenden Jahren einmal gewesen war.125 Bereits im Jahre 1909 wurde mit Tel Aviv die erste moderne jüdische Stadt gegründet.
120 Vgl. auch Th. Herzl, Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage, 1896, S. 11. 121 Sh. Avineri, Herzls Weg zum Zionismus: in: E. W. Stegemann (Hrsg.), 100 Jahre Zionismus: von der Verwirklichung einer Vision, 2000, S. 23. 122 Herzl schrieb 1897 in sein Tagebuch: „Fasse ich den Baseler Congress in ein Wort zusammen – das ich mich hüten werde öffentlich auszusprechen – so ist es dieses: in Basel habe ich den Judenstaat gegründet. Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universelles Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in fünfzig wird es Jeder einsehen.“, in: Zionismus – Ursache und Wirkung, https://jcx1.com/tag/basler-programm/. 123 Kritisch daher: Sh. Sand (Anm. 38), Die Erfindung Israels, S. 24 ff., 28, 29. 124 Sh. Sand (Anm. 38), Die Erfindung Israels, S. 28. Er bestreitet aber nicht das Recht der jüdischen Israelis, in einem demokratischen, offenen und alle seine Bürger einbeziehenden Israel zu leben; ebenda, S. 31. 125 Insoweit richtig: Sh. Sand (Anm. 38), Die Erfindung Israels, S. 29.
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III. Entwicklungen im Verlauf des Ersten Weltkriegs und kurz danach Im Jahr 1914 unterstützte das Osmanische Reich die Mittelmächte, also das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn, gegen die Triple Entente126 im Ersten Weltkrieg. Am 2. August 1914 schloss Sultan Mehmed V.127 ein Bündnis mit dem Deutschen Reich.128 Das Geheimabkommen sah einen Kriegseintritt des Osmanischen Reiches an der Seite Deutschlands für den Fall von Feindseligkeiten mit dem Erzfeind Russland vor. Der Sultan versuchte aber zunächst, im Ersten Weltkrieg neutral zu bleiben; auf Druck der Jungtürken129 trat er aber Anfang Oktober 1914 in den Krieg ein und ernannte Enver Pascha130 zum Kriegsminister. In den folgenden Jahren kam es im Zuge des Ersten Weltkrieges zu zahlreichen zweiseitigen und mehrseitigen, offiziellen und inoffiziellen Zusagen, Absprachen und Erklärungen zwischen den unterschiedlichsten Akteuren.
126 Zur Entente bzw. zur Triple Entente haben sich Frankreich und England sowie Russland vertraglich zusammengeschlossen. Seit Kriegsbeginn kämpften auch Serbien und Belgien an der Seite der Entente-Staaten. Im Kriegsverlauf schlossen sich zahlreiche Staaten oder Nationalitätengruppen als Verbündete oder Assoziierte an. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Be teiligte_am_Ersten_Weltkrieg. Vgl. auch E. E. McCullough, How the First World War Began: The Triple Entente and the Coming of the Great War of 1914 – 1918, 1998; F. K. Tomaszewski, A Great Russia: Russia and the Triple Entente, 1905 – 1914, 2002. 127 Mehmed V. war von 1909 bis 1918 Sultan des Osmanischen Reiches und Kalif der Musli me. In seiner Zeit wurde das Osmanische Reich als der „kranke Mann am Bosporus“ bezeichnet. Vgl. H.-J. Kornrumpf, Mehmed V. Res¸ad, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas, Bd. 3, 1979, S. 143 f. 128 Vgl. zur Geschichte des Osmanischen Reiches: K. Kreiser, Der Osmanische Staat 1300 – 1922, 2008; K. Kreiser/C. K. Neumann, Kleine Geschichte der Türkei, 2009. Das Bündnis mit Deutschland und Österreich-Ungarn versprach dem Osmanischen Reich militärstrategisches Know-how, Stellung von Truppen, Lieferungen von Waffen und Material sowie eine langfristige, über das Kriegsende hinausreichende „Entwicklungshilfe“: von der Reform des Grundschulwesens bis zu Staudammprojekten in Anatolien. So K. Kreiser, Der Weg in den Ersten Weltkrieg. Das Osmanische Reich: Zerreißprobe am Bosporus, in: https://www.deutsch landfunk.de/der-weg-in-den-ersten-weltkrieg-das-osmanische-reich.724.de.html?dram:article_ id=273008. 129 Die Jungtürken waren eine illegale politische Bewegung im Osmanischen Reich, deren Ziele liberale Reformen, eine konstitutionelle Staatsform und die Stärkung des vom Zerfall bedrohten Reiches durch eine umfassende Modernisierung waren. Vgl. F. Feroz Ahmad, The Young Turks – The Committee of Union and Progress in Turkish Politics 1908 – 1914, 1969; ferner: https://de.wikipedia.org/wiki/Jungt%C3 %BCrken. 130 Damad ˙Ismail Enver war einer der führenden Jungtürken und einer der Hauptverantwortlichen für den Völkermord an den Armeniern. Vgl. H.-J. Kornrumpf, Enver Pascha, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 1, 1974, S. 462 ff.; D. A. Rustow, Enwer Pasha, in: The Encyclopaedia of Islam, Bd. 2, 1965, S. 698 ff.
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1. McMahon-Hussein-Korrespondenz Während des Krieges kam es von Juli 1915 bis zum März 1916 zu einer umfangreichen Korrespondenz zwischen Sharı¯f Hussein Ibn Ali131 von Mekka, dem haschemitischen132 Führer der im Hedschas vorherrschenden arabischen Stämme, und Sir Henry McMahon133, dem Britischen Hochkommissar in Kairo. Gegenstand dieser Korrespondenz war die politische Zukunft der arabischen Länder des Nahen Ostens.134 Von britischer Seite wurde die Errichtung eines unabhängigen arabischen Staates unter haschemitischer Führung in Aussicht gestellt, sollte der britische Feldzug gegen die Osmanen von arabischer Seite unterstützt werden. Das Vereinigte Königreich wollte zudem einen Aufstand gegen die osmanische Herrschaft entfachen.135 Im Schreiben vom 24. Oktober 1915136 umriss Henry McMahon das Gebiet, in welchem das Vereinigte Königreich bereit war, eine arabische Unabhängigkeit anzuerkennen und zu unterstützen.137 Das in das Großreich einbezogene arabische Territorium wurde allerdings nur ungenau beschrieben. Genannt wurde lediglich ein großes, unabhängiges Reich im arabischen Osten mit „rein arabischen“ bzw. „nicht rein arabischen“ Bewohnern unter Ausschluss nicht näher bestimmter Gebiete entlang
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131 Hussein ibn Ali war von 1908 bis 1916 Emir des Hedschas und Großscherif von Mekka sowie von 1916 bis 1924 König des Hedschas, vgl. St. H. Longrigg, Husayn b. Alı¯, in: En˙ cyclopaedia of Islam, 2. Aufl., Bd. III, 1986, S. 605. 132 Die Haschemiten (auch Haschimiten) sind ein weitläufiger Familienverband des mekkanischen Stammes Quraisch, der nach Ha¯schim ibn Abd Mana¯f, dem Urgroßvater des Propheten Mohammed benannt ist. Das Stammland der Haschemiten war ursprünglich das Gebiet des heutigen Saudi-Arabien. Zum Zentrum der Haschemiten wurde nach der Vertreibung aus Mekka Bagdad, das dann Hauptstadt des Haschemiten-Königreichs Irak wurde. Auch in Jordanien herrschen die Haschemiten. König Abdullah II. von Jordanien soll in ununterbrochener, männlicher Linie auf Ha¯schim ibn Abd Mana¯f zurückgehen. Vgl. dazu https://de.wikipedia. org/wiki/Haschimiten. 133 Vgl. zur Person: https://de.wikipedia.org/wiki/Henry_McMahon. 134 Es gab eine geheime Korrespondenz von zehn Briefen; vgl. dazu E. Kedourie, In the Anglo-Arab Labyrinth: The McMahon-Husayn Correspondence and its Interpretations, 1914 – 1939, 1976. 135 Vgl. auch: Vor 100 Jahren: Großbritannien und Frankreich vereinbaren das SykesPicot-Abkommen, in: http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/227750/sykes-picot-ab kommen. 136 F. Schreiber/M. Wolffsohn, Nahost. Geschichte und Struktur des Konflikts, 4. Aufl. 1996, S. 22. 137 „(…) Great Britain is prepared to recognize and support the independence of the Arabs in all the regions within the limits demanded by the Sharif of Mecca. I am convinced that this declaration will assure the sympathy of Great Britain towards the aspirations of her friends the arabs and will result in a firm and lasting alliance, the immediate results of which will be the expulsion of the Turks from the arab countries and the freeing of the Arab peoples from the Turkish Yoke, which for so many years has pressed heavily upon them (…).“, zitiert nach W. Laqueur/B. Rubin (Hrsg.), The Israel-Arab Reader: A Documentary History of the Middle East Conflict: Seventh Revised and Updated Edition, 2008, S. 11. Vgl. auch F. Schreiber/ M. Wolffsohn (Anm. 136), Nahost, S. 24.
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des Mittelmeeres.138 Palästina, das in osmanischer Zeit keine administrative Einheit bildete, wird nicht ausdrücklich genannt. Es wurde aber von offiziellen britischen Stellen und auch von McMahon selbst nach Bekanntwerden der Korrespondenz als von dem Versprechen ausgenommen bezeichnet.139 Es blieb aber letztlich unklar und umstritten, ob Palästina dem Territorium des versprochenen arabischen Königreich angehören sollte oder nicht.140 Da aber weder das Vereinigte Königreich noch Frankreich wirklich gewillt waren, ein arabisches Großreich zuzulassen, kann die Frage offen bleiben. Man wollte lediglich die Araber gegen das Osmanische Reich mobilisieren.141 Das Schreiben vom 24. Oktober 1915 wird allerdings von arabischer Seite regelmäßig als Argument für die Legitimität der Errichtung eines arabischen Staates auf dem Territorium Palästinas herangezogen.142 Die Korrespondenz mit den Briten ermunterte Sharı¯f Hussein Ibn Ali das türkische Gesuch, den Heiligen Krieg (Jihad) gegen die Briten auszurufen, abzuschlagen. Er initiierte vielmehr einen Aufstand gegen die türkische Vorherrschaft, den sog. „Arabischen Aufstand“143 und trat der Allianz gegen Sultan Mehmed V.144 bei. Dies ermutigte die Briten, über Sinai nach El Arish vorzurücken, wo sie im Dezember 1916 eintrafen.145 Diskutiert wurde auch die völkerrechtliche Verbindlichkeit des Briefwechsels. Diese wäre dann fraglich, wenn Henry McMahon nicht die Genehmigung hatte,
138
G. Krämer (Anm. 94), Geschichte Palästinas, S. 173. Der damalige Kolonialminister Winston Churchill erklärte im Jahr 1922, dass ganz Palästina westlich des Jordan aus Sir McMahons Zusage ausgeschlossen gewesen sei; dazu G. Krämer (Anm. 94), Geschichte Palästinas, S. 175. Zudem versuchte McMahon selbst, die territoriale Frage klarzustellen: „I feel it my duty to state, and I do so definitely and emphatically, that it was not intended by me in giving this pledge to King Hussein to include Palestine in the area in which Arab independence was promised.“ So in einem Brief vom 23. 7. 1937 an „The Times“. Vgl. dazu R. Lapidoth (Hrsg.), The Arab-Israel Conflict and its Resolution, 1992, S. 19. 140 F. Schreiber/M. Wolffsohn (Anm. 136), Nahost, S. 24. 141 F. Schreiber/M. Wolffsohn (Anm. 136), Nahost, S. 24. 142 Der Briefwechsel wurde 1936 aufgrund arabischer Bitten auf Veranlassung des britischen Parlaments einer Prüfung unterzogen; G. Krämer (Anm. 94), Geschichte Palästinas, S. 173; Ch. Qasimiyya, Palästina in der Politik der arabischen Staaten, in: H. Mejcher, Helmut (Hrsg.), Die Palästina-Frage 1917 – 1948: historische Ursprünge und internationale Dimensionen eines Nationenkonflikts, 2. Aufl. 1993, S. 123 ff. (127). 143 https://www.lexikon-erster-weltkrieg.de/Arabischer_Aufstand. 144 Mehmed V. war von 1909 bis 1918 Sultan des Osmanischen Reiches und Kalif der Muslime. In seiner Zeit wurde das Osmanische Reich als der „kranke Mann am Bosporus“ bezeichnet. Vgl. H.-J. Kornrumpf, Mehmed V. Res¸ad, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas, Bd. 3, 1979, S. 143 f. 145 Lawrence von Arabien kämpfte im Ersten Weltkrieg an der Seite der Araber gegen die Türken. Dazu vgl. T. Spreckelsen, Thomas Edward Lawrence: Ein Geburtshelfer der arabischen Revolution, http://www.faz.net/aktuell/wissen/thomas-edward-lawrence-ein-geburtshel fer-der-arabischen-revolution-1623009/thomas-edward-lawrence-auf-1632481.html. 139
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die britische Regierung insoweit zu vertreten.146 Er handelte jedenfalls – mit oder ohne Genehmigung – im Namen der britischen Regierung von Außenminister Ed ward Grey. Ob dem Briefwechsel als Vereinbarung völkerrechtliche Verbindlichkeit zukommen sollte, ist allerdings zu bezweifeln. 2. Sykes-Picot-Abkommen Das Sykes-Picot-Abkommen wurde im November 1915 von dem britischen Diplomaten Mark Sykes147 und dem französischen Diplomaten François GeorgesPicot148 ausgehandelt. Am 3. Januar 1916 vereinbarten die Verhandlungspartner einen Entwurf. Am 16. Mai 1916 unterzeichneten sie das Abkommen149. Art. 1 lautet: „That France and Great Britain are prepared to recognize and protect an independent Arab state or a confederation of Arab states (a) and (b) marked on the annexed map, under the suzerainty of an Arab chief. That in area (a) France, and in area (b) Great Britain, shall have priority of right of enterprise and local loans. That in area (a) France, and in area (b) Great Britain, shall alone supply advisers or foreign functionaries at the request of the Arab state or confederation of Arab states.“
In Art. 3 heißt es: „That in the brown area there shall be established an international administration, the form of which is to be decided upon after consultation with Russia, and subsequently in consultation with the other allies, and the representatives of the sheriff of Mecca.“
In diesem geheimen Abkommen teilten die beiden Diplomaten die arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches für die Zeit nach dem Kriegsende in Einflusssphären auf. Frankreich sollte als Einflusszone den Südosten der Türkei, den Libanon, Syrien sowie den nördlichen Irak erhalten. Das Vereinigte Königreich hingegen sollte das heutige Jordanien, das heutige Israel und Palästina sowie den südlichen Irak kontrollieren. In ihren Einflussbereichen sollten die beiden Staaten das Recht haben, direkte oder indirekte Verwaltungen oder Kontrollen einzurichten.150 146 Vgl. heute Art. 7 Abs. 1 und 2 Wiener Vertragsrechtskonvention (Text: UNTS, Bd. 1155, S. 331), der Völkergewohnheitsrecht kodifizierte. 147 Mark Sykes war ein britischer Orientalist; vgl. J. Cape, Mark Sykes. Portrait of an Amateur, 1975; https://de.m.wikipedia.org/wiki/Mark_Sykes. 148 Charles Georges Picot war ein ehemaliger französischer Konsul in Beirut; vgl. https:// de.m.wikipedia.org/wiki/Fran%C3 %A7ois_Georges-Picot. 149 Text: Vor 100 Jahren: Großbritannien und Frankreich vereinbaren das Sykes-PicotAbkommen (Anm. 135), in: https://en.wikisource.org/wiki/The_Sykes%E2 %80 %93Picot_ Agreement. Ferner: W. Uebel, Das Verhältnis Deutschland – Türkei im ersten Weltkrieg und die Folgen für die Türkei, S. 47 ff., in: https://docplayer.org/24126016-Das-verhaeltnis-deutsch land-tuerkei-im-ersten-weltkrieg-und-die-folgen-fuer-die-tuerkei.html. Vgl. zum Sykes-PicotAbkommen auch Raffeiner in diesem Band. 150 P. Smith, Palestine and the Palestinians 1876 – 1983, 1984, S. 40; Ch. Qasimiyya, Palästina in der Politik der arabischen Staaten, in: H. Mejcher (Hrsg.), Die Palästina-
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Auf dem Gebiet Palästinas wollten Frankreich und das Vereinigte Königreich zudem eine internationale Verwaltung errichten. Insoweit sollte noch eine Absprache mit Russland und den anderen Alliierten erfolgen.151
Abb. 5: Britisch-Französische Interessengebietsaufteilung 1916. (www.passia.org – Mahmoud Abu Rumieleh).
Dieses Gebiet, über dessen genaue Ausdehnung in der Folge heftige Kontroversen geführt werden sollten, hatte folgende Grenzen: im Norden zog sich die Grenzlinie vom Meer einem Punkt etwa in der Mitte zwischen Tyros (heute Libanon) und Haifa in ost-südöstlicher Richtung nach dem Süden von Safed, im Westen war das MittelFrage 1917 – 1948: historische Ursprünge und internationale Dimensionen eines Nationenkonflikts, 2. Aufl. 1993, S. 127; Vor 100 Jahren: Großbritannien und Frankreich vereinbaren das Sykes-Picot-Abkommen, in: http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/227750/sykespicot-abkommen. 151 Vgl. Vor 100 Jahren: Großbritannien und Frankreich vereinbaren das Sykes-Picot-Abkommen, in: https://en.wikisource.org/wiki/The_Sykes%E2 %80 %93Picot_Agreement.
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meer die Grenze, im Osten zog sich die Grenze entlang einer Linie vom See Genezareth den Fluss Jordan entlang zum Toten Meer, im Süden folgte die Grenze einer West-Ost-Linie, beginnend etwa auf der halben Strecke von Gaza nach Dair al-Balah bis zum Toten Meer, entlang einer Linie südlich von Hebron und nördlich von Be’er Scheva. Die Hussein-McMahon-Korrespondenz der Jahre 1915/16 stand im gewissen Widerspruch zum Sykes-Picot-Abkommen, sie schlossen einander aber nicht ausdrücklich aus.152 Die bereits 1916 im Geheimen geführten Verhandlungen sahen nämlich tatsächlich einen unabhängigen arabischen Staat bzw. eine Konföderation mehrerer arabischer Staaten in jenem Gebiet vor, das heute zu Saudi-Arabien und Jemen gehört. Später wurde das Sykes-Picot-Abkommen erweitert, um auch Italien und Russland einzubeziehen. Russland sollte Armenien und Teile von Kurdistan erhalten, Italien sollte einige ägäische Inseln (die Dodekanes153) und eine Einfluss-Sphäre um ˙Izmir an der Westküste Kleinasiens bekommen.154 Die Oktoberrevolution von 1917 führte dazu, dass Russlands Ansprüche am Osmanischen Reich verworfen wurden.155 Das geheime Sykes-Picot-Abkommen wurde erst am 23. November 1917 in Russland in den Tageszeitungen „Prawda“ und „Iswestija“ veröffentlicht. Drei Tage später erschien der Inhalt auch in der britischen Tageszeitung „The Guardian“.156 3. Balfour-Deklaration Der Krieg mit den Mittelmächten wollte kein Ende nehmen. Tausende britische Soldaten verloren bereits ihr Leben, Frankreichs Kräfte waren erschöpft, Russland schied aufgrund revolutionärer Wirren aus dem Krieg aus und Deutschland mit seinen Verbündeten und das Osmanische Reich leisteten nach wie vor Widerstand. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass die Briten sich die Unterstützung der insbesondere in den Vereinigten Staaten von Amerika einflussreichen Juden sichern wollten. Die Briten hofften, dass sie durch die Unterstützung der Schaffung eines jüdischen Staates in Palästina das Weltjudentum dazu bewegen könnten, die USA zum Kriegsbei152
S. L. Hattis, The Bi-national Idea in Palestine During Mandatory Times, 1970, S. 35. Sie liegen in der südlichen Ägäis, kurz vor der Küste der Türkei. 154 Nur die italienische Präsenz in Kleinasien sowie die Aufteilung der arabischen Länder wurde im Vertrag von Sèvres im Jahre 1920 verankert. 155 Das Ende des Osmanischen Reichs – Die Folgen für den Nahen Osten, in: https://der blauweisse.wordpress.com/2017/04/07/das-ende-des-osmanischen-reichs-die-folgen-fuer-dennahen-osten/. 156 Das Ende des Osmanischen Reichs – Die Folgen für den Nahen Osten, in: https://der blauweisse.wordpress.com/2017/04/07/das-ende-des-osmanischen-reichs-die-folgen-fuer-dennahen-osten/. 153
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tritt157 zu überreden.158 Das Vereinigte Königreich wollte auch seinen Einfluss im Nahen Osten sichern und hoffte diesem Ziel mit der Unterstützung des Zionismus näher zu kommen.159 Die Notwendigkeit, eine britische Erklärung zugunsten einer jüdischen Heimstätte in Palästina zu verlautbaren, war auch deswegen angebracht, weil im Juni 1917 Nachrichten von deutschen Verhandlungen mit Zionisten und Osmanen bekannt wurden. Der britische Außenminister Arthur James Balfour160 sandte am 2. November 1917 einen Brief, bekannt als Balfour-Deklaration161, an Lionel Walter Rothschild, 2. Baron Rothschild, dem Präsidenten der britischen zionistischen Föderation. Die britische Kabinettssitzung vom 31. Oktober 1917 kam zur Entscheidung, der zionistischen Bewegung ihre Unterstützung zuzusagen: „Verehrter Lord Rothschild, ich bin sehr erfreut, Ihnen im Namen der Regierung Seiner Majestät die folgende Erklärung der Sympathie mit den jüdisch-zionistischen Bestrebungen übermitteln zu können, die dem Kabinett vorgelegt und gebilligt worden ist: Die Regierung Seiner Majestät betrachtet mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina und wird ihr Bestes tun, die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern, mit der Maßgabe, dass nichts geschehen soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nicht-jüdischen Gemeinschaften in Palästina oder die Rechte und den politischen Status der Juden in anderen Ländern in Frage stellen könnte. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diese Erklärung zur Kenntnis der Zionistischen Weltorganisation bringen würden. Ihr ergebener Arthur Balfour“[162
Bemerkenswert ist, dass in dem Brief nicht von einem „Staat“, sondern nur von einer nationalen Heimstätte die Rede ist. Auch wird nicht gesagt, wo diese Heimstätte errichtet werden sollte.163 Zudem wurden weder die Frage der Einwanderung noch 157
Die Kriegserklärung der USA an Deutschland erfolgte am 6. April 1917. J. Schneer, The Balfour Declaration. The Origins of the Arab-Israeli Conflict, 2010, S. 132, 135, 157, 344, 345. 159 Vgl. ferner: J. Renton, The Balfour Declaration: its Origins and Consequences, in: Jewish Quarterly, Spring 2008, Number 209. 160 Vgl. zur Person: R. J. Q. Adams, Balfour: The Last Grandee, 2013; https://de.wikipedia. org/wiki/Arthur_James_Balfour,_1._Earl_of_Balfour. 161 Vgl. dazu M. Kirchhoff, Balfour-Deklaration, in: D. Diner (Hrsg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK), Bd. 1, 2011, S. 243 ff.; https://de.wikipedia.org/wiki/Bal four-Deklaration; Das Palästina Portal. Die Balfour-Deklaration, http://www.palaestina-portal. eu/texte/balfour_erklaerung.htm. 162 Text: Das Palästina Portal. Die Balfour-Deklaration, http://www.palaestina-portal.eu/ texte/balfour_erklaerung.htm; vgl. auch W. Laqueur/B. Rubin (Anm. 137), The Israel-Arab Reader, S. 16. 163 Im Frühjahr 1903 diskutierte die britische Regierung als Heimstätte auch ein Gebiet in Ostafrika, nämlich in Uganda. Dieser Plan wurde jedoch vom Siebten Zionistenkongress mit großer Mehrheit abgelehnt; vgl. K. Ringger, Ein Abenteuer Englands: Diplomatische Bemü158
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die der politischen Organisation und der Grenzen des künftigen Palästina behandelt. Gleichwohl gilt die Balfour-Deklaration, die nach Balfour nicht mehr als eine „Sympathie-Erklärung“164 war, als Basis für die Gründung des Staates Israel. Chaim Weiz mann165 vertrat die Ansicht, einen jüdischen Staat in Palästina könne es erst geben, wenn es dort eine jüdische Bevölkerungsmehrheit gebe. Diese Auffassung wurde auch von den britischen Kabinettsmitgliedern Winston Churchill166, Arthur Neville Chamberlain167 und Jan Christiaan Smuts168 geteilt.169 Jüdische Organisationen wie der American Jewish Congress170 forderten nach internen Beratungen im Dezember 1918 zunächst die Schaffung von Bedingungen, welche die „Entwicklung Palästinas zu einem Commonwealth“ unter dem Schutz des Vereinigten Königreichs sichern würden.171 IV. Kriegsende 1. Waffenstillstand von Moudros Bereits am 30. Oktober 1918 beendete der Waffenstillstand von Moudros172 die Kampfhandlungen der Entente173 mit dem Osmanischen Reich.174 Die Alliierten wurhungen um eine Heimstätte für das jüdische Volk 1897 – 1922, in: H. Haumann (Hrsg.), Der Erste Zionistenkongress von 1897: Ursachen, Bedeutung, Aktualität, 1997, S. 272 ff. (276). 164 Vgl. auch I. Günther, Balfour-Brief ohne gutes Ende. Am 2. 11. 1917 verfasste der britische Außenminister eine „Sympathie-Erklärung“ an Lord Lionel Walter Rothschild. Die 100 Jahre alte Balfour-Deklaration entzweit nach wie vor Israelis und Palästinenser, in: Frankfurter Rundschau, 2. 11. 2017. 165 Chaim Weizmann, Chemiker, war Präsident der Zionistischen Weltorganisation, israelischer Politiker und zionistischer Führer sowie zwischen 1949 und 1952 erster israelischer Staatspräsident, vgl. S. A. Miller, Chaim Weizmann, in: Encyclopaedia Judaica, Bd. 16: Ur – Z, Supplementary entries. Encyclopaedia Judaica u. a., 1971, S. 423 ff. 166 Sir Winston Leonard Spencer-Churchill gilt als bedeutendster britischer Staatsmann des 20. Jahrhunderts, damals war er Mitglied des britischen Kriegskabinetts. 167 Arthur Neville Chamberlain war ein britischer Politiker der Konservativen Partei, damals war er Mitglied des britischen Kriegskabinetts. 168 Er war damals Mitglied des britischen Kriegskabinetts, später südafrikanischer Staatsmann, Philosoph, burischer General und britischer Feldmarschall, vgl. https://de.wikipedia.org/ wiki/Jan_Christiaan_Smuts. 169 Sh. Ettinger, Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Die Neuzeit, in: H. H. Ben-S´as´on ˙ (Hrsg.), Geschichte des jüdischen Volkes: von den Anfängen bis zur Gegenwart, 4. Aufl. 1995, S. 887 ff. (1220). 170 Der American Jewish Congress wurde im Dezember 1918 von Zionisten und jüdischen Einwanderungsorganisationen gegründet. Er strebte an, eigene Interessen in den Friedensverhandlungen vertreten zu können. Vgl. D. Engel, American Jewish Congress, in: D. Diner (Hrsg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK), Bd. 1, 2011, S. 72 ff. 171 Sh. Ettinger (Anm. 169), in: H. H. Ben-S´as´on, S. 887 ff. (1220). ˙ 172 Text: F. B. Maurice, The Armistices of 1918, 1943, S. 85 ff. Er wurde unterzeichnet vom türkischen Marineminister Rauf Orbay und vom britischen Admiral Somerset Gough-
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den allein vom Vereinigten Königreich vertreten. Die Osmanen mussten in dieser Vereinbarung auf ihr gesamtes Reich mit Ausnahme Anatoliens verzichten,175 alle Stellungen in Palästina aufgeben und sich aus Hedschas176, Jemen, Syrien, Mesopotamien, Tripolitanien und Cyrene zurückziehen. Ab November 1918 besetzten die Siegermächte einen Großteil des Osmanischen Reiches. Nachdem am 3. Juli 1918 Mehmed V. gestorben war, folgte ihm sein Bruder Mehmed VI.177 als Sultan. Er ging auf alle Forderungen der Siegermächte ein. Nach Abschaffung des Sultanats im November 1922 verließ er Konstantinopel und ging ins Exil nach Malta und Sanremo. 2. Faisal-Weizmann-Abkommen Die Balfour-Deklaration stand im Gegensatz zu den Absichten der Araber, die ein einheitliches arabisches Reich einschließlich Syrien und Palästina anstrebten, das bis nach Mesopotamien reichen sollte.178 Die Araber protestierten zunächst aber nicht. Als aber verschiedene Auffassungen zur Deklaration bekannt wurden, legte man Wert auf eine eigenständige Stellungnahme, damit arabische Interessen berücksichtigt würden. Aus diesem Grund strebten die Juden eine Vereinbarung mit arabischen Repräsentanten an. Zu diesem Zweck traf Chaim Weizmann Ende 1918 in London Faisal I., Sohn des Königs Hussein179, und schloss mit ihm am 3. Januar 1919 auf der Pariser Friedenskonferenz das Faisal-Weizmann-Abkommen180 über die politische Neuordnung Palästinas. Das Faisal-Weizmann-Abkommen legte die Staatsgrenzen Calthorpe an Bord der HMS Agamemnon im Hafen von Moudros auf der griechischen Insel Limnos in der Nordägäis. Vgl. K. Efraim, Empires of the Sand: The Struggle for Mastery in the Middle East, 2001, S. 327; F. B. Maurice, The Armistices of 1918, 1943, S. 20 f. 173 Das sind die Siegermächte des Ersten Weltkriegs (Vereinigtes Königreich, Frankreich, Italien, Japan). 174 G. Krämer (Anm. 94), Geschichte Palästinas, S. 182. 175 P. C. Helmreich, From Paris to Sèvres. The Partition of the Ottoman Empire at the Peace Conference of 1919 – 1920, 1974, S. 3 ff.; der gesamte Vereinbarungstext befindet sich auf S. 341 f. 176 Der Hedschas ist eine Landschaft im westlichen Teil des heute zu Saudi-Arabien gehörenden Gebiets, in dem die beiden Heiligen Stätten des Islam, die Städte Mekka und Medina, liegen. 177 Im Exil lebte der entthronte Sultan zunächst auf Malta, später stellte ihm der italienische König Viktor Emanuel III. eine Villa in San Remo zur Verfügung; vgl. H.-J. Kornrumpf, Mehmet VI. in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas, Bd. 3, 1979, S. 144 f. 178 Vgl. W. Böge/A. Banaschewski, Weltgeschichte in Wort und Bild, Bd. 1, 1971, S. 282; H. Herzfeld, Erster Weltkrieg und Friede von Versailles, in: G. Mann (Hrsg.), Propyläen Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte, Bd. IX, 1991, S. 96. 179 Hussein ibn Ali war von 1908 bis 1916 Emir des Hedschas und Großscherif von Mekka sowie von 1916 bis 1924 König des Hedschas, vgl. L. V. Vaglieri, (Al-)Husayn b. Ali b. AbiTalib, in: The Encyclopaedia of Islam, Bd. 3: H – Iram, 1986, S. 607 ff. 180 Text: http://haltenraum.com/article/faisal-weizmann-abkommen. Dazu: https://de.wikipe dia.org/wiki/Faisal-Weizmann-Abkommen.
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für das von Faisal angestrebte arabische Königreich und den von Weizmann gemäß der Balfour-Deklaration angestrebten jüdischen Staat fest. Die Araber stimmten damit in diesem Übereinkommen der Herauslösung Palästinas aus dem arabischen Königreich und der Existenz eines jüdisch-zionistischen Staates grundsätzlich zu. Es betonte ferner die gemeinsame Abstammung der Juden und Araber. Die Times veröffentlichte am 12. Dezember 1919 einen Artikel, in dem es heißt, dass sich die beiden Hauptzweige der semitischen Familie mit Verständnis gegenüber ständen und die Araber keinen Neid gegenüber den Juden empfänden und sie eine faire Zusammenarbeit anstrebten, wie es ihnen auch von jüdischer Seite zugesichert worden sei.181 Als die vereinbarte Bedingung der arabischen Unabhängigkeit aber nicht eintrat, wurde das Faisal-Weizmann-Abkommen obsolet. Es trat niemals in Kraft. 3. Chaim Weizmann vor dem Obersten Alliierten Rat Am 27. Februar 1919 trugen die Zionisten Chaim Weizmann, Nachum Sokolow und Menachem Ussishkin vor dem Obersten Alliierten Rat ihre Vorstellungen über die künftige Entwicklung eines jüdischen Gemeinwesens vor, wie die Förderung der Zuwanderung und Ansiedlung, Anerkennung einer offiziellen Vertretung der Juden in Palästina und eine Bevorzugung von Juden bei der Vergabe von Konzessionen für unerschlossenes Land.182 Weizmann vertrat die Auffassung, dass die Juden reif für ein Regierungssystem seien, das ihrer Entwicklung entspräche, wenn sie die große Mehrheit in Palästina bildeten. Er forderte also zunächst keine autonome jüdische Regierung, sondern bat um die Zuwanderung von jährlich 70.000 bis 80.000 Juden.183 4. Satzung des Völkerbundes Die Satzung des Völkerbunds184 wurde am 28. Juni 1919 als Bestandteil des Versailler Friedensvertrages unterzeichnet. Sie war jeweils der erste Teil der in Versailles und in anderen Pariser Vororten geschlossenen Friedensverträge. Mit dem Völkerbund wurde erstmals eine weltweit organisierte Staatengemeinschaft mit eigenen Organen geschaffen. Eine wirklich universelle Gemeinschaft wurde allerdings der Völkerbund nie. Da die USA, auf deren Initiative der Völkerbund maßgeblich zurückzuführen war, den Versailler Friedensvertrag nicht ratifizierten und auch später der im Wesentlichen vom Vereinigten Königreich und von Frankreich geführten Organisation fern-
Sh. Ettinger (Anm. 169), in: H. H. Ben-S´as´on, S. 887 ff. (1221). ˙ Sh. Ettinger (Anm. 169), in: H. H. Ben-S´as´on, S. 887 ff. (1220). ˙ 183 Sh. Ettinger (Anm. 169), in: H. H. Ben-S´as´on, S. 887 ff. (1220). ˙ 184 Text: http://www.documentarchiv.de/wr/vv01.html.Satzung. 181 182
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blieben, erlangte der Völkerbund nicht die politische Durchsetzungskraft, die man sich von ihm erwartete. 185 Gemäß Art. 22 der Satzung wurde das Mandatssystem186 im Sinne einer Vormundschaft definiert, welche im Auftrag des Völkerbundes von „entwickelten“ Staaten solange über bestimmte Territorien ausgeübt werden sollte, bis diese selbst eine eigene „Staatsreife“ erlangten. 5. King-Crane Commission und General Syrian Congress Während eines Treffens des Allied Supreme Council zu Fragen der künftigen Mandate erklärte der US-amerikanische Präsident Woodrow Wilson, dass „one of the fundamental principles to which the United States of America adhered was the consent of the governed“. Er schlug eine Inter-alliierte Kommission vor „(…) to elucidate the state of opinion and the soil to be worked on by any mandatory“.187 US-Präsident Woodrow Wilson benannte zwei US-Amerikaner für die Kommission, nämlich Henry King und Charles Crane.188 Kurz nachdem die King-Crane Commission189, offiziell: „Inter-Allied Commission on Mandates in Turkey“, in Damaskus eintraf, versammelten sich arabische Nationalisten im Juli 1919 zu einem „General Syrian Congress“ mit Vertretern aus dem Libanon und aus Palästina.190 Sie verabschiedeten am 2. Juli 1919 eine Resolution, die der Kommission vorgelegt werden sollte. In der Resolution wurde die völlige Unabhängigkeit für Syrien einschließlich Libanon und Palästina gefordert und jede Form von ausländischem Einfluss oder ausländischer Kontrolle abgelehnt: In der Resolution heißt es unter Punkt 8: „We ask that there should be no separation of the southern part of Syria known as Palestine, nor of the littoral western zone, which includes Lebanon, from the Syrian country. We desire that the unity of the country should be guaranteed against partition under whatever circumstances.“191 185
Dem im April 1919 installierten Völkerbund haben nicht einmal alle Staaten Europas, für die diese Organisation in erster Linie erfunden wurde, angehört. Die Sowjetunion blieb dem Völkerbund bis 1934 fern; Deutschland, Japan und Italien gehörten ihm von 1933 bzw. 1937 an nicht mehr an. 186 Dazu näher unten V. 187 The Origins and Evolution of the Palestine Problem: 1917 – 1988, part I 1917 – 1947 vom 30. 6. 1978, in: https://unispal.un.org/DPA/DPR/unispal. 188 Dazu A. Nutting, The Arabs, 1964, S. 68. 189 Dazu insgesamt A. Patrick, America’s Forgotten Middle East Initiative: The King-Crane Commission of 1919, 2015. Ferner: https://en.wikipedia.org/wiki/King%E2 %80 %93Crane_ Commission. 190 Zu den unterschiedlichen Ansichten auf dem Kongress: R. Khalidi, Palestinian Identity: The Construction of Modern National Consciousness, 2010, S. 167 f. 191 Text: J. C. Hurewitz, The Middle East and North Africa in World Politics: A Documentary Record, vol. 2: British-French Supremacy, 1914 – 1945, 1979, S. 180 – 182;
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Das erste Mal legte damit die arabische Opposition eine Deklaration vor, in der ausdrücklich die Unabhängigkeit Syriens gefordert und ein zionistischer Anspruch auf Palästina abgelehnt wurde. In seiner Resolution vom 2. Juli 1919 reagierte der General Syrian Congress in Punkt 7 auch auf die King-Crane Commission: „We oppose the pretensions of the Zionists to create a Jewish Commonwealth in the southern Part of Syria, known as Palestine, and oppose Zionist migration to any part of our country; for we do not acknowledge their title but consider them a grave peril to or people (…).“192
Die King-Crane Commission empfahl daraufhin in ihrem Bericht vom 28. August 1919193 „(…) serious modification of the extreme Zionist programme for Palestine of unlimited immigration of Jews, looking finally to making Palestine distinctly a Jewish State (…)“.
Unter Bezugnahme auf Wilsons Aussagen zum Selbstbestimmungsrecht der Völker bemerkte die Kommission: „If that principle is to rule, and so the wishes of Palestine’s population are to be decisive as to what is to be done with Palestine, then it is to be remembered that the non-Jewish population of Palestine – nearly nine-tenths of the whole – are emphatically against the entire Zionist programme. The tables show that there was no one thing upon which the population of Palestine were more agreed than upon this. To subject a people so minded to unlimited Jewish immigration, and to steady financial and social pressure to surrender the land, would be a gross violation of the principle just quoted, and of the peoples’ rights though it kept within the forms of law; …. The Peace Conference should not shut its eyes to the fact that the anti-Zionist feeling in Palestine and Syria is intense and not lightly to be flouted. No British Officer consulted by the Commissioners believed that the Zionist programme could be carried out except by force of arms. The officers generally thought that a force of not less than 50,000 soldiers would be required even to initiate the programme. That of itself is evidence of a strong sense of the injustice of the Zionist programme, on the part of the non-Jewish populations of Palestine and Syria. Decisions, requiring armies to carry out, are sometimes necessary, but they are surely not gratuitously to be taken in the interests of a serious injustice. For the initial claim, J. McHugo, A Concise History of the Arabs, 2013, S. 121; auch The Origins and Evolution of the Palestine Problem: 1917 – 1988, part I 1917 – 1947 vom 30. 6. 1978, in: https https://uni spal.un.org/DPA/DPR/unispal.nsf/0/AEAC80E740C782E4852561150071FDB0; ferner: United States Government, Foreign Relations of the United States: the Paris Peace Conference (Washington, 1944), vol. XII, S. 780 f.; https://erenow.net/modern/the-modern-middle-east-a-hi story/30.php; ferner: http://www.sixdaywar.co.uk/gloria-report-6-day-war-&-peace-process. htm; vgl. auch D. Pipes, Daniel, Greater Syria: The History of an Ambition, 1992, S. 26. 192 Text: J. C. Hurewitz, The Middle East and North Africa in World Politics: A Documentary Record, vol. 2: British-French Supremacy, 1914 – 1945, 1979, S. 180 – 182. 193 Text: United Nations. Home/History of the Question of Palestine/Origins and Evolution of the Palestine Problem/Part I (1917 – 1947), https://www.un.org/unispal/history/origins-andevolution-of-the-palestine-problem/part-i-1917 - 1947/; The King-Crane Report August 28, 1919. Report of [the] American section of Inter-allied Commission of mandates in Turkey. An official United States government report by the Inter-allied Commission on Mandates in Turkey. American Section https://wwi.lib.byu.edu/index.php/The_King-Crane_Report.
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Gilbert H. Gornig often submitted by Zionist representatives, that they have a ,right‘ to Palestine, based on an occupation of two thousand years ago, can hardly be seriously considered.“194
Der Bericht der King-Crane Kommission betrachtete also die Lebensfähigkeit eines jüdischen Staates in „Syrien“ skeptisch, zumal die Mehrheit der „Syrer“ gegen die Bildung eines jüdischen Staates sei. Die Kommission kam zu dem Ergebnis, dass nur mit bewaffneter Gewalt ein jüdischer Staat überleben könne. Angesichts all dieser Erwägungen und bei aller Sympathie für die jüdische Sache fühlten sich die Kommissare verpflichtet zu empfehlen, dass nur ein stark reduziertes zionistisches Programm umgesetzt werden sollte. Das würde bedeuten, dass die jüdische Einwanderung auf jeden Fall begrenzt werden müsste und dass das Projekt, Palästina zu einem jüdischen Gemeinwesen zu machen, aufzugeben sei.195 Die Empfehlungen der Kommission fanden allerdings wenig Beachtung. 6. Konferenz von Sanremo Auf der Konferenz von Sanremo vom 19. bis 26. April 1920196 wurden Versuche unternommen, die anstehenden Probleme zu lösen. Die Konferenz diente unter anderem der Vorbereitung des Friedensvertrags von Sèvres (August 1920) mit der Türkei. An der Konferenz nahmen das Vereinigte Königreich, Frankreich, Italien und Japan teil. Die USA waren neutrale Beobachter. Die Konferenz wurde erforderlich, weil es widersprüchliche Zusagen der kriegführenden Mächte während des Ersten Weltkriegs an die Völker des Nahen Ostens gab. Während die Hussein-McMahonKorrespondenz von 1915/16 die Mobilisierung der arabischen Stämme zum Aufstand gegen die Osmanen bezweckte, stellte die Balfour-Erklärung von 1917 zur Errichtung einer Heimstätte für das jüdische Volk ein Zugeständnis an den politischen Zionismus dar. Im Sykes-Picot-Abkommen, dem britisch-französischen Geheimabkommen von 1916, verfolgten die Mächte in erster Linie ihre eigenen Interessen. Am Sonntag, 25. April 1920, verabschiedete der Oberste Rat der Alliierten Mächte die Resolution von San Remo. Nach der Resolution sollten drei Mandate erteilt wurden, wie sie in der bereits am 10. Januar 1920 in Kraft getretenen Völkerbundsatzung in Art. 22 angesprochen wurden. Die zukünftigen Staaten Syrien und Libanon sowie Irak wurden von zwei Mandaten betroffen. Im dritten Mandat erkannte der Oberste Rat die „historische Verbindung des jüdischen Volkes zu Palästina und die Grundlage für die Wiederherstellung ihrer nationalen Heimstatt in diesem Land“ an, zudem sollte die Beachtung der „bürgerlichen und religiösen Rechte“ der nichtjüdi194 The Origins and Evolution of the Palestine Problem: 1917 – 1988, part I 1917 – 1947 vom 30. 6. 1978, in: https://unispal.un.org/DPA/DPR/unispal.; ferner: United States Government, Foreign Relations of the United States: the Paris Peace Conference (Washington, 1944), vol. XII, S. 793 ff. 195 The King-Crane Commission Report, August 28, 1919. I. The Report upon Syria. III. Recommendations, E.(3), in: http://www.hri.org/docs/king-crane/syria-recomm.html. 196 Dazu H. K. G. Rönnefarth/H. Euler, Konferenzen und Verträge. Vertrags-Ploetz. Teil II, 4. Band: Neueste Zeit 1914 – 1959, 2. Aufl. 1959, S. 50 f.
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schen Bevölkerung gewährleistet werden.197 Zum ersten Mal in der Geschichte wurde hier Palästina als eine juristische und politische Einheit betrachtet. Es wurde versucht die Balfour-Deklaration umzusetzen, dem jüdischen Volk wurde die Souveränität über Palästina in Aussicht gestellt, wenn das Mandat, dessen Nutznießer das jüdische Volk sein sollte, ablaufen würde. Auch die Verfolgung eigener Interessen erfolgte auf der Konferenz von Sanremo: Frankreich wurde das Völkerbundmandat für Syrien und Libanon zugesprochen, während das Vereinigte Königreich Palästina beiderseits des Jordan und das Britische Mandat Mesopotamien (heutiger Irak) einschließlich des Gebiets von Mosul erhielt. Die genaue Grenzziehung blieb noch offen. In der Folge begrenzten die Briten die jüdische Heimstätte in Palästina auf das Gebiet westlich des Jordan und gestatteten, dass Ostpalästina schrittweise von den Haschemiten verwaltet wurde. Dort entstand dann das Königreich Transjordanien, das 1950 in Jordanien umbenannt wurde. 7. Vertrag von Sèvres Der Vertrag von Sèvres198 vom 10. August 1920, der zwischen der Entente und dem Osmanischen Reich abgeschlossen wurde, gehört zu den Pariser Vorortverträgen, die den Ersten Weltkrieg formal beendeten.199 Es handelte sich dabei wie bei den anderen Friedensverträgen nach dem Ersten Weltkrieg um einen Diktatfrieden. Eine Ratifizierung des Vertrags erfolgte nie, weil der Sultan das Parlament wegen des Untergangs des Osmanischen Reiches und des Sturzes des letzten Sultans Mehmed VI. auflöste. Der Vertrag wurde zudem von der Nationalbewegung unter Mustafa Kemal im Rest der Türkei abgelehnt. Durch den Vertrag von Sèvres (Art. 27) hätte das Osmanische Reich einen Großteil seines Territoriums verloren. Armenien (Art. 88 – 93), Mesopotamien (Art. 94 – 97) und Hedschas (Art. 98 – 100) sollten unabhängig werden. Kurdistan sollte gemäß Art. 62 Autonomie erhalten. Durch Art. 64 wurde darüber hinaus eine mögliche staatliche Unabhängigkeit in Aussicht gestellt. Ostthrakien mit Ausnahme von 197
Zitiert nach: San Remo: der vergessene Meilenstein, https://heplev.wordpress.com/ 2015/04/28/san-remo-der-vergessene-meilenstein/; http://deacademic.com/dic.nsf/dewiki/ 1234695. Vgl. auch Informationszentrum Geschichte und Unabhängigkeit. Die SanremoResolution von 1920, http://eipa.eu.com/de/category/informationszentrum/geschichte-undunabhaengigkeit/die-san-remo-resolution-von-1920/. Ferner: Der Palästina gewidmete Artikel wurde am 24. April verhandelt. Am 25. April 1920 fiel der endgültige Beschluss, die Balfour-Deklaration als einen unzertrennlichen Teil des britischen Mandats in Palästina zu integrieren. In der jüdischen Welt wurde die Sanremo-Resolution gefeiert. 198 Text: http://www.versailler-vertrag.de/sevres/index.htm; https://wwi.lib.byu.edu/index. php/Section_I,_Articles_1_-_260. Dazu R. Banken, Die Verträge von Sèvres 1920 und Lausanne 1923. Eine völkerrechtliche Untersuchung zur Beendigung des Ersten Weltkrieges und zur Auflösung der sogenannten „Orientalischen Frage“ durch die Friedensverträge zwischen den alliierten Mächten und der Türkei, 2014. 199 Dazu ausführlich: R. Banken (Anm. 198), Die Verträge von Sèvres 1920 und Lausanne 1923, 2014, sowie R. Banken hier in diesem Band.
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Istanbul und seiner unmittelbaren Umgebung sollte an Griechenland abgetreten werden (Art. 84 – 87). Nach dem Vertrag von Sèvres hätte die Entente ferner die Souveränität über Westthrakien (einschließlich Adrianopel, heute Edirne) an Griechenland übergeben sollen. Zuvor musste Bulgarien in Art. 48 des Vertrages von Neuilly-surSeine200 vom 27. November dieses Territorium an die Entente abtreten. In Palästina sollte unter Verweis auf die Balfour-Deklaration eine Nationale Heimstätte für das Jüdische Volk entstehen (Art. 95)201.
Abb. 6: Beschlüsse des Vertrags von Sèvres 1920. Don-kun - derivate of File:Vertrag sevres otoman.svg by Thomas Steiner, Quellen des Inhalts sind Putzger Historischer Weltatlas 2005 und DTV-Atlas Weltgeschichte Band 2 2005.
200
Text: http://www.versailler-vertrag.de/neuilly/; vgl. dazu https://de.wikipedia.org/wiki/ Vertrag_von_Neuilly-sur-Seine. Der Vertrag wurde zwischen dem Königreich Bulgarien auf der einen Seite und den Vereinigten Staaten von Amerika, dem Vereinigten Königreich, Frankreich, Italien und Japan sowie weiteren mit diesen Hauptmächten alliierten Staaten auf der anderen Seite geschlossen. 201 Art. 95 Abs. 1 lautet: „The High Contracting Parties agree to entrust, by application of the provisions of Article 22, the administration of Palestine, within such boundaries as may be determined by the Principal Allied Powers, to a Mandatory to be selected by said Powers. The Mandatory will be responsible for putting into effect the declaration originally made on November 2, 1917, by the British Government, and adopted by the other Allied Powers, in favour of the establishment in Palestine of a national home for the Jewish people, it being clearly understood that nothing shall be done which may prejudice the civil and religious rights of existing non-Jewish communities in Palestine, or the rights and political status enjoyed by Jews in any other country.“
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V. Völkerbundmandate 1. Allgemein Für die einstigen Provinzen des Osmanischen Reiches bestimmte Art. 22 der Völkerbundsatzung, dass sie im Prinzip als unabhängige Nationen vorläufig anerkannt werden können. Mandatare waren insbesondere das Vereinigte Königreich und Frankreich. So heißt es in den ersten drei Absätzen des Artikels 22:202 „Auf die Kolonien und Gebiete, die infolge des Krieges aufgehört haben, unter der Souveränität der Staaten zu stehen, die sie vorher beherrschten, und die von Völkern bewohnt sind, die noch nicht imstande sind, sich unter den besonders schwierigen Verhältnissen der modernen Welt selbst zu leiten, finden nachstehende Grundsätze Anwendung. Das Wohlergehen und die Entwicklung dieser Völker bilden eine heilige Aufgabe der Zivilisation, und es erscheint zweckmäßig, in diese Akte Sicherheiten für die Bürgschaften für die Erfüllung dieser Aufgabe aufzunehmen. Der beste Weg, diesen Grundsatz praktisch zu verwirklichen, ist die Übertragung der Vormundschaft über diese Völker an die fortgeschrittenen Nationen, die auf Grund ihrer Hilfsmittel, ihrer Erfahrung oder ihrer geographischen Lage am besten imstande und bereit sind, eine solche Verantwortung auf sich zu nehmen: diese Vormundschaft hätten sie als Beauftragte des Bundes und in dessen Namen zu führen. Die Art des Auftrags muß sich nach dem Maße der Entwicklungsstufe des Volkes, der geographischen Lage seines Gebiets, seinen wirtschaftlichen Bedingungen und nach allen sonstigen entsprechenden Umständen richten.“
Die Gebiete wurden abhängig von ihren Entwicklungsstand in A-, B- und C- Gebiete eingeteilt.203 Palästina wurde gemäß Art. 22 Abs. 4 VBS als ehemaliger Teil des türkischen Reiches als A-Mandat, mithin als ein Gebiet mit einem hohen Entwicklungsgrad, klassifiziert mit der Folge, dass der Mandatar lediglich in Form von Hilfeleistungen und der Erteilung administrativen Rates die Entwicklung solange begleiten soll, bis eine eigene Staatlichkeit gegeben sein würde. Absatz 4 des Artikels 22 lautet: „Gewisse Gemeinwesen, die ehemals zum Türkischen Reiche gehörten, haben einen solchen Grad der Entwicklung erreicht, daß ihr Dasein als unabhängige Nationen vorläufig anerkannt werden kann, unter der Bedingung, daß die Ratschläge und die Unterstützung einer beauftragten Macht ihrer Verwaltung bis zu dem Zeitpunkt zur Seite stehen, wo sie imstande sind, sich selbst zu leiten. Bei der Wahl der beauftragten Macht sind die Wünsche dieser Gemeinwesen in erster Linie zu berücksichtigen.“
Von den dem Vereinigten Königreich zugefallenen Mandatsgebieten erhielt der Irak unter König Feisal I. 1932 die Selbständigkeit. Das britische Mandat über Palästina und Transjordanien überdauerte den Zweiten Weltkrieg. Das Mandat für Pa202
Hier und im Folgenden zitiert nach: Der Vertrag von Versailles, Ullstein Buch Nr. 33090, 1988. 203 A-Mandate: Irak, Palästina und Transjordanien, Syrien und Libanon; B-Mandate: Kamerun, Togo, Tanganijka, Ruanda-Urundi; C-Mandate: Südwestafrika, Westsamoa, Nauru.
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lästina dauerte vom Beginn der Zwanzigerjahre bis zum 14. Mai 1948 um Mitternacht (24:00 Uhr).204 In Transjordanien regierte seit 1921 ein von den Briten als Herrscher eingesetzter Sohn König Husseins als Emir, der nach dem Zweiten Weltkrieg den Königstitel annahm. Frankreich hatte das Mandat über Syrien und Libanon, das 1944 endete. Vor dem Ersten Weltkrieg verfolgten noch weitere europäische Großmächte ihre Interessen im Nahen Osten, teilweise auch gegeneinander. Nach dem Krieg waren Russland, Deutschland und Österreich-Ungarn dazu nicht mehr in der Lage. Von da an war der gesamte Nahe Osten für mehrere Jahrzehnte uneingeschränkt britisch-französisches Einflussgebiet.205 2. Mandat über Palästina Das Völkerbundmandat über Palästina war – wie erwähnt – ein Klasse-A-Mandat, das dem Vereinigten Königreich nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg auf der Konferenz von Sanremo 1920 übertragen wurde.206 Am 24. Juli 1922 wurde die Resolution (Deklaration) von Sanremo in das Völkerbundmandat für Palästina aufgenommen. Am 12. August 1922 verabschiedete der Rat des Völkerbunds den Mandatstext207. Im September 1922, noch vor In204 Die israelische Unabhängigkeitserklärung erfolgte somit noch während der Mandatszeit. Wegen des Ruhegebots am Schabbat konnte die Unabhängigkeitserklärung nicht unmittelbar nach Mandatsende erfolgen. 205 A. Hourani, Die Geschichte der arabischen Völker, 1997, S. 389. 206 Churchill schlug vor, Juden in Libyen anzusiedeln: Vgl. D. Makovsky, Churchill’s Promised Land: Zionism and Statecraft, 2007, S. 219. Das Churchill-Weißbuch von 1922 versuchte den arabischen Wünschen entgegenzukommen. Den Juden hingegen wurde ein „Nationales Heim der Juden“ als kulturelle autonome jüdische Gemeinschaft im Rahmen eines einheitlichen palästinensischen Staates vorgeschlagen, Palästinensisches Feuerwerk, 22. 5. 1948, Spiegel Online, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-44417141.html. In seinem „Weißbuch“ von 1922 führte Churchill ferner das Kriterium wirtschaftlicher „Absorptionsfähigkeit“ ein, um zu entscheiden, wie viele jüdische Immigranten nach Palästina dürften. Es sollte die Einwanderung der Juden begrenzt werden, um die arabische Mehrheit im Land zu sichern. In den Dreißigerjahren und Mitte der Vierzigerjahre wurde die Einwanderungsbegrenzung von Churchill wiederholt. Vgl. dazu: B. Morris, Churchill – ein Zionist?, in: Die Welt. Digital Zeitung, https://www.welt.de/welt_print/article2254972/Churchill-ein-Zionist. html. Gleichwohl schleusten die Juden einen Strom von Einwanderern durch den schmalen Einlass der Quoten hindurch. So stieg die jüdische Einwohnerzahl von 70.000 im Jahre 1920 bis auf 650.000 im Jahre 1948. Die Araber revoltierten, zumal viele von ihnen durch die jüdische Einwanderung landlos wurden. 207 Text des Mandats: League of Nations, Mandate for Palestine, LoN Doc. C. 529.M.314.1922.VI. vom 12. 8. 1922; ferner auf Deutsch: http://dpg-netz.de/wp-content/up loads/Docs/1922-Palaestina_unter_Britischem_Mandat.pdf. danach im Folgenden zitiert. Vgl. ferner https://unispal.un.org/DPA/DPR/unispal. In deutscher Sprache: E. Mareus, Palästina – ein werdender Staat, in: Frankfurter Abhandlungen zum modernen Völkerrecht, Heft 16, 1929, S. 262 ff.; https://palaestina.org/fileadmin/Daten/Dokumente/Abkommen/Historische/ Pal%C3 %A4stina_unter_britischem_Mandat.pdf; http://avalon.law.yale.edu/20th_century/pal manda.asp.
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krafttreten des Völkerbundmandats für Palästina, setzte die britische Regierung die Teilung des Landes in Palästina westlich des Jordan und Transjordanien östlich des Jordan durch (im Flächenverhältnis 22:78).208 Am 29. September 1922 trat das Mandat in Kraft.209. Das Mandat stellte eine weitere völkerrechtliche Grundlage für die auf dem Mandatsgebiet später entstandenen Staaten Israel und Jordanien dar.
Abb. 7: BritishMandatePalestine1920.svg. Authors: Aiden, Ramallite, Zero0000, Pedroca cerebral and Pilettes.
a) Transjordanien Art. 25 der Mandatserklärung erlaubte es dem Vereinigten Königreich, die Mandatsgebiete „zwischen dem Jordan und der endgültig festgelegten Ostgrenze Palästinas“ von der Durchführung von wesentlichen Mandatsbestimmungen, wie denen zur Errichtung einer jüdischen nationalen Heimstätte, vorläufig auszunehmen. Damit wurde sichergestellt, dass östlich des Jordan das halbautonome Emirat Transjordanien210 entstehen konnte und die Errichtung einer nationalen Heimstätte der
208
Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Transjordanien. G. Rotter/Sh. Fathi, Nahost-Lexikon. Der israelisch-palästinensische Konflikt von A–Z, 2001, S. 364. 210 In Transjordanien wurde im Jahre 1921 Abdallah ibn al-Hussain aus der Dynastie der Ha schemiten (Clan des mekkanischen Stammes Quraisch, der nach Ha¯schim ibn Abd Mana¯f, dem Urgroßvater des Propheten Mohammed benannt wurde) zum Emir ernannt. Der Sohn Hussein ibn Alis hatte zugunsten seines Bruders Faisal I. auf den Thron des Irak verzichtet. Dazu M. C. 209
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Juden in Palästina auf das Gebiet westlich des Jordan (Cisjordanien) beschränkt wurde. Die formelle Trennung von Cisjordanien und Transjordanien vollzog sich bereits am 25. März 1923 gemäß Art. 25 des Mandats.211 Jüdische Einwanderer in das Mandatsgebiet durften sich nun nur noch westlich des Jordan niederlassen und nur dort Grundbesitz erwerben. Transjordanien wurde zum souveränen Staat unter der Führung von Abdallah ibn al-Hussain erklärt.212 Im Jahr 1923 wurden in einem Abkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und Frankreich die Golanhöhen vom britischen Mandatsgebiet Palästina abgetrennt und dem französischen Mandatsgebiet Syrien und Libanon angeschlossen.213 Die Abtretung erfolgte in der „Franco-British Convention on Certain Points Connected with the Mandates for Syria and the Lebanon, Palestine and Mesopotamia“214. Das Abkommen wurde am 23. Dezember 1920 in Paris vom britischen Botschafter in Frankreich Charles Hardinge215 und dem französischen Außenminister Georges Leygues216 unterzeichnet. Das Paulet-Newcombe Abkommen217 zwischen der britischen und französischen Regierung vom 7. März 1923, unterzeichnet vom französischen Lieutenant Colonel N. Paulet und dem britischen Lieutenant Colonel S. F. Newcombe, ergänzte das Abkommen von 1920 und legte die Grenze zwischen dem Mandatsgebiet Palästina und dem Mandatsgebiet Mesopotamien fest.
Wilson, King Abdullah, Britain, and the Making of Jordan, 1987; https://de.wikipedia.org/wiki/ Transjordanien. 211 Volks-Ploetz, 5. Aufl. 1991, Transjordanien/Jordanien, S. 770. 212 G. Krämer (Anm. 94), Geschichte Palästinas, S. 185. 213 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Golanh%C3 %B6hen; http://www.land-der-bibel.de/ nordisrael/golanhoehen/golanhoehen.htm. Seit dem Sechstagekrieg im Jahr 1967 befinden sich die Golanhöhen größtenteils unter israelischer Kontrolle. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen forderte Israel im November 1967 in seiner Resolution 242 (Text: http://www.un.org/ depts/german/sr/sr_67/sr242 - 67.pdf) zum Rückzug aus besetzten Gebieten auf. Als Gegenleistung sollte eine Anerkennung Israels und die Respektierung seines Rechts auf Sicherheit erfolgen. Israel annektierte dann am 14. 12. 1981 die Gebiete und verwaltet sie als Teil seines Nordbezirks; die Annexion wurde weder von Syrien noch von den meisten Staaten anerkannt. Am 17. 12. 1981 erklärte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dieses Gesetz auf einer Sondersitzung in seiner Resolution Nr. 497 für null und nichtig (null and void). Eine schmale Pufferzone wird seit 1974 von UN-Friedenstruppen überwacht (UNDOF). 214 Text: AJIL, Vol. 16, No. 3, 1922, S. 122 ff. 215 Dazu: https://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Hardinge,_1._Baron_Hardinge_of_Penshurst. 216 https://de.wikipedia.org/wiki/Georges_Leygues. 217 Text: Agreement between His Majesty’s Government and the French Government respecting the Boundary Line between Syria and Palestine from the Mediterranean to El Hámmé. Paris, March 7, 1923, Treaty Series No. 13 (1923), Cmd. 1910. Ferner: http://www.hartzman. com/Israel/Mandate%20Era/British-French%20Boundary%20Agreement,%201923.pdf.
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Transjordanien erhielt im Jahr 1925 Zugang zum Meer, indem es ein Abkommen mit dem jungen Königreich Saudi-Arabien218 schloss und daraufhin den großen südlichen Bezirk Ma an mit der Hafenstadt Akaba erhielt.219 b) Cisjordanien aa) Mandatsbestimmungen Das Gebiet westlich des Jordan, also Cisjordanien, wird für das jüdische Volk vorgesehen. Wenn nun von Palästina die Rede ist, versteht man darunter nur noch die Gebiete westlich des Jordan. In der Präambel der Mandatserklärung wird anerkannt, dass es eine historische Verbindung des jüdischen Volkes mit Palästina gibt:220 „In Anbetracht dessen, daß die alliierten Hauptmächte zur Durchführung der Bestimmungen des Artikels 22 des Covenants des Völkerbundes übereingekommen sind, die Verwaltung des Territoriums von Palästina, das früher zum türkischen Reich gehörte innerhalb der von ihnen zu fixierenden Grenzen einem von den erwähnten Mächten zu wählenden Mandatar anzuvertrauen, … … und daß dadurch die Anerkennung der historischen Verknüpftheit (historical connection) des jüdischen Volkes mit Palästina und der Grundlagen für die Wiedererrichtung seiner nationalen Heimstätte in diesem Lande erfolgt ist; …
Völkerrechtlich ist allerdings eine historische Verbindung für einen Gebietsanspruch ohne Belang. Ferner wird festgelegt, dass das Vereinigte Königreich das Mandat über das Land erhalten solle: … und daß die alliierten Hauptmächte Seine Britische Majestät als Mandatar für Palästina gewählt haben; …
Das Mandat führt in den Art. 4, 6 und 7 konkrete Maßnahmen auf wie: Anerkennung und Zusammenarbeit mit einer jüdischen Vertretung, die Förderung einer jüdischen Ansiedlung unter angemessenen Bedingungen durch Zurverfügungstellung von Staats- und Brachländereien und Erleichterungen bei der Einwanderung sowie bei dem Erwerb der palästinensischen Staatsbürgerschaft durch Juden. Art. 4: Eine angemessene jüdische Vertretung (,,Jewish Agency“) soll als eine öffentliche Körperschaft anerkannt werden zu dem Zweck, die Verwaltung Palästinas in solchen wirt218 Emir Abd al-Aziz II. ibn Saud befreite seine Dynastie und seinen Stamm von der Unterordnung unter das Osmanische Reich. Entscheidend für die Entstehung des Landes war ferner der militärische Sieg Ibn-Sauds im Jahr 1925 über die konkurrierende Dynastie der Haschemiten, die dabei ihr Stammkönigreich Hedschas verlor. Siehe dazu A. Vassiliev, The History of Saudi Arabia, 2000. 219 Vgl. A. Shlaim, Lion of Jordan, 2007, S. 16; M. Chr. Wilson, King Abdullah, Britain and the Making of Jordan, 1987, S. 100. 220 Hier und im Folgenden zitiert nach: E. Mareus, Palästina – ein werdender Staat, in: Frankfurter Abhandlungen zum modernen Völkerrecht, Heft 16, 1929, S. 262 ff.
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schaftlichen, sozialen und anderen Angelegenheiten zu beraten und mit ihr zusammenzuwirken, die die Errichtung der jüdischen nationalen Heimstätte und die Interessen der jüdischen Bevölkerung in Palästina betreffen, und, immer vorbehaltlich der Kontrolle durch die Verwaltung, an der Entwicklung des Landes zu helfen und teilzunehmen. Die Zionistische Organisation soll, solange ihre Organisation und Verfassung nach der Meinung des Mandatars angemessen sind, als solche Vertretung anerkannt werden. Sie soll im Einvernehmen mit seiner Britischen Majestät Regierung Schritte unternehmen, um die Mitarbeit aller Juden zu sichern, die gewillt sind, bei der Errichtung der jüdischen nationalen Heimstätte zu helfen … Art. 6: Die Verwaltung Palästinas soll unter der Sicherung, daß die Rechte und die Lage anderer Teile der Bevölkerung nicht beeinträchtigt werden, die jüdische Einwanderung unter geeigneten Bedingungen erleichtern und in Zusammenarbeit mit der in Artikel 4 erwähnten ,,Jewish Agency“ eine geschlossene Ansiedlung von Juden auf dem Lande, mit Einschluß der nicht für öffentliche Zwecke erforderlichen Staatsländereien und Brachländereien, fördern. Art. 7: Die Verwaltung von Palästina soll für den Erlaß eines Gesetzes über die Staatsangehörigkeit verantwortlich sein. In dieses Gesetz sollen Bestimmungen aufgenommen sein, die so gefaßt sind, daß sie die Erwerbung der palästinensischen Staatsbürgerschaft durch Juden, die ihren dauernden Aufenthalt in Palästina nehmen, erleichtern.
Nach Art. 5 ist der Mandatar dafür verantwortlich, dass kein palästinensisches Gebiet an die Regierung einer ausländischen Macht abgetreten oder verpachtet oder in irgendeiner Weise unter die Kontrolle einer Regierung gestellt wird. bb) Mandatszeit Im Jahr 1922 wurde, in Erfüllung der Mandatsverpflichtungen, die Jewish Agency for Palestine gegründet. Ihr wurde beispielsweise die Aufgabe übertragen, die jüdische Einwanderung zu steuern und jüdische Interessen gegenüber dem Mandatar zu vertreten. Am 1. Juli 1922 wurde die bestehende britische Militärverwaltung von einer Zivilverwaltung unter dem ersten britischen Hochkommissar Herbert Louis Samuel221 abgelöst.222 Im Palästina der Mandatszeit lebten die jüdische und die arabische Gemeinschaft fast vollständig getrennt in Siedlungen und Wohnvierteln.223 Auch das Bildungssystem entwickelte sich unter britischem Mandat unterschiedlich für die jüdische und arabische Bevölkerung.224
221 Samuel wurde „Hoher Kommissar“ über Palästina unter dem britischen Kolonialministerium, noch bevor sich die Siegermächte des Ersten Weltkrieges über die Aufteilung ihrer Eroberungen als „Mandate“ geeinigt hatten. Er trat sein Amt am 1. 7. 1920 an. Dazu: J. Bowle, Viscount Samuel. A Biography, 1957. 222 P. Malanczuk, Israel: Status, Territory and Occupied Territories, in: R. Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law (EPIL), Bd. 2 (1995), S. 1468 (1473). 223 D. Horowitz/M. Lissak (Anm. 89), Origins of the Israeli Polity, S. 17. 224 G. Krämer (Anm. 94), Geschichte Palästinas, S. 211.
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Beide Bevölkerungsgruppen betrachteten sich als Teile größerer nationaler Einheiten außerhalb Palästinas.225 Die arabisch-palästinensische Seite orientierte sich an der in Syrien und anderen arabischen Gebieten aufstrebenden arabischen Nationalbewegung, welche eine unabhängige Einheit Syriens mit Palästina anstrebte.226 Dagegen war die jüdische Bevölkerung mit der zionistischen Bewegung außerhalb Palästinas ideologisch verbunden und von dieser finanziell abhängig.227 Juden und Araber kommunizierten nach der Einrichtung des Mandats in der Regel über die britische Administration und nicht direkt miteinander.228 Im Laufe der Zeit kam es zu ersten Gewaltausbrüchen zwischen den Arabern und den Juden. Gewalttätige Übergriffe auf die jüdischen Bevölkerungsteile gab es dort, wo arabische Bauern in Folge der durch jüdische Zuwanderer getätigten Bodenkäufe von gewohnheitsmäßigen Weiderechten abgeschnitten wurden.229 Der Antisemitismus in Europa, insbesondere nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Deutschen Reich, führte zu immer höheren Flüchtlingszahlen. Der Anteil der jüdischen Bevölkerung in Palästina wuchs von etwa 175.000 Menschen im Jahre 1931 auf rund 370.000 Menschen im Jahr 1936 an.230 cc) Programme und Pläne zur Lösung des Konflikts (1) Peelbericht Im Jahr 1937 setzte die Mandatsregierung eine Untersuchungskommission ein, um die Ursachen der Konflikte zwischen den beiden Bevölkerungsteilen zu beleuchten. Im Juli 1937 wurde der so genannte Peel-Bericht231 vorlegt. Darin stellte die Kommission unter Vorsitz von Lord William Peel232 fest, dass sich die Gegensätze zwischen beiden Gesellschaften als unüberbrückbar erwiesen hätten. Das britische Mandat, einerseits eine „Heimstätte“ für die Juden zu schaffen und andererseits Palästina in die Unabhängigkeit zu führen, sei in der gegebenen Form nicht länger haltbar.233 Die Kommission empfahl das Mandatsgebiet in einen jüdischen und einen ara225 T. Miller, Die Frage der Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge – unter Berücksichtigung der Lösungsansätze der Vereinten Nationen, 2006, S. 17. 226 A. Flores (Anm. 87), in: Mejcher, S. 97. 227 D. Horowitz/M. Lissak (Anm. 87), Origins of the Israeli Polity, S. 32. 228 D. Horowitz/M. Lissak (Anm. 87), Origins of the Israeli Polity, S. 33. 229 J. Glasneck/A. Timm, Israel. Die Geschichte eines Staates seit seiner Gründung, 2. Aufl. 1994, S. 29; A. Flores (Anm. 87), in: Mejcher, S. 90. 230 G. Krämer (Anm. 94), Geschichte Palästinas, S. 280. 231 League of Nations. Mandates Palestine Report of the Palestine Royal Commission presented by the Secretary of State for the Colonies to the United Kingdom Parliament by Command of His Britannic Majesty (July 1937). Distributed at the request of the United Kingdom Government. Series of League of Nations Publications, Text: https://www.jewishvir tuallibrary.org/text-of-the-peel-commission-report. 232 Dazu: https://de.wikipedia.org/wiki/William_Peel,_1._Earl_Peel. 233 The Peel Commission Report (July 1937), S. 371.
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bischen Staat sowie eine britisch verwaltete Mandatszone um Jerusalem herum unter Einschluss der heiligen Stätten zu teilen.
Abb. 8: https://de.wikipedia.org/wiki/ Datei:Peel.jpg.
Die britische Regierung ließ den Teilungsplan aber später fallen. (2) Woodhead-Kommission Die britische Woodhead-Kommission234, eingesetzt im Februar 1938, sollte Teilungsvorschläge für Palästina entwickeln, sodass Juden und Araber in getrennten Staaten leben könnten. Die Kommission kam aber in ihrem Bericht vom 9. Novem-
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Dazu: https://en.wikipedia.org/wiki/Woodhead_Commission.
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ber 1938 zum Ergebnis, dass eine Teilung wegen „political, administrative and financial difficulties“235 nicht durchführbar sei. (3) Morrison-Plan Am 31. Juli 1946 schlug der stellvertretende Premierminister Herbert Morrison unter Heranziehung des Rates einer Expertengruppe dem Britischen Parlament seinen Morrison-Plan236 (auch Morrison-Grady Plan)237 vor. Danach sollte Palästina in vier Zonen geteilt werden: eine arabische Provinz, eine jüdische Provinz, der Distrikt Jerusalem unter internationalem Mandat und der Distrikt Negev, mit autonomer Regierung unter britischem Einfluss.238 Die arabischen Staaten diskutierten den Plan mit den Briten auf der Londoner Konferenz von 1946/47239; sie lehnten den Plan mit der Begründung ab, dass er zu einer Teilung führen würde. Sie schlugen stattdessen einen unabhängigen Einheitsstaat vor. Die Juden weigerten sich, an der Konferenz teilzunehmen, da sie bereits den vorläufigen Autonomieplan auf einer separaten zionistischen Konferenz abgelehnt hatten.240 (4) Bevin-Plan Der Bevin-Plan241 (auch Bevin-Beeley-Plan)242 war der letzte Versuch des Vereinigten Königreichs in der Mitte des 20. Jahrhunderts, die verfahrene Situation zwischen Arabern und Juden im Mandatsgebiet Palästina zu lösen. Der Plan wurde vom britischen Außenminister Ernest Bevin auf der Londoner Konferenz von 1946/47243 vorgeschlagen, nachdem der Morrison-Grady-Plan gescheitert war.244 Aber auch der Bevin-Plan wurde von allen Parteien abgelehnt.245 Der Plan behielt das im MorrisonGrady-Plan vorgeschlagene Prinzip der Kantonalisierung bei und schlug gleichzeitig 235 Woodhead commission report, S. 236, Text: https://archive.org/details/WoodheadCom mission. 236 Dazu https://en.wikipedia.org/wiki/Morrison%E2 %80 %93Grady_Plan. 237 Henry F. Grady war ein US-Diplomat. 238 F. J. Khouri, The Arab-Israeli Dilemma, 1985, S. 36 ff. 239 Die Londoner Konferenz, die zwischen September 1946 und Februar 1947 stattfand, wurde von der britischen Regierung einberufen, um über die Lösung der Palästina-Frage zu beraten und ein Ende des Mandats auszuhandeln. 240 St. L. Spiegel, The Other Arab-Israeli Conflict: Making America’s Middle East Policy, from Truman to Reagan, 2014, S. 24. 241 J. F. D. Fine, A State Is Born: The Establishment of the Israeli System of Government, 1947 – 1951, 2018, S. 4 ff. 242 Bevin war vom Diplomaten Harold Beeley beraten worden. 243 Die Londoner Konferenz, die zwischen September 1946 und Februar 1947 stattfand, wurde von der britischen Regierung einberufen, um über die Lösung der Palästina-Frage zu beraten und ein Ende des Mandats auszuhandeln. 244 E. J. Ravndal, Exit Britain: British Withdrawal From the Palestine Mandate in the Early Cold War, 1947 – 1948, in: Diplomacy and Statecraft, 21 (3), 2010, S. 416 ff. 245 Dazu: H. Levenberg, Bevin’s Disillusionment: The London Conference, Autumn 1946, in: Middle Eastern Studies, Vol. 27, No. 4 (October 1991), S. 615 ff.
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vor, dass Palästina unter ein fünfjähriges Treuhandsystem gestellt wird.246 Aus jüdischer Sicht war der Plan schon deswegen schlechter als der Morrison-Grady-Plan, da er am Ende der Treuhandschaft keine Teilung vorschlug, sondern die Wahl einer „konstituierenden Versammlung“, wobei die Entscheidungen eine Mehrheit der jüdischen Vertreter und eine Mehrheit der arabischen Repräsentanten erfordern würden.247 Nach der Ablehnung hat die britische Regierung das Thema Palästina den Vereinten Nationen vorgelegt, was zur Einrichtung des Sonderausschusses der Vereinten Nationen für Palästina führte. (5) UN-Teilungsplan Der UN-Teilungsplan von 1947248, durch den auf dem Gebiet Palästinas ein jüdischer und ein arabischer Staat249 entstehen sollte, setzte ein gutnachbarliches Verhältnis von Juden und Arabern voraus, das schon lange nicht mehr bestand. Er wurde aber von den USA und der Sowjetunion unterstützt, weil sie einen Rückzug des Vereinigten Königreichs aus Palästina wünschten. Der Plan scheiterte allerdings an der Ablehnung der arabischen Seite. Für sie verletzte der Plan die Rechte der Mehrheitsbevölkerung in Palästina, die zu diesem Zeitpunkt mehrheitlich nicht-jüdischen Religionen angehörten.250 VI. Israel und Palästina als Staaten 1. Israel Bereits während des Zweiten Weltkriegs debattierte die britische Regierung über eine Teilung des Landes und den Rückzug der britischen Truppen aus Palästina. Da das Vereinigte Königreich keine Möglichkeit sah, den Palästina-Konflikt zu lösen, gab es bekannt, sich am 14. Mai 1948 aus Palästina zurückzuziehen.251 Das Ende des britischen Völkerbundmandats für Palästina erfolgte am 14. Mai 1948, einem Freitag um Mitternacht. Auf der Versammlung des Jüdischen National-
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E. J. Ravndal (Anm. 244), in: Diplomacy and Statecraft, 21 (3), 2010, S. 416 ff. Vgl. Art.16 Bevin-Plan: „Termination of Trusteeship Agreement“. 248 Resolution der Generalversammlung, verabschiedet am 29. 11. 1947, A Res.181 (II). Die künftige Regierung Palästinas, Text: https://unispal.un.org/DPA/DPR/unispal; http://www. un.org/depts/german/gv-early/ar181-ii.pdf. 249 In dem vorgeschlagenen jüdischen Staat hätte es nach Angaben der jüdischen Einwanderungsbehörde eine Bevölkerung von 498.000 Juden und 325.000 Nichtjuden gegeben, in dem arabischen Staat hätten 807.000 Nichtjuden und 10.000 Juden gelebt. Zahlen aus: https:// de.wikipedia.org/wiki/UN-Teilungsplan_f%C3 %BCr_Pal%C3 %A4stina. 250 Dazu: https://de.wikipedia.org/wiki/UN-Teilungsplan_f%C3 %BCr_Pal%C3 %A4stina. 251 T. Segev, Es war einmal ein Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels, 2005. 247
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Abb. 9: UN_Partition_Plan_For_Palestine_1947.svg licensed with Cc-pd-mark-footer, PD-USGov.
rats im Stadtmuseum von Tel Aviv um 16 Uhr, dem Erev Schabbat252, verkündete David Ben Gurion mit der israelischen Unabhängigkeitserklärung253 „kraft des natürlichen und historischen Rechts des jüdischen Volkes und aufgrund des Beschlusses der UNO-Vollversammlung“ die Errichtung des Staates Israel.254 So heißt es zu Beginn der Präambel: „Im Lande Israel entstand das jüdische Volk. Hier prägte sich sein geistiges, religiöses und politisches Wesen. Hier lebte es frei und unabhängig, Hier schuf es eine nationale und universelle Kultur und schenkte der Welt das Ewige Buch der Bücher. Durch Gewalt vertrieben, 252
Am Erev Sabbat, also freitags bis zum Anbruch des Abends, wird der Ruhetag (1 Mose/ Genesis 2,2 f), der Sabbat, in jüdischen Haushalten vorbereitet. 253 Originaldokument, in: http://www.hagalil.com/israel/independence/declaration.htm. 254 W. Seitz, Durch das Schwert wiedergebrachtes Land: Fakten der Liebe Gottes, 2015, Kapitel 4.5 und 4.6.
