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German Pages 395 [396] Year 2022
Emmanuel Droit, Nicolas Offenstadt (Hrsg.) Das rote Erbe der Front
Das rote Erbe der Front Der Erste Weltkrieg in der DDR Herausgegeben von Emmanuel Droit und Nicolas Offenstadt
Diese Publikation wurde finanziell vom Institut d’histoire moderne et contemporaine (Université Paris 1, ENS-Ulm, CNRS), dem Forschungsinstitut LinCS der Université de Strasbourg und dem Centre Marc Bloch e.V. gefördert.
Centre Zentrum Marc Bloch
Institut d’histoire moderne et contemporaine UMR 8066
ISBN 978-3-11-071073-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-071084-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-071091-5 Library of Congress Control Number: 2022930248 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Nahaufnahme des Gemäldes von Siegfried Henze mit einer Darstellung von Max Hoelz, 1989, Öl auf Hartfaser, Auftragswerk der SED-Kreisleitung (1988), Besitz der Stadt Falkenstein, Depot des Heimatmuseums Falkenstein/Vogtl Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Danksagung Dieses Buch besitzt seinen Ursprung im Kontext eines intellektuellen Treffens und fruchtbaren Austausches zwischen einem DDR-Historiker und einem Historiker des Ersten Weltkrieges. Das gemeinsame Projekt ist dann im Laufe der Jahre zu einem kollektiven und interdisziplinären Unternehmen herangewachsen und wurde stetig durch die Expertise von französischen, deutschen und angelsächsischen Kollegen aus der Literatur-, der Film-, der Erziehungs- und der Geschichtswissenschaft bereichert. Dieser Sammelband ist das Ergebnis dieses ständigen und anregenden Austausches. Ganz besonders möchten wir den Autoren für ihr Verständnis, ihre Geduld und ihre Unterstützung während des mehrjährigen Arbeitsprozesses danken. Unser besonderer Dank gilt zudem der Stiftung zur Aufarbeitung der SEDDiktatur und insbesondere Ulrich Mählert, der, von Anfang an, an unserem neuartigen Konzept geglaubt hat. Das Projekt startete 2015 in Berlin mit einem Forschungsseminar, das vom Centre Marc Bloch und seinem ehemaligen Direktor Patrice Veit unterstützt wurde. Dieses „Seminarkollektiv“ stellte die Weichen für die Organisation einer internationalen Tagung, die im Juni 2016 an der EuropaUniversität Viadrina in Frankfurt/Oder unter der Schirmherrschaft der Gastprofessur „Pensées françaises contemporaines“ stattgefunden hat. Unser besonderer Dank gilt Timm Beichelt, der unser Unternehmen begleitet und unterstützt hatte. Ohne die finanzielle Unterstützung vom Institut d’histoire moderne et contemporaine (Université Paris 1, ENS-Ulm, CNRS), interdisziplinären Forschungsinstitut in Cultural Studies (LinCS) der Université de Strasbourg und des Centre Marc Bloch in Berlin wäre diese Publikation nie zustande gekommen. Dafür danken wir herzlich Jean-Luc Chappey, Maurice Carrez und Jakob Vogel. Schließlich ermöglichten Anna Hesse, Sybille Schröder, Elise Wintz und Jessica Bartz die reibungslose Druckvorbereitung. Wir danken ihnen für die Übersetzung der Einleitung bzw. für das Lektorat und die Durchsicht des Manuskripts. Paris/Strasbourg, 7. April 2022 Emmanuel Droit & Nicolas Offenstadt
https://doi.org/10.1515/9783110710847-001
Inhalt Emmanuel Droit und Nicolas Offenstadt Der Erste Weltkrieg und die DDR oder wie man die Kontinuitäten in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts reflektieren kann 1
Teil I: Erfahrung und Tradierung – eine biografische Perspektive Marcus Schönewald Wilhelm Pieck im Krieg Der Erste Weltkrieg als biografische Zäsur und erinnerungspolitisches 31 Kapital Norman LaPorte „Legenden haben ein zähes Leben“: Ernst Thälmann, der Erste Weltkrieg und Erinnerung in der DDR 79 Emmanuel Droit Geteilte Schicksale zweier Tschekisten. Zaissers und Wollwebers Erbe der Front 99
Teil II: Das „monumentale“ Gedächtnis des Ersten Weltkrieges in der DDR Nicolas Offenstadt Die „Roten Matrosen“ von 1917 Albin Köbis und Max Reichpietsch, Helden der DDR
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Elise Julien Denkmäler des Ersten Weltkrieges in Berlin, der SBZ und der DDR
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Inhalt
Teil III: Das „literarische“ Gedächtnis des Ersten Weltkrieges in der DDR Jan Vermeiren „Ankläger des imperialistischen Krieges“ und „führender Repräsentant der sozialistischen Literatur der DDR“ – Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte 187 Ludwig Renns nach 1945 Julian Nordhues „Vom Nein zum Krieg bis zum Ja zur Revolution“ – Die Rezeption der 207 Antikriegsliteratur der Weimarer Republik in der DDR Olaf Müller Immer nur Barbusse? Der französische Kriegsroman in der DDR
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Teil IV: Malerei und Film – eine künstlerische Perspektive Diane Barbe Zwischen Archiv und Fiktion, zwischen Erfahrung und Erinnerung: 239 die Darstellung des Raumes im Film Erziehung vor Verdun Francesca Müller-Fabbri Der Erste Weltkrieg in der DDR-Kunst. Fragmente und Hindernisse einer Interpretation Ehret die neuen Meister. Der erste Weltkrieg in der DDR-Kunst: 255 eine differenzierte Rezeption
Teil V: Der Erste Weltkrieg in der DDR-Geschichtsschreibung Matthew Stibbe Warum Kriege? Wozu Geschichte(n) von Kriegen? Der Erste Weltkrieg in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung der DDR 273 Paul Maurice „Parteilichkeit und Objektivität in der Geschichte“ Die Rezeption der Thesen Jürgen Kuczynskis über den „Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie“ (1957) 307
Inhalt
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Christian Westerhoff Fremdarbeiterpolitik des Imperialismus. Die Migrationsforschung zum Ersten 325 Weltkrieg in der DDR
Teil VI: Der Erste Weltkrieg in der DDR-Schule Rita Aldenhoff-Hübinger Kampf um die Erinnerung in Frankfurt (Oder). Der Erste Weltkrieg und die Karl-Liebknecht-Schule 343 Rainer Bendick Didaktische Lehren aus dem Ersten Weltkrieg? Die Darstellungen des Ersten Weltkrieges in der DDR. Geschichtsbücher im Spiegel der republikanischen und pazifistischen 355 Reformbestrebungen der 1920er-Jahre Autorenliste
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Personenverzeichnis
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Der Erste Weltkrieg und die DDR oder wie man die Kontinuitäten in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts reflektieren kann „Deutschland? aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden.“ Johann W. Goethe / Friedrich Schiller, Xenien, 1796