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blieb das jüdische Volk auch in der Verbannung seiner Heimat in Treue verbunden. Nie wich seine Hoffnung. Nie verstummte sein Gebet um Heimkehr und Freiheit. Beseelt von der Kraft der Geschichte und Überlieferung suchten Juden aller Generationen in ihrem alten Lande wieder Fuß zu fassen. Im Laufe der letzten Jahrzehnte kamen sie in großen Scharen. Pioniere, Verteidiger und Einwanderer, die trotz der Blockade den Weg in das Land unternahmen, erweckten Einöden zur Blüte, belebten aufs neue die hebräische Sprache, bauten Dörfer und Städte und errichteten eine stets wachsende Gemeinschaft mit eigener Wirtschaft und Kultur, die nach Frieden strebte, aber sich auch zu schützen wußte, die allen im Lande die Segnungen des Fortschritts brachte und sich vollkommene Unabhängigkeit zum Ziel setzte. (…)“255
Einige Stunden nach der Ausrufung des Staates Israel eröffneten die Armeen Transjordaniens, des Irak, des Libanon, Ägyptens und Syriens einen Krieg gegen Israel, den die Palästinenser „Palästinakrieg“, die Israelis „Unabhängigkeitskrieg“ nennen.256 In diesem Krieg verteidigten die jüdischen Siedler ihr Gebiet und erweiterten es gegenüber dem UN-Teilungsplan um 21 % auf 77 % des Gebietes von Palästina.257 Insbesondere Galiläa und Teile der Wüste Negev wurden hinzugewonnen. Das West jordanland konnte von Transjordanien annektiert werden, was zur Bildung des Königreiches Jordanien führte. In den Jahren 1948 und 1949 verließen über zwei Drittel der arabischen Bevölkerung Palästina. Die Flüchtlingszahlen schwanken nach israelischer Zählung zwischen 500.000 und 600.000, nach arabischer Zählung zwischen 800.000 bis eine Million Menschen.258 Die Vereinigten Staaten von Amerika erkannten Israel völkerrechtlich noch am 15. Mai 1948 de facto an, die de jure-Anerkennung259 erfolgte am 25. Januar 1949 nach der ersten demokratischen Knesset-Wahl. Drei Tage darauf folgte die de jure-Anerkennung260 der Sowjetunion, sie nahm die ersten diplomatischen Bezie255
Zitiert nach: http://www.hagalil.com/israel/independence/azmauth.htm. Vgl. dazu: B. Morris, 1948. A History of the First Arab-Israeli War, 2008; Y. Gelber, Palestine 1948. War, Escape and the Emergence of the Palestinian Refugee Problem, 2006; E. Karsh, The Arab Israeli Conflict. The Palestine War 1948, 2002; ferner: E. L. Rogan/ A. Shlaim (Hrsg.), The War for Palestine. Rewriting the History of 1948, 2001; R. Geyer/E. von Vietsch (Anm. 6), Israel, in: Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 6, S. 262. 257 E. Krautkrämer, Der israelisch-palästinensische Konflikt, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bd. 20 (2004), S. 3 ff. (5); R. Geyer/E. von Vietsch (Anm. 6), Israel, in: Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 6, S. 262. 258 R. Geyer/E. von Vietsch (Anm. 6), Israel, in: Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 6, S. 262. 259 Eine de facto-Anerkennung ist eine vorläufige Anerkennung, die in der Regel dann vorgenommen wird, wenn der neue Staat noch nicht vollkommen konsolidiert ist, möglicherweise gibt es auch Zweifel an der Legitimität der Staatsgewalt. Häufig ergeht zunächst eine de facto-Anerkennung, der dann die de iure-Anerkennung folgt, sobald der Bestand des neuen Staates als gesichert gelten kann. Vgl. Ch. L. Cochran, De facto and de iure Recognitions: Is There a Difference? in: AJIL, Bd. 62 (1968), S. 457 ff. 260 Unter einer de iure-Anerkennung versteht man die endgültige und vorbehaltlose Anerkennung eines Herrschaftsverbandes als Staat. Die Anerkennung de iure ist prinzipiell unwiderruflich, sie kann nur zurückgenommen werden, wenn die Voraussetzungen der Staatlichkeit 256
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hungen auf. Am 12. Mai 1965 nahmen die Bundesrepublik Deutschland und der Staat Israel offizielle diplomatische Beziehungen zueinander auf.261 2. Palästina Am 22. November 1974 wurde die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO)262 von den Vereinten Nationen als Interessenvertretung des palästinensischen Volkes anerkannt. Die PLO erhielt einen Sonderstatus, der es ihren Vertretern erlaubte, an UN-Sitzungen teilzunehmen, allerdings vorerst ohne Rederecht.263 Achtunddreißig Jahre später, am 29. November 2012, wurde der Status der PLODelegation als Staat Palästina zum Beobachterstaat („non member observer state status“) der Vereinten Nationen aufgewertet (UN-Resolution 67/19).264 Der Antrag des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas erhielt 2012 in der Abstimmung in der Generalversammlung 138 Ja- und 9 Nein-Stimmen bei 41 Enthaltungen und fünf Abwesenheiten.265 Mit dem neuen Status als Beobachterstaat bescheinigen die Vereinten Nationen den Palästinensern praktisch Staatsqualität. Die Autonomiebehörde in
wieder entfallen. Mit der de iure-Anerkennung wird in der Regel die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen verbunden sein. 261 Dazu: L. Mertens (Hrsg.), Deutschland und Israel. Ausgewählte Aspekte eines schwierigen Verhältnisses (= Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung. Bd. 88), 2006; A. Oz, Israel und Deutschland. Vierzig Jahre nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen, 2005. 262 Die Palästinensische Befreiungsorganisation ist eine Dachorganisation verschiedener Fraktionen, die die Vertretung aller Palästinenser anstrebt. Die weitaus stärkste Fraktion ist die Fatah. Sie war lange Zeit eine Terrororganisation. Heute ist die Hamas eine sunnitisch-islamistische palästinensische Terrororganisation. 263 Vgl. United Nations General Assembly Resolution 3210: „Invites the Palestine Liberation Organization, the representative of the Palestinian people, to participate in the deliberations of the General Assembly on the question of Palestine in plenary meetings.“ Ferner: United Nations General Assembly Resolution 3236: „Having heard the statement of the Palestine Liberation Organization, the representative of the Palestinian people, (…)“. Schließlich: United Nations General Assembly Resolution 3237: In dieser Resolution wurde der PLO am 22. 11. 1974 der Beobachterstatus gewährt. 264 Resolution adopted by the General Assembly without reference to a Main Committee (A/67/L.28 and Add.1). Res. 67/19. Status of Palestine in the United Nations, https://unispal. un.org/DPA/DPR/unispal.nsf/. Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/United_Nations_General_As sembly_resolution_67/19. 265 Die Abstimmung zeigte eine tiefe Zerrissenheit der Europäer in der Nahost-Politik. Während sich neben Deutschland beispielsweise auch das Vereinigte Königreich und Tschechien enthielten, stimmten Frankreich, Italien, Spanien und Schweden für den neuen Status der Palästinenser. Vgl. auch H. M. Heyn/I.-M. Stettner/J. Knoch, Palästina wird Beobachterstaat bei den Vereinten Nationen. Rückenwind für Abbas und Stärkung vor neuen Verhandlungen, 2012, http://www.kas.de/wf/doc/kas_32941 - 544 - 1 - 30.pdf? Siehe ferner: https://en.wikipedia.org/wiki/United_Nations_General_Assembly_resolution_ 67/19.
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Ramallah kann nun bestimmten UN-Organisationen266 und völkerrechtlichen Verträgen beitreten. Außerdem erhält sie Zugang zur internationalen Gerichtsbarkeit, kann also auch vor internationalen Gerichten gegen Israel klagen. Im Juni 1988 verzichtete Jordanien auf seine Ansprüche bezüglich des Westjordanlandes. Hussein I. von Jordanien forderte die PLO dazu auf, sich eigenständig um einen arabischen Staat in Palästina zu bemühen.
Abb. 10: http://www.israel-guide.de/israel/karten/karte-westjordanland.
Der Staat Palästina wurde am 15. November 1988 in Algier von der Palästinensischen Befreiungsorganisation als Staat der Palästinenser ausgerufen. Die Gründer beanspruchten das von Israel seit 1967 besetzte Westjordanland und den Gazastreifen mit Ostjerusalem als Hauptstadt des Staatsgebiets. Seine Staatlichkeit ist völkerrechtlich umstritten. Da die Ausrufung zu einem Zeitpunkt erfolgte, als sich die PLO im tunesischen Exil befand und keine effektive Staatsgewalt über die beanspruchten Ge266 So ergibt sich für Palästina die Chance auf Mitgliedschaft in Unterorganisationen der Vereinten Nationen wie beispielsweise UNICEF, dem Entwicklungsprogramm UNDP und dem Umweltprogramm UNEP. Dies hat aber weitreichende Folgen für die Arbeit der Vereinten Nationen, da es in den Vereinigten Staaten seit 1994 eine gesetzliche Regelung gibt, die es dem Land verbietet, Unterorganisationen der Vereinten Nationen finanziell zu unterstützen, wenn diese einer international nicht als Staat anerkannten „Organisation oder Gruppierung“ Mitgliedschaft gewähren; H. M. Heyn/I.-M. Stettner/J. Knoch (Anm. 265), Palästina wird Beobachterstaat bei den Vereinten Nationen. Rückenwind für Abbas und Stärkung vor neuen Verhandlungen, 2012.
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biete und das dort lebende Volk ausübte, konnte nach der Drei Elemente-Lehre kein Staat entstehen. Dem Schritt kam zunächst nur symbolische Bedeutung zu. Dennoch hatten bis 1990 fast 100 Staaten einen Staat Palästina anerkannt. Diese Anerkennung kann aber einen Nichtstaat nicht zum Staat machen, kann also auch nur symbolischer Natur sein. Heute erkennen 137 Staaten den „Staat“ Palästina an. Die Bundesrepublik Deutschland hat völkerrechtsgemäß keine Anerkennung Palästinas als Staat ausgesprochen.267 Da das Staatsgebiet in der Unabhängigkeitserklärung vom 15. November 1988 nicht definiert wurde, präzisierte der Palästinensische Nationalrat, dass er sich hinsichtlich des Gebiets auf die Resolution 242268 des UN-Sicherheitsrates vom 22. November 1967 beziehe und die 1967 von Israel besetzten Gebiete beanspruche, also den Gazastreifen und das Westjordanland mit Ostjerusalem als Hauptstadt des Staatsgebiets. Die UNO definiert auch die Nachfahren der rund 700.000 im Jahre 1948 vertriebenen und geflüchteten Palästinenser als „Flüchtlinge“.269 Bis zum Jahre 1988 hatte die PLO die UN-Resolution 242 noch abgelehnt und verlangt, Israel müsse alle besetzten Gebiete vollständig räumen. Viele Palästinenser betrachten ganz Palästina als eigenes Land und lehnen Frieden mit Israel nach wie vor ab. Terrorismus wird von vielen als adäquates Mittel betrachtet, die Ziele der Palästinenser durchzusetzen.270 Es sei darauf hingewiesen, dass Deutschlands Vertriebene bereits 1950 auf die Anwendung jeglicher Gewalt verzichteten271. „Palästinenser genießen eine breite Sympathie, von der deutsche Vertriebene nur träumen können“.272 267 J. Vesey-Byrne, Which countries recognise Palestine? (mit interaktiver Karte der anerkennenden und nicht anerkennenden Staaten), indy100.com (The Independent) vom 8. November 2017. https://www.indy100.com/article/palestinians-recognised-which-countries-palesti nian-state-statehood-recognition-balfour-declaratio. 268 Die UN-Resolution 242 vom 22. November 1967 war eine Reaktion auf den Sechstagekrieg, Text: https://undocs.org/S/RES/242(1967); http://www.un.org/depts/german/sr/sr_67/ sr242 - 67.pdf. 269 Man stelle sich vor, wie viele deutsche Flüchtlinge und Vertriebene es heute gäbe, wenn auch Deutschland diesen UN-Maßstab anlegte; vgl. M. Wolffsohn, Menschenrechte? Welche Menschenrechte? Rede anlässlich der Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises an ihn am 21. 10. 2018, in: https://www.welt.de/debatte/kommentare/article182440456/Menschen rechte-sind-in-Deutschland-in-der-Defensive.html. 270 Deutschland ächtet und verdammt zwar Terrorismus. Gleichzeitig überweist die Bundesregierung an die Exekutive der Palästinenser, die Hinterbliebene nachweislicher Terroristen mit „Märtyrerrenten“ versorgt und in Schulbüchern antijüdische Hetze betreibt. Darauf weist hin: M. Wolffsohn (Anm. 269), Menschenrechte? Welche Menschenrechte? Rede anlässlich der Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises. 271 „Deutschlands Vertriebene sagen längst nicht mehr, Schlesien, Ostpreußen oder das Sudetenland ,ist unser‘. Sie sagen: Es war unsere Heimat. Hitlerdeutschland hat den Krieg begonnen und verloren. Wir gaben Land für Frieden, Frieden ist das höchste Gut, und gut geht es uns.“ So M. Wolffsohn (Anm. 269), Menschenrechte? Welche Menschenrechte? Rede anlässlich der Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises. 272 So M. Wolffsohn (Anm. 264), Menschenrechte? Welche Menschenrechte? Rede anlässlich der Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises.
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VII. Resümee Historische Ansprüche auf ein Territorium sind völkerrechtlich unbedeutend. Das Ende des britischen Völkerbundmandats für Palästina erfolgte am 14. Mai 1948. Auf der Versammlung des Jüdischen Nationalrats im Stadtmuseum von Tel Aviv um 16 Uhr, dem Erev Schabbat, verkündete David Ben Gurion mit der israelischen Unabhängigkeitserklärung den Staat Israel, der sich mit effektiver Staatsgewalt gegen die Angriffe auf sein Territorium und sein Volk durch die Nachbarn behaupten konnte. Der Staat Palästina wurde am 15. November 1988 in Algier von der Palästinensischen Befreiungsorganisation als Staat der Palästinenser ausgerufen. Die Gründer beanspruchten das von Israel seit 1967 besetzte Westjordanland und den Gazastreifen mit Ostjerusalem als Hauptstadt des Staatsgebiets. Da die Ausrufung zu einem Zeitpunkt erfolgte, als sich die PLO im tunesischen Exil befand und keine effektive Staatsgewalt über die beanspruchten Gebiete und das dort lebende Volk ausübte, konnte nach der Drei Elemente-Lehre kein Staat entstehen. * Abstract Gilbert H. Gornig: The Beginning of the Palestine Question and the Middle East Conflict (Der Beginn der Palästinafrage und des Nahostkonflikts), in: World War I and its Consequences for the Coexistence of Peoples in Central and Eastern Central Europe, vol. 3 (Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Bd. 3), ed. by Gilbert H. Gornig and Adrianna A. Michel (Berlin 2019), pp. 61–111. Since the early Bronze Age (around 3200 to 2200 BC) numerous city-states have been found in the area of today’s Palestine, which were under Egyptian influence. After a conquest by the Persians, Judah and Samaria became a Persian province about 445 BC, and was ruled by a Persian governor. Moses and finally Joshua led the Israelites from Egypt, where they lived in slavery, into the area called Canaan. The Israelites settled in larger and smaller groups between the branches of the non-Israelites in various regions west of the Jordan, namely in Galilee, Ephraim and Judah and east of the Jordan in Gilead. The first king mentioned in the Bible was Saul, who had greatly expanded the boundaries of Israelite power. His successor was David, who extended about 1002 BC his rule first over Judea, then over all the tribes of Israel. In the year 332 BC Alexander the Great conquered the region of today’s Palestine and expelled the Persians. During Hellenistic rule, the ethnic composition of the population in Palestine changed. In the year 63 BC Palestine became part of the province of Syria Roman. Palestine belonged partly to the imperial province of Syria, partly to Judea, which remained as its own province. After an occupation of the Persian Sassanids between 614 and 629, the Eastern Roman rule finally ended as Muslim Arabs invaded Palestine and conquered Jerusalem in 638. Towards the end of the 11th century, four Christian crusader states were established in Palestine. In 1516 Egypt, Syria and Palestine were incorporated into the Ottoman Empire for 400 years. In 1839, foreigners were also able to acquire land in their own name. The acquisition of ownership should turn out to be momentous for the future of Palestine. Already in the 40 s and 50 s of the 19th century, Jewish community leaders demanded the return of the Jews to the “Promised Land” – Eretz Israel. The result was the movement of Zio-
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nism. Already in the 1860 s, the Jewish resettlement of Palestine began. The French Baron Edmond Rothschild acquired land in Palestine in 1882. In 1897 Theodor Herzl convened the first Zionist Congress in Basel. Herzl proposed a practical program for collecting funds from Jews around the world through an organization dedicated to the practical realization of this goal. He thus laid the foundation for the later founding of a Jewish state. During the First World War, the British proposed the establishment of an independent Arab state under haschemical leadership (McMahon-Hussein correspondence). In the Sykes-Picot Agreement, the Arab provinces of the Ottoman Empire were divided into spheres of influence in November 1915 after the end of the war. The United Kingdom was to control today’s Jordan, today’s Israel and Palestine and southern Iraq. On the territory of Palestine, France and the United Kingdom also wanted to establish an international administration. British Foreign Minister Arthur James Balfour sent a letter known as the Balfour Declaration on November 2, 1917. He said that His Majesty’s Government regards with kindness the establishment of a national homeland for the Jewish people in Palestine and will do their best to facilitate the achievement of that goal. On 30 October 1918, the ceasefire of Moudros ended the fighting of the Entente with the Ottoman Empire. The Ottomans had to renounce in this agreement on their entire empire with the exception of Anatolia. For the former provinces of the Ottoman Empire, Article 22 of the Covenant of the League of Nations stipulated that, in principle, they could be provisionally recognized as an independent nation. The area was divided into A, B and C mandates. The British A-mandate over Palestine and Transjordan outlasted the Second World War. In 1937, the mandate government set up a commission of inquiry. The Peel Commission recommended that the mandate be divided into a Jewish and an Arab state, as well as a British-administered mandate zone around Jerusalem, including the holy sites. The British government dropped the partition plan later. The British Woodhead Commission in 1938 was to develop partition proposals for Palestine so that Jews and Arabs could live in separate states. However, in its report of 9 November 1938, the Commission came to the conclusion that a division was not feasible because of “political, administrative and financial difficulties”. According to the Morrison Plan, Palestine was to be divided into four zones: an Arab province, a Jewish province, the Jerusalem district under international mandate, and Negev district, with autonomous government under British influence. The Bevin plan did not propose a division at the end of a trusteeship, but the election of a “constituent assembly,” which would require a majority of the Jewish representatives and a majority of the Arab representatives. The UN Partition Plan of 1947, which sought to create a Jewish and an Arab state in Palestine, required a good neighborly relationship between Jews and Arabs that had long since ceased to exist. All plans failed. The end of the British League of Nations Mandate for Palestine took place on May 14, 1948, when David Ben Gurion announced the establishment of the State of Israel with the Israeli Declaration of Independence “by virtue of the natural and historic rights of the Jewish people and by decision of the UN General Assembly.” On November 22, 1974, the Palestinian Liberation Organization (PLO) was recognized by the United Nations as representing the interests of the Palestinian people. In 2012, the status of the PLO delegation as the State of Palestine was upgraded to the United Nations’ non member observer state status. In June 1988, Jordan renounced its claim to the West Bank. The state of Palestine was declared on 15 November 1988 in Algiers by the Palestine Liberation Organization. Since the proclamation took place at a time when the PLO was in Tunisian exile and exercised no effective state power over the claimed territories and the people living there, according to the Three Elements doctrine no state could arise. The step was initially only of symbolic significance.
Das Sykes-Picot-Abkommen, die Nabi-Masa-Unruhen und die Anfänge des Nahostkonflikts Von Andreas Raffeiner I. Das Sykes-Picot-Abkommen 1. Allgemeines Unter dem Sykes-Picot-Abkommen versteht man einen geheimen Vertrag zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich. Beide Staaten verfolgten koloniale Interessen im Nahen Osten, zumal man die Niederlage des Osmanischen Reiches im Zuge des Ersten Weltkrieges erwartete. Das Mitte Mai 1916 geschlossene Agreement wurde schon im November des Vorjahres von den Diplomaten François Georges-Picot aus Frankreich und Mark Sykes aus dem Vereinigten Königreich ausgehandelt. Am 3. Januar 1916 wurde bereits ein Konzept vereinbart;1 deshalb wird dieses Datum alternativ zum 16. Mai 1916 genannt. Picot zeichnete sich als der erfahrenere Verhandlungspartner aus. Er verstand es blendend, trotz divergierender Interessen, für Frankreich mehr als geplant zu erreichen.2 2. Inhalt Dem Vereinigten Königreich wurde die Hegemonie über ein Territorium zuerkannt, das annähernd dem heutigen Jordanien, dem Irak und dem Gebiet um Haifa entspricht. Frankreich sollte die Befehlsgewalt über die Südost-Türkei, den Nordirak, Syrien und den Libanon bekommen. Jedes Land konnte die Grenzen innerhalb seiner Einflusszone selbst festlegen. Das in späterer Folge Palästina genannte Land sollte unter internationale Administration gestellt werden. Das Sykes-PicotAbkommen stand inhaltlich zur Hussein-McMahon-Korrespondenz3 im krassen Gegensatz. Während im Schriftwechsel den Arabern, wie mehrfach betont, die Unterstützung des Vereinigten Königreichs im Fall eines Aufstandes gegen das Osmanische Reich zugesagt und die Anerkennung einer arabischen Unabhängigkeit in Aus1 C. M. Andrew/A. S. Kanya-Forstner, The Climax of Imperial Expansion 1914 – 1924, 1981, S. 95. 2 A. Hottinger, Imperiale Grenzen im Nahen Osten: Der Geist von Sykes-Picot, in: Neue Zürcher Zeitung v. 27. 5. 2016, S. 7. 3 E. Kedourie, In the Anglo-Arab Labyrinth: The McMahon-Husayn Correspondence and its Interpretations 1914 – 1939, 1976.
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sicht gestellt worden war, teilten Frankreich und das Vereinigte Königreich weite Teile des arabischen Gebiets unter sich auf.
Karte der im Sykes-Picot-Abkommen vereinbarten Einflusssphären (Quelle: Jan Pichford/Wikipedia).
Dessen ungeachtet enthielt das Sykes-Picot-Abkommen bereits im ersten Absatz den Hinweis, dass sowohl Frankreich als auch das Vereinigte Königreich bereit seien, einen selbstständigen arabischen Staat in den mit A und B gekennzeichneten Regio-
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nen der hier abgedruckten Karte gutzuheißen und zu sichern. Beide Staaten behielten sich aber in ihren Einflusssphären Sonderrechte vor.4 In der Folge wurde das Sykes-Picot-Abkommen erweitert, um sowohl das Königreich Italien als auch Russland einzubinden. Italien sollte einige Inseln in der Ägäis und einen Einfluss auf Izmir im Südwesten Anatoliens, Armenien und kurdische Gebiete bekommen. Italiens Anwesenheit in Kleinasien und die Aufteilung der arabischen Länder erfuhren anlässlich des Friedensvertrages von Sèvres 19205 amtliche Bestätigung. 3. Veröffentlichung durch die Bolschewiki Die Oktoberrevolution 1917 – gleichzusetzen mit der gewaltsamen Übernahme der Macht – durch die kommunistischen Bolschewiki unter der Führung Wladimir Iljitsch Lenins, führte dazu, dass die russischen Ambitionen das Osmanische Reich betreffend ausgeschlagen wurden. Die bolschewistische Herrschaft publizierte den Wesensgehalt des Sykes-Picot-Abkommens in den zwei größten Zeitungen. Kurze Zeit später wurde der Inhalt des Vertrages auch in einer britischen Tageszeitung6 der Öffentlichkeit bekannt gegeben. Die Veröffentlichung löste verständlichen Ärger unter den Entente-Mächten und so etwas wie Disharmonie bei den Arabern aus. 4. Auswirkungen und Folgen Das Territorium rund um Mosul, das infolge des Übereinkommens ein Teil der französischen Zone war, wurde wie der größte Teil Syriens kurz vor dem Ende des Ersten Weltkrieges durch die britische Armee besetzt. Die Anführer der Arabischen Revolte sahen in diesen Gebieten den ihnen von London versprochenen arabischen Staat. Dass dadurch ein Konflikt mit Frankreich entstand, lag mehr als nur auf der Hand. Auf der Konferenz von Sanremo7 1920 und im Churchill-Weißbuch von 19228 versuchte man diese Probleme zu lösen. Dabei stellte man fest, dass Palästina ein Teil der ausgenommenen Gebiete war. Die wesentlichen Punkte des 4
Art. 1 des Sykes-Picot-Abkommens. R. Banken, Die Verträge von Sèvres 1920 und Lausanne 1923. Eine völkerrechtliche Untersuchung zur Beendigung des Ersten Weltkrieges und zur Auflösung der sogenannten „Orientalischen Frage“ durch die Friedensverträge zwischen den alliierten Mächten und der Türkei (= Geschichte der Internationalen Beziehungen im 20. Jahrhundert, Bd. 5), S. 131 – 376. 6 The Geographer, International Boundary Study. Jordan – Syria Boundary. Bureau of Intelligence and Research, Departement of State, USA, 30. Dezember 1969, S. 9. 7 H. K. G. Rönnefarth/H. Euler, Konferenzen und Verträge. Vertrags-Ploetz, Teil II, 4. Bd., Neueste Zeit 1914 – 1959, 2. Aufl. 1959, S. 50 f. 8 E. Weinzierl/O. D. Kulka (Hrsg.), Vertreibung und Neubeginn. Israelische Bürger österreichischer Herkunft, 1992, S. 256. 5
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Sykes-Picot-Abkommens, auf dem drei Mandate fußen, wurden bestätigt. Diese wurden 19229 unterzeichnet. Das vorher bereits angeschnittene Gebiet um Mosul wurde von Frankreich dem Vereinigten Königreich im Gegenzug für eine Teilhabe an den reichen Ölvorkommen überlassen. In Syrien setzte sich Paris militärisch gegen den König Faisal I.10 durch. Der Vertrag von Sèvres vom 10. August 1920 legte fest, dass die Selbstständigkeit der früher unter osmanischer Befehlsgewalt stehenden arabischen Länder anerkannt würde, wenn diese das „Mandat“ eines Staates billigten.11 Das Vereinigte Königreich bekam das britische Mandat Mesopotamien12 auf dem Gebiet des heutigen Irak und darüber hinaus auch das Völkerbundmandat für Palästina, das den Südteil der osmanischen Provinz Syrien umfasste. Frankreich wurde das Völkerbundmandat für Syrien und Libanon auf dem übrigen Gebiet des osmanischen Syriens13 zuerkannt. Vor dem Ausbruch der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“14 – so wird der Erste Weltkrieg in der Geschichtsschreibung auch genannt – hatten mehrere europäische Großmächte, so auch das Deutsche Reich,15 ihre Bestrebungen, teils auch gegeneinander, im Nahen Osten verfolgt. Später waren das damalige Zarenreich Russland, Deutschland und die Habsburgermonarchie dazu nicht mehr in der Lage. Danach stand der Nahe Osten für viele Jahrzehnte lang unter britisch-französischem Einflussgebiet.16 Das Sykes-Picot-Abkommen wird als Anlass für Auseinandersetzungen in dem Gebiet genannt. Man muss aber wissen, dass bei der Ziehung von Grenzen keine Rücksicht auf ethnische und kulturelle Strukturen genommen wurde. Mehr noch: Die Kolonialmächte schafften es keineswegs, für eine beständige und stabile Ordnung in der Gegend und für die dort wohnende Bevölkerung zu sorgen.
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K. Khella, Der Erste Weltkrieg und der Süden, 2017, S. 33. J. Bellers/T. Benner/I. M. Gerke, Handbuch der Außenpolitik. Von Afghanistan bis Zypern, 2018, S. 33. 11 A. Hourani, Die Geschichte der arabischen Völker, 1997, S. 389. 12 E. Jahn, Politische Streitfragen. Internationale Politik, Bd. 3, 2011, S. 201. 13 E. Jahn (Anm. 12), Streitfragen, S. 201. 14 E. Schulin, Die Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts, in: W. Michalka (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, 1994, S. 3 – 27. 15 R. Steininger, Deutschland und der Nahe Osten. Von Kaiser Wilhelms Orientreise 1898 bis zur Gegenwart, 2015, S. 11 – 40, besonders S. 21 – 40. 16 A. Hourani (Anm. 11), Geschichte, S. 391. 10
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II. Die Nabi-Musa-Unruhen 1. Allgemeines Die Nabi-Musa-Unruhen gingen in den ersten Apriltagen 1920 in der Altstadt Jerusalems über die Bühne.17 Wegen der muslimischen Veranstaltungen zu Ehren des Propheten Moses kam es zu einem Pogrom gegen die jüdischen Einwohner. Die Unruhen fanden direkt vor der Konferenz von Sanremo, auf der das Los der Gegend für die nachkommenden Jahrzehnte besiegelt und darüber hinaus der Wunsch der einstigen Verbündeten der Siegermächte des Ersten Weltkriegs nach Selbstständigkeit zerschlagen wurde, statt. Schenkt man dem israelischen Geschichtswissenschaftler und Journalisten Tom Segev, der mit einer Neubewertung der Geschichte des Zionismus und des Landes Israels begann, Glauben, so können die Auseinandersetzungen als „gewissermaßen der Startschuss für den Kampf um das Land Israel“18 beschrieben werden. Der Niedergang des Osmanischen Reiches hatte ein erstaunlich großes Machtvakuum hinterlassen. Das Vereinigte Königreich und Frankreich verfolgten die Absicht, dieses mit einer „Mission zur Zivilisierung“ auszugleichen. Beide Staaten, die zu den Siegermächten nach dem Ersten Weltkrieg zählten, gründeten dazu eine Militäradministration unter gemeinsamer Aufsicht. Diese Begebenheit kann als Aufbau der Occupied Enemy Territory Administration,19 die das unter französische Befehlsgewalt stehende Völkerbundmandat für Syrien und Libanon und das britische Mandat über Palästina aufteilen sollte, angesehen werden. Wesentliche Punkte der Balfour-Deklaration von 1917,20 aber auch das bei den Pariser Friedensverträgen 1919 zum Abschluss gebrachte Faisal-Weizmann-Abkommen21 wurden von zionistischen und arabischen Staatsmännern besprochen. Das von US-Präsident Woodrow Wilson in die Wege geleitete und Anfang 1918 proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker22 sollte auf Palästina keinesfalls angewandt werden. Die Folgen waren mit einer Radikalisierung in der arabischen Welt alles andere als günstig. Im gleichen Jahr gerieten die Beziehungen zwischen den Arabern und Juden in Jerusalem aus den Fugen. Zwischen dem Gemeindevorsteher Musa Kazim al-Husa-
17 T. Segev, Es war einmal ein Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels, 4. Aufl. 2005, S. 127 – 144. 18 T. Segev (Anm. 17), Palästina, S. 142. 19 H. S. Abu-Lebdeh, Conflict and Peace in the Middle East: National Perceptions and United States-Jordan Relations, 1997, S. 47. 20 R. Steininger, Der Nahostkonflikt, 2012/14, S. 73 – 78. 21 G. Krämer, Geschichte Palästinas. Von der osmanischen Eroberung bis zur Gründung des Staates Israel, 5. Aufl. 2006, S. 190. 22 J. Fisch, Die Verteilung der Welt. Selbstbestimmung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker (= Kolloquien, Bd. 79), 2011, S. 159 ff.
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yni23 und dem Zionisten Menachem Ussishkin24 kam es zu einer ergebnislosen und misslungenen Unterredung. Letzterer erinnerte den Bürgermeister daran, dass die Juden vier Jahrzehnte durch die Wüste gewandert seien, bevor sie das Gelobte Land erreicht hätten. Dieser entgegnete, dass das nur stattgefunden habe, weil sie nicht auf Moses gehört hätten. Des Weiteren schlug er vor, dass sie jetzt auf ihn hören sollten, um nicht weitere 40 Jahre umherzuirren, um das angestrebte Ziel zu erreichen. In einem Schriftstück beschrieb Ussishkin den Bürgermeister als Feind des jüdischen Volkes.25 Der Tod des Zionisten Joseph Trumpeldor26 in der vielerorts als mythologisch beschriebenen Schlacht von Tel Chai27 im Jahr 1920 brachte die jüdischen Staatsmänner in Sorge. Sie baten wiederholt bei der Militäradministration um die Bewilligung von Sicherheitsmaßnahmen für den Jischuw, die jüdische Bevölkerung in Palästina vor der Gründung des Staates Israel. Die Befürchtungen blieben von der britischen Führung ungehört, obgleich Chaim Weizmann Militärgouverneur Oberst Ronald Storrs unmissverständlich vor einem Pogrom warnte. Als der syrische Kongress 1920 zur Unabhängigkeit von Großsyrien28 im Königreich Syrien aufgerufen hatte, kam es in sämtlichen palästinensischen Städten zu Protestkundgebungen mit Losungen wie „Tod den Juden!“ oder „Palästina ist unser Land, die Juden sind unsere Hunde!“29. Dass dabei auch Juden angegriffen wurden, muss keineswegs explizit angeführt werden. Eine Interpellation jüdischer Führer an die Militäradministration, in Anbetracht fehlender britischer Streitkräfte, die Aufrüstung jüdischer Siedler zuzulassen, blieb ohne Antwort. Dessen ungeachtet organisierte Wladimir Zeev Jabotinsky,30 seines Zeichens Gründungsvater der Jüdischen Legion im Ersten Weltkrieg sowie der Begründer des nationalistischen und ausdrücklich des revisionistischen Zionismus, zusammen mit einem Weggefährten die Ausbildung jüdischer Freiwilliger. Diese fand in Schulhöfen in aller Öffentlichkeit statt. Zudem zogen die Ausgebildeten in einer Parade durch die Stadt.31
23
M. R. Fischbach/M. Kazim al-Husayni, in: P. Matar (ed.), Encylopedia The Palestinians, 2005, S. 220. 24 M. Benvenisti, The Buried History of the Holy Land since 1948, 2000, S. 26. 25 T. T. Segev (Anm. 17), Palästina, S. 145. 26 S. Scharfstein, Understanding Israel, 1994, S. 96. 27 D. Peters, Sehnsuchtsort Sinai: Eine israelische Kulturgeschichte der ägyptischen Halbinsel, 2018, S. 285. 28 U. Haarmann/H. Halm, Geschichte der arabischen Welt, 2001, S. 479. 29 T. Segev (Anm. 17), Palästina, S. 143. 30 P. G. Aring, Jabotinsky, Wladimir Zeev, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 2 (1990), Sp. 1397 – 1398. 31 T. Segev (Anm. 17), Palästina, S. 149.
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2. Bilanz Der Blutzoll der Unruhen war groß: fünf Tote, 18 Schwerverletzte und 216 Verletzte auf jüdischer Seite; vier Tote, ein Schwerverletzter und 23 Verletzte auf arabischer Seite. Überdies wurden sieben britische Soldaten in den Gewalttätigkeiten verletzt.32 Was oder wer diese Ausschreitungen auslöste, konnte mit hundertprozentiger Sicherheit nie genau festgestellt werden. Ein vom Vereinigten Königreich eingesetzter Untersuchungsausschuss machte Zeitzeugenaussagen zufolge Juden, aber auch Araber für die blutigen Auseinandersetzungen verantwortlich. Der Historiker Joseph Klausner warnte in einer Tageszeitung: „Wenn die Araber meinen, sie könnten uns zum Krieg anstacheln und den Krieg gewinnen, weil wir in der Minderheit sind, dann machen sie einen großen Fehler.“33 3. Folgen Die Aufstände hatten auch einige Folgen für das Vereinigte Königreich mit sich gebracht. So geriet der vorher angeführte Militärgouverneur Storrs unter Kritik, da zur Wiederherstellung der Ordnung kaum Truppen vorhanden waren. Storrs rechnete keinesfalls mit Gewalttätigkeiten und nahm auch die Warnungen seitens der Zionistischen Kommission nicht besonders ernst. Er mahnte die Führer der arabischen Gemeinschaft zur Ruhe, doch er traf keinerlei Sicherheitsvorkehrungen. Storrs brachte zur eigenen Verteidigung erschwerte Umstände ins Spiel und verwies auf die engen, für Fahrzeuge und Fuhrwerke kaum bis gar nicht passierbaren Straßen. Zudem musste man seiner Meinung nach auch die psychologische Sachlage der Stadt in Erwägung ziehen, denn ein plötzliches und in der gleichen Weise unerwartetes Scheppern eines leeren Benzinkanisters auf Steinen könne eine Panik mit sich bringen. Die ihm zur Verfügung stehenden Streitkräfte waren unerfahren und genossen keine ordentliche Ausbildung. Im Vereinigten Königreich und in der jüdischen Welt führten die Begebenheiten unerwartet zu aufgewühlten Reaktionen. London berief alsbald einen Untersuchungsausschuss ein, der in Jerusalem zusammenfand. Der Leiter der britischen Spionageabteilung erstaunte seine Vorgesetzten, indem er sich als Unterstützer der Verdächtigungen durch die zionistischen Vertreter entpuppte.34 In der Folge des Pogroms verurteilte man mehr als 200 Menschen, zum größten Teil Araber, zu Kerkerstrafen. Der Bürgermeister wurde abgesetzt und durch einen neuen Gemeindevorsteher ersetzt.35 Im Mai 1921 kann es zu Unruhen in Jaffa, die in blutrünstigen Massakern an der jüdischen und arabischen Zivilbevölkerung gipfelten. 32
S. Katz, Battleground: Fact and Fantasy in Palestine, 2002, S. 64. T. Segev (Anm. 17), Palästina, S. 155. 34 H. Morley Sachar, A History of Israel. Vol. 2: From the Rise of Zionism to our Time, 1976, S. 123. 35 T. Segev (Anm. 17), Palästina, S. 155. 33
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An der Konferenz von Sanremo führte das blanke Entsetzen über die Nabi-MusaUnruhen und Chaim Weizmanns Zeugenaussage zum Fazit, dass eine Zivilregierung weitaus weniger offensiv und daher erheblich sicherer als eine Militärbehörde wäre. Kurze Zeit nach der Übertragung des Mandats für Palästina an das Vereinigte Königreich entzog man dem Militär nach einem Urteil des Obersten Gerichtshofes die Verwaltung des Gebietes. Eine Zivilregierung wurde eingesetzt; Sir Herbert Samuel wurde zum ersten Hochkommissar für das britische Völkerbundsmandat in Palästina36 berufen. Dieses Amt hatte er bis 1925 inne. III. Der Nahostkonflikt 1. Allgemeines Als Nahostkonflikt bezeichnet man jene Auseinandersetzung um die Region Palästina, die dort zu Beginn des letzten Jahrhunderts zwischen Juden und Arabern ihren Anfang nahm. Dieser Konflikt führte zu mehreren kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem 1948 gegründeten Staat Israel und einigen seiner Nachbarländer sowie zu unzähligen bewaffneten Konfrontationen zwischen Palästinensern und Israelis in der Region, die vor einem Vierteljahrhundert in der norwegischen Hauptstadt Oslo zwischen Yitzhak Rabin und Jassir Arafat unter der Vermittlung von US-Präsident Bill Clinton fast beendet wurden. Der internationale Konflikt dauert dessen ungeachtet bis heute an.37 2. Vorgeschichte Was versteht man unter dem Nahen Osten? Im erweiterten Sinn umfasst diese geografische Bezeichnung das komplette außereuropäische Besitztum des Osmanischen Reiches und des Irans. Wenn man den Begriff enger sieht, zieht man bloß dessen arabische Provinzen in Betracht. Palästina bestand seit dem 16. Jahrhundert und gehörte bis 1917 aus großsyrischen Verwaltungseinheiten, die ihrerseits zum Osmanischen Reich, aus dessen Reste später die Türkei entstand, gehörten. Der Südteil gehörte zum Verwaltungsbezirk Jerusalem; der Nordteil unterstand dem Verwaltungsgebiet Beirut. Das transjordanische Einzugsgebiet gehörte indessen zum Verwaltungsgebiet Syrien. 3. Beginn der Aufteilung des Osmanischen Reiches Im zwischen 1853 und 1856 andauernden Krimkrieg verhinderten die mehrfach angeführten Staaten Frankreich und das Vereinigte Königreich, dass das Osmanische Reich den Ausdehnungsambitionen des russischen Zarenreichs zum Mittelmeer hin 36 37
Ebenda, S. 159. M. Johannsen, Der Nahost-Konflikt, 3. Aufl. 2011, S. 9 ff.
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erlag. In dem im Jahr 1878 abgeschlossenen Berliner Vertrag,38 bei dem das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn, Frankreich, das Vereinigte Königreich, Italien, Russland und das Osmanische Reich die Balkankrise beendeten und eine neue Friedensordnung für Südosteuropa aushandelten, verpflichteten sich die aufgezählten europäischen Großmächte wiederholt, sich keinesfalls mehr in die inneren Angelegenheiten des Osmanischen Reichs einzumischen. Nach kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Balkanländern verlor das Osmanische Reich im Frieden von Bukarest39 und im Frieden von Konstantinopel40 1913 einen großen Teil seiner europäischen Gebiete. In der Folge erschien das restliche Osmanische Reich so etwas wie ein Bürge der politischen Unabhängigkeit einer muslimischen Welt zu sein. Trotzdem war das Land hoch verschuldet. Tunesien hatte eine ähnlich schwere finanzielle Last zu stemmen und wurde 188141 von französischen Truppen besetzt und zu einem, von Paris aus geführten, Protektorat umgewandelt. Ägyptische Baumwolle und der 1869 in Betrieb genommene Suezkanal waren für Investoren aus Europa durchaus lohnend, während das ebenfalls verschuldete Land Ägypten unter eine europäische Finanzkontrolle kam. So war es das Vereinigte Königreich, das 188242 das Land am Nil besetzte. Ferner wurden zur Sicherung des Verbindungsweges nach Indien die ägyptischen Kanalaktien erworben und Ägypten 1914 formal zu einem Protektorat verwandelt. Mit Tunesien und Ägypten hatten die europäischen Großmächte Vereinigtes Königreich und Frankreich zu Beginn der 1880er-Jahre begonnen, ihre Interessensgebiete im Osmanischen Reich entgegen der Vereinbarung des einige Jahre zuvor abgeschlossenen Berliner Vertrages abzustecken. Ferner teilten sich Spanien und Frankreich Marokko, ehe Italien drei Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges Tripolis besetzte und dabei Hunderte von Menschen tötete.43 Der Wettlauf um den schwarzen Kontinent hatte also begonnen. Bis zum Zerfall des Osmanischen Reichs versuchte die indigene Bevölkerung selten eine persönliche nationale Identität zu entwickeln. Nur in manchen Großstädten des Nahen Ostens formierten Teile der arabischen Bildungsschicht seit den 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts einen Gegenpol zur osmanischen Regierungsgewalt, aus der ab dem Jahr 1914 der Panarabismus hervorging. Unter Panarabismus versteht man 38 W. Hubatsch, Der Berliner Kongreß 1878. Ursachen, Folgen und Beurteilungen hundert Jahre danach, in: G. Kleinheyer/P. Mikat (Hrsg.), Beiträge zur Rechtsgeschichte. Gedächtnisschrift für Hermann Conrad (= Rechts- und staatwissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres Gesellschaft, NF 34), 1979, S. 307 – 328. 39 F. M. Anderson/A. S. Hershey, The Treaty of Bucharest, August 10, 1913, in: Handbook for the Diplomatic History of Europe, Asia, and Africa 1870 – 1914, 1918, S. 439 – 441. 40 F. M. Anderson/A. S. Hershey, The Treaty of Constantinople, in: Handbook for the Diplomatic History of Europe, Asia, and Africa 1870 – 1914, 1918, S. 443. 41 H. L. Wesseling, Teile und herrsche: Die Aufteilung Afrikas 1880 – 1914, 1999, S. 23 ff. 42 V. A. O’Rourke, The British Position in Egypt, in: Foreign Affairs 14 (1936), S. 698 – 701, hier S. 698. 43 J. Willeitner, Libyen: Tripolitanien, Syrtebogen, Fezzan und die Kyrenaika, 2001, S. 22.
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eine Sonderform des arabischen Nationalismus, die die arabische Kulturnation, im Sinne von gemeinsamer Kultur und Sprache, das heißt alle Araber vom Atlantik bis zum Persischen Golf in einem gemeinsamen Nationalstaat, anstatt der heutigen vielen arabischen Staaten, vereinen will. Seit den frühen 1990er-Jahren gilt der Panarabismus im Großen und Ganzen als gescheitert.44 4. Zionistische Immigration nach Palästina Ab 1870 entstand der Zionismus als jüdische Nationalbewegung, die für die Juden in der gleichen Weise wie für europäische Völker den Status einer eigenen Nation, einhergehend mit dem Recht auf ein eigenes Staatsgebiet, beanspruchte. Theodor Herzl, der Gründungsvater des politischen Zionismus, proklamierte 1896 in seinem Werk Der Judenstaat die Aussicht einer jüdischen Staatsbildung in Argentinien, ehe er sein Augenmerk auf Palästina legte. Im Folgejahr wurde in der eidgenössischen Stadt Basel unter der Organisation von David Farbstein die Zionistische Organisation gegründet, die sich seit Jahren als Zionistische Weltorganisation (WZO) internationales Gehör verschaffen will. Bei diesem Kongress45 setzten beinahe 200 Abgeordnete aus 17 Ländern folgendes Ziel: „Der Zionismus erstrebt die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina für diejenigen Juden, die sich nicht anderswo assimilieren können oder wollen.“ Wegen der Pogrome gegen Juden im Zarenreich Russland gab es einen ersten Auswanderungsstrom russischer Juden nach Palästina. Nachdem auf dem 8. Zionistenkongress in Den Haag die Gründung eines Palästinaamtes in Jaffa beschlossen wurde, fing die planmäßig durchdachte jüdische Ansiedlung, welche eine baldige jüdische Staatsbildung in diesem Gebiet als Zielsetzung hatte, an. Auch eine zweite Emigrationswelle wurde forciert. Jerusalem war ein Ziel, und gegen Ende des 19. Jahrhunderts stellten Juden in der geschichtsträchtigen Stadt als Schnittstelle vieler Kulturen der Antike und Moderne, die ethnische Mehrheit dar. Die Ansiedlung führte zu Protesten der arabischen Bewohner der Stadt bei den osmanischen Amtsträgern.46 Wenige Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges gründeten jüdische Siedler zu ihrem Schutz die paramilitärische HaSchomer, die in Israel als Vorläufer der israelischen Streitmacht gilt. Ein paar demografische Zahlen zeigen, dass im Jahr 1914 rund 600.000 Araber und nahezu 85.000 Juden in Palästina lebten. Die
44 S. Speer, Der Pan-Arabismus – eine gescheiterte staatenübergreifende Idee?, in: R. Robert [u. a.] (Hrsg.), Kollektive Identitäten im Nahen und Mittleren Osten. Studien zum Verhältnis von Staat und Religion, 2010, S. 75 – 93. 45 The Executive of the Zionist Organisation (ed.), The Jubilee of the First Zionist Congress 1897 – 1947, 1947, S. 4 ff. 46 D. Vieweger, Streit um das Heilige Land. Was jeder vom israelisch-palästinensischen Konflikt wissen sollte, 3. Aufl. 2011, S. 115 ff.
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Zahl nahm im Ersten Weltkrieg auf 56.000 ab, sodass Juden im letzten Kriegsjahr nicht einmal zehn Prozent der palästinensischen Einwohner bildeten.47 5. Erster Weltkrieg In der Zeit zwischen 1914 und 1918 punktete der arabische Nationalismus mit den guten Beziehungen zum Vereinigten Königreich. Man wollte das mit dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn verbündete Osmanische Reich schwächen. In der aus zehn Briefen bestehenden Hussein-McMahon-Korrespondenz sicherte Henry McMahon, der britische Hochkommissar in Ägypten, Hussein ibn Ali, dem Großscherifen von Mekka zu, dass das Vereinigte Königreich die Unabhängigkeit der Araber anerkennen werde, wenn diese im Gegenzug bereit wären, in den Kampf gegen die unbeliebte Besatzungsmacht der Osmanen einzutreten. Ferner war es Lawrence von Arabien, der die von den Briten angezettelte und forcierte arabische Revolte in den letzten drei Kriegsjahren gegen das Osmanische Reich unterstützte. Mit der Balfour-Deklaration 1917 wurde auch der zionistischen Organisation Schützenhilfe für den Aufbau einer nationalen Heimstätte für die Juden in Palästina zugesichert. Ferner sollten die bürgerlichen und religiösen Rechte der nichtjüdischen, dort wohnhaften Bewohner gesichert werden. Einen jüdischen Staat stellte man nicht eigens in Rede, aber das wurde von vielen Angehörigen der jüdischen Bevölkerung und den Arabern als Vertrauensbruch interpretiert. Als britische Einheiten im Folgejahr Palästina eroberten, sicherte London die Förderung der Unabhängigkeit zu. Doch die neuen Herren sprachen sich im Hintergrund mit Frankreich im eingangs angeschnittenen Sykes-Picot-Abkommen in Bezug auf eine Aufteilung ab. Dabei wurde die Selbstständigkeit eines arabischen oder jüdischen Staates auf keinen Fall in Betracht gezogen. Im Gegenteil: Es bahnte sich mit der Zeit langsam ein schwelender Konflikt an. Den Arabern versprach man einen arabischen Nationalstaat. Als Voraussetzung wurde die Beihilfe der Briten im Kampf gegen die osmanischen Besatzer bzw. eine Auflehnung gegen die Fremdherrschaft angeführt. Dieser Briefwechsel ist, wie grob umrissen, als Hussein-McMahon-Korrespondenz in die Geschichte eingegangen. Die Juden lasen aus der Balfour-Deklaration das Recht auf einen eigenen Staat oder das Recht auf die Besiedlung der Region Palästina. Dagegen hatten das Vereinigte Königreich und Frankreich das Territorium unter sich aufgeteilt. Als immediate Folge wuchs die Spannung zwischen Arabern und Juden. Dazu gesellte sich ein stärker werdender Widerstand gegen das Vereinigte Königreich und Frankreich, die ganz und gar nicht daran dachten, ihre einleitend gemachten Zugeständnisse zur Gänze einzulösen.
47 M. Wolffsohn/D. Bokovoy, Israel: Grundwissen: Geschichte, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, 1996, S. 268.
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6. Britische Mandatszeit bis 1930 Briten und Araber überwältigten im Ersten Weltkrieg das osmanische Syrien. Die osmanische Provinz, auf deren Gebiet in weiterer Folge der Irak gegründet wurde, wurde von den Briten besetzt. König Faisal I.48 aus dem Herrschergeschlecht der Haschimiten bildete in Damaskus ein vorübergehendes, arabisches Kabinett. Im Jahr 1919 wurde er als König eines Königreichs Syrien anerkannt, zu dem auch der Libanon und Palästina gehörten. Die arabische Nationalbewegung forderte allerdings ihre von den Briten zugesicherte Unabhängigkeit. Die von Chaim Weizmann vertretene Zionistische Weltorganisation brachte mit König Faisal I. das Faisal-Abkommen, in dem die arabische Abordnung einem jüdischen Staat im palästinensischen Raum bejahte, sobald die Araber die vom Vereinigten Königreich zugesicherte Unabhängigkeit erhalten und sie die Hoheit über die islamischen Heiligtümer behalten, zu Papier. Im Jahr 1920 wurde Faisal I. zum König von Syrien proklamiert. Im gleichen Jahr übergab der Völkerbund ein Mandat für Palästina an das Vereinigte Königreich, das eine direkte britische Befehlsgewalt über Palästina zum Inhalt hatte. Die Regierung in London hatte kaum Interesse, die jüdisch-arabische Abmachung mit Leben zu füllen oder sich gar an sie zu halten. Ebenfalls im Jahr 1920 sicherte sich Mohammed Amin al-Husseini,49 seines Zeichens Präsident des obersten islamischen Rats und Großmufti von Jerusalem, die Führungsposition innerhalb der Bewegung des arabischen Nationalismus. So lehnte er den Andrang jüdischer Siedler aus Europa nach Palästina als britische Repressalie zur Befestigung ihrer Kolonialmacht im Nahen Osten aufs Schärfste ab. Selbst, wenn es bereits vor der zionistischen Bewegung jüdische Kolonien in Palästina gegeben hatte, entstanden durch die Immigration erste Kontroversen mit den dort lebenden Arabern. Die Mandatszeit war durch das Vorwärtskommen und Gedeihen kämpferischer Gruppierungen geprägt. Probleme rührten beispielsweise daher, dass arabische Bauern ihr Land an Juden veräußerten und diesen freie Hand gewährten, wenn es darum ging, die dort wohnende arabische Zivilbevölkerung fortzujagen. Die antijüdische Einflussnahme unter den Arabern wuchs sprunghaft, die stellungslose Bevölkerung wurde angestachelt, angestachelt von Missgunst und Neid rund um die Entwicklungen in der Feldbestellung, in der Infrastruktur und im Städtebau. Darüber hinaus stellten die aus dem Boden sprießenden jüdischen Firmen und Einrichtungen teils bloß Juden ein, wodurch sich der arabische Anteil der Bevölkerung getäuscht sah, da sie am neu entstandenen Wohlstandskuchen keinesfalls mitnaschen durfte.
48
M. B. Russell, The First Modern Arab State: Syria under Faysal, 1918 – 1920, 1985. W. G. Schwanitz, al-Husaini, Muhammad Amin, in: Handbuch des Antisemitismus, Band 2/1, 2009, S. 9 f. 49
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Zu Pogromen nach dem Ersten Weltkrieg gehören die kurz umrissenen NabiMusa-Unruhen im April 1920 und die Unruhen von Jaffa50 im Mai 1921. Im Jahr 1929 kam es zu einem judenfeindlichen Massaker in Hebron.51 Dieses konnte bloß durch das rasche Eingreifen der britischen Streitkräfte gestoppt werden. Als direkte Folge muss die gänzliche Vertreibung aller Juden aus Hebron angeführt werden. Später kam es in Jerusalem, Haifa und Jaffa zu Übergriffen von Juden gegen Araber.52 Und wenn man das Ganze ins Heute projiziert, ist die kriegerische Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Völkern trotz aller Friedensbemühungen noch lange nicht beendet. IV. Zusammenfassung Das Sykes-Picot-Abkommen war ein geheimes Abkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und Frankreich aus dem Jahr 1916. Die Vereinbarung definierte ihre gemeinsam vereinbarten Einfluss- und Kontrollbereiche. Auch die NabaMasa-Unruhen und der frühe Nahostkonflikt zeigen auf, dass dieses Gebiet, in dem Juden und Araber leben, noch lange benötigt, um einen dauerhaft währenden Frieden zu gewährleisten. * Abstract Andreas Raffeiner: The Sykes-Picot Agreement, the Nabi Masa Riots and the Beginnings of the Middle East Conflict (Das Sykes-Picot-Abkommen, die Nabi-Masa-Unruhen und die Anfänge des Nahostkonflikts), in: World War I and its Consequences for the Coexistence of Peoples in Central and Eastern Central Europe, vol. 3 (Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Bd. 3), ed. by Gilbert H. Gornig and Adrianna A. Michel (Berlin 2019), pp. 113 – 125. The Sykes-Picot Agreement was a secret agreement between the United Kingdom and France in 1916. The agreement defined their jointly agreed areas of influence and control. The Naba Masa riots and the early Middle East conflict also show that this area, where Jews and Arabs live, still takes a long time to ensure a lasting peace.
50 F. Schreiber/M. Wolffsohn, Nahost: Geschichte und Struktur des Konflikts, 2. Aufl. 1989, S. 66. 51 Jewish Daily Agency, Eye Witnesses Describe Horrors of the Moslems Arabs’ Attacks at Hebron on Saturday, August 24, in: Jewish Daily Bulletin v. 1. 9. 1929, S. 3. 52 S. Bose, Contested Lands. Israel–Palestine, Kashmir, Bosnia, Cyprus, and Sri Lanka, 2007, S. 219.
Das Mandatssystem des Völkerbundes und seine Folgen bis heute Von Holger Kremser I. Einführung Das Mandatssystem des Völkerbundes wurde für die Verwaltung der früheren deutschen Schutzgebiete und für die ehemals türkischen Gebiete im Nahen Osten durch einige Siegermächte des Ersten Weltkriegs geschaffen. Kennzeichnend für das Mandatssystem ist, dass die Verwaltung der Mandatsgebiete auf der Grundlage von Mandatsverträgen unter der Aufsicht des Völkerbundes aufgrund bestimmter Vorgaben in der Völkerbundsatzung erfolgte. Das Mandatssystem des Völkerbundes war eine Entwicklungsvorstufe für das Treuhandsystem der Vereinten Nationen, das auch heute noch dort in der Satzung verankert ist, aber aufgrund der Entlassung der Treuhandgebiete in die Unabhängigkeit zurzeit keine praktische Bedeutung mehr hat. Das gilt auch für die nördlichen Marianen, die nunmehr als nichtkorporiertes Außengebiet der USA nicht mehr dem Treuhandsystem der Vereinten Nationen unterstehen. II. Geschichtliche Entwicklung Die Bemühungen, während eines Krieges der Kolonialstaaten untereinander, die Kolonien zu neutralisieren, waren nicht erfolgreich.1 Folglich erstreckten sich die Kampfhandlungen während des Ersten Weltkriegs auch auf die Kolonien der kriegsführenden Staaten. Das Deutsche Reich war für eine effektive Verteidigung seiner überseeischen Territorien gar nicht bzw. nur völlig unzureichend gerüstet. Folglich waren mit einer Ausnahme bereits bis zum Jahr 1916 alle deutschen Überseeterritorien besetzte Gebiete.2 Allein die deutsche Schutztruppe in Deutsch-Ostafrika ergab sich erst zwei Wochen nach dem Waffenstillstandsabkommen von Compiègne auf Befehl der deutschen Reichsregierung gegenüber den britischen Truppen.3 Vor Abschluss des Waffenstillstandsabkommens im Wald von Compiègne wurde der deutschen Reichsregierung in einer Note des US-amerikanischen Staatssekretärs 1 Zu den Neutralisierungsbemühungen siehe N. B. Wagner, Die deutschen Schutzgebiete, 2002, S. 497 f. m.w.N. 2 Ebenda, S. 498 ff. 3 Ebenda, S. 500 m.w.N.
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Lansing4 ein Friedensvertrag auf der Grundlage des 14 Punkte-Programms des USamerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson zugesichert. Punkt 5 des zuvor genannten Programms sieht hinsichtlich der Kolonialfrage Folgendes vor: „Eine freie, weitherzige und unbedingt unparteiische Schlichtung aller kolonialen Ansprüche, die auf einer genauen Beobachtung des Grundsatzes fußt, dass bei der Entscheidung aller derartigen Souveränitätsfragen die Interessen der betroffenen Bevölkerung ein ebensolches Gewicht haben müssen wie die berechtigten Forderungen der Regierung, deren Rechtsanspruch bestimmt werden soll.“5 Hinsichtlich der ehemaligen türkischen Gebiete im Nahen Osten ist Punkt 12 des Wilson-Programms von Bedeutung: „Den türkischen Teilen des Osmanischen Reiches sollte eine unbedingte Selbständigkeit gewährleistet werden. Den übrigen Nationalitäten dagegen, die zurzeit unter türkischer Herrschaft stehen, sollte eine zuverlässige Sicherheit des Lebens und eine völlig ungestörte Gelegenheit zur selbständigen Entwicklung gegeben werden. …“.6 Tatsächlich kam es ganz anders als im 14-Punkte-Programm des US-amerikanischen Präsidenten Wilson versprochen wurde. Schon während des Ersten Weltkriegs hatten die Alliierten Geheimverträge zur Aufteilung des deutschen Kolonialreichs und der türkischen Besitzungen im Nahen Osten abgeschlossen. Danach sollte Italien türkische Gebiete erhalten. Großbritannien und Frankreich einigten sich über die Teilung von Togo und Kamerun. Japan wurden die deutschen Gebiete in der Südsee nördlich des Äquators, Großbritannien und dessen Dominien diejenigen südlich dieser Linie in Aussicht gestellt. Die türkischen Besitzungen im Nahen Osten wurden in eine britische und in eine französische Interessensphäre aufgeteilt.7 Diese territorialen Geheimvereinbarungen konnten die Vertragsparteien als alliierte und assoziierte Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg umsetzen, nur Italien ging leer aus.8 Aus deutscher Sicht ist es von besonderem Interesse, wie es zur Aufteilung der deutschen Schutzgebiete kam. Hierüber geben die 1923 veröffentlichten Dokumente des Präsidenten Wilson Aufschluss. Ein Geheimprotokoll des „Rats der Zehn“ (Hauptsiegermächte des 1. Weltkriegs unter Einschluss Japans) gibt eine Erörterung der kolonialen Angelegenheiten am 24. Januar 1919 wie folgt wieder: Der britische Premierminister Lloyd George sagte nach den Memoiren von Wilson Folgendes: „Ich möchte im Namen des britischen Reichs als Gesamtheit erklären, dass ich im höchsten Maße dagegen wäre, Deutschland irgendeine dieser Kolonien zurückzugeben. Präsident Wilson sagte, seiner Meinung wären alle dagegen, die 4 Die Note ist auszugsweise abgedruckt in: H. Poeschel, Die Kolonialfrage im Frieden von Versailles, Dokumente zu ihrer Behandlung, 1920, S. 1. 5 Abgedruckt in: H. Poeschel (Anm. 4), Die Kolonialfrage, S. 1. 6 Zitiert nach 14-Punkte-Programm – Die „Vierzehn Punkte“, in: Wikipedia-Enzyklopädie. 7 E. Menzel, Mandate, in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, 2. Bd., 2. Aufl., 1961, S. 460 m.w.N.; W. Schücking/H. Wehberg, Die Satzung des Völkerbundes, 2. Aufl., 1924, S. 685 f. 8 E. Menzel (Anm. 7), Mandate, S. 460 f.
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deutschen Kolonien zurückzuerstatten. M. Orlando stimmte im Namen Italiens und Baron Makino im Namen Japans zu. Niemand erhob Widerspruch und so wurde der Beschluss im Prinzip angenommen.“9 Wilson gelangte sodann in seinen Memoiren zu folgender Schlussfolgerung: „Auf diese kurze und bündige Art wurden alle deutschen Kolonien der deutschen Herrschaft entzogen.“10 Damit wurde die dem Deutschen Reich in der amerikanischen Lansing-Note vom 5. November 1918 gegebene Zusicherung einer weitherzigen und unbedingt unparteiischen Schlichtung hinsichtlich der deutschen Schutzgebiete in ihr Gegenteil verkehrt. Denn es liegt auf der Hand, dass die von einigen Alliierten geheim vereinbarten kolonialen Gebietsaufteilungen schon allein aufgrund der innewohnenden Annexionsabsicht nicht dem 14-Punkte-Programm Wilsons entsprachen.11 Wilson gab den Forderungen der Alliierten nach, weil aufgrund des geplanten Mandatssystems unter der Aufsicht des Völkerbundes zumindest der äußere Anschein erweckt wurde, dass die Grundsätze seines 14-Punkte-Programms hinsichtlich der abhängigen Gebiete erfüllt wurden.12 Die Alliierten akzeptierten nach anfänglichen Widerständen13 das Mandatssystem, weil sie im Verlauf der Friedensverhandlungen zutreffend die Möglichkeit erkannten, unter dem Deckmantel eines anscheinenden altruistischen Mandatsregimes des Völkerbundes die durch die Geheimverträge aufgeteilten abhängigen Gebiete im Sinne der selbstsüchtigen und materiellen Interessen der alliierten Siegermächte verwalten zu können.14 Darüber hinaus hatte das Mandatssystem des Völkerbundes den für die Siegermächte nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass sie vom Völkerbund die früheren deutschen Schutzgebiete erhielten, ohne dadurch irgendeinen Entschädigungsanspruch gegenüber dem Deutschen Reich aufgeben zu müssen.15 Die Alliierten begründeten ihre Ansprüche auf die früheren deutschen Schutzgebiete u. a. mit den Kosten und Verlusten im Kriege.16 Zudem habe Deutschland auf dem Gebiete der kolonialen Zivilisierung versagt.17 Der Vorwurf der Alliierten, man könne Deutschland nicht erneut die Bevölkerung in den Überseegebieten anvertrauen, ließ im Deutschen Reich die These von der „ko-
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R. St. Baker, Woodrow Wilson, Memoiren und Dokumente über den Vertrag zu Versailles anno MCMXIX, 1923, S. 208 (autorisierte deutsche Übersetzung). 10 Ebenda. 11 E. Menzel (Anm. 7), Mandate, S. 461; H. Schnee, Die koloniale Schuldlüge, 12. Aufl. 1940, S. 20. 12 H. Schnee (Anm. 11), Die koloniale Schuldlüge, S. 23. 13 Ausführlich hierzu: W. Schücking/H. Wehberg (Anm. 7), Die Satzung des Völkerbundes, S. 686 f. 14 H. Schnee (Anm. 11), Die koloniale Schuldlüge, S. 24. 15 Ebenda. 16 Ebenda, S. 21. 17 N. B. Wagner (Anm. 1), Die deutschen Schutzgebiete, S. 504.
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lonialen Schuldlüge“ entstehen.18 Objektiv betrachtet war die Verwaltung in den deutschen Schutzgebieten nicht besser, aber auch nicht schlechter als die Verwaltung der abhängigen Gebiete durch Großbritannien oder Frankreich.19 Das räumte der frühere britische Kolonialgouverneur Sir Harry Johnston in einem Kolonialvortrag ein, den er kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Stuttgart hielt. Er sagte dort unter anderem Folgendes: „Wenn von den großen Kolonialvölkern der Welt gehandelt wird, ist es schwierig zwischen Deutschen und Engländern einen Unterschied zu machen!“20 Die deutsche Friedensdelegation in Versailles war angehalten, „den Anspruch Deutschlands auf Wiederherausgabe seines Kolonialbesitzes“ zu erreichen.21 Das Deutsche Reich wies darauf hin, dass es seine Schutzgebiete rechtmäßig erworben hatte und dass die deutsche kolonisatorische Arbeit von angesehenen Kolonialschriftstellern positiv bewertet wurde.22 Deutschland erklärte sich allerdings bereit, „seine sämtlichen Kolonien der Gemeinschaftsverwaltung des Völkerbundes zu unterstellen, wenn es als dessen Mandatar anerkannt wird.“23 Den Wunsch Deutschlands nach Rückgabe seiner Schutzgebiete lehnten die Siegermächte allerdings kategorisch ab.24 Sie brachten dies in einem Ultimatum wir folgt zum Ausdruck: „Endlich haben die alliierten und assoziierten Mächte sich davon überzeugen können, dass die eingeborenen Bevölkerungen der deutschen Kolonien starken Widerspruch dagegen erheben, dass sie wieder unter Deutschlands Oberherrschaft gestellt werden und die Geschichte dieser deutschen Oberherrschaft, die Traditionen der deutschen Regierung und die Art und Weise, in welcher die Kolonien verwandt wurden, (…) machen es den alliierten und assoziierten Mächten un18
Sie wurde besonders intensiv von dem früheren Gouverneur von Deutsch-Ostafrika Heinrich Schnee im In- und Ausland vertreten, dessen Schrift „Die koloniale Schuldlüge“ (Anm. 11) mehrmals aufgelegt wurde. Sie wurde teilweise mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes unter folgenden Titeln auch in englischer, spanischer und italienischer Sprache veröffentlicht: H. Schnee, German Colonization Past and Future. The Truth about the German Colonies, 1926; Nachdruck 1970; H. Schnee, La colonizatión alemana: El pasado y el future: La verdad sobre los colonias alemanes, 1929; H. Schnee, La colonizzazione germanica: Il suo passato ed il suo futuro, 1932 (übersetzt nach der englischen Ausgabe von 1926); H. Schnee, La menzogna inglese della colpa coloniale, 1941; siehe auch N. B. Wagner (Anm. 1), Die deutschen Schutzgebiete, S. 506 f. m.w.N. 19 N. B. Wagner (Anm. 1), Die deutschen Schutzgebiete, S. 507, unter Hinweis auf H.-J. Fischer, Die deutschen Kolonien. Die koloniale Rechtsordnung und ihre Entwicklung nach dem ersten Weltkrieg, 2001, S. 275 und so auch die Bewertung des Historikers R. K. Lochner, Kampf im Rufiji-Delta, 1987, S. 408. 20 Zitiert nach H. Schnee (Anm. 11), Die koloniale Schuldlüge, S. 27, unter Hinweis auf A. Mansfeld/G. Hildebrand, Englische Urteile über die deutsche Kolonisationsarbeit, 1919. 21 Deutsche Antwort auf die Friedensbedingungen vom 29. Mai 1919, abgedruckt in: H. Poeschel (Anm. 4), Die Kolonialfrage, S. 19. 22 H. Poeschel (Anm. 4), Die Kolonialfrage, S. 15 ff. 23 Aus der Mantelnote der deutschen Antwort auf die Friedensbedingungen vom 29. Mai 1919, abgedruckt in: H. Poeschel (Anm. 4), Die Kolonialfrage, S. 15. 24 N. B. Wagner (Anm. 1), Die deutschen Schutzgebiete, S. 504.
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möglich, Deutschland die Kolonien zurückzugeben oder dem Deutschen Reiche die Verantwortung für die Ausbildung und Erziehung der Bevölkerung anzuvertrauen.“25 Zu dem Ultimatum ist Folgendes zu sagen: Eine umfassende Meinungsbefragung unter den „Eingeborenen“ in den deutschen Schutzgebieten gab es nicht. Es ist allerdings dokumentiert, dass „Eingeborene“ in Kamerun und Togo Eingaben machten, wonach sie unter dem Schutz der deutschen Regierung bleiben wollten.26 Im deutschen Togobund organisierten sich zumeist deutsch gebildete Zivilbeamte der früheren deutschen Schutzgebietsverwaltung in Togo, die eine politische Einigung des von den Siegermächten geteilten Togos und die Wiederherstellung einer gesamttogolesischen deutschen Kolonialverwaltung forderten.27 Scharfen Protest gegen die Mandatsmacht des Völkerbundes enthält eine Petition des samoanischen Rats an den König von England28. In dieser baten die Häuptlinge Samoas „wegen ihrer zunehmenden Unzufriedenheit mit der Verwaltung durch die Regierung von Neuseeland (…) uns von der Kontrolle der neuseeländischen Regierung zu befreien.“29 Es entwickelte sich auf West-Samoa sogar der ausdrückliche Wunsch nach Rückkehr des deutschen Gouverneurs Wilhelm Solf.30 All dies belegt, dass die alliierten und assoziierten Siegermächte mit Hilfe des Mandatssystems die Souveränität in den früheren deutschen Schutzgebieten ohne eine unparteiische Schlichtung von einer Macht zu einer anderen Macht verschoben, worin ein Bruch der Deutschland zugesagten Friedensordnung auf der Grundlage von Punkt 5 des Wilson-Programms zu sehen ist.31 Nachdem alle Bemühungen der deutschen Reichsregierung, weitere Verhandlungen über die Friedensbedingungen in den Schutzgebieten auf der zugesicherten Grundlage des Wilson-Programms zu führen, gescheitert waren, stimmte die deutsche Nationalversammlung im Juni 1919 der Unterzeichnung des Versailler Vertrags mehrheitlich zu.32 Er trat am 10. Januar 1920 mit dem Austausch der Ratifizierungs-
25 Das Ultimatum der Siegermächte vom 16. 6. 1919, abgedruckt in: H. Poeschel (Anm. 4), Die Kolonialfrage, S. 21. 26 Einige der Eingaben sind abgedruckt in: H. Poeschel (Anm. 4), Die Kolonialfrage, S. 243 ff. 27 Deutscher Togobund, in: Wikipedia-Enzyklopädie. 28 Die Petition vom Juli 1921 ist abgedruckt in: H. Schnee, Die deutschen Kolonien unter fremder Mandatsherrschaft, 1922, S. 83 f. 29 Zitiert nach H. Schnee (Anm. 11), Die koloniale Schuldlüge, S. 105. 30 D. Giesen, Kolonialpolitik zwischen Irritation und Illusion, Prolegomena zu einer Rechts- und Sozialgeschichte deutscher Kolonialbestrebungen im Pazifik am Beispiel Samoas (1857 – 89), in: Festschrift zum 125-jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, 1984, S. 223 f. 31 H. Schnee (Anm. 11), Die koloniale Schuldlüge, S. 104. 32 N. B. Wagner (Anm. 1), Die deutschen Schutzgebiete, S. 505.
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urkunden in Kraft. Ab diesem Datum war in rechtlicher Hinsicht das Zeitalter der deutschen Schutzgebiete in Übersee vollständig zu Ende gegangen.33 Die Friedensverhandlungen mit dem Osmanischen Reich zogen sich im Vergleich zu den Verhandlungen mit dem Deutschen Reich wesentlich länger hin. Der Pariser Vorortvertrag mit der Türkei (Friedensvertrag zu Sèvres von 1920) konnte nicht in Kraft treten. Denn er wurde von der Neuen Türkei nicht ratifiziert.34 An seine Stelle trat der Lausanner Friedensvertrag von 192335, der für die Türkei günstigere Regelungen enthält als der ursprüngliche Friedensvertrag zu Sèvres. Gleichwohl musste die Türkei auch nach dem Lausanner Friedensvertrag auf ihre Gebiete im Nahen Osten verzichten. Diese Gebiete hatten allerdings als A-Mandate einen besseren Status als die früheren deutschen Schutzgebiete. Die früheren türkischen Gebiete wurden durch die Satzung des Völkerbundes „als unabhängige Nationen vorläufig anerkannt“.36 Demgegenüber hatten die früheren deutschen Überseegebiete den völkerrechtlichen Status von B- oder C-Mandatsgebieten, was zur Folge hatte, dass sie offiziell als abhängige Gebiete verwaltet wurden. Die C-Mandatsgebiete wurden offiziell und ausdrücklich sogar als integraler Bestandteil der Mandatsmacht verwaltet. III. Die Aufteilung der früheren türkischen Gebiete im Nahen Osten und der deutschen Gebiete in Übersee Die Aufteilung der früheren türkischen Gebiete im Nahen Osten und der früheren deutschen Schutzgebiete geschah unter dem Mandatssystem des Völkerbundes wie folgt: Gebiete
Mandatare
1. A-Mandate (frühere türkische Gebiete im Nahen Osten) Irak (Mesopotamien)
Großbritannien
Palästina/Transjordanien
Großbritannien
Syrien/Libanon
Frankreich
2. B-Mandate (frühere deutsche Schutzgebiete in Afrika ohne Südwestafrika) Kamerun (Westteil)
Großbritannien
Kamerun (Ostteil ohne Neukamerun)
Frankreich
Togo (Westteil)
Großbritannien
Togo (Ostteil)
Frankreich
33 So auch N. B. Wagner (Anm. 1), Die deutschen Schutzgebiete, S. 509, unter Hinweis auf H. J. Held, Die Überwindung des „Friedensvertrags von Versailles“ durch die deutsche Völkerrechtspolitik 1933 – 1938, JöR 1938, 418, 468. 34 H. Scheuba-Lischka, Lausanner Friede, in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, 2. Bd., 2 Aufl. 1961, S. 406. 35 Ausführlich hierzu: R. Banken, Die Verträge von Sèvres und Lausanne 1923, 2014. 36 Art. 22 Abs. 4 Völkerbundsatzung.
Das Mandatssystem des Völkerbundes und seine Folgen bis heute Gebiete
Mandatare
Tanganjika (zuvor Hauptteil von Deutsch-Ostafrika ohne Abtrennungsgebiete an Mandatsmacht Belgien und an die Kolonialmacht Portugal37) Ruanda-Urundi (Abtrennungsgebiet von Deutsch-Ostafrika)
Großbritannien
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Belgien
3. C-Mandate (früheres Deutsch-Südwestafrika und frühere deutsche Südseegebiete) Südwestafrika
Südafrikanische Union
Samoa (Westteil)
Neuseeland
Nauru
Großbritannien, Australien und Neuseeland38
Neuguinea u. Inseln südlich des Äquators
Australien
Inseln nördlich des Äquators
Japan
Es ist zu betonen, dass die früheren deutschen Schutzgebiete nicht in Gänze dem Mandatssystem des Völkerbundes unterstellt wurden. So musste Deutschland auf das Kiautschou-Gebiet nach Art. 156 Abs. 1 Versailler Vertrag zugunsten Japans verzichten.39 Dieses Gebiet wurde nicht dem Mandatssystem des Völkerbundes unterstellt. Auf Druck der Regierung der USA gab Japan das Kiautschou-Gebiet Ende 1922 an China zurück.40 Nach erneuter japanischer Besetzung von 1938 bis 1945 wurde Kiautschou ab 1945 von China verwaltet und 1949 durch kommunistische Truppen besetzt und ist seither integraler Bestandteil der Volksrepublik China.41 Etwa drei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs konnte Deutschland durch Abtretung des vergleichsweise kleinen sogenannten „Entenschnabels“ im Nordosten Kameruns an Frankreich das deutsche Kamerun nach Osten und Süden schrittweise um 295.000 qkm vergrößern42. Auf dieses als „Neukamerun“ bezeichnete Gebiet musste Deutschland nach Art. 125 Versailler Vertrag zugunsten Frankreichs verzichten. Es wurde wieder in das französische Kolonialreich eingegliedert und nicht dem Mandatsregime des Völkerbundes unterstellt.43 37 Portugal erhielt das Recht, das früher zu Deutsch-Ostafrika gehörende Kionga-Dreieck als sein eigenes Kolonialgebiet in Portugiesisch-Mosambik zu inkorporieren. 38 Großbritannien, Australien und Neuseeland hatten unter sich vereinbart, sich alle fünf Jahre in der Verwaltung ablösen zu wollen, W. Abendroth, Die völkerrechtliche Stellung der Bund C-Mandate, 1936, S. 171. 39 N. B. Wagner (Anm. 1), Die deutschen Schutzgebiete, S. 516. Nach Fischer soll eine Abtretung vorliegen. H.-J. Fischer (Anm. 19), Die deutschen Kolonien, S. 195. 40 N. B. Wagner (Anm. 1), Die deutschen Schutzgebiete, S. 517 m.w.N. 41 Ebenda. 42 Deutsch-französisches Abkommen über beiderseitige Besitzungen in Äquatorialafrika, RGBl. 1912, S. 197 und RGBl. 1912, S. 206 ff. 43 N. B. Wagner (Anm. 1), Die deutschen Schutzgebiete, S. 515, unter Hinweis auf H.-J. Fischer (Anm. 19), Die deutschen Kolonien, S. 202.
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Zu Deutsch-Ostafrika gehörte auch das 395 qkm (nach anderen Angaben sogar 800 qkm44) große Kionga-Dreieck (heute Qionga-Dreieck) am Indischen Ozean an der Grenze zu Portugiesisch-Mosambik, was in einem deutsch-portugiesischen Notenaustausch im Jahr 1909 von Portugal ausdrücklich anerkannt wurde.45 Dieses Gebiet wurde 1919 von den alliierten und assoziierten Hauptmächten an Portugal übertragen.46 Auf diese Weise wurde das Kionga-Dreieck integraler Bestandteil des portugiesischen Kolonialreichs. Die Übertragung der vollen Souveränität hinsichtlich des Kionga-Dreiecks an Portugal war ein Vertragsbruch zu Lasten Dritter.47 Er wurde allerdings später durch die vertraglichen Vereinbarungen über die Mandatsverwaltung konvalesziert.48 Die USA haben durch ihre Anerkennungsverträge mit Belgien und Großbritannien die Abtretung des Kionga-Dreiecks an Portugal anerkannt.49 Auch gegenüber Deutschland wurde der Vertragsbruch durch den Eintritt in den Völkerbund konvalesziert.50 Die Ansicht, wonach das Kionga-Dreieck als C-Mandatsgebiet in Portugiesisch-Mosambik inkorporiert wurde und dort bis 1975 unter der Treuhandverwaltung der Vereinten Nationen stand51, ist irrig. Denn nach der Völkerbundsatzung sollte auf dem afrikanischen Kontinent allein Südwestafrika den Status eines C-Mandatsgebiets haben, wie noch gezeigt wird. IV. Rechtliche Regelungen 1. Versailler Friedensvertrag Der Versailler Vertrag enthält im IV. Teil (Art. 118 ff.) Regelungen hinsichtlich der deutschen Überseegebiete. In Art. 119 Versailler Vertrag heißt es: „Deutschland verzichtet zugunsten der alliierten und assoziierten Hauptmächte auf alle seine Rechte und Ansprüche in Bezug auf seine überseeischen Besitzungen.“ Die alliierten und assoziierten Hauptmächte sind nach der Einleitung des Versailler Vertrags die Vereinigten Staaten von Amerika, das Britische Reich, Frankreich, Italien und Japan.
44 W. Abendroth (Anm. 38), Die völkerrechtliche Stellung der B- und C-Mandate, S. 91 Fn. 4. 45 N. B. Wagner (Anm. 1), Die deutschen Schutzgebiete, S. 514, unter Hinweis auf H. Böttner, Das Völkerbundsmandat für Tanganyika, 1931, S. 15 Fn. 3, und die Vorbemerkung zu den Protokollen von 1907, in: KolBl. 1910, S. 119. 46 W. Abendroth (Anm. 38), Die völkerrechtliche Stellung der B- und C-Mandate, S. 91 m.w.N.; Frhr. v. Freytagh-Loringhoven unter Mitarbeit von C.-H. v. Wendorff, Das Mandatsrecht in den deutschen Kolonien, 1938, S. 348. 47 W. Abendroth (Anm. 38), Die völkerrechtliche Stellung der B- und C-Mandate, S. 91; H.-J. Fischer (Anm. 19), Die deutschen Kolonien, S. 200. 48 W. Abendroth (Anm. 38), Die völkerrechtliche Stellung der B- und C-Mandate, S. 91. 49 Ebenda. 50 Ebenda. 51 R. K. Lochner (Anm. 19), Kampf im Rufiji-Delta, S. 424.
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Die „delikate Frage“52, ob die von Art. 119 Versailler Vertrag erzwungene Abtretung der deutschen Schutzgebiete rechtswidrig und damit völkerrechtlich unverbindlich53 oder völkerrechtlich anfechtbar54 ist, ist aus heutiger Sicht nur noch von rechtshistorischem Interesse. Denn die in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg virulente Diskussion über die Rückforderung der früheren deutschen Schutzgebiete55 hatte sich bereits nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vollständig erledigt. Gleichwohl ist zu betonen, dass während der Zeit der Weimarer Republik und darüber hinaus die große Mehrheit sowohl der national-konservativen als auch der linksliberalen Rechtslehre in Deutschland dem Versailler Vertrag sehr kritisch gegenüber stand.56 Auch der nach 1945 im westdeutschen Teilstaat sehr angesehene deutsche Völkerrechtler und erste deutsche Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag Hermann Mosler vertrat 1936 anlässlich einer mündlichen Doktorprüfung der Rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn die Ansicht, dass sich Deutschland von den Bestimmungen des Versailler Vertrags lossagen dürfe, weil der ganze Vertrag wegen rechtswidrigen Zwangs angefochten werden könne.57 Darauf aufbauend wurde in der deutschen Kolonialrechtslehre die These verbreitet, dass das an den Versailler Vertrag anknüpfende Mandatssystem des Völkerbundes und die daraus resultierende Verwaltung der früheren deutschen Schutzgebiete durch die alliierten und assoziierten Siegermächte rechtswidrig sei.58 Wie kam es zu den zuvor genannten Thesen? Das Völkerrecht ging zum Zeitpunkt der Friedensverhandlungen in Versailles davon aus, dass der Krieg ein erlaubtes Mittel nationaler Politik ist. Dies hatte zur Folge, dass ein unter Zwang zustande gekommener Friedensvertrag weder rechtsunwirksam noch anfechtbar war.59 Im Falle des Versailler Vertrags ist allerdings die Besonderheit zu beachten, dass durch die bereits 52 So F. Schack, Das deutsche Kolonialrecht in seiner Entwicklung bis zum Weltkriege. Die allgemeinen Lehren. Eine berichtende Darstellung der Theorie und Praxis nebst kritischen Bemerkungen, 1923, S. 88/89 Fn. 1. 53 So E. Hartleb, Der koloniale Verwaltungsaufbau in Deutsch-Ost-Afrika vor und nach dem Weltkriege, 1939, S. 87. 54 So F. Berber, Das Diktat von Versailles. Entstehung-Inhalt-Zerfall. Eine Darstellung in Dokumenten, Bd. 1, 1939, S. 102; später offengelassen, F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, I. Bd., Allgemeines Friedensrecht, 1960, S. 437. 55 Für den Fall des Erwerbs von Kolonien enthält Art. 6 Nr. 2 WRV eine ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit des Reichs für „das Kolonialwesen“. 56 F. Lange, Praxisorientierung und Gemeinschaftskonzeption. Hermann Mosler als Wegbereiter der westdeutschen Völkerrechtswissenschaft nach 1945, 2017, S. 104, unter Hinweis auf M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Dritter Band, Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914 – 1945, 1999, S. 87 f. 57 F. Lange (Anm. 56), Praxisorientierung und Gemeinschaftskonzeption, S. 104 und Fn. 49. 58 So ausdrücklich für das Mandatsrecht A. Frhr. v. Freytagh-Loringhoven unter Mitarbeit von C.-H. v. Wendorff (Anm. 46), Das Mandatsrecht in den deutschen Kolonien, S. IX. 59 F. Berber (Anm. 54), Das Diktat von Versailles, S. 101 f.
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erwähnte amerikanische Lansing-Note60 ein Vorfriedensvertrag zustande kam, wonach die Parteien des Versailler Vertrags ausdrücklich auf jeden Zwang beim Abschluss des (Haupt-)Friedensvertrags verzichteten.61 Auch völkerrechtliche Untersuchungen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gelangen zu dem Ergebnis, dass 1918 durch einen Notenwechsel ein pactum de contrahendo zustande kam, wonach die Wilson-Punkte Grundlage des zukünftigen Friedensvertrags sein werden.62 Durch ein Memorandum sind alle alliierten und assoziierten Siegermächte der amerikanischen Lansing-Note beigetreten.63 In der Völkerrechtspraxis konnte sich allerdings die These von der Rechtswidrigkeit des Mandatssystems hinsichtlich der früheren deutschen Schutzgebiete nicht durchsetzen. Die Mandatsverwaltung fand bis zur Auflösung des Völkerbundes und teilweise noch darüber hinaus statt. Insbesondere ist zu konstatieren, dass der Ständige Internationale Gerichtshof 1923 in einer Entscheidung den Versailler Vertrag als völkerrechtsverbindlich ansah.64 Wie zuvor dargelegt, sind auch die USA nach dem Wortlaut des Versailler Vertrags eine alliierte und assoziierte Macht. Da die USA den Versailler Friedensvertrag nicht ratifizierten, konnten sie als Nichtvertragspartei keine Rechte aus Art. 119 des Vertrags hinsichtlich der deutschen Schutzgebiete erwerben.65 Das Deutsche Reich schloss mit den USA einen separaten Friedensvertrag66 ab, der unter der fast schon vergessenen Bezeichnung Berliner Friedensvertrag vom 25. August 1921 am 11. November 1921 in Kraft trat.67 Danach sollten den USA die in Art. 119 Versailler Vertrag enthaltenen Rechte an den deutschen Schutzgebieten zustehen.68 Im Jahr 1921 hatte das Deutsche Reich allerdings nach der Rechtsauffassung der anderen Siegermächte bereits alle Rechte an seinen früheren Schutzgebieten verloren. Folglich konnte das Deutsche Reich den USA 1921 nach dem Rechtsgrundsatz nemo plus iuris transferre potest, quam ipse habet keine Rechte mehr an seinen früheren Schutzgebieten übertragen.69 Zwar war der Versailler Vertrag nach der deutschen Völkerrechtslehre anfechtbar, jedoch muss eine Anfechtung erklärt werden, was weder 1921 noch später geschah. Im Übrigen wäre eine Anfechtung des Versailler Vertrages zumindest von denjenigen Siegermächten nicht akzeptiert worden, die bereits alle in Betracht kommenden früheren deutschen Schutzgebiete verwalteten. 60
Die Note ist auszugsweise abgedruckt in: H. Poeschel (Anm. 4), Die Kolonialfrage, S. 1. F. Berber (Anm. 54), Das Diktat von Versailles, S. 102. 62 H. Stiens, Der Begriff des Präliminarfriedens im Völkerrecht, 1968, S. 119. 63 Ebenda. 64 Permanent Court of International Justice, Series A, Vol. 1 (1923), 15 – Wimbledon; siehe hierzu I. v. Münch, Wimbledon-Fall, K. Strupp/H.-J. Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, 3. Bd., 2. Aufl., 1962, S. 850 ff. 65 N. B. Wagner (Anm. 1), Die deutschen Schutzgebiete, S. 511. 66 RGBl. 1921 II, S. 1318. 67 RGBl. 1921 II, S. 1369. 68 Art. II Ziffer 1 Friedensvertrag Deutsches Reich und USA. 69 N. B. Wagner (Anm. 1), Die deutschen Schutzgebiete, S. 512. 61
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Zudem kam der Ständige Internationale Gerichtshof 1923 zu dem Ergebnis, dass der Versailler Vertrag völkerrechtlich verbindlich ist.70 Die Hauptsiegermächte hatten die früheren deutschen Schutzgebiete schon im Mai 1919 ohne Beteiligung und Berücksichtigung der USA unter sich aufgeteilt.71 Das führte zu einem Protest der USA hinsichtlich aller Mandatserteilungen beim Völkerbundrat72, der jedoch während der Zeit des Mandatssystems folgenlos blieb. Im Ergebnis hatte die Aufteilung der deutschen Schutzgebiete ohne Berücksichtigung der USA zur Folge, dass das Deutsche Reich in Übereinstimmung mit den USA die Rechtsauffassung vertreten konnte, dass die tatsächlich vorgenommene Verteilung der deutschen Überseegebiete völkerrechtswidrig erfolgt war.73 2. Vertrag von Sèvres und Lausanner Friedensvertrag Hinsichtlich der türkischen Gebiete im Nahen Osten enthält der Friedensvertrag zu Sèvres von 1920 in Art. 132 Abs. 1 die Regelung, dass die Türkei auf sämtliche Rechte und Ansprüche außerhalb ihrer neuen Grenzen verzichtet.74 Mangels einer Ratifikation durch die Türkei trat der Vertrag von Sèvres nicht in Kraft. Er wurde 1923 durch den Vertrag von Lausanne ersetzt, der in Art. 16 Abs. 1 bestimmt, dass die Türkei auf jegliche Rechte und Titel im Nahen Osten verzichtet.75 3. Art. 22 Satzung des Völkerbundes Art. 22 der Satzung des Völkerbundes76 legt fest, wie die Verwaltung von Kolonien und Gebieten zu erfolgen hat, die nicht mehr unter der Souveränität der Staaten stehen, die sie vorher beherrschten und „die von solchen Völkern bewohnt sind, die noch nicht imstande sind, sich unter den besonders schwierigen Bedingungen der heutigen Welt selbst zu leiten (…).“ Die Mandatsmächte waren nach Art. 22 Abs. 1 Satz 2 Völkerbundsatzung zur Beachtung der nachstehenden Grundsätze verpflichtet: „Das Wohlergehen und die Entwicklung dieser Völker bilden eine heilige Aufgabe der Zivilisation, und es ist geboten, in die gegenwärtige Satzung Bürgschaften für die Erfüllung dieser Aufgabe aufzunehmen.“ 70
Permanent Court of International Justice, Series A, Vol. 1 (1923), 15 – Wimbledon. H. Schnee (Anm. 28), Die deutschen Kolonien, S. 5 f. 72 N. B. Wagner (Anm. 1), Die deutschen Schutzgebiete, S. 511, unter Hinweis auf K. Büttner, Die Anfänge der deutschen Kolonialpolitik in Ostafrika – Eine kritische Untersuchung anhand unveröffentlichter Quellen, Berlin (Ost), 1959, S. 11 und Fn. 47. 73 So auch W. Schücking/H. Wehberg (Anm. 7), Die Satzung des Völkerbundes, S. 702. 74 Ausführlich hierzu: R. Banken (Anm. 35), Die Verträge von Sèvres und Lausanne, S. 263. 75 R. Banken (Anm. 35), Die Verträge von Sèvres und Lausanne, S. 427 m.w.N. 76 In französischer, englischer und deutscher Sprache abgedruckt: W. Schücking/H. Wehberg (Anm. 7), Die Satzung des Völkerbundes, S. 680 ff. 71
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Konkreter und wichtiger ist Art. 22 Abs. 2 der Völkerbundsatzung: „Der beste Weg, diesen Grundsatz durch die Tat zu verwirklichen, ist die Übertragung der Vormundschaft über diese Völker an die fortgeschrittenen Nationen, die aufgrund ihrer Hilfsmittel, ihrer Erfahrung oder ihrer geographischen Lage am besten imstande sind, eine solche Verantwortung auf sich zu nehmen und die hierzu bereit sind; sie hätten die Vormundschaft als Mandatare des Bundes und in seinem Namen zu führen.“ Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung übt der Völkerbund die Souveränität über die zu verwaltenden Mandatsgebiete aus, indem er sich der Mandatarmächte als seiner Organe bedient.77 Völkerrechtler der alliierten Siegermächte legten Art. 22 Völkerbundsatzung allerdings teilweise so aus, dass der Mandatarmacht und nicht dem Völkerbund die Souveränität in den Mandatsgebieten zusteht.78 Für diese Ansicht spricht auf den ersten Blick, dass der Völkerbund keine Staatsqualität hatte79 und er folglich nicht die Staaten vorbehaltenen Souveränitätsrechte ausüben konnte. Dagegen lässt sich einwenden, dass die dem bisherigen Gebietsherrn entzogene Souveränität nach Art. 22 Völkerbundsatzung dem Völkerbund zur Weiterübertragung an einen anderen Staat überlassen werden konnte, also eine Art völkerrechtliches Kondominium entstehen sollte.80 Die deutsche Reichsregierung vertrat die Rechtsansicht, dass die Souveränität über die Mandatsgebiete dem Völkerbund übertragen wurde.81 Die deutsche regierungsamtliche Rechtsauffassung wurde auch von ausländischen Juristen82 darunter auch von einem französischen Diplomaten und Kommentator83 der Völkerbundsatzung geteilt. Es gibt allerdings auch deutsche Völkerrechtler, die die Ansicht vertreten, dass durch die Völkerbundsatzung eine Aufsichtsverwaltung geschaffen wurde, die die Substanz der Herrschaftsgewalt im jeweiligen Mandatsgebiet in den Händen des
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So W. Schücking/H. Wehberg (Anm. 7), Die Satzung des Völkerbundes, S. 688. H. Rolin, Le système des mandats coloniaux, RDI, 1920, 344, 350; P. Fauchille, Traité de Droit international public, Tome 1, Partie 1, 1922, S. 298, hinsichtlich der B- und CMandate. 79 H. Triepel, Die Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten, 2. Aufl. 1943, S. 290 ff. 80 In diesem Sinne auch W. Abendroth (Anm. 38), Die völkerrechtliche Stellung der B- und C-Mandate, S. 15; H. Jellinek, Der automatische Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit durch völkerrechtliche Vorgänge, zugleich ein Beitrag zur Lehre von der Staatensukzession, 1951, S. 221, 224; A. Verdross, Staatsgebiet, Staatengemeinschaft und Staatengebiet, NZfIR 1927, 293, 302 ff. 81 W. Abendroth (Anm. 38), Die völkerrechtliche Stellung der B- und C-Mandate, S. 155 und Fn. 13 unter Hinweis auf das Memorandum der Reichsregierung an die 1. Vollversammlung des Völkerbundes, Actes de la première Assemblée séances plénières, S. 210. 82 G. Cioriceanu, Les Mandats Internationaux. Le nouveau régime politico-administratif des anciennes Colonies allemandes et des territoires ayant appartenu à la Turquie, 1921, S. 37; R. Redslob, Le système des mandats, in: Bulletin de l’Institut intermédiaire international à la Haye, 1926, S. 48 (Völkerrechtler in Straßburg). 83 J. Ray, Commentaire du Pacte de la Société des Nations, 1930, S. 606. 78
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Mandatars beließ.84 Die Souveränität der Mandatsmächte wurde danach lediglich der Überwachung der gemeinschaftlichen Organe und der berechtigten Mitglieder des Völkerbundes unterworfen85 und konnte bei Rechtsbrüchen dem Mandatar nicht entzogen werden. Für diese Ansicht spricht, dass die jeweilige Mandatsmacht im Falle der Verletzung von humanitären Verpflichtungen mit innerstaatlicher Zielrichtung im Mandatsgebiet ihre Gebietsherrschaft mangels entsprechender völkerrechtlicher Regelungen nicht wieder verlieren konnte.86 Der auch international sehr bedeutende deutsche Völkerrechtler Heinrich Triepel meinte, dass die früheren deutschen Schutzgebiete als B- und C-Mandate des Völkerbundes – trotz aller pathetischen Ableugnungen – seitens der Mandatare verschleiert einverleibt wurden.87 Art. 22 Abs. 4 der Satzung des Völkerbundes regelt ganz konkret das Schicksal der ehemals türkischen Gebiete im Nahen Osten. Diese „Gemeinwesen (…) haben eine solche Entwicklungsstufe erreicht, dass sie in ihrem Dasein als unabhängige Nationen vorläufig anerkannt werden können unter der Bedingung, dass die Ratschläge und die Unterstützung eines Mandatars ihre Verwaltung bis zu dem Zeitpunkt leiten, wo sie imstande sein werden, sich selbst zu leiten.“ Die früheren türkischen Gebiete wurden als A-Mandate bezeichnet. Bei den früheren türkischen Gebieten im Nahen Osten war die Herausbildung eigener Nationen teilweise bereits sehr weit vorangeschritten, weshalb das Mandatsverhältnis teilweise nur eine Fiktion war.88 Hierfür spricht, dass das Mandatsland ausdrücklich als unabhängig anerkannt wurde.89 Der Mandatar durfte dem Mandatsland lediglich Ratschläge und Unterstützung für die Vorbereitung auf die volle Selbständigkeit erteilen. Mit Ausnahme von Südwestafrika wurden alle früheren deutschen Schutzgebiete in Afrika B-Mandate nach Art. 22 Abs. 5 der Völkerbundsatzung. Danach handelt es sich um Gebiete mit einer „Entwicklungsstufe (…), die (…) erfordert, dass der Mandatar dort die Verwaltung des Gebiets übernimmt.90 Die Mandatsverwaltung dieser Gebiete ist an Bedingungen geknüpft. „Außer der Abstellung von Missbräuchen, wie Sklaven-, Waffen- und Alkoholhandel muss Gewissens- und Religionsfreiheit lediglich mit den Einschränkungen, die die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der guten Sitten erfordert, gewährleistet sein. Verbürgt muss weiter sein das Verbot der Errichtung von Befestigungen oder von Heeres- oder Flottenstützpunkten, sowie das Verbot militärischer Ausbildung der Eingeborenen, soweit sie nicht lediglich polizeilichen oder Landesverteidigungszwecken dient. Dem Güteraustausch und 84
M. Silagi, Von Deutsch-Südwest zu Namibia. Wesen und Wandlungen des völkerrechtlichen Mandats, 1977, S. 106, unter Hinweis auf G. Dahm, Völkerrecht, Bd. I, 1958, S. 556. 85 Ebenda. 86 Ebenda, S. 106 f. m.w.N. 87 H. Triepel (Anm. 79), Die Hegemonie, S. 283. 88 So hinsichtlich des Iraks: A. Frhr. v. Freytagh-Loringhoven unter Mitarbeit von C.-H. v. Wendorff (Anm. 46), Das Mandatsrecht in den deutschen Kolonien, S. VIII. 89 W. Schücking/H. Wehberg (Anm. 7), Die Satzung des Völkerbundes, S. 703. 90 So auch die französische Fassung. Der englische Text lautet demgegenüber übersetzt: „dass der Mandatar verantwortlich für die Verwaltung des Gebiets sein muss“.
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Handel der anderen Bundesmitglieder muss ferner die gleiche Möglichkeit der Betätigung gesichert sein.“ Mit Ausnahme des Kiautschou-Gebiets regelt Art. 22 Abs. 6 Völkerbundsatzung das Schicksal der restlichen deutschen Schutzgebiete. Danach handelt es sich um „Gebiete wie Südwestafrika und gewisse Inseln des australischen Stillen Ozeans, die infolge ihrer schwachen Bevölkerungsdichte und geringen Ausdehnung, ihrer Entfernung zum Gebiet des Mandatars oder infolge anderer Umstände nicht wohl besser verwaltet werden können, als nach den Gesetzen des Mandatars und als integrierender Bestandteil seines Gebiets unter Vorbehalt der Bürgschaften, die vorstehend im Interesse der eingeborenen Bevölkerung vorgesehen sind.“ Aufgrund dieser Regelung wurden Deutsch-Südwestafrika, Samoa, Deutsch-Neuguinea einschließlich der Südseeinseln C-Mandatsgebiete. Die Besonderheit des C-Mandats besteht darin, dass die Verwaltung des Mandatsgebiets am besten durch die Anwendung des Rechts als integraler Bestandteil des Mandatarstaats erfolgen durfte. Gleichwohl hatten auch die C-Mandate im Hinblick auf die Vorgaben des Art. 22 Abs. 6 Völkerbundsatzung eine staatsrechtliche Sonderstellung.91 Hinsichtlich des Mandatsgebiets Südwestafrika beabsichtigte allerdings die Südafrikanische Union zeitweise, das Mandatsgebiet unter Berufung auf Art. 22 Abs. 6 Völkerbundsatzung zu einer Provinz der Südafrikanischen Union ohne Sonderstatus zu erheben.92 Hinsichtlich aller Mandatsgebiete war der Mandatar nach Art. 22 Abs. 7 Völkerbundsatzung gehalten, „dem Rate jährlich einen Bericht über die seiner Fürsorge anvertrauten Gebiete vorzulegen.“ Der Völkerbundrat hatte die oberste Entscheidungsgewalt in Mandatssachen und konnte etwaige Verstöße der Mandatsmächte feststellen.93 Gemäß Art. 22 Abs. 9 Völkerbundsatzung wurde ein Ausschuss beauftragt, „die Jahresberichte der Mandatare entgegenzunehmen und zu prüfen und dem Rate über alle die Ausführung der Mandatsverpflichtung angehenden Fragen sein Gutachten zu erstatten.“ Demensprechend wurde 1920 die ständige Mandatskommission gebildet, die allerdings nur eine beratende Funktion hatte.94 Durch eine Satzung der Kommission wurde sichergestellt, dass die Mehrheit der Kommissionsmitglieder aus Staatsangehörigen solcher Staaten bestand, die nicht Mandatare waren.95 Nach dem Beitritt Deutschlands zum Völkerbund wurde 1927 auch ein Deutscher Mitglied der ständigen Mandatskommission.96
91 So M. Silagi in seiner umfangreichen Untersuchung hinsichtlich des C-Mandats Südwestafrika, M. Silagi (Anm. 84), Von Deutsch-Südwest zu Namibia, S. 109. 92 M. Silagi (Anm. 84), Von Deutsch-Südwest zu Namibia, S. 109. 93 E. Menzel (Anm. 7), Mandate, S. 463. 94 Ebenda. 95 W. Abendroth (Anm. 38), Die völkerrechtliche Stellung der B- und C-Mandate, S. 320. 96 Ebenda.
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4. Mandatsverträge a) Allgemeines Die Details der Mandatsverwaltung wurden in Verträgen geregelt, die die Vorgaben des Art. 22 Völkerbundsatzung zu beachten bzw. umzusetzen hatten. Die Mandatsverträge mussten vom Rat des Völkerbundes genehmigt werden. Dies geschah in der Zeit von 1920 bis 1923.97 Erst nach rechtmäßiger Mandatierung konnte die Mandatsverwaltung unter dem Regime des Völkerbundes beginnen. Vor dem Inkrafttreten der Mandatsverträge hatten die Hauptsiegermächte die von ihnen besetzten Gebiete als Fideikommissare verwaltet.98 Die Souveränität über die Mandatsgebiete gehörte nach dem Geist des Versailler Vertrags und nach Art. 22 Völkerbundsatzung den Mitgliedern des Völkerbundes gemeinschaftlich, pro indiviso oder zivilrechtlich ausgedrückt zur gesamten Hand.99 Die Verwaltungspraxis in den Mandatsgebieten erhellt allerdings, dass die Mandatsverwaltung in den Gebieten der Kategorie B und C praktisch eine nationalstaatlich ausgeübte hoheitliche Verwaltung war, die internationalen Verpflichtungen unterstand, welche aber in der Praxis teilweise gar nicht oder nur sehr schwer durchsetzbar waren. b) A-Mandate Hinsichtlich der früheren türkischen Gebiete wurden die Regeln der Mandatsverwaltung weitgehend in völkerrechtlichen Verträgen festgelegt, die von den unmittelbar Beteiligten abgeschlossen wurden.100 Es handelt sich hierbei um die A-Mandate, die mit Ausnahme des Palästina-Mandats dazu dienten, vorläufig als unabhängig anerkannte Nationen in die vollständige Unabhängigkeit zu überführen. Die A-Mandate waren teilweise nur von kurzer Dauer. So wurde der Irak bereits 1932 unabhängig und das Mandatsverhältnis folglich 1932 aufgehoben.101 Für Syrien einschließlich Libanon wurde das Mandat102 durch die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs 1941 für einseitig erledigt erklärt.103 Das Palästinamandat104 zeichnet sich durch die Besonderheit aus, dass es die jüdische Einwanderung und Landbesiedlung sowie die
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E. Menzel (Anm. 7), Mandate, S. 462 m.w.N., für die völkervertraglichen Quellen. W. Schücking/H. Wehberg (Anm. 7), Die Satzung des Völkerbundes, S. 701. 99 W. Abendroth (Anm. 38), Die völkerrechtliche Stellung der B- und C-Mandate, S. 156 unter Hinweis auf G. Schwarzenberger, Das Völkerbundsmandat für Palästina, 1929, S. 41, sowie die Resolution des Rats des Völkerbundes, JO, IV, 1923, S. 1271. 100 E. Menzel (Anm. 7), Mandate, S. 462. 101 Ebenda. 102 Ausführlich hierzu: H. Kaesewieter, Syrien und Libanon als A-Mandate, 1935. 103 E. Menzel (Anm. 7), Mandate, S. 462. 104 Ausführlich hierzu: M. Spiegel, Das völkerrechtliche Mandat und seine Anwendung auf Palästina, 1928. 98
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Errichtung einer national-jüdischen Heimstätte ermöglichen sollte.105 Es endete als letztes A-Mandat im Jahre 1948.106 c) B- und C-Mandate Die B- bzw. C-Mandatsverträge107 sind im Vergleich zu den Verträgen hinsichtlich der A-Mandate einheitlicher.108 Sie regeln unter anderem die Pflicht zur Übernahme der Verwaltung des Mandatars und den Umfang der Mandatsverwaltung.109 Eine Überschreitung der vertraglich eingeräumten Verwaltungskompetenz hatte zur Folge, dass der Mandatar gegenüber dem Mandaten völkerrechtswidrig handelte und der Mandatar gleichzeitig staatsrechtlich als unzuständige Behörde agierte.110 Die B- und C-Mandatsverträge enthalten Regelungen über den Grundsatz der uneigennützigen Verwaltung111, die Erziehung zur Selbstverwaltung112 die wirtschaftliche Förderung der „Eingeborenen“113 durch die „Offene Tür-Klausel“114, die Finanzverwaltung115, das Bildungswesen116, das Prinzip der Gewissensfreiheit117, die öffentliche Gesundheitspflege118, die Bekämpfung des Alkoholismus119, die Bekämpfung der Sklaverei und des Sklavenhandels120, das Liegenschaftsrecht121, die Verteidigung der Mandatsgebiete122 sowie die auswärtigen Beziehungen der Bund C-Mandate.123 Der Grundsatz der „Offene Tür-Klausel“ ist in den C-Mandats105
H. Klinghoffer, Palästina-Mandat, in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, 2. Bd., 2. Aufl. 1961, S. 722. 106 E. Menzel (Anm. 7), Mandate, S. 462. 107 Abgedruckt in: A. Frhr. v. Freytagh-Loringhoven unter Mitarbeit von C.-H. v. Wendorff (Anm. 46), Das Mandatsrecht in den deutschen Kolonien, S. 165 ff. 108 E. Menzel (Anm. 7), Mandate, S. 462. 109 W. Abendroth (Anm. 38), Die völkerrechtliche Stellung der B- und C-Mandate, S. 190 f. 110 Ebenda, S. 191 f. 111 Ebenda, S. 200 ff. 112 Ebenda, S. 202 ff. 113 Ebenda, S. 208 ff. 114 Zum Geltungsbereich der „Offene Tür-Klausel“ siehe J.-W. Hertz-Kleptow, Die wirtschaftliche Gleichberechtigung Deutschlands in seinen unter Mandatsrecht stehenden Kolonien, 1941, S. 13 ff. 115 W. Abendroth (Anm. 38), Die völkerrechtliche Stellung der B- und C-Mandate, S. 211 ff. 116 Ebenda, S. 219 ff. 117 Ebenda, S. 228 ff. 118 Ebenda, S. 233 ff. 119 Ebenda, S. 237 ff. 120 Ebenda, S. 241 ff. 121 Ebenda, S. 262 ff. 122 Ebenda, S. 279 ff. 123 Ebenda, S. 288 ff.
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verträgen nicht ausdrücklich vertraglich geregelt worden. Die Anwendbarkeit der „Offene Tür-Klausel“ ergab sich allerdings nach herrschender Meinung124 daraus, dass auch bei der Verwaltung in den C-Mandatsgebieten das Wohl der „Eingeborenen“ maßgeblich sein musste. V. Praxis des Mandatssystems 1. Fehlende Rechtsdurchsetzungsmöglichkeit des Völkerbundes Die Mandatsmacht Japan trat 1933 aus dem Völkerbund aus. Nach der Mandatssatzung war Japan verpflichtet, die früheren deutschen Südseeinseln nördlich des Äquators zurückzugeben, um eine Neuvergabe des C-Mandats an einen anderen Mitgliedstaat des Völkerbundes zu ermöglichen.125 Japan weigerte sich allerdings aus machtpolitischen Gründen, die strategisch wichtigen Südseeinseln herauszugeben und der Völkerbund hatte keine Möglichkeit, den völkerrechtswidrigen Zustand zu beenden. Dieses Beispiel erhellt in besonderer Weise die Schwäche des Völkerbundes und des Mandatssystems.126 1947 wurde das Gebiet des ehemaligen japanischen Südseemandats unter dem Treuhandrat der Vereinten Nationen ein Treuhandgebiet der USA, nachdem es 1944 im Pazifikkrieg von den Alliierten erobert wurde. 2. A-Mandate Hinsichtlich der A-Mandate ist zu konstatieren, dass das Versprechen, diese Gebiete rasch in die Unabhängigkeit zu überführen, in Übereinstimmung mit Art. 22 Abs. 4 Völkerbundsatzung mehr oder weniger eingehalten wurde.127 Insbesondere in Syrien sind allerdings Verstöße gegen den Mandatsvertrag durch die Mandatsmacht Frankreich zu konstatieren. Entgegen dem Mandat verfolgte Frankreich das Ziel, Syrien in vier bzw. fünf Zwergstaaten aufzuteilen.128 Nach der Verfassung Syriens aus dem Jahr 1928 war Syrien ein unabhängiger und souveräner Staat.129 Frankreich verlangte entgegen dem Mandatsvertrag, dass Art. 116 in die syrische Verfassung von 1928 nachträglich aufgenommen werden musste, wonach von Frankreich beanstandete syrische Verfassungsbestimmungen außer Kraft zu setzen waren.130 Während der gesamten Mandatszeit in Syrien flammten die Ge124
J.-W. Hertz-Kleptow (Anm. 114), Die wirtschaftliche Gleichberechtigung Deutschlands, S. 15 f. m.w.N. für die h. M. und für abweichende Ansichten. 125 W. Abendroth (Anm. 38), Die völkerrechtliche Stellung der B- und C-Mandate, S. 169 f., unter Hinweis auf Wright, AJIL 1933, S. 516. 126 E. Menzel (Anm. 7), Mandate, S. 464 f. 127 Ebenda, S. 465. 128 H. Kaesewieter (Anm. 102), Syrien und Libanon, S. 32 f. m.w.N. 129 Art. 1 Verfassung Syrien 1928, abgedruckt in: H. Kaesewieter (Anm. 102), Syrien und Libanon, S. 77. 130 H. Kaesewieter (Anm. 102), Syrien und Libanon, S. 77.
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gensätze zwischen den nach Unabhängigkeit strebenden nationalen Politikern und der französischen Mandatsmacht immer wieder auf.131 Die Mandatsmacht handelte dabei nach dem Grundsatz „divide et impera“.132 Hinsichtlich des Palästina-Mandats ist festzustellen, dass dieses mangels eines Unabhängigkeitsversprechens nur wie ein A-Mandat behandelte wurde. Versprochen und vertraglich vereinbart wurde die Ermöglichung einer jüdischen Besiedlung. Dieses Versprechen wurde allerdings aufgrund des massiven arabischen Widerstandes nur teilweise umgesetzt.133 Zudem erklärte die Mandatsmacht Großbritannien Bestimmungen des Mandats über die Errichtung einer jüdischen Nationalheimstätte und über die Heiligen Stätten in Transjordanien für nicht anwendbar, was der Völkerbundrat genehmigte.134 Während der Endphase des Palästina-Mandats spaltete sich das Land im Gefolge des Rückzugs der britischen Truppen in jüdisch und arabisch besetzte Gebiete auf.135 In dem Guerilla-Krieg zwischen Arabern und Juden übte der Mandatar Zurückhaltung.136 3. B- und C-Mandate a) Eingliederungsbestrebungen Einige Mandatsmächte versuchten während der Mandatszeit mit mehr oder weniger Erfolg das anvertraute Mandatsgebiet in das angrenzende eigene Kolonialreich einzugliedern. aa) Großbritannien Großbritannien beabsichtigte, für Tanganjika eine engere Zoll-, Finanz- und Verwaltungsunion oder sogar eine Föderation mit Kenia und Uganda zu schaffen.137 Dem Vorhaben stimmten die ständige Mandatskommission und der Völkerbundrat allerdings nicht zu.138 Die britischen Mandatsgebiete in Togo und Kamerun wurden von der britischen Goldküste bzw. von den britischen Behörden in Nigeria verwal-
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T. Oppermann, Syrien, in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, 3. Bd., 2. Aufl., 1962, S. 429. 132 H. Kaesewieter (Anm. 102), Syrien und Libanon, S. 34 m.w.N. 133 H. Klinghoffer (Anm. 105), Palästina-Mandat, S. 722 f. 134 Ebenda, S. 722. 135 Ebenda, S. 723. 136 Ebenda. 137 A. Frhr. v. Freytagh-Loringhoven unter Mitarbeit von C.-H. v. Wendorff (Anm. 46), Das Mandatsrecht in den deutschen Kolonien, S. 219; ausführlich hierzu: G. v. Gretschaninow, „Closer Union“ und „Closer Co-operation“ in Ostafrika. Die englischen Unionspläne in bezug auf das Mandatsgebiet Tanganyika, ZaöRV, Bd. 4 (1934), S. 498 ff., 789 ff. 138 E. Menzel (Anm. 7), Mandate, S. 466; W. Abendroth (Anm. 38), Die völkerrechtliche Stellung der B- und C-Mandate, S. 198.
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tet.139 Die ständige Mandatskommission verlangte aus Gründen der Transparenz eine getrennte Berichterstattung für die Mandatsgebiete und erhob Einspruch gegen einige Finanzregelungen.140 Der Völkerbundrat folgte der ständigen Mandatskommission in einer Entschließung.141 bb) Frankreich Das französische Mandatsgebiet in Togo wurde ab 1934 aufgrund wirtschaftlicher Probleme mit der benachbarten Kolonie Dahomey zu einer Verwaltungsunion zusammenfasst.142 Der ständigen Mandatskommission gelang es darauf hinzuwirken, dass trotz der Verwaltungsunion der Individualität des französischen Mandatsgebiets Togo hinreichend Rechnung getragen wurde.143 Dass die Verwaltungsunion im Grundsatz vom Völkerbundrat gebilligt wurde, war dem Umstand geschuldet, dass das französische Mandatsgebiet Togo eine geringe Größe aufwies.144 Letztlich kann man sagen, dass es der Mandatsmacht Frankreich gelungen war, die Verwaltungsunion als eine verwaltungstechnische Notwendigkeit darzustellen. cc) Belgien Das belgische Mandatsgebiet Ruanda-Urundi wurde 1925 durch ein belgisches Gesetz verwaltungsmäßig in Belgisch-Kongo inkorporiert.145 Dagegen protestierte die deutsche Reichsregierung, die argumentierte, Belgien habe in der Sache ein C-Mandat geschaffen, was Art. 22 Völkerbundsatzung verletze.146 Die ständige Mandatskommission gab sich mit der Erklärung des belgischen Vertreters zufrieden,
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E. Menzel (Anm. 7), Mandate, S. 466. A. Frhr. v. Freytagh-Loringhoven unter Mitarbeit von C.-H. v. Wendorff (Anm. 46), Das Mandatsrecht in den deutschen Kolonien, S. 274 f. 141 E. Menzel (Anm. 7), Mandate, S. 466 und JO 1925, S. 133, abgedruckt in: A. Frhr. v. Freytagh-Loringhoven unter Mitarbeit von C.-H. v. Wendorff (Anm. 46), Das Mandatsrecht in den deutschen Kolonien, S. 275. 142 W. Abendroth (Anm. 38), Die völkerrechtliche Stellung der B- und C-Mandate, S. 196 f.; Verordnung des Präsidenten der Französischen Republik vom 23. 11. 1934 und Verordnung des Präsidenten der Französischen Republik vom 19. 9. 1936, jeweils abgedruckt in: A. Frhr. v. Freytagh-Loringhoven unter Mitarbeit von C.-H. v. Wendorff (Anm. 46), Das Mandatsrecht in den deutschen Kolonien, S. 276, 281 ff. 143 E. Menzel (Anm. 7), Mandate, S. 466. 144 W. Abendroth (Anm. 38), Die völkerrechtliche Stellung der B- und C-Mandate, S. 197. 145 Belgisches Gesetz vom 21. 8. 1925, abgedruckt in: A. Frhr. v. Freytagh-Loringhoven unter Mitarbeit von C.-H. v. Wendorff (Anm. 46), Das Mandatsrecht in den deutschen Kolonien, S. 289 f. 146 Denkschrift der Reichsregierung vom 16. 9. 1925, abgedruckt in: A. Frhr. v. FreytaghLoringhoven unter Mitarbeit von C.-H. v. Wendorff (Anm. 46), Das Mandatsrecht in den deutschen Kolonien, S. 290 f. 140
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wonach die Verwaltungsunion des belgischen Mandatsgebiets mit Belgisch-Kongo keine Annexion von Ruanda-Urundi zum Ziel hatte.147 dd) Südafrikanische Union Ab 1934 gab es Bestrebungen in der Südafrikanischen Union, das C-Mandatsgebiet Südwestafrika als fünfte Provinz in die Südafrikanische Union zu inkorporieren.148 Dies wurde von dem Vertreter Spaniens und Italiens als ein Verstoß gegen den Geist des Mandatssystems angesehen.149 Die vollständige Integration Südwestafrikas entsprach demgegenüber nach der Ansicht der Südafrikanischen Union als auch nach der Ansicht der USA durchaus dem Geist der Völkerbundsatzung.150 b) Staatsangehörigkeit Die Staatsangehörigkeitsfrage in den B- und C-Mandatsgebieten war weder in der Völkerbundsatzung noch in den Mandatsverträgen geregelt. Internationalrechtlich beschränkte man sich darauf, die Staatsangehörigkeitsregelungen der Mandatsmächte zur Kenntnis zu nehmen.151 Fast übereinstimmend wurde zwischen den „Eingeborenen“ und der weißen Bevölkerung unterschieden.152 Für die „Eingeborenen“ gab es individuelle Regelungen der Naturalisation, die in der Praxis aber keine große Bedeutung erlangten, weil die „Eingeborenen“ in der Regel nicht die Voraussetzung des Mindestaufenthalts in dem Staatsgebiet der Mandatsmacht erfüllen konnten.153 Die Einwohner Südwestafrikas wurden einschließlich der „Eingeborenen“ wie Staatsangehörige der Südafrikanischen Union bzw. Südafrikas behandelt, was als ein Verstoß gegen das Mandatssystem angesehen wurde.154 c) Wirtschaftsbeziehungen Für die B-Mandate ergab sich aus Art. 22 Abs. 5 Völkerbundsatzung die ausdrückliche Pflicht, im Mandatsgebiet den anderen Mitgliedstaaten des Völkerbundes gleiche Möglichkeiten im Bereich von Güteraustausch und Handel zu garantieren. Diese „Offene-Tür-Verpflichtung“ wurde auch auf die A-Mandate erstreckt.155 Im 147 JO 1926, S. 136, abgedruckt in: A. Frhr. v. Freytagh-Loringhoven unter Mitarbeit von C.-H. v. Wendorff (Anm. 46), Das Mandatsrecht in den deutschen Kolonien, S. 304 f. 148 W. Abendroth (Anm. 38), Die völkerrechtliche Stellung der B- und C-Mandate, S. 199. 149 Ebenda. 150 M. Silagi (Anm. 84), Von Deutsch-Südwest zu Namibia, S. 109. 151 E. Menzel (Anm. 7), Mandate, S. 466. 152 Ebenda, S. 467. 153 W. Abendroth (Anm. 38), Die völkerrechtliche Stellung der B- und C-Mandate, S. 272 f. 154 K. Steinberg, Südwestafrika, in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, 3. Bd., 2. Aufl., 1962, S. 417. 155 W. Abendroth (Anm. 38), Die völkerrechtliche Stellung der B- und C-Mandate, S. 293.
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Schrifttum wurde vielfach die Forderung erhoben, die wirtschaftliche Gleichberechtigung müsse für alle Mandatsgebiete, also auch für die C-Mandate gelten, soweit dies im Interesse der „Eingeborenen“ liegt.156 Diese Forderung konnte sich in der Praxis nur mit Ausnahmen durchsetzen, weil sie vom freien Willen der Mandatare abhing.157 Zu konstatieren ist, dass sich die ständige Mandatskommission bei der Abwehr von Präferenzen besonders engagierte.158 Staaten, die nicht Mitglied des Völkerbundes waren, konnten sich nicht auf das Prinzip der offenen Tür berufen.159 Allerdings wurde nach dem Austritt des Deutschen Reichs und Japans aus dem Völkerbund vom Völkerbundrat festgestellt, dass die Anwendung der Meistbegünstigungsklausel auch gegenüber ausgetreten Mitgliedstaaten statthaft war.160 d) Verteidigung der Mandatsgebiete Zu Friedenszeiten durften in den B- und C-Mandatsgebieten keine militärischen Stützpunkte für das Heer und die Flotte angelegt werden.161 Japan wurde verdächtigt, in seinem Südsee-Mandatsgebiet militärische Befestigungen angelegt zu haben.162 Die ständige Mandatskommission gab sich diesbezüglich mit einem Dementi Japans zufrieden.163 Ferner durften die Mandatare der B- und C-Mandatsgebiete die „Eingeborenen“ nicht für eigene Zwecke militärisch ausbilden.164 Vielmehr durften die „Eingeborenen“ nur für die Verteidigung ihres Mandatsgebiets ausgebildet werden. Frankreich durfte allerdings Mandatsbewohner seiner afrikanischen Mandatsgebiete aufgrund der Mandatssatzungen im Falle eines allgemeinen Krieges auch außerhalb der Mandatsgebiete einsetzen.165 Das war nicht mit Art. 22 Abs. 5 Völkerbundsatzung vereinbar.166 Gleichwohl war die militärische Sonderregelung zugunsten Frankreichs wirksam, weil alle Mitgliedstaaten des Völkerbundes zustimmten.167 Deutschland
156 J.-W. Hertz-Kleptow (Anm. 114), Die wirtschaftliche Gleichberechtigung Deutschlands, S. 16 m.w.N. 157 W. Abendroth (Anm. 38), Die völkerrechtliche Stellung der B- und C-Mandate, S. 293 f. 158 E. Menzel (Anm. 7), Mandate, S. 467. 159 J.-W. Hertz-Kleptow (Anm. 114), Die wirtschaftliche Gleichberechtigung Deutschlands, S. 17 f. unter Zurückweisung der gegenteiligen Auffassung eines Vertreters aus Japan. 160 E. Menzel (Anm. 7), Mandate, S. 467. 161 W. Abendroth (Anm. 38), Die völkerrechtliche Stellung der B- und C-Mandate, S. 279. 162 E. Menzel (Anm. 7), Mandate, S. 468. 163 Ebenda. 164 W. Abendroth (Anm. 38), Die völkerrechtliche Stellung der B- und C-Mandate, S. 279. 165 E. Menzel (Anm. 7), Mandate, S. 468. 166 W. Abendroth (Anm. 38), Die völkerrechtliche Stellung der B- und C-Mandate, S. 285 f. m.w.N. 167 Ebenda, S. 286.
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hatte durch den vorbehaltslosen Eintritt in den Völkerbund auf seinen völkerrechtlichen Protestanspruch verzichtet.168 e) Petitionen Art. 22 Völkerbundsatzung statuierte zugunsten der Mandatsbevölkerung ein Petitionsrecht. Die ständige Mandatskommission wurde in der Praxis daran gehindert, selber eigene Untersuchungen vor Ort durchzuführen, weil der Mandatar dies als eine unzulässige Intervention ansah.169 Aus den Erörterungen in der ständigen Mandatskommission ergibt sich, dass die erforderlichen Stellungnahmen der Mandatare oft verzögert und selbst sechsmonatige Fristen nicht eingehalten wurden.170 VI. Beendigung des Mandatssystems Das Mandatssystem des Völkerbundes endete hinsichtlich der A-Mandate durch Zweckerreichung, das heißt durch die Entlassung der Mandatsgebiete in die staatliche Unabhängigkeit.171 Der Irak wurde bereits 1932 unabhängig. Das französische A-Mandat für Syrien und den Libanon wurde 1941 mit britischer Zustimmung einseitig von Frankreich aufgekündigt.172 Mit dem Abzug der letzten fremden Soldaten wurde die staatliche Unabhängigkeit von Syrien und dem Libanon von der Vollversammlung des Völkerbundes 1946 anerkannt.173 Das Palästina-Mandat endete erst mit der Ausrufung des Staates Israel am 14. Mai 1948.174 Mit Wirkung vom 18. April 1946 endete das Mandatssystem des Völkerbundes offiziell.175 Die Mandatare wurden allerdings aufgefordert, die Mandatsverwaltung nach bisherigen Grundsätzen fortzuführen, bis entsprechende neue Regelungen im Rahmen des Treuhandsystems der Vereinten Nationen zustande kamen.176 Das Treuhandsystem der Vereinten Nationen ist eine Weiterentwicklung des Mandatssystems des Völkerbundes.177 Art. 77 Abs. 1 Buchstabe a) SVN regelt, dass die bestehenden Mandatssysteme dem Treuhandsystem zu unterstellen sind. Im Rahmen des VNTreuhandsystems verwaltete jeweils der Staat das Treuhandgebiet, der dort auch schon aufgrund des Mandatssystems des Völkerbundes die Gebietsherrschaft innehatte. Eine Ausnahme sind die Pazifischen Inseln unter früherer japanischer Man168
Ebenda. E. Menzel (Anm. 7), Mandate, S. 468. 170 Ebenda. 171 Ebenda, S. 464. 172 Ebenda. 173 Ebenda. 174 Ebenda. 175 Ebenda. 176 Ebenda. 177 Ebenda, S. 451; N. B. Wagner (Anm. 1), Die deutschen Schutzgebiete, S. 540 ff. 169
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datsverwaltung. Hier wurden die USATreuhandmacht. Die Treuhänderstaaten übten in ihrem jeweiligen Treuhandgebiet die Gebietshoheit aus. Das Treuhandgebiet gehörte völkerrechtlich nicht zum Staatsgebiet des Treuhänderstaats.178 Sämtliche Treuhandgebiete wurden mittlerweile in die Unabhängigkeit entlassen. Lediglich die Nördlichen Marianen, die nunmehr ein nichtkorporiertes Außengebiet der USA sind, sind in gewisser Weise nicht vollständig unabhängig geworden. Lang andauernde Meinungsverschiedenheiten zwischen der internationalen Staatengemeinschaft und der Südafrikanischen Union bzw. Südafrika hatten zur Folge, dass das frühere C-Mandatsgebiet Südwestafrika Gegenstand höchst kontroverser völkerrechtlicher Auseinandersetzungen war. Da Südafrika die Rechtsnachfolge der Vereinten Nationen für das Mandatssystem des Völkerbundes bestritt, verwaltete Südafrika das Gebiet Südwestafrika auch nach der Auflösung des Völkerbundes im Geiste des Mandatssystems weiter.179 Das Mandatsgebiet Südwestafrika hatte zu Beginn der Mandatszeit den Status eines „kolonialen Nebenlandes“ der Südafrikanischen Union erlangt, das erst im Gefolge der dynamischen Entwicklung des allgemeinen internationalen Kolonialrechts auf seine Unabhängigkeit vorbereitet wurde.180 Dieser lange Prozess endete praktisch erst 1990 als Südafrika das frühere Deutsch-Südwestafrika, zunächst ohne die frühere britische Walfischbucht, in die Unabhängigkeit entließ. Aus der Sicht der Generalversammlung der Vereinten Nationen war das südafrikanische Mandat über Südwestafrika völkerrechtlich bereits 1966 aufgrund einer Resolution beendet worden.181 Auf dieser Linie liegt auch das Rechtsgutachten des IGH aus dem Jahr 1971, das die Anwesenheit Südafrikas in Südwestafrika als völkerrechtswidrig ansah.182 Diese Entscheidung war völkerrechtlich allerdings umstritten.183 Die Ost-West-Konfrontationen während der Zeit des sogenannten Kalten Krieges hatten wohl zur Folge, dass sich die Präsenz Südafrikas in dem während der damaligen Zeit strategisch sehr bedeutsamen Gebiet Südwestafrika/Namibia faktisch bis 1990 halten konnte. VII. Heutige Folgen des Mandatssystems Zu den heutigen Folgen des Mandatssystems lässt sich aus völkerrechtlicher Sicht Folgendes sagen: Das Mandatssystem des Völkerbundes hat als weiterentwickeltes 178
N. B. Wagner (Anm. 1), Die deutschen Schutzgebiete, S. 542 f., unter Hinweis auf Berber (Anm. 54), Lehrbuch des Völkerrechts, S. 302, 306. 179 N. B. Wagner (Anm. 1), Die deutschen Schutzgebiete, S. 548 ff. 180 M. Silagi (Anm. 84), Von Deutsch-Südwest zu Namibia, S. 114 f. 181 M. O. Hinz, Die Verfassung Namibias (1990), Entwicklung, Hintergrund, Kontext, JöR, Bd. 40 (1990/1992), S. 653, 655 m.w.N.; N. B. Wagner (Anm. 1), Die deutschen Schutzgebiete, S. 547. 182 ICJ Reports 1971, S. 16 ff. 183 Kritisch hierzu: M. Silagi (Anm. 84), Von Deutsch-Südwest zu Namibia – passim; A. Schneider, Die Süd-West-Afrika-Frage vor den Organen der Vereinten Nationen. Ein Beitrag zur rechtlich-politischen Analyse dieses Konflikts, 1975, S. 255 f.
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internationales Verwaltungsinstitut in das Treuhandsystem der Vereinten Nationen Eingang gefunden. Völkerrechtlich ist das Treuhandsystem in den Kapiteln XII – XIII der Satzung der Vereinten Nationen geregelt (Art. 75 – 91). Art. 77 Abs. 1 Buchstabe c) SVN regelt, dass Hoheitsgebiete freiwillig dem Treuhandsystem der Vereinten Nationen unterstellt werden können. Eine völkerrechtlich mögliche Reaktivierung des Treuhandsystems setzt allerdings voraus, dass es Staaten gibt, die sich freiwillig dem Treuhandsystem unterstellen und dass es gemäß Art. 81 SVN Staaten, Staatengruppen oder internationale Organisationen gibt, die freiwillig als Verwaltungsmächte Verwaltungsaufgaben im Rahmen des Treuhandsystems der Vereinten Nationen übernehmen. 1994 wurde Palau als letztes Treuhandgebiet in die Unabhängigkeit entlassen. Aus diesem Grunde sind die Bestimmungen zur Treuhandverwaltung der Vereinten Nationen zurzeit ohne praktische Relevanz. Es ist nicht absehbar, dass es in Zukunft wieder VN-Treuhandgebiete geben wird. Um die letzte Jahrtausendwende gab es gelegentlich Stimmen im Schrifttum, sogenannte „gescheiterte Staaten“ („failed States“) unter einen reaktivierten oder reformierten Treuhandrat der Vereinten Nationen zu stellen.184 Angesichts der vielen staatlichen und wirtschaftlichen Krisenherde in Afrika machen vor allem die Afrikaner selbst wie beispielsweise der kenianische Historiker Ali Mazrui den Vorschlag, afrikanische Staaten unter das alte Mandats- bzw. das Treuhandsystem zu stellen, allerdings mit dem Unterschied, dass führende afrikanische Staaten selbst zu Verwaltungsmächten bestimmt werden sollten.185 William Pfaff ist demgegenüber der Ansicht, dass die europäischen Staaten aufgrund ihrer Erfahrungen als Kolonialmächte und wegen des Knowhows europäischer Hilfsorganisationen besonders geeignet seien, als führende Staaten die Rolle einer Rekolonialisierung zu übernehmen.186 Für Deutschland wird man schon deshalb keine besonderen kolonialen Erfahrungen mehr annehmen können, weil die relativ kurze Epoche der früheren deutschen Schutzgebiete schon zu lange zurückliegt. Aber auch die anderen europäischen Staaten mit längeren und zeitlich kürzer zurückliegenden kolonialen Erfahrungen sind gut beraten, sogenannten gescheiterten Staaten lediglich ihre Expertise und Hilfe zur Selbsthilfe anzubieten. Denn letztlich muss jeder Staat in die Lage versetzt werden, sich selbst zu organisieren, um dem Selbstbestimmungsrecht der Völker zum Durchbruch zu verhelfen. Geradezu utopisch erscheinen Vorschläge187 aus umweltrechtlicher Perspektive, den Treuhandrat der Vereinten Nationen zum „Klimawächter“ zu machen.188 184 R. Jacobs, Mandat und Treuhand im Völkerrecht, 2004, S. 294, unter Hinweis auf G. Helman/S. Ratner, Saving Failed States, Foreign Policy, 1992 – 93 (89), S. 3 ff. 185 Die Vorschläge von Ali Mazrui finden sich in: W. Pfaff, A New Colonialism? Europe must go back into Africa, Foreign Affairs 1995 (74), S. 2 ff.; sie wurden erneut von Jacobs aufgegriffen, R. Jacobs (Anm. 184), Mandat und Treuhand, S. 290. 186 W. Pfaff (Anm. 185), A New Colonialism?, S. 5. 187 Siehe UN Doc. A/51/950 v. 14. 7. 1997.
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VIII. Schlussbemerkung In der der Rückschau ist zu konstatieren, dass der Deutschland aufgenötigte Verzicht auf die deutschen Schutzgebiete und die sich anschließende Mandatsverwaltung unter dem Völkerbundsystem die die Weimarer Republik tragenden Kräfte stark unter Druck setzte. Die Mandatsverwaltung der früheren deutschen Schutzgebiete verfolgte erfolgreich das Ziel, das deutsche Kolonialreich auf die Siegermächte zu verteilen, ohne dass der Wert der Gebietsabtretungen berücksichtigt wurde. Der letzte Wert der deutschen Schutzgebiete wurde auf 30 bis 100 Milliarden Goldmark geschätzt.189 Nach der üblichen Methode hätte der Wert der Gebietsabtretungen bei dem Friedensabschluss zugunsten Deutschlands berücksichtigt werden müssen, was die finanzielle Last Deutschlands gegenüber den alliierten Siegermächten erheblich reduziert hätte.190 Es wird nicht selten darauf hingewiesen, dass das frühe Ende des deutschen Kolonialzeitalters für Deutschland den Vorteil mit sich gebracht habe, dass es von den schweren und teilweise lang andauernden Problemen der Entkolonialisierung verschont geblieben sei. Das mag so sein. Richtig ist aber auch, dass die alliierten Siegermächte nicht das Ziel verfolgten, Deutschland durch die Einverleibung der ehemaligen deutschen Kolonien unter dem Regime des Mandatssystems vor Schaden zu bewahren. * Abstract Holger Kremser: The Mandate System of the League of Nations and its Consequences to this Day (Das Mandatssystem des Völkerbundes und seine Folgen bis heute), in: World War I and its Consequences for the Coexistence of Peoples in Central and Eastern Central Europe, vol. 3 (Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Bd. 3), ed. by Gilbert H. Gornig and Adrianna A. Michel (Berlin 2019), pp. 127 – 152. The mandate system of the League of Nations was created after the First World War for the administration of the former German protected areas overseas and the former Turkish areas in the Middle East. In accordance with the Lausanne Peace Treaty, Turkey had to renounce its territories in the Middle East. The territories of Iraq, Palestine/Transjordan and Syria/Lebanon were declared provisionally independent states by the Covenant of the League of Nations and were administered as class A-mandate territories by France and Great Britain. The aim of the mandate administration was the rapid and complete national independence of the administrated territories. The mandate powers France and Great Britain were only allowed to give advice and help with the process of independence.
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So zu Recht: R. Jacobs (Anm. 184), Mandat und Treuhand, S. 294 f. N. B. Wagner (Anm. 1), Die deutschen Schutzgebiete, S. 520 m.w.N. 190 So der US-amerikanische Staatssekretär und Friedensdelegierte Robert Lansing in einer Stellungnahme abgedruckt, in: N. B. Wagner (Anm. 1), Die deutschen Schutzgebiete, S. 520. 189
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According to the Versailles Peace Treaty, the German Reich had to renounce all colonies because, in the opinion of the allied victorious powers, it had failed in the area of colonial civilization. The German government pointed out, however, that in the pre-war period Germany’s colonization efforts were positively evaluated by respected colonial experts. The former German colonies were administered as class B- or C-mandate territories by Australia, Belgium, France, Great Britain, Japan, New Zealand and the South African Union. Both the class B- and C- mandate territories were administered as dependent territories. In contrast to the class B-mandate territories, the class C-mandate territories were administered as integral parts of the respective mandating powers, as per the Covenant of the League of Nations. Cameroon, Togo and the former German East Africa were declared class B-mandate territories. The former German South West Africa, the former German New Guinea and the former German Pacific Islands were declared class C-mandate territories. Despite being an allied victorious power over Germany, the United States received no mandate, which led them to protest several times against the division of the mandate areas at the Council of the League of Nations. However, the protests had no consequences. Only after the Second World War did the United States receive the former German Pacific Islands north of the equator as a UN trust territory. The mandate administration of the former German colonies was justified by the Covenant of the League of Nations on the grounds that they were inhabited by peoples who could not lead themselves. The official aim of the mandate administration was the welfare and development of the peoples as a “sacred mission of civilization”. This goal was to be achieved by transferring “guardianship” over the peoples in the mandated territories to the “advanced” allied victorious powers. Reputable German jurists of international law have characterized the mandate administration of the League of Nations in the former German colonies as a veiled incorporation by the allied victorious powers.
Afrika im Ersten Weltkrieg Von Michael Pesek I. Einführung Wenn wir heute über den 28. Juli 1914 als den Beginn des Ersten Weltkriegs sprechen, haben wir weniger die Welt als Europa im Blick. Vielleicht erinnern wir uns noch an das kriegsentscheidende Eingreifen der Amerikaner im letzten Kriegsjahr oder, dank Mel Gibson, an das fürchterliche Gemetzel von Gallipoli. Unser Blick auf den Ersten Weltkrieg ist geprägt von der Vorstellung, dass vor hundert Jahren Europas Nationen gegeneinander kämpften. Doch es waren vor allem Imperien, die nicht nur die Landkarte Europas, sondern der Welt mit aller Gewalt ändern wollten. Frankreich, Großbritannien und Deutschland waren im 19. Jahrhundert zu überseeischen Kolonialreichen aufgestiegen. Die europäischen Kolonialreiche variierten in ihrer Größe sowie ihrer politischen und wirtschaftlichen Bedeutung für die Metropole. Die Briten schufen bis zum Ausbruch des Krieges das größte Kolonialimperium der Menschheitsgeschichte; imperialistische Denkmuster und Identitäten hatten sich tief in das Bewusstsein der Eliten eingeschrieben. Auch Frankreich berief sich in seinem Anspruch, Weltmacht zu sein, nicht zuletzt auf seinen Kolonialbesitz. Das deutsche Kaiserreich, 1871 gegründet, war erst spät in das Rennen um die europäische Aufteilung der Welt eingetreten. Dessen politische Eliten wussten allerdings wenig mit Kolonialprojekten in Übersee anzufangen. Ihre Interessen galten seit jeher eher dem Osten Europas. Wer in die Kolonien ging um sein Glück zu versuchen, galt als Außenseiter. Die Karriere eines Herbert Kitchener, der vom Kolonialoffizier zum Kriegsminister des britischen Empire aufstieg, war im Kaiserreich undenkbar. Selten haben Historiker den Ersten Weltkrieg aus der Perspektive von Kolonialreichen betrachtet und noch weniger haben sie dies aus der Perspektive afrikanischer Geschichte getan. Sicherlich, nahezu jedes einigermaßen seriöse Standardwerk über die Geschichte des Ersten Weltkriegs vermerkt auch die Ereignisse in Afrika oder Asien. Oft genug sind diese Auslassungen aber wenig mehr als eine Fußnote oder Randbemerkung und gehen mit einem oftmals eher exotischen oder pittoresken Blick einher. Dieses Mauerblümchendasein verdanken die Ereignisse in Übersee zweifellos der geringen Bedeutung, die ihnen im Allgemeinen für den Ausgang des Krieges zugeschrieben wird. Wenn die Ereignisse in Afrika auch militärisch weniger bedeutsam waren als die großen Schlachten an der Westfront, so kann uns doch der Blick von Afrika her wichtige Erkenntnisse über diesen globalen Krieg bringen.
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Der britische Historiker Hew Strachan hat in einem 2010 veröffentlichten Artikel diese auf Europa beschränkte Perspektive auf den Krieg kritisiert.1 In der Juli-Krise von 1914 spielten Europas Kolonien in Übersee keine Rolle. Dass der Erste Weltkrieg sich auf dem Balkan entfachte, entsprach den Mustern europäischer Rivalitäten. Nicht im Herzen Europas, sondern in Kolonien und Peripherien zeigte sich diese Rivalität am aggressivsten. Den langen Frieden in Europa vor 1914 bezahlten vor allem Afrikaner und Asiaten mit dem Verlust ihrer Unabhängigkeit und oft auch mit dem Verlust ihres Lebens. Die Schwäche des Osmanischen Reiches, die zu den Balkankriegen führte, spielte auch im Wettlauf um Afrika eine wichtige Rolle. Die anglo-französische Konkurrenz um die Dominanz in Ägypten führte 1882 zur britischen Okkupation der ehemaligen osmanischen Provinz. Um den Konflikt zu schlichten, schlug Bismarck eine Konferenz in Berlin vor. Diese Pläne wurden aber schnell von den sich überschlagenden Ereignissen in Westafrika eingeholt. Hier hatte sich mit dem Konflikt zwischen den Portugiesen, Franzosen und dem belgischen König Leopold II. um den Zugang zur Kongomündung ein neuer Konfliktherd aufgetan. Die Berliner Afrikakonferenz von 1882, die oft als der Startschuss für den Wettlauf um Afrika gesehen wird, versuchte ähnlich dem Konzert der Großmächte in Europa ein Regelwerk in Afrika zu etablieren. Auch hier kam Belgien bzw. dem Kongo-Freistaat Leopolds II. die Rolle eines Puffers zu. Trotz des Erfolgs der Berliner Konferenz sorgte der Wettlauf um Afrika immer wieder für außenpolitische Krisen. Sie waren wichtige Ereignisse in der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs. Frankreich und Großbritannien stießen 1898 bei Faschoda am Nil aufeinander und entgingen nur knapp einer offenen militärischen Konfrontation. Die Konkurrenz mit Frankreich in Afrika trug wesentlich dazu bei, dass die Briten lange deren Offerten für eine Allianz gegen die aufstrebenden Deutschen ausschlugen. Für die auf Europa ausgerichtete deutsche Politik waren Konflikte jenseits der Grenzen Europas wohlfeile Gelegenheiten, um ihre Ansprüche als Großmacht zu demonstrieren. Die Beziehungen mit den Briten begannen sich bereits anlässlich des Burenkrieges in Südafrika erheblich zu verschlechtern, als der Kaiser 1896 ein ebenso dramatisches wie wirkungsloses Telegramm an den Präsidenten der abtrünnigen Burenrepublik schickte. Die Unterstützung des Kaisers für die abtrünnigen Buren folgte eher innerpolitischen Kalkülen, denn die deutsche Öffentlichkeit hatte sich klar auf die Seite der Buren gestellt. Die außenpolitischen Kosten aber waren immens. Für die Briten, die große Mühe hatten, den Widerstand der Buren zu brechen, war es ein Affront, den sie nicht leicht vergaßen. Die vom Kaiser lange favorisierte Allianz rückte in weite Ferne. Als Frankreich 1911 Truppen in Marokko stationierte, um eine Revolte gegen den von ihnen unterstützten König zu unterdrücken, antwortete das Kaiserreich mit der Entsendung von Kanonenbooten. Bis auf einige wenige Kaufleute hatten die Deutschen keine Interessen in dem nordafrikanischen Land. Dennoch riskierten die Verantwortlichen in Berlin schon 1911 eine politische und auch militärische Konfrontation mit ihrem westlichen Nachbarn. Die 1
H. Strachan, The First World War as a Global War, in: First World War Studies 1 (2010).
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Krise wurde letztendlich auf dem Verhandlungswege entschärft. Das Kaiserreich erhielt einige französische Gebiete in Kamerun als Kompensation. Dennoch war die Marokkokrise ein außenpolitisches Desaster für das Kaiserreich. Großbritannien unterstützte Frankreich und selbst Italien, das mit den Deutschen und Österreichern in der Dreierallianz gebunden war, stellte sich gegen die Deutschen.2 Koloniale Rivalität führte nicht zu militärischen Konflikten zwischen den europäischen Mächten, vergiftete aber zunehmend die diplomatischen Beziehungen in Europa. In den Kolonien selbst war von dieser Rivalität wenig zu spüren. Wenn auch daheim in Europa die Kolonialpropagandisten gerne nationalistische Töne anschlugen, die meisten europäischen Kolonien hatten durchaus ein kosmopolitisches Flair. Der Kongo-Freistaat wurde von einem europäischen Monarchen mit Unterstützung einer internationalen Organisation von Geographen, Philanthropen und Geschäftsleuten ins Leben gebracht. Skandinavier, Russen, Amerikaner und Deutsche wirkten in der Verwaltung und im Militär des Freistaats, internationale Konzerne beuteten seine natürlichen Ressourcen aus. Auch in französischen, britischen und deutschen Kolonien agierten katholische und protestantische Missionare, Forschungsreisende und Kaufleute aus aller Herren Länder. Nicht zu vergessen die indischen und arabischen Beamten in den ostafrikanischen Kolonien Großbritanniens und des Kaiserreichs, die syrischen und türkischen Polizisten im nördlichen und östlichen Afrika oder die griechischen und libanesischen Händler in West- und Ostafrika, die ein Großteil des Kleinhandels dominierten. Sie waren alle auf mehr oder weniger direkte Weise Teil des kolonialen Projektes. Die europäische Kooperation bei der Eroberung der Welt fand in der Niederschlagung des chinesischen Boxeraufstandes 1900/01 ihren Höhepunkt. Eine Allianz aus Franzosen, Briten, Deutschen, Russen, Italienern, Österreichern, Russen, Japanern und US-Amerikanern sicherte gegen den Widerstand der chinesischen Bevölkerung und eines Teils des Kaiserhofs die Dominanz der Großmächte in Asien. Kolonialismus schuf eine gemeinsame Identität als Europäer oder als Gemeinschaft zivilisierter Staaten: Auf Kosten Afrikas und Asiens. Für Frankreich, Großbritannien und das Kaiserreich waren die überseeischen Kolonien die Schauplätze ihrer größten militärischen Engagements in den vierzig Jahren vor Ausbruch des Krieges. In Afrika und Asien bildete sich jene Gewaltkultur heraus, die auch den Ersten Weltkrieg prägte. Isabell Hull und Volker Berghahn sehen in der kolonialen Erfahrung einen wichtigen Stimulus für die Bereitschaft deutscher Militärs für einen totalen Vernichtungskrieg, wie er in Teilen bei der Besetzung Belgiens und vor allem an der Ostfront praktiziert wurde.3 Die Totalität dieser Kriegsführung betraf vor allem die Abkehr von der Unterscheidung zwischen Zi2 A. Mombauer, The Origins of the First World War: Controversies and Consensus (Harlow: Pearson Education) 2002, S. 11; R. F. Hamilton/H. H. Herwig, Decisions for War, 1914 – 1917 (Cambridge: Palgrave Macmillan), 2004, S. 35. 3 I. V. Hull, Absolute Destruction. Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany (Ithaca: Cornell University Press), 2005; V. R. Berghahn, Europe in the Era of Two World Wars: From Militarism and Genocide to Civil Society, 1900 – 1950 (Princeton: Princeton University Press), 2006.
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vilisten und Kombattanten und die Ausdehnung des Schlachtfeldes auf bewohnte Gebiete, auf Städte und Dörfer, sowie die Infrastruktur und Logistik des Feindes.4 In dieser Hinsicht waren Kolonialkriege in der Tat Lehrmeister für die Ereignisse 1914 bis 1918. Der Historiker Vejas G. Liulevicius hat in seiner Untersuchung zur deutschen Besatzung Osteuropas vielfältige Parallelen zum Kolonialismus in Afrika gefunden. Sie reichten von Visionen eines jungfräulichen, weiten und zu zivilisierenden Landes (selbst die sprichwörtlichen Urwälder Afrikas fanden einige Soldaten in den Weiten des russischen Landes) über die Konstruktionen eines Kampfes zwischen unterschiedlichen Rassen bis hin zur Gegenüberstellung von Kultur und Barbarei bis zu personellen Kontinuitäten.5 Für Frankreich und Großbritannien erwuchsen die Kolonien während des Krieges zu einem bedeutenden Faktor ihrer Kriegsökonomien. Bis zum Ende des Krieges arbeiteten etwa 700.000 Arbeiter aus den Kolonien in den Rüstungsbetrieben der Alliierten oder wurden als Hilfsarbeiter unmittelbar an der Front eingesetzt.6 Das Bruttoinlandsprodukt der Mittelmächte lag zu Beginn des Krieges bei 376 Millionen Dollar, die Entente verfügte mit 622 Millionen Dollar über fast das Doppelte. Zu diesem Bruttoinlandsprodukt trugen die Kolonien und Dominions Großbritanniens und Frankreichs mit immerhin 288 Millionen Dollar wesentlich bei. Auch bei den demographischen Daten war das Verhältnis für die Mittelmächte ungünstig: 156 Millionen Menschen umfasste die Bevölkerung der Mittelmächte, 259 Millionen Menschen dagegen konnten Großbritannien, Frankreich und Russland allein aufbringen. Hinzu kamen 428 Millionen Menschen in den überseeischen Kolonien und Dominions der Entente. Nicht immer waren die Ressourcen ihrer überseeischen Gebiete für die Entente leicht zugänglich und mussten oft über Tausende von Seemeilen transportiert werden. Zudem war die wirtschaftliche Kraft der überseeischen Gebiete in hohem Maße uneinheitlich. Während in Großbritannien das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf bei 4.221 Dollar lag, so betrug es in seinen überseeischen Gebieten nur 676 Dollar.7 Insgesamt aber gaben überseeische Kolonien den Alliierten die notwendigen wirtschaftlichen und demographischen Vorteile, um den Krieg am Ende zu gewinnen. Um den Wert dieser Ressourcen zu erkennen, bedurfte es aber bei den Verantwortlichen eines Lernprozesses. Zunächst verwendeten britische und französische Militärs kaum einen Gedanken an den Einsatz ihrer Kolonialtruppen in Europa. Dabei gab es durchaus Erfahrungen: Im 19. Jahrhundert hatte Frankreich seine afrikanischen Truppen in mehreren Kriegen eingesetzt. Algerische Soldaten kämpften im 4 C. Vismann, Starting from the Scratch. Concepts of Order in No Man’s Land, in: B. Hüppauf (Hrsg.) War, Violence and the Modern Condition, 1997, S. 46 ff. (53). 5 V. G. Liulevicius, War Land on the Eastern Front: Culture, National Identity, and German Occupation in World War I (Cambridge: Cambridge University Press), 2004, S. 29. 6 Ibid., S. 113. 7 H. Strachan, The First World War as a Global War, in: St. Broadberry/M. Harrison (Hrsg.), The Economics of World War I (Cambridge: Cambridge University Press) 2005, S. 3 ff.
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Krimkrieg und senegalesische Truppen im franko-deutschen Krieg von 1871. Doch 1914 wurde diese Rolle afrikanischer Truppen in Frankreich vergessen bzw. ignoriert. Dabei spielten rassistische Vorurteile eine große Rolle: Französische Offiziere waren überzeugt, dass Afrikaner in einem modernen, europäischen Krieg nicht bestehen könnten. Trotz der langen Tradition imperialer Militäreinsätze waren auch ihre britischen Kollegen eher skeptisch. Die Meutereien indischer Truppen 1857 und ugandischer Truppen 1897 hatten Zweifel an der Loyalität von Kolonialsoldaten gesät. Eine Lehre aus diesen Meutereien war, die Bewaffnung und Ausrüstung dieser Truppen nur mit Verzögerung zu modernisieren, um eine Überlegenheit der britischen Truppen zu garantieren.8 Angesichts der katastrophalen Verluste in den ersten Monaten des Krieges setzte ein radikales Umdenken bei den Alliierten ein.9 Mehr als 650.000 Soldaten aus den Kolonien kämpften für die Alliierten auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen in Europa. Darunter waren 150.000 Inder sowie mehr als 400.000 Soldaten aus Französisch-Nordafrika und -Westafrika.10 Oft verzeichneten diese Truppen die höchsten Verluste. Französische Offiziere bevorzugten Senegalesen als Stoßtrupps gegen deutsche Stellungen, wohl wissend, dass nur wenige überleben würden. Für Frankreich zahlten damit die Afrikaner ihre „Blutsteuer“ für die vermeintlichen Segnungen des französischen Kolonialismus. Auch die Briten konnten ihren Rassismus nicht völlig überwinden. Die zweitrangige Ausbildung und Bewaffnung indischer und südafrikanischer Truppen erwies sich nun als fatal. Sie trug in den ersten Kriegsjahren zu den vielen Rückschlägen im Nahen Osten und in Afrika bei. Das deutsche Kaiserreich unterlag am Ende auch deswegen, weil es im Abnutzungskrieg, zu dem der Erste Weltkrieg seit Ende 1914 mutiert war, gegen die globalen Imperien der Alliierten nicht bestehen konnte. Die Deutschen haben den ersten globalen Konflikt der Geschichte verloren, weil sie ihn als einen europäischen Krieg sahen. Bereits 1897 hatte sich die deutsche Admiralität gegen eine aktive Rolle der Marine in der Sicherung von überseeischen Territorien ausgesprochen. Auch in den strategischen Planungen des Generalstabs nahmen die Kolonien keinen bedeutenden Platz ein. Die Schaffung imperialer Truppen, wie es sie in Großbritannien und Frankreich gab, lehnten die deutschen Militärs ab. Aus den deutschen Kolonien dagegen fand kein einziger Soldat, kein kriegswichtiges Gut seinen Weg nach Europa. Während die Franzosen und Briten beträchtliche Ressourcen für den Krieg in Afrika be-
8 C. Markovits, Indian Soldiers’ Experiences in France During World War I: Seeing Europe from the Rear of the Front, in: H. Liebau/K. Bromber/K. Lange/D. Hamzah/R. Ajuja (Hrsg.), The World in World Wars. Experiences, Perceptions and Perspectives from Africa and Asia, (Leiden: Brill), 2010, S. 29 ff. (32). 9 C. M. Andrew/A. S. Kanya-Forstner, France, Africa, and the First World War, in: The Journal of African History 19 (1978), S. 11 ff. (14). 10 Chr. Koller, The Recruitment of Colonial Troops in Africa and Asia and their Deployment in Europe During the First World War, in: Immigrants & Minorities 26 (2008), S. 111 ff. (114).
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reitstellten, gelangten gerade mal zwei Versorgungsschiffe nach Ostafrika, dem am heftigsten umkämpften Kriegsschauplatz. II. Der Erste Weltkrieg in Afrika Es dauerte nur wenige Tage, bis der Konflikt in Europa auch den afrikanischen Kontinent erreichte. Während in Europa die Verantwortlichen im August noch kaum realisiert hatten, dass aus dem Balkankonflikt ein europäischer Flächenbrand geworden war und immer noch hofften, der Spuk sei spätestens Ende des Jahres vorüber, sahen sich die Militärs und Beamten vor Ort vor die Entscheidung zwischen Krieg und Frieden gestellt. Für viele Kolonialmilitärs stand eine Ausweitung des Krieges außer Frage. Für die europäische Zivilbevölkerung und auch einen Gutteil der Zivilbeamten war die Aussicht auf einen Krieg zunächst wenig populär. Vor allem Missionare warnten vor den Folgen eines Krieges zwischen den Europäern auf dem Kontinent. Die Gegner des Krieges beriefen sich auf die Kongoakte, die eine Neutralität der Kolonien im Falle eines europäischen Konfliktes vorsah. So gab es im August 1914 durchaus noch eine Chance den Krieg aus Afrika fernzuhalten. Doch wie im Juli in Europa versagte die europäische Diplomatie auch hier. Bereits in der ersten Augustwoche überschritten englische und französische Truppen die Grenze zur deutschen Kolonie in Togo, eroberten deutsche Truppen in Ostafrika eine kleine Ortschaft auf britischer Seite, bombardierten englische Kriegsschiffe deutsche Häfen. Wie in Europa entwickelte sich aus einer Kette von lokalen Ereignissen eine Dynamik, die schnell der Kontrolle der Verantwortlichen entglitt. Anders als in Europa, wo die Kontinentalmächte das Geschehen in Gang setzten, waren es in Afrika die Briten, die den Lauf der Ereignisse forcierten. Für die Briten begann der Krieg in der Tat nicht in Europa sondern in Afrika. Bereits in den letzten Julitagen ordnete der Gouverneur der britischen Kolonie an der Goldküste die Mobilisierung seiner Truppen an. Zu diesem Zeitpunkt war das britische Empire offiziell noch keine Kriegspartei. Den ersten Schuss, den ein britischer Soldat im Krieg abfeuerte, kam aus dem Gewehr des Sergeanten Alhaji Grunshi, als er mit seinen Kameraden am 7. August 1914 die Grenze zur deutschen Kolonie Togo überschritt. Das Empire war tief in der britischen Politik und im Militär verankert. Neben dem War Office war das Committee on Imperial Defence bis 1917 die wichtigste Schaltstelle militärischer Planung. Ab 1917 wurde das Imperial War Cabinet ins Leben gerufen, das seitdem die Koordination der Kriegsbemühungen übernahm. In diesen Gremien trafen sich die Ministerpräsidenten der Dominions mit den ranghöchsten Vertretern der Kolonialbürokratie und des britischen Militärs.11 Mit Lord Kitchener stand im War Office seit 1914 ein Offizier an der Spitze, der seine Karriere in den Kolonien gemacht hatte. Für die Verantwortlichen in London hatte der Krieg 11 B. K. Digre, Imperialism’s New Clothes: The Repartition of Tropical Africa, 1914 – 1919 (1990), S. 4.