Eine lange Geschichte der DDR Eigentlich verliert die Frage nach der zeitlichen Verortung eines historischen Forschungsobjektes an heuristischem Interesse, wenn die Dinge so evident erscheinen. Aus einer traditionellen makrohistorischen Perspektive betrachtet tritt die zeitliche Einteilung dann glasklar hervor: Die DDR wurde am 7. Oktober 1949 auf der territorialen Grundlage der sowjetischen Besatzungszone geboren, in Antwort auf die Gründung der Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949. Und so verschwindet sie am 3. Oktober 1990 wieder auf der juristischen Grundlage des Artikels 23 des Grundgesetzes der BRD, der den Beitritt der ostdeutschen Bürger aus 14 alten Bezirken, von nun an in fünf neuen Bundesländern lebend, ermöglichte.¹ Aus diesem zeitlichen Rahmen resultieren automatisch Definitionen der DDR, als „ein Produkt des Kalten Krieges und der Blockbildung“² oder als „Stalins ungeliebtes Kind“³. Große Teile der westdeutschen Historiografie sahen in der DDR, sowohl vor als auch nach 1990, nur eine Randnotiz der Geschichte, eine „sowjetische Satrapie“, verwaltet von „deutschen Bolschewiki“⁴ (Hans-Ulrich Wehler) ohne bzw. fast ohne in einem Bezug zur deutschen Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu stehen. Diese ideologisch-konservative Sichtweise auf die DDR bestimmt auch noch maßgeblich den heutigen politisch-medialen Diskurs, auch wenn einige deutsche und internationale Historikerinnen und
Anmerkung: Dieser Text wurde von Anne Hesse übersetzt. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde. München 2019. Kott, Sandrine: Histoire de la société allemande au XXe siècle, tome III: La RDA 1949 – 1990. Paris 2011, S. 3. Loth, Wilfried: Stalins ungeliebtes Kind: warum Moskau die DDR nicht wollte. München 1996. Wehler, Hans-Ulrich: Vorwort. In: Bundesrepublik und DDR 1949 – 1990. München 2008 (Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5) S. XV. https://doi.org/10.1515/9783110710847-002
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Historiker, die, aus dem Bereich der Sozialgeschichte kommend, sich darum bemühen die Dynamiken der DDR-Gesellschaft besser zu kontextualisieren und zu ergründen und dieses stark vereinfachte Bild zu korrigieren⁵. Aus unserer Sicht ist das genau das Ziel dieses Sammelbandes, in dem Beiträge französischer, deutscher und britischer Historiker versammelt sind. Es geht hier nicht darum zu beschreiben, was die DDR einmal gewesen ist, sondern vielmehr darum, sie in die Zeitgeschichte Deutschlands einzuschreiben. Dies wird möglich, indem die Erinnerungen (mémoires) an den Ersten Weltkrieg aus einer breiten kultur-, sozial- und politikgeschichtlichen Perspektive betrachtet werden. In der Nationalsozialismus-Forschung ist man der Frage nach dem Umgang mit dem „Großen Krieg“ bereits umfassend nachgegangen. Diese Beschäftigung resultiert u. a. aus der Auffassung, dass die nationalsozialistische Ideologie in Kontinuität zum radikalen Nationalismus des Endes des Krieges steht. Zu den unterschiedlichen Weltkriegsnarrativen, die durch die Nationalsozialisten bzw. während der Zeit des NS-Regimes konstruiert worden sind, liegen so eine Vielzahl von Arbeiten vor.⁶ Der Historiker Ian Kershaw brachte es sogar auf die metonymische Formel, dass Hitler ohne den Ersten Weltkrieg nicht möglich gewesen wäre: „The First World War made Hitler possible“⁷ Würde man sagen, dass Pieck oder Ulbricht ohne den Ersten Weltkrieg nicht möglich gewesen wären? Indem diese Frage gar nicht erst gestellt wird, fassen einige deutsche Historikerinnen und Historiker die Rolle des ostdeutschen Kommunismus in der deutschen Zeitgeschichte als weniger evident als die des Nationalsozialismus auf. Ferner wird hier der Kommunismus als Resultat eines geopolitischen Unfalls bzw. Opportunismus betrachtet. Ganz klar zielt dieses Bemühen um eine zeitliche Verortung nicht darauf ab, den kommunistischen historiografischen Diskurs zu reproduzieren, in dem die Geschichte der Gründung des „ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden“ in eine große Erzählung, beginnend mit der Oktoberrevolution, eingebettet wird. Die DDR war nicht nur einfach ein artifizieller Staat, geboren aus dem Antagonismus zweier Supermächte, dessen Legitimität nur dank der sowjetischen
Bösch, Frank (Hrsg.): Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970 – 2000, Göttingen 2015. Siehe u. a. Krumeich, Gerd (Hrsg.): Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg. Essen 2010; Weber, Thomas: Hitlerʼs First War. Adolf Hitler, the Men of the List Regiment, and the First World War. Oxford 2010; Weinrich, Arnd: Der Weltkrieg als Erzieher. Jugend zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus. Essen 2013. Kershaw, Ian: Hitler 1889 – 1936. Hubris. London 2001, S. 73. Diese metonymische Formel kann auch auf andere Akteure aus der zweiten Reihe angewendet werden: z. B. Patin, Nicolas: Krüger. Un bourreau ordinaire. Paris 2017.
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Militärpräsenz gegeben war. Sie ist vielmehr Teil einer doppelten Historie: die der langen Geschichte der Arbeiterbewegung, beginnend in der Mitte des 19. Jahrhunderts, und eine kürzere Geschichte der politischen und militärischen Erfahrungen einiger ostdeutscher Führungseliten, die sie in den Jahrzehnten vor 1949 gemacht hatten: Exil in der Sowjetunion während der Zeit des stalinistischen Terrors, oder in Großbritannien Widerstand im Untergrund in Deutschland oder in Frankreich, Haft in den Konzentrationslagern in Buchenwald oder Sachsenhausen während des Nationalsozialismus, antifaschistisches Engagement während des spanischen Bürgerkrieges oder die versuchten Aufstände und Straßenkämpfe während der Weimarer Republik. Diese Reihe von Erfahrungen, die vom politischen Engagement und Räumen der Gewalt zeugen, wollen wir gerne um die Perspektive der Erfahrungen des Ersten Weltkrieges ergänzen. Der Krieg von 1914– 1918 stellt in jedem Fall einen toten Winkel in der DDRForschung dar.⁸ Wenn diese fundamentalen Erfahrungen im Zusammenhang mit dem als illegitim bezeichneten Regime sichtbar gemacht werden sollen, dann muss zunächst der ideologische Diskurs, der dieses „andere Deutschland“ (Albert Norden) als ein Produkt der deutschen Geschichte auffasst, ernsthaft betrachtet werden. Für die deutschen Kommunisten, die den Terror der Nationalsozialisten, die stalinistischen Säuberungen oder den Krieg überlebt hatten, ergab sich mit der Gründung der DDR die historische Chance, das Projekt einer radikalen Transformation der Gesellschaft, die auf den historischen Ansprüchen der deutschen Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts fußte, in die Tat umzusetzen. In den Augen der Generation der Staatsgründer war die Gründung der DDR kein historischer Unfall, sondern, wie es Walter Ulbricht in einer Rede 1958 anlässlich des 40. Jahrestages der Novemberrevolution formulierte, die notwendige Vollendung der „Beseitigung des Imperialismus und die Schaffung eines friedliebenden, demokratischen und sozialistischen Deutschlands“.⁹ Wie der regimetreue Historiker Ernst Hoffmann es formulierte, stellte die DDR die Vollendung der Versprechen von 1918/1919 dar, welche aufgrund der „Schwächen und Mängel“ der revolu-
Mählert, Ulrich (Hrsg.): Die DDR als Chance. Neue Perspektiven auf ein altes Thema. Berlin 2016. Ulbricht, Walter: Begründung der Thesen über die Novemberrevolution 1918. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 6 (1958), S. 28. Zu dieser „nationalen Grundkonzeption“ Ulbrichts siehe Lokatis, Siegfried: Der rote Faden. Kommunistische Parteigeschichte und Zensur unter Walter Ulbricht. Köln 2003 und zu den Debatten über das Erbe der Revolution von 1918 in der DDR, vgl. Niess, Wolfgang: Die Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichtsschreibung: Deutungen von der Weimarer Republik bis ins 21. Jahrhundert, Berlin 2013. S. 327– 368.