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daher von Beginn an eine ganz andere Dimension als für ihr deutsches Gegenüber. Während die deutschen Militärplaner über die Kontrolle von Eisenbahnen und Straßenkreuzungen nachdachten, galt das Interesse ihrer britischen Kollegen mehr den Schifffahrtswegen auf dem Indischen und Atlantischen Ozean. Von oberster Priorität waren dabei die Seewege nach Indien. Für die Navy waren die deutschen Kolonien potenzielle Nachschubbasen für deutsche Kriegsschiffe. Als am 6. August 1914 der deutsche Kreuzer Königsberg im Golf von Aden ein britisches Handelsschiff aufbrachte, schienen sich diese Annahmen zu bewahrheiten. Allerdings war die Bedrohung durch deutsche Kreuzer eher gering. Gerade mal eine Handvoll deutscher Kreuzer segelte fern von Europa auf den Weltmeeren. Die Kolonien hatten in den strategischen Planungen der deutschen Marine stets eine untergeordnete Rolle gespielt. Nur das chinesische Tsingtau war zu einem Flottenstützpunkt ausgebaut worden. Das war auch den Militärs des War Office bekannt. Kitchener war daher nicht bereit, die Ressourcen des Empire für die Eroberung unbedeutender Häfen in Afrika zu verwenden. Doch ihm trat eine mächtige Koalition aus dem Kolonialministerium und dem Ministerium für die indische Kronkolonie entgegen. Sie trieb die Ausweitung des Krieges auf Afrika mit Verve voran.12 Belgien und Frankreich zeigten zu Beginn des Krieges kaum ein Interesse an einem Krieg in Afrika. Die belgische Exilregierung in London votierte zunächst für eine Wahrung der Neutralität ihrer Kolonie, wie sie die Kongoakte von 1884 festgelegt hatte und wollte diese Neutralität auch auf die anderen europäischen Kolonien ausweiten. Auch Frankreichs Politiker reagierten zunächst verhalten auf die britischen Offerten für ein gemeinsames Vorgehen in Afrika. Die Regierung in Paris hatte im August andere Sorgen. Die Deutschen standen vor den Toren von Paris. So fiel die Entscheidung zunächst nicht in der Hauptstadt, sondern in den Kolonien. Die Kolonialverwaltung im französischen Dahomey signalisierte am 6. August den Kommandeur der britischen Truppen in der Goldküste, dass sie zu einer militärischen Kooperation bei der Eroberung Togos bereit seien. London gab seine Zustimmung für die Operation am gleichen Tag, Paris rang unterdes immer noch um eine Position zum Krieg in Afrika. Die Marseiller Koloniallobby, die seit Jahrzehnten Frankreichs Kolonialpolitik dominierte, drängte auf ein aktiveres Engagement. Andernfalls, warnten sie Paris, werde man bei diesem zweiten Scramble nur auf der Zuschauerbank sitzen. Die Ereignisse in Westafrika entfalteten unterdes ihre eigene Dynamik, der sich Paris kaum noch entziehen konnte. Französische und britische Truppen überschritten die Grenze zur deutschen Kolonie in der ersten Augustwoche und trafen zunächst auf wenig Widerstand. Am 26. August 1914 erreichten sie nach heftigen aber kurzen Gefechten die Funkstation im togolesischen Kamin. Am gleichen Tag kapitulierten die Deutschen. Vorher hatten sie den Funkmast zerstört. Damit waren die deutschen Kolonien de facto von der Heimat abgeschnitten. Kaum einen Monat hatte der Feldzug gedauert und auf beiden Seiten waren nur wenige Verluste zu beklagen. Unter dem Eindruck des schnellen Sieges in Togo, forcierte das 12
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französische Außenministerium und das Kolonialministerium eine Entscheidung für einen Feldzug gegen die deutsche Kolonie Kamerun. Mitte August waren die Würfel für eine umfassende französische Beteiligung am Krieg in Afrika gefallen. Der französische Kolonialminister beschied seinem belgischen Amtskollegen, dass Frankreich nunmehr die britische Position teile: Die Deutschen müssten überall dort geschlagen werden, wo sie zu finden seien. Frankreich werde sich zudem das zurückholen, was die Deutschen ihnen im Zuge der Marokkokrise abgepresst hätten.13 Damit standen die Belgier mit ihren Neutralitätsplänen auf einsamem Posten. Die französische Entscheidung, in Kamerun einzumarschieren setzte sie unter enormen Druck. Um ihre Truppen an die Front zu senden, brauchten die Franzosen die Hilfe der Belgier im Kongo. Sie verfügten mit dem Kongo-Fluss über die wichtigste Verkehrsader in der Region. Verweigern konnten die Belgier die Bitte der Franzosen kaum. Französische Soldaten kämpften in Europa auch für die Verteidigung Belgiens. Darüber hinaus konnten die Belgier sich dem Sog der Ereignisse in Afrika kaum entziehen. Mit jedem Tag kam der Krieg näher an die Grenzen des Kongo. Am 22. August griff ein deutsches Schiff die kongolesische Hafenstadt Albertville am Tanganyika-See an und zerstörte ein belgisches Schiff. Die belgische Regierung ordnete daraufhin den Kriegszustand in der Kolonie an. Den französischen Bitten wurde entsprochen und zusätzlich 600 Soldaten der Force Publique zur Unterstützung der Franzosen und Briten in den Kamerun entsandt. Einen Tag nach dem deutschen Angriff auf Albertville appellierte die Regierung in Berlin an die US-amerikanische Regierung, sich für die Neutralität des Kongo einzusetzen. Für den deutschen Generalstab war Afrika bestenfalls ein lästiges Problem. Untere den deutschen Militärs galten die deutschen Kolonien als nicht zu verteidigen. Sie seien umringt von alliierten Territorien, ihre Truppen schlecht ausgerüstet und ihre Versorgung sei nicht gesichert.14 Angesichts der offiziellen Berliner Politik war das aggressive Verhalten der Deutschen in Ostafrika überraschend. Berlin hatte offensichtlich wenig Kontrolle über die Ereignisse in seinen Kolonien. Der Gouverneur von Deutsch-Ostafrika hatte wie sein Amtskollege in Togo zunächst die belgische Neutralitätsposition unterstützt. Weisungen aus Berlin und Vorkriegsplanungen schienen seine Position zu bestätigen. So setzte Gouverneur Heinrich Schnee zunächst auf diplomatische Absprachen mit seinen belgischen und britischen Amtskollegen. Der Kommandeur der Kolonialtruppen Paul von Lettow-Vorbeck weigerte sich jedoch, diese Position seines formellen Vorgesetzten zu teilen. Die Ereignisse schienen ihm recht zu geben: Am 8. August bombardierten britische Schiffe 13 B. K. Digre (Anm. 11), Imperialism’s New Clothes: The Repartition of Tropical Africa, 1914 – 1919, S. 5; M. D. Callahan, Mandates and Empire: The League of Nations and Africa, 1914 – 1931, 1999, S. 11; R. Anderson, The Battle of Tanga 1914 (London: Tempus), 2002, S. 21; W. K. Storey, The First World War: A Concise Global History (London: Rowman & Littlefield), 2010, S. 137; C. M. Andrew/A. S. Kanya-Forstner, France, Africa, and the First World War, in: The Journal of African History, vol. 19, No. 1 (1978), S. 11 ff. (14). 14 B. K. Digre (Anm. 11), Imperialism’s New Clothes: The Repartition of Tropical Africa, 1914 – 1919, S. 8.
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Dar es Salaam, die Hauptstadt der Kolonie und zerstörten den Funkturm. Schnee deklarierte Dar es Salaam als offene Stadt, die Briten unternahmen daher keinen Landungsversuch. Am 15. August überschritten deutsche Truppen die Grenze zu Britisch-Ostafrika und besetzten den kleinen Grenzort Taveta. Damit waren auch auf Seiten der Deutschen die Weichen auf Krieg gestellt. Auch Großbritanniens Entscheidung fiel nicht nur in London. Das britische Empire war ein komplexes Gebilde mit sehr differenzierten Beziehungen zwischen London und den jeweiligen abhängigen Gebieten. Insbesondere die Dominions Australien, Neuseeland, Kanada und Südafrika, aber auch das einflussreiche Indian Office verfolgten durchaus eigenständige Interessen, die nicht immer im Einklang mit dem britischen Kriegskabinett standen. Vor allem die Beteiligung Südafrikas am Krieg war weit davon entfernt eine sichere Sache zu sein. Viele Politiker des burischen Establishments hatten im Burenkrieg gegen die Briten gekämpft. Die Regierung von Louis Botha wies London auf die Unpopularität eines südafrikanischen Kriegseintritts in der Bevölkerung hin. Ihre Bereitschaft hing, das machten sie London unmissverständlich klar, von der britischen Unterstützung für eine südafrikanische Annexion Deutsch-Südwestafrikas ab. Am 8. August stimmte die südafrikanische Regierung dem britischen Ansinnen zu. Diese Entscheidung führte maßgeblich zur Revolte südafrikanischer Einheiten unter dem Kommando von Salomom G. Maritz. Er schloss ein Abkommen mit den Deutschen, das ihm die Unabhängigkeit Südafrikas von Großbritannien nach einem deutschen Sieg garantierte. Der Aufstand wurde von Regierungstruppen schnell niedergeschlagen, viele Rebellen flohen über die Grenze und schlossen sich den Deutschen an.15 Die britische Navy eroberte am 14. September die Funkstation von Swakopmund, drei Tage später landeten südafrikanische Truppen in der Lüderitzbucht. Ende August, Anfang September war die Ausweitung des Krieges auf Afrika nicht mehr aufzuhalten. Der schnelle Sieg in Togo motivierte Briten und Franzosen, ihre Pläne auszuweiten. Schnell aber wurde klar, dass Togo sich nicht wiederholen würde. Südafrikanische Truppen mussten eine empfindliche Niederlage bei Sandfontein im September 1914 einstecken. Einen Monat später geriet die Landung von mehr als 8.000 britischen Soldaten in der ostafrikanischen Hafenstadt Tanga Anfang November 1914 zu einem Desaster, das in den Annalen der britischen Kriegsgeschichte lange als eine ihrer größten Niederlagen galt. In den folgenden Monaten übernahm Paul Emil von Lettow-Vorbeck die strategische Initiative auf dem ostafrikanischen Kriegsschauplatz. Durch begrenzte Offensiven gegen belgische und britische Stellungen verhinderte er jede weitere Offensivaktion der Alliierten. In Kamerun leisteten die Deutschen dem alliierten Vormarsch zunächst durchaus erfolgreich Widerstand und drangen im April 1915 sogar auf britisches Territorium vor. Erst Mitte 1915 wendete sich das Blatt zugunsten der Alliierten in Kamerun und Südwestafrika. Im Juni konnten die Briten einen wichtigen Sieg mit der Einnahme des Forts von Garua erringen. Damit war der Weg ins Landesinnere offen. In den fol15
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genden Wochen fiel der Norden Kameruns vollständig unter die Kontrolle der Alliierten, nur der Einbruch der Regenzeit verhinderte für einige Monate den Vormarsch der Briten und Franzosen. Im Dezember nahmen die Alliierten ihren Vormarsch auf Yaounde, der provisorischen Hauptstadt der Kolonie, wieder auf. Die Deutschen verfügten kaum noch über Munition und flohen in die spanische Enklave von Riu Muni. Die entscheidenden Kämpfe auf dem südafrikanischen Kriegsschauplatz fanden im Mai 1915 bei Karibib statt, wo die Deutschen ihre Kräfte konzentriert hatten. Den Südafrikanern gelang es die deutschen Stellungen zu umgehen. Um der Einkesselung zu entgehen, zogen sich die Deutschen zurück. Sie ließen dabei einen Großteil ihrer Ausrüstung und Zuversicht zurück. Damit war der Weg ins Innere für die Südafrikaner frei. Am 12. Mai fiel Windhuk und am 9. Juli ergaben sich die letzten deutschen Truppen. Damit war nur noch die Kolonie in Ostafrika in deutscher Hand. Blickten die alliierten Militärs 1916 auf das vergangene Jahr zurück, so hatten sie zwar Erfolge vorzuweisen, diese waren aber teurer erkauft als erhofft. Auch in Europa und in Asien standen die Dinge nicht zum Besten. An der Westfront war trotz hoher Verluste an einen Durchbruch nicht zu denken, der Krieg gegen das Osmanische Reich verlief wenig zufriedenstellend. Nur in Afrika konnten die Militärs auf neue Erfolge hoffen. In dieser Situation begannen Politiker über die Zeit nach dem Krieg nachzudenken. Das Jahr 1916 setzte daher die koloniale Neuordnung Afrikas auf die Agenda der europäischen Kriegsparteien. Im März 1915 forderte der britische Kolonialminister Lewis Harcourt die deutschen Kolonien in Ostafrika nach dem Krieg dem britischen Empire einzuverleiben. Damit sollte die fast vergessene Vision Cecil Rhodes’ von einer Eisenbahn vom südafrikanischen Kapstadt zum ägyptischen Kairo endlich verwirklicht werden. Gut ein Jahr später wurde David Lloyd George britischer Premierminister. Anders als sein Vorgänger galt er als entschiedener Befürworter einer Expansion des Empire. Im gleichen Jahr begannen auch die Franzosen sich über ihre Kriegsziele in Afrika Gedanken zu machen. Oberste Priorität hatte dabei die Kontrolle über ganz Kamerun. Die Belgier folgten mit der Formulierung ihrer Kriegsziele in Afrika wenige Monate später. Für sie war das Mündungsgebiet des Kongos von enormer Bedeutung. Daneben erhoben sie Ansprüche auf Teile der deutschen Kolonie in Ostafrika. Deutsche Politiker forderten 1916 die Errichtung eines deutschen Mittelafrikas. Der Kongo sollte als Bindeglied zwischen Kamerun und Deutsch-Ostafrika unter deutsche Hoheit fallen. Die Idee eines deutschen Mittelafrikas war seit der Marokkokrise in den außenpolitischen Kreisen des Kaiserreichs diskutiert worden. Doch damals war sie kaum mehr, wie die Krise von 1911, als ein gezinktes Ass im Ärmel, welches das Kaiserreich gelegentlich hervorholte, um seine Großmachtansprüche in Europa anzuzeigen.16 Im Ersten Weltkrieg fand es nunmehr Eingang in die offiziellen Kriegsziele des Kaiserreichs.
16 M. Hewitson, Germany and the Causes of the First World War (Oxford: Berg Publishers) 2004, S. 232.
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Für die koloniale Neuordnung Afrikas mobilisierten die Alliierten nun mehr Ressourcen. Nach dem Sieg in Südwestafrika wurden die südafrikanischen Truppen Anfang 1916 nach Ostafrika verlegt. Hier hatten die Briten und Belgier bis dahin kein Mittel gefunden, den deutschen Widerstand zu brechen. Am 12. Februar 1916 übernahm Jan Smuts, der in Deutsch-Südwestafrika mit großem Erfolg gegen die Deutschen gekämpft hatte, das Kommando in Ostafrika. Die alliierte Offensive begann noch am selben Tag. Neben den Südafrikanern standen indische, britische und einige ostafrikanische Einheiten unter seinem Kommando. Die Belgier stellten ein Expeditionskorps unter dem Kommando von Charles Tombeur auf, das vom Westen her angreifen sollte. Im British-Nyassaland, dem heutigen Malawi, wurde ein weiteres britisches Korps unter dem Kommando von Edward Northey formiert. Insgesamt verfügten die Alliierten damit über mehr als 70.000 Soldaten. Ihnen standen etwa 14.000 Soldaten auf deutscher Seite gegenüber. Schon in den ersten Wochen wurde Smuts klar, dass dieser Feldzug in Nichts mit seinen Erfahrungen in Südwestafrika zu vergleichen war. Erst nach wochenlangen zähen Kämpfen, die unter den alliierten Truppen hohe Verluste forderten, zogen sich die Deutschen aus dem Norden ihrer Kolonie zurück. Die Taktik der schnellen Flankenvorstöße seiner Kavalleristen, die Smuts in Deutsch-Südwestafrika so erfolgreich angewandt hatte, versagte aufgrund des taktischen Geschicks der Deutschen und der klimatischen Bedingungen völlig. Als die Südafrikaner im Mai 1916 die Mittellandbahn bei Mahenge erreichten, hatten sie zwei Drittel ihrer Pferde verloren und kaum mehr als 3.000 kampffähige Männer. Smuts vermied mit Rücksicht auf die Stimmung in der Heimat direkte Angriffe auf die Deutschen und damit hohe Verluste unter seinen Truppen. Diese taten ihm den Gefallen und gingen mehr und mehr zu einer Taktik der gezielten Vorstöße kleiner Einheiten über. Wenn auch die Deutschen in vielen dieser Gefechte siegreich blieben, zehrten die Rückzugsgefechte an ihrer Kampfkraft und -moral. Ende 1916 war der Zustand der deutschen Truppen mehr als kritisch. Doch auch die Alliierten waren am Ende ihrer Kräfte. Nach fast einem Jahr kam die alliierte Offensive zum Stillstand. Anfang 1917 übergab Smuts das Kommando an den Briten Hoskins. Dessen Versuche, die Deutschen im Oktober zu einer letzten Entscheidungsschlacht bei Mahiwa zu stellen, endeten in einem Fiasko. Nahezu 2.500 Soldaten fielen auf britischer Seite in der verlustreichsten Schlacht dieses Feldzuges. Das waren mehr als die Hälfte der eingesetzten Truppen. Dennoch zogen sich die Deutschen zurück und überquerten im November die Grenze zu Portugiesisch-Ostafrika. Verfolgt von britischen Truppen zogen die Deutschen von Ort zu Ort auf der Suche nach Munition und Nahrung. Erst im September 1918 kehrten die Deutschen in ihre Kolonie zurück. Am 25. November, fast zwei Wochen nach dem Ende der Kämpfe in Europa, ergab sich Lettow-Vorbeck den Briten. Zwei Wochen nach dem Ende der Kampfhandlungen in Europa war auch der Krieg in Afrika vorbei.17 Gemessen an den Millionen Toten, die der Krieg auf Europas Schlachtfeldern hinterließ, waren die Opferzahlen in Afrika gering. Offizielle Zahlen sprechen von 4.902 17 Siehe im Detail M. Pesek, Das Ende eines Kolonialreiches. Ostafrika im Ersten Weltkrieg (Frankfurt a. M.: Campus), 2010.
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Toten auf Seiten der Briten in Ostafrika. Historiker vermuten allerdings, dass bis zu 20.000 Soldaten starben. Deutsche Quellen geben etwa 2.000 Gefallene in ihren Reihen an. Bei der Eroberung Togos fielen dagegen nur 83 Briten und 54 Franzosen. Die Deutschen verloren 41 Soldaten.18 Anders als in Europa kam der Tod in Afrika meist nicht in Form einer der neuesten Errungenschaften europäischer Waffenschmieden, sondern in Form kleiner Insekten oder Bakterien. Nicht Schlachten dezimierten die Armeen, sondern Krankheiten. Und nicht Soldaten, sondern meist unbewaffnete Träger zahlten den höchsten Blutzoll auf dem Schlachtfeld und in den hinteren Linien. Unter unvorstellbaren Bedingungen transportierten sie auf ihrem Rücken alles, was für den Krieg gebraucht wurde: von der Patrone bis zum schweren Geschütz, von Reisesack bis hin zu den Verwundeten. Allein in Ostafrika rekrutierten die Briten fast eine Million Afrikaner für diesen Dienst. Die wenigsten gingen freiwillig, sondern wurden durch Gewalt, falsche Versprechungen oder Betrug an die Front geschickt. Sie starben zu Tausenden an Erschöpfung, Unterernährung, Krankheiten und im Hagel der Kugeln und Schrapnells. Bei 20 Prozent lag die Todesrate der Träger in Ost- und Westafrika. Über die Hälfte kam als Invaliden nach Hause.19 Genaue Opferzahlen für die Zivilbevölkerung sind bis heute unbekannt. Allein in Ostafrika sollen mehr als 300.000 Zivilisten infolge des Krieges ihre Leben verloren haben. Ganze Landstriche waren verwüstet und die Bevölkerung aus ihren Dörfern vertrieben. Ein Großteil der Infrastruktur war von den Deutschen auf ihrem Rückzug zerstört worden. Hungersnöte suchten die Bevölkerung der Kriegsgebiete heim. Massenvergewaltigungen und Entführungen von Frauen prägten den grausigen Alltag des Krieges. Hungersnöte wüteten auch noch Jahre nach Ende des Krieges.20 In Ugogo, das von den Deutschen in den ersten zwei Jahren des Krieges systematisch ausgeplündert und durch die erbitterten Kämpfe des Jahres 1916 verwüstet worden war, führten die Forderungen der nachfolgenden Briten nach Nahrung und Männer für den Trägerdienst zum endgültigen Kollaps der lokalen Landwirtschaft. Im Jahr 1917 brach eine Hungersnot aus, die mehr als drei Jahre wütete und Zehntausende tötete.21 Viele verließen ihre Dörfer und flohen in die Wälder, wo sie sich vor den Briten versteckten und von wilden Früchten und Wurzeln lebten. Manche sahen
18 M. Moyd, ,We Don’t Want to Die for Nothing‘: Askari at War in German East Africa, 1914 – 1918, in: S. Das (Hrsg.), Race, Empire and First World War Writing (Cambridge: Cambridge University Press), 2011, S. 90 ff. (91); H. Strachan (Anm. 12), The First World War in Africa, S. 9; M. E. Page, The War of Thangata: Nyasaland and the East African Campaign, 1914 – 1918, in: Journal of African History 19 (1978), S. 87 ff. (98); M. E. Page, Black Man in a White Man’s War, in: M. E. Page (Hrsg.), Africa and the First World War (New York: St. Martin’s Press), 1987, S. 4. 19 H. Strachan (Anm. 12), The First World War in Africa, S. 7. 20 M. Owino, Africa and the First World War, in: M. S. Shanguhyia/T. Falola (Hrsg.), The Palgrave Handbook of African Colonial and Postcolonial History (Basingstoke: Palgrave Macmillan), 2018, S. 339 ff. (349). 21 G. Maddox, Mtunya: Famine in Central Tanzania, 1917 – 20, in: The Journal of African History 31 (1990), S. 181 ff. (185).
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sich gezwungen ihre Kinder zu verkaufen.22 Der Hungersnot folgte knapp ein Jahr später der Ausbruch der Spanischen Grippe, der die durch den Hunger geschwächte Bevölkerung nichts mehr entgegenzusetzen hatte.23 Die Influenza-Epidemie, die sich entlang der Küste und mithilfe der Truppentransporter und Versorgungschiffe verbreitete, soll mehr als 1,5 bis 2 Millionen Afrikanern das Leben gekostet haben.24 III. Afrikaner in einem europäischen Konflikt Der Erste Weltkrieg sollte nicht nur der kolonialen Landkarte seine endgültige Form geben, er führte zu einer zweiten Kolonialisierung des Kontinents. Im Jahr 1914 war die koloniale Eroberung in vielen Teilen Afrikas gerade erst abgeschlossen. Der koloniale Staat war vielerorts nur wenig präsent und die Beziehungen zu den afrikanischen Gesellschaften mehr als fragil. Vielfach ähnelten sie eher Waffenstillstandsvereinbarungen denn dem Anfang von Herrschaftsbeziehungen. Oft waren unterschiedliche Grade kolonialer Durchdringung afrikanischer Gesellschaften und unterschiedliche Arrangements mit den lokalen Eliten nur einige Kilometer voneinander entfernt. Einzelne Individuen und Gesellschaften hatten aufgrund dieser Uneinheitlichkeit ganz unterschiedliche Erfahrungen mit dem Kolonialismus. Einige hatten von den Europäern profitiert, andere ihren Widerstand mit ihrem Leben, Eigentum und Vertreibung bezahlt. Die meisten europäischen Kolonialherren hatten bis zum Krieg nur wenig in den Ausbau von Verwaltung, Ökonomie und Infrastruktur investiert. Zwar waren vielfach Inseln kolonialer Ökonomie entstanden, eine koloniale Wirtschaftspolitik aber war vielerorts erst in ihren Anfängen. Steuerhebungen waren auf einige Zonen konzentriert und oft mehr als sporadisch. Bis 1914 wussten die Kolonialherren nur wenig über das wirtschaftliche und demographische Potenzial ihrer Kolonien. Der Erste Weltkrieg läutete daher oft eine zweite Phase kolonialer Durchdringung ein. Die Kriegsökonomien banden auf eine bis dahin nicht gekannte Weise die Arbeitskraft der afrikanischen Gesellschaften ein, die zum Anbau von Lebensmitteln, Bau von Straßen und Schienen sowie zur Produktion von kriegswichtigen Gütern gezwungen wurden. In der britischen Kolonie Kenya waren etwa 110.000 Afrikaner auf europäischen Plantagen oder beim Eisenbahnbau beschäftigt. Während des Krieges arbeiteten allein 200.000 Afrikaner als Arbeiter und Träger in der Kriegsökonomie. Die Kolonialbehörden von Nordrhodesien schätzten, dass während des Krieges jeder männliche Afrikaner mindestens einen 22
A. Liebhafsky Des Forges, Defeat Is the Only Bad News: Rwanda under Musinga, 1896 – 1931 (Madison: University of Wisconsin Press) 2011, S. 138. 23 G. Maddox (Anm. 21), Mtunya: Famine in Central Tanzania, 1917 – 20, S. 185. 24 D. C. Ohadike, Diffusion and Physiological Responses to the Influenza Pandemic of 1918 – 19 in Nigeria, in: Social science & medicine, vol. 32 (1991), S. 1993; T. A. Ayoola, The Price of „Modernity“? Western Railroad Technology and the 1918 Influenza Pandemic in Nigeria, in: T. Falola/E. Brownell (Hrsg.), Landscape, Environment and Technology in Colonial and Postcolonial Africa (New York: Routledge), 2012, S. 148 ff. (150); St. C. Schoenbaum, The Impact of Pandemic Influenza, with Special Reference to 1918, in: International Congress Series 1219 (2001), S. 43 ff. (48).
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Monat für die Kriegsökonomie gearbeitet hatte. Zu einer ähnlichen Schätzung kam auch der Gouverneur von Deutsch-Ostafrika.25 Dabei traf die Härte der Kriegsökonomie besonders jene Regionen, die bis dahin nur wenig in die koloniale Ökonomie eingebunden waren, wie etwa die Grenzregionen im Süden der deutschen Kolonie in Ostafrika und in Britisch-Zentralafrika. Hier war der Widerstand auf die neuerliche Invasion des kolonialen Staates sehr unmittelbar. Am Nyassa-See bildete die Chilembwe-Revolte von 1914 den Auftakt zu einem langjährigen Widerstand der Bevölkerung gegen Zwangsrekrutierungen zum Trägerdienst, Zwangsarbeit, höhere Steuern und steigende Preise während des Krieges. Der Prediger der Watchtower Kirche, John Chilembwe, klagte in seinen Predigten und Artikeln die Kriegslasten für die afrikanische Bevölkerung im Nyassaland an. Seine Predigten wurden zum Fanal. Chilembwes Anhänger stürmten europäische Verwaltungsgebäude und Farmen und brannten sie nieder. Die Briten konnten den Aufstand erst mit Hilfe eines Bataillons der Kings African Rifles niederschlagen. Doch damit war der Einfluss der radikalen Prediger nicht zu Ende. Im benachbarten Nordrhodesien riefen afrikanische Prediger die jungen Männer auf, sich dem Trägerdienst zu verweigern. Diese Radikalisierung afrikanischer Kirchen war vor allem Ausdruck eines wachsenden Misstrauens der Bevölkerung gegenüber ihren traditionellen und neuen geistigen Autoritäten. Chiefs und Missionare hatten vielfach mit den Behörden bei den Zwangsrekrutierungen kollaboriert. Um die Agitation der Prediger zu unterbinden, wurden viele der radikalen Prediger verhaftet und zum Trägerdienst an die Front geschickt.26 Die Watchtower Kirche fand im Nyassaland und Rhodesien auch deshalb so großen Zuspruch, weil sie mit den Bildern und Prophezeiungen eines christlichen Millenarismus operierte. Elliot Kamwana, einer der ersten afrikanischen Missionare der Watchtower Kirche im Nyassaland, hatte unter anderem die Auflösung der europäischen Kirchen und des Staates prophezeit. Diese Prophezeiung sollte 1915 viele Anhänger Chilembwes inspirieren, obgleich sich Kamwana von den politischen Forderungen Chilembwes später distanzierte. Im Jahr 1918 interpretierten die Anhänger der Kirche in Nordrhodesien die Flucht der britischen Kolonialverwaltung vor den anrückenden Truppen Lettow-Vorbecks als ein Zeichen des nahenden Endes britischer Kolonialherrschaft. Schon in den Jahren vorher hatten die Anhänger der Bewegung das nahe Ende der Welt prophezeit. Die Ungetauften würden sterben, die Weißen zu Sklaven oder aus dem Land verbannt. Auch in der Ndochbiri-Rebellion von
25 K. E. Fields, Charismatic Religion as Popular Protest, in: Theory and Society 11 (1982), S. 321 ff. (332). 26 R. I. Rotberg, Chilembwe’s Revot Reconsidered, in: R. I. Rotberg/A. A. Mazrui (Hrsg.), Protest and Power in Black Africa (Oxford: Oxford University Press), 1971, S. 337 ff. (353); J. Higginson, Liberating the Captives: Independent Watchtower as an Avatar of Colonial Revolt in Southern Africa and Katanga, 1908 – 1941, in: Journal of Social History 26 (1992), S. 55 ff. (56); K. E. Fields (Anm. 25), Charismatic Religion as Popular Protest, S. 324.
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1916 waren Prophezeiungen vom Ende der europäischen Kolonialherrschaft eine wichtige Inspirationsquelle gewesen.27 Solche anti-europäischen Prophezeiungen fanden auch unter den Muslimen Ostafrikas großen Anklang. Für sie war der Krieg nicht nur ein Zeichen der Krise europäischer Herrschaft, sondern auch der eigenen Gesellschaften. Populäre Formen des Islam wie die Sufi-Bruderschaften verbreiteten sich während des Krieges und in den Nachkriegsjahren und trugen zu einem starken Zuwachs muslimischer Gemeinden in Ostafrika bei. Dabei bedrohten sie den Kompromiss zwischen den alteingesessenen Eliten und dem kolonialen Staat. Für die christlichen Missionen kam der Krieg demgegenüber einer Katastrophe gleich. Viele Missionare hatten ihre Stationen infolge des Krieges ihre Stationen verlassen müssen. An ihre Stelle traten oft afrikanischen Konvertiten, die den christlichen Glauben auf eine neue Art interpretierten und mit lokalen Praxen vermischten. Zwischen diesen sehr unterschiedlichen religiösen Bewegungen gab es eine Vielzahl von Überschneidungen und manchmal auch Kooperation. Am Malawi-See koordinierten Anhänger der Watchtower-Kirche ihre Proteste gegen den kolonialen Staat mit Sufi-Anhängern. Afrikanische Kirchen rezipierten Ideen des amerikanischen Bürgerrechtlers Marcus Garvey und kombinierten sie mit lokalen Traditionen des Millenarismus. In Tanzgesellschaften des Beni, der seinen Ursprung in den muslimischen Kulturen der ostafrikanischen Küste hatten, trafen sich Muslime, Christen und Anhänger lokaler Religionen sowie Afrikaner aus unterschiedlichen Regionen und Ethnien.28 Für die britische Kolonialverwaltung waren die Reaktionen der Afrikaner auf den Krieg Ausdruck einer tiefen Krise des europäischen Kolonialismus. Denn die britische Kolonialpolitik fußte auf der Idee die afrikanischen Gesellschaften zu traditionalisieren und ihre Kontakte zu anderen Gesellschaften zu kontrollieren und möglichst einzuschränken. Doch der Krieg hatte eben diese Politik untergraben. Soldaten aus Westafrika kämpften an den Fronten Europas und Westafrikas. Träger aus Südafrika, Kenia und Buganda dienten in Deutsch-Ostafrika und Portugiesisch-Ostafrika. Mit der Etablierung von Kriegsökonomien in weiten Teilen Afrikas entwickelte der koloniale Staat neue Instrumentarien und Institutionen zur weiteren kolonialen Durchdringung Afrikas. Im britischen Kenia wurden 1916 unter dem Kriegsrecht neue Gesetze zur Registrierung von Afrikanern und zur Arbeitspflicht eingeführt. Diese Gesetze griffen erst richtig nach dem Krieg.29 Männliche Afrikaner in erwerbs27 M. Rutanga, Nyabingi Movement: People’s Anti-Colonial Struggles in Kigezi, 1910 – 1930 (1991), S. 63. 28 T. O. Ranger, Dance and Society in Eastern Africa, 1890 – 1970: The Beni Ngoma (1975), S. 68; J. Lunn, Memoirs of the Maelstrom. A Senegalese Oral History of the First World War (Portsmouth: Heinemann), 1999, S. 203. 29 B. J. Berman/J. M. Lonsdale, Crises of Accumulation, Coercion and the Colonial State: The Development of the Labor Control System in Kenya, 1919 – 1929, in: Canadian Journal of African Studies 14 (1980), S. 55 ff. (74); D. M. Anderson, Master and Servant in Colonial Kenya, in: Journal of African History 41 (2000), S. 459 ff. (464).
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tätigem Alter hatten sich diesen Gesetzen zufolge bei den Behörden zu registrieren, wo sie Ausweise, die sogenannten kipande, bekamen. Arbeitsverweigerern und Steuersäumigen drohten nun Zwangsarbeit. Gegen diese neuen Instrumente regte sich in den zwanziger Jahren Widerstand unter den Afrikanern, der maßgeblich zur Gründung erster politischer und wirtschaftlicher Interessenvertretungen in Britisch-Ostafrika führte.30 Dennoch, viele der späteren afrikanischen Nationalisten waren Kriegsveteranen: Erica Fiah, in den 1930ern Herausgeber der Zeitschrift Kwetu, die zu den ersten Sprachrohren afrikanischer Nationalisten zählen dürfte, der spätere erste Präsident des unabhängigen Kenya, Jomo Kenyatta, Harry Thuku, Gründungsmitglied der East Africa Association (EAA), die 1921 als erste politische Interessenvertretung von Afrikanern in der britischen Kolonie ins Leben gerufen wurde, und Joseph Kang’ethe, Präsident der Kikuyu Central Association (KCA) hatten den Krieg als Träger in den Carrier Corps mitgemacht.31 Doch nicht nur in Afrika erwuchs den Kolonialherren eine neue Gefahr. Für Briten und Franzosen verlief die Neuordnung der kolonialen Landkarte Afrikas schwieriger als geplant. Schuld daran war vor allem der US-amerikanische Präsident Woodrow Wilson, der nichts von den Geheimabkommen hielt mit denen Frankreich, Großbritannien und Belgien das deutsche Kolonialreich unter sich aufgeteilt hatten. Die Forderung nach der Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker als zentralem Prinzip einer neuen Weltordnung rief bei den europäischen Kolonialherren Entsetzen und bei der Nationalisten Asiens und Afrikas Euphorie hervor. Als ehemalige britische Kolonie waren Teile der US-amerikanischen Eliten skeptisch gegenüber den europäischen Kolonialmächten. Sie sahen die zukünftige Weltordnung als eine Gemeinschaft von Nationen und nicht als die Rivalität von Kolonialreichen.32 Mit der Schaffung des Völkerbundes und seines Mandatssystems für die ehemaligen osmanischen Gebiete und deutschen Kolonien hofften sie Kolonialismus und Imperialismus zu reformieren. Ihnen ging es allerdings weniger um das Wohl der Afrikaner, als um den Zugang zu den abgeschotteten Märkten in Afrika und Asien. Wenngleich man streiten kann, wie effektiv die Aufsicht des Völkerbundes über die Mandatsgebiete in Afrika und Asien war, so wurde er doch zu einem ersten wichtigen internationalen Forum für die Kritik am Kolonialismus, wo afro-amerikanische Bürgerrechtler, panarabische Intellektuelle und indische Nationalisten erstmals das Gehör einer sich herausbildenden Weltöffentlichkeit fanden. Darunter war auch
30 K. Kyle, The Politics of the Independence of Kenya (Basingstoke: Palgrave Macmillan), 1999, S. 17. 31 M. E. Page (Anm. 18), Black Man in a White Man’s War, in: M. E. Page, S. 19; G. Hodges, Military Labour in East Africa and Its Impact on Kenya, in: M. E. Page (Hrsg.), Africa and the First World War (New York: St. Martin’s Press), 1987, S. 137 ff. (141). 32 Der Historiker Erez Manela spricht vom „Wilsonischen Moment“; E. Manela, The Wilsonian Moment: Self-Determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism (Oxford: Oxford University Press), 2007.
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der Bund der Deutsch Togoländer, der in den 1920ern die Mandatskommission des Völkerbundes für ihre Kritik an der französischen Kolonialpolitik nutzte.33 Afrika erreichte der „Wilsonische Moment“ am Ende jedoch nicht. Schon relativ früh machten Wilson und seine politischen Berater deutlich, dass es eine colour line in der Anerkennung der Rechte von Selbstbestimmung gäbe. Afrikaner, argumentierten sie, seien nicht in der Lage über ihr politische Zukunft zu entscheiden. Im Amerika der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Rassismus eine durchaus hoffähige Sicht auf die Welt. Doch es gab auch handfeste politische Interessen: Weil sie in der Machtergreifung der Bolschewiki in Russland eine neue Bedrohung heraufziehen sahen, verzichteten die Amerikaner auf eine Konfrontation mit den europäischen Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien. Es bedurfte eines weiteren europäischen Krieges, um die europäische Kolonialherrschaft so zu schwächen, dass die Verantwortlichen in Paris, London oder Brüssel die Zeichen der Zeit erkannten und ihre Kolonialreiche aufzulösen begannen. Es war wiederum ein US-amerikanischer Präsident, der den Nationalisten Afrikas dieses Zeichen gab. Im Jahr 1944 unterzeichneten Roosevelt und Churchill die Atlantik-Charta, die das Selbstbestimmungsrecht der Völker zum Grundstein einer globalen Nachkriegsordnung machte. Während der britische Premier wie 1919 die Kolonien von dieser Charta ausklammern wollte, war Roosevelt durchaus bereit dies auch in einem anti-kolonialen Sinne zu interpretieren. Wie auch 1919 kapitulierte die amerikanische Politik am Ende vor den Bündnisinteressen in Europa. Doch mit der UN war 1945 eine Weltorganisation entstanden, die sich Agenda der Dekolonisierung auf die Fahnen schrieb. Mit der Dritte Welt-Bewegung, die sich 1955 auf der Bandung-Konferenz erstmals formierte, und der Sowjetunion, die sich nach 1945 als Weltmacht etablieren konnte, waren zudem zwei neue Spieler der Weltpolitik auf dem Plan, die für eine Auflösung der Kolonialreiche votierten. * Abstract Michael Pesek: Africa in the First World War (Afrika im Ersten Weltkrieg), in: World War I and its Consequences for the Coexistence of Peoples in Central and Eastern Central Europe, vol. 3 (Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittelund Ostmitteleuropa, Bd. 3), ed. by Gilbert H. Gornig and Adrianna A. Michel (Berlin 2019), pp. 153 – 170. The First World War was a major event in the history of Africa. Although the continent was only a side stage in the first global war of the 20th century, the war saw the engagement of hun33 M. D. Callahan (Anm. 13), Mandates and Empire: The League of Nations and Africa, 1914 – 1931, S. 2; P. J. Yearwood, In a Casual Way with a Blue Pencil: British Policy and the Partition of Kamerun, 1914 – 1919, in: Canadian Journal of African Studies/Revue Canadienne des Études Africaines 27 (1993), S. 218 ff. (224); M. Thomas/R. Toye, Arguing About Empire: Imperial Rhetoric in Britain and France, 1882 – 1956 (Oxford: Oxford University Press), 2017, S. 17.
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dred of thousands Africans, Asians and Europeans. The main battle places were the German colonies. French, Belgian, Portuguese and British troops begun to invade the West African colonies of Togo and Cameroon, German South West Africa and the German colony in Eastern Africa in the first weeks of the First World War. This, as the paper argues, was the last stage in the European Scramble for Africa. The paper gives an overview over the causes and decisions that led to the war in Africa. It describes the main events and battles during the war. Lastly it sketches the impact the war had on African societies and the European rule after the war.
China und der Erste Weltkrieg Kiautschou und die Pazifikregion Von Georg Gesk I. Einführung Wenn wir uns heute – aus einem Abstand von einhundert Jahren – die Frage stellen, was die Folgen des Ersten Weltkriegs waren, dann sind wir in unseren Überlegungen meist in der Gewohnheit des euro-zentristischen Weltbildes gefangen. Der Erste Weltkrieg wird als Krieg der imperialistischen Großmächte empfunden, der sich überwiegend in Europa abspielte, dessen Tote überwiegend in europäischer Erde liegen und dessen Folgen sich in unserer Vorstellung überwiegend auf Europa beziehen. Das hat seine Berechtigung, denn obwohl es nur sehr wenige Staaten gab, die sich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs neutral verhielten und die daher keine Konfliktpartei waren, waren die meisten Toten tatsächlich auf den Schlachtfeldern zwischen Vogesen und Ärmelkanal zu beklagen. Bis zum heutigen Tage gibt es Dörfer in Frankreich, die nicht wieder aufgebaut wurden, und die nur als Ruinen in der Landschaft erscheinen.1 Dennoch war und ist es genau dieser Fokus auf Europa, der uns an einem weiteren Verständnis der Folgen des Ersten Weltkriegs hindert. Die Modernität Chinas und sein gespaltenes Verhältnis zum Rechtsstaat bzw. zur internationalen Rechtsordnung sind zu einem wichtigen Teil nur verständlich, wenn wir uns die Folgen des Ersten Weltkriegs in Fernost vor Augen führen und diese in die rechtliche und die historische Entwicklung vor und nach dem Ersten Weltkrieg einordnen. Die Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, gehen einerseits dem Problem nach, inwiefern das Recht sui generis und als Anspruch auf einen gerechten Ausgleich existiert, inwiefern es also eine normative Macht ist, welche die politische, ökonomische und militärische Macht begrenzen kann. Andererseits gibt es aber konträr hierzu Erfahrungen, welche als das Problem charakterisiert werden kann, dass Macht zunächst als Willkür des Stärkeren erfahren wird. Der Stärkere schafft durch seine faktische Macht ebenso wie durch die Folgen seiner Macht eine Art von Recht, das dann aber eher ein intellektuelles Mäntelchen zur Kaschierung von machtpolitischem Kalkül darstellt. Dieses Problem ist aus chinesischer Sicht bis in die jüngste Gegenwart in seiner Dichotomie relevant, denn schließlich versucht 1 Vgl. z. B. Die verschwundenen Dörfer von Verdun, http://www.zeit.de/geschichte/ 2014 - 04/fs-verdun-erster-weltkrieg, zuletzt aufgerufen am 15. 6. 2019.
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sich China mit dem Hinweis auf die allseits anerkannten Standards der WTO gegen den US-amerikanischen Trumpismus zu verteidigen, wobei letzterer glaubt, er könne eine Neuordnung rechtlicher Verhältnisse auf Grund der Ausübung ökonomischen Zwangs erreichen und brauche sich nicht an gegebene Spielregeln (und damit nicht an existierendes Recht) zu halten. Die strukturellen Grundkomponenten dieses Problems sehen wir bereits in der Folge des Ersten Weltkriegs, als die USA zwar mit der Wilson-Doktrin das Selbstbestimmungsrecht der Völker deklarierten, was die Versailler Konferenz aber nicht daran hinderte, die kolonialen ,Rechte‘ des deutschen Reichs auf das japanische Kaiserreich zu übertragen. Die Frage, ob es eine normativ-ethische Begründung des Rechts schaffen würde, die ,Realpolitik‘ der Macht des Stärkeren zu begrenzen, erwies sich als ein Gedankenspiel, das unfähig war, sich gegen imperialistische Ansprüche durchzusetzen. Obwohl Mao Tse-tung diesen Satz eigentlich auf den Bürgerkrieg gemünzt hatte, kann er durchaus auf die Ohnmacht Chinas im internationalen Zusammenhang und seinen Versuch, sich aus dieser Ohnmacht zu befreien, an„der Gewehrlauf schafft die politische Macht“. gewandt werden: Wenn aber Souveränität und der Respekt vor der Souveränität nicht aus dem Respekt vor dem Recht des Anderen auf eine friedliche Existenz entspringt, sondern sich durch den Aufbau und die Ausübung faktischer Macht erkämpft werden muss, dann führt dies sehr leicht zu einer Dichotomie, in der aus Opfern Täter werden. Von daher ist die Reaktion Chinas auf Forderungen Dritter nach ethischen Standards im Rahmen der Realisierung des ,one belt one road‘-Projekts, ja ist die konstante Weigerung Chinas, sich auf ein festgelegtes Regelwerk für die Entwicklungsinitiativen im Rahmen dieses Projekts festzulegen2, problematisch. Es ist daher nicht nur eine Haltung des politischen Pragmatismus, sondern zeugt auch davon, dass die historischen Wunden im rechtlich-politischen Bewusstsein nach wie vor nicht verheilt sind.3 Um diese Entwicklungslinien im Einzelnen verständlich zu machen, spannt der vorliegende Beitrag einen Bogen von der Ausdehnung und Realisierung deutscher kolonialer Ansprüche über den Zusammenbruch dieser Ansprüche, den Übergang 2
Ohne das Fehlen eindeutiger Standards wäre z. B. die Forderung von Mimi Zou, Peking solle eben solche Standards einführen, nicht verständlich; vgl. Mimi Zou, China must set ethical standards for its Belt and Road investments, 16. 5. 2016, https://www.scmp.com/com ment/insight-opinion/article/1945649/china-must-set-ethical-standards-its-belt-and-road (zuletzt aufgerufen am 22. 4. 2020). 3 Ein Staat, der bis zum heutigen Tag nicht müde wird zu betonen, dass er sich als Opfer des Imperialismus sieht und dass dieser Imperialismus sich insbesondere durch ungleiche Verträge und Verlust von Souveränitätsansprüchen realisiert hat, der aber gleichzeitig im Rahmen der „one belt one road“-Initiative Pachtverträge über 99 Jahre abschließt, hat das Machtkalkül der imperialistischen Mächte durchaus verinnerlicht, verwendet jedoch andere rechtliche Strukturen, welche nicht direkt an Souveränitätsfragen anknüpfen. Ob diese rechtlich unterschiedliche Form ausreicht, um dem grundsätzlichen Problem aus dem Weg zu gehen, wird zumindest von manchen Beobachtern in Frage gestellt; vgl. http://www.cadtm. org/A-critical-look-at-China-s-One-Belt-One-Road-initative, zuletzt aufgerufen am 15. 6. 2019.
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der Ansprüche an Japan und den Beitrag dieses toxischen Erbes zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Pazifik bis hin zu Vorstellungen von Recht und Souveränität im China der Gegenwart. II. Vorgeschichte: Deutschland als Kolonialmacht Die Bemühungen des deutschen Kaiserreichs, eine europäische Imperialmacht zu werden, sind spätestens mit Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts evident und zeigen eine enge Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Kirche und Staat. Was den von den tatsächlichen Geschehnissen einigermaßen entrückten Betrachter dabei beinahe als erstes überrascht, ist das nahezu schizophren anmutende Selbstverständnis der kolonialen Besatzer. Wir können das an dem „Erwerb“ der deutschen geschrieben, in den heute in China geKolonie „Kiautschou“ (ursprünglich bräuchlichen vereinfachten Schriftzeichen , in der heute in der Volksrepublik China üblichen Umschrift heißt der Ort mittlerweile „Jiaozhou“)4 exemplarisch ersehen. Die minutiöse Schilderung der Vorfälle im November 1897 zeigt, wie der Mord an zwei Missionaren (1. November) als Vorwand gebraucht wurde, den kaiserlichen Befehl zur militärischen Besetzung (7. November) von Kiautschou zu geben, wie daraufhin mehrere deutsche Kriegsschiffe von Shanghai aus in See stachen (10. November), und wie diese dann die Bucht von Kiautschou mit Landungstruppen besetzten (14. November). Einmal angekommen, brachten sie die Munitionsdepots der dort schon länger stationierten chinesischen Garnison unter ihre Kontrolle, während der dort ansässige chinesische General „Chang“ die deutschen Truppen zu Anfang noch ohne jeglichen Arg mit einer Ehrenformation – also mit einer vollkommen friedfertigen Zeremonie – begrüßte. Mit der Realität der feindlichen Besetzung konfrontiert, hatte dieser der deutschen Forderung nach ultimativem Rückzug auf eine vorher von deutscher Seite bestimmte Linie nichts entgegenzusetzen. General Chang blieb angesichts der Unmöglichkeit eines effektiven militärischen Widerstands nichts anderes übrig, als sich auf die ihm präsentierten Forderungen einzulassen, sich zurückzuziehen und – so wie von deutscher Seite gefordert – Kanonen und Munition der deutschen Seite preiszugeben.5 Es ist erstaunlich, dass eine „Besitzergreifung“ erfolgte, bei der drei Kriegsschiffe und Landungstruppen (die Berichte sprechen von 30 Offizieren, 77 Unteroffizieren und 610 Mann) eine chinesische Garnison unter Androhung von Waffengewalt zum 4
Auch wenn mittlerweile die Umschriften Jiaozhou für Kiautschou und Qingdao für Tsingtau gebräuchlich sind, so soll in diesem Artikel die alte Form der Umschrift verwendet werden. Um dem interessierten Leser das Verständnis zu erleichtern, werden chinesische Begriffe in Lang- und Kurzzeichen eingeführt (so diese identisch sind, wird nur eine Schreibweise aufgeführt); historische Namen im Fließtext werden in ihrer früher gebräuchlichen Umschrift aufgeführt, heute gebräuchliche Umschrift findet sich in Klammern hinter den entsprechenden Zeichen. Im begrifflichen Kontext seit 1949 wird auf diese Unterscheidung verzichtet. 5 G. Franzius, Kiautschou. Deutschlands Erwerbung in Ostasien, 3. Aufl., 1898, S. 129 ff.
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„Rückzug“ – sprich: zur Aufgabe eines Teils ihres eigenen Landes – zwingen, nur um ein halbes Jahr später in Deutschland mit den Worten geschildert zu werden, dass „… das Deutsche Reich, eine China befreundete Macht, auf Grund eines Vertrags und auf friedlichem Weg … fest Fuß gefasst hat, …“.6 Wir können aus dieser Äußerung ersehen, wie die Abwesenheit einer offiziellen Kriegserklärung durch das Deutsche Reich, der Verzicht auf militärische Gegenwehr durch China und die nachträglich abgeschlossene (6. März 1898) beiderseitige vertragliche Absegnung des „Pachtvertrags“ ausreichten, um die militärisch geschaffenen Fakten zu bagatellisieren und sich der Einsicht zu verweigern, dass hier die militärische Macht vor Ort eindeutig das dominiert, was auf politischer Bühne und im Nachhinein als Recht deklariert wird. Dass der militärisch durchgeführte Landraub nur die Selbstillusion eines friedlichen Erwerbs darstellte, das wollte die deutsche Elite der damaligen Zeit nicht wissen. Dass die politische Entscheidung Chinas in dieser Frage für vollkommen belanglos erachtet wurde, zeigt sich an Äußerungen wie derjenigen, dass das einzige Hindernis für eine Besetzung von Kiautschou die mögliche Opposition durch den russischen Zaren war.7 Diese und ähnliche Ereignisse8 der Jahre 1897/98, die zur Ausweitung der „Pachtgebiete“ der imperialistischen Mächte führten, waren für die chinesische Elite ein Zeichen dafür, dass die eigene staatliche Führung versagte und dass das, was von den imperialistischen Mächten als Ordnung präsentiert wurde, auf technisch-militärischer Überlegenheit fußte, die sich nur den Schein des Rechts gab. Man sprach in China schon früh von „ungleichen Verträgen“. Die Unfähigkeit und Ohnmacht der kaiserlichen Regierung der Qing-Dynastie hatte bereits im Jahr 1895 einen vorläufigen Höhepunkt erreicht, denn China verlor den Chinesisch-japanischen Krieg und musste Taiwan an Japan abtreten. Bedenkt man, dass China seit der Tang-Dynastie davon ausging, dass es Japan kulturell überlegen war, dann kann man das politische Erdbeben, das von diesem Ereignis ausging, erahnen. Es war eine wichtige Initialzündung für die chinesische Reformbewegung, die in der Folge versuchte, durch die Einrichtung von Schulen und Fabriken eine Entwicklung hin zur Modernisierung Chinas einzuleiten. Die nur kurz darauf erfolgte Besetzung von Kiautschou (auf dessen Territorium aus dem kleinen Fischerort „Tsingtau“ die heutige Millionenstadt , ) entstand) durch deutsche Truppen und die nachträgliche EinQingdao ( willigung des chinesischen Kaiserreichs in diesen Landraub brachte die bisherige Ordnung Chinas derart ins Wanken, dass Kaiser Guang Xu ( , ) sich im Sommer 1898 zum Versuch politischer Reformen genötigt sah.9 Der Sommer der Reformen, der mit einem Reformedikt am 11. Juni 1898 begann, war nur von kurzer Dauer ) am 21. September 1898 gewaltsam beund wurde von der Kaiserinwitwe Cixi ( 6
F. Freiherr von Richthofen, Shantung und seine Eingangspforte Kiautschou, 1898, S. IV. G. Franzius, Kiautschou. Deutschlands Erwerbung in Ostasien, 3. Aufl. 1898, S. 129 f. 8 Auch die Erweiterung der Kronkolonie Hong Kong um das Pachtgebiet Kowloon vollzog sich im Jahr 1898. Als Konsequenz des auf 99 Jahre angelegten Pachtvertrags vollzog sich die Rückgabe Kowloons inklusive der Rückgabe der Insel Hong Kong im Jahre 1997. 9 Vgl. Bai Shouyi (Hrsg.), Chinas Geschichte im Überblick, Neuauflage 2009, S. 446. 7
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endet. Der Kaiser wurde in einem Teil seines Palasts unter Hausarrest gestellt, die Reformer wurden gefangen gesetzt oder mussten flüchten. Insgesamt waren die Abtretungen, die China im Zuge der deutschen Besetzung von Kiautschou machen musste, trotzdem relativ unbedeutend. So ist der deutsch-chinesische Vertrag vom 6. März 1898 ganz eindeutig in die Liste der sogenannten ungleichen Verträge10 einzureihen, allerdings wird er in chinesischen Auflistungen dieser ungleichen Verträge für Schulen nicht erwähnt.11 Dass die deutsche Kolonialpolitik im Raum Asien/Pazifik sich genötigt sah, zu einer solchen Politik zu greifen, lag überwiegend in der deutschen ,Flottenpolitik‘ begründet. Seit der Besetzung des Bismarck-Archipels im Jahr 1874 und im Laufe der sukzessiven Ausdehnung der deutschen kolonialen Ansprüche auf Neuguinea und Mikronesien (1884/85), die Karolinen, Palau, Marianen (1999)12 und (West-) Samoa (deutsche Plantagen seit 1865, Samoa-Akte 1889, Teilung Samoas und Anerkennung der Herrschaft des deutschen Reichs über die Kolonie West-Samoa 1900)13 war klar, dass diese kolonialen Erwerbungen wesentlich mehr See als Land mit sich brachten, dass sie also nur dann effektiv beherrscht und verwaltet werden können, wenn es eine ausreichende Flotte gab, um solche Aufgaben zu unterstützen bzw. auszuführen. Da klar war, dass man von Kiautschou/Tsingtau aus Zugriff auf die Kohlevorkommen in Shandong haben würde, dass man also einen Marinestützpunkt aufbauen konnte, der viele Fragen des Nachschubs erleichtern würde und der dazu als Ausgangspunkt für einen intensiven Chinahandel dienen könnte14, ist die deutsche Handlungsoption aus diesem Machtkalkül heraus verständlich. Dennoch wird sie dadurch nicht legal. Die Sonderrolle von Kiautschou in der deutschen Kolonialpolitik zeigt sich auch an der begrifflichen Einordnung von Kiautschou als „Stützpunktkolonie“ im Gegensatz zu den sonst üblichen „Beherrschungskolonien“. Der damalige Staatssekretär 10 ) wird gemeinhin daDer chinesische Begriff der „ungleichen Verträge“ ( hingehend definiert, dass ein Vertragspartner den anderen Vertragspartner durch militärischen Zwang und politischen Druck dazu bringt, ungleiche Bedingungen zur Beendigung eines militärischen Konflikts zu akzeptieren. Der Begriff findet sich z. B. in der „Deklaration der Nationalen Partei“ ( ) vom 1. 1. 1923, in der Sun Yatsen kritisiert, dass zwar die Qing-Dynastie als Partei dieser Verträge auftaucht, dass sie aber Bedingungen akzeptiert, die de facto den Status Chinas als Kolonie begründet. 11 Geschichte für die Oberstufe. Auswendiglernen der ungleichen Verträge der chinesischen Moderne. Anleitung zur Lernmethode ( ), https://wenku.baidu.com/view/, zuletzt besucht am 6. 6. 2019. 12 Zur ökonomischen Rationalität des deutschen Kolonialengagements in Mikronesien, siehe H. Mückler, Die Marshall-Inseln und Nauru in deutscher Kolonialzeit, 2016, S. 43; zur Rolle von Staat und Marine, siehe W. Nuhn, Kolonialpolitik und Marine, 2002, S. 58 ff. 13 Siehe hierzu z. B. U. Timm, Deutsche Kolonien, 1981; W. Nuhn, Kolonialpolitik und Marine, 2002, S. 67 ff. 14 Siehe hierzu bereits die Ausführungen in Publikationen der „Wegbereiter“ des deutschen Kolonialismus in China, dem Geographen von Richthofen und dem Ingenieur Franzius; F. Freiherr von Richthofen, Shantung und seine Eingangspforte Kiautschou, 1898; G. Franzius, Kiautschou. Deutschlands Erwerbung in Ostasien, 3. Aufl., 1898.
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Alfred von Tirpitz begründete damit genauso die Notwendigkeit, Kiautschou unter die Verwaltung des Reichsmarineamts zu stellen, wie er damit die Notwendigkeit des Aufbaus einer deutschen Flotte begründete.15 Man brauchte also Kiautschou als Stützpunkt für eine Flotte, die man wiederum dazu brauchte, den Stützpunkt zu bedienen. Das in den deutschen Bestrebungen nach kolonialer Entwicklung angeführte Kalkül, man könne von Kiautschou aus das chinesische Hinterland entwickeln, hat sich zumindest in der Zeit der tatsächlichen deutschen Kolonialherrschaft zu keiner Zeit wirklich erfüllt. Die Zuschüsse, die aus dem Reichshaushalt für den Aufbau der Kolonie bewilligt werden mussten, hatten auch nach der Vollendung des Handelshafens (1907/08) regelmäßig die in Kiautschou generierten Einnahmen überschritten.16 Obwohl das Reichsmarineamt darum bemüht war, die deutsche Herrschaft in Kiautschou als vorbildlich darzustellen, so dass in diesem Zusammenhang immer wieder das Wort „Musterkolonie“ fällt, auch wenn das Reichsmarineamt in einer Denkschrift des Jahres 1908 betont17, dass der Hafen effizienter sei, als das britische Hong Kong, so gehen diese „Erfolge“ kolonialer Herrschaft einher mit einer Diskriminierung der chinesischen Bevölkerung, die über die Jahre an Brutalität gewinnt.18 Die Verdopplung des Rechtssystems mit der an ethnischen Linien orientierten, grundsätzlich unterschiedlichen Normierung von Sachverhalten, die bei Sanktionssystemen anfangen und die in Apartheidstrukturen (Chinesenstadt19, Wohnverbote für Chinesen in der deutschen Stadt20) enden, war auf der einen Seite ein Kind
15 Siehe M. Leutner (Hrsg.), Musterkolonie Kiautschou, 1997, S. 170 f. (mit zahlreichen Quellennachweisen). 16 Vgl. Quelle 63, in: M. Leutner (Hrsg.), Musterkolonie Kiautschou, 1997, S. 239 f. 17 Denkschrift betreffend die Entwicklung des Kiautschou-Gebietes in der Zeit von Oktober 1906 bis Oktober 1907, 1908, S. 5 – 16, reprint in: M. Leutner (Hrsg.), Musterkolonie Kiautschou, 1997, S. 228 – 233, insbesondere S. 231. 18 ), der Gründer und langjährige Redakteur der ersten chinesiSo berichtet Zhu Qi ( schen Zeitung „Jiaozhoubao“ ( / ) der Kolonie, etwa am 15. 12. 1908 von einer Brutalisierung des Justizwesens und einer zunehmenden Diskriminierung auch innerhalb der Verwaltung; vgl. Quelle 59, in: M. Leutner (Hrsg.), Musterkolonie Kiautschou, 1997, S. 233 ff. Auch in anderen chinesischen Quellen finden sich ähnliche Berichte; vgl. Quelle 57, in: M. Leutner (Hrsg.), Musterkolonie Kiautschou, 1997, S. 226 f. 19 Zur rechtlichen Diskriminierung siehe Verordnung des Gouverneurs von Kiautschou, Carl Otto Ferdinand Paul Jaeschke, betreffend die Rechtsverhältnisse der Chinesen (15. 4. 1899), in: M. Leutner (Hrsg.), Musterkolonie Kiautschou, 1997, Quelle 51, S. 208 ff. Zur räumlichen Segregation, siehe § 10 Verordnung des Gouverneurs von Kiautschou, Jaeschke, betreffend Chinesenordnung für das Stadtgebiet (14. 6. 1900), in: M. Leutner (Hrsg.), Musterkolonie Kiautschou, 1997, Quelle 52, S. 213 ff. 20 Die Lockerung der ursprünglich vollkommenen Segregation erfolgte durch die Verordnung des Gouverneurs von Kiautschou, von Alfred W. M. Meyer-Waldeck, betreffend Wohnen von Chinesen im Europäerviertel (23. 1. 1914), in: M. Leutner (Hrsg.), Musterkolonie Kiautschou, 1997, Quelle 61, S. 236 f.
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ihrer Zeit, wurde aber nichtsdestotrotz von der chinesischen Seite als Diskriminierung erfahren und empfunden.21 , , Qingdao), welche die Somit war die aufstrebende Stadt Tsingtau ( wichtigste Kommune des Pachtgebiets Kiautschou war, eine Kolonie, der in mancher Hinsicht der Kolonialstatus fehlte, denn ihre Verwaltung war eben nicht dem Reichskolonialamt unterstellt, sondern dem Reichsmarineamt. Daran sollte sich bis zum Ende der deutschen Kolonialherrschaft in China nichts ändern. III. Krieg, Kapitulation, Gefangenschaft Bis zum Ersten Weltkrieg hatte sich Deutschland, immer im Konzert mit anderen imperialistischen Mächten, in China gegen chinesische Interessen durchgesetzt. Als ) erim Jahr 1900 die sogenannten „Boxeraufstände“ der Yihetuan ( folgten, gingen diese Aufstände vom nordwestlichen Shandong aus und richteten sich zunächst gegen Mission und Kirche. Als am Ende 20.000 Soldaten aus acht imperialistischen Staaten im Verein mit kaiserlich-chinesischen Truppen die Aufstände niederschlugen, war Deutschland ein Teil dieser Truppen. Dass der damalige Kaiser Wilhelm II. versuchte, Deutschland und das deutsche Militär durch besondere Grausamkeit zu profilieren22, ist nur ein Teil der traurigen Kolonialpolitik, die sich über die Rechte anderer Völker glaubte hinwegsetzen zu können. Im Konzert mit anderen imperialistischen Mächten konnte sich Deutschland durchsetzen und kolonialen Einfluss sichern.23 Als aber der Weltkrieg die imperialistischen Mächte auseinander trieb, war eben diese konzertierte Haltung der Europäer, der USA und seit 1885 auch Japans nicht mehr Grundlage der Geschäftsordnung. Deutschland allein verfügte nicht über die Ressourcen, seine Interessen erfolgreich zu schützen. Dabei sah sich Deutschland nicht einer Konfrontation mit der chinesischen Seite gegenüber, (obwohl sich China anbot, die deutsche Kolonie Kiautschou „zurück“zuerobern), sondern musste sich in Kiautschou einer gemeinsamen Front aus Japan und England ergeben. Dass es soweit kam, war wiederum ein Zeichen imperialistischer Ignoranz rechtlicher Strukturen – nur diesmal nicht von deutscher Seite aus, sondern auf Seiten Englands und Japans. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist auf den 28. Juli 1914 datiert. Bereits am 6. August 2014 beschloss China, die Neutralität zu wahren, was es am 9. August auch öffentlich deklarierte. In den 24 Paragraphen der „Neutra21
Vgl. M. Leutner (Hrsg.), Musterkolonie Kiautschou, 1997, Quellen 57, 59. In der Rede von Kaiser Wilhelm II. zur Entsendung von Truppen in den Fernen Osten am 27. 7. 1900 ist wörtlich davon die Rede, dass der Abschreckungseffekt, welchen sich Wilhelm II. von einer brutalen Kriegführung erhofft, so sein soll, dass „auf tausend Jahre hinaus kein Chinese es mehr wagt, einen Deutschen scheel anzusehen“; siehe J. Penzler (Hrsg.), Die Reden Kaiser Wilhelms II., Bd. 2, 1904, S. 210 f. 23 Für Beispiele, wie diese gemeinsame Haltung sich in konkreter Politik ausgewirkt hat, siehe z. B. A. Steen, Deutsch-Chinesische Beziehungen 1911 – 1927. Vom Kolonialismus zur „Gleichberechtigung“. Eine Quellensammlung, 2006, S. 48. 22
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) forderte die chinesilitätsordnung der Republik China“ ( sche Regierung alle beteiligten Parteien dazu auf, die chinesische Neutralität zu achten.24 Das hinderte England nicht daran, Japan aufzufordern, den in Tsingtau stationierten deutschen Flottenverband zu zerstören. Als Konsequenz dessen forderte Japan das Deutsche Reich am 15. August 2014 auf, Tsingtau zu räumen. Da die deutschen Truppen dieser Aufforderung nicht nachkamen, begannen japanische Verbände am 23. August 1914 mit der Belagerung der Stadt Tsingtau, die nach chinesischen Quellen ab dem 25. August 1914 effektiv eingekesselt war. Die japanischen Truppen wurden von britischen Verbänden unterstützt und das Kräfteverhältnis stand im Herbst 1914 recht bald bei ca. 5.000 deutschen gegen 60.000 japanische und britische Truppen. Wie chinesische Quellen vermelden, versorgten sich die japanischen Truppen mindestens teilweise aus lokalen Vorräten, die man sich im Zweifelsfall auch unter Waffengewalt aneignete.25 Spätestens bis Anfang November 1914 war die Munition der deutschen Truppen verbraucht, so dass die deutschen Kolonialtruppen zunächst ihre Schiffe versenkten, um anschließend am 7. November 1914 zu kapitulieren.26 In der Folge gelangten die deutschen Truppen in japanische Kriegsgefangenschaft, was dazu führte, dass diese überwiegend nach Japan verfrachtet wurden.27 Die Behandlung der deutschen Truppen in Japan war relativ gut und der kulturelle Austausch, der sich aus dieser ungleichen Beziehung entwickelte, hat bis heute Spuren hinterlassen.28 Die Entlassung der deutschen Truppen aus der Kriegsgefangenschaft erfolgte erst 1919/1920. 24
) vom 6. 8. Neutralitätsbestimmungen der Republik China ( 1914, veröffentlicht am 9. 8. 1914; vgl. Zhao Guocai ( ), Li Mingjun ( ), Die internationalen Fragen zur Zeit des japanisch-russischen Kriegs ( ), in: Taiwan International Law Association (Hrsg.), ( ), Taipei: Digital Publishing Services Platform ( ), S. 388 f. 25 So sprechen chinesische Quellen wiederholt von Plünderungen, bei denen es auch zu Erschießungen kam, vgl. Guo Tingyi ( ), Tagebuch der Geschichte der Republik China ), Taipei: Institute of Modern History, Academia Sinica ( ( ), 2015, S. 205 f., Eintragungen zum 2. 9. 2014 und zum 10. 9. 1914. 26 Angeblich war der letzte Deutsche, der gefangen genommen und interniert wurde, der damalige deutsche Gouverneur, was sich am 17. 11. 1914 ereignete. Somit war Kapitulation und Gefangennahme über mehrere Tage gestreckt. Dennoch ist das Schreiben des FestungsKommandeurs von Meyer-Waldeck auf den 7. 11. 1914 datiert (M. Leutner [Hrsg.], Musterkolonie Kiautschou, 1997, Quelle 147, S. 517). Es finden sich daher in der Literatur recht unterschiedliche Daten für die deutsche Kapitulation in Kiautschou, vgl. H. Herold, Deutsche Kolonial- und Wirtschaftspolitik in China 1840 bis 1914, 2006, S. 72, insbesondere Fn. 173; S. Kuß, China in the First World War, in: Katja Levy (Hrsg.), Geschichte und Gesellschaft des modernen China. Kritik – Empirie – Theorie, 2016, S. 269. 27 Auch wenn in der Literatur meist nur davon die Rede ist, dass die Truppen in japanische Kriegsgefangenschaft gelangten (siehe z. B. M. Leutner (Anm. 26), Musterkolonie Kiautschou, S. 498), gibt es auch Angaben, wonach ein Teil der Deutschen in britische Gefangenschaft gelangten (vgl. H. Herold, Deutsche Kolonial- und Wirtschaftspolitik in China 1840 bis 1914, 2006, S. 72, mit weiteren Nachweisen [Fn. 173]). 28 Vgl. https://www.deutschlandfunkkultur.de/japan-und-deutschland-wie-beethoven-alleverbindet.979.de.html?dram:article_id=436360, zuletzt aufgerufen am 22. 6. 2019.
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IV. China und der Traum vom internationalen Recht Der offene Streit um das politische Erbe des deutschen Kolonialismus entbrannte beinahe gleichzeitig mit dem Zusammenbruch der deutschen Kolonialherrschaft. Bereits am 17. November 1914 proklamierte Japan, dass es die deutschen Besitzungen in Shandong übernehme, dass es also de facto Deutschland als Kolonialmacht ablöste. Damit war nicht nur das Pachtgebiet Kiautschou mit der Hafenstadt Tsingtau durch das japanische Militär besetzt, Japan erhob auch Ansprüche auf die Eisenbahnlinie Tsingtau – Jinan und auf die Kohlegruben, die deutsche Investoren entlang dieser Bahnlinie gegründet hatten. Dass Japan diese Ansprüche stellen würde, war bereits vor dem offiziellen Kriegseintritt Japans klar: bereits am 21. August 1914 hatte die japanische Zeitung Asahi ) einen 6-Punkte-Plan abgedruckt29, in welchem de facto gefordert Shinbun ( wurde, China solle eine Protektoratsstellung akzeptieren, die es Japan erlauben würde, in China militärische Optionen gegen mögliche Aggressoren zu ergreifen, um dadurch chinesische Interessen zu schützen. Erst am 23. August 1914 folgte die offizielle Kriegserklärung an Deutschland. Ab dem 25. August 1914 erfolgte die militärische Belagerung von Kiautschou und der Stadt Tsingtau durch japanisch-britische Verbände.30 China sah zunächst im Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine Chance, sich wenigstens einen Teil seiner verletzten Souveränität zurückzuholen. In den ersten Tagen des Krieges wurden Versuche gestartet, Tsingtau an China zurück zu verkaufen (16. September 2014) bzw. Deutschland dazu zu bewegen, Tsingtau an die USA abzutreten, damit diese in der Folge Tsingtau an China übergeben könne. Beide Vorschläge scheiterten überwiegend an der Opposition der imperialistischen Mächte, insbesondere Großbritanniens, Japans und der USA. Auch das Angebot, Tsingtau durch 50.000 chinesische Soldaten erobern zu lassen wurde von Großbritannien und Japan umgehend abgelehnt.31 Da also eine militärische Option aus politischen Gründen nicht in Frage kam und auch eine Entzerrung des Konflikts mit friedlichen Mitteln nicht möglich schien, ging die chinesische Seite einerseits nicht auf die Forderung Japans ein und verlangte andererseits, dass seine Neutralität im Einklang mit der Haager Landkriegsordnung respektiert werde. Es sollten also alle Kriegsparteien von militärischen Konflikten auf chinesischem Boden absehen – schließlich handelte es sich bei Kiautschou und daher auch bei der Stadt Tsingtao offiziell um Pachtgebiete, eine Belagerung dieses Gebiets müsste zwangsläufig von chinesischem Territorium
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), Tagebuch der Geschichte der Republik China ( Siehe Guo Tingyi ( ), Taipei: Institute of Modern History, Academia Sinica ( ), 2015, S. 203. 30 Ebenda. 31 Siehe hierzu A. Steen, Deutsch-Chinesische Beziehungen 1911 – 1927. Vom Kolonialismus zur „Gleichberechtigung“. Eine Quellensammlung, 2006, S. 115.
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aus geschehen.32 Japan achtete den chinesischen Neutralitätsanspruch in keiner Weise und schickte sich mit britischem Einverständnis und mit britischer Beteiligung an, Tsingtau zu belagern und zu besetzen. Die Situation, die durch militärische Machtpolitik erstanden war, hatte trotzdem nicht wie bei den Eingriffen in die chinesische Souveränität während des 19. Jahrhunderts innerhalb weniger Tage eine Rechtfertigung in Form eines „Vertrags“ – also in Form einer rechtlich bindenden Anerkennung – gefunden. China hatte der Besetzung von Kiautschou durch Japan nicht bereits im Vorfeld zugestimmt und forderte bereits einen Tag nach der Proklamation Japans, es übernehme die deutschen kolonialen Rechte in Kiautschou (17. November 1914), dass Japan seine Truppen aus China abziehen solle (18. November 1914). Japan sollte also die Hafenstadt Tsingtau mit allen dazugehörigen Rechten an China zurückgeben. Die Weigerung Chinas, sich dem japanisch-imperialistischen Druck zu beugen, hatte eine neue Situation erzeugt. China stimmte nicht mehr wie im 19. Jahrhundert allen imperialistischen Ansprüchen einfach zu, sondern versuchte aus der Zerstrittenheit der imperialistischen Phalanx dergestalt einen Vorteil zu ziehen, dass es sich seine Rechte zurückholen wollte. Zusätzlich zu diesen zaghaften Versuchen der chinesischen Seite – China entsandte weder eigene Truppen nach Tsingtau, um dieses vor den japanischen Truppen zu erobern, noch schickte es sich an, die japanischen Einheiten mit Waffengewalt zu vertreiben – fürchtete die japanische Seite, dass die USA, die seit dem Ende des amerikanisch-spanischen Krieges im Besitz von Guam und den Philippinen waren (10. Dezember 1900), sich aus Konkurrenzgründen gegen eine Ausweitung des imperialistischen Machtanspruchs Japans stellen würden. Daher versuchte es im Nachhinein die chinesische Regierung zur Anerkennung der japanischen Kolonialansprüche zu bewegen. Beginnend mit der Rückkehr des japanischen Botschafters nach Peking (18. Januar 1915) versuchte Japan durch Geheimverhandlungen China dazu zu ) bewegen, dass es das Vertragswerk der sogenannten „21 Paragraphen“ ( unterzeichnet. Dieses Vertragswerk stand in der Tradition der ungleichen Verträge des 19. Jahrhunderts; die chinesische Seite sollte sich einseitig zum Verzicht auf souveräne Ansprüche bereit erklären. Eine modifizierte Version der japanischen Maximalforderungen wurde von Yuan Shikai am 25. Mai 1915 unterzeichnet.33 Dass „China“ sich in dieser Position befand, beruht auf der verworrenen Lage der chinesischen Innenpolitik nach dem Ende der Qing-Dynastie, die die Staatskrise verstärkt hat. 32 Neutralitätsbestimmungen der Republik China ( ) vom 6. 8. 1914, veröffentlicht am 9. 8. 1914. 33 In der heutigen Geschichtsschreibung wird betont, dass Yuan Shikai die schlimmsten Forderungen der japanischen Seite abwenden konnte, dass er sich also nicht wie zu seiner Zeit behauptet, zu einem Ausverkauf chinesischer Interessen bereit erklärt hatte; vgl. Tang Qihua ( ), Die durch die Abschaffung der ungleichen Verträge verdeckte Geschichte der Vertragsänderungen durch die nordchinesische Regierung (1912 – 1928) ( “ ” 1912 – 1928 ), Peking: SSAP ( ), 2010, https://web.archive.org/web/20131111015351/http://lz.book.sohu.com/chapter-18188 – 114118982.html, zuletzt aufgerufen am 21. 6. 2019.
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Die republikanische Revolution von 1911 hatte zum Ende der Monarchie geführt, hatte aber im Bestreben, einen blutigen Bürgerkrieg zu verhindern, Kompromissen mit dem kaiserlichen Militär zugestimmt. Als Konsequenz dessen konnte sich Yuan , )34, der zuvor der wichtigste General der späten Qing-DynasShikai ( tie war, als Präsident etablieren. Er versuchte, seine Macht dadurch zu festigen, dass er sich am 20. November 1915 von einer „Deputiertenversammlung“ zum Kaiser wählen ließ, die er selbst handverlesen einberufen hatte. Am 12. Dezember 1915 nahm Yuan die Wahl offiziell an; am 1. Januar 1916 sollte der Beginn der Regentschaft sein. Dieser Schritt, der unter anderen Vorzeichen vielleicht nicht nur von imperialistischen Mächten (darunter insbesondere Japan) positiv bewertet worden wäre, führte in der chinesischen Bevölkerung und in den chinesischen Eliten zu sehr kontroversen Reaktionen. Die Revolution von 1911 konnte nur deshalb gelingen, weil die chinesische Öffentlichkeit die Qing-Dynastie als schwach und korrupt erfuhr, so dass der Ausverkauf nationaler Rechte nicht nur dem imperialistischen Ausland vorgeworfen wurde, sondern ganz wesentlich auch als Stigma an der eigenen staatlichen Führung haften blieb. Somit hatte jedes weitere Nachgeben einer chinesischen Regierung gegenüber ausländischen Forderungen sofort einen drastischen Verlust an politischer Reputation zur Folge. Ein weiterer Faktor, der sich für Yuan Shikai als verhängnisvoll erweisen sollte, war die zuvor von ihm selbst durchgeführte Verwaltungsreform, die den Provinzgouverneuren gleichzeitig die Kontrolle über Verwaltung und Militär gewährte. Deshalb provozierte die teilweise Anerkennung der 21 Punkte, die Japan gegenüber Yuan Shikai vorgebracht hatte und die dieser in Teilen auch akzeptierte, dass Yuan Shikai in seiner politischen Führungsrolle generell in den Augen der Öffentlichkeit an Legitimation verlor. Als Konsequenz dieser ) von Yunnan bereits am 25. DezemEntwicklung stellte sich Gouverneur Cai E ( ber 2015 offiziell gegen den „selbstproklamierten“ Kaiser. Andere Provinzen insbesondere in Südchina folgten. Das bedeutete eine de facto-Autonomie von mindestens acht chinesischen Provinzen und ergab das Problem, dass jede chinesische Zentralregierung nur mit bedingter Autorität für ganz China sprechen konnte. Yuan sah sich unter dem Eindruck der Ereignisse dazu gezwungen, auf seine Kaiserkrone nach nur 83 Tagen wieder zu verzichten und verstarb nur wenig später. Zurück blieb ein Machtvakuum auf Seiten des Zentralstaats, das von Provinzgouverneuren – den sogenannten Warlords – ausgefüllt wurde. Dies wiederum brachte für China auf Jahrzehnte die Konsequenz einer politischen Fraktionierung mit sich und war Ausgangspunkt des militärischen Binnenkonflikts innerhalb Chinas. Der chinesische Bürgerkrieg, dessen heiße Phase für die Jahre von 1945 bis 1949 anzusetzen ist und der seither mit dem Rückzug der nationalistischen Regierung nach Taiwan eingefroren wurde, begann also in seinen Wurzeln bereits mit der Implosion der zentralen Staatsmacht Ende 1915. Da die politischen Differenzen zwischen Taiwan und der Volks-
34 ), *16. 9. 1859 – †6. 6. 1916, zum vorläufigen Präsidenten der ReYuan Shikai ( publik China gewählt am 14. 12. 1912; er proklamiert sich selbst zum Kaiser von China. Seine Hongxian-Dynastie währte nur vom 12. 12. 1915 bis zum 22. 3. 1916.
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republik China bis heute andauern, spüren wir die Nachwehen dieses Konflikts um die imperialistische Vorherrschaft in China bis heute. Wie soeben erwähnt, wurde die partielle Zustimmung zu japanischen Forderungen bezüglich imperialistisch-kolonialer Rechte durch Yuan Shikai mit einem drastischen Legitimationsverlust bezahlt. Die Verhandlungen und die partielle Anerkennung der japanischen Forderungen durch die chinesische Führung waren zwar zunächst geheim geblieben, wurden aber vor allem von rivalisierenden imperialistischen Mächten gefürchtet. Man wollte eine Verschiebung des Machtgleichgewichts verhindern, brachte daher sukzessive den Fortgang und die Inhalte der chinesisch-japanischen Verhandlungen in Erfahrung und trug diese an die Öffentlichkeit.35 Dabei wurde insbesondere die partielle Anerkennung japanischer Ansprüche auf Tsingtau in China als Ausverkauf chinesischer Rechte gewertet und deshalb als Versagen der politischen Führung betrachtet. Wir sehen also den Beginn einer parallelen Entwicklung im Verhältnis von Macht und Recht: waren im 19. Jahrhundert die imperialistischen Mächte darum bemüht, sich in China zunächst durch direkte Ausübung von Macht durchzusetzen, um dies in der Folge dann zunächst als Recht zu deklarieren und im Nachhinein von der Qing-Dynastie als ebensolches Recht anerkennen zu lassen, so versuchte Japan mit derselben Methode, sich in China als imperialistische Macht durchzusetzen. Erst besetzte man Tsingtau, dann wollte man sich dieses Faktum von der chinesischen Regierung als Recht sichern. Trotzdem hatte sich die Lage geändert. Über weite Strecken des 19. Jahrhunderts war die Qing-Dynastie nur um ihr eigenes Machtkalkül besorgt, sie hatte dabei die „Stimmung“ in China nicht in ihr Kalkül mit einbezogen. Hier änderte sich mit der Revolution von 1911 recht viel, denn es war plötzlich klar, dass die chinesische Staatsmacht die Unterstützung von Militär und Bevölkerung brauchte. Diese stand aber der Staatsmacht zunehmend kritisch gegenüber. Eine Macht, die sich in der Realität nicht behaupten konnte, wurde als nicht legitimiert abgelehnt. Daher war es für die chinesische Öffentlichkeit nicht wichtig, ob Yuan Shikai schlimmeres verhindert hatte – er hatte gegenüber Japan Zugeständnisse gemacht, was ihn seine Legitimation kostete. Dieser Legitimationsverlust hatte trotz des Mangels an Demokratie so ernsthafte Auswirkungen, dass Yuan Shikai seine Proklamation zum Kaiser rückgängig machen musste. Diese Logik der innerchinesischen Macht führte zu einer Veränderung der Haltung Chinas gegenüber dem „europäischen Krieg“ und zu ersten Versuchen, sich aus der Passivität der chinesischen Führung gegenüber externen Entwicklungen zu befreien. Während der deutsch-chinesische Handel zunächst auch nach dem Verlust der Kolonie Kiautschou bzw. des Hafens Tsingtau nur geringe Veränderungen aufzeigte36, veränderte sich das politische Umfeld insbesondere 1916/1917 in dramatischer Weise. Obwohl die politische Herrschaft in China schon vor dem Tod von Yuan Shi35 Vgl. A. Steen, Deutsch-Chinesische Beziehungen 1911 – 1927. Vom Kolonialismus zur „Gleichberechtigung“. Eine Quellensammlung, 2006, S. 116. 36 Siehe etwa die Schilderung der relativ entspannten Beziehungen zwischen Deutschland und China in den Jahren 1914 und 1915 bei M. Leutner, Deutsch-chinesische Beziehungen 1911 – 1927: Vom Kolonialismus zur „Gleichberechtigung“, 2006, S. 115 f.
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kai de facto geteilt war37, gab es einen nationalen Diskurs, in dem die Vor- und Nachteile eines Kriegseintritts erwogen wurden. Je mehr die Schwierigkeiten der französischen und britischen Streitkräfte an der europäischen Front offensichtlich wurden, desto mehr versprach man sich von einer Unterstützung Frankreichs bzw. Großbritanniens eine Aufwertung Chinas in der internationalen Politik. Es kam zur Entsendung von 150.000 Arbeitern, welche zwar keinen Kampfauftrag hatten, welche aber hinter der Front wichtige Dienste verrichteten.38 Frankreich hatte seit 1915 in Verhandlungen über eine Entsendung von chinesischen Arbeitern gestanden, Großbritannien hatte spätestens seit 1916 ebenfalls um chinesische Arbeiter geworben. Da die chinesische Regierung die Anwerbung und Entsendung dieser Arbeiter dem privaten Unternehmen „Huimin Company“ überließ, konnte es auf deutsche Proteste hin vorbringen, es handele sich nicht um einen staatlichen Eingriff in das Geschehen auf dem europäischen Schlachtfeld, weswegen sich an der chinesischen Neutralität nichts geändert habe. Dabei war auf chinesischer Seite eindeutig klar, dass diese „Arbeiter“ eine militärische Funktion erfüllten, denn sie wurden zum Errichten von Schützengräben etc. eingesetzt und hatten eine Mortalitätsrate von ca. 10 %. Es war also durchaus realitätsnah, wenn man im Chinesischen von „Solda) sprach und damit im doppelten Sinne ten durch Arbeiter ersetzen“ ( gleichzeitig zwei Phänomene ansprach: zum einen die Möglichkeit Frankreichs und Großbritanniens, ihre eigenen Arbeiter als Soldaten an die Front zu bringen, zum anderen ging man davon aus, dass die Personen, die hier als Arbeiter deklariert waren, im Grunde ebenfalls eine soldatische Funktion erfüllten, dass also die eigenen Arbeiter als Proxy für Soldaten agierten. In einer dritten Phase trat China im Zuge der US-amerikanischen Kriegserklärung ebenfalls offiziell in den ersten Weltkrieg ein. Ein Mittel, die chinesische Öffentlichkeit von der Notwendigkeit des Kriegseintritts zu überzeugen, war der Tod chinesischer Arbeiter, die auf ihrem Weg nach Marseille von einem deutschen U-Boot versenkt worden waren. Man hatte also das Fanal, dass der Grund, mit dem die USA in den Krieg eintraten, auch für China zutraf – Zivilisten waren Opfer des deutschen UBoot-Kriegs geworden. Das sollte den offiziellen Kriegseintritt rechtfertigen. Obwohl China auch danach keine Truppen an die europäischen Frontschauplätze entsandte, sondern es bei der Entsendung von Arbeitern beließ, versprach sich die Regierung in Peking von diesem Schritt eine deutlich verbesserte internationale Anerkennung. Die Forderung Wilsons, der in seiner 14-Punkte Rede von der „self-determination of the peoples“ sprach, verhieß eine neue Weltordnung, in der nicht die militärische Macht Grenzen zieht, sondern der Wille der Betroffenen. Aus der Per37
Es gab insgesamt acht Provinzen, die eine „3. Revolution“ proklamierten und die sich der Zentralregierung gegenüber für unabhängig erklärten. 38 Bis heute findet sich z. B. ein chinesischer Friedhof in Noyelles-sur-Mer, auf dem 849 chinesische Arbeiter, welche während ihres Einsatzes in Frankreich verstorben waren, ihre letzte Ruhe fanden; vgl. http://centenaire.org/de/en-france/der-gedenktourismus-der-somme, zuletzt aufgerufen am 15. 6. 2019.
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spektive Chinas sollte dies eine Grundforderung gegen die Angriffe des Imperialismus werden. Gleichzeitig zeigte sich an dieser Hoffnung, wie verzweifelt die europäischen Großmächte um internationale Unterstützung nachsuchten, denn dass man China auf der einen Seite Hoffnung machte, international Anerkennung zu finden und gleichzeitig bereit war, sich mit einer japanischen Besetzung von Tsingtau zu arrangieren, musste für den Fall eines Sieges über Deutschland unweigerlich zum Konflikt führen. Dennoch war die Lage in China auch hier komplizierter als es auf den ersten Blick ) sprach für die sogescheinen mag, denn die Regierung von Duan Qirui ( nannte Zentralregierung in Peking – gleichzeitig gab es mindestens acht Provinzen, die für sich eine Unabhängigkeit in Anspruch nahmen. Darunter befand sich auch die , bzw. , ) in Führung des Revolutionärs Sun Yatsen ( Kanton, der ideologisch die Revolution von 1911 vorbereitet hatte und der zu diesem Zeitpunkt zwar wenig militärische Macht, dafür aber relativ viel Einfluss auf die chinesische Öffentlichkeit hatte. Dass sich Sun Yatsen gegen einen Kriegseintritt Chinas aussprach, brachte ihm gegenüber der Zentralregierung relative Beachtung. V. Anti-Imperialismus oder koloniales Erbe? Sollte die eigentliche Motivation für die Kriegserklärung Chinas gegen Deutschland die Hoffnung gewesen sein, dadurch zu einer künftigen Friedenskonferenz zugelassen zu werden, dann erfüllte sich diese Hoffnung. Wurde damit weiter die Erwartung verbunden, dass Chinas Interessen bei der Neuordnung der Nachkriegswelt berücksichtigt würden, so erlebte China eine sehr herbe Enttäuschung. Es gelang in China, sich auf eine Delegation zu einigen, die bei der Versailler Konferenz das politische Spektrum der chinesischen Politik widerspiegelte: zwei Delegierte kamen aus Peking und ein Delegierter aus Kanton. Es gelang China aber nicht, sich mit der Forderung nach Rückgabe der deutschen Pachtgebiete durchzusetzen. Der Versailler Vertrag sah vor, dass diese in den Händen Japans verbleiben sollten. China hatte sich also mit einer beachtlichen Arbeitsleistung als Kuli der Schützengräben bewährt, hatte sich auf die Zusicherung der US-Kriegsziele verlassen, es hatte sich aber in keiner Weise in den Friedensverhandlungen durchsetzen können. Die Reaktion der chinesischen Öffentlichkeit war prompt: zunächst versammelten sich chinesische Studierende an dem Platz, an dem die chinesische Delegation residierte. Sie schickten angeblich einen Revolver in das Anwesen und erklärten, dass sie einen solchen gegen die chinesischen Delegierten anwenden würden, wenn diese es wagen sollten, den Vertrag zu unterzeichnen. Die Blockade war so erfolgreich, dass tatsächlich keiner der Delegierten auf der Friedenskonferenz zur Un-
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terzeichnung erschien und China somit zwar an den Verhandlungen teilgenommen hatte, dass es aber den Versailler Vertrag nie unterzeichnete.39 Somit war auf ein Neues klar geworden, dass die Wiederherstellung der chinesischen Souveränität auch diesmal nicht auf dem Verhandlungswege erreicht würde. 15.000 Arbeiter in Frankreich waren umsonst gestorben. Das politische Kalkül, mit dem man sie dorthin geschickt hatte, war nicht aufgegangen. Japan schickte sich bereits zu Beginn des Ersten Weltkriegs an, Deutschland als Kolonialmacht in China abzulösen, und hatte gleichzeitig bereits vor dem offiziellen Kriegsausbruch weitere Ziele aufgezeigt. Die Idee, sich zur Schutzmacht Chinas aufzuschwingen, die im Klartext so viel bedeutet, dass man sich als Kolonialmacht über ganz China etablieren wollte und dass man bereit war, dies auf Kosten der europäischen imperialistischen Mächte ebenso zu tun, wie man die Eigeninteressen Chinas ignorierte, war offensichtlich und dominierte die japanische Außenpolitik in der Folge bis 1945. Es war also eine der fatalen Folgen von Versailles, dass man es zuließ, dass Japan sich gegen China in Stellung brachte und dass dadurch eine Reihe großer zukünftiger Konflikte vorprogrammiert war. Zum einen führte der Vektor der Entwicklung direkt in die Annexionsbemühungen Japans in Nordchina (offene Besetzung von Teilen der Mandschurei ab 1931) und seit 1937 in den japanisch-chinesischen Krieg, mit dem Versuch, sich zur uneingeschränkten imperialistischen Macht in China aufzuschwingen. Zum anderen war dadurch der Konflikt zwischen Japan und den USA vorprogrammiert, denn die USA hatten seit dem Erwerb der Philippinen ein direktes strategisches Interesse an Ostasien und an dem militärischen (Un) Gleichgewicht im Pazifik. Dabei störten aus der Sicht Washingtons die japanische Dominanz in China ebenso, wie die japanischen Ansprüche auf die deutschen Kolonien im Pazifik, soweit sie nördlich des Äquators lagen. China verschaffte dem japanischen Reich ein Hinterland, das mehr Bodenschätze und mehr Bevölkerung aufwies, als ganz Nordamerika dies zu bieten hatte. Die japanische Herrschaft über Mikronesien bedeutete für Japan, dass es zur Seemacht wurde und dass somit alle Nachschubwege der USA in Richtung Philippinen potenziell gefährdet waren. Somit war die Toleranz gegenüber der imperialistischen Politik Japans eine wichtige Voraussetzung für die militärisch-ökonomische Konkurrenz und Konfrontation zwischen Japan und den USA, war also einer der Gründe, der am Ende im Angriff auf Pearl Harbour kulminierte. Zwar sah man bereits während des Ersten Weltkriegs in London und Canberra aus machtstrategischen Gründen nicht gern, dass der Nordpazifik in Zukunft von Japan dominiert werden sollte, erkannte aber zumindest auf britischer
39 Zu den Spannungen innerhalb der chinesischen Verhandlungsdelegation, welche aus 3 Vertretern der Pekinger Regierung und zwei Vertretern der Militärregierung in Kanton bestand, und zu den Verbindungen der Minderheitsfraktion zu den demonstrierenden Studenten, ) in: Li Chenkuang ( , siehe den Auszug aus den Memoiren von Fu Bingchang ( , Li Zhenguang) (Hrsg.), Republikanische Außenpolitik ( ), Beijing: Encylopedia Sinica ( ) (ursprünglich Taipei: Academia Sinica), 2016, S. 7 f.
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Seite an, dass man auf Grund der Ereignisse in Europa keine ausreichenden Ressourcen hatte, dies zu verhindern.40 Auch wenn wir diese Tatsache in Europa häufig verdrängen, so sehen wir an diesem Gang der Ereignisse doch, wie die Nachkriegs(un)ordnung, welche sich als Folge des Ersten Weltkriegs ergab, auch in Ostasien die Lunte für den Zweiten Weltkrieg legte. Dazu sehen wir als Konsequenz dieser Entwicklung, dass der Zweite Weltkrieg nicht in Europa ausbrach, sondern in Fernost: er begann eben nicht mit dem Angriff der japanischen Flotte auf Pearl Harbor, sondern mit dem chinesischjapanischen Krieg. Dessen Beginn ist aber je nach Autor entweder auf den 18. September 1931 (also den Beginn der offiziellen militärischen Besetzung der Mandschurei durch japanische Truppen) oder spätestens auf den 7. Juli 1937 (dem sogenannten Zwischenfall an der Marco-Polo-Brücke, also der Invasion des verbliebenen China durch japanische Truppen) angesetzt. Japan versuchte sich durch imperialistische Beherrschung Chinas aus den Folgen der Weltwirtschaftskrise zu befreien, verfolgte dabei aber politische Leitlinien, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entstanden waren. Dieser Versuch, den Fernen Osten als imperialistische Macht zu beherrschen, vollzog sich gegen den Willen der USA und kalkulierte daher eine zunehmende Konkurrenz und Konfrontation mit den USA in die entsprechenden Planungen ein. Der Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 war daher nur eine Konsequenz dieser Politik. Er vergrößerte den Konfliktbereich, er zog weitere Staaten mit in die bewaffneten Auseinandersetzungen, er war aber nicht dessen militärischer Ausgangspunkt. Der Krieg in Fernost war zu dem Zeitpunkt bereits zehn Jahre alt. In China waren die Konsequenzen des Versailler Nicht-Friedens sehr einschneidend. Auf der einen Seite stand die Einigung Chinas mit Deutschland: Da China kein Versailler Vertragsstaat war, hatte der damals als Präsident in Peking agierende Xu ) bereits am 15. September 1919 das Ende des Kriegszustands mit Shichang ( Deutschland proklamiert. Obwohl insbesondere die von Sun Yatsen in Kanton geführte Militärregierung ursprünglich gegen die Kriegserklärung gegen Deutschland war, hatte auch sie einen Delegierten auf die Versailler Konferenz geschickt, der dort – so wie alle anderen chinesischen Delegierten – dem Versailler Vertrag nicht zugestimmt hatte. Es war daher in sich konsequent und für deutsche Unternehmen wichtig, wenn diese in Konkurrenz zur Zentralregierung am 25. Oktober 1919 ebenfalls die Einstellung der Kriegshandlungen gegen Deutschland proklamierte. Der Sonderfrieden zwischen China und Deutschland wurde am 20. Mai 1921 in Peking unterschrieben und am 1. Juli 1921 von beiden Seiten ratifiziert. Er gilt als erster „gleicher Vertrag“ Chinas mit dem Westen.41 Auf der anderen Seite steht die sich zunehmend verschlimmernde Situation im Verhältnis mit Japan. Versuchte Japan das koloniale Erbe Deutschlands anzutreten, so wurde China, schon allein um seine eigenen Inter40
Vgl. R. Louis, Great Britain and Germany’s Lost Colonies. 1914 – 1919, 1967, S. 39 – 43. Li Yun ( ), Der erste gleichberechtigte Vertrag des modernen China, das „deutschchinesische Abkommen“ von 1921 ( ——1921 hh ii), German Studies ( ), 1998, Nr. 2, S. 57 ff. 41
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essen zu wahren bzw. um seine eigenen Interessen wieder selbstbestimmt ausüben zu können, sehr früh und sehr konsequent zu einer anti-imperialistischen Kraft. Die Weigerung der Siegermächte, China als gleichberechtigten Partner anzuerkennen, führte in China auf sehr unterschiedlichen Ebenen zu Widerstand und zu einer nationalen, anti-imperialistischen Bewegung, die sich nicht mehr lediglich auf die Politik42 oder auf Intellektuelle43 eingrenzen ließ, sondern die breite Volksschichten erfasste44 und die daher die gesamte Gesellschaft transformieren sollte. Auf gesellschaftlicher Seite sticht dabei einerseits die 4. Mai-Bewegung heraus, denn diese forderte als Konsequenz des Versagens der chinesischen Machtpolitik eine weitgehende Transformation der chinesischen Gesellschaft.45 Man ging davon aus, dass die traditionellen Werte China nicht voranbringen konnten, dass man daher eine breit angelegte, auf westlichem Wissen und auf westlichen Ideen fußende Erziehung benötige. Als Konsequenz dessen sehen wir Berichte, wie sich z. B. in Shandong – das ja wenigstens teilweise unter deutscher Kolonialverwaltung gestanden hatte und das sich daher in einer direkten Auseinandersetzung mit dem westlichen Imperialismus, seinen Vorzügen und seinen Nachteilen befunden hatte – ein Erziehungssystem für breite Bevölkerungsschichten etablierte, das für
42 Siehe etwa die positive Einschätzung der politischen Agitation der chinesischen Studierenden im Rahmen der Versailler Friedenskonferenz durch Sun Yatsen; Zhu Zhonghua ( ), Die Unterstützung der 4. Mai-Bewegung durch Sun Yatsen ( ), in: Kommission der politischen Konsultativkonferenz für Kultur, Geschichte und Lernen [ ]) Erinnerungen an die 4. Mai-Bewegung ( (Hrsg.), ( ), Peking: China Wenshi Publ. ( ), 2017, S. 244 ff. 43 Die direkte Verbindung und damit auch die Signifikanz zwischen dem – aus chinesischer Sicht – fehlgeschlagenen Versuch der chinesischen Beteiligung an der Versailler Friedenskonferenz und den Pekinger Demonstranten der 4. Mai-Bewegung wird leider in der westlichen Literatur zum Teil bis heute nicht wirklich erkannt; vgl. H. Schmidt-Glintzer, Das Neue China, 6. Aufl. 2014, S. 48 f. Im Gegensatz hierzu erkennt z. B. Susanne Kuß die direkte Linie zwischen den nationalistischen Studenten, welche in Frankreich gegen eine Unterzeichnung des Versailler Vertrags demonstriert hatten, und dem neugefundenen chinesischen Nationalismus von 1919, wie er sich in der 4. Mai-Bewegung konkretisiert hatte; siehe hierzu S. Kuß, China in the First World War, in: Katja Levy (Hrsg.), Geschichte und Gesellschaft des modernen Chinas, 2016, S. 283. Auch die offizielle chinesische Linie der Geschichtsschreibung betont diesen Zusammenhang, siehe z. B. Bai Shouyi (Hrsg.), Chinas Geschichte im Überblick, Neuauflage 2009, S. 493. 44 Zur Veränderung der Bildungssituation in Shandong als Konsequenz der 4. Mai-Bewe), Die 4. Mai-Bewegung im Shandonger Dorf ( gung, vgl. Tao Dun ( ), in: Kommission der politischen Konsultativkonferenz für Kultur, Geschichte und Lernen (Hrsg.), ( [ ]) Erinnerungen an die 4. Mai-Bewegung ( ), Peking: China Wenshi Publ. ( ), 2017, S. 198 ff. 45 Vgl. u. a. Bai Shouyi (Hrsg.) Chinas Geschichte im Überblick, Beijing: Verlag für fremdsprachige Literatur, S. 491 ff; sowie zahlreiche Beiträge von chinesischen Zeitzeugen in: Kommission der politischen Konsultativkonferenz für Kultur, Geschichte und Lernen (Hrsg.) ( [ ]) Erinnerungen an die 4. Mai-Bewegung ( ), Peking: China Wenshi Publ. ( ), 2017.
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viele zum ersten Mal westliche Inhalte in der Erziehung erfahrbar machte.46 Die intellektuelle Revolution, die von hier ihren Ausgang nahm, und die westliche über chinesische Wertvorstellungen setzte, führte in den Jahrzehnten danach zu einer Transformation, die in China wiederholt zu geradezu masochistischen Massenbewegungen führte, in denen man versuchte, sich mit dem Ziel der Modernisierung seiner eigenen Tradition zu entledigen.47 VI. Souveränität und/oder Nationalismus? Die Ereignisse des Ersten Weltkriegs und die verpassten Chancen einer politischen Neuordnung, die tatsächlich auf Ausgleich und nicht auf Dominanz zwischen den Staaten setzen würde, zeigten der chinesischen Öffentlichkeit, dass ein Verfolgen der bisherigen Politik kaum je Erfolg versprechen würde. Es war ganz eindeutig die Erfahrung gemacht worden, dass sich China erst dann durchsetzen würde, wenn es der Macht der imperialistischen Kräfte eine eigene militärisch-politische Macht entgegensetzen kann. Im Inneren bedeutete das konkret, dass ein kleiner Zirkel Intellektueller 1921 in Shanghai die KP Chinas gründen sollte. Dabei war das Narrativ der proletarischen Revolution und der Befreiung der Arbeiterschaft vermutlich bereits im Glückwunschtelegramm von Sun Yatsen an Lenin enthalten, es war also schon vor der offiziellen Gründung einer kommunistischen Partei ein Bewusstsein des kommunistischen Anliegens in China vorhanden. Dennoch – da sich die Industrialisierung in China zu dieser Zeit noch auf wenige städtische Zentren beschränkte und mehr als 90 % der Bevölkerung auf dem Lande lebte, müssen wir davon ausgehen, dass der anti-kapitalistische Aspekt für die Gesamtgesellschaft nur eine begrenzte Rolle in dem Versuch spielte, die Basis der eigenen Unterstützer zu vergrößern. Weitaus erfolgversprechender war die Tatsache, dass es sich hier um eine revolutionäre Ideologie handelte, die aus dem als überlegen erfahrenen Westen kam und die sich sowohl gegen den russischen Feudalismus als auch gegen Imperialismus und ausländische Intervention durchsetzen konnte. Die Tatsache, dass sie eine westliche Ideo46
Zur Verbindung zwischen 4. Mai-Bewegung und den inhaltlichen Veränderungen in der ), Die 4. Mai-Bewegung im Shanschulischen Ausbildung in Shandong, vgl. Tao Dun ( donger Dorf ( ), in: Kommission der politischen Konsultativkonferenz für Kultur, Geschichte und Lernen (Hrsg.), ( [ ]) Erinnerungen an die 4. Mai-Bewegung ( ), Peking: China Wenshi Publ. ( ), 2017, S. 207 f. 47 Diese „Verteufelung“ konfuzianischer Werte führte in der Folge zu schweren Konflikten innerhalb der chinesischen Intelligentia. Am schärfsten trat dieser Konflikt in der sogenannten „großen proletarischen Kulturrevolution“ (1966 – 1976) zu Tage, als die Flucht (und der Tod) von Lin Biao zum Anlass für eine Kampagne zur Kritik an Lin und Konfuzius genommen wurde. Konkret nachverfolgen lassen sich die Konflikte z. B. am Schicksal von Liang Shuming ( ), der ab 1972 auf Grund seiner Einordnung als Neo-Konfuzianer ebenfalls zum Ziel von Kampagnen und Kritik wurde. Zu letzterem, vgl. https://baike.baidu.com/item/, zuletzt aufgerufen am 15. 7. 2019.
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logie war, dass sie also der traditionell konfuzianischen Weltsicht überlegen schien, und dass sie dennoch von traditionellen imperialistischen Staaten verteufelt wurde, verlieh ihr die Aura des Elixiers, mit dem sich auch China vom Imperialismus befreien könne.48 Es verwundert daher nicht, dass Sun Yatsen, der Zeit seines Lebens Ausschau nach neuen revolutionären Ideen hielt, um auf diese Weise ein neues China zu schaffen, die Oktober-Revolution durchaus positiv sah.49 Die Zusammenarbeit zwischen , , Guomindang) Russland bzw. der Komintern und der Kuomintang ( in Kanton ( , , Guangdong) war die Voraussetzung dafür, dass Chiang Kaischek ( , , Jiang Jieshi) mit den durch Komintern-Kommissare trainierten Truppen in den Jahren 1926 – 1928 den sogenannten „Nordfeldzug“ durchführen konnte, um in Nanjing eine nationalistische Regierung zu etablieren. Ja der Aufbau eines modernen Militärs war sogar die Voraussetzung dafür, dass die totale Besetzung Chinas durch japanische Truppen scheiterte und die chinesische Armee trotz eines schweren Mangels an Ausrüstung und trotz hoher Verluste bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs nie wirklich geschlagen war, sondern Japan in einen Abnützungskampf ziehen konnte. Die Erkenntnis, dass sich China in seinem Kampf gegen den Imperialismus nur dann durchsetzen kann, wenn es mit militärischer Stärke auftritt, sollte sich also in einer relativ überschaubaren Zeit in der Realität bewahrheiten. Das zeigte der chinesischen Öffentlichkeit dann vollends, dass Rechte nur dann existieren, wenn sie erstritten bzw. verteidigt werden können. Das Recht als Grenze der Macht hatte im 19. Jahrhundert ebenso versagt, wie es in zwei Weltkriegen als Steuerungsinstrument versagt hatte. An dieser Tatsache änderte sich auch dadurch nichts, dass Deutschland und China am 20. Mai 1921 einen Sonderfrieden schlossen. In diesem verzichtete Deutschland auf seine Rechte in Tsingtau bzw. in der Region Kiautschou ebenso, wie es jeden Anspruch auf extra-territoriale Gerichtsbarkeit dadurch ausschloss, dass es mit China gemeinsam vereinbarte, dass nur das Recht desjenigen Landes angewandt werden sollte, in dem sich die jeweiligen Staatsbürger befanden (§ 3 des eigentlichen Vertrags). Als Antwort hierauf stimmte China einer Restitution privater deutscher Eigentumsansprüche unter der Bedingung zu, dass Deutschland Eisenbahnaktien in Höhe
48 Zur Freundschaft zwischen Sun Yatsen und Lenin, der bereits 1911 im Zuge der Xinhai Revolution ein Gratulationsschreiben an Sun Yatsen gesandt hatte, und zum weiteren Einfluss der kommnistischen Bewegung auf Sun Yatsen und durch diesen auf die politische Diskussion ), Der Einfluss der Oktoberrevolution auf die chinesiin China, siehe Luo Xiaohui ( schen Intellektuellen ( ), Journal of Zhuzhou Teachers College ( ), 2001, Vol. 6, Nr. 6, S. 38 f. 49 Zur Rezeption der Oktoberrevolution durch Sun Yatsen, siehe insbesondere Li Yugang ( ), Die Reaktion Sun Yatsens auf die russische Februarrevolution und auf die Oktoberrevolution ( ), Historical Research ( ), 1998, Nr. 6, S. 99 – 111.
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von vier Millionen50 als Reparationszahlung an China abtrat (Punkt 5 der durch den , ] zugesicherdamaligen chinesischen Außenminister Yan Huiqing [ ten weiteren Vereinbarungen).51 Damit hatte China zwar gesehen, wie ein gleichberechtigter Vertrag auf Gegenseitigkeit aussehen kann, es bedeutete aber nicht, dass es dadurch von den Siegermächten in eben dieser Weise anerkannt wurde. Der Sonderfrieden war mit einem Deutschland geschlossen worden, das keine imperialistische Macht mehr war. Er wurde auch dann nicht zum Modell für andere, wie die anderen imperialistischen Mächte ihre Sonderrechte in China aufgeben wollten bzw. mussten. Als Resultat der Pazifikkonferenz von 1922 gab Japan den gerade erst in Versailles erlangten Anspruch auf Tsingtau auf und übergab die gesamte Region Kiautschou an China. Obwohl die Verhandlungen in Washington stattfanden und obwohl Briten und Australier bereits vor Kriegsende eine kommende Rivalität zwischen Japan und den USA vorausgesehen hatten, beschränkte sich die US-Initiative zu diesem Zeitpunkt noch auf die Beschränkung der japanischen Flotte. Der Einfluss Japans in China wurde zu diesem Zeitpunkt in den USA (noch) nicht als Bedrohung wahrgenommen. Die Rücknahme einiger Sonderrechte Japans in China, insbesondere die Rückgabe von Tsingtau, war deshalb nicht primär das Ergebnis einer US-amerikanischen Initiative, um ein Containment der japanischen Macht in China zu erreichen. Es war vielmehr das Resultat von Einzelverhandlungen zwischen den Vertretern Japans und Chinas, an welchen jeweils ein britischer und ein US-amerikanischer Delegierter als Beobachter teilnahmen. Letztere waren laut Angaben von Zeitzeugen vollkommen passiv und mischten sich in die Verhandlungen kein einziges Mal ein.52 Dass man gegen imperialistische Sonderrechte in China auf Seiten Washingtons prinzipiell nichts einzuwenden hatte, zeigt sich auch an der Tatsache, dass der Übergang der Shandong-Konzessionen von Deutschland auf Japan auch auf dieser Konferenz prinzipiell anerkannt wurde, dass es also im Wesentlichen nicht um eine Revision der imperialistischen Sonderrechte des Auslands in China ging, sondern dass es ein früher Versuch war, den beginnenden Konflikt der imperialistischen Mächte Japan und USA um die Vorherrschaft bzw. die politisch-militärische Dominanz im West-Pazifik zu entschärfen. Hierbei kam die China-Frage aus Sicht der imperialistischen Mächte eher als Beiprodukt auf den Verhandlungstisch. Die USA waren einer derjenigen Staaten, die im 19. Jahrhundert China zu ungleichen Verträgen ge50
Im Austausch der Noten zwischen dem Vertreter der deutschen Seite und dem chinesischen Außenministerium ist hier keine Währung angegeben. Da jedoch auf Art. 296 des Versailler Vertrags Bezug genommen wird, muss es sich um Goldmark handeln. 51 ), Der erste gleichberechtigte Vertrag des modernen China, das Siehe Li Yun ( „deutsch-chinesische Abkommen“ von 1921 ( ——1921 hh ii), German Studies ( ), 1998, Nr. 2, S. 59 f. 52 Jin Wensi ( ), China und die Washingtoner Konferenz ( ), in: Lee Chenkuang ( , , Li Zhenguang) (Hrsg.), Republikanische Außenpolitik ( ), Beijing: Encylopedia Sinica ( ), (urspr. Taipei: Academia Sinica), 2016, S. 16.
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zwungen hatten.53 Sie hatten jedoch in China keine Kolonien oder Pachtgebiete, an, Xianggang), Deutschland in ders als etwa Großbritannien in Hong Kong ( Tsingtau (bis 1914), Frankreich in Kouang-Tchéou-Wan ( , , Guangzhouwan), Russland (bis 1905) in Port Arthur ( , , Dalien) oder Japan (ab 1905) ebenda. Dennoch unterlagen US-amerikanische Staatsbürger der Extraterritorialität, waren US-amerikanische Unternehmen direkte Profiteure von ungleichen Verträgen. Wenn daher Japan auf die Übernahme territorialer Rechte in China verzichtete, gleichzeitig aber andere Sonderrechte bestehen blieben, dann war dies mit der Position der USA in China vollkommen vereinbar. Der Versuch Chinas, die extraterritoriale Gerichtsbarkeit auf der Washingtoner Konferenz anzusprechen, blieb daher auch weitgehend folgenlos.54 Es ging den USA primär um die Sicherung ihrer Vormachtstellung, weswegen die Flotten der USA, Großbritanniens und Japans auf das Verhältnis 5:5:3 begrenzt wurden. Es ging den USA nicht um die Wahrung oder Wiederherstellung der chinesischen Souveränität. Die USA hatten es hiermit nach Versailles zum zweiten Mal versäumt, sich in China als glaubwürdiger Partner zu präsentieren, vielmehr präsentierten sie ein Bild, in dem der europäische Imperialismus durch einen pazifisch-amerikanischen Imperialismus abgelöst wurde. Die Selbstbestimmung der Völker, von der Wilson gesprochen hatte und die auch für China einen wichtigen Faktor bei der Entscheidung für die offizielle Kriegserklärung gegen Deutschland darstellte, offenbarte sich aus chinesischer Sicht als ein „Trick“, mit dem man international Unterstützung gegen Deutschland bzw. gegen ÖsterreichUngarn generiert hatte. Sobald die eigenen Vorrechte betroffen waren, erwiesen sich die entsprechenden Forderungen als irrelevant. Die Meinung Chinas war uninteressant. Die chinesische Wahrnehmung der USA als aufstrebende imperialistische Macht hatte aus chinesischer Sicht nicht die Folgen des spanisch-amerikanischen Kriegs zum Ausgangspunkt, sondern war im reinen Selbstbezug entstanden. Zwar erfolgte die Besetzung von Hawaii, Guam und den Philippinen zum Teil direkt vor der chinesischen Küste, dennoch fühlte man sich hiervon in China nicht betroffen: es war eine imperialistische Macht, die der anderen die Klinke in die Hand gab. Dass sich mit dem Tausch der Subjekte eine geostrategische qualitative Veränderung ergab, er53 Die USA waren bereits kurz nach dem Ersten Opiumkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts in China als eine der imperialistischen Mächte aufgetreten und hatten sich im Wangxia , 3. 7. 1844) – so wie kurz zuvor das im Opiumkrieg siegreiche GroßbriTreaty ( tannien – in China und von China Sonderrechte ausbedungen, welche die chinesische Souveränität einschränkten. 54 Zwar einigte man sich auf eine fact finding mission, die in der Folge verschiedene chinesische Städte besuchte, um den Zustand der chinesischen Justiz zu ergründen, aber es änderte sich dadurch an den Tatsachen nichts. Die Kommission einigte sich ebenso wenig auf konkrete Vorschläge, da die Verhandlungen sich dieser Frage im Grunde verweigerten. Siehe Jin Wensi ( ), China und die Washingtoner Konferenz ( ), in: Lee Chenkuang ( , , Li Zhenguang) (Hrsg.), Republikanische Außenpolitik ( ), Beijing: Encylopedia Sinica ( ), (ursprünglich Taipei: Academia Sinica), 2016, S. 26 f.
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kannte man nicht. Für China änderte sich diese Wahrnehmung erst im Laufe des Ersten Weltkriegs. Frankreich und Großbritannien hatten sich bereits 1917 in Geheimabkommen damit einverstanden erklärt, dass Tsingtau nach dem Krieg japanisch bleiben solle, die USA hatten sich – entgegen der Wilson-Doktrin und dem erklärten Wunsch Chinas nach Selbstbestimmung – am 30. April 1919 in Versailles ebenfalls auf diese Linie verständigt, ohne dass die chinesische Verhandlungsdelegation auch nur gefragt worden wäre.55 Wenn man dabei bedenkt, wie sehr auch die USA nur zwei Jahre früher von den chinesischen Frontarbeitern im Ersten Weltkrieg profitiert hatten56, dann wird verständlich, wie groß die Enttäuschung auf chinesischer Seite war. Die Hoffnung, dass die USA sich als eine Macht profilieren würde, die in China nicht nach Konzessions- und Pachtgebieten gestrebt hatte und von der man daher geglaubt hatte, dass sie die Souveränität der Völker unterstützen würde, war damit entzaubert. Chinesische Historiker sprechen offen davon, dass sich aus der Perspektive Chinas in Versailles die Hoffnung eines Sieges der „Gerechtigkeit über die Machtpolitik“ nicht erfüllte.57 Die für China enttäuschende Nachricht, dass die Rechte Deutschlands an Tsingtau und an ökonomischen Interessen in Shandong nach dem Willen der westlichen Siegermächte an Japan übergehen sollten, war am 1. Mai 1919 vom chinesischen Ver, , Gu Weijun) per Telegramm von handlungsführer Wellingto Koo ( Paris nach Peking übermittelt worden. Der Inhalt des Telegramms wurde in Peking recht bald bekannt und es kam in der Folge insbesondere ab dem 4. Mai zu großen Studentenprotesten, die bis heute als Fanal dessen gelten, was folgen sollte: die gemeinsame patriotische Linie von Intellektuellen, Arbeitern und Händlern nach außen (Boykott japanischer Waren etc.) und die Forderung an die chinesische Innenpolitik, sich durch eine umfassende staatliche und intellektuelle Reorganisation zu verwandeln.58 Die politisch-rechtliche Enttäuschung in Versailles sollte also zu einem Katalysator der chinesischen Elite und der allgemeinen Bevölkerung werden. Dadurch wurde der Weg für eine komplette Reorganisation des chinesischen Staates frei. Der 55
Vgl. N. Leverenz, Chinas Enttäuschung als Siegermacht, Zeit, 30. 4. 2014. Die USA machten den anderen Kriegsparteien klar, dass sie für jeden chinesischen Arbeiter, der ihnen zugeteilt wurde, einen Soldaten mehr an die Front stellen konnten. Das war so überzeugend, dass die französische Seite umgehend 50.000 chinesische Arbeiter zur Unterstützung der amerikanischen Truppen abstellten; siehe Xu Guoqi, Strangers on the Western Front, 2011, S. 154. 57 Siehe Bai Shouyi (Hrsg.), Chinas Geschichte im Überblick, Neuauflage 2009, S. 493. 58 Diese Reorganisation der Gesellschaft vollzog sich erstaunlich rasch. Infolge der 4. MaiBewegung kamen Intellektuelle in die Provinzen und bauten neue Schulen mit neuen Inhalten auf. Einer der neuen Inhalte war der Nationalismus, durch den die Notwendigkeit, sich in einem nationalen Gesamtzusammenhang gegen den Imperialismus wehren zu müssen (sprich: einen Boykott gegen japanische Waren zu verhängen und zu versuchen, diesen auch durchzusetzen), zu einer Volksüberzeugung entwickelte. Siehe Tao Dun, Die 4. Mai-Bewegung im ), in: Kommission der politischen KonsultativkonShandonger Dorf ( ferenz für Kultur, Geschichte und Lernen (Hrsg.), ( [ ]) Erinnerungen an die 4. Mai-Bewegung ( ), Peking: China Wenshi Publ. ( ), 2017, S. 202 f. 56
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Westen – inklusive die USA – hatte seine Glaubwürdigkeit verloren. Gefordert wurde daher, China selbst in eine neue Macht zu verwandeln, so dass es sich international Anerkennung verschaffen könne. Recht als Instrument gegen Diskriminierung war offensichtlich machtlos; die Diskriminierung Chinas im 19. und frühen 20. Jahrhundert war selbst durch die Toten Kulis in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs nicht zu beenden. Opfer in der zweiten Reihe waren nur so lange willkommen, wie sie den Staaten in der ersten Reihe nutzten – sie verpflichteten zu nichts. VII. Recht und/oder Macht? Die Frage der Beziehung zwischen Recht und Macht erwies sich daher aus chinesischer Perspektive in mehrfacher Hinsicht als eine Erfahrung, in der Recht Macht voraussetzt. Ohne Macht kein Recht. So sehen wir zwar auch im chinesischen Zusammenhang wiederholt die politische Forderung, dass Macht nur dann legitimiert ist, wenn sie sich auf Recht gründen kann. Die politische Realität hatte aber ein ums andere Mal gezeigt, dass Macht oft Recht setzt, ohne sich um den Willen der Betroffenen zu kümmern und dass daher ein Recht ohne Legitimation in den Augen der Betroffenen entstand. Es wurde daher in China zunehmend deutlich, dass ein Recht, das den Ansprüchen einer inter-subjektiv akzeptierten Gerechtigkeit genügt, ein Equilibrium im Machtgefüge voraussetzt. Die Schaffung neuer, ausgeglichener rechtlicher Strukturen zwischen Deutschland und China 1919 hatte zur Vorbedingung, dass beide Seiten keine Machtdominanz über den anderen ausüben konnten. Die westlichen imperialistischen Mächte verzichteten erst dann auf extraterritoriale Rechte in China und akzeptierten China als ebenbürtigen souveränen Staat, als klar war, dass China der japanischen Aggression ernsthaft Widerstand leisten konnte und dass der Westen auf diese militärische Potenz Chinas angewiesen war.59 Im Fall der USAwurde der Sino-American Treaty for the Relinquishment of Extraterritorial Rights in China erst am 11. Januar 1943, also mehr als ein Jahr nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour unterzeichnet. Bis zu seiner Ratifikation durch die USA am 20. Mai 1943 vergingen nochmals einige Monate. Zu diesem Zeitpunkt war der Zweite Weltkrieg weder in Europa noch im Pazifik entschieden. Dass sich die USA dergestalt genötigt sahen, war keine Rückbesinnung auf die Ziele Wilsons, sondern eine Reaktion auf den Druck der Ereignisse. Man nahm durchaus wahr, dass die Unterstützung der USA durch China dadurch an Legitimität gewinnen würde und hatte teilweise keine andere Wahl, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Japan hatte sich als dominierende 59 Wie unwillig die imperialistischen Mächte waren, die Diskriminierung der exterritorialen Gerichtsbarkeit als solche anzuerkennen bzw. diese aufzugeben, zeigt sich z. B. an Formulierungen wie der, dass „… Staaten, … sich diese Beschränkung ihrer Souveränität bisher noch gefallen lassen“. So als wäre hinter diesem Phänomen kein internationaler Zwang. Als Begründung für die exterritoriale Gerichtsbarkeit wird im gleichen Atemzug ein Mangel an „Kulturfortschritt“ impliziert. Siehe Baron A. Heyking, Das Problem der Extraterritorialität in Afrika und Asien, in: Weltwirtschaftliches Archiv, 1926, Bd. 23, S. 453.
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Macht in einem großen Teil Chinas etablieren können. Dazu gehörte, dass man in der republikanischen Hauptstadt Nanjing eine chinesische Regierung unter der Führung , ) etablierte. Dieser erklärte am 9. Januar 1942 von Wang Jingwei ( den USA den Krieg. Nur eine Stunde nach der chinesischen Kriegserklärung unterzeichnete Japan das „Abkommen über die Aufgabe von Pachtgebieten und die Abschaffung der konsularischen Gerichtsbarkeit“ ( ). Da Japan über China dominierte, hatte es Konzessions- und Pachtgebiete nicht mehr nötig. Die Abschaffung traf also insbesondere die Kriegsgegner. In der Folge wurden 13 Konzessions- und Pachtgebiete von der chinesischen Regierung unter Wang Jingwei wieder in die chinesische Souveränität eingegliedert – einzig die japanische Konzession in Chongqing wurde durch die nationalistische Regierung von Chiang Kaishek in Chongqing aufgelöst. Es war ein offensichtlicher Versuch Japans, sich als asiatischer Champion des Anti-Imperialismus zu profilieren. Chiang Kaishek sah sich daher dem Problem gegenüber, dass es in einem nationalistisch geprägten China um seine Legitimität fürchten musste. Dasselbe galt für die alteingesessenen imperialistischen Mächte USA, Großbritannien (und Frankreich).60 Wollte man Japan nicht die Möglichkeit geben, sich als „moderne“ anti-imperialistische Macht zu profilieren, musste man die überkommenen Privilegien aufgeben. Aus chinesischer Sicht beweist dieser Schritt aufs Neue, dass das Recht ein Produkt der Macht ist und nicht umgekehrt. Die USA gaben ihre Rechte nicht auf, weil sie von der Richtigkeit einer vollständigen Souveränität Chinas überzeugt waren, sondern weil sie dies unter dem Zwang der Ereignisse machen mussten. Dennoch hatte Chiang Kaischek, der die nationalistische chinesische Regierung im Kampf gegen Japan führte, den Abschluss dieses Vertrags damit kommentiert, dass dieser Vertrag „ein unabhängiges China auf gleicher Augenhöhe“61 zur Folge habe. Wie dramatisch sich Chiang Kaischek geirrt hatte, zeigte sich bereits im Februar 1945, als sich die USA, Großbritannien und die UdSSR in Jalta darauf einigten, dass die UdSSR einen Teil der Rechte, die Russland 1905 an Japan abtreten musste, zurückerhalten solle. Der Traum Chinas von einer gleichberechtigten Teilhabe an Machtentscheidungen war nicht einmal in Bezug auf China selbst zu verwirklichen. Die Fiktion, dass die chinesische Souveränität in der internationalen Staatengemeinschaft nur im Einvernehmen mit China verfügbar war, zerplatzte wie eine Seifenblase. Weder die USA noch die Sowjetunion hatten es für notwendig erachtet, China auch nur zu fragen, wie mit der imperialistischen Erbschaft Japans in China umge60 Von 14 Konzessions- und Pachtgebieten wurden 13 durch die von Japan favorisierte , ) mit japanischer Zustimmung chinesische Regierung unter Wang Jingwei ( aufgelöst. Nur ein Konzessionsgebiet wurde von den nationalistischen Truppen unter Chiang Kaishek übernommen. Siehe im Einzelnen Hu Xinmin ( ), Hintergründe der Abschaffung der ungleichen Verträge im Jahr 1943 ( ), http://www.guancha.cn/HuXinMin/2015_05_21_320434_3.shtml, zuletzt aufgerufen am 5. 7. 2019. 61 Vgl. Hu Xinmin ( ), Hintergründe der Abschaffung der ungleichen Verträge im Jahr 1943 ( ), http://www.guancha.cn/HuXinMin/ 2015_05_21_320434_3.shtml, zuletzt aufgerufen am 5. 7. 2019.
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gangen werden sollte. China war weiter Mittel zum Zweck. Es befand sich nicht in einer Machtposition, in der es der chinesischen Seite möglich gewesen wäre, seine ureigenste Souveränität gegenüber den eigenen „Verbündeten“ durchzusetzen. Die USA verlangten von Chiang Kaishek die Zustimmung zu den entsprechenden Abkommen und desavouierten sich damit nicht nur selber. Auch der Verbündete der USA – die nationalistische Regierung unter Chiang Kaishek – wurde damit in der chinesischen Öffentlichkeit als ein Diener des Imperialismus diskreditiert, der es nach wie vor nicht schaffte, die chinesische Souveränität durchzusetzen. Das Recht war einmal mehr eine Funktion der Macht. China musste ohnmächtig zusehen, wie seine Rechte von anderen als Zuckerbrot für Dritte angeboten wurden. Das Recht als Begrenzung der Macht war ein weiteres Mal ein Traum geblieben. VIII. Nachwort Mittlerweile liegt zwischen unserer Gegenwart und dem Ersten Weltkrieg ein ganzes Jahrhundert. Wir leben daher in einem zeitlichen Abstand zu den Ereignissen damals, der es uns überwiegend erlaubt, uns der Geschichte zu nähern, ohne sofort an den gefallenen Bruder, die verlorenen Jahre, den Rübenwinter, den vermissten Onkel oder ähnliche Schicksale der Betroffenheit zu denken. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt nicht mehr im Umfeld der „oral history“ – die ganz große Mehrzahl der Zeitzeugen ist schon seit vielen Jahren verstorben. Dennoch zeigt sich auch aus dem Blickwinkel dieser emotional geringeren Betroffenheit, dass sich an dem Grundproblem, das sich im Zuge der Ereignisse des 1. Weltkriegs bzw. seiner direkten Folgen in China zeigt, bis heute nichts entscheidend geändert hat. Recht wird überwiegend als Funktion von Macht erfahren. Wenn der US-amerikanische Präsident Donald Trump beschließt, dass ihm ein Vertrag nicht passt, dann wird der Vertrag gekündigt, in dem Versuch, einseitig neue Fakten zu schaffen und die Gegenseite auf dem Wege von „Verhandlungen“ im Nachhinein zur Anerkennung dieser neuen Realität zu bewegen. Recht als Begrenzung von Macht erscheint als Ausnahmesituation, von der man träumen kann, die aber nur in seltenen Einzelfällen realisiert wird.62 Die hier beschriebenen Erfahrungen wirken bis in die Gegenwart nach, so dass der chinesische Souveränitätsbegriff bis heute von den Erfahrungen des späten 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts geprägt ist.63 Dieser Souveränitätsbegriff, wie er in den Absätzen 11 und 12 in der Präambel der Verfassung von 1982 zum Ausdruck 62 Diese Erfahrung Chinas ist in verschärfter Form auf die 1914 von Japan besetzten, 1945 als Treuhandgebiet an die USA übergegangenen, als Atomwaffentestgelände missbrauchten und bis heute nicht voll souveränen Völker und Gebiete des Nordpazifik voll übertragbar. Strategische Bedeutung und geringe Bevölkerungszahl machten diese zur „Verfügungsmasse“ der jeweiligen Großmächte. 63 Zum Souveränitätsbegriff in der chinesischen Verfassung von 1982, siehe G. Gesk/Li Bing-Nan/Chen Hsien-Wu, The Chinese Constitution of 1982 Revisited: Between Law and Politics, Taipei: NTU, working paper, 2006, S. 23 ff.
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kommt, spricht explizit von „gegenseitigem Respekt von Souveränität und territorialer Integrität“. In dieser ausdrücklichen Formulierung spiegeln sich nicht nur die Erfahrungen der imperialistischen Übergriffe auf China im 19. Jahrhundert wider, sondern auch die Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg und seiner Folgezeit. China sah sich in der Rolle als Siegernation, musste aber dennoch zusehen, wie chinesisches Territorium und chinesische Rechte durch die angeblichen Verbündeten an Dritte verschenkt wurden. Ein Phänomen, das sich während des Zweiten Weltkriegs auf der Konferenz von Jalta wiederholte. Gleichzeitig sehen wir unter diesen Vorzeichen, warum der chinesisch-deutsche Sonderfrieden von 1921 wichtig war und ist, denn es war nach den Demütigungen der ungleichen Verträge und der Ignoranz der Versailler Konferenz das erste Mal, dass das moderne China einen solchen Respekt im Umgang mit westlichen Staaten erfahren konnte. Bei der Stellung Chinas im nicht-chinesischen Ausland sehen wir ebenfalls, wie die historischen Erfahrungen nach wie vor virulent sind. China wird in den letzten Jahren für seine Investitionspolitik immer wieder kritisiert, denn es tauchen Schlagworte wie „Pachtvertäge auf 99 Jahre“ auf. Diese wiederum führen im Ausland zu nationalistischen Protesten gegen chinesische Interessen.64 Was dabei untergeht ist die Tatsache, dass sich China keine souveränen Rechte in anderen Staaten ausbedingt, sondern dass Vertragspartner Firmen sind und die Verträge nach den Gesetzen der Länder abgeschlossen werden, in denen die Investitionen stattfinden. Wir sehen also auch in einer Zeit, in der China versucht sich in ganz neuer Weise der Welt hin zu öffnen, dass dieses chinesische Engagement im Ausland versucht, den Verfassungsauftrag mit seiner Forderung nach „gegenseitigem Respekt von Souveränität und territorialer Integrität“ zu verwirklichen. IX. Zusammenfassung China befindet sich in einer Situation, in der es zunehmend nicht nur auf sich selbst konzentriert ist, sondern sich international mehr und mehr engagiert. Es ist in dieser Situation lohnend, sich die Ereignisse vor Augen zu führen, die für die Interaktion Chinas mit anderen Staaten in der Vergangenheit prägend waren. Eine der 64 China hat im Rahmen der „one Belt one Road“-Initiative ein besonderes Augenmerk auf die Infrastruktur gelegt, so dass wiederholt Betreiberrechte für ausländische Häfen auf 99 Jahre erworben wurden. So unterschiedlich dies in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, so ist es dennoch eine Tatsache, dass es sich um Verträge nach innerstaatlichem Recht handelt. Wie Vietnam am 15. 6. 2018 ein „Gesetz über industrielle Sonderzonen“ verabschiedete, um auf diese Weise langfristige Investitionsmöglichkeiten für chinesische Unternehmen in den Industriezonen Van Don, Bac Van Phong und Phu Quoc einzuräumen (Pachtverträge über 99 Jahre), gab es nationalistisch motivierte Proteste. Trotz der immer wieder zum Ausdruck kommenden Bedenken sind die strukturellen Unterschiede im Recht offensichtlich, denn es ist nicht der chinesische Staat, der erst einen Hafen besetzt, um sich dann auf dem Wege internationaler Verträge Souveränitätsrechte abtreten zu lassen. Dazu wird kein Vertrag geschlossen, der nicht von lokalen Partnern gegengezeichnet wäre. Vgl. z. B. Berichterstattung in der United Daily News, http://www.udn.com, vom 11. 6. 2018, zuletzt aufgerufen am 15. 7. 2019.
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zentralen Erfahrungen hierbei ist der Versuch Chinas, seine Souveränität wiederherzustellen und die Rechte zurückzuerlangen, die es im Rahmen der westlichen imperialistischen Politik hatte aufgeben müssen. Dabei sind die Rechte, die sich Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts in China sicherte, und die während des Ersten Weltkriegs plötzlich zur Disposition standen, symptomatisch für den Wandel der Situation. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig zu sehen, wie die Konfrontation zwischen Japan und den USA die Interessen Chinas immer erst dann ins Kalkül nahm, wenn es der eigenen Position im Verhältnis zum jeweiligen Machtkonkurrenten nützte. China war also in einer Situation, in der es immer wieder erfahren musste, dass die Prinzipien, die von anderen Staaten als Begründung für rechtliche Strukturen angeführt wurden, am Ende irrelevant waren, sobald es um die Durchsetzung eigener Interessen ging. Es sei betont, dass der deutsch-chinesische Sonderfrieden von 1921 ein Wegweiser hin zu einem Interessenausgleich war, der Macht nicht über Recht stellte, sondern der sich um einen Interessenausgleich bemühte, bei dem keine Seite die andere dominierte. Insofern ist dieser Sonderfrieden bis heute Teil der Verfassungsprinzipien in der Präambel der Verfassung von 1982 und damit ein wichtiges Gegenmodell zu einer internationalen Politik, die nur an der einseitigen Durchsetzung von Interessen orientiert ist. * Abstract Georg Gesk: China and the First World War. Jiaozhou and the Pacific Region (China und der Erste Weltkrieg. Kiautschou und die Pazifikregion), in: World War I and its Consequences for the Coexistence of Peoples in Central and Eastern Central Europe, vol. 3 (Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Bd. 3), ed. by Gilbert H. Gornig and Adrianna A. Michel (Berlin 2019), pp. 171 – 200. In recent years, China is increasingly in a situation where it is not merely taking care of itself, but is getting more and more engaged internationally. In this situation, it is worth looking for experiences that have shaped China’s current position. In this context, one of China’s key issues is trying to regain its sovereignty and reverse the loss of rights to Western imperialist powers. Within this framework, the rights Germany carved out of China in late 19th century are a central process that demonstrates how these rights were removed during and after World War I. It was worth pursuing how those rights changed hands and how the whole situation was turning into an issue between Japan and the US, thus being one of the factors that led to the war between Japan and China as it was central to the growing conflict between Japan and the US. However, it is important to notice, that the US were only very reluctant to recognize and adapt to the fundamental changes of the situation. At the same time, it is important to see, how the peace treaty between Germany and China became a hidden paradigm for things to come, since it showed ways for mutual respect and of arranging interests in favour of both parties involved. Therefore, the memory of this peace treaty is still visible in relevant clauses of the Chinese constitution of 1982.
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Georg Gesk
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Das Verhältnis zwischen dem Deutschen Reich und dem Großjapanischen Reich im Ersten Weltkrieg* Von Heinrich Menkhaus I. Einleitung Am 1. Juni 1918, also vor 100 Jahren, erlebte die 9. Symphonie Beethovens zusammen mit der „Ode an die Freude“ in dem kleinen Ort Bando¯, heute Teil der Stadt Naruto in der Präfektur Tokushima auf der Insel Shikoku, ihre japanische Uraufführung. Das Ereignis selbst führt mitten hinein in die deutsch-japanische Geschichte des Ersten Weltkrieges, denn die Instrumentalisten und Vokalisten dieser Aufführung waren deutsche Kriegsgefangene in einem japanischen Kriegsgefangenenlager. Wie es dazu kam, soll hier geschildert werden. Dabei stehen die Deutschen und ihre Einrichtungen in Japan und den von Japan eroberten ehemaligen deutschen Gebieten in Ostasien und im Pazifik im Fokus. Die Situation der Japaner und ihrer Einrichtungen in Deutschland bleibt unberücksichtigt. Die Darstellung beginnt mit der Vorgeschichte, widmet sich im Hauptteil der Zeit des Ersten Weltkrieges und wird mit einer Nachgeschichte beendet. II. Vorgeschichte 1. Territorialer Bestand Das Staatsgebiet Japans sah zu Beginn des Ersten Weltkrieges im Jahre 1914 anders aus als heute. Infolge unterschiedlicher Erwerbstatbestände gehörten nicht nur die Inseln, die heute das Staatsgebiet Japans1 ausmachen, dazu, sondern seit 1875 auf der Basis eines Vertrages zwischen Japan und Russland auch die sog. nördlichen Kurilen bis zur Halbinsel Kamchatka2 und infolge des für Japan siegreichen Japanisch* Eine überarbeitete Fassung des Beitrags ist unter dem Titel „Die deutsch-japanischen Beziehungen während des Ersten Weltkriegs aus juristischer Perspektive“ erschienen, in: Meiji Law Journal 27 (2020), S. 9 – 29. 1 Auf die Frage der völkerrechtlichen Zuordnung der heute im Streit befindlichen nördlichen Kurilen, die Insel Tokushima und der Senkaku-Inseln, wird hier nicht eingegangen. 2 N. R. Adami, Wessen sind die älteren Rechte. Zum russisch-japanischen Streit über die Kurilen, OAG, 1991.
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Chinesischen Krieges von 1893/1894 Formosa und die Pescadores-Inseln.3 Der ebenfalls für Japan siegreiche Japanisch-Russische Krieg von 1903/04 überführte die Südhälfte der Insel Sachalin in japanisches Staatsgebiet und transferierte die 1898 durch Russland von China gepachtete südliche Spitze der chinesischen Liaotung-Halbinsel, das sog. Kwantung-Areal, in japanisches Pachtgebiet.4 Im Jahre 1910 schließlich annektierte Japan die koreanische Halbinsel. Warum Japan – auch unter Einsatz militärischer Mittel – sein Staatsgebiet in Ostasien zu arrondieren trachtete, ist wissenschaftlich nicht abschließend untersucht. Zumeist wird gesagt, Japan habe zur Großmacht aufsteigen wollen und sei deshalb ein gelehriger Schüler des westlichen Imperialismus gewesen. Aber Gebietsansprüche auf die koreanische Halbinsel wurden von Japan schon im Altertum geltend gemacht und danach immer wieder umzusetzen versucht. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob Japan, das dem Tributsystem Chinas als Vasallenstaat lange Zeit untergeordnet war, dieses System nicht einfach umkehren wollte. Jedenfalls blieben die Fragen der Verteilung der Landmasse Ostasiens unter die dort um Einfluss streitenden Staaten beherrschendes Thema auch in der Zeit des Ersten Weltkrieges. Das Deutsche Reich beteiligte sich aktiv an diesen Auseinandersetzungen. Der langjährige diplomatische Vertreter zunächst Preußens, später des Norddeutschen Bundes und schließlich des Deutsches Reiches in Japan, Max von Brandt5, forderte unverhohlen die Kolonialisierung der nördlichsten Hauptinsel des japanischen Archipels: Hokkaido¯6, ohne damit freilich bei Bismarck, der in Fragen der Kolonisation zurückhaltend war, durchzudringen. In der sog. Tripelintervention von 1895 erreichte das Deutsche Reich zusammen mit Frankreich und Russland, dass Japan auf die ihm nach dem japanisch-chinesischen Friedensvertrag von Shimonoseki zugesprochene chinesische Halbinsel Liaotung verzichtete.7 Die Ermordung zweier deutscher Missionare in China im Jahre 1897 wurde als Gelegenheit genutzt, die KiautschouBucht auf der chinesischen Schantung-Halbinsel zu besetzen, die schon die Eulenburg-Mission 1860 in Augenschein genommen, die von Ferdinand von Richthofen nach seiner 1868 – 1870 erfolgten China-Reise als möglicher deutscher Marinestützpunkt in Ostasien identifiziert und die Admiral Alfred von Tirpitz zuletzt 1896 inspiziert hatte. Im Jahr 1898 folgte der deutsch-chinesische Pachtvertrag8 über das Kiautschou-Gebiet, das die Stadt Tsingtau umfasste. Der sog. Boxeraufstand in China 3
M. Kajima, Der Japanisch-Chinesische Krieg und die Drei-Mächte-Intervention. The Japan Times, 1979. 4 M. Kajima, Der Japanisch-Russische Krieg. The Japan Times, 1980. 5 R.-H. Wippich, „Strich mit Mütze“. Max von Brandt und Japan – Diplomat, Publizist, Propagandist, OAG, 1995. 6 R.-H. Wippich, Japan als Kolonie? Max von Brandts Hokkaido-Projekt 1865/1867, 1997. 7 R.-H. Wippich, Japan und die deutsche Fernostpolitik 1894 – 1898. Vom Ausbruch des Chinesisch-Japanischen Krieges bis zur Besetzung der Kiautschou-Bucht. Ein Beitrag zur Wilhelminischen Weltpolitik, 1987. 8 https://deutsche-schutzgebiete.de/wordpress/projekte/kolonien/kiautschou/kiautschoupachtvertrag-1898/.
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schließlich veranlasste eine militärische Intervention des Deutschen Reiches im Jahre 1900 zugunsten unter anderem der von den Aufständischen bedrohten Ausländer im Gesandtschaftsviertel von Peking. Doch nicht nur im Hinblick auf die ostasiatische Landmasse war das Deutsche Reich aktiv, es war auch an Inseln im Pazifik interessiert, wo Kolonien begründet wurden und deutsche Kaufleute die Voraussetzungen für die Überführung verschiedener Inselgruppen in deutsche Schutzgebiete vorbereitet hatten. Schon 1878 wurde Samoa besetzt, 1888 die Marshall-Inseln, Nauru, ein Teil der Salomon-Inseln, der sog. Bismarck-Archipel und ein Teil Neuguineas erworben. Ein Vertrag mit Spanien im Jahre 1899 führte dann die Karolinen, die Marianen und Palau dem insgesamt weiträumigen Kolonialgebiet des Deutschen Reiches im Pazifik zu.9 Warum sich das Deutsche Reich in Ostasien und im Pazifik engagierte, obwohl diese Gebiete geographisch so weit entfernt sind, und damit auf der Basis der seinerzeitigen deutschen militärischen Logistik nicht zu verteidigen waren, bedarf ebenfalls einer intensiven Diskussion. Neben wirtschaftlichen Interessen dürften dabei Großmachtbestrebungen verantwortlich gewesen sein, die von dem Gefühl eines Zuspätkommens bei der Kolonisierung der Erde getrieben wurden. Das Deutsche Reich und das Großjapanische Reich10 waren jedenfalls bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges geographisch in mehrfacher Hinsicht Nachbarn. 2. Völkervertragsrechtliche Situation Eine übernationale Rechtsordnung war seinerzeit nur in wenigen Ansätzen – z. B. der Haager Landkriegsordnung – verwirklicht. Entscheidend waren die bilateralen Verträge. Bilateral waren das Deutsche Reich und Großjapanische Reich durch den Konsularvertrag von 189611 und das Handels- und Zollabkommen aus dem Jahre 191112 verbunden. Im Jahr 1861 hatte Preußen einen Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrag mit dem noch unter einer Shogunats-Regierung stehenden Japan geschlossen.13 Dieser war einer der sog. „ungleichen Verträge“ mit westlichen Staaten. Ungleich deshalb, weil die Souveränität Japans als Staat durch die westlichen Signatarmächte nicht in vollem Umfang anerkannt wurde. Insbesondere die Exterritorialität der in 9
D. Bittner, Große illustrierte Geschichte der deutschen Südsee-Kolonien, 2013. Japanisch: „dainippon teikoku“. Die Übersetzung mit Großjapanisches Reich ist verbreitet, aber nicht eindeutig. Schon im deutschen Recht ist unklar, was einen Staat zum Reich macht. Der japanische Begriff „teikoku“ knüpft an den Begriff „Imperium“ an. 11 Der Konsularvertrag zwischen dem Deutschen Reich und Japan, RGBl. 1896, S. 732 ff., war zwar am 17. 7. 1911 außer Kraft getreten, aber durch Notenaustausch vom 7. 7. 1911 (RGBl. 1911, S. 867 ff.) war eine vorläufige Regelung des Konsularwesens erfolgt. 12 Handels- und Schifffahrtsvertrag zwischen dem Deutschen Reiche und Japan nebst zugehörigem Zollabkommen, RGBl. 1911, S. 477 ff. 13 Gesetzsammlung für die Königlich-Preußischen Staaten 1864, S. 461 ff. 10
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Japan lebenden Staatsangehörigen der Signatarstaaten, die sog. einseitige Meistbegünstigung, die den Vertragspartnern Japans gegenseitig Vorteile verschaffte, Japan aber leer ausgehen ließ und Vorbehalte bei der Festsetzung von Zöllen, insbesondere bei der Festlegung von Importzöllen, schränkten die Souveränität Japans ein. Diese Bedingungen blieben bei der Umschreibung des Vertrages von Preußen auf den Norddeutschen Bund im Jahre 186914 unverändert. Die Situation änderte sich erst mit dem Handels- und Schifffahrtsvertrag von 1896 zwischen Japan und dem Deutschen Reich.15 Dieser hob bei seinem Inkrafttreten im Jahre 1899 die Exterritorialität und die einseitige Meistbegünstigung auf. Obwohl er einen konsensualen Zolltarif enthielt, wurde die Freiheit der Festsetzung von Importzöllen der japanischen Seite noch nicht in vollem Umfang zugestanden. Das erfolgte erst mit den angesprochenen Verträgen von 1911. Sichtbares Ergebnis der Verträge war die Einrichtung einer deutschen diplomatischen Vertretung, die mit dem Inkrafttreten des japanisch-preußischen Vertrages 1863 ihre Arbeit aufnahm. Außerdem kam es zur Öffnung vertraglich bestimmter japanischer Häfen, deren Zahl im Laufe der Jahre wuchs. Im Jahre 2019 beispielsweise jährt sich die Öffnung des Hafens der japanischen Stadt Niigata für die Vertragsmächte zum 150. Mal.16 Das Deutsche Reich und das Großjapanische Reich waren ihrerseits über bilaterale Verträge mit Drittstaaten verbunden. Das Deutsche Reich unterhielt solche mit mehreren Staaten, die territoriale Interessen in Ostasien unterhielten, etwa China, Frankreich und Russland. Auch das Großjapanische Reich war durch bilaterale Verträge mit diesen Staaten verbunden. Etwas Besonderes hingegen war der im Jahre 1902 mit der stärksten Kolonialmacht in Asien, dem British Empire, geschlossene Vertrag. Die Briten hatten sich wegen der deutschen Präsenz im Pazifik dazu gezwungen gesehen, obwohl ihnen bewusst war, dass sie damit Japan in einer eigentlich nicht erwünschten Weise aufwerteten. 3. Deutsche Staatsangehörige in Japan Grundsätzlich gestatteten erst die deutsch-japanischen Verträge den Aufenthalt von Preußen, später von Norddeutschen, dann Reichsdeutschen in Japan. Tatsächlich waren Deutsche schon vorher in Japan ansässig. Das gilt insbesondere für die Zeit ab 1855, dem Jahr, in dem die ersten Häfen, nämlich Shimoda und Hakodate für den Handel mit den Vereinigten Staaten von Amerika, die den ersten „ungleichen Vertrag“ mit Japan im Jahre 1854 geschlossen hatten, geöffnet wurden. Diese Deutschen 14 Freundschafts-, Handels- und Schifffahrts-Vertag zwischen dem Norddeutschen Bund und den zu diesem Bund nicht gehörigen Mitgliedern des Deutschen Zoll- und Handelsvereins einerseits und Japan andererseits, Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes 1870, S. 1 ff. 15 Handels- und Schiffahrtsvertrag zwischen dem Deutschen Reich und Japan, RGBl. 1896, S. 715 ff. 16 https://jdg-niigata.jimdo.com/.
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kamen auf Schiffen nach Japan, die unter der Flagge eines Signatarstaates segelten, der Preußen bei der Öffnung Japans zuvorgekommen war. Sie mussten ihre Identität verschleiern, was offenbar ohne Schwierigkeiten möglich war. Dies folgte aus dem Umstand, dass selbst die Preußen unter den schon anwesenden Deutschen sich bei der Aufnahme diplomatischer Beziehungen im Jahre 1863 weigerten, sich unter den diplomatischen Schutz Preußens zu stellen. Diese Weigerung hing damit zusammen, dass der diplomatische Schutz durch die anderen Staaten stärker war, als die des Neulings Preußen und damit, dass der diplomatische Vertreter Preußens in Japan mit einem Status ausgestattet wurde, der den Usancen des Völkerrechts widersprach, nämlich dem eines „Konsuls in Japan“, einer Funktion mit der auch prompt niemand etwas anfangen konnte, weil seine Rechte und Pflichten nicht eindeutig waren. Mit den in Bezug genommenen Verträgen von 1896, die 1899 in Kraft traten, wurde die Beschränkung der für die Signatarmächte anlaufbaren Häfen in Japan und die Bewegungsfreiheit für Ausländer und damit auch Deutsche in für diese designierten Gebieten (sog. Settlements) in den Hafenstädten aufgehoben. An diese räumlichen Restriktionen waren die von der japanischen Regierung und ihren Einrichtungen angestellten Deutschen, die zur Schulung und Beratung der Japaner auf verschiedenen Wissensgebieten nach Japan eingeladen waren, von vornherein nicht gebunden. Da die Verträge dieser als Kontraktausländer17 bezeichneten Personen im Jahre 1914 unabhängig vom Kriegsbeginn ausliefen, blieben nur einige wenige von ihnen im Land. An ihre Stelle traten aber zunehmend deutsche Lehrer für den Deutschunterricht an den japanischen Oberschulen des alten Erziehungssystems (kyu¯ ko¯to¯gakko¯). Sowohl die Geschichte der Kaufleute als auch die Geschichte der Kontraktausländer und Deutschlehrer ist bis heute nicht abschließend aufgearbeitet worden.18 Wohl auch aus diesem Grunde gibt es keine verlässlichen Zahlen über die Anzahl der Deutschen, die sich zu Beginn des Ersten Weltkriegs in Japan aufhielten. Es sollen etwa 1.000 Personen gewesen sein. 4. Wirtschaftliche Beziehungen Die Frage, warum Japan im Gegensatz zu so vielen anderen Staaten in Asien nicht kolonisiert wurde, ist bis heute unbeantwortet. Ein Grund könnte darin liegen, dass man sich wirtschaftlich von einer solchen Maßnahme nicht viel versprach. Immerhin 17
Vgl. zu den deutschen Juristen, die als Kontraktausländer in Japan arbeiteten: H. Menkhaus, Dokkyo¯ Universität und Vermittlung deutschen Rechts in Japan http://www.dok kyo.ac.jp/kokuse/pdf/2011/menkhaus_all.pdf; ders., Die deutsche wissenschaftliche Beschäftigung mit dem japanischen Recht, in: K. Yamauchi/W. E. Ebke (Hrsg.), Meilensteine im Internationalen Privat- und Wirtschaftsrecht. Festgabe für Bernhard Großfeld und Otto Sandrock. Chu¯o¯ Universität Tokio 2014, S. 77 ff. 18 H. Menkhaus, Deutsche Juristen in Japan während der Meiji-Zeit. – Probleme bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung ihrer Arbeit, in: Yu-Cheol Shin (Hrsg.), Rezeption europäischer Rechte in Ostasien, 2013, S. 71 – 85.
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hatten die im Jahre 1613 zum Handelsverkehr mit Japan zugelassenen Briten ihre Niederlassung schon zehn Jahre später mit der Begründung wieder geschlossen, dass sich der Handel nicht lohne. Nur die Niederländer, die ihr Handelsprivileg schon im Jahre 1609 – als Angehörige des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation – erhalten hatten, harrten bis 1856 in Japan aus, dem Jahr, in dem sie ihren eigenen „ungleichen Vertrag“ mit Japan abschließen konnten und damit aus einer Position der Abhängigkeit in eine den anderen westlichen Signatarstaaten vergleichbare Superiorität einrückten. Auch die USA, die – wie ausgeführt – als erste westliche Macht 1854 Japan öffnete, hatte dabei nicht den Handel im Auge, sondern den US-Amerikanern ging es um die Öffnung japanischer Häfen zur Versorgung ihrer großen auf Hawaii stationierten Walfangflotte im Pazifik und um die Lagerung von Kohle für die von ihnen im Handel mit China eingesetzten Dampfschiffe. Auch Preußen kam nicht in erster Linie wegen wirtschaftlicher Anreize nach Japan. Vielmehr ging es um die noch offene Frage der Führungsnation bei der Gründung des Zweiten Deutschen Kaiserreichs: Habsburg Österreich oder Hohenzollern Preußen. Preußen lag vorn; Österreich kam erst 1869 zum „ungleichen Vertrag“ mit Japan. Die Einstellung gegenüber dem Handel änderte sich im Laufe der Jahre und die ab 1858 geschlossenen neuen und revidierten „ungleichen Verträge“ mit Japan hatten den Handel zum Gegenstand. Preußen entsandte im Jahre 1873/74 eigens eine Person zur Auskundschaftung der wirtschaftlichen Möglichkeiten, Johannes Justus Rein, der ein zweibändiges Werk über Japan19 als eine Art befürwortendes Gutachten vorlegte. Dennoch blieb die Anzahl der von deutschen Kaufleuten in Japan gegründeten Unternehmen gering, wie sich einer Aufstellung aus dem Jahre 191320 entnehmen lässt. Diese waren naturgemäß stark auf den Handel mit Produkten des Deutschen Reiches und Japans ausgerichtet, wobei Waffenexporte nach Japan eine nicht geringe Rolle spielten. 5. Kenntnisse über Japan Die wissenschaftliche Befassung mit Japan stand seinerzeit im Deutschen Reich noch ganz am Anfang. Im Jahr 1873 war in Japan die noch heute existente Deutsche Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens (Ost-Asiatische Gesellschaft: OAG)21 gegründet worden und für das akademische Jahr 1878/79 sind die ersten Lehrveranstaltungen zu Japan an deutschen Universitäten nachweisbar. Der schon
19 Japan nach Reisen und Studien im Auftrage der Königlich Preußischen Regierung, 1881 und 1886. 20 O. Scholz/K. Vogt (Hrsg.), Handbuch für den Verkehr mit Japan, 1913, S. 4 – 9. 21 Chr. W. Spang, Anmerkungen zur frühen OAG-Geschichte bis zur Eintragung als „japanischer Verein“ (1904), in: Nachrichten der Deutschen Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens 179/180 (2006), S. 67 ff.
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genannte Rein22, der nach seiner Rückkehr aus Japan an der Universität Marburg den Lehrstuhl für Geographie besetzte, gehörte ebenso zu den Pionieren wie der Jurist Georg von der Gabelentz als Inhaber des Lehrstuhls für ostasiatische Sprachen an der Universität Leipzig, der freilich nie in Japan gewesen war. Das im Jahr 1887 in Berlin eingerichtete Seminar für Orientalische Sprachen (SOS) nahm im selben Jahr den Unterricht in der japanischen Sprache auf.23 Es war nicht so sehr auf eine wissenschaftliche Aufarbeitung Japans gerichtet, als vielmehr auf eine Ausbildung der in die jeweilige deutsche Kolonialverwaltung oder diplomatischen Vertretung zu entsendenden Beamten. Insgesamt ist erstaunlich, wie wenig sich die von Japan ins Deutsche Reich zurückkehrenden Kontraktausländer an der Verbreitung von Wissen über Japan beteiligten, was wahrscheinlich mit ihren durchgehend fehlenden Kenntnissen der japanischen Sprache und Schrift zusammenhängt, aber auch mit der fehlenden Infrastruktur für Japan in der deutschen Wissenschaftslandschaft. Erst 1914 wurde am Kolonialinstitut (sic!) Hamburg ein Lehrstuhl für Japanologie eingerichtet.24 Damit fand die bis heute nachwirkende verhängnisvolle Verortung der wissenschaftlichen Japanforschung unter dem Dach einer „Japanologie“ getauften Einrichtung an deutschen Hochschulen ihren Ausgangspunkt. Das Auswärtige Amt selbst war personell dünn besetzt und verfügte lange Zeit nicht über Japanspezialisten.25 Die erfolgreichen Absolventen des Japanisch-Kurses im Seminar für Orientalische Sprachen (SOS) wurden zwar als Mitarbeiter akzeptiert, verharrten aber lange Zeit in der Position bloßer Sprachmittler für die Diplomaten. 6. Zusammenfassung Zum Zeitpunkt des Ausbruches des Ersten Weltkrieges waren nicht nur die als Großmächte anerkannten Staaten British Empire, Frankreich und Russland in Ostasien aktiv, sondern auch zwei Neuankömmlinge mit Großmachtambitionen, nämlich das Deutsche Reich und das Großjapanische Reich. Daraus folgten natürlich Reibungen zwischen den etablierten Mächten und den beiden neuen Mächten. Die deutsche Attitüde gegenüber Japan glich der Behandlung einer Kolonie, obwohl – wie ausgeführt – Japan keine solche wurde. Das Überlegenheitsgefühl der Deutschen ent22 M. Koch/S. Conrad (Hrsg.), Johannes Justus Rein. Briefe eines deutschen Geographen aus Japan 1873 – 1875, 2006. 23 A. Brochlos, Das Seminar für Orientalische Sprachen an der Berliner Universität und die japanbezogene Lehre, in: G. Krebs (Hrsg.), Japan und Preußen, 2002, S. 145 ff. 24 J. B. Quenzer, Zur Geschichte der Abteilung für Sprache und Kultur Japans, in: Paul, Ludwig (Hrsg.), Vom Kolonialinstitut zum Asien-Afrika-Institut. 100 Jahre Asien- und Afrikawissenschaften in Hamburg, 2008, S. 31 ff. 25 Hinweise zu Organisation und Personalstruktur des Auswärtigen Dienstes, in: Auswärtiger Dienst – Historischer Dienst (Hrsg.), Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871 – 1945, Bd. 1, 2000, S. XXI ff.; R.-H. Wippich, Die Gestaltung der Japanpolitik im Auswärtigen Amt des Deutschen Kaiserreiches, in: OAG Notizen 2 (2018), S. 10 ff.