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tionären Bewegung nicht hatten umgesetzt werden können.¹⁰ Zwanzig Jahre später, im Oktober 1978, erinnerte der Rat der Nationalen Front der DDR, das Staatsorgan, welches alle staatlich autorisierten politischen Parteien und Organisationen umfasste, mit Blick auf die Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Revolution an die historische Legitimität des ostdeutschen Sozialismus: In unserer sozialistischen DDR haben die revolutionären Träume und Ziele der deutschen Arbeiterklasse von 1918, der opferreiche Kampf von Millionen Arbeitern, Soldaten und anderer Werktätiger im Werden und Wachsen des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden ihre Erfüllung gefunden.¹¹
Für viele Teile der politischen Elite der DDR markierte 1949 den Startpunkt eines Projektes, dessen entscheidende Weichen bereits 1918/1919 bzw. im August 1914 gestellt worden waren. Inwiefern hat die Erfahrung des Ersten Weltkrieges dazu beigetragen, jene deutsche kommunistische Kultur herauszubilden, die sich nach dem amerikanischen Historiker Eric Weitz durch eine besondere Unnachgiebigkeit auszeichnete, und die sich von der Entwicklung in den anderen kommunistischen Staaten Europas unterschied?¹² Inwiefern war der historische Moment 1914– 1918 in der DDR präsent? In welchen Formen und mit welcher Prägnanz? Um sich der fundamentalen Frage nach den Kontinuitäten in der Zeitgeschichte Deutschlands zu nähern, haben wir den Versuch gewagt, die Geschichte der DDR mit der Geschichte des Ersten Weltkrieges zu verknüpfen. In einer Reihe von Beiträgen, denen biografische, historiografische und erinnerungskulturelle Analysen zugrunde liegen, wird der Krieg zum einen als eine in Erzählungen gefasste politisch-militärische Erfahrung (grundlegend oder nicht), aber auch als eine Geschichte des zweiten Grades aufgefasst, die, eingebettet in die große historische Erzählung, in Form einer spezifischen Erinnerungskultur von den Institutionen und kulturellen Vektoren, wie der Schule oder dem Institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften, vermittelt wurde.
Hoffmann, Ernst: Zur Bedeutung der Beschlüsse der SED über die neueste deutsche Geschichte. Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung (BzG), 3 – 3, 1965, S. 440. Die Idee, aus den Fehlern von 1918 direkte Lehren zu ziehen, kam schon in den wichtigen Texten der KPD/SED von 1945 – 1946 zu Sprache. Vgl. Niess, Die Revolution, S. 328 – 330. Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, (SAPMOBArch), DY 6/1402, 60. Jahrestag der Novemberrevolution, 1978, unpag. Weitz, Eric: Creating Communism 1890 – 1990. From Populist Protests to Socialist State. Princeton 1997.
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Der Krieg als individuelle Erfahrung Dramatischen Lebenswegen sind Kontinuitäten und Zäsuren konstitutiv: Sie zeugen von unterschiedlichen traumatischen und prägenden Erfahrungen, von politischen Emotionen, die Aufschluss über die Zukunft eines Individuums geben können. So wurden viele „historische“ Führungspersönlichkeiten der DDR zu Ende des 19. Jahrhunderts geboren, zwischen Mitte der 1870er- und 1890er-Jahre. Sie waren also mehr oder weniger von der Erfahrung des Ersten Weltkrieges geprägt. So sind sie Soldaten an der Front gewesen, wie Franz Dahlem, Johannes Dieckmann, Hermann Duncker, Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht oder Wilhelm Zaisser. Andere sind Teil der Kriegsmarine gewesen, wie z. B. Ernst Wollweber. Gleichzeitig begegnen sie uns als Mitglieder der Spartakisten-Bewegung, in den Arbeiter- und Soldatenräten oder als Akteure der kommunistischen Umsturzbemühungen zu Beginn der 1920er-Jahre wieder. Innerhalb der umfassenden und produktiven DDR-Historiografie ist die Biografieforschung jedoch nur wenig präsent.¹³ Dieser tote Winkel trägt dazu bei, den oben genannten chronologischen Blick auf die DDR – den viele Spezialisten teilen – nur noch weiter zu verengen. Analysiert man Briefe oder autobiografische Dokumente der kommunistischen Eliten, die zum Teil während der DDR publiziert worden sind, kann festgestellt werden, dass viele sich darin als „Kriegsunfreiwillige“ (Michael Geyer) bezeichnen bzw. es gewesen sind.¹⁴ Diese eingezogenen Soldaten steckten in einem moralischen Dilemma: Sie mussten einem Krieg dienen, den sie ablehnten. Vor ihrem Einsatz hatten einige von ihnen zu den ersten Pazifisten oder Kriegsgegnern gehört. Dieses antimilitaristische Engagement scheint in ihren Biografien sogar eine viel wichtigere Rolle gespielt zu haben als die Oktoberrevolution von 1917. So verteilte Walter Ulbricht in Leipzig ab 1914 Flugblätter, die von einer antimilitaristischen und antipatriotischen Tonalität geprägt sind. So waren darauf Losungen wie „Die Welt ernährt sich vom Blut“ oder „Der Hauptfeind steht in eigenem Land“ (Liebknecht) zu lesen. In einer Rede vom 17. Juni 1962 im Rahmen des Kongresses der Nationalen Front, die „die historische Aufgabe der DDR und die Zukunft Deutschlands“ thematisierte, erinnerte der ostdeutsche Machthaber stolz an dieses frühe antimilitaristische Engagement: „Als der Kaiser am 1. August den Krieg erklärte,
Siehe demgegenüber Sabrow, Martin, Erich Honecker. Das Leben davor: 1912– 1945. München 2016. Ilko Sascha-Kowalczuk bereitet seinerseits eine Biographie von Walter Ulbricht vor. Ziemann, Benjamin: Gewalt im Ersten Weltkrieg. Töten – Überleben – Verweigern. Essen 2013, S. 17.
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waren wir nur wenige! Ich erinnere mich, wir waren fünf junge Leute in Leipzig, die die antimilitaristische Propaganda initiierten.“¹⁵ Wilhelm Pieck war seinerseits ein sehr aktiver Spartakist¹⁶. In seinen Memoiren, die er zusammen mit seiner Frau Erika einige Jahre vor seinem Tod verfasst hatte, die aber niemals publiziert worden sind, formulierte Ernst Wollweber, der ehemalige Chef der Staatssicherheit, dass er und seine Freunde „nicht hatten Soldaten werden wollen und vor allem nicht an die Front geschickt werden wollten“.¹⁷ Sie entwickelten Pläne, wie sie dem Krieg hätten entkommen können, wobei sie sogar eine Flucht nach Holland oder Schweden in Betracht zogen. Dennoch führt die Wahl dieses biografischen Zugriffs, um einen Bogen zwischen dem Ersten Weltkrieg und der DDR zu spannen können, aber auch zu unvermeidbaren methodologischen Schwierigkeiten, die bei der Analyse von kommunistischen Biografien auftreten. Jene unterlagen einem doppelten Zwang nach Uniformität und Exemplarität, die als Quelle politischer Legitimität dienen sollten. Unklarheiten, Diskrepanzen, Fehler und Auslassungen wurden so camoufliert, nachgebessert, glattgebügelt oder sogar mit Hilfe einer Umschreibung der Geschichte eliminiert. Die Komplexität einer jeden Biografie musste der Einfachheit und Geradlinigkeit einer kommunistischen Vita weichen: So markierten eine bescheidene Herkunft und ein Gespür für Ungerechtigkeiten die Lebenswege der Kader, die die historische Mission der kommunistischen Partei erfüllen sollten. Grauschattierungen mussten daher zwingend durch eindeutige Narrationen ausgetauscht werden. Der Historiker Martin Sabrow hat sich kürzlich daran gemacht den Lebensweg Erich Honeckers nachzuzeichnen. Einen ersten Band widmete er seinem „Leben davor„, d. h. der Zeit von 1912– 1945. In dieser exemplarisch fundierten Studie gelingt es ihm die historische Persönlichkeit auszumachen, indem er sie vom offiziellen, durch das SED-Regime konstruierten autobiografischen Diskurs loslöst.¹⁸ Dabei soll jene diskursive Verarbeitung der Kriegserfahrungen der politischen Gründerfiguren der DDR dekonstruiert werden.
Das Nationale Dokument. Wortlaut des Dokuments und der Rede des Vorsitzenden des Staatsrates, Walter Ulbricht, auf dem Nationalkongreß, Berlin, 1962, S. 82 Institut für MarxismusLeninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland (Hrsg.): Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 2. Berlin 1966, S. 208. Siehe hier den Beitrag von Marcus Schönewald. SAPMO-BArch, Nachlass Wollweber, NY 4327/7, S. 14 f. Sabrow, Honecker.
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„Der Krieg der Kommunisten“ In dieser diskursiven Verarbeitung der Lebenswege, die im Rahmen dieses Sammelbandes von Emmanuel Droit, Norman Laporte, Marcus Schönewald und Jan Vermeiren, untersucht worden ist, konnten drei Mechanismen ausgemacht werden. Sie greifen auf unterschiedliche Weise ineinander, je nachdem welcher Ort und welche Zeit betrachtet wird. Auf eine gewisse Art zielen sie darauf ab, die fundamentale Bedeutung des Krieges von 1914/1918 zu reduzieren bzw. zu verklären, wie es in den untersuchten Biografien von Renn, Pieck, Thälmann, Zaisser oder Wollweber deutlich wird. Im ersten Mechanismus wird der Erste Weltkrieg in einen allgemeinen interpretativen Rahmen eingefügt, wodurch die Zentralität dieses Ereignisses reduziert wird. Im zweiten wird er in den legitimen „kommunistischen Krieg“ eingefügt, ein mehrfacher Kampf, der zeitlich versetzt ist (1917– 1923), in dessen Erzählung die Episoden von 1914– 1918 – integriert oder nicht – oft eine untergeordnete Rolle spielen. Der dritte Mechanismus ermöglicht es, den Krieg in den größeren Rahmen der sozialen Kämpfe einzufügen, indem die Kriegserfahrungen fast schon unsichtbar werden. So wird die Erzählung über den Krieg auf einen Diskurs, mit Abstufungen, über einen politischen Lernprozess und eine politischideologische Wandlung reduziert. Jener kann gelingen, indem die Individuen die Erfahrung einer Entzauberung der Welt durchlaufen, sodass die Realität ihnen endlich in ihrer ganzen Härte und Wahrheit erscheint. Bei Ludwig Renn ist dieser „Reifeprozess“ (Jan Vermeiren) etwa verschoben. Nichtsdestotrotz bleibt er für die DDR sehr brauchbar, da Renn aus einem Adelsmilieu stammt: Die Überzeugungskraft des Kommunismus wird dort deshalb umso deutlicher.
Der Große Krieg und die große Meistererzählung Grundsätzlich ist der Erste Weltkrieg, so wie er im Diskurs der DDR konstruiert wird, kein zentrales und bedeutendes Ereignis. Die Erzählungen über den Krieg dienen weniger dazu, seine Bedeutung aufzuzeigen, sondern werden vielmehr in die Meistererzählung vom „Kampf für den Frieden“ integriert, ein Motiv, welches die DDR in ihrer Selbstbeschreibung hervorhebt und das ab 1949/1950 verwendet wird, um sich gegenüber der vom Zusammenbruch von 1945 traumatisierten Bevölkerung zu legitimieren. Davon wurde eine ontologische Konkurrenz um die Definition des Begriffes Pazifismus abgeleitet, wobei der Weltkrieg eine Klammer für den legitimen Pazifismus darstellte, der andere Formen des Kampfes gegen den Krieg, die als erfolglos und falsch abgetan wurden, verwarf: Er wurde argu-
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mentativ dafür eingesetzt, um den bürgerlichen Pazifismus zu delegitimieren, indem die Fehler seiner Anhängerinnen und Anhänger aufgezeigt wurden.¹⁹ So wurde auch die Kriegsfibel von Brecht zunächst aufgrund ihrer pazifistischen Tendenz kritisiert (1950), als zu kritisch gegenüber dem Krieg an sich und zu wenig für den antifaschistischen Krieg, bevor sie dann 1955 dennoch publiziert wurde.²⁰ Ein Heft, 1976 verfasst von Willibald Gutsche, endet mit einer Art Bilderreihe, in denen der Weltkrieg bilanziert wird: ein Haufen von leeren Helmen, durch den Krieg verstümmelte Personen, und, in Großbuchstaben, eine Bilanz der Opfer und der wirtschaftlichen Kosten des Krieges. Damit ähnelt das Heft den auffälligen Schriftstücken der Pazifisten der 1920er-Jahre und dem Brechtʼschen Buch. Der Diskurs ändert sich über die Zeit dahingehend, gemäß den Strategien und Konjunkturen, dass die Historiker Dorst und Wünsche 1989 zu dem Schluss kommen, dass 1914 die „bürgerliche Friedensbewegung“ und die Antikriegsbewegung der Arbeiterklasse viele Ansichten teilten.²¹ Nichtsdestotrotz wird die schöpferische Dimension des Ersten Weltkrieges nicht vollständig verworfen. Im DDR-Diskurs beginnt der Krieg mit einem zentralen Moment, das mehr oder weniger in den Quellen dramatisiert wird, nämlich der Verrat durch die Mehrheit der Sozialdemokratie, den „Opportunisten„, die sich dem Krieg und dem Burgfrieden anschließen. Der Begriff Verrat, der „beispiellos“ gewesen sei, hebt hier ebenfalls die von Walter Ulbricht eingeforderte große Erzählung von der Geschichte der deutschen Arbeiterklasse hervor, welche im ganzen Land durch die schulischen Einrichtungen²² wie auch durch die Maßnahmen zur Vulgarisierung von Geschichte verbreitet wurde.²³ Selbst die Autobiografie eines Repräsentanten einer Generation, die keine Kriegserfahrung
Zu diesen Fragen siehe in aller Kürze: Offenstadt, Nicolas: Pacifisme: un mouvement européen à éclipses. In: Charle, Christophe u. Roche, Daniel (Hrsg.): L’Europe, encyclopédie historique. Arles 2018, S. 1641– 1644; und detaillierter: Offenstadt, Nicolas u. Picard, Emmanuelle: Les pacifistes. In: Rousseau, Frédéric (Hrsg.): Guerres, paix et société. Neuilly 2004, S. 552– 573. Brecht, Bertolt: L’ABC de la guerre. Traduit de l’Allemand par Philippe Ivernel. Paris 2015, S. 187. Dorst, Klaus u. Wünsche, Wolfgang: Der erste Weltkrieg. Erscheinung und Wesen. Berlin 1989, S. 45. Institut für Marxismus-Leninismus: Arbeiterbewegung, S. 209, 211, 219, 220, 222, 278 etc. Zur Bedeutung und Genese dieses Werkes siehe: Lokatis, Der rote Faden; ders.: Ein „Heiliger Text“ der SED? Die achtbändige Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung Walter Ulbrichts. In: Ders.: Verantwortliche Redaktion: Zensurwerkstätten der DDR. Stuttgart 2019, S. 367– 394; siehe auch: Gutsche, Willibald: 1. August 1914. (Illustrierte historische Hefte, 3). Berlin 1976, S. 20, 37. Lehrbuch für den Geschichtsunterricht. 7. Schuljahr. Berlin 1952, S. 358 – 370. „Die opportunistischen Führer gingen bei Kriegsbeginn offen auf die Seite des deutschen Imperialismus, also zu den Feinden des deutschen Volkes, über und leisteten ihnen Hilfe“, hier S. 361.