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sprach jedoch dem anderer europäischer Mächte und äußerte sich in den „ungleichen Verträgen“. Trotz der Beliebtheit deutscher Kontraktausländer in Japan, die soweit ging, dass die Briten von den „German Measles“ sprachen, die die Japaner befallen hätten, wurde Japan politisch nicht ernst genommen und, wie z. B. bei der Tripelintervention deutlich wird, bei der Deutschland die eher guten, jedenfalls aber unbelasteten Beziehungen zu Japan auf dem Altar europäisch ausgerichteter Machtkalküle opferte. Angesichts des erfolgreichen kriegerischen Vorgehens Japans in Ostasien entstand schließlich sogar ausgerechnet in Deutschland das Schlagwort von der „Gelben Gefahr“, die es einzudämmen gelte. III. Erster Weltkrieg 1. Japanisch-Deutscher Krieg In den Anlass für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges war Japan nicht involviert. Aber es witterte als Verbündeter des British Empire sogleich seine Chance, die schwächste in Ostasien und im Pazifik vertretene europäische Macht, das Deutsche Reich, aus seinen dortigen Positionen zu verdrängen, nachdem das British Empire am 4. August 1914 dem Deutschen Reich den Krieg erklärt hatte. Schon unter dem 15. August richtete Japan folgendes deutschsprachiges Ultimatum über die Deutsche Botschaft in To¯kyo¯ an das Auswärtige Amt: „Die kaiserliche japanische Regierung erachtet es in der gegenwärtigen Lage für äußerst wichtig und notwendig, Maßnahmen zu ergreifen, um alle Ursachen einer Störung des Friedens im fernen Osten zu beseitigen und das allgemeine Interesse zu wahren, das durch den Bündnisvertrag zwischen Japan und Großbritannien ins Auge gefasst ist, um einen festen und dauernden Frieden in Ostasien zu sichern, dessen Herstellung das Ziel des besagten Abkommens bildet. Sie hält es deshalb aufrichtig für ihre Pflicht, der kaiserlich deutschen Regierung den Rat zu erteilen, die nachstehenden beiden Vorschläge auszuführen: 1. Unverzüglich aus den japanischen und chinesischen Gewässern die deutschen Kriegsschiffe und bewaffneten Fahrzeuge jeder Art zurückzuziehen und diejenigen, die nicht zurückgezogen werden können, alsbald abzurüsten. 2. Bis spätestens 15. September 1914 das gesamte Pachtgebiet von Kiautschou bedingungslos und ohne Entschädigung den kaiserlich japanischen Behörden zu dem Zweck zu überantworten, es eventuell an China zurückzugeben. Die kaiserlich japanische Regierung kündigt gleichzeitig an, dass sie, falls sie nicht bis zum 23. August 1914 mittags von der kaiserlich deutschen Regierung eine Antwort erhalten sollte, die die bedingungslose Annahme der vorstehenden von der kaiserlich japanischen Regierung erteilten Ratschläge enthält, sich genötigt sehen wird, so vorzugehen, wie es nach Lage der Sache für notwendig befinden wird.“26
Die Formulierung des Ultimatums orientiert sich deutlich an der Sprachfassung der Tripelintervention aus dem Jahre 1895, die, obwohl von Russland, Frankreich 26 Amtliche Kriegs-Depeschen nach Berichten des Wolff’schen Telegramm-Bureaus, Bd. 1, 1915, S. 52.
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und Deutschland gemeinsam getragen, ausgerechnet vom deutschen Geschäftsträger in Japan, Felix von Gutschmid, überreicht wurde und einen eigenständigen deutschen Textanhang aufwies: „Meine hohe Regierung hat mich angewiesen, zu erklären: ,Die Prüfung der japanischen Friedensbedingungen drängt der deutschen Regierung die Überzeugung auf, dass die von Japan verlangte Besitznahme von Liaotung eine constante Bedrohung der Hauptstadt von China sein und gleichzeitig die Unabhängigkeit Koreas illusorisch machen würde, dass sie sich folglich als dauerndes Hindernis für den Frieden Ostasiens darstellt. Deutschland räth daher, auf definitive Besitznahme der Halbinsel zu verzichten.‘ Ich bin beauftragt, an vorstehende Erklärung folgende Bemerkung zu knüpfen: ,Japan hat im Verlaufe des gegenwärtigen Krieges mehr als einen Beweis der freundschaftlichen Disposition Deutschlands erhalten. […] Im Hinblick auf eine wahrscheinliche, durch China erbetene Intervention der Mächte, hat Deutschland damals den unvermittelten Friedensschluss unter billigen Bedingungen für Japan verhältnismäßig am vorteilhaftesten bezeichnet und dabei hervorgehoben, dass die Forderungen einer Gebietsabtretung auf dem Festlande besonders geeignet sein würde, eine Intervention zu provozieren. Japan hat diese uneigennützigen Rathschläge leider nicht beherzigt. Die jetzigen japanischen Friedensbedingungen sind übertrieben; sie verletzten Europäische, auch deutsche Interessen, wenn schon letztere in geringerem Maße. Die Regierung seiner Majestät des Kaisers ist daher jetzt veranlasst, mit zu protestieren und wird, falls erforderlich, ihrem Protest auch den nöthigen Nachdruck zu geben wissen.‘ Japan kann daher nachgeben, da Kampf gegen drei Großmächte aussichtslos.“
Jetzt sah Japan eine Gelegenheit, sich für die 1895 erlittene Schmach zu revanchieren. Das erhellt aus der Rede des langjährigen japanischen Ministerpräsidenten Ito¯ Hirobumi. Er sagte im Jahre 1904, nach dem Japan die an der Südspitze der chinesischen Liaotung-Halbinsel im Bereich des durch Russland von China gepachteten Kwantung-Gebietes gelegene Hafenstadt Port Arthur unter erheblichen Verlusten auf japanischer Seite von Russland erobert hatte:27 „Wir mussten erleben, dass nach unserem siegreichen Krieg gegen China unser vermeintlicher Freund sich mit Russland und Frankreich verbündete, um uns die sauer erworbenen Früchte unseres Sieges zu entreissen. Das Russland, unser natürlicher Gegner in Ostasien, Einspruch erhob, fanden wir begreiflich. Ebenso, dass Frankreich die Seite seines Alliierten ergriff. Aber die durch nichts in unserem Benehmen gerechtfertigte feindliche Haltung Deutschlands musste uns als eine schwere, ja geradezu herausfordernde Beleidigung und als eine durch nichts zu rechtfertigende Einmischung in unsere eigenen Angelegenheiten erscheinen. … Stellen Sie sich bitte vor, welche Gefühle das deutsche Volk hegen würde und welche Sprache die deutsche Presse hegen würde, wenn nach den Siegen von 1870 ganz unerwartet eine bis dahin befreundete Macht, die auch örtlich weit entfernt ist, nehmen wir die USA, und zwar ohne irgendwelche innere Berechtigung als die der Antipathie, sich mit anderen Mächten verbündet hätte, um die Herausgabe von Elsaß-Lothringen zu erzwin27 Zitiert nach P. Ostwald, Deutschland und Japan. Eine Freundschaft zweier Völker, 1941, S. 83.
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gen, zumal wenn Sie dann einige Jahre später bei einem neuen Kriege dasselbe schon einmal eroberte Land unter den furchtbarsten Opfern noch einmal erobern müßten.“
Das Deutsche Reich kam dem Ultimatum nicht nach und antwortete stattdessen im August mit der Generalmobilmachung. Schon am 1. August wurde für das Schutzgebiet Kiautschou durch das Amtsblatt desselben der Kriegszustand erklärt. Am 2. August folgte im Amtsblatt die Anordnung der Mobilmachung. Sie galt zunächst nur für die Reserveoffiziere und Reservisten von Armee und Marine im Schutzgebiet. Für die See- und Landwehrleute 1. und 2. Aufgebots sowie für die Ersatzreservisten blieb die Entscheidung zunächst vorbehalten. Landwehr und schließlich auch Landsturm wurden aber später aufgeboten, jetzt nicht mehr nur für das Schutzgebiet Kiautschou selbst, sondern für alle asiatischen Gebiete, in denen sich deutsche Wehrpflichtige aufhielten. Sie alle wurden angewiesen, sich in Tsingtau einzufinden. Das alles folgt dem Reichsmilitärrecht aus dem Jahre 1888. Ein Reichsgesetz vom 2. Mai 1874 hatte in Ausführung des Art. 61 der deutschen Reichsverfassung von 1871 die Friedenspräsenzstärke der Armee an Unteroffizieren und Mannschaften auf sieben Jahre (Septennat) festgelegt. Ergänzt wurde dieses Gesetz durch das Gesetz über den Landsturm vom 12. Februar 1875 und das Reichsgesetz vom 15. Februar 1875 über die Ausübung der militärischen Kontrolle über die Personen des Beurlaubtenstandes. Modifiziert wurde das Reichsgesetz schließlich durch die Nachtragsgesetze vom 6. Mai 1880 und vom 11. März 1887. Zu diesen kam noch das Reichsgesetz vom 11. Februar 1888 betreffend Änderungen der Wehrpflicht hinzu, welches die Landwehr und unter Aufhebung des Gesetzes vom 12. Februar 1875 auch den Landsturm in zwei Aufgebote teilte. Hiernach gehörte der wehrfähige Deutsche sieben Jahre dem stehenden Heer an und zwar drei Jahre bei den Fahnen, vier Jahre in der Reserve, die folgenden fünf Jahre aber der Landwehr ersten Aufgebots und sodann bis zum 31. März desjenigen Kalenderjahrs, in welchem das 39. Lebensjahr vollendet wurde, der Landwehr zweiten Aufgebots. Die bis dato gültige Einteilung der Ersatzreserve in zwei Klassen fiel weg. Der Landsturm bestand aus den Wehrpflichtigen vom vollendeten 17. bis 45. Lebensjahr, welche weder dem Heer noch der Marine angehörten. Das erste Aufgebot umfasst die Landsturmpflichtigen bis zum 31. März des Kalenderjahrs, in welchem sie ihr 39. Lebensjahr vollenden, das zweite Aufgebot die Pflichtigen von ebendiesem Zeitpunkt an bis zum Ablauf der Landsturmpflicht. Erstaunlich ist, dass sich auch viele deutsche Freiwillige aus Ostasien auf den Weg nach Tsingtau machten. Wie sie mit ihren Arbeitgebern verblieben, wer die Reisekosten trug und ob das Deutsche Reich sie besoldete, ist unklar. Insgesamt waren zu Beginn der kriegerischen Auseinandersetzung etwa 1400 Soldaten des III. Seebataillons und 3.400 Soldaten als Reservisten und Freiwillige vor Ort. Dazu sind einige Soldaten aus dem Kaisertum Österreich-Ungarn zu zählen, das mit dem Deutschen Reich verbündet war.
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Am 23. August 1914 erfolgte, wie zu erwarten, nach der Nichteinhaltung des Ultimatums die japanische Kriegserklärung gegen Deutschland, die vom japanischen Geschäftsträger in Berlin überbracht wurde. Der Deutsch-Japanische Krieg (Nichidoku senso¯) hatte begonnen. Schon am 27. August folgte die Blockade der Kiautschou-Bucht durch japanische und britische Kriegsschiffe und am 2. September 1914 die Kampfhandlungen. Bereits am 7. November war Tsingtau, wie ebenfalls nicht anders zu erwarten, angesichts der Entfernung des Schutzgebietes von Deutschland und der damit zusammenhängenden fehlenden militärischen Logistik, dem Mangel an ausreichend ausgebildeten Soldaten und der Abwesenheit des Ostasiengeschwaders der Marine, erobert, und es erfolgte die deutsche Kapitulation. Etwa 200 deutsche Soldaten waren gefallen. 2. Deutsche in japanischer Kriegsgefangenenschaft Die übrigen ca. 4600 deutschen und einige österreichisch-ungarische Soldaten wurden mit japanischen Schiffen noch Ende 1914, teilweise Anfang 1915 nach Japan abtransportiert. Die seinerzeit freien japanischen Kriegsgefangenenlager, die nach dem Russisch-Japanischen Krieg für russische Kriegsgefangene eingerichtet worden waren, reichten für die Aufnahme dieser großen Zahl nicht aus. Bevor Erweiterungs- und Ergänzungsbauten errichtet waren, wurden die Kriegsgefangenen in anderen Gebäuden, zumeist Tempeln über das gesamte Land verstreut, untergebracht. Später trat eine Konzentration auf wenige Lager ein, von denen Narashino, Marugame, Bando¯ und Kurume die Bekanntesten sein dürften. Die Kriegsgefangenen wurden dabei von Japan weitgehend im Rahmen der übernationalrechtlichen Vorgaben, d. h. insbesondere der Haager Landkriegsordnung von 190728, die Japan im Jahre 1911 ratifiziert hatte, behandelt. Offizielle Besucher der Lager bestätigten dies in ihren Gutachten.29 Freilich wurde die individuelle Atmosphäre in allen Lagern von der jeweiligen Lagerleitung bestimmt. So gab es Lager, in denen die Kriegsgefangenen eine große Anzahl von persönlichen Freiheiten genossen, wie etwa Freigänge, die Erlaubnis zur Errichtung von „Lauben“ genannten separaten Hütten auf dem Gelände, Erwerb von Büchern, Werkzeugen, Musikinstrumenten u. a., um eine gewisse persönliche Lebensgestaltung verwirklichen zu können. So gab es in mehreren Lagern Orchester, von denen eines das in der Einleitung erwähnte Konzert der 9. Symphonie von Beethoven aufführte. Besuche von Ehefrauen und Freudinnen und sogar Eheschließungen wurden gestattet. Für solche Lager kann man in der Tat von einer „etwas anderen Kriegsgefangenschaft“ spre-
28 Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges https://www.admin. ch/opc/de/classified-compilation/.pdf. 29 Z. B. Internationales Komitee vom Roten Kreuz (Hrsg.), Dokumente herausgegeben während des Krieges 1914 – 1918. Bericht des Herrn Dr. F. Paravicini, in Yokohama, über seinen Besuch der Gefangenenlager in Japan (30. Juni bis 16. Juli 1918), 1919.
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chen.30 Man sollte sich aber davor hüten, im Verhältnis der betroffenen Deutschen und Japaner eine gefühlsmäßige Nähe zu unterstellen, wie es heute vielfach getan wird, etwa in dem im Jahre 2006 uraufgeführten japanischen Kinofilm „Barto no rakuen“, etwa Paradies der Bärte, der auf Deutsch unter dem Titel „Ode an die Freude“ angeboten wird. Insgesamt ist dieses Ereignis der deutsch-japanischen Geschichte weitgehend dokumentiert.31 3. Eroberung der deutschen Kolonien und Schutzgebiete im Pazifik Fast zeitlich parallel zum Japanisch-Deutschen Krieg erfolgte die japanische Eroberung der deutschen Kolonien und Schutzgebiete im Pazifik. Leider ist dieser Vorgang wissenschaftlich noch nicht hinreichend bearbeitet worden.32 Japaner waren schon vorher insbesondere als Händler in diesen Gebieten stark vertreten. Sie wussten deshalb, dass ein militärischer deutscher Schutz nicht vorhanden war. Die Eroberung erfolgte folglich praktisch ohne Blutvergießen. Allerdings waren die Japaner nicht die Einzigen, die sich deutsche Besitztümer im Pazifik aneigneten. Der Einfachheit halber lässt sich sagen, dass Japan alle pazifischen Kolonien und Schutzgebiete Deutschlands nördlich des Äquators vereinnahmte. Ob Deutsche vor Ort in Kriegsgefangenschaft genommen wurden oder ob sie dazu außer Landes gebracht wurden, ist offen. 4. Feindgesetzgebung Einer Kriegserklärung folgt in aller Regel die Feindgesetzgebung, das heißt die diplomatischen Beziehungen werden abgebrochen und die Diplomaten zur Ausreise aufgefordert; die bestehenden bilateralen Abkommen gekündigt, die Angehörigen des Feindstaates des Landes verwiesen oder interniert, ihr Vermögen beschlagnahmt, die Rechtsträger ihrer Unternehmen gelöscht, nachdem diese liquidiert, oder die Anteile an ihnen in dritte Hände überführt wurden, und ihre Einrichtungen geschlossen. Eine solche Feindgesetzgebung hat Japan zunächst nur teilweise initiiert. Sie wurde später – wohl auf britischen Druck – verstärkt. Die deutschen Diplomaten in Japan wurden zur Ausreise aufgefordert und verließen Japan innerhalb weniger Tage. Das Deutsche Reich bat die seit 1864 diploma30
G. Krebs, Die etwas andere Kriegsgefangenschaft, in: R. Overmanns (Hrsg.), In der Hand des Feindes. Kriegsgefangenschaft von der Antike bis zum Zweiten Weltkrieg, 1999, S. 323 ff. 31 Siehe nur die Internetseite von Hans-Joachim Schmidt unter der Adresse http://www. tsingtau.info mit vielen weiteren Nachweisen. 32 Vgl. aber F. Moos, Dynamics of Colonialism: Japan and Germany in Micronesia, in: J. Kreiner (Hrsg.), Japan und die Mittelmächte, 1986, S. 97 ff.; M. R. Peattie, Nan’yo¯. The Rise and Fall of Micronesia, 1885 – 1945, University of Hawaii, 1988; G. Hardach, Südsee und Nanyo¯: Deutsch-Japanische Rivalität in Mikronesien 1885 – 1920, in: J. Kreiner/R. Mathias (Hrsg.), Deutschland-Japan in der Zwischenkriegszeit, 1990, S. 1 ff.
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tisch in Japan vertretene Schweiz um die Wahrnehmung seiner Interessen. Dass die Deutsche Botschaft in To¯kyo¯ beherbergende Grundstück und Gebäude blieb erhalten. Was mit den seinerzeit noch existenten deutschen Konsulaten in Yokohama, Ko¯be, Nagasaki und Shimonoseki geschah, ist unklar. Japan verbot zwei Zeitungen. Die deutschsprachige „Deutsche Japan-Post“ und die englischsprachige „Japan Herald“, die einen deutschen Chefredakteur hatte, der des Landes verwiesen wurde. Beide Zeitungen vertraten deutsche Standpunkte, wobei die englischsprachige Ausgabe ihre Existenz vor allem dem Umstand zu verdanken hatte, dass die öffentliche Meinung in Japan von der englischsprachigen Presse beeinflusst war, so dass die deutsche Seite bewusst unter Einsatz finanzieller Mittel mit dieser Zeitung ein Gegengewicht bilden wollte. Im Übrigen wurden deutsche und deutschkapitalisierte Unternehmen in Japan zunächst nicht behindert. Erst unter dem 15. Mai 1917 trat ein Verbot des Handels mit dem Feinde33 als Edikt34 in Kraft. Mit dem Edikt wurde für alle Geschäfte mit Deutschen und deutschen Einrichtungen, inklusive deutschkapitalisierten Unternehmen im In- und Ausland ein Geschäftsverbot mit vorherigem Zustimmungsvorbehalt (Einwilligung) ausgesprochen. In Ergänzung zum Edikt gab es Ausführungserlasse der verschiedenen Ministerien. In einer Zusatzbestimmung wurden zudem alle Geschäfte vom Anwendungsbereich der Vorschrift erfasst, die vor Inkrafttreten des Edikts schon abgeschlossen, aber noch nicht erfüllt waren. Sie wurden dem Erfordernis einer nachträglichen Zustimmung (Genehmigung) unterworfen. Wie sich der tägliche Einkauf der Deutschen in Japan unter diesen Voraussetzungen abspielte, bleibt dabei freilich ebenso unklar wie die Abwicklung der abhängigen Beschäftigung eines Deutschen in Japan. Ebenso ist offen, mit welchen Finanzmitteln der Lebensunterhalt der Deutschen in Japan bestritten wurde, nachdem auch der Zahlungsverkehr dem Zustimmungsvorbehalt unterworfen war. Das Edikt lässt aber deutlich erkennen, dass die Deutschen nicht zwangsweise repatriiert und auch nicht interniert wurden. Das erklärt zwangslos, warum Deutsche in den Berichten der deutschen Kriegsgefangenen als Besucher der Lager immer wieder genannt werden. Deutsche hatten also nicht nur das Recht, weiter in Japan zu wohnen, sondern sie konnten sich auch frei bewegen. Zur Enteignung deutschen Vermögens sind die Aussagen in der Geschichtsschreibung uneinheitlich und die Rechtsgrundlage für ein solches Vorgehen wird an keiner Stelle genannt.
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„taiteki torihiki kinshi rei, chokurei“ Nr. 41 vom 24. April 1917, deutschsprachige Übersetzung aus der englischen Sprache bei L. Ulrich, Der Wirtschaftskrieg. Die Maßnahmen und Bestrebungen des feindlichen Auslands zur Bekämpfung des deutschen Handels und zur Förderung des eigenen Wirtschaftslebens. Dritte Abteilung, 1917, S. 165 – 169. 34 „chokurei“ ist die Form einer Rechtsnorm, die es in der gegenwärtigen japanischen Rechtsordnung nicht mehr gibt.
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Die 1904 gegründete Deutsche Schule in Yokohama und die 1909 gegründete Deutsche Schule in Ko¯be setzten den Unterricht fort.35 Die Zahl ihrer Schüler stieg dem Vernehmen nach sogar wegen des Zuzuges von Familien aus Kiautschou. Die Deutsche Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens (OAG) in To¯kyo¯ konnte ihren Geschäftsbetrieb eingeschränkt auf dem gerade erst erworbenen Grundstück in der Nähe der Deutschen Botschaft fortsetzen. Unter anderem profitierten die deutschen Kriegsgefangenen vom Ausleihen der Bücher aus ihrer Bibliothek.36 Im Jahre 1919 wurde indes das Anwesen offenbar konfisziert. Auch die deutschsprachige evangelische Kirchengemeinde „Kreuzkirche“ in To¯kyo¯ konnte weiter ihre Kirche benutzen. Die Pastoren besuchten regelmäßig die Kriegsgefangenenlager und hielten dort Gottesdienste. Über die deutschsprachige katholische Kirchengemeinde ist zu dem Zeitpunkt nichts bekannt. Auch die beiden von Deutschen betriebenen Clubs in To¯kyo¯ „Germania“ und Ko¯be „Concordia“ wurden nicht behelligt.37 Die Rechtsträger der von Deutschen in Japan gegründeten Unternehmen wurden im Handelsregister nicht zwangsweise gelöscht. Ob es zur Beschlagnahme der Anteile und Überführung an Dritte gekommen ist, bleibt unklar. An einer Stelle heißt es zu C. Illies & Co. (Irisu Sho¯kai): „die Niederlassungen deutscher Firmen in Japan durften zunächst noch Handelsgeschäfte mit neutralen Ländern durchführen, wurden aber im Laufe des Krieges von den japanischen Behörden ohne Ausnahme geschlossen.“38 Die Rechtsträger der meisten deutschkapitalisierten Unternehmen in Japan aber waren keine Niederlassungen und der Begriff „geschlossen“, sagt nichts über das Schicksal des Rechtsträgers. An anderer Stelle heißt es, die gewerblichen Schutzrechte der Deutschen seien 1917 aufgehoben worden.39 Ob dies entschädigungslos erfolgte, bleibt offen. Ob Deutsche unter diesen Umständen Japan in Richtung des Deutschen Reiches verlassen haben, ist unbekannt. Es ist jedoch eher unwahrscheinlich, weil die Gefahr vom Krieg in Mitleidenschaft gezogen zu werden, in Deutschland größer war, als in Japan selbst. Mitunter ist von einer Emigration von Deutschen aus Japan in neutrale Drittstaaten die Rede. 5. Japanische Verwaltung des Schutzgebietes Kiautschou Schon vor Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen um Kiautschou hatte die Deutsche Reichsregierung sich um die Evakuierung von nicht wehrpflichtigen Deutschen nach China bemüht, das am 6. August 1914 seine Neutralität bekundet 35
J. Lehmann, Zur Geschichte der Deutschen Schule Kobe, OAG, 1988. Die seit Jahren angekündigte Geschichte der OAG liegt leider noch nicht vor. 37 Anders K. Meissner, Deutsche in Japan 1639 – 1960, 1961, S. 73 ff. 38 J. Bähr/J. Lesczenski/K. Schmidtpott, Handel ist Wandel. 150 Jahre C. Illies & Co, 2009, S. 107. 39 E. Pauer, Japan-Deutschland. Wirtschaft und Wirtschaftsbeziehungen im Wandel. Deutsch-Japanisches Wirtschaftsförderungsbüro, 1985, S. 15. 36
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hatte. Die Deutsche Botschaft in Peking und die Konsulate in Tientsin, Shanghai und Tsinanfu waren angewiesen worden, Unterkünfte für diese Personen bereitzustellen. Von der mit Schiff und Eisenbahn erfolgten Evakuierung machte etwa die Hälfte der betroffenen 800 Personen Gebrauch. Nach dem Abtransport der Kriegsgefangenen war die Anzahl der verbliebenen Deutschen in Kiautschou damit gering. Die meisten der verbliebenen Nichtkombattanten verließen zwischen 1914 und 1917 auf neutralen Schiffen das Schutzgebiet. Nur ein verschwindend geringer Teil der Deutschen verharrte bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Die japanische Besatzungsadministration ließ bis auf ganz wenige Ausnahmen den Neuzuzug von Deutschen nicht zu, aber – ebenfalls von nur wenigen Ausnahmen abgesehen – zwang sie die verbliebenen Deutschen auch nicht, das Land zu verlassen. Um seinen Einfluss in China zu stärken, richtete Japan schon am 18. Januar 1915 die berühmt gewordenen „21 Forderungen“ an China. Die erste Gruppe der Ansprüche befasste sich mit der Übertragung aller Rechte, die die Deutschen im Schutzgebiet Kiautschou innegehabt hatten. In der Hoffnung, die westlichen Großmächte würden China zur Seite stehen, wies China die Forderungen im April 1915 zunächst zurück. Da sich aber fast alle Großmächte nicht um den Vorgang kümmerten, erneuerte Japan im Mai seine Forderungen und drohte mit militärischen Maßnahmen. Das veranlasste China zur Annahme der Forderungen. Lediglich die USA erklärten, dass sie jenen Vertrag zwischen Japan und China nicht anerkennen würden und verlangten die Rückgabe des deutschen Pachtgebietes Kiautschou an China. Dabei blieb es indes. Der Status quo wurde im Austausch der sog. Lansing Ishii-Noten zwischen den USA und Japan im November 191740, die von einer „open door“-Politik für alle Staaten im Hinblick auf China sprechen, festgeschrieben. Ob und inwieweit Feindgesetzgebung Japans für das Schutzgebiet Kiautschou erfolgt ist, insbesondere, ob es zu Enteignungen deutschen Vermögens und deutschkapitalisierter Unternehmen kam, ist, soweit ersichtlich, nicht untersucht. 6. Japanische Verwaltung der deutschen Kolonien und Schutzgebiete im Pazifik Noch weniger untersucht ist die Feindgesetzgebung Japans in den ehemaligen deutschen Pazifikgebieten. 7. Verhandlungen zu einem Sonderfrieden Nachdem das Deutsche Reich aus seinen Positionen in Ostasien und im Pazifik verdrängt und damit das eigentliche Kriegsziel Japans erreicht war, besann man sich im Auswärtigen Amt ehemaliger geopolitischer Modelle, die ein Zusammengehen des Deutschen Reiches mit Russland und Japan gegen das British Empire vor40 Carnegie Endowment for International Peace (ed.), The Imperial Japanese Mission 1917, 1918, S. 121 – 125.
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gesehen hatten. Man versuchte insbesondere in den Jahren 1915/16 Verhandlungen über einen Separatfrieden mit Russland und Japan zu führen. Dabei machte man Russland und Japan in getrennten Gesprächen Versprechungen, die nicht in deren gemeinsamen Interesse waren. Japan solle entschädigungslos das Schutzgebiet Kiautschou erhalten und Russland als Bollwerk gegen die „Gelbe Gefahr“ aufgebaut werden. Es war nicht bekannt, dass Russland und Japan miteinander in enger Kommunikation standen und durch die sog. „Londoner Deklaration“ aus dem Jahre 1914, der Japan im Jahre 1915 beigetreten war, verbunden waren. In dieser hatten sie sich neben dem British Empire und Frankreich verpflichtet, keinen Separatfrieden zu schließen. So führten die deutschen Vorstöße gegenüber beiden Staaten nur dazu, dass diese sich näher kamen und 1916 ein Bündnisabkommen miteinander schlossen.41 8. Zusammenfassung Infolge des Deutsch-Japanischen Krieges ging der ostasiatische und pazifische Kolonialbesitz des Deutschen Reiches verloren. Die diplomatischen Beziehungen mit dem Großjapanischen Reich waren beendet. Die persönliche und wirtschaftliche Bewegungsfreiheit der deutschen Staatsangehörigen aber wurde in Japan auf Grund mangelnder Feindgesetzgebung zunächst gar nicht und später nur auf Druck des mit Japan verbündeten und mit dem Deutschen Reich ebenfalls im Krieg befindlichen Vereinigten Königreichs eingeschränkt. Tatsächliche Beschränkungen der Handlungsfreiheit waren aber wegen der Kriegssituation auch von Japan nicht zu verhindern. Insgesamt fehlt es aber an einer brauchbaren Untersuchung der Situation der Deutschen im seinerzeitigen Großjapanischen Reich und in den durch Japan erorberten Schutzgebieten Kiautschou und im Pazifik. Die deutschen Kriegsgefangenen wurden in Japan weitgehend in Übereinstimmung mit dem übernationalen Recht behandelt, in einigen Lagern kam man ihren Selbstverwirklichungsabsichten weitgehend entgegen. IV. Nachgeschichte Am 11. November 1918 wurde vom Deutschen Reich42 der Waffenstillstand unterzeichnet. Es begannen die Friedensverhandlungen in Versailles, an denen das 41
Zum Ganzen L. E. Prinz, Deutsche Ostasienpolitik. Ihre Ergebnisse und Versäumnisse unter besonderer Berücksichtigung des deutsch-japanischen Verhältnisses vor dem Ersten Weltkrieg. Diss. 1945; A. Hayashima, Die Illusion des Sonderfriedens. Deutsche Verständigungspolitik mit Japan im Ersten Weltkrieg, 1982; P. Pantzer, Deutschland und Japan vom Ersten Weltkrieg bis zum Austritt aus dem Völkerbund (1914 – 1933), in: J. Kreiner (Hrsg.), Deutschland – Japan. Historische Kontakte, 1984, S. 141 ff. 42 Ob mit der vorher erfolgten Abdankung des Deutschen Kaisers und der seines designierten Nachfolgers schon das Ende der Monarchie erreicht war und damit die Bezeichnung als Reich in Frage gestellt werden muss, bleibt hier unbeantwortet.
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Deutsche Reich nicht beteiligt war. Japan hingegen nahm als Siegermacht des Ersten Weltkrieges teil. Es gehörte freilich nicht zu den Staaten, die die entscheidenden Fragen diskutierten. Es konnte sich auch mit seinem Vorschlag auf Verankerung des Grundsatzes der Gleichberechtigung der Völker im Vertragstext nicht durchsetzen.43 Der Friedensvertrag legte die alleinige Verantwortung des Deutschen Reiches und seiner Verbündeten fest, verlangte Gebietsabtretungen, nötigte zur Abrüstung und verpflichtete zu erheblichen Reparationszahlungen an die Sieger. Der Friedensvertrag wurde am 28. Juni 1919 unterzeichnet und trat am 10. Januar 1920 in Kraft.44 Er veränderte die territoriale Aufteilung der Erde nachhaltig, und ließ jedenfalls Deutschland als unzufriedene Macht zurück, was den Keim für die nachfolgenden militärischen Auseinandersetzungen im Zweiten Weltkrieg legte. Obwohl Japan das ehemals deutsche Schutzgebiet Kiautschou ebenso wie die ehemaligen deutschen Besitzungen nördlich des Äquator im Pazifik als sogenannte Mandatsgebiete, letzteres von Japan Nan’yo¯ genannt, durch den neu gegründeten Völkerbund zugesprochen bekam, war Japan mit dem Ergebnis der Friedensgespräche nicht einverstanden. Kiautschou musste in Folge der Washingtoner Verträge schon 1922 an China zurückgegeben werden.45 Auch die militärische Beteiligung Japans an der sog. Sibirien-Intervention ab 1918, die sich gegen die Folgen der bolschewistischen Revolution in Russland richtete und in deren Folge Japan zeitweise bis 70.000 Soldaten in Ostsibirien im Einsatz hatte, wurde 1922 auf Druck der USA abgebrochen, weil Japan verdächtigt wurde, weitergehende territoriale Pläne in Bezug auf Russland zu hegen.46 Aus der Konkursmasse der deutschen Streitkräfte erhielt Japan einige Waffen, darunter willkommene, weil als sehr weit entwickelt geltende U-Boote. Die diplomatischen Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und dem Großjapanischen Kaiserreich wurden im Jahre 1920 wieder aufgenommen. Die deutschen Kriegsgefangenen wurden 1920 entlassen. Da Deutschland die Verlierermacht war, hatten Deutsche selbst für den Transport zu sorgen. Die Freigelassenen konnten sich entscheiden, ob sie in Japan bleiben, nach Deutschland transportiert oder in Drittstaaten übersiedeln wollten. Einige blieben in Japan und errichteten eigene Unternehmen, die noch heute in Japan erfolgreich sind, wie z. B. Karl Juchheim, berühmt für seinen Baumkuchen und August Lohmeyer, bekannt für seine Wurst- und Fleischwaren mit annähernd deutschem Geschmack. Auffallend ist, dass die meisten der in Japan ver-
43 H. Murakami, Japan. The Years of Trial 1919 – 1952. Kodansha International, 1982; N. Shimazu, A Cultural History of Diplomacy: Reassessing the Japanese ’Performance’ at the Paris Peace Conference, in: M. Zachmann (Hrsg.), Asia after Versailles. Asian Perspectives on the Paris Peace Conference and the Interwar Order, 1919 – 1933, 2017/18, S. 101 ff. 44 RGBl. 1920, S. 31 ff. 45 H. W. Taft, Japan and the Far East Conference, 1921. 46 S. Saaler, Japan und Deutschland im Ersten Weltkrieg, in: OAG Notizen 12 (2014) S. 11 ff.
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bliebenen Handwerker so wie die beiden Genannten in den Bereichen Back- und Fleischwaren tätig waren. Einige der Kriegsgefangenen nutzen die lange Zeit in japanischer Kriegsgefangenschaft zum Lernen der japanischen Sprache und Schrift und erweiterten später die Kenntnisse über Japan im deutschen Sprachraum. Das Fazit einer dieser Personen, Friedrich Karl Georg (genannt Fritz) Rumpf, dürfte charakteristisch für die Sicht der deutschen Kriegsgefangenen über ihre Zeit im Lager schlechthin sein:47 „Um 5 Lebensjahre hat uns die hohe deutsche Politik mit ihrem blödwitzigen Kurs betrogen, die gibt uns niemand wieder, bezahlen kann sie erst recht niemand.“
Das Edikt des Handels mit dem Feinde wurde bereits im Jahre 1919 außer Kraft gesetzt.48 Das Schicksal der bilateralen Verträge mit den Deutschen aus dem Jahre 1911 richtete sich nach Artikel 299 des Versailler Vertrages. Danach sollten die vor Beginn des Krieges existenten Verträge mit Deutschland gelöst werden. Dem kam Japan durch Kündigung nach. Verhandlungen für einen neuen Handels- und Schifffahrtsvertrag wurden aufgenommen. Dessen Abschluss standen indes monopolartige Farbexporte der I. G. Farben aus Deutschland nach Japan entgegen, was im Jahre 1924 mit einem Farbeneinfuhrverbot durch Japan beantwortet wurde. Im Jahr 1926 wurde als Folge ein Deutsch-Japanisches Farbenabkommen unterzeichnet, in dem sich die deutsche Industrie verpflichtete, nur die Farben nach Japan zu exportieren, die Japan nicht selbst herstellen konnte. Auf diese Weise wurde der Weg frei für das neue Handels- und Schifffahrtsabkommen aus dem Jahre 1927. In Japan wusste man, dass Deutschland zwar den Krieg verloren hatte, die Deutschen aber nicht ihrer Kenntnisse und Fertigkeiten verlustig gegangen waren. Allerdings standen in Deutschland kaum Mittel für die Fortsetzung der Forschung zur Verfügung. Um den zum Erliegen gekommenen wissenschaftlichen Austausch wieder zu beleben und erneut japanische Studierende nach Deutschland schicken zu können, war Japan, das während des Krieges seine Wirtschaftsleistung ganz erheblich hatte steigern können, bereit, die deutsche Wissenschaft finanziell zu unterstützen. So wurde die 1920 gegründete Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft (heute: Deutsche Forschungsgemeinschaft) das Sammelbecken für japanische Gelder. Besonders hervorzuheben ist an dieser Stelle die Funktion des japanischen Pharmazeuten Hoshi Hajime. Im Jahr 1923 wird in Japan die deutschsprachige Japanisch-Deutsche Zeitschrift für Wissenschaft und Technik gegründet, die insbesondere deutschen Wissenschaftlern eine Veröffentlichungsplattform bietet. 1926 folgt die Gründung des Deutschen Japaninstituts in Berlin, 1927 gefolgt von der Gründung des Japanisch Deutschen Kulturinstituts (Nichidoku Bunka Kyo¯kai) in Tokio.49 47 Zitiert nach H. Walravens, Kriegsgefangenschaft in Japan, in: Deutsch-Japanisches Zentrum Berlin (Hrsg.), Du verstehst unsere Herzen gut. Fritz Rumpf (1888 – 1949) im Spannungsfeld der deutsch-japanischen Kulturbeziehungen, 1989, S. 52. 48 Chokurei 415/1919 vom 20. 11. 1919. 49 Zum Ganzen E. Friese, Einige Gedanken zur deutsch-japanischen Kulturarbeit der 20er Jahre und zur Gründung des Berliner Japaninstituts, in: Deutsch-Japanische Gesellschaft
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V. Ergebnis Der Erste Weltkrieg brachte die neue Weltmacht USA in Stellung; Deutschland verlor unter den Großmächten an Bedeutung; Japan wurde noch nicht als Großmacht akzeptiert. Infolgedessen schwankte die deutsche Politik in der Folge bei der Frage nach dem richtigen Partner in Ostasien immer wieder zwischen Japan und China. Die Stärkung des wissenschaftlichen Austausches zwischen Deutschland und Japan brachte zunächst Japan Vorteile, es wurde aber eine leichte Verbesserung der deutschen Kenntnisse über Japan eingeleitet. Der Wirtschaftsaustausch wurde auf eine neue rechtliche Grundlage gestellt, erholte sich aber nur langsam. Insgesamt ist die deutsche Geschichtsschreibung dieses Zeitabschnittes noch lückenhaft. Insbesondere fehlt es an einer Darstellung dieser Periode aus juristischer Sicht. * Abstract Heinrich Menkhaus: The Relationship between the German Reich and the Greater Japan Empire during the First World War (Das Verhältnis zwischen dem Deutschen Reich und dem Großjapanischen Reich im Ersten Weltkrieg), in: World War I and its Consequences for the Coexistence of Peoples in Central and Eastern Central Europe, vol. 3 (Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Bd. 3), ed. by Gilbert H. Gornig and Adrianna A. Michel (Berlin 2019), pp. 201 – 219. The First World War put the new world power USA in position: Germany lost importance among the great powers; Japan has not yet been accepted as a great power. As a result, the German policy in the episode repeatedly wavered between Japan and China in the question of the right partner in East Asia. The strengthening of scientific exchanges between Germany and Japan initially benefited Japan, but a slight improvement of the German knowledge about Japan was initiated. The economic exchange was put on a new legal footing but recovered only slowly. Overall, the German historiography of this period is still sketchy. In particular, it lacks a representation of this period from a legal perspective.
Berlin (Hrsg.), Japan – Deutschland. Wechselbeziehungen. Ausgewählte Vorträge der Deutsch-Japanischen Gesellschaft Berlin 1985 und 1986. Deutsch-Japanische Gesellschaft Berlin, 1987, S. 10 ff.; ders., „Das Verständnis fördern und dem Frieden dienen (…)“. Gründung und Ambiente der Deutsch-Japanischen Kulturinstitute in Berlin (1926) und Tokyo (1927), in: Japanisch-Deutsches Zentrum Berlin (Hrsg.), Essay zur Einweihung des Gebäudes der ehemaligen japanischen Botschaft in Berlin-Tiergarten am 8. November 1987. DeutschJapanisches Zentrum Berlin, 1987.
Lateinamerika und der Erste Weltkrieg Von Norbert Bernsdorff I. Einführung Einer der bekanntesten argentinischen Tangos – mittlerweile Weltdokumentenerbe der UNESCO – beginnt mit den Worten „Silencio en la noche, ya todo esta en calma, el musculo duerme, la ambicion descansa…“1. Text und Musik2 stammen von Carlos Gardel, einem argentinischen Tangosänger aus Buenos Aires mit französischen Wurzeln3. „Silencio en la noche…“ – Stille in der Nacht – erinnert an das Leid der vielen Mütter, deren Söhne auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs starben. Der Tango soll auch, da sind sich die Chronisten allerdings nicht ganz einig, die sich in Argentinien ausbreitende Erschöpfung – „agotamiento“ – nach dem Ende des Großen Krieges beschreiben. Gab es für Lateinamerika überhaupt einen Grund, erschöpft zu sein? – Die Bedeutung des Ersten Weltkriegs für Lateinamerika ist kein Sujet, das auf der geschichtswissenschaftlichen Interessenskala einen der oberen Ränge belegt.4 In den Untersuchungen des Historikers Lawrence Sondhaus kam Lateinamerika nur am Rande vor: Der Erste Weltkrieg – so Sondhaus – habe für diesen Subkontinent keine nennenswerte Relevanz besessen, weil die Staaten Lateinamerikas an diesem Krieg nur geringen Anteil gehabt hätten.5 Michael Riekenberg führt aus, die wichtigste Bedeutung des Ersten Weltkriegs für Hispanoamerika habe in seiner Abwesenheit gelegen („guerra ausente“): Der Krieg sei den Menschen dort kein Erlebnis gewesen6. Der Geschichtswissenschaftler Stefan Rinke, dem die einzige themenspezifische Unter1 Mit Fußnoten versehene Fassung eines Vortrags, den der Verfasser auf Einladung der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht am 5. 10. 2018 in Königswinter gehalten hat. Der Vortragscharakter wurde beibehalten. Karte: mr-kartographie, Gotha 2019. 2 1928 EMI ODEON SAIC Argentina. 3 Geboren am 11. 12. 1890 in Toulouse/Frankreich, verstorben am 24. 6. 1935 in Medellin/ Kolumbien. Gardel („El Morocho del Abasto“) lebte bis zu seiner Übersiedlung nach Spanien im Jahr 1925 in Buenos Aires/Argentinien. Die Komposition entstand unter Mitwirkung von Alfredo Le Pera und Horacio Pettorossi. 4 M. Riekenberg, Rezension zu: Rinke, Stefan, Im Sog der Katastrophe – Lateinamerika und der Erste Weltkrieg, Frankfurt am Main 2015, in: H-Soz-Kult, 13. 10. 2015, www.hsoz kult.de/publicationreview/id/rezbuecher-24658, S. 1. 5 L. Sondhaus, World War One. The Global Revolution, 2011, S. 1 ff. 6 M. Riekenberg, Staatsferne Gewalt. Eine Geschichte Lateinamerikas (1500 – 1930), 2014, S. 40 f., 150 f.; ders. (Anm. 4), S. 3.
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suchung zu verdanken ist7, vertritt hier eine andere Auffassung: Die Geschichtsschreibung müsse den Ersten Weltkrieg auch jenseits der Schlachtfelder suchen. Rinke bezeichnet ihn als globalen Moment, an dem auch das scheinbar periphere Lateinamerika intensiv teilhatte8. II. Ausgangslage: Hispanoamerika vor 1914 Hispanoamerika – der „panlateinischem“ französischen Denken entstammende Begriff „Lateinamerika“ fand erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts Verwendung – umfasste zu Kriegsbeginn ein Gebiet von kontinentalen Ausmaßen: 19 Nationalstaaten von Mexiko im Norden bis Argentinien und Chile im Süden – insgesamt etwa 20 Millionen Quadratkilometer. Deren Entwicklung war – nach dem Prozess ihrer Staatenbildung – vor allem durch drei Faktoren geprägt: die mehr oder weniger unkontrollierte Masseneinwanderung aus Europa, den Interventionismus der USA in Lateinamerika und die Mexikanische Revolution, die 1910 begann und mehr als eine Million Menschenleben forderte. Zu Beginn ein methodischer Hinweis: Verallgemeinerungen in diesem Kontext bergen immer Gefahren. So berücksichtigen sie lokale Besonderheiten nicht, insbesondere werden sie dem historischen Umfeld und der Motivlage einzelner lateinamerikanischer Staaten nicht gerecht. Auf länderbezogene politische Geschehnisse soll gleichwohl nur selektiv, nämlich dort eingegangen werden, wo sie eine bestimmte Entwicklungsrichtung aufzeigen oder symptomatisch für ganze Nationenschicksale 7 St. Rinke, Im Sog der Katastrophe – Lateinamerika und der Erste Weltkrieg, 2015. Auf dieser – vor allem kulturgeschichtlichen – Untersuchung Rinkes und weiteren Beiträgen aus seiner Feder (siehe etwa St. Rinke/K. Kriegesmann, Latin America, in: 1914 – 1918-online. International Encyclopedia of the First World War, ed. by U. Daniel/P. Gatrell/O. Janz/ H. Jones/J. Keene/A. Kramer/B. Nasson, issued by Freie Universität Berlin, 2015 – 11 – 05. DOI: http://dx.doi.org/10.15463/ie 1418.10760, S. 2; auch St. Rinke, Deutsche Lateinamerikapolitik, 1918 – 1933: Modernisierungsansätze im Zeichen transnationaler Beziehungen, in: St. Rinke, „Der letzte freie Kontinent“. Deutsche Lateinamerikapolitik im Zeichen transnationaler Beziehungen, 1918 – 1933, 1996/1997, S. 355; ferner St. Rinke, „Ein Drama der gesamten Menschheit“. Lateinamerikanische Perspektiven auf den Ersten Weltkrieg, in: Geschichte und Gesellschaft Bd. 40 [2014], S. 287) beruhen die folgenden Ausführungen ganz wesentlich. Weil Sekundärliteratur zu diesem Thema kaum vorhanden ist, war es unerlässlich, für den mit meinen Ausführungen verfolgten Zweck einer gerafften Darstellung der Folgen des Ersten Weltkriegs für Lateinamerika maßgeblich auf die eingangs erwähnte Abhandlung Rinkes und die darin enthaltene Auswertung von Primärquellen zurückzugreifen. Für die Teilhabe an seinen Forschungsergebnissen danke ich ihm herzlich. – Weiterführendes fremdsprachiges Schrifttum: A. Bill, South America and the First World War. The Impact of the war on Brazil, Argentina, Peru and Chile, 1988; O. Compagnon, L’adieu à l’Europe. L’Amèrique latine et la Grande Guerre, Paris 2013; Ph. Dehne, On the far Western Front. Britain’s First World War in South America, Manchester/New York 2009; P. A. Martin, Latin America and the War, Gloucester 1967 (Baltimore 1925). 8 St. Rinke (Anm. 7). S. 11, 19; ferner St. Rinke/K. Kriegesmann (Anm. 7), in: 1914 – 1918online, S. 2.
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stehen. Nur mit dieser Einschränkung wird die folgende Darstellung, die lediglich einen Überblick über die Verhältnisse schuldet, nicht überfrachtet. 1. Das „lange 19. Jahrhundert“ Lateinamerikas Auch nach dem Eintritt der Unabhängigkeit – in den ersten 30 Jahren des 19. Jahrhunderts – blieben die früheren Kolonialmächte Spanien, Portugal, England und Frankreich in den neuen Staaten präsent.9 Letztere betrieben einseitig Rohstoffexport – landwirtschaftliche10 sowie Bergbauprodukte (Borax, Kupfer, Salpeter, Silber und Zinn) – und begnügten sich mit dem Import von Fertigwaren aus Europa. Eine Phase eigener Industrialisierung gab es nicht. Das westliche Europa war – jedenfalls für die lateinamerikanischen Eliten – Bezugspunkt und Vorbild.11 Es erschien als Quelle von Wissen, (politischer) Kultur, Luxus und Mode, sodass einige Historiker für diese Zeit von einer „Europäisierung Lateinamerikas“ sprechen12. Die jungen Staaten waren allerdings weiterhin Schauplatz politischer Gewalt wie 115 Revolutionen – Staatsstreiche, Studentenkrawalle, Kasernenrevolten – zwischen ihrer Aufnahme in die Völkergemeinschaft und dem Ersten Weltkrieg belegen.13 2. Epoche unkontrollierter Masseneinwanderung aus Europa und erneute „Kolonialisierung“ Die zweite Jahrhunderthälfte führte 50 Millionen Europäer über den Atlantik, etwa ein Fünftel davon nach Lateinamerika. Bis zum Kriegsbeginn, der insoweit eine „Epochenscheide“ markiert14, hatten Argentinien 5,5 Millionen, Brasilien 4,5 Millionen15 und Staaten wie Uruguay und Chile jeweils eine Million Menschen aufgenommen. Indessen waren nicht – wie diese Länder erhofft hatten – Nordwest9 Vgl. R. Freeman Smith, Latin America, the United States and the European Powers, 1830 – 1930, in: L. Bethell, The Cambridge History of Latin America, Volume IV-1870 – 1930, 1986, S. 83 ff.: The Newly Indipendent Latin American Nations Found Themselves in a World of International Rivalries and Power Politics. 10 Allgemein hierzu W. Glade, Latin America and the International Economy, 1870 – 1914, in: L. Bethell (Anm. 9), S. 9 ff.; zur Größenordnung der Exporte Argentiniens in der Vorkriegszeit (Weizen, Mais und Rindfleisch) siehe D. Rock, Argentina from the First World War to the Revolution of 1930, in: L. Bethell (Anm. 9), S. 419 ff. 11 B. Fausto, Brazil: the Social and Political Structure of the First Republic, 1889 – 1930, in: L. Bethell (Anm. 9), S. 817: The Outbreak of the First World War Marked the End of the belle epoque of the Oligarchy. 12 St. Rinke (Anm. 7), S. 30 ff. Siehe zu diesen Interdependenzen auch St. Rinke/K. Kriegesmann (Anm. 7), S. 3 f. 13 H.-J. König, Kleine Geschichte Lateinamerikas, 2009, S. 617 f.; allgemein hierzu M. Riekenberg (Anm. 6). 14 J. Oltmer, Krieg und Nachkrieg: Auswanderung aus Deutschland 1914 – 1950, http:// www.hdbg.de/auswanderung/docs/oltmer.pdf, S. 1; St. Rinke/K. Kriegesmann (Anm. 7), S. 4. 15 Vgl. zur Zuwanderung nach Brasilien B. Fausto, Brazil: the Social and Political Structure of the First Republic, 1889 – 1930, in: L. Bethell (Anm. 9), S. 779 ff.
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europäer, sondern Südeuropäer aus den ungeliebten früheren Kolonialstaaten gekommen.16 Der Zuzug Deutscher nach Chile und Südbrasilien hatte in dieser Zeit nur untergeordnete Bedeutung. Mitte 1914 ging die Epoche transatlantischer Masseneinwanderung zu Ende; denn nahezu alle wichtigen europäischen Herkunftsländer waren am Ersten Weltkrieg beteiligt. Einberufungen zum Militär und Ausreiseverbote standen einem Verlassen dieser Staaten fortan entgegen.17 3. Die Krisensituation vor Kriegsbeginn („panamericanismo“) Soll die Verfassung beschrieben werden, in der sich Lateinamerika vor 1914 befand, so darf ein Hinweis auf die expansionistische Politik der Vereinigten Staaten nicht fehlen. Ideologische Grundlagen hierfür waren die Monroe-Erklärung von 1823, die eine Warnung an die Europäer enthielt, auf dem amerikanischen (Doppel)Kontinent wirtschaftlich oder (außen)politisch zu intervenieren, und deren Erweiterung durch Theodore Roosevelt im Jahre 1904, als Roosevelt-Corollary bekannt.18 Danach beanspruchten die Vereinigten Staaten die Rolle einer „Schutzund Polizeimacht“ in Lateinamerika. Der Beginn der berüchtigten „big stick policy“, militärischer Operationen zum Schutze wirtschaftlicher Interessen der USA – von den Lateinamerikanern als „kommerzielle Conquista“19 bezeichnet, war die Folge. Beispielhaft erwähnt seien hier die US-amerikanische Unterstützung Panamas bei dessen Loslösung von Kolumbien im Jahre 1903 und die Forderung der Vereinigten Staaten nach territorialer bzw. Gebietshoheit über den 1914 eröffneten PanamaKanal.20 Zu den Krisen, die Lateinamerika vor Kriegsausbruch erschütterten, gehört unzweifelhaft auch die Revolution in Mexiko. In dem – unter Beteiligung der Rebellen Emiliano Zapata und Francisco (Pancho) Villa zunächst gegen Porfirio Diaz und sodann gegen Victoriano Huerta geführten – blutigen Bürgerkrieg, der sich nach seinem Beginn 1910 über viele Jahre hinzog, kamen etwa 6,6 Prozent der mexikanischen Bevölkerung zu Tode.21 Zwar kann ein historischer Zusammenhang der Gewaltexzesse in Mexiko mit denen im Vorkriegseuropa nicht hergestellt werden; 16
St. Rinke (Anm. 7), S. 42 f. Vgl. J. Oltmer (Anm. 14), S. 4, zu den jährlichen Auswanderungsquoten in den Zeitphasen von 1906 bis 1910, 1911 bis 1915 und 1916 bis 1920. Ausführlich auch N. SánchezAlbornoz, The population of Latin America, 1850 – 1930, in: L. Bethell (Anm. 9), S. 126 ff. 18 H.-J. König (Anm. 13), S. 708 ff.; St. Rinke (Anm. 7), S. 48, 75; hierzu auch R. Freeman Smith, Europe, the United States and Latin America before the First World War, in: L. Bethell (Anm. 9), S. 101 ff. Zum Entwurf eines neuen Panamerikanismus US-amerikanischer Prägung in den 1890er Jahren siehe H.-J. König (Anm. 13), S. 710. 19 Vgl. St. Rinke (Anm. 7), S. 98; auch St. Rinke/K. Kriegesmann (Anm. 7), S. 6, m.w.N. 20 H.-J. König (Anm. 13), S. 579, 712 f. 21 Vgl. zum wechselvollen Verlauf der Revolution J. Womack, The Mexican Revolution, 1910 – 1920, in: L. Bethell (Anm. 9), S. 79 ff.; ferner H.-J. König (Anm. 13), S. 623 ff.; auch M. Riekenberg (Anm. 6), S. 40. 17
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die Revolution griff auch nicht auf andere lateinamerikanische Länder über. Allein wegen des Ausmaßes der Gewalt schockierte sie jedoch die lateinamerikanischen Oberschichten. Vielen erschien sie geradezu als „Schwungrad“ der Gewalt22 bzw. „Vorbote“ der Gewaltausbrüche in Europa.23 III. Verlauf des Ersten Weltkriegs in Lateinamerika – Fronten jenseits der Schlachtfelder 1. Die Phase von 1914 bis 1917 Die Haltung Lateinamerikas zum Krieg in Europa war zunächst abwartend. Einer der Hauptgründe hierfür lag in den wirtschaftlichen Beziehungen, die sowohl zu den Alliierten, als auch zu den Mittelmächten unterhalten wurden. Diese – für Lateinamerika lebensnotwendig – konnten nur bei einer Nichteinmischung in die Auseinandersetzungen Bestand haben. a) Anfängliche Neutralität Weil gegenüber den Kriegsteilnehmern keine Bündnisverpflichtungen existierten, erklärten alle souveränen lateinamerikanischen Staaten schon sehr früh – im August 1914 – ihre Neutralität24. Man verließ sich dabei auf die Neutralitätsregeln der Londoner Seerechtsdeklaration von 1909.25 Diese enthielt an prominenter Stelle ein Verbot der Errichtung von Flottenstützpunkten in neutralen Gewässern. Die lateinamerikanischen Regierungen folgten damit im Übrigen dem Beispiel der USA, die mit ihrer neutralen Haltung vor allem innenpolitische Spannungen verhindern wollten.26 Konflikte zwischen den verschiedenen Einwanderergruppen waren nämlich vorprogrammiert. Solche brachen sich schließlich aber doch – vor allem in den Haupt- und in den großen Hafenstädten – Bahn, als deren europäische Herkunftsländer – gegen die Bestimmungen des Völkerrechts – Rekrutierungskampagnen unternahmen und die Wehrpflichtigen unter den Ausgewanderten zu den Waffen riefen: „en las calles … la conflagracion europea“. Ihren Höhepunkt erreich22
M. Riekenberg (Anm. 6), S. 40. St. Rinke (Anm. 7), S. 50 ff. 24 Hierzu St. Rinke/K. Kriegesmann (Anm. 7), S. 5, 7: „The subcontinent boasted a vast number of neutral states and the Allies wanted them to enter the war on their side, whereas Berlin hoped to keep Latin America neutral“. 25 Die Londoner Seerechtsdeklaration wurde 1909 als Pendant zur Haager Landkriegsordnung auf der Londoner Seerechtskonferenz beschlossen. Es sollten darin die Probleme des Seekriegsrechts gelöst und insbesondere eine Grundlage für die Rechtsprechung des „Internationalen Prisenhofes“ geschaffen werden. Die Deklaration wurde von britischer Seite nicht ratifiziert und trat als Vertrag nie in Kraft. Gleichwohl behielt sie ihre Bedeutung als allgemein anerkannte Sammlung des in diesem Bereich geltenden Gewohnheitsrechts. 26 St. Rinke/K. Kriegesmann (Anm. 7), S. 5. 23
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ten die Unruhen im Mai 1915, als Italien – das eines der größten Einwandererkontingente stellte – auf der Seite der Entente in den Krieg eintrat.27 Wie sich zeigte, zogen die Kriegsteilnehmer die Neutralität der lateinamerikanischen Staaten bald in Zweifel. Neben den patriotischen Sympathiebekundungen der Migranten war hierfür vor allem ein Umstand verantwortlich: die „Duldung“ von Souveränitätsverletzungen durch europäische Kriegsschiffe, die diese in den Augen der Kriegführenden als Unterstützung der jeweils anderen Kriegsparteien und somit als Verstoß gegen Neutralitätsauflagen aussehen ließ28. Weder Argentinien und Chile noch Brasilien waren nämlich in der Lage, ihre Küsten nachhaltig zu überwachen, die kleineren Länder schon gar nicht.29 So fuhren deutsche Kriegsschiffe unerlaubt in den Hafen von Valparaiso/Chile ein, um sich von dort ankernden deutschen Handelsschiffen der Hamburger Kosmos-Linie mit Brennstoff und Proviant versorgen zu lassen. Deutsche Passagierschiffe wurden ungehindert zu Hilfskreuzern umgerüstet. Aber auch für die englische Royal Navy spielten die Rechte der Neutralen letztlich keine Rolle.30 Im Hinblick darauf stellt sich die Frage: Gab es in Mittel- und Südamerika denn keine gemeinsame Haltung, keine kollektive Verteidigungsstrategie, als der Seekrieg den Konflikt in lateinamerikanische Gewässer trug? Die Antwort: Nein! – Zwar versuchte Venezuela Ende 1914 mit einer Konferenz der Neutralen – damals übrigens noch unter Einbeziehung der USA – ein solidarisches Vorgehen aller amerikanischen Staaten zu erreichen. Es berief sich hierbei auf den Gedanken des Panamerikanismus, der ideengeschichtlich eine gemeinamerikanische Strategie in politischen und wirtschaftlichen Fragen impliziert. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch ebenso wie eine von Argentinien, Brasilien und Chile im Mai 1915 ergriffene Initiative, die unter Fortführung des sog. A.B.C.-Vertrags eine subregionale Zusammenarbeit erreichen wollte.31 Im Fokus stand hierbei stets die Frage, ob die bis dahin gelebte „passive“ Neutralität durch eine „aktive“ Neutralität ersetzt werden müsse, was auch immer darunter zu verstehen war. Ziel der deutschen Militärstrategie war es unterdessen, den Krieg in das „europäische“ Lateinamerika hineinzutragen.32 Wenn man im „Hinterhof“ der Vereinigten Staaten die Kriegsflamme entzündete, konnte vielleicht, so die Hoffnung der deutschen Reichsleitung, die Aufmerksamkeit Woodrow Wilsons, des US-amerikanischen Präsidenten, von den europäischen Schlachtfeldern abgelenkt und die Gefahr 27 Vgl. zu den Entwicklungen St. Rinke (Anm. 7), S. 54 ff.; ferner St. Rinke/K. Kriegesmann (Anm. 7), S. 8 f. 28 St. Rinke (Anm. 7), S. 63 f. 29 Im Einzelnen auch St. Rinke/K. Kriegesmann (Anm. 7), S. 5 f. 30 Siehe hierzu St. Rinke (Anm. 7), S. 64 f. 31 St. Rinke (Anm. 7), S. 61 ff.; St. Rinke/K. Kriegesmann (Anm. 7), S. 8. 32 Von St. Rinke (Anm. 7), S. 68 ff., als Bestandteil der „globalen Strategie“ des Deutschen Reichs bezeichnet. Zu letzterer allgemein D. M. Segesser, Der Erste Weltkrieg in globaler Perspektive, 2014, S. 52 ff.; ferner O. Janz, Der Große Krieg, 2013, S. 103 ff., 133 ff.
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eines Kriegseintritts der USA gebannt werden. In Verfolgung dieses Ziels intervenierte das Deutsche Reich deshalb massiv im noch andauernden mexikanischen Bürgerkrieg.33 Dem genannten Zweck diente auch – neben demjenigen der Zerschlagung der englischen Seeblockade im Südatlantik – der Einsatz deutscher U-Boote in lateinamerikanischen Gewässern ab Mitte 1916. Der Plan der deutschen Militärführung ging auf: In Rückbesinnung auf ihre Hegemonialansprüche in der Region ließen sich die US-Amerikaner beirren und intervenierten zur Sicherung eigener Machtinteressen nacheinander in Nicaragua, Haiti (1915)34, der Dominikanischen Republik (1916) und Kuba (1917)35. b) Im „Sog der Katastrophe“ Lateinamerika befand sich – wie es der Historiker Rinke treffend ausgedrückt hat36 – im „Sog der Katastrophe“. Der Wirtschaftskrieg, als der der Erste Weltkrieg immer auch geführt worden war, brachte dessen Staaten an den Rand des ökonomischen Ruins.37 Wegen der englischen Seeblockade kam der Rohstoffexport nach Europa zum Erliegen. So konnte etwa Salpeter aus den chilenischen Tagebauminen in der Atacamawüste nicht mehr ausgeführt werden. Aufgrund der anhaltenden Exporthindernisse stand auch Zinn aus den Bergwerken Boliviens (Oruro, Potosi) als Devisenquelle nicht mehr zur Verfügung. Ebenso dramatisch brachen die Fertigwarenimporte aus Europa ein38. Hier rächte sich, dass die Volkswirtschaften Lateinamerikas auf die Entwicklung eines eigenen produzierenden Sektors nahezu vollständig verzichtet hatten – ein Phänomen, das von Ökonomen später auch im Zusammenhang mit anderen ressourcenreichen Staaten als sog. Holländische Krankheit bezeichnet wurde. Um einen Konflikt mit dem Völkerrecht – der Haager Landkriegsordnung in der Fassung von 190739 und der erwähnten Seerechtsdeklaration von 1909 – zu vermeiden, bewertete die Royal Navy außerdem jedwede Schiffsladung 33
St. Rinke/K. Kriegesmann (Anm. 7), S. 4. Hierzu D. Nicholls, Haiti, c. 1870 – 1930, in: L. Bethell (Anm. 9), S. 317 ff.: With the building of the Panama Canal the USA was determined to maintain military control of the region. 35 Allgemein R. Freeman Smith, The United States and Latin America, 1913 – 1921, in: L. Bethell (Anm. 9), S. 107 ff.; St. Rinke (Anm. 7), S. 73; vgl. auch St. Rinke/K. Kriegesmann (Anm. 7), S. 8; ferner H. Hoetink, The Dominican Republic, c. 1870 – 1930, in: L. Bethell (Anm. 9), S. 301 ff., und L. E. Aguilar, Cuba, c. 1870 – 1934, in: L. Bethell (Anm. 9), S. 254 ff. 36 St. Rinke (Anm. 7). 37 Ausführlich hierzu St. Rinke (Anm. 7), S. 77 ff. 38 St. Rinke/K. Kriegesmann (Anm. 7), S. 6. 39 Die Haager Landkriegsordnung ist ein wesentlicher Bestandteil des humanitären Völkerrechts. Sie enthält für den Kriegsfall Festlegungen zur Definition von Kombattanten, zum Umgang mit Kriegsgefangenen, zur Beschränkung bei der Wahl der Mittel zur Kriegsführung usw. 1907 wurde die Haager Landkriegsordnung von 1899 im Rahmen einer Nachfolgekonferenz als viertes Haager Abkommen in leicht veränderter Form erneut angenommen. 34
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mit dem Ziel Europa als „contrabanda“ – Kriegs- oder Banngut, das zu beschlagnahmen kein Verstoß war.40 Ein Übriges taten Londons „Schwarze Listen“. Auf ihnen befanden sich neben deutschen immer mehr auch neutrale Unternehmen, mit denen Briten keine Geschäfte machen durften.41 Eine wirtschaftliche Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten, deren expansionistische Politik mit immer mehr Argwohn betrachtet wurde, war die Folge. Den Herausforderungen des Krieges konnte sich Lateinamerika schließlich nicht mehr entziehen, als Mitte/Ende 1917 sowohl brasilianische – die Lapa, Parana, Macau und Tijuca – als auch argentinische (zivile) Handelsschiffe – die Oriana, Toro und Monte Protegido – von deutschen U-Booten teilweise noch innerhalb der Küstengewässer versenkt wurden.42 2. Das Entscheidungsjahr 1917 a) U-Boot-Krieg in lateinamerikanischen Gewässern und Kriegseintritt der USA Der Kriegseintritt der USA im April 1917 entschied den Ersten Weltkrieg politisch und militärisch.43 Die mit der Erklärung des uneingeschränkten U-Boot-Kriegs durch die deutsche Heeres- und Marineführung begründete US-amerikanische Entscheidung war auch durch eine deutsche Depesche veranlasst, die – chiffriert, aber vom britischen Geheimdienst entschlüsselt – schon kurz nach ihrer Absendung in die Hände der US-Regierung fiel: das sog. Zimmermann-Telegramm. Was verlautbarte dieses? In dem Telegramm bot Arthur Zimmermann, Staatssekretär im Reichsaußenministerium, der mexikanischen Regierung im Januar 1917 eine militärische Allianz mit dem Deutschen Reich an44. Das lateinamerikanische Land solle auf Seiten der Mittelmächte in den Ersten Weltkrieg eintreten und würde dafür nach Kriegsende die territorialen Verluste aus dem Mexikanisch-Amerikanischen Krieg (1846 – 1848) – die früheren Provinzen Texas, Neu-Mexiko und Arizona – zurückerhalten. Zwar lehnte der mexikanische Präsident Venustiano Carranza einen Schulterschluss mit dem Deutschen Reich ab. Indessen wuchs in der Region die Anspannung. Vor allem in Brasilien wurde die Forderung nach einem Kriegseintritt immer lauter: Es müsse ein „Kreuzzug für die Demokratie“ an der Seite der Vereinigten Staaten 40
Vgl. – unter Hinweis auf die Ausweitung der Definition von Banngut – St. Rinke (Anm. 7), S. 91. 41 St. Rinke (Anm. 7), S. 93 ff. 42 Unter Bezugnahme auf die Versenkung des britischen Passagierschiffs Lusitania im Mai 1915 St. Rinke/K. Kriegesmann (Anm. 7), S. 6. 43 Vgl. O. Janz (Anm. 32), S. 298 ff.; D. M. Segesser (Anm. 32), S. 178 ff. 44 Zu den Einzelheiten D. X. Noack, Der Erste Weltkrieg in Mittel- und Südamerika – Die Geschichte Lateinamerikas und der Karibik als weitgehend unbeachteter Schauplatz des Ersten Weltkriegs, amerika21 (Nachrichten und Analysen aus Lateinamerika) vom 27. 5. 2014. Eine Wiedergabe des Inhalts der Depesche findet sich bei St. Rinke (Anm. 7), S. 136.
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geführt werden.45 Auch militärstrategische Sicherungsmaßnahmen waren die Folge: Aus Furcht vor deutschen U-Booten forderte Panama Kolumbien auf, mit dem Ziel des Schutzes der strategisch wichtigen Kanalzone den karibischen Golf von Uraba zu überwachen. Es gibt Chronisten, die behaupten, die Verschärfung der Spannungen in den USamerikanisch-deutschen Beziehungen habe Lateinamerika nachhaltiger getroffen als der Kriegsausbruch selbst.46 Und in der Tat: Mit dem Kriegseintritt der USA brach der letzte Absatzmarkt für Rohstoffe in einem Industrieland zusammen. In großer Zahl strömten stattdessen US-amerikanische Unternehmen ins Land und verdrängten europäische Wirtschaftsinteressen aus dem Subkontinent.47 Die Angst Lateinamerikas vor dem „Yankee-Imperialismus“ war fast größer als diejenige vor der „deutschen Gefahr“48. b) Reaktionen: Kriegseintritt, (bloßer) Abbruch der Beziehungen („rupturistas“), Beibehaltung der Neutralität („neutralistas“) Die Kriegserklärung der USA stellte auch in Lateinamerika einen Wendepunkt dar. Sie wurde dort als Provokation empfunden, löste aber auch Verzweiflung aus … Ein abwartendes Verhalten stellte nun keine Option mehr dar. Es war, ohne dass man sich ihr noch entziehen konnte, eine Positionierung gegenüber dem Deutschen Reich gefordert!49 Wer allerdings glaubt, die lateinamerikanischen Staaten hätten sich der machtpolitischen Dominanz US-Amerikas gebeugt und wären ebenfalls – der Idee des Panamerikanismus folgend – in den Krieg eingetreten, der täuscht sich. Deren Reaktionen, ihre Entscheidungen für oder gegen den Kriegseintritt waren maßgeblich durch eigene – einerseits wirtschaftliche, andererseits (außen)politische – Interessen bestimmt.50 Der Lateinamerikahistoriker Rinke hat hierzu eine überzeugende Kategorisierung versucht51: Abgesehen von einigen Staaten im karibischen und mittelamerikanischen Raum, die wie Kuba und Panama als US-Protektorate dem „Befehl“ der USA folgen 45
St. Rinke (Anm. 7), S. 138 f. Siehe die Nachweise bei St. Rinke (Anm. 7), S. 134 f. 47 St. Rinke/K. Kriegesmann (Anm. 7), S. 7 f. 48 Diese Angst zu schüren, war ein zentrales Element des deutschen Propagandakriegs; vgl. St. Rinke (Anm. 7), S. 145. 49 Soweit sie nicht zu den Befürwortern einer Nichteinmischung gehörte, ließ sich die lateinamerikanische Bevölkerung hinsichtlich ihrer Haltung zwei Gruppen zuordnen, der Gruppe der „aliadofilos“ und derjenigen der „germanofilos“; im Einzelnen St. Rinke/ K. Kriegesmann (Anm. 7), S. 7. 50 Vgl. St. Rinke (Anm. 7), S. 145 f., 191. 51 Zum Folgenden St. Rinke (Anm. 7), S. 146 ff.; vgl. auch St. Rinke/K. Kriegesmann (Anm. 7), S. 9. f. 46
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und in den Krieg eintreten mussten – erste Kategorie –, brachen die anderen zentralamerikanischen Staaten – Guatemala, Honduras, Nicaragua und Costa Rica – sowie Haiti ihre Beziehungen zum Deutschen Reich lediglich ab. Die Haltung dieser zur zweiten Kategorie zählenden Länder, der sog. rupturistas (von „ruptura“: Abbruch) galt als politisches Signal zwischen Kriegseintritt und einer von ihnen als „paz cobarde“ – feiger Frieden – empfundenen Neutralität. So konnte man sich jedenfalls, anders als im Falle einer Nichteinmischungs-Erklärung, das Wohlwollen der Vereinigten Staaten erhalten. Dieses bedurfte es etwa aus der Sicht Guatemalas, weil es sich von den USA Hilfe gegen die fortwährende Bedrohung durch Mexiko erhoffte, und aus Sicht des Nachbarstaates Honduras wegen des wirtschaftlichen Einflusses US-amerikanischer Bananenkonzerne im Land. Erstaunlich ist: Von dem Wunsch beseelt, letztlich zu den Siegern zu gehören und infolgedessen Ansprüche auf Reparationszahlungen gegen die Unterlegenen zu erhalten, erklärten dann doch alle diese Staaten in den letzten Monaten des Ersten Weltkriegs Deutschland den Krieg.52 Eine besondere Rolle spielte Brasilien. Aufgrund seines traditionell guten Verhältnisses zu den USA sah es sich – unter völliger Überschätzung der eigenen Fähigkeiten – als von den Vereinigten Staaten erwünschter Bündnispartner an und schlug sich im Oktober 1917 mit seiner Kriegserklärung auf die Seite der Entente.53 Sein Kriegsbeitrag blieb allerdings gering, beschränkte er sich doch auf die bloße Beschlagnahme deutscher (ziviler) Handelsschiffe in brasilianischen Häfen, letztlich – wie sich später herausstellten sollte – mit katastrophalen Folgen für den eigenen Kaffee-Export. Nicht bedacht hatte man außerdem die Protestaktionen der deutschstämmigen Siedler in Südbrasilien, die seinerzeit immerhin 10 Prozent der brasilianischen Bevölkerung ausmachten.54 So hieß es in den einheimischen Medien schon bald, der Feind stehe nicht in Übersee, er stehe im Innern.55 Brasilien blieb in Südamerika das einzige Land, das sich militärisch am Ersten Weltkrieg beteiligte. Wie (anfangs) die meisten mittelamerikanischen brachen auch viele südamerikanische Staaten ihre Beziehungen zum Deutschen Reich nach dem Kriegseintritt der USA nur ab.56 Für diese – einer vierten Kategorie zuzuordnenden – Länder führt Rinke als tragende Gründe ebenfalls ausschließlich nationale Interessen an.57 Waren de facto alle diese Länder für ihre Staatseinkünfte auf den Zugang zum 52
Siehe O. Janz (Anm. 32), S. 299. Zu den vielfältigen Gründen Brasiliens für den Kriegseintritt siehe St. Rinke (Anm. 7), S. 162. 54 Vgl. zu den sog. Kriegsnagelungsaktionen D. X. Noack (Anm. 44). 55 St. Rinke (Anm. 7), S. 163: Zum inneren Feind zählte man neben der deutschstämmigen Bevölkerung auch „Anarchisten“ und „Sozialisten“, die die Ordnung bedrohten und denen die bürgerliche Presse ein Zusammengehen mit den Deutschen nachsagte. Zu der – sich fortlaufend verschlechternden – Situation der deutschen Minderheiten in Brasilien und Argentinien siehe St. Rinke/K. Kriegesmann (Anm. 7), S. 11 f. 56 St. Rinke/K. Kriegesmann (Anm. 7), S. 10; O. Janz (Anm. 32), S. 299: Die Mittelmächte waren nun isolierter als jemals zuvor. 57 Vgl. St. Rinke (Anm. 7), S. 167 ff. 53
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US-amerikanischen Markt angewiesen – Ecuador: Kakao-Export, Uruguay: Getreide-, Tabak- und Vieh-Export58 –, so kamen für einige südamerikanische Staaten außenpolitische Motive hinzu: Boliviens Präsident Ismael Montes Gamboa beispielsweise erhoffte sich amerikanische Rückendeckung bei seiner Forderung, von Chile den im Salpeterkrieg (1879 – 1884) verlorenen Zugang zum Pazifik zurückzubekommen. Das Peru des Jose Pardo y Barreda setzte auf die US-assistierte Klärung der Grenzfrage mit Chile. Gleichwohl sah sich keines dieser Länder – so jedenfalls das „offizielle“ Selbstverständnis – als „verlängerter Arm“ oder gewissermaßen halbsouveräner Satellit der Vereinigten Staaten an. Wenn wir über die Reaktionen auf den Kriegseintritt der USA im April 1917 sprechen, darf die Erwähnung einer Gruppe lateinamerikanischer Staaten nicht fehlen: der sog. neutralistas, der Neutralen.59 Das Festhalten an der seinerzeit – im August 1914 – beschlossenen Neutralität in Argentinien, Chile, El Salvador, Paraguay und Venezuela, aber auch in Kolumbien und Mexiko hatte ganz unterschiedliche Gründe. Während Präsident Hipolito Yrigoyen mit seiner neutralen Haltung zur Stabilisierung der Führungsrolle Argentiniens in der Region60 einen Kontrapunkt zu dem Kriegsteilnehmer Brasilien setzen wollte und dieses letztlich gegen die große Mehrheit der argentinischen Bevölkerung auch tat61 – sein Land habe nur ein (einziges) Problem mit Europa: das des britischen Besitzes der Islas Malvinas/Falklandinseln im Südatlantik, beruhte der Neutralitätskurs Chiles und Venezuelas62 vor allem auf einer „germanophilen“ Bewunderung der Wirtschaftsleistung ihrer deutschen Einwanderer (Kolonien in Valdivia, Araucania, Los Rios und Los Lagos, Colonia Tovar).63 Ihre Neutralität bewahrten auch Kolumbien und Mexiko. Die von den Vereinigten Staaten 1903 erzwungene Separation Panamas von Kolumbien und die US-amerikanische Einmischung in den mexikanischen Bürgerkrieg schlossen eine Solidarisierung dieser Länder mit den „Yankees“ aus.
58 Siehe zur Export-„Offensive“ des uruguayischen Politikers José Batlle y Ordonez (1911 – 1915) J. A. Oddone, The Formation of Modern Uruguay, c. 1870 – 1930, in: L. Bethell (Anm. 9), S. 464 ff. 59 Dazu St. Rinke/K. Kriegesmann (Anm. 7), S. 10. 60 St. Rinke (Anm. 7), S. 171 f. 61 Vgl. – zu den innerargentinischen Auseinandersetzungen zwischen „rupturistas“ und „neutralistas“ – St. Rinke (Anm. 7), S. 172 ff., 178 f.; allgemein zur Amtszeit Yrigoyens (1916 – 1922) D. Rock, Argentina from the First World War to the Revolution of 1930, in: L. Bethell (Anm. 9), S. 426 ff. 62 Der venezolanische Präsident Victorino Márquez Bustillos (1914 – 1922) tauschte allerdings einige pro-deutsche Minister aus (D. X. Noack [Anm. 44]). 63 St. Rinke (Anm. 7), S. 181 ff.
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3. Lateinamerika am Ende des Krieges Die Vereinbarung eines Waffenstillstands in Europa am 11. November 191864 löste auf dem Subkontinent einen Überschwang der Gefühle aus.65 Nicht nur für die Sieger unter den lateinamerikanischen Staaten, die sich eine Teilnahme an der Friedenskonferenz und Ansprüche auf Wiedergutmachungsleistungen erhofften, auch für die Neutralen war das Ende des Krieges ein Grund zur Freude. a) Beteiligung am Versailler Friedensprozess Aber: Welche Rolle spielten lateinamerikanische Staaten auf der Versailler „Bühne“ tatsächlich? Welchen Anteil hatten sie namentlich an den – im Januar 1918 beginnenden – Delegiertenkonferenzen? Insgesamt elf lateinamerikanische Staaten waren es, die von den Alliierten zu den Konferenzen eingeladen wurden; diese elf gehörten auch zu den (späteren) Unterzeichnerstaaten des Versailler Vertrages. Darunter befanden sich alle Kriegsteilnehmer aus Zentral- und Südamerika sowie der Karibik, ferner die sog. rupturistas: Bolivien, Ecuador, Peru und Uruguay. Ausgeschlossen blieben demgegenüber die Neutralen. Die starke quantitative Präsenz lateinamerikanischer Länder bei den Friedensverhandlungen täuscht allerdings über deren wahre Bedeutung hinweg. Sie vermittelt einen falschen Eindruck von deren Durchsetzungskraft; denn zu Verhandlungen „auf Augenhöhe“ kam es nie.66 So schaffte es – mit der Unterstützung Wilsons – allein Brasilien, drei Repräsentanten zu den Verhandlungen zu entsenden. Über Achtungserfolge kamen auch diese aber nicht hinaus.67 Forderungen, etwa nach einer Übereignung in brasilianischen Häfen beschlagnahmter deutscher Handelsschiffe, wurden als zweitrangig behandelt und letztlich – vor allem von den Briten – abgelehnt.68 Dieser Befund eines Fehlens jeglicher Gleichberechtigung bzw. gleicher Behandlung Lateinamerikas lässt sich darüber hinaus für die Gründung des Völkerbundes erheben.69 Von den seinerzeit 42 Mitgliedern des Völkerbundes kamen allein 18 aus Mittel- und Südamerika. Zwar gelang es dem Völkerbund, eine Reihe kleinerer 64
Zu den Einzelheiten D. M. Segesser (Anm. 32), S. 202 ff., und O. Janz (Anm. 32), S. 320 ff. 65 St. Rinke/K. Kriegesmann (Anm. 7), S. 14. 66 Vgl. – zur Festlegung von Kategorien teilnehmender Staaten durch die Siegermächte – St. Rinke (Anm. 7), S. 224 f. 67 D. M. Segesser (Anm. 32), S. 9: „Für die übrigen Delegationen war es schwierig, sich Gehör zu verschaffen und viele, so Haiti, Kuba, Brasilien (…) erachteten es schon als Erfolg, dass sie an den Verhandlungen beteiligt wurden.“ 68 Zur kritischen Bewertung der Ergebnisse für Lateinamerika siehe die Hinweise bei St. Rinke (Anm. 7), S. 226 ff. 69 Hierzu im Einzelnen St. Rinke (Anm. 7), S. 228 f.