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gemacht hatten, wie z. B. Erich Honecker (geb. im August 1912), lieferte, sorgfältig „geglättet“ durch die staatlichen Behörden, eine Bühne dafür, den „Verrat vom August 1914“ zu denunzieren. Darin wird die fundamentale Rolle des Konfliktes in der politischen Sozialisation des jungen Saarländers aufgezeigt: „Der imperialistische Krieg mit all seinem Elend war zum aufwühlenden Erlebnis meiner Kindheit geworden.“²⁴ Der junge Honecker schließt daraus die Einsicht, die ihm durch seinen Vater Wilhelm, der 1915 in die kaiserliche Marine eingezogen wurde und der 1918 der USPD beitrat, vermittelt worden war, dass die Gefahr das „Gift des Nationalismus“ sei, gegen das der zukünftige Machthaber der DDR seit seinem fünften Lebensjahres „immun“ gewesen sei.²⁵ Jene offizielle Honecker-Autobiografie mobilisiert hier die literarische Figur des puer senex, des für sein Alter unglaublich weisen Kindes, welches in der Lage ist die Welt mit der Klugheit eines Erwachsenen zu betrachten und daraus verschiedenste politische Einsichten abzuleiten: So betont Honecker, dass „die Nachricht vom Roten Oktober in Russland und die Hoffnung, die von dieser Nachricht ausging“ sich in seinem „Bewusstsein verankert“ hatte.²⁶ Die Bedeutung der Episode des Verrates, die es möglich machte, nach 1945 dem sozialistischen Verhalten/Abschwörungen eine Historizität mittlerer Dauer zu verleihen, führte dazu, dass andere Stimmen, die versuchten, das Ereignis dicht zu rekonstruieren, nicht gehört wurden. Wie die Kuczynski-Affäre von 1957 zeigt, die im Beitrag von Paul Maurice analysiert wird, stand es für das SED-Regimes außer Frage einen historischen Diskurs zuzulassen, indem gezeigt wird, dass die Masse der Arbeiterinnen und Arbeiter der Kriegsstimmung gefolgt ist, wenn auch nur durch Täuschung. Im offiziellen Narrativ bildete der August 1914 den Startpunkt, der zwangsläufig und direkt zum November 1918 und zum Januar 1919 führte, als die SPD sich mit den konservativen Kräften zusammenschloss und so den Verrat vom August 1914 auf gewisse Weise besiegelte.²⁷ Der Einsatz der Freikorps durch Noske inkarniert, in diesem Moment selbst, den erneuten Verrat der Sozialisten. Sind es in den Erinnerungsdiskursen der Alliierten die großen „nationalen“ Schlachten, die die Narration bestimmen, so ist in der Sequenz von 1914– 1918, was wenig überrascht, die Oktoberrevolution von 1917 für die DDR das zentrale Ereignis des Krieges gewesen. In Sinne des marxistischen Geschichtsbildes wurde sie als Zäsur aufgefasst, die den „Kapitalismus und Imperialismus ein Ende
Honecker, Erich: Aus meinem Leben. Berlin 1981, S. 6. Honecker, Aus meinem Leben, S. 8. Honecker, Aus meinem Leben, S. 6. Klein, Fritz [u. a.] (Hrsg.): Deutschland im Ersten Weltkrieg. Bd. I. Berlin 1968, S. XXV.
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[setzte] […]. Nie mehr besaß der Imperialismus nach 1917 in irgendeinem Land der Erde die Stabilität, deren er sich vor 1914 rühmte.„²⁸ Deshalb fokussierte man sich neben dem Verrat von 1914 auf die Interpretation der Revolution und ihrer Folgen. Der Historiker Fritz Klein, der in der DDR als Experte für jene Thematik galt, schrieb rückblickend: „Das Interesse der Partei an der Monopolisierung der Geschichte war […] weit stärker ausgeprägt für die Perioden nach 1917/18 als für die Zeit davor.„²⁹ In dieser zugleich verschobenen und genealogischen Sichtweise auf den Weltkrieg waren die militanten spartakistischen Gruppen, vor allem ihrer beiden Märtyrerfiguren Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, als Gründer der kommunistischen Partei, dem Vorläufer der SED, die zentralen Akteure, „Helden“, auch auf die Gefahr hin, dass sie mit dieser Sichtweise die westdeutschen Historiker verärgerten, wie z. B. Fritz Fischer, die ihre Rolle als unbedeutend und zweitrangig interpretierten.³⁰ Das oben erwähnte Heft von Willibald Gutsche, in dem der August 1914 thematisiert wird, schließt auf ganzen vier Seiten (von 43) mit einer Art Fazit über das Engagement Liebknechts in diesem Jahr, über das bereits auf den vorhergehenden Seiten im Heft schon berichtet worden war.
Eine verschobene Chronologie Die Kommunisten greifen für ihre Zwecke die christliche Typologie von Konflikten auf und aktualisieren sie, sodass sie auch von gerechten und ungerechten Kriegen sprechen.³¹ Jan Vermeiren zeigt hier, wie die „nicht-pazifistische“ Haltung von Ludwig Renn zum Krieg in diesen Rahmen explizit eingebettet wird. Fritz Klein und seine Kolleginnen und Kollegen erklärten so im Vorwort der drei Bände zur Geschichte Deutschland von 1914– 1918, dass für die wahren Marxisten Befreiungskämpfe gerechte Kriege waren, bzw. Bürgerkriege, in denen das Proletariat gegen die Ausbeuter kämpfte. Andere Kriege seien jedoch ungerecht gewesen, wie Klein, Deutschland, S. XXIV. Klein, Fritz: Drinnen und Draußen. Ein Historiker in der DDR. Erinnerungen. Frankfurt a. M. 2001, S. 224. Klein, Fritz: Erster Weltkrieg. In: Lozek, Gerhard [u. a.] (Hrsg.): Unbewältigte Vergangenheit. Kritik der bürgerlichen Geschichtsschreibung in der BRD. Berlin 1977, S. 309; Klein, Fritz: Vorwort. In: Ders. Deutschland im Ersten Weltkrieg. Bd. I (Neue Auflage), S. XIV; Stibbe, Matthew: The Fischer Controversy over German War aims in the First World War and its Reception by East German Historians. 1961– 1989. In: The Historical Journal 46 – 3 (2003), S. 667. Siehe dazu: Offenstadt, Nicolas: Guerres justes et usages du passé. In: Cahiers de la Villa Gillet 16 (2002), S. 121– 130; und auch: Ders.: Guerre juste: justifier la guerre ? In: Charle, Christophe u. Roche, Daniel (Hrsg.): L’Europe, encyclopédie historique. Arles 2018, S. 846 – 849.