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Streitigkeiten beizulegen. Die offenen Fragen Lateinamerikas blieben jedoch ungeklärt, beispielsweise die Grenzkonflikte in den Andenstaaten. Ein Ärgernis aus lateinamerikanischer Sicht stellte es außerdem dar, dass die Monroe-Doktrin in der Völkerbundsatzung (dort Art. 21) bestätigt und damit von der Weltgemeinschaft gleichsam „beglaubigt“ wurde.70 Einheimische Chronisten sprechen infolgedessen von der „decepcion wilsonista“, der „Wilsonianischen Enttäuschung“71. b) Die wirtschaftliche Agonie: Versorgungskollaps und soziale Spannungen („agotamiento“) Eine der indirekten Folgen des Ersten Weltkriegs in Lateinamerika war die Unterversorgung seiner Zivilbevölkerung. Zwar spielte die Subsistenzwirtschaft, das heißt Selbstversorger-Wirtschaft, auch nach dem Krieg noch eine gewisse Rolle. Jedoch waren die Exporte kriegswichtiger und anderer Rohstoffe – auch wegen der weltweiten Devisenknappheit72 – massiv zurückgegangen73 ; zudem brach der Import von Fertigwaren aus Europa vollends ein und war durch US-Einfuhren kaum zu ersetzen74. Sollte ein Versorgungskollaps vermieden werden, mussten die nationalen Wirtschaftssysteme neu ausgerichtet und Importe „substituiert“ werden. Es bedurfte nunmehr – was Zeit beanspruchte – (erstmals) eines „desarollo hacia adentro“, einer „Entwicklung nach innen“75. Mit Recht sind die politischen Systeme Lateinamerikas stets als eine Kultur politischer Gewalt bezeichnet worden.76 Zwangsläufige Folge der beschriebenen Versorgungsengpässe war daher eine Renaissance gewaltbereiter Aktionsbündnisse (von Paramilitärs, militanten Gewerkschaften, „comites de autodefensa“ und frühen Formen der „cooperativas rurales de vigilancia y seguridad“)77. Überall in Lateinamerika ließ sich eine krisenhafte Zuspitzung sozialer Konflikte beobachten. Impuls70
St. Rinke (Anm. 7), S. 230. Nachweise bei St. Rinke (Anm. 7), S. 230. 72 Vgl. hierzu H.-J. König (Anm. 13), S. 598. 73 Zur Situation in Chile vgl. H. Blakemore, Chile from the War of the Pacific to the World Depression, 1880 – 1930, in: L. Bethell (Anm. 10), S. 534 ff.: Though never a belligerent, Chile was an immediate casualty of that conflict, so closely integrated was its export economy in a world trading system now dramatically disrupted. Siehe ferner zu den sozialen Verwerfungen in Peru P. F. Klaren, The Origins of Modern Peru, 1880 – 1930, in: L. Bethell (Anm. 10), S. 627 ff. 74 H.-J. König (Anm. 13), S. 597. Ein Überblick über Importquoten findet sich bei R. Thorp, Latin America and the International Economy from the First World War to the World Depression, in: L. Bethell (Anm. 9), S. 66. 75 Im Einzelnen H.-J. König (Anm. 13), S. 598 f. 76 Siehe bereits oben S. 222, 225; ferner ausführlich H.-J. König (Anm. 13), S. 617 ff. 77 Einführend M. Riekenberg (Anm. 6), S. 41; vgl. auch St. Rinke/K. Kriegesmann (Anm. 7), S. 13 f.: The war left a heritage of violence. Bezogen auf die sozialen Strukturen in Brasilien B. Fausto, Brazil: the Social and Political Structure of the First Republic, 1889 – 1930, in: L. Bethell (Anm. 9), S. 810: apolitical syndicalism. 71
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geber hierbei auch: die Russische Revolution von 1917. Treibende Kraft der Proteste waren neben hiervon beeinflussten linksintellektuellen Studenten78 auch junge Offiziere, etwa das „movimento tenentista“ – die brasilianische Leutnantsbewegung79. Die neuen einheimischen Eliten, die eigentlich die alten waren, befürchteten für die Zukunft eine „Sowjetisierung“ Lateinamerikas. c) Erstarken der Hegemonialmacht USA Wenn man über die Folgen des Ersten Weltkriegs für Lateinamerika nachdenkt, darf ein Blick auf die hegemonialen Machtstrukturen nach Kriegsende nicht fehlen. – Hatte der Krieg zu neuen Vorherrschaften geführt? Gab es so etwas wie einen Wettstreit um regionale Einflusssphären, etwa wirtschaftliche Dominanz? Die Geschichtswissenschaftler König80 und Rinke81 haben hierüber ausführlich berichtet: Den ab 1918 einsetzenden Kampf der Alliierten um eine optimale wirtschaftliche Ausgangsposition im Lateinamerika der Nachkriegszeit82 entschieden die Vereinigten Staaten – vor allem gegen Großbritannien – klar für sich83 und bauten damit ihre ohnehin schon bestehende84 wirtschaftliche Überlegenheit in dieser Region weiter aus. Zwar betrieben sie keine – im eigentlichen Sinne – annexionistische Politik gegenüber Lateinamerika; sie erschufen jedoch ein „informelles Imperium“, wie allein die Größenordnung ihrer Investitionen zwischen Kriegsende und 1929 – etwa 3,5 Milliarden US-Dollar – zeigt85. IV. Die Nachkriegszeit bis zur Weltwirtschaftskrise (1929/1930) Wir erinnern uns an den Tango-Klassiker von Carlos Gardel. Er ist ein beredtes Beispiel für die Stimmungslage in vielen Staaten Lateinamerikas nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Wie lässt sich diese beschreiben?
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St. Rinke/K. Kriegesmann (Anm. 7), S. 14. Im Einzelnen B. Fausto, Brazil: the Social and Political Structure of the First Republic, 1889 – 1930, in: L. Bethell (Anm. 9), S. 820 ff. 80 H.-J. König (Anm. 13), S. 708 ff. 81 St. Rinke (Anm. 7), S. 202 ff. 82 Ausführlich St. Rinke (Anm. 7), S. 208 f., 226. 83 St. Rinke (Anm. 7); S. 202, 209. 84 Siehe dazu bereits oben S. 222, 225. 85 H.-J. König (Anm. 13), S. 709, 713. Die Metapher eines „informellen Imperiums“ geht auf Überlegungen des amerikanischen Politikers William Henry Seward, Außenminister unter Präsident Andrew Johnson (1861 – 1869), zurück. 79
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1. Stimmungslage: Euphorie und Enttäuschung Beginnen wir mit den Gründen der Enttäuschung, deren es aus Sicht der durch den Großen Krieg traumatisierten lateinamerikanischen Bevölkerung vor allem zwei gab: Erstens: Europa als Hort der Zivilisation hatte seine Würde – besser: Unschuld – verloren. Vom einstmals großen Respekt, den Europa als geistiges Vorbild und Impulsgeber für lateinamerikanische Fortschrittsideologien genoss, war nichts mehr übriggeblieben86. Rinke schildert die Wahrnehmung der Lateinamerikaner so:87 (Latein)Amerika würde der Zufluchtsort für die europäische Zivilisation werden, weil Europa selbst dieser fortan keinen sicheren Aufenthalt mehr biete. Desillusionierend wirkte – zweitens – die Erkenntnis, dass sich gerade auch lateinamerikanische Staaten auf die Geltungskraft des vor dem Krieg sanktionierten Völkerrechts – der Haager Landkriegsordnung in der Fassung von 1907 und der Londoner Seerechtsdeklaration von 1909 – nicht verlassen konnten. Zu häufig hatten das Deutsche Reich und die Alliierten nationale Souveränitäten verletzt und Forderungen etwa nach Einhaltung der Neutralitätsregeln „in den Wind geschlagen“88. Soweit sich Euphorie breitmachte, war diese aus der Verzweiflung geboren. In der Rückbesinnung auf die eigene – auch indigene – Herkunft bildete sich ein neues Nationalbewusstsein heraus,89 das der wachsenden Gefahr des US-amerikanischen Interventionismus entgegengesetzt werden sollte. Dabei sah man die Einwanderer aus Europa, die man nach Kriegsende in großer Anzahl erwartete, paradoxerweise nicht als Störenfriede, sondern als Hoffnungsträger an. 2. Der inner-lateinamerikanische Streit um Führungsrollen In der Zeit vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zur Weltwirtschaftskrise 1929/ 1930, die für den Subkontinent wegen ihres globalen Ausmaßes das Ende der nächsten historischen Epoche darstellt, suchte Lateinamerika nicht nur seinen „Platz auf der Weltbühne“90, es suchte auch eine Nachkriegsordnung für die Region. Panamerikanische Verbrüderungsansätze wurden wegen der US-amerikanischen Hegemonialansprüche offen abgelehnt. Stattdessen gewann eine (sub)kontinentale Solidarität ohne Einschluss der Vereinigten Staaten Bedeutung91. Parallel gab das Kriegsende Anlass zu emanzipatorischen Bestrebungen aller 19 Staaten, so im Rin86 Vgl. St. Rinke (Anm. 7), S. 238, 248 ff., 259, 302; ferner St. Rinke/K. Kriegesmann (Anm. 7), S. 12 f. 87 St. Rinke (Anm. 7), S. 261, 264. 88 Zur völkerrechtswidrigen Kriegführung auf See D. M. Segesser (Anm. 32), S. 166 ff. 89 St. Rinke (Anm. 7), S. 265 ff., unter Hinweis beispielsweise auf einen neuen argentinischen Nationalismus – „la argentinidad“. 90 Siehe St. Rinke (Anm. 7), S. 289 ff. 91 St. Rinke (Anm. 7), S. 293.
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gen um neue Vormachtstellungen in Lateinamerika und die Verteidigung außenpolitischer Souveränität. Waren vor dem Ersten Weltkrieg noch Argentinien und Mexiko als „natürliche“ Führungsmächte in der Region betrachtet worden, so verblieben danach nur die „großen Drei“ – die A.B.C.-Staaten Argentinien, Brasilien und Chile – als Alternative; der insoweit schwelende Streit, die Rivalität zwischen dem neutral gebliebenen Argentinien und dem Kriegsgewinnler Brasilien sollte entschärft werden.92 Das Selbstbewusstsein auch kleinerer Länder wie etwa Bolivien und Ecuador zeigte sich in außenpolitischen „Alleingängen“, beispielsweise darin, dass sie in Übersee – unter anderem in Ostasien – (eigene) diplomatische Vertretungen und Handelsstützpunkte errichteten.93 3. Wiedereinsetzen der Einwanderung – Immigration in den 1920er Jahren Waren die Einwandererzahlen mit Beginn des Ersten Weltkriegs stark abgesunken,94 so stiegen sie in der Zwischenkriegszeit wieder deutlich an.95 Jedoch kamen sie nicht mehr an die Werte des Vorkriegsjahrzehnts heran. Eine Ausnahme bildete hier allerdings Deutschland: So erreichte die Auswandererwelle aus Deutschland in den 1920er Jahren einen Höhepunkt.96 Die Zahl deutscher Einwanderer nach Lateinamerika verdoppelte sich gegenüber dem Referenzwert aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg auf mehr als eine halbe Million Menschen97. Mit der Einführung von Einwanderungsbeschränkungen durch die USA avancierten Argentinien und Brasilien für deutsche Auswanderer zu den wichtigsten Zielländern.98 Hier spielte auch Protektionismus eine große Rolle, war es doch aus lateinamerikanischer und deutscher Sicht politisch erwünscht, in der Region auf Dauer geschlossene deutsche Siedlungen zu etablieren.99 Gründe für die Emigration: der „Auswanderungsstau“ während des Ersten Weltkriegs und die Hoffnung auf eine bessere Existenz bei solchen Personen, die aus den abgetretenen Grenzgebieten des Deutschen Reichs, den deutschen Siedlungsgebieten und den Kolonien kamen.100
92 So St. Rinke (Anm. 7), S. 293 f., unter Hinweis auf das Ziel eines „eigenen Monroismus“ der A.B.C.-Staaten. 93 Vgl. die Nachweise bei St. Rinke (Anm. 7), S. 297. 94 Siehe bereits oben S. 224 f. 95 J. Oltmer (Anm. 14), S. 4. 96 Hierzu St. Rinke, Deutsche Lateinamerikapolitik, 1918 – 1933: Modernisierungsansätze im Zeichen transnationaler Beziehungen, in: St. Rinke, „Der letzte freie Kontinent“. Deutsche Lateinamerikapolitik im Zeichen transnationaler Beziehungen, 1918 – 1933, 1996/1997, S. 357. 97 St. Rinke (Anm. 96), S. 369 f. 98 Siehe St. Rinke (Anm. 96), S. 369; ferner J. Oltmer (Anm. 14), S. 9: Richtungsverlagerung der Auswandererströme. 99 J. Oltmer (Anm. 14), S. 7 f. 100 J. Oltmer (Anm. 14), S. 5, und St. Rinke (Anm. 96), S. 369.
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4. Deutschlands Wiederaufstieg in Lateinamerika Wenn es – wie gerade erörtert – ein deutsches wie auch lateinamerikanisches Anliegen war, den Subkontinent für deutschen Einfluss offen zu halten, wie konnte das gelingen? Machten nicht die durch den Versailler Vertrag auferlegten Kriegsfolgelasten jede handelspolitische Aktivität in Lateinamerika unmöglich? – Die deutsche Volkswirtschaft sollte, so die Siegermächte, auf Jahrzehnte in höchstmöglichem Maß geschwächt, ein wirtschaftliches Erstarken Deutschlands im Ausland verhindert werden. Hierzu trugen aus der Perspektive der Alliierten vor allem der Verlust seiner Handelsflotte und seines (gesamten) Auslandsvermögens bei. Die Antwort ist überraschend: Nein! – Zwar engte der Versailler Vertrag den Aktionsradius offizieller Stellen, etwa deutscher Ministerien und Missionen, außerhalb Europas stark ein101. Ein Wiederaufstieg in Lateinamerika erfolgte jedoch „informell“ bzw. „autonom“ über bzw. durch nicht-staatliche Akteure, auslandsdeutsche Unternehmen, Wirtschaftsverbände und Kulturvereine.102 Aufgrund ihrer traditionell guten Beziehungen zu den einheimischen Oberschichten103 hatten viele auslandsdeutsche Unternehmen den alliierten Wirtschaftskrieg und die Zeit der „Schwarzen Listen“ mehr oder weniger unbeschadet überstanden;104 Enteignungen waren nach Kriegsende meistens wieder rückgängig gemacht worden.105 Deutschland konnte sich vor dem Hintergrund seiner Historie in Lateinamerika als unverdächtig und nicht-imperialistische Macht darstellen106. Vor allem aber wurde seine Präsenz als Gegengewicht zur wirtschaftlichen Übermacht der Vereinigten Staaten auf dem Subkontinent geschätzt.107 Solange sie es schafften, den Hegemonialanspruch der Vereinigten Staaten nicht offen bzw. für diese erkennbar zu gefährden,108 hatten Auslandsdeutsche auch im „Hinterhof“ der USA Bewegungsfreiheit und konnten wichtige Schlüsselindustrien – Maschinenbau-, Schwer-, Elektro-, Bau- und chemische Industrie – besetzen.109
101
So St. Rinke (Anm. 96), S. 359. Ausführlich hierzu St. Rinke (Anm. 96), S. 359, 383. 103 St. Rinke (Anm. 96), S. 359, 362, 382. 104 Vgl. St. Rinke (Anm. 7), S. 204 f.: erstaunliche Überlebensfähigkeit; ferner St. Rinke (Anm. 96), S. 360 ff. 105 St. Rinke (Anm. 96), S. 360, 362. 106 So St. Rinke (Anm. 96), S. 364, 381. 107 St. Rinke (Anm. 96), S. 381. 108 St. Rinke (Anm. 96), S. 365 f., 368, 381: „Eine Leitlinie der deutschen Lateinamerikapolitik in diesen Jahren war, alles zu vermeiden, was in den Vereinigten Staaten Misstrauen gegen deutsche Expansionsabsichten (…) auslösen konnte.“ 109 Mit Beispielen St. Rinke (Anm. 96), S. 362; siehe auch S. 382: deutsche Auswanderer und deren Nachkommen gleichsam als Ersatz für Kapitalinvestitionen. 102
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V. Schlussbetrachtung Lateinamerika stellte im Ersten Weltkrieg keinen Hauptschauplatz des Konflikts dar. Zwar hatte sich der Seekrieg auch in mittel- und südamerikanische Gewässer verlagert. Insgesamt blieb diese Weltregion jedoch jenseits der Schlachtfelder. Das bedeutet allerdings nicht, dass sich die Rolle der lateinamerikanischen Staaten in einer Beobachterrolle erschöpfte. Mag er auch die Landkarte in der Region nicht verändert haben, so hinterließ der Krieg doch auch hier – wegen seiner „Entgrenzung“110 – „tiefe Spuren“. In dem Umfang, in dem er die Bewunderung Lateinamerikas für die Referenzkulturen in Europa zerstörte, führte er zu neuem Selbstbewusstsein und stärkte das Vertrauen in die eigene Nation (Geburt eines neuen Panamerikanismus lateinamerikanischer Prägung). Dieser Wandel bestimmte die Historie des restlichen 20. Jahrhunderts mit. Die Geschichtswissenschaft hat gut daran getan, die Folgen des Ersten Weltkriegs für Lateinamerika nicht mehr auszublenden. * Abstract Norbert Bernsdorff: Latin America and the First World War (Lateinamerika und der Erste Weltkrieg) in: World War I and its Consequences for the Coexistence of Peoples in Central and Eastern Central Europe, vol. 3 (Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Bd. 3), ed. by Gilbert H. Gornig and Adrianna A. Michel (Berlin 2019), pp. 221–239. To this day, the First World War belongs to the events that occupy an important place in the memory of the people. The Great War is not only strong in the European countries. As a war that knows no bounds, it awakens bitter memories all over the world. Nonetheless, Latin American countries, as the scene of the First World War, have long been ignored in historical studies. The attitude of Latin America to war was initially waiting. Many of the pro-German governments of Central and South America initially pursued a policy of strict neutrality. In February 1917, the German Reichsleitung began its unlimited U-boat war, which also carried the conflict into Latin American waters. The US entry into the war in April 1917 was a turning point not only in Europe, but also in the Latin American countries. Now a positioning opposite the German Reich was demanded. This was very different and was based primarily on the respective national, i. e. economic and foreign policy interests. Central and South American states played no role on the Versailles “stage“; their claims were largely ignored. – What impact did the Great War have on Latin America? Although the war did not change the map, the war destroyed the admiration of the Latin American population for the civilizational achievements of Europe, which was considered as a model until then; the war also disappointed confidence in the observance of existing international law. The turn to a Latin American Panamericanism was the result.
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Diesen Begriff verwendet O. Janz (Anm. 32), S. 103 ff.
Der Einfluss des Ersten Weltkriegs auf Faschismus und Nationalsozialismus Von Wilfried von Bredow Auf den ersten Blick scheint es so, als wäre die ursächliche Verknüpfung zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Auftreten autokratischer oder totalitärer Ideologien und Herrschaftssysteme in Italien (1919 – 1945) und Deutschland (1920 – 1945) klar und eindeutig.1 So meint etwa Jürgen Kocka: „Ohne den Ersten Weltkrieg, der näher als jeder Krieg zuvor an einen totalen Krieg herankam und der die Gesellschaftsstruktur und das gesellschaftliche Bewusstsein geradezu aufwirbelte, wären der deutsche und der italienische Faschismus nicht entstanden.“2 Auch in jüngeren Veröffentlichungen findet sich dieses Urteil. Für Ulrich Herbert ist der Nationalsozialismus ein Kind des Krieges, mehr noch: ein Kind der Kriegsniederlage gewesen.3 Und Hans-Ulrich Thamer kommt zu dem Schluss: „Faschismus und Nationalsozialismus waren Produkte des Ersten Weltkriegs … .Benito Mussolini und – noch sehr viel erfolgreicher – Adolf Hitler verstanden es, sich als Repräsentanten der Frontkämpfer und des Unbekannten Soldaten zu inszenieren.“4 Völlig falsch sind diese weit verbreiteten Urteile sicher nicht. Aber sind sie auch ganz richtig? Gewiss nicht in dem Sinne, dass der Erste Weltkrieg als die alleinige oder auch nur eindeutig als die Hauptursache für den Aufstieg von Faschismus und Nationalsozialismus zu gelten habe. Das erschiene denn doch als ungebührliche Vereinfachung. Wie immer, wenn es um das Schicksal von Menschen geht und um die Gemeinschaften und Gruppen, die miteinander kooperieren, sich als Konkurrenten gegenüberstehen oder gegeneinander kämpfen, verlieren solche scheinbar klaren, eindeutigen und einfachen Ursache/Folgen-Verkettungen bei genauerem Hinsehen viel von ihrer Überzeugungskraft. In der Geschichte der Menschen waren und sind es fast immer mehrere Faktoren, aus deren oft unübersichtlichem Zusammenspiel sich bestimmte Wirkungen erklären lassen. Ausnahmen sind möglich, aber ziemlich selten. Was Ernst Nolte mit Blick auf das Verhältnis von Bolschewismus und Nationalsozialismus und speziell von den sowjetischen Arbeitslagern des Archipel Gulag und den 1
Für kluge und anregende Anmerkungen zum Text danke ich Christian Ostersehlte. J. Kocka, Ursachen des Nationalsozialismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bd. 25/ 1980, S. 7. 3 U. Herbert, Was haben die Nationalsozialisten aus dem Ersten Weltkrieg gelernt?, in: G. Krumeich (Hrsg.), Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg, Essen 2010, S. 21. 4 H.-U. Thamer, Der Erste Weltkrieg. Europa zwischen Euphorie und Elend, Berlin 2017, S. 204. 2
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nationalsozialistischen Vernichtungslagern wie Auschwitz und anderen einen „kausalen Nexus“ genannt hat5, wäre, träfe diese Beobachtung zu, eine solche Ausnahme: (Nur) der Vorläufer Gulag hätte die Planung und Einrichtung der Vernichtungslager überhaupt erst ermöglicht. Plausibel ist Noltes These aber nicht. Man erinnert sich an den 1986/87 erbittert geführten, zuweilen verbal eskalierend aus dem Ruder gelaufenen Streit unter Fachhistorikern und in der Öffentlichkeit („Historikerstreit“) über Noltes These. Bei unserer Themenstellung wird es sich nicht vermeiden lassen, wenigstens ein Stück weit über Denkfiguren wie historischer Einfluss, Verursachung einer historischen Entwicklung oder Ursache/Folgen-Verkettungen und ihre methodische und theoretische Problematik zu reflektieren. I. Komplexitätsvermehrung Geschichte verläuft entlang eines Zeitstrahls von der Vergangenheit bis in die Gegenwart und weiter in die Zukunft. Da versteht es sich von selbst, dass alles, was (in der Regel innerhalb eines bestimmten geographischen Rahmens) vor einem historischen Ereignis passiert ist, auf das, was nachher kommt, irgendeinen Einfluss ausübt. Der erscheint umso direkter und größer, je näher das Zuvor und das Danach zeitlich beieinanderliegen. Diese gemeinplätzige Überlegung relativiert sich allerdings sogleich wieder, wenn es nicht um irgendeinen, sondern um einen bewusstseins-, handlungs- und gestaltungsbestimmenden Einfluss auf größere Gruppen und ganze Gesellschaften geht. Keineswegs alle, sondern nur bestimmte wichtige Vorgänge üben einen solchen Einfluss auf die jeweilige Gegenwart aus. Und wenn sie nur wichtig genug waren oder autoritativ als wichtig genug dargestellt werden, können das unter Umständen auch viel weiter zurückliegende Vorgänge tun. 1. Einfluss als historische Kategorie Was genau ist gemeint, wenn man in solchen historischen Zusammenhängen von Einfluss redet? Auf der individuellen Ebene lässt sich das einfach beantworten: Die Eltern, andere Bezugspersonen aus der Familie oder dem näheren Umfeld, später etwa auch besonders eindrucksvolle (oder besonders schlechte) Lehrer an Schule oder Hochschule beeinflussen das moralische Empfinden, das Wertesystem, das Denken und damit auch das Verhalten der Heranwachsenden. Kann man dies ohne weiteres auf Kollektive übertragen, gar auch ganze Gesellschaften und Nationen? Bis zu einem gewissen Grad schon. Auf diese Weise kommt das zustande, was die Sozialpsychologen kollektive Identität nennen und was ein enorm wichtiges Bindemittel zwischen Individuen, vor allem auch zwischen den Generationen ist. Ohne eine solche kollektive Identität, die sich vorzugsweise in gemeinsamen kulturellen 5 E. Nolte, Der europäische Bürgerkrieg. Nationalismus und Bolschewismus, 5. Aufl. München 1997, S. 11.
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Werten, in gemeinsamen (zumindest miteinander kompatiblen) Vorstellungen und Interessen sowie einem überwiegend geteilten Selbstbild ausdrückt und dadurch eben eine besondere Verbundenheit der vielen Individuen erschafft, könnte keine Gemeinschaft, keine Gesellschaft, auch keine Nation dauerhaft existieren.6 Freilich darf man nicht übersehen, dass die Funktionsweise des Zusammenhalts von Gruppen aller Art, von der Familie bis zur Nation, damit nur auf sehr allgemeine Weise beschrieben ist – auf der empirischen Ebene gibt es unzählige verschiedenartige Ausgestaltungen solcher kollektiven Identität. Diese verändert sich selbstverständlich über die Zeit, in der Regel behutsam und unter Betonung historischer Kontinuität gerade auch dann, wenn die Veränderung natürlicher oder sozialer Rahmenbedingungen ihren Wandel beschleunigen. Solche Veränderungen sind entweder lang- oder mittelfristig wirksam. Im neuzeitlichen Europa7 zählen dazu etwa Vorgänge wie Industrialisierung, Urbanisierung, Säkularisierung und Rationalisierung, zusammengefasst im Begriff der Modernisierung.8 Aber sie können auch kurzfristig eintreten und durch ihre schiere Wucht die kollektive Identität der von ihnen erfassten Zeitgenossen umprägen. Keine Frage – der Erste Weltkrieg war für die große Mehrheit der Menschen in den an ihm beteiligten europäischen Staaten ein solches hoch-intensives Ereignis, für die Deutschen in dieser Hinsicht wohl nur mit dem Dreißigjährigen Krieg (1618 – 1648) zu vergleichen. Nur scheinbar führen diese Überlegungen vom Thema weg. Der Erste Weltkrieg hat einen tiefen, nachhaltigen Eindruck im Bewusstsein derjenigen hinterlassen, die ihn als Soldaten oder Zivilisten, als Männer, Frauen oder Kinder miterlebt haben, oft von Trauer und Schmerz, nur bei wenigen von Triumph geprägt. Aber hat er auch, und wenn ja wie, einen prägenden Einfluss auf die Nachkriegszeit gehabt? Vielleicht sogar einen so starken Einfluss, dass aus der ursprünglich erhofften Nachkriegszeit, die nie wieder zu einer Vorkriegszeit werden sollte, eine relativ kurze (und durch ein hohes Maß von militärischer und paramilitärischer Gewalt gekennzeichnete) Zwischenkriegszeit wurde, eine Erschöpfungspause vor dem nächsten globalen Waffengang? Manche Autoren9 sehen die beiden Weltkriege sogar als Einheit, als Dreißigjährigen Krieg, im Unterschied zu dem im 17. Jahrhundert allerdings auf einer globalen Ebene.
6
H. Delitz, Kollektive Identität, Bielefeld 2018. Immer noch lesenswert: H. Freyer, Weltgeschichte Europas, 3. Aufl. Stuttgart 1969. 8 S. Payne, Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung, München 2001, S. 574. 9 Etwa H.-U. Wehler, Der zweite Dreißigjährige Krieg. Der Erste Weltkrieg als Auftakt und Vorbild für den Zweiten Weltkrieg, in: Spiegel-Special 1/2004; http://magazin.spiegel.de/Ep ubDelivery/spiegel/pdf/30300048 (Zugriff 15. 06. 2018) oder E. Taverso, Im Bann der Gewalt. Der europäische Bürgerkrieg 1914 – 1945, München 2008. 7
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2. Erfahrungsverdichtung Wenn man die Zeit der Weltkriege so als „Epochen- und Erfahrungseinheit“10 betrachtet, dann werden dadurch zwar die verschiedenen Ereignis-, Erlebnis- und Erfahrungsebenen auf der politischen und sozialen Oberfläche der Lebenswelten der Zeitgenossen zusammengefasst. Aber es erhebt sich dann sogleich die Frage, ob sich damit allein schon verlässliche Einsichten über den Charakter dieser Epoche gewinnen lassen. Kann man also die Erlebnisse und Erfahrungen der Kriegsteilnehmer 1914 – 1918 als den entscheidenden Faktor für ihr politisches Verhalten in den Jahren danach ansehen? Oder wird dieses Verhalten doch eher von anderen Impulsen beeinflusst, vielleicht gar gesteuert, die ihre Dynamik aus den tieferen Schichten der Entwicklung der Moderne oder aus anderen grundstürzenden Ereignissen beziehen, wie etwa der globalen Pandemie, der derzeit mit neuer Energie als Forschungsthema aufgegriffenen Spanischen Grippe11, die im Jahr 1918 mehr Menschenleben kostete als die Kriegsereignisse der vier Jahre davor? Doch hat diese geradezu monströse Grippewelle damals nur wenig Spuren im kollektiven Bewusstsein der betroffenen Völker hinterlassen, ist also diesbezüglich in keiner Weise mit dem Ersten Weltkrieg zu vergleichen. Die Geschichtsschreibung für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hat in den letzten Jahrzehnten eine große Vielfalt von Ansätzen, Forschungshorizonten, Methoden und Theorien entwickelt, von der sozialwissenschaftlich und volkswirtschaftlich angereicherten Gesellschaftsgeschichte über die Mentalitätsgeschichte und die oral history (Zeitzeugenbefragung) bis zur genderbezogenen oder postkolonialistischen Kulturgeschichte. Was in diesen Forschungen aus den verschiedensten Blickwinkeln und mit den auf unterschiedlichste Weise zurechtgeschnittenen (gerahmten) Erkenntnishorizonten im Blick auf den Ersten Weltkrieg und seine Folgen immer wieder deutlich wird: Politische, wirtschaftliche und technologische Langzeit-Prozesse entfalten ihre quasi objektive Wirksamkeit auch dann, wenn sie im subjektiven Bewusstsein der Zeitgenossen kaum reflektiert werden. Sie steigern jedoch diese Wirksamkeit erheblich, wenn ihre Entwicklungsrichtung mit den subjektiven Erlebnissen und Erfahrungen, und noch mehr, wenn sie mit den Wünschen und Hoffnungen der Menschen übereinstimmen, oder sagen wir vorsichtiger: übereinzustimmen scheinen. 3. Politikwissenschaftliche Perspektive Wie immer, wenn es um die Erklärung politischer und gesellschaftlicher Vorgänge in der Vergangenheit (freilich auch in der Gegenwart) geht – wenn man genauer 10 B. Thoß, Die Zeit der Weltkriege – Epochen- als Erfahrungseinheit?, in: B. Thoß/ H.-E. Volkmann (Hrsg.), Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich, Paderborn 2002, S. 7 ff. 11 L. Spinney, 1918 – Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte, München 2018, S. 337 ff.
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hinsieht, werden die zu erklärenden Sachverhalte undurchsichtiger. Diesem Paradox kann kein politikwissenschaftlicher Ansatz entkommen; das unterscheidet ihn von politischen Zweckanalysen aller Art. Die folgenden Überlegungen kreisen aus politikwissenschaftlicher Perspektive um die Frage nach dem Einfluss des Ersten Weltkriegs auf den Faschismus und Nationalsozialismus. Beide haben die europäische und die globale Entwicklung bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs entscheidend mitgestaltet. Aber das haben auch andere Ideologien und Regime. Gerade das Zusammenspiel zwischen dem Faschismus/Nationalsozialismus, dem Bolschewismus/Kommunismus und den Regimen, die keinem dieser beiden „Lager“ zuzuordnen sind, seien sie eher autoritär oder eher demokratisch, hat die politischen Ereignisketten hervorgebracht, die zum Zweiten Weltkrieg führten. Deshalb erscheint es nützlich, auch jene Langzeit-Entwicklungen nicht aus dem Auge zu verlieren, die mit dazu beigetragen haben, dass es zum Ersten Weltkrieg gekommen ist, die jedoch auch gewissermaßen durch diesen Krieg hindurch weiter – und auf die Jahre und Jahrzehnte danach eingewirkt haben. Daran schließt sich ein kurzes Kapitel über die Begrifflichkeiten Faschismus/Nationalsozialismus an, über die in den Geisteswissenschaften seit ihrem ersten Auftreten sehr unterschiedliche Vorstellungen existieren. Der Streit darüber füllt lange Regalreihen in Fachbibliotheken. Den können und wollen wir hier nicht nachvollziehen, aber einen Geschmack davon zu bekommen, das lohnt sich schon.12 Haben die Gewalterfahrungen der Menschen im Ersten Weltkrieg sozusagen eine faschistische Disposition bewirkt? Darum geht es im anschließenden Kapitel, und danach wird in zwei weiteren Kapiteln die besondere Situation Italiens zwischen 1919 und 1922 und Deutschlands zwischen 1919 und 1933 behandelt, und zwar jeweils unter dem Gesichtspunkt, ob und wie man beim Aufstieg Mussolinis und Hitlers samt ihrer Anhänger einen deutlichen Einfluss der Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg herausarbeiten kann. Im abschließenden Fazit soll die Rolle des Ersten Weltkriegs als Katalysator für die Nachkriegsentwicklung in beiden Ländern näher bestimmt werden.
II. Epoche des Faschismus? Die Denkfigur vom „langen 19. Jahrhundert“ geht auf den marxistischen Historiker Eric Hobsbawm13 zurück, der damit die Zeitspanne von der Französischen Revolution 1789 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 bezeichnet, weil er sie als eine Zeitspanne mit nicht nur für Europa gemeinsamen Grundzügen ansieht. In seiner Geschichtsbetrachtung folgt dann auf dieses lange Jahrhundert ein kurzes 20. Jahrhundert, das er vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zum Untergang der So12
Einen informativen Überblick bieten: T. Schlemmer/H. Woller (Hrsg.), Der Faschismus in Europa. Wege der Forschung, München 2014. 13 E. Hobsbawm, The Age of Extremes. A History of the World, 1914 – 1991, New York 1995.
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wjetunion 1991 datiert. Obwohl nicht alle der von Hobsbawm als Grundzüge des 19. und des 20. Jahrhunderts angeführten Phänomene unbestritten blieben, hat sich diese Epochenkennzeichnung der beiden letzten Jahrhunderte weitgehend durchgesetzt. 1. Umstrittene Epocheneinteilung Solche und ähnliche Zeit- und Epocheneinteilungen liegen grundsätzlich immer „im Auge des Betrachters“ und können zwar mehr oder weniger schlüssig sein, aber keine „historische Objektivität“ beanspruchen. Offenbar gehört es zur intellektuellen Grundausstattung der Menschen, wenn sie sich mit der Geschichte, mit der Vergangenheit und ihrem Zusammenhang mit der Gegenwart beschäftigen, übersichtshalber Zeiteinteilungen vorzunehmen. Die können ganz unterschiedlich ausfallen und sind, das nebenbei, immer vom Erfahrungshorizont der jeweiligen Gegenwart bestimmt.14 In unserem Zusammenhang gibt es die Einordnung der Jahre zwischen 1919 und 1945 als „Epoche des Faschismus“. Sie geht auf das berühmte Buch „Der Faschismus in seiner Epoche“ von Ernst Nolte15 zurück. Andere Faschismus-Forscher akzeptieren sie nicht.16 Für Nolte bedeutet Epoche „die kleinste weltgeschichtliche Einheit, die von ,epochemachenden‘ Ereignissen eingefasst wird und sich nicht in der Konstellation der Oberfläche, sondern bis in die Tiefe des Lebens hinein von dem vorhergehenden und dem nachfolgenden Zeitabschnitt unterscheidet“17. Als die ,epochemachenden‘ Rahmenereignisse für die Epoche des Faschismus erscheinen das Ende des Ersten Weltkriegs und das Ende des Zweiten Weltkriegs. Bei einer solchen Betrachtungsweise kann der Einfluss des Ersten Weltkriegs auf den Faschismus gar nicht überschätzt werden. Ernst Nolte war seinerzeit in den 1960er Jahren einer der wenigen Autoren außerhalb der marxistischen Linken in der Bundesrepublik Deutschland, die den Begriff des Faschismus umstandslos sowohl für den italienischen Faschismus – dort wurde der Begriff erfunden – als auch für den Nationalsozialismus verwendeten. Die Mehrzahl der (bürgerlichen) Historiker betonte hingegen den kategorialen Unterschied zwischen dem autoritär-diktatorischen Regime Mussolinis und dem totalitären Nationalsozialismus. Betont wurde dieser Unterschied deshalb, weil dadurch die strukturelle Ähnlichkeit der repressiven Herrschaftsausübung des an die Macht gekommenen Nationalsozialismus und des Stalinismus in der Sowjetunion überzeugender dargestellt werden konnte. Diese Ähnlichkeit macht sich vor allem an der unbekümmer14 Um ein etwas entlegenes und heute nicht mehr, seinerzeit aber vielgelesenes Beispiel anzuführen: G. Wirsing, Das Zeitalter des Ikarus. Von Gesetz und Grenzen unseres Jahrhunderts, Jena 1944. 15 E. Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche. Action française – italienischer Faschismus – Nationalsozialismus, 2. Aufl., München 1965. 16 Beispielsweise von R. De Felice, Der Faschismus. Ein Interview von M. A. Ledeen, Stuttgart 1977, S. 86. 17 E. Nolte (Anm. 15), Der Faschismus in seiner Epoche, S. 23 f.
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ten Grausamkeit gegenüber klassenpolitisch oder rassenpolitisch aus dem Bereich des „Lebenswerten“ hinausdefinierten Menschengruppen bemerkbar.18 Aufstieg, Stagnation, Zurückdrängung und partielle Neuformulierung der Vorstellungen über den Totalitarismus bieten spannende Einblicke in das Wechselverhältnis von Politik und Politikwissenschaft während des Ost-West-Konflikts seit den 1940er Jahren, aber das ist ein anderes Thema19. 2. Demokratie vor dem Durchbruch? Es gibt noch einen dritten, zugegeben empirisch etwas schwachbrüstigen Versuch, das ,epochemachende‘ Ereignis des Ersten Weltkriegs als den Beginn einer bestimmten Epoche zu interpretieren, über deren Ende (noch?) keine Aussagen gemacht werden – nämlich der Epoche der modernen Massendemokratie. Schon vor 1914 hatten sich in vielen europäischen Ländern vorsichtig Demokratisierungsund Parlamentarisierungsprozesse angebahnt, auch übrigens im kaiserlichen Deutschland. „Der Krieg brachte Leid, Gewalt und Tod in ungeheurem Ausmaß. Und er führte zum Durchbruch der modernen Massendemokratie. Massendemokratie war ein Begriff, der in vielen Ländern nicht kritisch verwendet wurde, sondern zustimmend, und der als passende Bezeichnung für die politische Ordnung diente, die nach dem Ersten Weltkrieg entstand“.20 Entstehen sollte, könnte man allenfalls sagen. Denn die in den Pariser Vorortverträgen umrissene internationale Ordnung mag zwar demokratische Perspektiven für die neu etablierten Länder eröffnet haben. Um deren Durchsetzung kümmerten sich jedoch die beteiligten Regierungen nicht ernsthaft, so dass etwa in den allermeisten Staaten Ostmittel- und Südosteuropas die Ansätze zu einer demokratisch legitimierten Herrschaft rasch verblassten.21 Und das Experiment einer post-wilhelminischen Demokratie in Deutschland siechte auch von Anfang an dahin.22 3. Krisenepoche Alle diese kurz vorgestellten Kennzeichnungen der mit dem Kriegsende 1918/19 beginnenden Epoche sind hier aus zwei Gründen besonders nützlich. Erstens wird 18
T. Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2011. Vgl. U. Backes/E. Jesse, Totalitarismus – Extremismus – Terrorismus. Ein Literaturführer und Wegweiser im Lichte deutscher Erfahrung, Opladen 1984, S. 47 ff. 20 T. B. Müller, Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien, Hamburg 2014, S. 37; ferner: T. B. Müller/A. Tooze (Hrsg.), Normalität und Fragilität. Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2015. 21 Vgl. W. Rauscher, Das Scheitern Mitteleuropas 1918 – 1939, Wien 2016; ferner: E. Oberländer (Hrsg.), Autoritäre Regime in Ostmittel- und Südosteuropa, Paderborn 2001. 22 Aufschlussreich ist die tabellarische Übersicht bei B. Barth, Europa nach dem Großen Krieg. Die Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit 1918 – 1938, Frankfurt/M. 2016, S. 15. 19
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zumindest in Umrissen erkennbar, dass der Erste Weltkrieg, als Endpunkt des langen 19. Jahrhunderts und/oder als Auftakt des kurzen 20. Jahrhunderts, Ausdruck einer widersprüchlichen und konfliktreichen Langzeitentwicklung in den am Krieg beteiligten Gesellschaften und in der zwischenstaatlichen Politik ist.23 Zweitens können wir in der Tat für die 1920er und 1930er Jahre und den Zweiten Weltkrieg eine eigentümliche Konkurrenz von gleich drei politischen Ideologien und Ordnungssystemen mit Weltführungs-Anspruch ausmachen, nämlich die Konkurrenz zwischen dem sowjetischen Staatssozialismus, den faschistischen Regimen sowie den demokratischen Staaten, an ihrer Spitze die Vereinigten Staaten. Anders als die beiden Konkurrenten, die ihr politisches Monopol im Innern rigoros durchdrückten, standen die Demokratien innenpolitisch durch kommunistische und faschistische Parteien und Bewegungen unter Druck. Im Grunde also sind die Jahrzehnte nach dem Ersten Weltkrieg die Epoche einer macht- und ordnungspolitischen Dreierkonkurrenz, deren Intensität in den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs auch dadurch nicht geschwächt wurde, dass es zu kurzzeitigen Bündnissen von jeweils zwei der drei Konkurrenten kam. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erhofften sich viele Menschen in Europa den Durchbruch der Demokratie. Tatsächlich aber vertiefte sich quasi allüberall die Krise der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Werte. Dem Kapitalismus drohte am Ende der 1920er Jahre sogar ein dramatisches Scheitern. Nicht zuletzt daher erklären sich das allenthalben gestiegene Interesse für den Kommunismus der Sowjetunion und für das faschistische Regime Italiens gerade auch in den Demokratien Westeuropas und den Vereinigten Staaten. Es gab hier vor allem auch das erstaunliche Phänomen zu beobachten, dass sich unter den Sympathisanten für beide Spielarten der Diktatur viele Intellektuelle befanden. Erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Scheitern des Aufbaus eines homogenen Weltordnungssystems schälte sich der Epochen-Charakter des „kurzen 20. Jahrhunderts“ als bilateraler Ost-West-Konflikt deutlich heraus, auch nachdem die faschistische Alternative ihre Legitimation weitgehend eingebüßt hatte, militärisch, politisch und ideologisch. Weitgehend, nicht völlig, denn erstens ,überlebten‘ einzelne faschistisch-autoritäre Regime das Jahr 1945 ohne größeren Schaden (Portugal unter Salazar, Spanien unter Franco), zweitens kam es in Griechenland zwischen 1967 und 1974 zu einer Militärdiktatur mit faschistischen Zügen, und drittens haben sich auch in anderen Ländern Europas mehr oder weniger offen neo-faschistische Parteien und Bewegungen etabliert. III. Faschismus und Nationalsozialismus Geht man von diesem Geschichtsbild aus, dann sind Faschismus und Nationalsozialismus gewissermaßen ursprüngliche politisch-ideologische Phänomene und 23 H. Münkler, Der Große Krieg. Die Welt 1914 – 1918, Bonn 2014; W. Mommsen, Der Erste Weltkrieg. Anfang und Ende des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt/M. 2004.
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nicht einfach Reaktionen auf andere historische Entwicklungen. Das schließt nicht aus, dass es vor dem ersten Auftreten des Faschismus in Italien dort und anderswo prä-faschistisches Gedankengut und Ideologien gegeben hat. Auch nicht, dass es zwischen den drei Protagonisten der Epochen-Konkurrenz zu wechselseitigen Beeinflussungen gekommen ist. So muss auffallen, dass alle Regierungen nach 1914 zumindest verbal, aber auch mittels politischer Aktionen mit hohem politischem Symbolgehalt ihren demokratischen Grundcharakter betont haben und ihre Legitimation durch öffentliche Zustimmung demonstrierten, wie immer sie zustande gekommen sein mochte. Die Bolschewisten hatten ihre eigenen Vorstellungen von dem, was sie „Volksdemokratie“ nannten, und Mussolini und Hitler betrachteten die demokratischen Westmächte in der unmittelbaren Nachkriegszeit „mit einer Mischung aus Ehrfurcht, Angst, Neid und Hass“.24 Doch in ihrer Propaganda geißelten sie die westlichen Demokratien als dekadent und moribund. 1. Faschismus, Marxismus … Gleichviel, ob man sich auf den italienischen Faschismus und den deutschen Nationalsozialismus als gesonderte und unterschiedene Einzelphänomene bezieht oder beide und eine Reihe anderer politischer Kräfte im damaligen Europa gemeinsam als „faschistische Bewegungen“ 25 betrachtet, unter Historikern herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass es sie ohne den Marxismus und ohne die Revolution in Russland 1917 in ihrer sich nach 1918/19 herausbildenden Gestalt kaum gegeben hätte. So lautet etwa die seinerzeit mit großem Nachdruck in die Fachdiskussion eingebrachte umfassende Definition des Faschismus durch Ernst Nolte: „Faschismus ist Antimarxismus, der den Gegner durch die Ausbildung einer radikal entgegengesetzten und doch benachbarten Ideologie und die Anwendung von nahezu identischen und doch charakteristisch umgeprägten Methoden zu vernichten trachtet, stets aber im undurchbrechbaren Rahmen nationaler Selbstbehauptung und Autonomie“.26 Auch heute ist die gleichzeitige Betonung einer grundsätzlichen Ähnlichkeit bei einer ebenso grundsätzlichen Verschiedenheit von Bolschewismus und Faschismus überzeugend. Seither hat es zahlreiche Arbeiten über den Faschismus gegeben, sowohl Detailstudien als auch Gesamterklärungs-Versuche; im Großen und Ganzen hat sich Noltes Ansatz als haltbar erwiesen. Payne bezeichnet den Faschismus als „eine Form des für nationale Wiedergeburt eintretenden revolutionären Ultranationalismus, die auf einer vorwiegend vitalistischen Philosophie basiert, im Sinne von extremem Elitedenken, Massenmobilisierung und Führerprinzip strukturiert ist, Gewalt sowohl als Ziel als auch als Mittel positiv bewertet und dazu neigt, den Krieg 24
A. Tooze, Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916 – 1931, München 2017, S. 377. Vgl. A. Bauerkämper, Der Faschismus in Europa 1918 – 1945, Stuttgart 2006; S. Payne (Anm. 8), Geschichte des Faschismus; E. Nolte, Die faschistischen Bewegungen, München 1966. 26 E. Nolte (Anm. 15), Der Faschismus in seiner Epoche, S. 51. 25
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und/oder die militärischen Tugenden zur Norm zu erheben.“27 Das italienische Modell hat seit dem Kriegsende als Vorbild gedient, aber auch der Nationalsozialismus und die anderen faschistischen Bewegungen gehen aus einer strukturellen Entwicklungskrise „im ungleichzeitigen Übergang zur voll entfalteten, pluralistischen Industriegesellschaft, zur demokratischen Massenpolitik und zur nationalen Integration“ hervor.28 2. … und Moderne Mit dem Verweis auf eine strukturelle Entwicklungskrise ist angedeutet, dass der Faschismus auf tieferliegende Wirkkräfte zurückgeführt werden muss. Der Erste Weltkrieg hat diese Krise zwar erheblich beschleunigt, aber jedenfalls nicht verursacht. Der etwas blutarme Begriff der strukturellen Entwicklungskrise lässt sich vor allem als Modernisierungskrise verstehen, wobei die faschistischen Bewegungen und Regime mit einem ideologischen Spagat sich gleichzeitig als Modernisierer und Antimodernisierer zu präsentieren wussten, ebenso wie sie revolutionäre Impulse geschickt mit reaktionären Programmen zu kombinieren verstanden. Jeffrey Herf hat den Nationalsozialismus als „reactionary modernism“29bezeichnet, und Modris Ecksteins hat in einer Studie viele Beispiele für die Affinitäten zwischen der Kunst der Avantgarde und dem Nationalsozialismus beschrieben.30 Beiden, so sein Fazit, ging es um die Verbindung von Subjektivismus und Technizismus. Cum grano salis gelten diese Einsichten auch für den italienischen Faschismus. Neill Ferguson nennt als „Formel des Faschismus“ das Dreierprodukt aus Sozialismus plus Nationalismus plus Krieg.31 Das klingt sehr zugespitzt und unterschlägt zudem die in den faschistischen Bewegungen mehr oder weniger, besonders nachdrücklich jedoch im Nationalsozialismus ausgeprägten rassistischen Züge. Unter Rassismus wird hier übrigens nicht der heute meist verwendete, durch inflationären Sprachgebrauch ganz abgeflachte Bedeutungsinhalt verstanden, vielmehr das Konzept eines biologisch determinierten Qualitätsunterschieds verschiedener, wie auch immer im einzelnen definierten Rassen. Dennoch hilft Fergusons Kurzformel zu verstehen, dass alle einzelnen Faschismen in Europa auf Traditionslinien beruhen, die aber erst in ihrer Zusammenführung und Verknüpfung etwas bis dahin noch nicht Vorhandenes ergaben. Insofern ist der Faschismus mit seinen verschiedenen Spielarten in der Tat ein neuartiges und selbständiges politisch-ideologischen Phänomen. Durch diese Verknüpfung verändern sich die Zielwerte der einzelnen Komponenten, 27
S. Payne (Anm. 8), Geschichte des Faschismus, S. 26. A. Bauerkämper (Anm. 25), Der Faschismus in Europa, S. 42. 29 J. Herf, Modernism: Technology, Culture, and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge, Mass. 1984. 30 M. Ecksteins, Tanz über Gräben. Die Geburt der Moderne und der Erste Weltkrieg, Reinbek 1990. 31 N. Ferguson, Krieg der Welt. Was ging schief im 20. Jahrhundert?, Berlin 2006, S. 316. 28
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so dass es falsch wäre, den Faschismus bruchlos entweder vom Sozialismus oder vom Nationalismus her erfassen zu wollen.32 IV. Brutalisierung Auch nicht vom Krieg her, wie man ihn bis 1914 gekannt hat. Jedoch wirkten die völlig unerwarteten, intensiven Kriegs- und Gewalterfahrungen im Weltkrieg als Ferment, um die herkömmlichen Vorstellungen von Sozialismus und Nationalismus zu verändern. Ernst Nolte hat in diesem Sinne das Argument von den „großen Emotionen“ als Vorbedingung für die Entstehung des Faschismus eingeführt.33 Am Ende des Krieges seien aus zuversichtlichen Nationalisten verzweifelt militante Nationalisten geworden, und die vorher optimistisch von der Unabwendbarkeit der aufstrebenden Entwicklung vom Kapitalismus zum Sozialismus überzeugten Marxisten seien durch den Zusammenbruch des transnationalen sozialistischen Zusammenhalts 1914 und im Krieg zutiefst erschüttert worden. Darüber gibt es viele biographische und literarische Zeugnisse34. 1. Unterschiedliche Kriegserfahrungen Wenn man von der Kriegs- und Gewalterfahrung der Menschen in den am Krieg beteiligten Staaten denkt, darf man allerdings nicht den Fehler machen, sie zu homogenisieren. Die Soldaten in den sogenannten Materialschlachten oder den Schützengräben, auf See und in der Luft, die Soldaten der Truppe und in den Stäben machten ganz unterschiedliche Erfahrungen im Kriegsalltag, und sie alle erlebten den Krieg anders als die Zivilisten an der „Heimatfront“. Ganz gewiss wurden die Frauen mit anderen Konsequenzen des Krieges konfrontiert als die Männer. Front und Etappe, Truppe und Stäbe, Besatzer in besetzten Gebieten, Kriegsgefangene – hier gab es jeweils andere Grunderfahrungen. Zudem darf, nebenbei gesagt, auch nicht übersehen werden, dass es in Europa auch neutral gebliebene Staaten gab, beispielsweise die Niederlande, in deren Gesellschaften der Erste Weltkrieg nur einen sehr gedämpften Eindruck hinterließ. Dennoch stimmt: „Die Fronterfahrung übertraf in ihrer Schrecklichkeit jede Vorstellung und hatte mit den herkömmlichen Vorstellungen des Soldatendaseins nichts mehr zu tun. Tapferkeit und individuelle ,Heldentaten‘ waren unter den Bedingungen des Stellungskrieges kaum mehr gefragt, hingegen die Leidensfähigkeit und das
32
S. Breuer, Nationalismus und Faschismus in Europa, Frankfurt/M. 2005, S. 10. E. Nolte (Anm. 25), Die faschistischen Bewegungen, S. 14. 34 R. Gerwarth, Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs, München 2016. Auch zahlreiche Romane von Autoren aus den kriegsbeteiligten Ländern haben diesen Enttäuschungsprozess thematisiert. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür ist der Roman „Sommer 1914“ des französischen Autors Roger Martin du Gard. 33
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Durchhaltevermögen unter widrigsten Bedingungen“.35 Es spricht vieles dafür, dass die nachträglichen Stilisierungen des „Frontkämpfers“, wie man sie etwa in den eindrücklichen Schilderungen von Ernst Jünger nachlesen kann, nur wenig übertreiben36 und die kollektive Umprägung von Menschen ahnen lassen, die durch die Überlebensbedingungen im Krieg ein anderes, weniger gehemmtes Verhältnis zur Gewalt und ein anderes Verhältnis zu ihresgleichen – und zu allen anderen ausbildeten. Nur behalte man im Auge, dass das Bild des Frontkämpfers keinesfalls auf alle Weltkriegssoldaten zutrifft.37 2. Verklärung der Frontgemeinschaft Auch nach 1919 „tobte der Krieg in den Seelen weiter“.38 Und nicht zuletzt hatte er in den Körpern der Kriegsteilnehmer seine Spuren hinterlassen. Die leichteren und schwereren Verwundungen aus dem Krieg überschatteten ihr weiteres Leben. Manche suchten nach 1919 einen Sinn im Pazifismus, aber das war nur eine Minderheit. Für die anderen, jedenfalls für die Menschen in den Ländern, die zu offensichtlich entgegen den öffentlichen Erwartungen, der Kriegspropaganda und den eigenen Hoffnungen durch den Krieg viel verloren hatten und durch die Nachkriegsordnung („Friedensdiktat“ aus der Sicht der Verlierer) von weiteren Verlusten bedroht waren, verbanden sich Enttäuschung und Wut zu einer militanten Kampfbereitschaft, die ihre Motivation aus dem verklärten Geist der Frontgemeinschaft39 erhielt und das eigene Handeln auf „große Ziele“ projizierte, entweder auf die Wiederherstellung früherer Verhältnisse oder auf etwas Neues und noch nicht Dagewesenes. Um ihnen näher zu kommen, brauchte es physische Gewalt. Das, was in der distanzierten Sprache der Historiker als „Brutalisierung der Gesellschaft durch den Krieg“ genannt wird, war nichts anderes als eine allgemeine Absenkung der Hemmschwelle, individuell und kollektiv Gewalt einzusetzen. Für Hans-Ulrich Wehler haben, „die Zwangsgewöhnung an eine Brutalisierung“ und „jahrelanges Morden“ die Menschen derart verändert, dass sie in den Bürgerkriegen zwischen den konkurrierenden Lagern nach 1919 Gewalt als selbstverständliches Mittel ansahen.40 Das mag in vielen Fällen zutreffen, aber als Gesamterklärung erscheint die Brutalisierungs-These denn doch etwas zu simpel. Zum einen hat die Gewöhnung an all35
E. Wolfrum, Krieg und Frieden in der Neuzeit. Vom Westfälischen Frieden bis zum Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2003, S. 106 f. 36 Aufschlussreich über den „Krieg als inneres Erlebnis“: E. Jünger, Kriegstagebuch 1914 – 1918, hrsg. v. H. Kiesel, Stuttgart 2010. 37 R. Bessel, Die Heimkehr der Soldaten. Das Bild der Frontsoldaten in der Öffentlichkeit der Weimarer Republik, in: G. Hirschfeld et al. (Hrsg.), Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch … Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkrieges, Essen 1993, S. 225. 38 K. Knipp, Im Taumel. 1918 – Ein europäisches Schicksalsjahr, Darmstadt 2018, S. 34. 39 B. Bond, War and Society in Europe, 1870 – 1970, London 1984, S. 137. 40 H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914 – 1949, München 2003, S. 223.
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tägliche physische Gewalt im Krieg nicht alle Kriegsteilnehmer in gleicher Weise erfasst. Von einer „einfachen Kontinuität von den Schützengräben in die ideologischen Gewaltregime der 1920er und 1930er Jahre“ kann keine Rede sein.41 Sicherlich: die ersten faschistischen squadre in Italien waren „häufig deklassierte ehemalige Frontsoldaten, die sozialistische Zeitungsverlage, Büros und Kulturzentren überfielen oder politische Gegner verprügelten.“42 Der Kern der deutschen Freikorps wurde ebenfalls von früheren Weltkriegs-Soldaten gebildet. Aber seit dem Sommer 1919 rekrutierten sie auch viele Jugendliche, Kadetten, Schüler und Studenten, die nicht kriegsgedient waren. „Diese Gruppen waren besonders radikal, weil ihre militaristischen Vorstellungswelten nicht durch den Schock der Materialschlachten gebrochen worden war (sic).“43 Als ein Beispiel für die nachholende Weltkriegsbegeisterung kann etwa Ernst von Salomon gelten, Jahrgang 1902, zwischen 1913 und 1918 in einer Kadettenanstalt. Zu jung für den Krieg, aber nach seinem Ende sogleich Eintritt in ein Freikorps, das im Baltikum kämpfte.44 3. Versuche zur Eindämmung von Gewalt und Krieg In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird das Verhältnis zur Gewalt, sowohl im individuellen Bewusstsein und Verhalten, als auch für das Handeln von Staaten, durch widersprüchliche Vorgänge bestimmt. Einmal werden über den Ausbau des humanitären Völkerrechts (Haager Landkriegsordnung 1899, ergänzt 1907) und die Einrichtung eines „Völkerbundes“ (1920) mit dem Ziel eines weltumspannenden kollektiven Sicherheitssystems, das den Krieg als Austragungsform von Konflikten zwischen den Staaten wirksam eindämmen, ja in längerer Sicht eliminieren sollte, Dämme gegen die Gewalt gebaut. Aber dann sprengt es im Ersten Weltkrieg und den Jahrzehnten danach nicht nur diese Dämme weg, sondern die Rüstungstechnologie und die politischen Ideologien eröffnen immer umfassendere Möglichkeiten der Gewaltausübung. Im Rückblick muss auffallen, dass es damals nur ganz wenige Beobachter der Rüstungs- und Gewaltentwicklung gab, die, etwa unter Berücksichtigung des amerikanischen Bürgerkriegs 1861 – 1865, einigermaßen präzise Vorhersagen über die gleichzeitige Intensivierung und zeitliche Ausweitung des Kriegsgeschehens machten – und dabei von den Profis in den Generalstäben herablassend ignoriert wurden. Die Folgen konnte man im August 1914 bis zur Marneschlacht besichtigen. Diese Widersprüchlichkeit zwischen den Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Kriegsverhinderung auf der einen sowie der dynamischen Weiterentwicklung von Rüstungstechnologie und Kriegsformen auf der anderen Seite setzt sich bis in die Gegenwart fort. Unter dem Strich relativiert das zumindest die 41
J. Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014, S. 1012. 42 B. Barth (Anm. 18), Europa nach dem Großen Krieg, S. 48. 43 B. Barth (Anm. 18), Europa nach dem Großen Krieg, S. 53. 44 G. Fröhlich, Soldat ohne Befehl. Ernst von Salomon und der Soldatische Nationalismus, Paderborn 2018.
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These von der „Gewöhnung der Menschen an die Gewalt“. Die Impulse, die Gewalt und den Krieg einzuhegen, sind immer stark gewesen. Und besonders stark unmittelbar nach dem Ende der beiden Weltkriege. Wenn sie sich nicht durchsetzen konnten, ja oft das Gegenteil ihrer Absichten erreicht wurde, dann liegt das jeweils an der politischen Konstellation45. Die nun war in den kriegsteilnehmenden Ländern 1918/19 auf je spezifische Weise entstanden und entwickelte sich, trotz vieler Ähnlichkeiten und Parallelen, in der Zwischenkriegszeit auch auf je spezifische Weise weiter. Pfadabhängigkeit heißt der diesen Sachverhalt ausdrückende Fachbegriff. V. Der italienische Faschismus Italien gehörte 1918/19 zu den Siegermächten des Ersten Weltkriegs. Der Eintritt in den Krieg auf Seiten der Gegner Deutschlands und Österreich-Ungarns datiert vom Mai 1915. Zuvor hatte es im Land einen erbitterten Streit darüber gegeben, ob sich Italien aus dem Krieg heraushalten soll oder nicht. Dabei spielte die Irredenta, also der auch durch den Dreibund mit Deutschland und Österreich-Ungarn niemals überwundene Antagonismus zu Wien eine tragende Rolle. Begehrliche Blicke wurden auf Triest, Istrien, das Trentino und wohl auch schon auf Südtirol gerichtet. Mussolini, zunächst engagiert gegen den Krieg agitierend, wandelte sich im Herbst 1914 zu einem linken Interventionisten und flamboyanten Kriegsbefürworter, woraufhin er aus der Sozialistischen Partei ausgeschlossen wurde. Schon im Dezember 1914 gründete er die ersten „fasci d’azione rivoluzionaria“46, um „die Hohenzollern und die Scheidemanns“ zu schlagen.47 Die italienische Armee unterlag allerdings nach etlichen nicht sehr erfolgreichen Versuchen der territorialen Ausdehnung nach Norden im Oktober 1917 in der Schlacht bei Caporetto am Isonzo den Truppen Deutschlands und Österreichs deutlich. Im Frieden 1919 wurde Italien Südtirol, Istrien und Triest zugesprochen. Weitergehende Ansprüche in der östlichen Adria, in der Türkei und Afrika wurden hingegen in den Verhandlungen, die zum Friedensvertrag von Saint-Germain-en-Laye (10. 09. 1919) führten, abgelehnt. Das entfachte in Italien einen Sturm der Entrüstung, der ähnlich vehement war wie die Empörung in Deutschland über den Diktatfrieden von Versailles, was von außen und im Nachhinein mehr als nur ein bisschen irritiert.48
45 Vgl. etwa E. Conze, Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt, München 2018; J. Leonhard, Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918 – 1923, München 2018. 46 Das war keine organisatorische Innovation. Vielmehr geht die Bildung von fasci (Bund oder Bündel) auf eine längere Tradition unter italienischen Radikalen seit den 1870er Jahren zurück. 47 F. L. Carsten, Der Aufstieg des Faschismus in Europa, Frankfurt/M. 1968, S. 55. 48 G. Procacci, Geschichte Italiens und der Italiener, München 1989, S. 347.
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1. Der „verstümmelte Sieg“ Die Mehrzahl der Italiener glaubte sich um die Früchte des Sieges gebracht. Die Rede war vom „verstümmelten Sieg“. Die Verantwortung dafür wurde hauptsächlich den Alliierten zugesprochen, aber auch der eigenen Regierung, die sich jenen gegenüber nicht tapfer genug zur Wehr zu setzen schien. Auch die militärischen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs hinterließen viel Bitterkeit, zuweilen vermischt mit einem militanten Nationalismus. Der Militärdienst drückte vor allem und in überproportionalem Umfang „die arme und unterdrückte Bauernschaft des Südens (…) die noch nie in das nationale Leben integriert gewesen war.“49 Kaum verwunderlich also, dass sich nicht wenige dieser „halbanalphabetischen“ Bauern und Tagelöhner, enttäuscht wegen der nicht eingelösten politischen und ökonomischen Versprechungen der Regierung vom Beginn des Krieges und dann von der nationalistischen Propaganda auf heftige Empörung über die Siegermächte des Krieges und insbesondere Amerikas Präsidenten Wilson geeicht, in eine explosive quasi-revolutionäre Stimmung hineinsteigerten. Die Leninsche Revolution in Russland gewann viel Zustimmung unter den städtischen Arbeitern Norditaliens und unter den Bauern und Landarbeitern des Südens. Diese Stimmung wirkte wie eine mächtige Welle, auf der Mussolini geschickt surfte – mit einem überwiegend ,linken‘ Programm und nationalistischen Forderungen. Ob Mussolini zu diesem Zeitpunkt – Frühling 1919 – schon präzise politische Zukunftsvorstellungen besaß, mag man mit einigem Recht bezweifeln. Carsten zitiert eine römische Zeitung aus diesen Wochen, wonach die neuen fasci weder die herrschende Klasse noch den Staat verteidigen, sondern die revolutionären Kräfte ins nationalistische Lager führen wollten.50 Ob es einen solchen Plan gab, ist zweifelhaft, aber als Analyse der politisch-sozialen Vorgänge um die Gründung der faschistischen Bewegung klingt das stimmig. 2. Von Fiume (1919) nach Rom (1922) Es ist mehr als eine historische Anekdote: Die im Grunde ganz aberwitzige Besetzung von Fiume, der heute kroatischen Hafenstadt Rijeka, durch den damals sehr berühmten, aber stets skandalumwitterten Schriftsteller Gabriele d’Annunzio (1863 – 1938), einem Hasardeur und ausgeprägten Egomanen, und mehreren tausend ehemaligen Soldaten – also nunmehrigen Freischärlern – am 12. September 1919. Das bis 1918 ungarische Fiume war neben Triest und dem Kriegshafen Pola der größte und wichtigste Hafen der k.u.k. Monarchie, außerdem Werftstandort. Die Besetzung von Fiume dauerte über ein Jahr und setzte in Italien unter den Nationalisten eine enorme Euphorie frei.51 Sie vertiefte den politischen Abstand zwischen dem 49
S. Payne (Anm. 8), Geschichte des Faschismus, S. 119. F. L. Carsten (Anm. 46), Der Aufstieg des Faschismus in Europa, S. 58. 51 Näheres bei H. U. Gumbrecht/F. Kittler/B. Siegert (Hrsg.), Der Dichter als Kommandant. D’Annunzio erobert Fiume, München 1996. 50
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Land und den anderen Siegermächten des Krieges, befeuerte im Innern bürgerkriegsähnliche Stimmungen und Verhaltensweisen und zeigte die Handlungsschwäche der legitimen Staatsführung. In dieser giftigen Atmosphäre wurde die Vorstellung geboren, mit einem „Marsch auf Rom“ ließe sich die Regierungsmacht im Handstreich erobern. Mit Freischaren operierten auch andere Länder, zum Beispiel Polen 1920 bei der Besetzung des Wilna-Gebietes (was das uralte Verhältnis zu Litauen jahrelang vergiftete), ferner Litauen selbst 1923 im Memelland. Die Fiume-Aktion von d‘Annunzio trug aber eine besonders spektakuläre Note. Dass die Vorstellung eines schnellen Staatsstreiches in Rom realistischer war, als es zunächst schien, bewies dann nicht der dekadent-schrille d’Annunzio, sondern nach etlichen Wahlen und vergeblichen Versuchen der Regierung, die sozialen und politischen Spannungen herunterzufahren, Ende Oktober 1922 Mussolini. Seine faschistische Bewegung gelangte so fast ohne Gegenwehr des politischen Establishments in der Hauptstadt an die Macht.52 VI. Aufstieg des Nationalsozialismus Anders als Italien stand Deutschland am Kriegsende auf der Verliererseite. Die Erbitterung über das in den Friedensverträgen ausgehandelte Kriegsfolgen-Ergebnis schlug in beiden Ländern hohe Wellen. Es ist müßig darüber zu streiten, wo die Empörung sozusagen objektiv gerechtfertigter war, in dem Siegerland, das trotz aller territorialen Gewinne wegen einiger enttäuschter Erwartungen nur die Verstümmelung des Sieges wahrnahm, oder in dem Verliererland, das zusätzlich zu den territorialen Verlusten auch noch die moralische und politische Alleinschuld am Ersten Weltkrieg aufgebürdet bekam. Das eigentümliche Gemisch aus revolutionären Erwartungen53, inner-sozialistischen Polarisierungen, anti-revolutionärem Groll, aus nicht nur nationalistisch motivierter Empörung über die Behandlung Deutschlands durch die Siegermächte, wirtschaftlichen Schwierigkeiten und dem Wunsch der militärischen Führung, die Verantwortung für den verlorenen Krieg mittels der Dolchstoßlegende54 auf die Heimatfront abzuwälzen, hatte erhebliche und lang anhaltende politische Turbulenzen zur Folge.
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W. Schieder, Der italienische Faschismus 1919 – 1945, München 2010. Was genau die Menschen sich in dieser Zeit unter ,revolutionär‘ vorstellten, kann hier im Vagen bleiben. Aber es ist bezeichnend, dass bis heute Uneinigkeit darüber herrscht, ob man den Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik eine Revolution nennen kann/soll. Von der Begabung der Deutschen zur Revolution hat etwa Lenin wenig gehalten (BahnsteigkartenAnekdote), und er war auf diesem Gebiet gewiss eine Autorität. 54 G. P. Groß, Das Ende des Ersten Weltkriegs und die Dolchstoßlegende, Stuttgart 2018. 53
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1. Prekäre Balance zwischen den Extremen Immerhin ist festzuhalten, dass diese Turbulenzen und Polarisierungen eben nicht wie in Italien zu einer frühen Machtübernahme des Faschismus/Nationalsozialismus führten. Weder der Kapp-Putsch im März 1920 noch der offensichtlich nach dem Vorbild Mussolinis geplante Putschversuch von Hitler und Ludendorff am 8./9. November 1923 waren erfolgreich. In der Folgezeit gab es durchaus bemerkenswerte Stabilisierungsmaßnahmen der Regierungen in Berlin, wenn sie auch stets prekär blieben. Schließlich war es dann ab 1929 nicht zuletzt die wegen der internationalen Verkettung der kapitalistischen Volkswirtschaften sich rasch ausbreitende Wirtschaftskrise, die allen vorherigen Stabilisierungen den Teppich unter den Füßen wegzog. Allerdings blieb in den Weimarer Republik auf fast allen Seiten, besonders auf den äußeren Flügeln des politischen Parteiensystems, die Bereitschaft zum Einsatz von Gewalt bestehen. Ja, sie wuchs mit dem Verblassen des ohnehin nur kurzen ,pazifistischen Moments‘ nach Kriegsende noch weiter an. Es ist allerdings fraglich, ob das Gewalt-Vermächtnis der frühen Weimarer Republik ihren späteren Zusammenbruch gewissermaßen präjudizierte.55 Am Beginn der Nachkriegszeit stand zunächst die paramilitärische Verteidigung eigener nationaler Interessen gegen den antideutschen Druck im Baltikum sowie bei den neuen Grenzziehungen gegenüber Polen und der Tschechoslowakei im Vordergrund. Die Konflikte verschoben sich jedoch rasch ins Innere und eskalierten in bürgerkriegsähnliche Konstellationen mit links/rechtsPolarisierung. Übrigens unter Einbeziehung internationaler Komponenten, denn bekanntlich war das politische und paramilitärische Agieren der extremen Linken in starkem Maße von der bolschewistischen Politik in Russland bestimmt. Spiegelbildlich spielte der Antikommunismus bei der extremen Rechten eine wichtige Rolle. Auch die Sozialdemokratie stand der KPD feindselig gegenüber, was auf lokaler Ebene kleinere Bündnisse mit ihr nicht ausschloss, denn die „Einheit der Arbeiterklasse“ galt den einen wie den anderen als wichtiger Mythos – bei den Sozialdemokraten eher verträumt-idealistisch, bei den Kommunisten mit der durchaus praktischen Perspektive einer ,feindlichen Übernahme‘. 2. Konkurrenz gefährlicher Utopien Im Vordergrund der Auseinandersetzungen insbesondere gegen Ende der Weimarer Republik stand indes der Wettbewerb von Nationalsozialismus und Kommunismus. Dieser Gedanke von der Konkurrenz, die bis zu tödlicher Feindschaft eskalieren konnte, bei gleichzeitiger struktureller Ähnlichkeit bestimmter Erwartungen und dem Vorhandensein von auch den Beteiligten wenigstens halb bewussten ideologischen Brücken über die politischen Abgründe zwischen ihnen, verdient eine nähere Überprüfung. Tatsächlich hat es ja über solche Brücken immer mal wieder ein biss55 M. Jones, Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik, 3. Aufl., Berlin 2018, S. 13.
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chen Pendelverkehr gegeben. Man kann es auch so ausdrücken: „Zur Unübersichtlichkeit nach dem Krieg gehört (…) eine spannungs- und konfliktreiche Konkurrenz neuer Utopien“.56 Utopien sind potentiell immer gefährlich, für klares Denken und mehr noch für verantwortliches Handeln. Die politischen Langzeitvisionen und -programme der beiden Weltpolitik-Entwürfe auf der extremen Linken und der extremen Rechten waren hoch-toxische Utopien. Jede für sich, aber mehr noch in ihrem prekären Zusammenwirken als eine Art ideologische Zange, mit deren Hilfe den dezidiert nicht-utopischen (Real-)Entwürfen für die Entwicklung von Gesellschaft, Staat und Politik die Luft genommen wurde. Wenn der Kapitalismus nur als Quelle von Ausbeutung erscheint, die parlamentarische Demokratie nur als Schwatzbude, der Liberalismus nur als Inbegriff der Schwächlichkeit, dann sind die Chancen, das Gemeinwesen kaputt zu machen, ziemlich groß. Dass solche Sichtweisen nicht nur an den Rändern des politischen Spektrums weit verbreitet waren, vielmehr bis in die bürgerliche Mitte hinein Resonanz fanden, führen einige Autoren direkt auf den Krieg zurück. Der Zusammenhang bleibt dabei allerdings unklar, wenn es etwa heißt, der Krieg habe „das hohe moralische und humanitäre Ethos“ vernichtet, aus dem die ,Kulturnationen‘ zu leben meinten“.57 3. Bitterkeit und Revanchismus Das mag einerseits stimmen. Andererseits wurde gerade auch die Nachkriegsordnung mit hohem moralischem und humanitärem Ethos ausgeschmückt. Aber wenn man daran klopfte, klang es hohl. Vielleicht ist es hier vor allem die Lücke zwischen den eigenen Kriegserfahrungen, der moralischen Attitüde der Politiker aus den Staaten der Siegermächte und der realpolitischen Selbstbezogenheit ihrer Interessenpolitik, die in Deutschland revanchistische Emotionen und Einstellungen bis weit in die Mitte hinein befeuerte. Die Bitterkeit der Niederlage machte sich in allen politischen Lagern bemerkbar. Selbst wer den Trick von der „Dolchstoßlegende“ und den Slogan „im Felde unbesiegt“ durchschaute58, konnte die politischen und wirtschaftlichen Lasten, die Deutschland von den Siegermächten auferlegt wurden, nicht für gerechtfertigt halten. Und noch weniger die Zuweisung der alleinigen Schuld am Kriege. Änderungen der Versailler „Friedens“-Ordnung strebten viele politische Kräfte an. Knallharten Revanchismus konnte man indes im Umfeld der rechtsnationalistischen Strömungen und des Nationalsozialismus am besten.
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J. Leonhard (Anm. 41), Die Büchse der Pandora, S. 1007. G. Besier, Das Europa der Diktaturen. Eine neue Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2006, S. 17. 58 G. P. Groß (Anm. 53), Das Ende des Ersten Weltkriegs und die Dolchstoßlegende. 57
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VII. Fazit: Die Destruktivität der Nachkriegsordnung Drei auf unterschiedlichen Erfahrungsebenen angesiedelte Wirkfaktoren haben den Hauptanteil daran, dass im Europa nach 1918/19 die große Vision einer den Krieg moralisch und politisch-institutionell überwindenden Staatengemeinschaft von Demokratien so kläglich gescheitert ist59. - Die Nachkriegsordnung beruhte nicht auf einem gesichtswahrenden Ausgleich zwischen Siegern und Besiegten60, vielmehr auf Absprachen und Kompromissen ausschließlich unter den Siegermächten. Das Ergebnis war ein „überforderter Frieden“.61 - Mit dem Auftritt des Bolschewismus in Russland entstand, ganz unabhängig vom akuten Bedrohungsgehalt seiner weltrevolutionären Zielsetzungen, ein machtund ordnungspolitischer Gegensatz, der nicht einfach zwischenstaatlicher Natur war, sondern proaktiv und folgenreich in die Gesellschaften hineinwirkte. Das löste in allen Ländern Europas innenpolitische Polarisierungen aus, die in Einzelfällen zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen eskalierten. Von diesen Polarisierungen profitierten linke und rechte extremistische Strömungen am meisten. - Schließlich lässt sich der Einfluss des Ersten Weltkriegs auf Faschismus und Nationalsozialismus nicht leugnen. Wie stark dieser Einfluss aus welchem Erfahrungskreis im Kriege heraus sich auf den Aufstieg dieser beiden Regime ausgewirkt hat, bleibt hingegen unbestimmt. Eindeutige Aussagen müssen misstrauisch machen, weil zu offensichtlich propagandistische Instrumentalisierungen beabsichtigt sind. Aber keiner dieser Faktoren allein hätte den italienischen Faschismus oder den Nationalsozialismus in Deutschland an die Macht bringen können. Die unangemessene Friedensordnung der Pariser Vorortverträge ist an vielen Stellen sogleich wieder durchlöchert worden. Sie milderte kaum, verschärfte aber viele Konflikte. Allerdings war sie auch wiederum nicht derart destruktiv, dass sie alle kooperativeren Konfliktbearbeitungen und alle Annäherungen früherer Kriegsgegner
59 Einmal ganz abgesehen davon, ob eine solche Vision auch unter günstigeren Umständen Realisierungs-Chancen hätte. 60 In der Vergangenheit gibt es viele erhellende Beispiele dafür, dass Friedensregelungen, wenn sie halten sollen, eben nicht nach dem Prinzip des the winner takes all konstruiert sein dürfen. Das hätte man 1919 etwa an den Verhandlungsergebnissen des Wiener Kongresses (1814/15) studieren können. 61 J. Leonhard (Anm. 45), Der überforderte Frieden; ferner: H.-C. Kraus, Versailles und die Folgen. Außenpolitik zwischen Revisionismus und Verständigung 1919 – 1933, Bonn 2014.