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solche, die von der dominierenden, ausbeuterischen Klasse, wie der Erste Weltkrieg, geführt worden sind.³² Im fiktionalen Bereich finden wir diese Distinktion ebenfalls wieder, wie z. B. beim Schriftsteller Johannes R. Becher, dem ersten Minister für Kultur der DDR, in seinem Roman Abschied (1940), der in der DDR stark rezipiert wurde.³³ Diese Lesart des Ersten Weltkrieges als ein ungerechter Krieg ermöglichte es der DDR eine militärische Chronologie in den Blick zu nehmen, die zeitlich versetzt zum Krieg war. Der Weltkrieg war so nur ein Element des „Krieges der Kommunisten„, der die aufeinanderfolgenden Kämpfe zwischen 1917/1918 und 1923 meint. Albert Norden, eine der ersten Führungspersönlichkeiten in der SED, spannte einen Bogen von den Streiks von 1917/1918, über den Matrosenaufstand von 1917, den Opfern der Novemberrevolution von 1918 bis hin zu den ermordeten Spartakisten und weiteren Kämpfen.³⁴ Einige sahen diesen Kampf 15 Jahre später stattgefundenen spanischen Bürgerkrieg zwischen den Republikanern und Franquisten fortgeführt. Jener „Krieg der Kommunisten“ wurde auch als eine zu erzählende bzw. zu verfassende Militärgeschichte aufgefasst, so wie es auch eine Militärgeschichte des Ersten Weltkrieges gibt.³⁵ Eine Geschichte voll von Helden des „anderen Deutschlands„, die sich nicht umsonst geopfert haben, sondern die die Ehre des deutschen Proletariates und sogar des ganzen Landes gerettet haben. In vielen dieser heroischen Kämpfe fand sogar eine Umkehrung des Weltkrieges statt. Die einstigen einfachen Frontsoldaten standen so, vor allem im Rahmen der Roten Ruhr-Armee, den ehemaligen militärischen Führern gegenüber, denen sie unterstanden hatten und die nun Teil der Freikorps, der Schlägertrupps oder der Putschisten waren.³⁶ Der kommunistische Schriftsteller Friedrich Wolf stellte die Erfahrung des Zwangs im Ersten Weltkrieg, die er vollständig durchmachte, der des enthusiastischen Widerstands gegen den Kapp-Putsch oder im Ruhrgebiet
Klein, Weltkrieg, Bd. I, S. XXIV–XXV. Dieses Schema wird auch auf die Literatur angewendet. Siehe z. B.: Heinrich Mann - Arnold Zweig (Schriftsteller der Gegenwart). Hilfsmaterial für den Literaturunterricht an den Ober- und Fachschulen. Berlin 1953, S. 100. Zu den ungerechten und gerechten Kriegen siehe: Becher, Johannes R.: Abschied Wiederanders. Berlin 1960, hier S. 403, 425. Norden, Albert: Zwischen Berlin und Moskau. Zur Geschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen. Berlin 1954, S. 6. Dreetz, Dieter [u. a.]: Bewaffnete Kämpfe in Deutschland. 1918 – 1923. Berlin 1988, S. 6. Schröder, Joachim: Internationalismus nach dem Krieg: Die Beziehungen zwischen deutschen und französischen Kommunisten 1918 – 1923. Essen 2008, S. 232 f.; Barth, Boris: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkriege 1914– 1933, Düsseldorf 2003, S. 279.
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stark kontrastierend gegenüber.³⁷ Die wahren Helden dieses Krieges der Kommunisten waren erst die spartakistischen Kämpfer, die ferner der KPD angehörten. Den Helden dieses kommunistischen Krieges stiftete die DDR 1957 sogar eine Medaille. Sie ehrte die Kämpfer dieser militärischen Auseinandersetzungen „Für Teilnahme an den bewaffneten Kämpfen der deutschen Arbeiterklasse in den Jahren 1918 – 1923„. Auf der Medaille selbst ist ein Gewehr abgebildet, am dem die Rote Fahne hängt, sowie die Inschrift „Kämpfer gegen die Reaktion„. Damit konnten Kämpfer dekoriert werden, die gegen den Ersten Weltkrieg, von 1914 bis 1918, gestritten hatten.³⁸ Diese verschobene Chronologie bzw. erweiterte Zeitspanne der Kämpfe und seiner Helden integriert den Moment 14/18 in eine nach hinten ausgedehnte Sequenz: die der Kämpfe von 1918 bis 1923. So wurde eine Reihe von populären Heften zwischen 1956 und 1963 durch den Militärverlag der DDR publiziert, die den Titel Gewehre in Arbeiterhand trugen. Von den 15 erschienen Heften waren 11 der Zeit von 1918 bis 1923 gewidmet, davon eines dem Aufstand der (österreichisch-ungarischen) Matrosen von Cattaro.³⁹ Die Helden von 1914– 1918 selbst waren potentiell suspekt. Der Umstand ein einfacher Offizier gewesen zu sein, konnte schon ein Grund dafür sein, stigmatisiert zu werden bzw. aus Sicht der deutschen Kommunisten der 1920er-Jahre als suspekt zu gelten, wie der Lebensweg des pseudo-Leutnants Max Hoelz zeigt, oder wie es in dem Film über Ernst Schneller dargestellt wird. Über diesen orthodoxen Kommunisten produzierte die DEFA bzw. Rudi Kurz 1977 ein „Biopic„. Es illustriert diese Verschiebung des Krieges. Schneller kämpfte zwischen 1914 und 1918, wurde Offizier und spielte in der Folge eine wichtige Rolle im Militärapparat der KPD. Doch der Film erzählt an dieser Stelle vom Engagement Schnellers in den 1920er-Jahren und von seiner Haft in Sachsenhausen. In diesem drei Stunden Langfilm, der sich in zwei Teile gliedert, wird der Erste Weltkrieg in keiner Szene gezeigt oder ernsthaft diskutiert. Er ist dennoch in den Gesprächen mehrfach präsent, aber nur um Verbrechen und Folgen des imperialistischen Krieges anzuprangern und den bewaffneten politischen Kampf zu legitimieren. Was Max Hoelz anbelangt, so ermöglicht uns die Betrachtung des Umgangs der DDR mit seiner Person spannende Einblicke in das narrative Konstrukt des „Krieges der Kommunisten„, indem die vorangegangene Episode von
Wolf, Friedrich: Weshalb schrieb ich „Die Matrosen von Cattaro“? (1935). In: Hammer, Klaus (Hrsg.): Friedrich Wolf. Die Matrosen von Cattaro. Stücktexte/Dokumente zur Wirkungsgeschichte. Leipzig 1988, S. 111. Bartel, Frank: Auszeichnungen der Deutschen Demokratischen Republik von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin 1979, S. 14, 157. Zur Erinnerung an diese Episode siehe den Beitrag von Nicolas Offenstadt in diesem Sammelband.
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1914– 1918 zu einem zweitrangigen Thema gemacht wird. Seine Erfahrung, von der er in einem 1929 publizierten Buch erzählt, welches die DDR 1984 neu herausgab,⁴⁰ ist typisch für den Wandlungsprozess aller Soldaten, deren Erfahrungen in den Schützengräben und der Kriegsführung sie zu Aktivisten gemacht hatten, die die Welt verändern wollten, sodass die Gerechtigkeit und die Gleichheit über die einstige Unterdrückung siegt. Er war Held des Kampfes gegen den KappPutsch und der kommunistischen Märzkämpfe von 1921, aber rebellierte auch gegen die Parteidisziplin, und verschwindet 1933 unter unklaren Umständen in der Sowjetunion. So war Max Hoelz für die DDR eine lästige Figur. Auch wenn er in der Geschichtsschreibung weitestgehend präsent ist, denn man konnte ihn nur schwer auslassen, so wurde er bis 1989 doch nur kaum öffentlich geehrt. Die Ambiguität Hoelz‘ in der Erinnerungslandschaft der DDR manifestiert sich in einem erfolgreichen Film aus dem Jahr 1973. In Wolz von Günter Reisch wird seine rebellische Energie gefeiert, aber gleichzeitig auch durch eine andere Figur der Episode kontrastiert, der des „Ludwig„, der der Parteilinie nachkommt. Es wurde darauf geachtet, dass Hoelz nicht zum Helden stilisiert wird, der Thälmann in den Schatten stellt.⁴¹ In einem von der Partei bestellten Gemälde anlässlich des HoelzJubiläums 1989, das von Siegfried Henze – ein Künstler mit einer starken Antikriegshaltung, durch den Zweiten Weltkrieg sehr geprägt⁴² – angefertigt wurde, stellt dieser, die Kriegskritik aufgreifend, die fundamentale Dimension von 1914/ 1918 eindrücklich dar: Die Opfer des Krieges nehmen auf dem Gemälde, welches die Kämpfe des „roten Robin Hoods“ von 1920/1921 darstellt, eine zentrale Rolle ein (siehe Abb. 1). Letztendlich lädt uns diese vorgenommene Trennung in Weltkrieg und Krieg der Kommunisten durch die DDR dazu ein, genau diese zu dekonstruieren, um so biografische Kontinuitäten zwischen diesen Punkten auszumachen: die 1914 bis 1918 gewonnenen militärischen und soldatischen Erfahrungen auf der einen Seite und deren Nutzung im Rahmen der kommunistischen Kämpfe auf der anderen Seite. So ist es bei Wilhelm Zaisser, mit dem sich Emmanuel Droit in seinem Beitrag eingehend beschäftigt. Im Fall von Ernst Thälmann zeigt Norman Laporte in seinem Aufsatz hingegen, dass zwischen dem absoluten Helden, der in Buchenwald umgebracht wurde, und den Spartakisten kein Zusammenhang besteht. So war es lange Zeit schwierig darüber zu berichten, was er während jener Zeit gemacht hatte und es brauchte einige Jahre (1979), bis eine umfassende Biografie Hoelz, Max: Vom „Weißen Kreuz“ zur roten Fahne: Jugend-, Kampf- und Zuchthauserlebnisse. Halle 1984. Das Buch wurde ins Französische übersetzt unter dem Titel: Un Rebelle dans la Révolution, 1988. Schenk, Ralf: Wolz – Leben und Verklärung eines deutschen Anarchisten. Beiheft zur DVD. Gespräch mit Cornelia Henze, Rodewisch, Juli 2020.
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Abb. 1: Bild von Siegfried Henze, Depot des Heimatmuseums Falkenstein/Vogtl.
zu seiner Person erscheinen konnte. Der große epische Film über Ernst Thälmann will 1954 keinen Diskussionsstoff liefern und präsentiert so seine Zeit in den Schützengräben als einen großen Moment der politischen Kämpfe.⁴³
Der Krieg der Historiker Die Geschichtsschreibung des Ersten Weltkrieges war bedeutend, aber insofern nur relativ bedeutend, als dass er als weniger formend und grundlegend charakterisiert wurde, als es in der westlichen Historiografie der Fall war. Der Krieg war jedoch eines der großen Themen des Historischen Instituts der Akademie der Wissenschaften der DDR. Ab Ende der 1950en Jahren beschäftigte sich eine eigens dafür gegründete „Arbeitsgruppe Erster Weltkrieg“ mit der Thematik. Geleitet
Maetzig, Kurt: Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse. DDR 1954. Teil I von II des Biopics. Der Film wurde auf DVD von Icestorm herausgebracht. Es handelt sich hierbei um die Eröffnungsszene.
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wurde die Gruppe, der sieben Historiker, u. a. Willibald Gutsche und Joachim Petzold, angehörten, von Fritz Klein, der in seiner Jugend von den wahrgenommenen Folgen des Krieges tief geprägt wurde.⁴⁴ Diese Arbeitsgruppe, die selbst die Forschung voranbringen wollte, hatte die Aufgabe, daran mitzuwirken, die große Meistererzählung des Regimes zu konstruieren. Die Arbeiten sollten aufzeigen, dass die „imperialistische Gefahr“ in der Zeit der DDR noch immer bestünde. So würden die kriegerischen und zerstörerischen Mächte des Kaiserreichs in der Bundesrepublik weiterhin agieren. Die These von der „direkten, gefährlichen Kontinuität imperialistischer Politik vom ersten Weltkrieg bis in unsere Tage„⁴⁵ war ein zentraler Aspekt des historiografischen Diskurses der DDR.⁴⁶ So wurden einige Thematiken umfassend erforscht, wie z. B. die Zwangsarbeit, die Christian Westerhoff in seinem Beitrag analysiert, da man sie einfach in die lange Geschichte des Imperialismus und seiner ausbeuterischen Mechanismen integrieren konnte. Durch die Beschäftigung mit dem Großen Krieg sollten die „Waffen“ für den zeitgenössischen Friedenskampf bereitgestellt werden, in einer Zeit der doppelten nuklearen Bedrohung.⁴⁷ In einer Publikation gesammelter Schriften von und über Rosa Luxemburg, 1960 herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus, wird ihr Kampf und der des linken Flügels der Sozialdemokratie aktualisierend der Bundesrepublik Adenauers gegenübergestellt. Damit wird so eine explizierte Parallele zwischen den Imperialisten und Militaristen aus der Zeit vor 1914 und den „Nazifaschisten“ des „Adenauer-Staates“ gezogen.⁴⁸ In der Darstellung dessen, was 1914 passiert war, sollten alle Gefahren aufgezeigt werden, die die Welt gegenwärtig bedrohten. Die offizielle Geschichtsschreibung betonte jedoch den großen Unterschied der zwischen jenen beiden Epochen, der in der Anwesenheit der Kräfte des Friedens begründet sei, nämlich die des Ostblocks, die in vorderster Linie den Imperialismus konterkarierten.⁴⁹ So folgerte der Historiker Fritz Klein, dass hinter den Bemühungen der westdeutschen Historiker in den 1950er-Jahren – also vor der Fischer-Kontroverse – die Schuld des deutschen Imperialismus von 1914 geringer einzuschätzen, ein
So erzählt er in seinen Memoiren vom Besuch im Anti-Kriegs-Museum von Ernst Friedrich und der alltäglichen Präsenz des Krieges durch u. a. die Kriegsversehrten: Klein, Drinnen, S. 219 f. Klein, Weltkrieg, Bd. I, S. XVIII. Klein, Erster Weltkrieg. In: Lozek, S. 304 f.; Klein, Fritz: Die Weltkriegsforschung der DDR. In: Hirschfeld, Gerhard [u. a.] (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Paderborn 2003, S. 318. Klein, Weltkrieg, S. XVIII. Zur Bedeutung des Begriffes in der DDR siehe Droit, Emmanuel: Frieden. In: Sabrow, Martin (Hrsg.): Erinnerungsorte der DDR. München 2009, S. 152– 160. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Rosa Luxemburg im Kampf gegen den deutschen Militarismus. Berlin 1960, S. 13; Klein, Weltkrieg, S. XVIII. Institut für Marxismus-Leninismus, Luxemburg, S. 22.