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unmöglich gemacht hätte. Die Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen in der leider nur kurzen Ära von Briand und Stresemann bezeugt das.62 Der Bolschewismus blieb im ersten Jahrzehnt nach der russischen Revolution trotz seiner internationalistischen Rhetorik und der geschickt geführten Außenpolitik machtpolitisch schwach. Er weckte zwar Bedrohungsängste, die von seinen Gegnern innenpolitisch ausgenutzt werden konnten. Er gewann zudem, nicht nur wegen der Schwächen bürgerlicher Politik und vor allem auch Wirtschaftspolitik, zeitweise beträchtlichen ideologischen Rückhalt bei zahlreichen Menschen in den demokratischen Ländern, die sich viel auf ihr politisches Urteilsvermögen einbildeten63. Aber wenn auch der rasche Aufstieg des Faschismus in Italien und die Ausbildung und spätere Machtergreifung des Nationalsozialismus in Deutschland durch den verbreiteten Antikommunismus befördert wurden, darf man die Treibkraft dieser Motivation doch nicht überschätzen. In manchen Schulbüchern aus der NS-Zeit wird der Erste Weltkrieg zur „Geburtsstunde eines neuen Menschen“ stilisiert und behauptet, er sei ein großer und notwendiger Opfergang gewesen, der „die seelische und geistige Wiederauferstehung unseres Volkes“ im Nationalsozialismus bewirkt habe (so die Zeitschrift „Nationalsozialistische Erziehung“64). Das ist aber nichts als Geschwätz. Den innersten Kern der Fronterfahrung bildete der Überlebenskampf, den man in der Regel nicht individuell organisieren und bestehen konnte, sondern nur im permanent auf das Heftigste bedrohten Kollektiv der Gruppe. Dies setzte einen besonderen élan vital in Kraft, der, verbunden mit einer lakonischen Solidarität am Abgrund von Tod und Verstümmelung, nach Ende des Krieges nicht einfach verglühte. Vielmehr wurde er bei vielen in einen Aktivismus gegen die Nachkriegszeit transformiert, die als den eigenen Opfern und denen der Kameraden unwürdig bekämpft wurde.65 In den turbulenten Monaten nach Kriegsende, die in den Jahren danach aus verschiedenen (z. B. wirtschaftlichen) Gründen ihre destruktive Dynamik immer mal wieder erneuerten, schob sich die Figur des enttäuschten, sich irgendwie verraten fühlenden Frontkämpfers als Akteur in den gewaltsamen Auseinandersetzungen in den Vordergrund. Aber ebenso wenig, wie man Faschismus und Nationalsozialismus eindeutig und bruchlos vom Nationalismus her erfassen kann, kann man einen eindeutigen und bruchlosen Übergang vom Typus des Frontkämpfers zum Faschismus und Nationalsozialismus herstellen. 62
P. Krüger, Das unberechenbare Europa. Epochen des Integrationsprozesses vom späten 18. Jahrhundert bis zur Europäischen Union, Stuttgart 2006. 63 Die Anfälligkeit gerade von Intellektuellen für die totalitären Ideologien und Regime ist ein Dauerthema der zeitbezogenen politischen Ideengeschichte. Wirklich schlüssige Erklärungen stehen noch aus. 64 R. Bendick, Zur Wirkung und Verarbeitung nationaler Kriegskulturen. Die Darstellung des Ersten Weltkriegs in deutschen und französischen Schulbüchern, in: G. Hirschfeld et al. (Hrsg.), Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs, Essen 1997, S. 418. 65 G. L. Mosse, Einführung: Die Entstehung des Faschismus, in: W. Laqueur/G. L. Mosse (Hrsg.), Internationaler Faschismus 1920 – 1945, München 1966, S. 33.
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Die Aussage: Ohne den Ersten Weltkrieg keinen Faschismus und keinen Nationalsozialismus, kann nur als banale Feststellung einer Zeitfolge Geltung beanspruchen. Erst das Zusammenwirken sehr verschiedener Faktoren machte die Nachkriegskonstellation in den 1920er Jahren so brisant. Am Anfang dieses Jahrzehnts standen bittere Enttäuschungen, utopische Hoffnungen, utopische Hoffnungslosigkeit (beides durch erhöhte Gewaltbereitschaft unterfüttert) und eine leicht durchschaubare Selbstbezogenheit der Siegermächte – eine Gemengelage, die Chaos und politische Kuriositäten (wie in Fiume) begünstigte. An seinem Ende verdunkelte dann die internationale Verkettung der Krisen wichtiger Volkswirtschaften auch noch die wenigen, durchaus nicht gering zu schätzenden Ansätze zu einer weltpolitischen Konsolidierung. * Abstract Wilfried von Bredow: The Impact of World War I on Fascism and National Socialism (Der Einfluss des Ersten Weltkriegs auf Faschismus und Nationalsozialismus), in: World War I and its Consequences for the Coexistence of Peoples in Central and Eastern Central Europe, vol. 3 (Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Bd. 3), ed. by Gilbert H. Gornig and Adrianna A. Michel (Berlin 2020), pp. 241 – 261. Millions of dead and wounded soldiers, cities in ruins, and severely mitigated economies – these are the results of World War I, which affected the societies of all participant countries, some more, some less. The general exhaustion generated hopes for a future without war and without autocratic political regimes. These hopes faded quickly away. The inter-war period was, on the contrary, characterized by the failure of newly institutionalized democratic regimes in many European states and by the rise of authoritarian regimes, fascist movements and, in Germany, National Socialism. Are fascism and National Socialism the inevitable consequence of the brutal de-humanization process, which blackened the collective war experience on so many battlefields? The early success of fascism in Italy and later of National Socialism in Germany, it is argued, cannot be solely attributed to the influence of the war experience between 1914 and 1918. In both (different) cases many more historic, cultural, and social parameters must be taken into account.
Die Autoren / The Authors Dr. Roland Banken Persönliche Angaben / Personal Data: Roland Banken (geboren 1976 in Siegen): 2003 – 2007 Studium der Rechtswissenschaften an der Philipps-Universität Marburg; 2000 – 2004 Studium der Geschichte, Sozialwissenschaften und Anglistik an der Universität Siegen mit einem einjährigen Studienaufenthalt 2002/03 an der University of Ulster in Coleraine, Vereinigtes Königreich. 2007 Erstes Juristisches Staatsexamen; 2008/09 Ergänzungsstudium an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. 2013 Promotion im Völkerrecht bei Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Gilbert H. Gornig in Marburg. Nach Abschluss des Zweiten Juristischen Staatsexamens in Nordrhein-Westfalen 2010 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich für Strafrecht und Strafprozessrecht von Prof. Dr. Gabriele Zwiehoff an der FernUniversität Hagen mit einem Forschungsschwerpunkt zur Geschichte der Strafprozessordnung und Strafgerichtsverfassung. Seit 2012 ist er juristischer Referent im Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw) in Koblenz, seit 2015 Oberregierungsrat. Roland Banken (born 1976 in Siegen): Study of Law at the Philipps-University of Marburg and study of History and Social Sciences in Siegen, accompanied by a one-year study-visit at the University of Ulster in Coleraine/U. K. First legal graduation in 2007; 2008/09 postgraduate studies of Public Service Management Sciences at the German University of Administrative Sciences in Speyer; 2013 doctorate in Public International Law (Prof. Dr. Dr. h. c. mult. G. H. Gornig) in Marburg. After finishing the practical legal training in North Rhine-Westfalia in 2010 he has been member of the research staff for Criminal Law and Criminal Procedure Law of Prof. Dr. G. Zwiehoff at the FernUniversität Hagen with a research focus on history of the German criminal procedure law. Since 2012 he is working as Jurist at the The Federal Office of Bundeswehr Equipment, Information Technology and In-Service Support (BAAINBw) in Coblence.
Publikationen / Publications: Länderbeitrag Schweden, in: Neu, Michael/Gieler, Wolfgang/Bellers, Jürgen (Hrsg.), Handbuch der Außenwirtschaftspolitiken: Staaten und Organisationen, Teilband 2, Münster 2004, S. 778 ff.; Die sowjetisch-chinesischen Beziehungen von 1949 – 1969 im Rahmen der weltweiten Interdependenz. Entstehung, Wandel und Verfall des Bündnisses zwischen beiden kommunistischen Mächten, Münster 2005; Partnerschaft mit Kalkül – Zum Verhältnis Chinas und Russlands, in: WeltTrends, Zeitschrift für Internationale Politik, Nr. 53, 2007, S. 45 ff.; Die Verträge von Sèvres 1920 und Lausanne 1923. Eine völkerrechtliche Untersuchung zur Beendigung des Ersten Weltkriegs und zur Auflösung der sogenannten „Orientalischen Frage“ durch die Friedensverträge zwischen den alliierten Mächten und der Türkei, Münster 2014.
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Die Autoren / The Authors
Kontaktadresse / Contact Address: Dr. iur. Roland Banken E-Mail: [email protected]
*** Professor Dr. Norbert Bernsdorff Persönliche Angaben / Personal Data: Norbert Bernsdorff (geb. 1954): Studium der Rechtswissenschaften und Sozialwissenschaften in Göttingen; 1980 Erste Juristische Staatsprüfung; 1985 Promotion zum Dr. jur.; 1987 Große Juristische Staatsprüfung; 1988 – 1992 Richter am Verwaltungsgericht Hannover; 1992 – 2004 Richter am Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen; 1994 – 1999 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht; 2000 – 2004 Referatsleiter im Niedersächsischen Ministerium der Justiz; 2004 – 2018 Richter am Bundessozialgericht in Kassel; seit 2015 Honorarprofessor an der Philipps-Universität in Marburg; mehr als 30 Aufenthalte in Mexiko, Zentral- und Südamerika. Norbert Bernsdorff (born 1954): studied law and social sciences in Göttingen; 1980 First state examination; 1985 Ph.D. jur.; 1987 Great State Law Examination; 1988 – 1992 judge at the Administrative Court Hanover; 1992 – 2004 judge at the Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen; 1994 – 1999 Researcher at the Federal Constitutional Court; 2000 – 2004 Head of Unit at the Lower Saxony Ministry of Justice; 2004 – 2018 Judge at the Federal Social Court in Kassel; since 2015 Honorary Professor at the Philipps University in Marburg; more than 30 stays in Mexico, Central and South America.
Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Europäische Grundrechte, europäisches Sozialrecht, allgemeine Fragen des Sozialversicherungsrechts mit Bezügen zum Verfassungsrecht, Mitgliedschafts- und Beitragsrecht; ausländisches Recht (Lateinamerika). European fundamental rights, European social law, general questions of social security law with references to constitutional law, membership and contribution law; foreign law (Latin America).
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Admisibilidad y limites de la critica por titulares de cargos publicos a las decisiones del Tribunal Constitutional Federal Aleman y de la Corte Suprema de Justicia de Paraguay, in: Anuario de Derecho Constitucional Latinoamericano, Konrad-Adenauer-Stiftung, CIEDLA, Edicion 1999 (gemeinsam mit Ramon Isasi-Cortazar); Se encuentra afectada la funcionalidad de la Corte Constitucional Federal?, in: Anuario de Derecho Constitucional Latinoamericano, CIEDLA, Edicion 2000; Actos y decisiones que exceden las competencias de una organizacion international: Nulidad o anulabilidad?, in: Anuario de Derecho Constitucional Latinoamericano, CIEDLA, Edicion 2001; Strafschadensersatz: algunas reflexiones sobre su ejecucion desde
Die Autoren / The Authors
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el punto de vista teorico y practico, in: Anuario de Derecho Constitucional Latinoamericano, CIEDLA, Edicion 2002 (gemeinsam mit Jayme Evros Ayala); Das Bolivianische Gesetz zur Regelung des Fabrikmarkenrechts vom 15. Januar 1918, Übersetzung und Erläuterungen, Veröffentlichungen der Deutsch-Bolivianische Industrie- und Handelskammer, 1986; Patentrecht in Bolivien – Die rechtlichen Grundlagen, Übersetzung und Erläuterungen, Veröffentlichungen der Deutsch-Bolivianische Industrie- und Handelskammer, 1993.
Kontaktadresse / Contact Address: Prof. Dr. Norbert Bernsdorff Philipps-Universität Marburg Fachbereich Rechtswissenschaften Savigny-Haus Universitätsstr. 6 35037 Marburg Deutschland
*** Professor Dr. Dr. h.c. Wilfried von Bredow Persönliche Angaben / Personal Data: Geboren 1944 auf Schloss Heinrichsdorf, Kreis Neustettin; Abitur Düsseldorf 1962; Bundeswehr 1962 – 1964; Studium der Politischen Wissenschaft, Soziologie und Literaturwissenschaft an den Universitäten Bonn und Köln; Promotion Bonn 1969; Wiss. Assistent/Akademischer Rat am Seminar für Politische Wissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn 1969 – 1972; Professor für Politikwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg 1972 – 2009; Vizepräsident der Philipps-Universität 1975 – 1977; längere Forschungsaufenthalte und Gastprofessuren u. a. in Oxford, Toulouse, Lille, North Manchester (Indiana), Toronto, Saskatoon (Saskatchewan), Chiayi (Taiwan); John F. Diefenbaker Award des Canada Council 1994; Dr. h.c. der Wilfrid Laurier University, Waterloo (Ontario) 1999; Senior Fellow am A. Krupp Wissenschaftskolleg in Greifswald 2008/2009; 2010 – 2017 Professor an der Geneva Graduate School of Governance. Born in 1944 at Heinrichsdorf Castle, Neustettin; High school diploma Düsseldorf 1962; Military service 1962 – 1964; studied Political Science, Sociology and Literary Studies at the Universities of Bonn and Cologne 1964 – 1968; Ph.D in Political Science at the Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn 1969; research assistant at the Seminar for Political Science at Bonn university 1969 – 1972; Professor for Political Science at Philipps-University Marburg 1972 – 2009; Vice President of the university 1975 – 1977; extended research periods and visiting professorships at, among other, Oxford (U.K.), Toulouse and Lille (France);North Manchester (Indiana, USA), Saskatoon and Toronto (Canada), and Chiayi (Taiwan); John F. Diefenbaker Award of the Canada Council 1994; Dr. h.c. – Wilfrid Laurier University, Waterloo (Canada); Senior Fellow at A. Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald 2008/2009; 2010 – 2017 professor at the Geneva Graduate School of Governance.
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Die Autoren / The Authors
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Veröffentlichungen zum Ost-West-Konflikt, zur Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands und Kanadas, zum Verhältnis Militär/Gesellschaft und zur politischen Theorie. Jüngere Buchveröffentlichungen: Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 20082 ; Politische Urteilskraft (mit Thomas Noetzel), Wiesbaden 2009; Grenzen. Eine Geschichte des Zusammenlebens vom Limes bis Schengen, Darmstadt 2014; Sicherheit, Sicherheitspolitik und Militär. Deutschland seit der Vereinigung, Wiesbaden 2015; Geschichte der Bundeswehr, Berlin 2017.
Kontaktadresse / Contact Address: Prof. Dr. Dr. h.c. Wilfried von Bredow Frankenberger Straße 4 D-35094 Lahntal E-Mail: [email protected]
*** Professor Dr. (NTU) Georg Gesk (
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Persönliche Angaben / Personal Data: Georg Gesk (geboren 1963 bei Tübingen): 1984 – 1986 Studium der Sinologie und Geographie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen; 1987 – 1993 LLB-Studium an der Nationalen Taiwan Universität, 1993 – 2000 kombiniertes Master- und Promotionsstudium am Institut für Sun Yatsenismus an der juristischen Fakultät der Nationalen Taiwan Universität, das mit einer chinesischen Promotionsschrift über den Eigentumsbegriff im Recht der VR China abgeschlossen wurde. 2000 – 2001 Assistent-Professor am Overseas Chinese Institute of Technology (Taichong/Taiwan); 2001 Wechsel an die Hsuan Chuang Universität (Hsinchu/Taiwan); dort seit 2008 Associate-Professor; seit 2013 Professor; seit 2008 Chairman des Department of Law. 2015 dank großzügiger Förderung durch die Sievert Stiftung für Wissenschaft und Kultur Wechsel auf den Stiftungslehrstuhl für chinesisches Recht an der Universität Osnabrück. Seither Engagement für den Rechtsdialog zwischen Deutschland und China. Zahlreiche Lehraufträge in der VR China und Taiwan. Georg Gesk (born 1963 near Tübingen): 1984 – 1986 study of sinology and geography at Eberhard-Karls-University Tübingen; 1987 – 1993 LLB at National Taiwan University, 1993 – 2000 combined LLB and PhD studies at the Institut for Sun Yatsenism at the National Taiwan Universty Law School; PhD thesis on the notion of property rights in the law of the PRC in Chinese language. 2000 – 2001 Assistent-Professor at Overseas Chinese Institute of Technology (Taichong/Taiwan); 2001 change to Hsuan Chuang University (Hsinchu/Taiwan); since 2008 Associate-Professor; since 2013 Professor; since 2008 Chairman of the Department of Law. Appointed as first Chair for Chinese Law at Osnabrück University in 2015, (sponsored by Sievert Foundation for Science and Culture). Active role in legal dialogue between Germany and China. Adjunct professor at various universities in China (and Taiwan).
Die Autoren / The Authors
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Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Chinesisches (und taiwanisches) Straf- und Strafprozessrecht, Recht der Digitalisierung in China, Rechtstheorie Chinese (and Taiwanese) Criminal Law and Criminal Procedure Law, Digitalization and Law in China, legal theory
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Georg Gesk, Arndt Sinn (Hg), Organisierte Kriminalität und Terrorismus. Rechtsdialog Deutschland – China, 2019; Eine semiotische Analyse des Eigentumsbegriffs in den Gesetzes), 2000; normen der VR China ( Zensur in China – Meinung als politisches Instrument, in: Bösling et al (Hg), Eine Zensur findet (nicht) statt, Göttingen, 2019, S. 31 – 43; Georg Gesk, Viola Schmid, Voraussetzungen und Chancen des ,Internet Court‘ in Hangzhou/China – ein Modell?, in: Schwaighofer, Kummer, Saarenpää (Hg), IRIS 2019 – Internet of Things, Bern, 2019, S. 425 – 430; Justice in Criminal ), in: Chen Guangzhong Sentencing and Role of the Judge ( ( ) (Hrsg.), Fair Trial Principle and Deal in Criminal Procedure in China and Germany ( ), Beijing, 2018, S. 408 – 446; §§ 59 – 69b StGB ( 59 69b ), in: Lin Tongmao ( ) et al. (Hrsg.), Das deutsche Strafgesetzbuch – Übersetzung und Kommentar ( ), Taipei, 2018, S. 85 – 150; Viola Schmid, Georg Gesk, Christoph Merkelbach, A Standard for a Universal (Technology) Lecture in a German Initiative Reaching out to Europe, China and the USA in Cyberspace and (Technology) Law, http://www.nyls.edu/innovation-center-for-law-and-technology/wp-con tent/uploads/sites/176/2018/03/Schmid_Gesk_Merkelbach_2018_2_26_A_Law_Lecture-Vio la-Schmid.pdf; Reflektion über Reform und Reorganization des Strafgerichts ( ), in: FS für Yu Chen-Hua, Taipei, 2017, 408 – 446; Strukturveränderungen chinesischer Verfassungsmodelle, in: FS Mechthild Leutner, Frankfurt, 2016, S. 447 – 464; Justizielle Realität von Verbrechen durch Unternehmen und das Verbot der Doppelsanktionierung in ), in: FS Lai Lai-Kun ( Taiwan ( ), Taipei, 2016, S. 679 – 696.
Kontaktadresse / Contact Address: Prof. Dr. (NTU) Georg Gesk Universität Osnabrück Fachbereich Rechtswissenschaft Professur für chinesisches Recht Gefördert von der Sievert Stiftung für Wissenschaft und Kultur Katharinenstr. 13 49076 Osnabrück Deutschland E-Mail: [email protected]
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Die Autoren / The Authors
*** Professor Dr. Dr. h. c. mult. Gilbert H. Gornig Persönliche Angaben / Personal Data: Gilbert H. Gornig (geb. 1950): Studium der Rechtswissenschaften und Politischen Wissenschaften in Regensburg und Würzburg; 1984 Promotion zum doctor iuris utriusque in Würzburg (Prof. Dr. D. Blumenwitz); 1986 Habilitation; Lehrstuhlvertretungen in Mainz, Bayreuth und Göttingen; 1989 Direktor des Instituts für Völkerrecht an der Universität Göttingen und 1994 – 1995 Dekan; seit 1995 Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Philipps-Universität Marburg und Geschäftsführender Direktor des Instituts für öffentliches Recht. Er war Dekan von 2006 bis 2012. Von 1996 bis 2004 war er zudem Richter am Hessischen Verwaltungsgerichtshof in Kassel. Er ist Präsident der Danziger Naturforschenden Gesellschaft, des Göttinger Arbeitskreises und der Marburger Juristischen Gesellschaft; er lehrt als Gastprofessor an zahlreichen ausländischen Universitäten. Pensionierung Frühjahr 2016. Gilbert Gornig (born 1950): Studies in Law and Political Sciences in Regensburg and Würzburg; became a Doctor of Law (iuris utriusque) in Würzburg in 1984 (Prof. Dr. D. Blumenwitz); habilitation 1986; lecturer in Mainz, Bayreuth and Goettingen; 1989 Director of the Institute of Public International Law at the University of Göttingen, Dean of the Faculty 1994/95; since 1995 Professor for public law, public international and European law at the Philipps University of Marburg, at the same time being the Executive Director of the Institute of Public Law. He was Dean 2006 up to 2012. Between 1996 and 2004 also Judge at the Higher Administrative Court of Hessen in Kassel. He is President of the Danziger Naturforschende Gesellschaft, of the Goettinger Arbeitskreis and the Marburger Juristische Gesellschaft. He teaches as a guest professor in numerous foreign universities. Retirement Spring 2016.
Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Staatsrecht, Völkerrecht, Europarecht, Verwaltungsrecht. Constitutional Law, International and European Law, Administrative Law.
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Die sachbezogene hoheitliche Maßnahme, 1985; Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 1988; Der Hitler-Stalin-Pakt, 1990; Das Memelland, 1991; Staatennachfolge und die Einigung Deutschlands, 1992; Das Nördliche Ostpreußen, 2. Aufl. 1996; Hongkong. Von der britischen Kronkolonie zur chinesischen Sonderverwaltungszone. Eine historische und rechtliche Betrachtung unter Mitarbeit von Zhang Zhao-qun, 1998; Das rechtliche Schicksal der Danziger Kulturgüter seit 1939 – 45 am Beispiel der Naturforschenden Gesellschaft zu Danzig, 1999; Territoriale Entwicklung und Untergangs Preußens, 2000; Seeabgrenzungsrecht in der Ostsee, 2002 (zusammen mit Gilles Despeux); Völkerrecht und Völkermord, 2002 (Nachdruck 2003); @aQS_ 6Sa_`Zb[_T_ B_oXQ. 6Sa_`VZb[YV B__RjVbcSQ. @aQS_S_p XQjYcQ S B__RjVbcSQf. ?cSVcbcSV^^_bcm T_bdUQabcS-dhQbc^Y[_S, =_b[SQ, BQ^[c-@VcVaRdaT, þYW^YZ þ_ST_a_U, 3_a_^VW, A_bc_S-^Q-5_^d, 6[QcVaY^RdaT, BQ]QaQ, þ_S_bYRYab[, ;YVS, FQam[_S, =Y^b[ (Recht der Europa¨ischen Union. Europa¨ische Gemeinschaft. Rechtsschutz in der Gemeinschaft. Verantwortung der Mitgliedstaaten), 2005 (zusammen
Die Autoren / The Authors
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mit Oxana Vitvitskaja) (Russisch); Der unabha¨ngige Allfinanz-Vertrieb, 2. Aufl. 2007 (zusammen mit Frank Reinhardt); Fa¨lle zum Polizei- und Ordnungsrecht, 4. Aufl. 2014 (zusammen mit Ralf Jahn); Der vo¨lkerrechtliche Status Deutschlands zwischen 1945 und 1990, 2007; Dreptul Uniunii Europene, 3. Aufl. 2009 (zusammen mit Ioana E. Rusu) (Ruma¨nisch); Eigentum und Enteignung im Vo¨lkerrecht unter besonderer Beru¨cksichtigung von Vertreibungen, 2010; Dreptul polit¸ienesc romaˆn s¸i german, 2012 (zusammen mit Monica Vlad) (Ruma¨nisch); Protect¸ia bunurilor culturale, 2013 (zusammen mit Monica Vlad) (Ruma¨nisch); Relaciones entre el derecho internacional pu´blico y el derecho interno en Europa y Sudame´rica, 2016 (zusammen mit ¨ ffentliches Recht in Hessen, 2018 (zusammen mit Teodoro Ribera Neumann) (Spanisch); O Hans-Detlef Horn und Martin Will); Staat – Wirtschaft – Gemeinde, Festschrift fu¨r Werner Frotscher, 2007 (Mitherausgeber); Iustitia et Pax. Geda¨chtnisschrift fu¨r Dieter Blumenwitz, 2008 (Mitherausgeber); Rechtspolitische Entwicklungen im nationalen und internationalen Kontext. Festschrift fu¨r Friedrich Bohl, 2015 (Hrsg.). Mitherausgabe der Staats- und vo¨lkerrechtlichen Abhandlungen der Studiengruppe fu¨r Politik und Vo¨lkerrecht seit 1993. Insgesamt u¨ber 500 Publikationen als Autor und Herausgeber.
Kontaktadresse / Contact Address: Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Gilbert H. Gornig D-35043 Marburg Deutschland Tel.: + 49 (0) 64 21 – 163566 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.staff.uni-marburg.de/~gornig/
*** Dr. Holger Kremser Persönliche Angaben/Personal Data: Holger Kremser (geb. 1960), 1980/86 Studium der Rechtswissenschaften in Passau, Lausanne und Göttingen. 1992 Promotion in Göttingen. Er ist am Institut für Völker- und Europarecht der Universität Göttingen tätig und vertritt die Fachgebiete Verfassungs- und Verwaltungsrecht sowie das Europa- und Völkerrecht in Forschung und Lehre. Holger Kremser (born 1960), 1980/86 studies in Jurisprudence at the Universities of Passau, Lausanne and Göttingen; 1992 doctorate in Jurisprudence in Göttingen. He works at the Institute for International Law and European Law at the University of Göttingen and represents the constitutional and administrative law as well as European and international law in research and teaching.
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Monographien und Beiträge in Buchpublikationen/Monographs and book publications: Der Rechtsstatus der evangelischen Kirchen in der DDR und die neue Einheit der EKD, 1993 (Dissertation); „Soft Law“ der UNESO und Grundgesetz, 1996; Verfassungsrecht III – Staatsorga-
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Die Autoren / The Authors
nisationsrecht, 1999 (zusammen mit A. Leisner-Egensperger); Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Niederlassungsfreiheit in der EU und die Bedeutung für nationale Minderheiten, in: D. Blumenwitz/G. Gornig/D. Murswiek, Fortschritte im Beitrittsprozess der Staaten Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas, 1999, S. 51 ff.; Die Sonderstellung von Minderheiten im Wahlrecht zu nationalen Parlamenten, in: D. Blumenwitz/G. Gornig/D. Murswiek, Minderheitenschutz und Demokratie, 2004, S. 59 ff.; Neutralität, Kommerzielle Werbung, Religionsausübungsfreiheit, Sekten, Bearbeitung der zuvor genannten Stichwörter in deutscher, englischer, französischer und spanischer Sprache, in: C. Lageot, Mehrsprachiges Wörterbuch über die Geistesfreiheiten/Multilingual Dictionary of freedoms of Thought, 2008; Tornados nach Alicanto, DocMorris, Staatliche Beihilfe, Bearbeitung der zuvor genannten Fälle in: A. Paulus, Staatsrecht III – Examinatorium Öffentliches Recht, 2010; Elsass-Lothringen bei den Versailler Friedensverhandlungen, in: H. Gornig/A. Michel, Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Teil 1, 2017, S. 99 ff.; Nord-Schleswig bei den Versailler Friedensverhandlungen, in: H. Gornig/ A. Michel, Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittelund Ostmitteleuropa, Teil 1, 2017, S. 87 ff. Aufsätze/Academic essays: Das Äußerungsrecht der Bundesregierung hinsichtlich der sogenannten neuen Jugendsekten und neuen Jugendreligionen im Lichte von Art. 4 I und II GG, ZevKR 1994, S. 160 ff.; Verfassungsrechtliche Zulässigkeit technischer Regelwerke bei der Genehmigung von Atomanlagen, DÖV 1995, S. 275 ff.; Das Verhältnis von Art. 7 III 1 GG und Art 141 GG im Gebiet der neuen Bundesländer, JZ 1995, S. 928 ff.: Der Kommunale Rat in Rheinland-Pfalz, DÖV 1997, S. 586 ff.; Der Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Land Mecklenburg-Vorpommern, LKV 1998, S. 300 ff.; Das verfassungsrechtliche Verhältnis von Religions- und Ethikunterricht dargestellt am Beispiel Berlins, DVBl. 2008, S. 607 ff.; Die polizeiliche Wegweisung, NdsVBl. 2009, S. 265 ff.; Die fiktive Tierversuchsgenehmigung, NdsVBl. 2012, S. 250 ff.; Die streikende Beamtin, ZJS 2014, S. 74 ff.; Der bewaffnete Einsatz der Bundeswehr gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ im Lichte des Staats-, Europa- und Völkerrechts, DVBl. 2016, S. 881 ff.
Kontaktadresse / Contact Address: Dr. Holger Kremser Institut für Völkerrecht und Europarecht Universität Göttingen Platz der Göttinger Sieben Nr. 5 37073 Göttingen Deutschland E-Mail: [email protected]
*** Professor Dr. Heinrich Menkhaus Persönliche Angaben / Personal Data Geb. 1955, 1974 – 1979 Studium der Rechtswissenschaften, 1980 erstes, 1986 zweites juristisches Staatsexamen, 1980 – 1983 Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für internationales
Die Autoren / The Authors
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Wirtschaftsrecht, Universität Münster, 1984 Promotion zum Dr. jur., 1987 – 1989 Studium des japanischen Rechts an der Chu¯o¯ Universität, To¯kyo¯, 1989 – 1993 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Japanstudien To¯kyo¯, 1994/95 Geschäftsführer der European Association for Japanese Studies, Leiden (NL), 1995 – 2001 Leiter der Abteilung Recht und Steuern der Deutschen Industrie- und Handelskammer in Japan, To¯kyo¯, 2001 – 2008 Professor für Japanisches Recht, Universität Marburg, seitdem dort apl., 2008 Lehrstuhl für Deutsches Recht an der juristischen Fakultät und der Rechtsgraduiertenschule der Meiji Universität, To¯kyo¯, seit 2018 Leiter des dortigen Instituts für Rechtsvergleichung. Born 1955, 1974 – 1979 legal studies, Faculty of Law, University of Münster, Germany; 1980 first, 1986 second state exam in law. 1980 – 1983 Researcher, Institute of International Economic Law, University of Münster, 1984 Doctor of Law, Faculty of Law, University of Münster; 1987 – 1989 legal studies at Chu¯o¯ University, To¯kyo¯, Japan; 1989 – 1993 Researcher, German Institute for Japanese Studies, To¯kyo¯, Japan; 1994 – 1995 Director of the Permanent Office, European Association for Japanese Studies, Leiden, The Netherlands; 1995 – 2001 Director, Law Department, German Chamber of Commerce and Industry, To¯kyo¯, Japan; 2001 – 2008 Professor of Japanese Law, Faculty of Law, University of Marburg, Germany; thereafter extraordinary professor, since 2008 Chair of German Law, Faculty of Law and Graduate School of Law, Meiji University, To¯kyo¯, Japan; since 2018 Head Institute of Comparative Law, Meiji University
Forschungsschwerpunkte / Research Interests Unternehmensrecht, Familienrecht, Recht und Religion, Japanisches Recht, Rechtliche Beziehungen zwischen Deutschland und Japan Law of Enterprises, Family Law, Law and Religion, Japanese Law, Legal relations between Germany and Japan
Auswahlbibliographie / Selected Publications Kreditsicherung beim Dokumenteninkasso, Köln 1984; Abteilung für Strafsachen in Justizministerium (Hrsg.), Zweisprachiges Lexikon juristischer Fachtermini – Japanisch/Deutsch), Tôkyô 1992 (zusammen mit Toda Nobuhisa); Der japanische Kapitalmarkt, Reihe Japanwirtschaft des Deutsch-Japanischen Wirtschaftsförderungsbüros, Düsseldorf 1992; Egalität und Individualität im gegenwärtigen Japan – Untersuchungen zu Wertemustern in Bezug auf Familie und Arbeitswelt, München 1994 (zusammen mit Helmut Demes, Ulrich Möhwald, Hans-Dieter Ölschleger, Annelie Ortmanns-Suzuki und Bettina Post-Kobayashi); Das Japanische im japanischen Recht, München 1994; Gründung einer Tochtergesellschaft in Japan, in: Lutter, Marcus (Hrsg.), Die Gründung einer Tochtergesellschaft im Ausland, 3. Aufl. 1994 (zusammen mit Koresuke Yamauchi); Die rechtliche Bewältigung von Marktzugangsproblemen, in: Riesenhuber, Heinz/Kreiner, Josef (Hrsg.), Japan ist offen, Berlin 1998; Deutsch-Japanisches Sozialversicherungsabkommen, in: Gössmann, Hilaria u. a. (Hrsg.), 11. Deutschsprachiger Japanologentag in Trier 1999, Band I: Geschichte, Geistesgeschichte, Politik, Recht, Wirtschaft, Münster 2001; ,Neues‘ Kündigungsschutzrecht in Japan!?, in: ZIAS 3 (2004) (zusammen mit Falk Meinhardt); History of German-Japanese Scientific Relations in the Area of Legal Science, in: Deutsche Gesellschaft der JSPS-Stipendiaten e.V. (Hrsg.), 10th Anniversary of the Deutsche Gesellschaft der JSPS-Stipendiaten e.V. – German-Japanese Scientific Exchange. Bonn 2005; Die japanische Beschäftigung mit dem deutschen Rechtswesen, in: Japanstudien 17 (2005) (zusammen
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Die Autoren / The Authors
mit Yamauchi Koresuke); Alternative Streitbeilegung in Japan – Entwicklungen bis zum ADRGesetz 2004, in: Hengstl, Joachim/Sick, Ulrich (Hrsg.), Recht heute und gestern, Festschrift zum 85. Geburtstag von Richard Haase. Harrassowitz: Wiesbaden 2006; Allgemeines Gesellschaftsrecht in Japan, in: Menkhaus, Heinrich/Sato, Fumihiko (Hrsg.), Japanischer Brückenbauer zum deutschen Rechtskreis, Festschrift für Koresuke Yamauchi zum 60. Geburtstag, Berlin 2006; Deregulierung in Japan – Eine Einführung, in: Distelrath, Günther (Hrsg.), Referate des 13. deutschsprachigen Japanologentages, Band II: Sozial-, Geschichts- und Rechtswissenschaft, Berlin 2009; Halbwertige Kinder?! – Zum Erbteil des nichtehelichen Kindes in Japan, in: Meiji Law Journal 17 (2010); ,Götter ohne Mietvertrag‘ oder Unentgeltliche Gebrauchsüberlassung von Grundstücken im Eigentum einer öffentlichrechtlichen Gebietskörperschaft an eine Gemeinde von Gläubigen zur Verehrung von Göttern – Jüngste Entwicklungen zum verfassungsrechtlichen Grundsatz der Trennung von Staat und Religion in Japan, in: Meiji Law Journal 18 (2011); Vom Ungleichen in Japan. Untersuchungen zu wachsenden Disparitäten in Gesellschaft, Wirtschaft und Recht, Band I: Wirtschaft und Recht, Bonn 2012 (zusammen mit Günther Distelrath und Hans Dieter Ölschleger); Insassenwechsel im Schuldturm – Erfolge der japanischen Zivilrechtsprechung bei der Bekämpfung wucherischer Zinsen in Kreditverträgen, in: Meiji Law Journal 19 (2012); Verbraucherkreditrecht in Japan nach der Reform aus dem Jahre 2006, in: Distelrath, Günter/Menkhaus, Heinrich/Ölschleger, Hans-Dieter (Hrsg.): Vom Ungleichen in Japan. Untersuchungen zu wachsenden Disparitäten in Gesellschaft, Wirtschaft und Recht. Referate gehalten auf dem 14. Deutschsprachigen Japanologentag in Halle, 29.09.–02. 10. 2009. Band I: Wirtschaft und Recht, Bonn 2012; Zwischen Scylla und Charybdis – Der rechtliche Rahmen für das Fahradfahren in Japan, in: Distelrath,Günther/Lützeler,Ralph/ Manthey, Barbara (Hrsg.): Auf der Suche nach der Entwicklung menschlicher Gesellschaften, Festschrift für Hans Dieter Ölschleger zu seinem sechzigsten Geburtstag von seinen Freunden und Kollegen, Bonn 2012; Deutsche Juristen in Japan während der Meiji-Zeit – Probleme bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung ihrer Arbeit, in: Shin, Yu-Cheol (Hrsg.), Rezeption europäischer Rechte in Ostasien; Seoul 2013; Die deutsche wissenschaftliche Beschäftigung mit dem japanischen Recht in: Yamauchi, Koresuke/Ebke, Werner (Hrsg.): 25 Jahre Universitätspartnerschaft Chu¯o¯ Münster, Herausforderungen für das Zivilrecht im internationalen Bereich), Meilensteine im Internationalen Privat- und Wirtschaftsrecht. Festgabe für Bernhard Großfeld und Otto Sandrock. To¯kyo¯ 2014; Rechtsstaat Japan? Konstitutive Elemente und Gefährdungen, in: Yamaguchi, Karin/Wördemann, Raimund (Hrsg.): Länderbericht Japan. Bundeszentrale für politische Bildung: Bonn 2014; Japan, in: Süß, Rembert/Wachter, Thomas (Hrsg.), Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 3. Aufl. Bonn 2016; Der Wert eines Japaners im heimatlichen Großstadtdschungel. Das aktive Wahlrecht im Einpersonenwahlbezirk bei den japanischen Unterhauswahlen im Spannungsfeld der Grundrechte Gleichheit und Freizügigkeit sowie der Verfassungsgrundsätze Demokratie und Rechtsstaat, in: Meiji Law Journal 23 (2016); Blick zurück im Zorn – Japanisches Recht in Marburg, in: Gornig, Gilbert (Hrsg.) Rechtspolitische Entwicklungen im nationalen und internationalen Kontext. Festschrift für Friedrich Bohl zum 70. Geburtstag, Berlin 2015; Die Verfassungskultur in Japan aus deutscher Sicht. Konrad Adenauer Siftung, Tokyo 2016; Saiban? – Nein, Shinpan! Ein weiteres Instrument der japanischen Judikative? Hier: Verwaltungsrechtliche Streitigkeiten, in: Menkhaus, Heinrich/Narazaki, Midori (Hrsg.), Japanischer Vorkämpfer für die Rechtsordnung des 21. Jahrhunderts. Festschrift für Koresuke Yamauchi zum 70. Geburtstag, Berlin 2017; Images of Japan Held by German Legal Experts in the Meiji Period, in: Saaler, Sven/Kudo¯, Akira/Tajima, Nobuo (Hrsg.): Mutual Perceptions and Images in Japanese-German Relations 1860 – 2010, Leiden/Boston 2017.
Die Autoren / The Authors
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Kontaktadresse / Contact Address Prof. Dr. jur. Heinrich Menkhaus Lehrstuhl für Deutsches Recht/Chair of German Law Leiter Institut für Rechtsvergleichung/Head Institute of Comparative Law Rechtswissenschaftliche Fakultät & Rechtsgraduiertenschule/ Faculty of Law & Graduate School of Law Universität Meiji/Meiji University 1 – 1 Kanda Surugadai, Chiyoda-ku, Tokyo 101 – 8301 Japan E-Mail [email protected] Internet: https://www.uni-marburg.de/de/fb01/professuren/zivilrecht/weitere-lehrende/profdr-heinrich-menkhaus/prof-dr-heinrich-menkhaus
*** Professor Dr. Michael Pesek Persönliche Angaben/Personal Data Michael Pesek (geboren 1968 in Neuruppin) 1990 – 1997: Studium der Theaterwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. 1998 – 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Afrikanische Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, 2005 Promotion in der Geschichte Afrikas über die Etablierung der deutschen Kolonialherrschaft in Ostafrika. 2005 – 2010 Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich 640 (Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel) 2010 – 2013 Vertretungsprofessor für die Geschichte Afrikas an der HumboldtUniversität zu Berlin. 2016 – 2018 Gastprofessor für die Geschichte Afrikas am Historischen Seminar der Universität Hamburg. Michael Pesek studied from 1990 to 1997 Performance Studies and African Studies at Humboldt-University of Berlin. He got his PhD from this University in 2005 for a thesis on the early days of German colonial rule in Eastern Africa. Until 2010 he was a research fellow at the Humboldt-University. He became a Visiting professor of African History at Humboldts in 2010 and at Hamburg University in 2016. Michael Pesek has widely published on the history of 19th and 20th century East and Central Africa.
Auswahlbibliographie / Selected Publications „Cued Speeches. The emergence of shauri as a colonial praxis in German East Africa, 1850 – 1903.“ History in Africa (2006): 395 – 412; Das Ende eines Kolonialreiches. Ostafrika im Ersten Weltkrieg, Frankfurt a. M.: Campus, 2010; Die Ankunft des Anderen. Empfangszeremonien im interkulturellen und intertemporalen Vergleich, Frankfurt a. M.: Campus, 2008; Foucault Hardly Came to Africa: Some Notes on Colonial and Post – Colonial Governmentality. Comparativ (2011); The Knowledge of the Colonial Conquest in East Africa, 1880 – 1903; Contemporanea, 1 (2018): 111 – 116; Koloniale Herrschaft in Deutsch-Ostafrika. Expeditionen, Militär und Verwaltung seit 1880, Frankfurt a. M.: Campus, 2005; Präsenz und Herrschaft. Räume kolonialer Macht in Ostafrika. In Umkämpfte Räume: Gewaltraum – Frontier – Leerer Raum,
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Die Autoren / The Authors
hrsg. von Ulrike Jureit, Göttingen: Wallstein Verlag, 2016, S. 51 – 72; Vom richtigen Reisen und Beobachten: Ratgeberliteratur für Forschungsreisende nach Übersee im 19. Jahrhundert. Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 40 (2017): 17 – 38; Von Europa nach Afrika. Deutsche Passagiere auf der Dampferpassage in die Kolonie Deutsch-Ostafrika. Werkstatt Geschichte, 53 (2009): 68 – 88; The War of Legs. Transport and Infrastructure in the East African Campaign of the First World War. Transfers 5, 2 (2015): 102 – 120.
Kontaktadresse / Contact Address Prof. Dr. Michael Pesek E-Mail: [email protected]
*** Mag. phil. Andreas Raffeiner Persönliche Angaben / Personal Data: Geboren 1979 in Bozen, Südtirol (Italien); 1996 – 2000 Buchbinderlehre; 2000 – 04 im Verwaltungssektor tätig; seit 2002 freier Mitarbeiter für Zeitungen, Zeitschriften, Onlinemedien und den Hörfunk im deutschsprachigen Raum; 2007 Abitur auf zweitem Bildungsweg; 2007 – 15 Studium der Geschichte (Hauptfach), Rechtswissenschaften, Politikwissenschaften, Wirtschaft, Europäische Ethnologie, Germanistik, Philosophie (Nebenfächer) an der Universität Innsbruck; seit 2015 Dissertant in Geschichte/Völkerrecht an der Universität Innsbruck; Autor, Gastreferent, Rezensent, Übersetzer, Heimatkundler. Born in Bozen, South Tyrol (Italy), in 1979. 1996 – 2000: apprenticeship as a bookbinder. 2000 – 04: job as office clerk. 2002 – present: freelancing as a writer/essayist for newspapers, journals, online media and radio stations all around the German-speaking world. 2007: high school graduation. 2007 – 15: pre-Bologna process 4-year university diploma, University of Innsbruck (Austrian title: Magister), major in History, minors in Law, Political Science, Economics, European Ethnology, German language and literature, Philosophy. 2015–present (in course): 2015 PhD student in History and International Law (inter-disciplinary – dissertation writing stage) at the University of Innsbruck; author and co-author of several books, lecturer/ invited speaker, reviewer, translator, local historian.
Forschungsinteressen / Research Interests Tiroler Regionalgeschichte (ab 1800); österreichische Geschichte, Zeitgeschichte, Rechtsgeschichte, Minderheiten- und Völkerrecht. Tyrolean regional history (from 1800); Austrian history, contemporary history, legal history, minority and international law.
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Gemeinsam mit Sven Knoll und Martin Sendor, Andreas Hofer – Sein Erbe 200 Jahre später, Wien 2009; gemeinsam mit Franz Matscher und Peter Pernthaler, Ein Leben für Recht und Ge-
Die Autoren / The Authors
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rechtigkeit. Festschrift für Hans R. Klecatsky zum 90. Geburtstag, Graz/Wien 2010; Der Goldene Adler in Brixen – ein Gasthof schreibt Geschichte, Vahrn 2014; Stets den Idealen der Rechtsstaatlichkeit treu geblieben. Festschrift für Peter Pernthaler zum 80. Geburtstag, Hamburg 2015; 70 Jahre Pariser Vertrag 1946 – 2016. Vorgeschichte – Vertragswerk – Zukunftsaussichten, Hamburg 2016; Minderheiten im Völkerrecht und das Beispiel Südtirol, Berlin 2016; 25 Jahre Streitbeilegung 1992 – 2017. Ist das „Südtirolproblem“ gelöst?!, Hamburg 2018; Auf der Klaviatur der Rechtsgeschichte. Festschrift für Kurt Ebert zum 75. Geburtstag, Hamburg 2019.
Aufsätze / Essays (Auswahl – Selection) Zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges mit besonderer Rücksicht auf die Schweiz und ihres Ausscheidens aus dem Reichsverband, in: FS Klecatsky (2010), 557 – 569; Zum 75. Todestag von Otto Bauer – Wider das Vergessen, in: Journal der juristischen Zeitgeschichte 2 (2014), 70 – 78; In memoriam Louis C. Morsak, in: Journal on European History of Law 2 (2014), 146 – 147; Zum Begriff der Freiheit im Lichte der Presse- und Meinungsfreiheit, in: FS Pernthaler (2015), 263 – 280; Die Justizposse von Trient oder Die Reinwaschung der Carabinieri von 1963, in: Journal für Strafrecht 4 (2016), 340 – 345; Presseschau zum Pariser Vertrag 1946 – 1976 – 2006 und Bewertung, in: 70 Jahre Pariser Vertrag (2016), 157 – 172; Italiens Verfassungsreform: Zurück zum Zentralismus, in: Hamburger Rechtsnotizen 2 (2016), 100 – 103; Die Strafjustiz im Dritten Reich, in: Journal für Strafrecht 5 (2016), 519 – 523; Zum 30. Todestag von Christian Broda: Lebensskizze und Reform, in: Journal on European History on Law 1 (2017), 177 – 179; Über den Grazer Partisanenmordprozess, in: Journal für Strafrecht 6 (2017), 553 – 557; Südtirol – Internationalisierung als Chance, in: 25 Jahre Streitbeilegung (2018), 491 – 502; Die Beständigkeit der Rechtsauffassungen im Hinblick auf die Teilung Tirols, in: FS Ebert (2019).
Kontaktadresse / Contact Address: Mag. phil. Andreas Raffeiner Dreiheiligengasse 8D/14 I–39100 Bozen E-Mail: [email protected]
Personenregister / List of Names Abbas, Mahmud, palästinensischer Präsident 107 Abdülmeschid II., Kalif 39 Abraham, Stammvater Israels 64 Alexander der Große 37, 69, 110 Ali Mazrui, kenianische Historiker 150 al-Malik al-Asraf Chalil, Sultan 74 Amin al-Husseini, Mohammed, islamischer Geistlicher und palästinensischer arabischer Nationalist 124 Annunzio, Gabriele d’, Schriftsteller 256 Arafat, Jassir, palästinensischer Freiheitskämpfer, Terrorist, Politiker, Friedensnobel preisträger 120 Asquith, Herbert Henry, Premierminister 16 Balduin von Boulogne, Kreuzfahrer, König von Jerusalem 74 Balfour, Arthur James, britische Außenminister 20. 85 ff., 88, 89, 92, 93, 94, 111, 117, 123 Barreda, Jose Pardo y, Staatspräsident Perus 232 Beethoven, Ludwig van, Komponist 211 Berghahn, Volker, Autor 155 Bevin, Ernest, britischen Außenminister 103 f., 111 Bismarck, Otto von, deutscher Staatsmann 154, 175, 202 Botha, Louis, südafrikanischer Politiker, General im Zweiten Burenkrieg, erster Premierminister der Südafrikanischen Union 161 Brandt, Max von, diplomatischer Vertreter in Japan 202 Briand, Aristide, französischer Politiker 260 Bronsart von Schellendorf, Friedrich (Fritz), deutscher General 51
Cai E, chinesischer Gouverneur 181 Carranza, Venustiano, Staatspräsident Mexikos 229 Carsten, Francis Ludwig, Schriftsteller 255 Chamberlain, Arthur Neville, britischer Politiker, Premierminister 87 Chiang Kaischek, chinesischer Militär und Politiker 189, 194 Chilembwe, John, baptistischer Geistlicher und Missionar 166 Churchill, Winston, britischer Staatsmann 87 Cixi, Kaiserinwitwe 174 Clinton, Bill, US-amerikanischer Präsident 120 Crane, Charles, Kommissionsmitglied 90 ff. Curzon, George, britischer Außenminister 35 Damad Ferid Pascha, Großwesir 25 David, König von Juda und von Israel 67, 110, 111 Diaz, Porfirio, Rebell 225 Duan Qirui, chinesischer General und Politiker 184 Ecksteins, Modris, Autor 250 Enver Pascha, Kriegsminister 80 Faisal I., König von Syrien und König des Irak 88, 116, 124 Farbstein, David, Zionist 122 Ferguson, Neill, Autor 250 Fiah, Erica, Herausgeber der Zeitschrift Kwetu 168 Franco, Francisco, spanischer Diktator 248 Gabelentz, Georg von der, Jurist, Sprachwissenschaftler und Sinologe 207 Gamboa, Ismael Montes, Staatspräsident Boliviens 232 Gardel, Carlos, Musiker 221, 235
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Personenregister / List of Names
Garvey, Marcus, amerikanischer Bürgerrechtler 167 George, David Lloyd, Premierminister 23, 30, 37, 128, 162 Georges Leygues, Charles französischen Außenminister 98 Georges-Picot, François, Diplomat 83, 113 Gibson, Mel, Schauspieler 154 Grey, Edward, britischer Außenminister 83 Grunshi, Alhaji, Sergeant 158 Guang Xu, chinesischer Kaiser 174 Gurion, David Ben, israelischer Politiker und Staatsmann 105, 110, 111 Gutschmid, Felix von, deutscher Diplomat 209 Harcourt, Lewis, britischer Kolonialminister 162 Hardinge, Charles, britischer Botschafter in Frankreich 98 Herbert, Ulrich, Autor, 241 Herf, Jeffrey, Autor 250 Herodes, König 71 Herodot, griechischer Geschichtsschreiber, Geograph und Völkerkundler 61 Herzl, Theodor, Gründungsvater des politischen Zionismus 79, 111 Hitler, Adolf, totalitärer Herrscher 241, 249, 257 Hobsbawm, Eric, Historiker 245 Hoshi Hajime, japanischer Pharmazeut 218 Hoskins, A. R. , britischer Generalmajor 163 Huerta, Victoriano, Rebell 225 Hull, Isabell, Autorin 155 Hussein I., König von Jordanien 108 Hussein Ibn Ali, Scherif des Hedschas 88 I. G. Farben, Interessengemeinschaft Farbenindustrie AG 218 Isaak, Sohn Abrahams und Vater Jakobs 64 Ismet Pascha 41 Ito¯ Hirobumi, Samurai und japanischer Politiker 209 Jabotinsky, Wladimir Zeev, russischer Zionist und Schriftsteller 118 Jakob, Sohn Isaaks und Enkel Abrahams 64, 71
Johnston, Sir Harry, britische Kolonialgouverneur 130 Josua, Nachfolger von Moses 65 Juchheim, Karl, deutscher Konditor 217 Judenitsch, Nikolai Nikolajewitsch, russ. General 51, 54 Jünger, Ernst, Philosoph und Literat 252 Kamwana, Elliot K., afrikanischer Prophet 166 Kang’ethe, Joseph, Präsident der Kikuyu Central Association (KCA) 168 Kazim al-Husayni, Musa, Gemeindevorsteher 117 Kenyatta, Jomo, später Präsident des unabhängigen Kenya 168 King, Henry, Kommissionsmitglied 90, 91, 92 Kitchener, Herbert, Kolonialoffizier, Kriegsminister 153, 158, 159 Klausner, Joseph, Historiker 119 Kocka, Jürgen, Autor 241 König, Hans-Joachim, Historiker 235 Konstantin I., griechischer König 19 Konstantin I., römischer Kaiser 72 Lansing, Robert, US-Staatssekretär 128 Lawrence, Thomas Edward (Lawrence von Arabien), britischer Offizier, Archäologe, Geheimagent, Schriftsteller 123 Lenin, Wladimir Iljitsch, russischer kommunistischer Politiker 188 Leopold II., belgischer König 154 Lettow-Vorbeck, Paul Emil von, Kommandeur der Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika 160, 161, 163, 166 Liulevicius, Vejas Gabriel, US-amerikanischer Historiker 156 Lloyd George, David, britischer Premierminister 23, 30, 37, 128, 162 Lohmeyer, August, Metzger 217 Ludendorff, Erich, deutscher General und Politiker 257 Makino, Nobuaki, japanischer Diplomat 129 Mao Tse-tung, chinesischer Revolutionär, Politiker 172
Personenregister / List of Names Maritz, Salomom G. (Manie), Offizier der Buren, führender Rebell der Maritz-Rebellion 161 McMahon, Henry, Sir, Britischer Hochkommissar in Kairo 20, 81, 82, 85, 92, 111, 113, 123 Mehmed V., Sultan 80, 82, 85 Mehmed VI., Sultan 88, 93 Morrison, Herbert, stellvertretende Premierminister 103, 104, 111 Moses, Prophet 64 f. Mosler, Hermann, Völkerrechtler 135 Mussolini, Benito, faschistischer Politiker 241, 249, 254, 255, 256 Mustafa Kemal Pascha (Atatürk), erster Präsident der Türkei 15,25, 46, 93 Nebukadnezar II., babylonischer König 68 Newcombe, Stewart F., Lieutenant Colonel 98 Nikolaus II., Zar 52 Nolte, Ernst, Historiker und Philosoph 241, 246, 249, 251 Northey, Edward, Offizier der britischen Armee 163 Orlando, M., italienischer Diplomat 129 Ozanian, Andranik, armenischer General 51, 57 Paulet, N., Colonel Lieutenant 98 Payne, Stanley, Autor 249 Peel, William, Sir, Kommissionsvorsitzender 101, 111 Ptolemaios I., König 70 Rabin, Yitzhak, israelischer Politiker 120 Ramses II., ägyptischer Pharao 65 Rein, Johannes Justus, Japanologe 206, 207 Rhodes, Cecil, britischer Unternehmer und Politiker 162 Richthofen, Ferdinand von, deutscher Geograph, Kartograph und Forschungsreisender 202 Riekenberg, Michael, Autor 221 Rinke, Stefan, Historiker 221, 222, 228, 230, 232, 235
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Roosevelt, Franklin D., US-amerikanischer Präsident 169 Roosevelt, Theodore, US-amerikanischer Präsident 225 Rothschild, Edmond, Baron 78, 111 Rothschild, Lionel Walter, 2. Baron Roth schild, Präsident der britischen zionistischen Föderation 86 Rumpf, Fritz (Friedrich Karl G.), Japanologe 218 Saladin, Sultan 74 Salazar, António de Oliveira, portugiesischer Politiker 248 Salomo, König des vereinigten Israel 68 Salomon, Ernst von, Schriftsteller 253 Samuel, Herbert, Hochkommissar 100 Sand, Shlomo, Autor 79 Saul, König der Israeliten 67, 110 Schnee, Heinrich, Gouverneur 160 Segev, Tom, israelischer Geschichtswissenschaftler und Journalist 117 Silikjan, Mowses, armenischer General 51 Smuts, Jan Christiaan, südafrikanischer Staatsmann, Philosoph, burischer General und britischer Feldmarschall 87, 163 Sokolow, Nachum, Präsident der Zionistischen Weltorganisation 89 Solf, Wilhelm, deutscher Gouverneur 131 Sondhaus, Lawrence, Historiker 221 Storrs, Ronald, Militärgouverneur, Oberst 118, 119 Strachan, Hew, britischer Historiker 154 Stresemann, Gustav Ernst, deutscher Politiker und Staatsmann 260 Sun Yatsen, chinesischer Revolutionär und Staatsmann 184, 186, 188, 189 Sykes, Mark, Diplomat 20, 21, 26, 83 ff., 92, 111, 113 ff. Talât Pascha, Großwesir 57 Thamer, Hans-Ulrich 241 Thuku, Harry, Gründungsmitglied der East Africa Association (EAA) 168 Tirpitz, Alfred von, Admiral, Staatssekretär 175, 202 Titus, römischer Kaiser 72
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Personenregister / List of Names
Tombeur, Charles, belgischer Militäroffizier und Kolonialbeamter 163 Triepel, Heinrich, Völkerrechtler 139 Trump, Donald, US-amerikanischer Präsident 195 Trumpeldor, Joseph, Zionist 118 Tschcheidse, Nikolos, georgischer Politiker 56 Umar ibn al-Chattab, Kalif 73 Ussishkin, Menachem, Zionist, Präsident des Jüdischen Nationalfonds 89, 118 Venizelos, Elefterios, griechischer Ministerpräsident 19, 23, 37 Villa, Francisco (Pancho), Rebell 225 Wang Jingwei, chinesischer Politiker 194 Wehler, Hans-Ulrich, Historiker 252 Weizmann, Chaim, Präsident der Zionisti schen Weltorganisation, israelischer Staats präsident 88, 89, 117, 118, 124
Wellingto Koo, chinesischer Diplomat 192 Wilhelm II., deutscher Kaiser 177 Wilson, Woodrow, US-amerikanischer Präsident 29, 70, 128, 129, 131, 136, 168, 172, 191, 227, 233 Woronzow-Daschkow, Graf Illarion, Generalgouverneur 50, 54 Xu Shichang, Politiker sowohl im chinesischen Kaiserreich als auch in der Republik China 186 Yuan Shikai, Militärführer und Politiker während der späten Qing-Dynastie und der Republik China 180, 181, 182, 183 Yrigoyen, Hipolito, Staatspräsident Argentiniens 232 Zapata, Emiliano, Rebell 225 Zimmermann, Arthur, Staatssekretär 229
Sachregister / Subject Index A.B.C.-Staaten 237 A.B.C.-Vertrag 227 Adalia (Antalyia) 21, 24, 26 Aden 159 Adrianopel 28, 94 Adrianopel, Vertrag von, 14. 9. 1829 16 Adscharen 53 Afrika 150, 153 ff., 254 Ägypten 20, 26, 64, 65, 68, 70, 74, 106, 121 Akaba 99 Akkon 74 Albertville am Tanganyika-See 160 Alexandropol, Vertrag von, 18. 11. 1920 59 A-Mandate 111, 132, 139, 141 f., 143 f., 146, 148, 151 Anatolien 14 ff., 20, 23, 26, 29, 31, 37, 38, 42, 49 ff., 55, 59, 88, 115 Andenstaaten 234 Antisemitismus 77, 101 Arabischer Aufstand 82 Aramäer 64 Ardahan 50, 53, 57 Argentinien 122, 221, 222, 223, 227, 232, 237 Armenien 29, 33, 58, 59, 60, 85, 93, 115 Armenier 18, 23, 24, 28, 36, 40, 41, 49, 51, 52, 53, 54, 56, 57, 58, 59 Armenische Frage 18 Armenische Republik 50 Artvin 50 Assyrer 18, 68 Assyrien 68 Assyro-Chaldäer 36, 41 Atlantik-Charta 169 Australien 133, 161 Autonomiebehörde in Ramallah 108 Babylon 63, 68 Babylonischen Exil 63 Baku 57, 58, 59 Balfour-Deklaration 85 ff., 88, 89, 93, 94, 117, 123
Balkankrise 121 Bando¯, Kriegsgefangenenlager 201, 211 Bandung-Konferenz 169 Bar-Kochba-Aufstand 62, 72 Batumi 49, 50, 57, 58 Be’er Scheva 85 Belgien 133, 134, 145, 154, 159, 168 Beobachterstaat 107 Bergkarabach 49 Berliner Afrikakonferenz von 1882 154 Berliner Friedensvertrag vom 25. 8. 1921 136 Berliner Vertrag vom 13. 7. 1878 15, 121 Besonderes Transkaukasisches Komitee 56 Bevin-Beeley-Plan 103 f. Bevin-Plan 103 f. Bevölkerungsaustausch 44 f. big stick policy 225 Bismarck-Archipel 175, 203 Bitlis 55 B-Mandate 132, 139, 146, 152 Bolivien 228, 232, 233, 237, 265 Bolschewismus 241, 245, 259, 260 Bolschewistische Revolution 217 Bosporus 15, 16, 29, 53 Boxeraufstand 155, 177, 202 Brasilien 223, 227, 230, 231, 232, 237 Brest-Litowsk, Frieden vom 3. 3. 1918 49, 57, 58 Britisch-Ostafrika 161, 168 Britisch-Zentralafrika 166 British Empire, siehe auch Vereinigtes Königreich 49, 204, 207, 208, 215 British-Nyassaland 163 Buganda 167 Bukarest, Frieden vom 28.7.jul./10. 8. 1913greg. 121 Bulgarien 22, 28, 40, 44 Bund der Deutsch Togoländer 168 Bündnisvertrag, deutsch-türkischer, vom 2. 6. 1914 13
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Sachregister / Subject Index
Buren 154, 161 Burenkrieg 154, 161 Caporetto, Schlacht bei 254 Chatalja-Linie 27, 28 Chile 222, 225, 227, 232, 237 Chilembwe-Revolte von 1914 166 China 144, 171 ff. Chongqing 194 Churchill-Weißbuch 115 Cisjordanien 62, 8, 99 f. C-Mandate 133, 134, 139, 140, 142 f., 144 ff., 147 Committee on Imperial Defence 158 Costa Rica 231 Cyrene 88 Dahomey 145, 159 Dair al-Balah 85 Damaskus 68, 70, 90, 124 Dar es Salaam 160 Dardanellen 1, 17, 29, 53 Dardanellenkonventionen 17 Deutsch-chinesischer Vertrag vom 6. 3. 1898 175 Deutsche Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens, siehe Ost-Asiatische Gesellschaft 206, 214 Deutsche Japan-Post, Zeitung 213 Deutsche Schule 214 Deutsches Reich 201 ff. Deutsch-Japanischer Krieg 208 ff. Deutsch-japanisches Farbenabkommen 218 Deutschland als Kolonialmacht 173 ff., 179, 185 Deutsch-Neuguinea 140 Deutsch-Ostafrika 127, 133, 134, 160, 162, 166, 167 Deutsch-Südwestafrika 133, 140, 149, 161, 163 Diadochenkriege 70 Diaspora-Aufstand 72 Dodekanes 21, 27, 40, 85 Dolchstoßlegende 256, 258 Dominikanische Republik 228 Dominions 21, 156, 158, 161 Drei Elemente-Lehre 76, 109, 110 Dumlupinar, Schlacht von 38
Ecuador 232, 23, 237 Edomiter 71 Einwanderung, jüdische 77, 86, 92, 99, 100, 141 El Salvador 232 Elsass-Lothringen 209 England 131, 177, 178, 223 Ephraim 65, 110 Eretz Israel 77, 110 Erzincan 56, 57 Erzincan, Waffenstillstand von 57 Erzurum 52, 54, 55, 56 Eulenburg-Mission 202 Failed States 150 Faisal-Weizmann-Abkommen 88 f., 117 Falklandinseln 232 Faschismus 241 ff. Faschoda 154 Februarrevolution 55, 56, 60 Fiume 255 f. Formosa 202 Frankreich 14, 20, 21, 24, 26, 38, 39, 49, 82 ff., 89. 92, 93, 95, 96, 98, 113 ff., 120, 121, 123, 125, 128, 130, 132, 133, 134, 143, 145, 147, 148, 153 ff., 157, 159, 160, 169, 171, 183, 185, 191, 192, 194, 202, 204, 207 ff., 216, 223 Französisch-Nordafrika 157 Französisch-Westafrika 157 Galiläa 65, 72, 106 Galizien 49, 50 Gallipoli, Schlacht von, 19. 2. 1915 bis 9. 1. 1916 53 Garua, Fort 161 Gaza 61, 85 Gazastreifen 61, 63, 108, 109, 110 Gelobtes Land 62, 65, 118 General Syrian Congress 90, 91 Genezareth 85 Georgien 58, 59 Gesetz über den Landsturm vom 12. 2. 1875 210 Gilead 65, 110 Golanhöhen 98 Goldküste 144, 158, 159
Sachregister / Subject Index Großbritannien 128, 130, 132, 133, 134, 144, 153 ff., 161, 168, 169, 179, 183, 191, 208, 235 Großgriechenland 24 Großjapanisches Reich 202 ff. Großsyrien 118 Guatemala 231 Haifa 84, 113, 125 Haiti 228, 231 Hakodate, japanischer Hafen 204 Handels- und Zollabkommen, deutsch-japanisches, 1911 203 HaSchomer 122 Hattin, Schlacht bei 74 Hawaii 191, 206 Hebräer 65, 67 Hebron 67, 85, 125 Hebron, Massaker von 125 Hedschas 20, 81, 88, 93 Heiliger Krieg 82 Heiliges Land 62, 72 Hethiter 64 Hokkaido, japanische Hauptinsel 202 Holländische Krankheit 228 Honduras 231 Hong Kong 176, 191 Huimin Company 183 Hussein-McMahon-Korrespondenz 20, 85, 92, 113, 123 Imperial War Cabinet 158 Inter-Allied Commission on Mandates in Turkey 90 Irak 30, 40, 56, 83, 92, 95, 106, 113, 116, 124, 132, 141, 148 Irredenta 254 Islam 34, 46, 63, 167 Israel 61, 63, 68, 69, 83, 87, 97, 104 ff., 108, 109, 110, 111, 117, 118, 120, 122, 148 Israeliten 64, 65, 67, 68 Istrien 254 Italien 14, 21, 26, 38, 39, 40, 43, 49, 85, 92, 115, 121, 128, 134, 155, 227, 241, 248, 249, 253, 254, 255, 256, 257, 260 Izmir 19, 31, 115
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Jaffa 61, 119, 122, 125 Jalta, Konferenz 194, 196 Japan 92, 128, 133, 134, 143, 147, 152, 172, 174, 177 ff., 185, 186, 189, 190 ff., 197, 201 ff. Japan Herald, Zeitung 213 Japanisch-preußischer Vertrag 1863 204 Jemen 85, 88 Jerusalem 63, 68, 72, 74, 75, 102, 103, 110, 111, 117, 119, 120, 122, 124, 125 Jewish Agency for Palestine 100 Jewish Congress 87 Jiaozhou, Stadt in der Provinz Shandong 173 Jordan 62, 63, 65, 77, 85, 93, 97, 98, 99, 110, 111 Jordanien 62, 83, 93, 97, 106, 108, 113 Juda 65, 68, 69 Judäer 68, 71 Juden 20, 41,67, 70, 72, 74, 76, 77, 78, 79, 85, 86, 88, 89, 98, 99, 100, 101 ff., 106, 118 ff., 122 ff., 144 Judentum 63 jüdische Aufstände 72 Kadiluk 75 Kairo 81, 162 Kamchatka, Halbinsel 201 Kamerun 128, 131, 132, 133, 144, 160, 161 Kamin (in Togo) 159 Kanaan 62, 64, 65, 68, 128 Kanada 161 Kapitalismus 248, 251, 258 Kapitulationen 20, 33, 41, 42 Kapp-Putsch 257 Kapstadt 162 Karibib 162 Karolinen 175, 203 Kars 50, 57, 58 Kaukasusfront 50 ff., 59 Kenia 144, 167 Kenya, britische Kolonie 165, 168 Kiautschou-Gebiet, deutsche Kolonie 133, 140, 171 ff. Kilikien 26, 34, 38 King-Crane Kommission 92 Kings African Rifles 166 Kionga-Dreieck (Qionga-Dreieck) 134 Kleinasien 38, 62, 64, 115,
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Sachregister / Subject Index
Ko¯be 213, 214 Koblenz 72 Koilesyrien 70 Köln 72 Kolonialismus 155, 156, 157, 165,167, 168, 179 Kolonialreiche 153, 168, 169 Kolonien 20, 22, 95, 124, 127 ff. Kolonisationsvereine 75 Kolumbien 225, 230, 232, 233 Komintern, Kommunistische Internationale 189 Komitee für Einheit und Fortschritt 13, 52 Kommunismus 245, 248, 254, 257, Kongo 145, 155, 160 Kongoakte 158, 159 Kongo-Fluss 160 Kongo-Freistadt 154, 155 Kongomündung 154 Königsberg, deutscher Kreuzer 159 Konstantinopel 16, 17, 19, 21, 22, 23, 25, 29 f., 37, 40, 44, 121, Konstantinopel, Vertrag von, 29. 9. 1913 40, 121 Konsularvertrag, deutsch-japanischer, 1896 203 Kontraktausländer 205, 207 Kosaken 50, 53, 57 Kouang-Tchéou-Wan, Territorium im Bereich einer Küstenbucht auf der südchinesischen Halbinsel Leizhou nördlich der Insel Hainan 191 KPD 257 Kreuzzüge 74 Kriegserklärung 174, 179, 183, 184, 186, 191, 194, 210, 212, 230, 231 Krimkrieg 120, 157 Kuba 228, 231 Kuomintang (Guomindang), Partei der Republik China 189 Kurden 18, 19, 30, 31, 40, 41, 52 Kurdistan 30 f. 46, 85, 93 Kurilen, japanische Inselgruppe 201 Kurume, Kriegsgefangenenlager 211 Kwantung-Areal 202 Lansing Ishii-Noten 215 Lateinamerika 221 ff.
Lausanner Friedensvertrag von, 24. 7. 1923 44, 132, 137 Levante 61 Liaotung-Halbinsel 202, 208, 209 Libanon 61, 83, 84, 90, 92, 93, 96, 98, 106, 113, 116, 117, 124, 132, 141, 148 Libyen 21 Londoner Deklaration, 1914 216 Londoner Seerechtsdeklaration von 1909 226, 236 Lüderitzbucht 161 Mahenge 163 Mahiwa 163 Mainz 72 Malawi 163, 167 Malazgirt 54 Mamluken 74 Mandatsgebiete 30, 97, 127, 132, 138, 140, 141, 142, 144, 145, 147, 148, 168, 217 Mandatssystem 90, 127 ff., Marco-Polo-Brücke, Zwischenfall an 186 Marianen 127, 149, 175, 203 Marneschlacht 253 Marokko 27,121, 154 Marokkokrise 155, 160, 162 Marshall-Inseln 203 Marugame, Kriegsgefangenenlager 211 Marxismus 249 McMahon-Hussein-Korrespondenz Meerengenabkommen 39, 43 81 ff. Meistbegünstigung 147, 204 Memelland 256 Mesopotamien 30, 31, 55, 56, 59, 68, 88, 93, 98, 116, 132 Mexiko 222, 225, 226, 230, 231, 232, 233, 237 Mikronesien 175, 185 Millet-System 34, 41 Minderheitenschutz 29, 34, 41, 45 Mittelafrika, deutsches 162 Monroe-Erklärung 225, 234 Morrison-Grady Plan 103 Morrison-Plan 103 Mossulfrage 40 Mosul 54, 93, 115, 116
Sachregister / Subject Index Moudros, Waffenstillstand von, 30. 10. 1918 49, 59, 87 f., 111 Mutessariflik Jerusalem 75 Nabatäer 71 Nabi-Musa-Unruhen 117 ff., 120, 125 Nagasaki 213 Nanjing 189, 194 Narashino, Kriegsgefangenenlager 211 Naruto, japanische Stadt 201 Nationalsozialismus 241 ff. Nauru 133, 203 Ndochbiri-Rebellion von 1916 166 Nebukadnezar II. 68 Negev 103, 106, 111 Neuguinea 133, 140, 175, 203 Neuilly-sur-Seine, Vertrag von, 27. 11. 1919 28, 94 Neuseeland 131, 133, 161 Neutralität 158, 159, 160, 177, 179, 183, 224, 226, 227, 230 ff. Nicaragua 228, 231 Nichtkombattanten 215 Niederlande 251 Nigeria 144 Niigata, japanische Stadt 204 Nördliche Marianen 127, 149 Nordrhodesien 165, 166 Nyassa-See 166 Offene Tür-Klausel 142, 143 Oktoberrevolution 49, 56, 59, 85 ,one belt one road‘-Projekt 172 Osmanen 15, 49, 51 ff., 56 ff., 60, 81, 86, 88, 92, 123 Osmanischer Schuldenrat 33 Osmanisches Reich 74 ff. Ostafrika 127, 133, 134, 155, 158, 160 ff., 166 ff. Ost-Asiatische Gesellschaft 206 Österreich 206, 254 Österreich-Ungarn 49, 80, 96, 12, 123, 191, 210, 254 Ostjordanland 68, 72 Ostpreußen 51 Ostthrakien 28, 93
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Pachtvertrag 174, 202 Palästina 20, 21, 56, 59, 61, 62, 63, 64, 68, 69, 70 ff., 82, 83, 85 ff., 99 ff., 113, 115 ff., 120 ff., 132, 141, 144, 148 Palästina, ägyptische Provinz 64 Palästina, Mandat über 95, 96, 99, 117 Palästina, Provinz 62 Palästinakrieg 106 Palästinamandat 141 Palästinensische Befreiungsorganisation 107 Palästinensischer Nationalrat 109 Palau 150, 175, 203 Panama 225, 233 Panamerikanismus 227, 230, 239 Panarabismus 121, 122 Paraguay 232 Paulet-Newcombe Abkommen von, 7. 3. 1923 98 Pazifikkonferenz 1922 190 Pearl Harbor 186 Peel-Bericht 101 Perser 69 Persien 59 Petitionen 148 Philippinen 180, 185, 191 Philister 62, 64, 67 Phönizien 61, 70 Phönizier 71 Pola 255 Polen 256, 257 Pontusgebiet 19 Port Arthur 191, 209 Portugal 134, 223, 248 Portugiesisch-Mosambik 134 Portugiesisch-Ostafrika 163, 167 Preußen 203, 204, 206 Protektorat über Ägypten 26 Ptolemäer 70 Qingdao 174, 177 Qing-Dynastie 174, 180, 181, 182 Reformedikt vom 11. 6. 1898 174 Reichsgesetz vom 11. 2. 1888 betreffend Änderungen der Wehrpflicht 210 Reichsgesetz vom 15. 2. 1875 über die Ausübung der militärischen Kontrolle über die Personen des Beurlaubtenstandes 210
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Sachregister / Subject Index
Reparationszahlung 190, 216 Rhodesien 166 Richter 66 Rischon leTzion 78 Riu Muni, spanische Enklave 162 Roosevelt-Corollary 225 Ruanda-Urundi 133, 145, 146 Rupturistas 230, 231, 233 Russland 16 ff., 21, 30, 49, 50, 52, 54 ff., 77, 80, 84, 85, 96, 115, 116, 121, 122, 156, 169, 189, 191, 194, 201, 202, 204, 207, 208, 209, 215 ff., 249, 255, 257, 259 Sachalin, Insel 202 Safed 84 Saint-Jean-de-Maurienne, Vertrag von, 18. 8. 1917 26 Sakarya-Fluss, Schlacht am 38 Salomon-Inseln 203, 253 Samaria 68, 69, 110 Samariter 68, 71 Samoa 131, 133, 140, 175, 203 Samoa-Akte 175 Sandfontein 161 Sandschak 40, 75 Sanremo 25, 88, 92 f., 96, 117 Sanremo, Konferenz von 25, 92 f., 96, 117, 120 Sarıkamıs¸, Schlacht von 53, 56, 60 Sassaniden 73 Saudi-Arabien 85, 99 Schantung-Halbinsel 202 Schutzgebiete, deutsche 128, 129, 130, 132, 133, 135, 136, 137, 139, 140, 150, 212, 215 Schutzgebiete im Pazifik 212, 215 Selbstbestimmungsrecht der Völker Seleukiden 70, 71 Sèvres, Friedensvertrag von, 10. 8. 1920 13 ff., 20, 21 ff., 25 ff., 28, 29, 30, 32, 36, 37 ff., 39 ff., 43, 45 ff., 59, 92, 93, 94, 115, 116, 132, 137 Shandong, ostchinesische Provinz 175, 177, 179, 187, 190, 192 Shikoku, japanische Insel 201 Shimoda, japanischer Hafen 204 Shimonoseki, Friedensvertrag von, 17. 4. 1895 202 Shimonoseki, japanische Stadt 213
Sibirien 217 Sinai 59, 82 Sino-American Treaty for the Relinquishment of Extraterritorial Rights 193 Sklavenhandel 142 Sklaverei 65, 142 Smyrna (siehe Izmir) 19, 24, 31 f., 37 Smyrna-Zone 31 Sonderfrieden vom 20. 5. 1921, deutsch chinesischer 186, 189, 190, 196, 197 Souveränität in den Mandatsgebieten 138 Sowjetisierung Lateinamerikas 235 Sowjetunion 59, 104, 106, 169, 194, 246, 248, Spanien 72, 121, 146, 203, 223 Staatssozialismus 248 Südafrika 149, 161, 167 Südafrikanische Union 133, 140 Südrussland 59 Südtirol 254 Südwestafrika 132, 133, 134, 139, 140, 146, 149, 161, 162, 163 Sufi-Bruderschaften 167 Swakopmund 161 Sykes-Picot-Abkommen vom 16. 5. 1916 20, 21, 26, 83 ff., 92, 113 ff. Syria 61, 62, 72, 90, 91, 98, 110 Syrien 30, 54, 71, 72, 74, 83, 88, 90, 92, 93, 96, 98, 101, 113, 116, 117, 120, 124, 132, 141, 143, 148 Syrien, Königreich 118 Syrien, Mandatsgebiet 98, 143, 148 Syrien, Provinz 72, 116, 118 Taiwan 174, 181 Tanga, ostafrikanische Hafenstadt 161 Tanganjika 133, 144 Tang-Dynastie 174 Tanzimat-Ära 75 Taveta 161 Tel Aviv 79, 105, 110 Tel Chai, Schlacht von 118 Thrakien 19, 28 Tiflis 50, 52, 56, 58 Togo 128, 131, 132, 144, 145, 152, 158 ff., 170 Togobund, Deutscher 131 Totes Meer 62, 63, 85 Trabzon 19, 55, 56, 57
Sachregister / Subject Index Transjordanien 62, 93, 95 ff., 106, 132, 144 Transkaukasisches Kommissariat 56 Trentino 254 Treuhandgebiet 127, 143, 148, 149, 150 Treuhandsystem 127, 148, 150 Triest 254, 255 Tripelintervention 202, 208 Triple Entente 21, 46, 80 Tripolitanien 88 Trumpismus, Regierungsstil Donald Trumps 172 Tschechoslowakei 257 Tsingtau, chinesische Stadt 159, 174, 175, 177, 178, 179, 180, 182, 184, 189 ff., 202, 210, 211 Tunesien 27, 121 Türkei 14, 17, 18, 25 ff., 39 ff., 83, 92, 93, 113, 120, 132, 137, 254 Tyros 84 Ueberseeterritorien, deutsche 127 Ugogo 164 Ungleiche Verträge 203 UN-Teilungsplan von 1947 104, 105 Uruguay 225, 232, 233 Valparaiso 227 Van 53, 54, 55, 56, 57 Venezuela 227, 232 Vereinigte Staaten von Amerika 24 ff., 29, 76, 85, 89, 92, 104, 127, 133 ff., 143, 146, 149, 172, 177 ff., 190 ff., 206, 209, 215, 217, 219, 222, 225 ff., 235 ff. Vereinigtes Königreich 14, 20, 24, 26, 29, 31, 38, 39, 40, 81, 82, 83, 84, 86, 92, 93, 95, 104, 114, 116, 117, 119, 120, 121, 123, 124 Versailler Vertrag vom 28. 6. 1919 26, 29, 131, 133, 134, 135, 136, 141, 184, 185, 186, 217, 233, 238
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Vierzehn Punkte-Programm Wilsons 22 Vilayet 75 Völkerbund 28, 30, 31, 89, 90, 124, 134, 138, 140, 143, 147, 148, 216, 234 Völkerbundsmandat für Palästina 96, 116, 141 Völkermord 18, 23, 36, 49 Waffenstillstandsabkommen von Compiègne 127 Walfischbucht 149 Watchtower Kirche 166, 167 Weltwirtschaftskrise 235 ff. Westafrika 157, 159 Westarmenische Administration 56 Westjordanland 63, 108, 110 West-Samoa 131, 175 Westthrakien 28, 40, 44 Wilna-Gebiet 256 Wilson-Doktrin 172, 192 Wilsonianische Enttäuschung 234 Wilson-Linie 29 Windhuk 162 Woodhead-Kommission 102 f. Worms 72 Yaounde 162 Yihetuan 177 Yokohama 213 Zeamet 75 Zichron Ja’akow 78 Zimmermann-Telegramm 229 Zionismus 77 ff., 86, 92, 117, 118, 122 Zionistische Weltorganisation 122, 124 Zwangsumsiedlung 44 Zwölf-Stämmebund 65