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politisches Motiv stand. Diese Einschätzungen sollten dem Adenauer-Deutschland zugutekommen, welches selbst Teil einer imperialistischen Allianz gewesen sei, das seine Politik unter dem Deckmantel der Mäßigung betrieb.⁵⁰ Demzufolge kam es zu einem regelrechten Export der Diskussionen um die Fischer-Kontroverse gen Osten, in der die Fragen nach der deutschen Verantwortung und der Fortführung der Kriegszielpolitik des Kaiserreichs zentral gewesen sind.⁵¹ Die Arbeit des Hamburger Historikers Fritz Fischer konnte all das beweisen, was die marxistische Geschichtsschreibung herausgearbeitet hatte, wie z. B. die bedeutende Rolle des imperialistischen Deutschlands in den Ursachen des Krieges. Damit rechtfertigte er in fine die Existenz der DDR als Antwort auf die Gefahr des Imperialismus, als Erbin und Vertreterin dagegen eines progressiven Deutschlands (die „Nationale Grundkonzeption“ – „Nagruko“ Ulbrichts). Die Gespräche zwischen Fritz Fischer, Fritz Klein und Willibald Gutsche waren fruchtbar und zeugten von interpretativen Schnittmengen, die dazu beitrugen, die Thesen Fischers einem breiten Publikum zugänglich zu machen.⁵²,⁵³ So wie auch in der westlichen Geschichtsschreibung stimulierte das umfassende Gedenken zu 50 Jahren Erster Weltkrieg 1964 auch die DDR-Historiografie: Viele Veranstaltungen wurden durchgeführt und Werke publiziert.⁵⁴ Die Historiker befanden sich dabei aber auf einer permanenten Gratwanderung: Auf der einen Seite versuchten sie eine kritisch-innovative Geschichte zu schreiben, auf der anderen Seite mussten sie stets darauf achten, dass sie mit ihren Aussagen nicht den von Ulbricht definierten Positionen widersprachen, von dem man wusste, wie gerne er sich in die großen historiografischen Projekte des Regimes einmischte.⁵⁵ Joachim Petzold bezeichnete diese politische Einflussnahme gar als
Klein, Erster Weltkrieg. In: Lozek, S. 308. Fischer kam einige Male in die DDR.Vgl. Stibbe, Matthew: Reactions form the other Germany: the Fischer Controversy in the German Democratic Republic. In: Journal of Contemporary History 48 – 2 (2013), S. 315 – 332. Siehe Gutsche, August, hier S. 25, 35. Jarausch, Konrad u. Sabrow, Martin (Hrsg.): Die historische Meistererzählung: Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945. Göttingen 2002. Klein, Fritz (Hrsg.): Politik im Krieg. 1914– 1918. Studien zur Politik der deutschen herrschenden Klassen im ersten Weltkrieg. Berlin 1964; Otto, Helmut [u. a.]: Der Erste Weltkrieg: militärhistorischer Abriß. Berlin 1964. Die zweite erweiterte und vervollständigte Ausgabe wurde 1968 herausgegeben, anlässlich der internationalen Konferenz des Arbeitskreises. Vgl. Klein, Vorwort. In: Weltkrieg, S. XIII. Siehe dazu die Aussagen Kleins und Petzolds: Klein, Drinnen u. Petzold, Joachim: Politischer Auftrag und wissenschaftliche Verantwortung von Historikern in der DDR. In: Pohl, Karl Heinrich (Hrsg.) Historiker in der DDR: Göttingen 1997, S. 98, 105 f. Zur Arbeit des Arbeitskreises siehe vor allem Klein, Vorwort. In: Weltkrieg, S. XIII. und Lokatis, Der Rote Faden.
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„Nebenberuf„. In seinem Beitrag zu diesem Sammelband zeigt Matthew Stibbe, wie die chronologische Aufteilung Fritz Klein und seinem Team aufgedrückt wurde, als sie das Lehrbuch für die Geschichte des Kaiserreiches (Reihe der deutschen Geschichte) erstellten. Stibbe zeigt auch wie die Forschergruppe es letztendlich schaffte diese Vorgabe für Deutschland im Ersten Weltkrieg zu umgehen, indem sie in ihrer Darstellung bis in den November 1918 gehen.⁵⁶ In den 1970er-Jahren, im zeitgenössischen Kontext der steigenden Angst vor den Gefahren eines möglichen nuklearen Krieges, gelang es einigen DDR-Historikern, den Fokus auf die Schaffung des Friedens von 1919 zu richten. Dieselben Spezialisten und Mitglieder des Arbeitskreises haben außerdem zwei Hefte über den Ersten Weltkrieg erstellt, welche in der weitverbreiteten Reihe Illustrierte historische Hefte (56 Ausgaben) erschienen sind. Der große Krieg scheint in dieser Reihe unterrepräsentiert zu sein: Man findet dort nichts zu den Grabenkämpfen, nichts zu den großen Schlachten und nichts zum Leben im Krieg. Die thematische Diversität sowie die Tatsache, dass einige Hefte ganz speziellen Ereignissen bzw. Regionen gewidmet waren, lässt also nicht den Schluss zu, dass es sich hierbei um eine Frage der thematischen Ausgewogenheit handelte: So gab es z. B. ganze Hefte über den Algerienkrieg oder die Schlacht bei Jena und Auerstedt, auch wenn sich diese beiden Orte in der DDR befanden. Ein Heft thematisierte die Oktoberrevolution (Roswitha Czollek, Lothar Kölm). Wolfgang Ruge beschreibt in einem anderen Heft die Novemberrevolution von 1918, aber indem er vom Kontext des Kriegsendes ausgeht. Nur zwei Hefte beschäftigen sich explizit mit dem Krieg als solchem: einmal das von Willibald Gutsche, welches den Titel „1. August 1914“ trägt und indem der Fokus auf dem Einfluss und der Verantwortung der „Juncker“ und „Monopolherren“ für den Kriegsausbruch liegt,⁵⁷ und dann das Heft von Baldur Kaulisch (1976), welches den U-Boot-Krieg zum Thema hat⁵⁸. Trotz des theoretisch globalen Ansatzes, der eben darauf abzielte, die Mechanismen des Imperialismus aufzuzeigen, verharrte die DDR-Geschichtsschreibung in einer nationalen Perspektive. Der Erste Weltkrieg wurde vor allem als eine deutsche Geschichte von oben betrachtet. So wurde die regionale bzw. Mikroebene, anders als in der westeuropäischen Historiografie, nur wenig für Weltkriegsstudien mobilisiert. Dabei war es aber nicht so, dass die DDR diese Herangehensweise nicht angewendet hätte: Die historischen Kommissionen der SED, die Mitte der 1950er-Jahre gegründet worden waren und die auf der Ebene der Klein, Drinnen, S. 204 f.; Stibbe, Reactions, S. 327. Gutsche, August, S. 24– 28, 31. Kaulisch, Baldur: U-Boot Krieg 1914/1918 (Illustrierte historische Hefte 4). Berlin 1976; Gutsche, August; Ruge, Wolfgang: Revolutionstage November 1918 (Illustrierte historische Hefte 14).
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Kreise und Bezirke agierten, empfahlen gar solche regionalen Analysen der Novemberrevolution oder des Widerstandes gegen den Kapp-Putsch.⁵⁹ Und dennoch, der Makroperspektive jene Bedeutung zuzumessen war insofern kohärent zum politisch-ideologischen Projekt der SED, welches darauf abzielte ein ostdeutsches, patriotisches Gefühl zu evozieren.⁶⁰ Wie wir bereits erwähnt und aufgezeigt haben, waren die Kriegserfahrungen, egal welcher Art, abgesehen von den Konversionsprozessen der Akteure, nicht Teil der Geschichtsschreibung über den Konflikt. So gaben das zivile Leben, ausgenommen von den überblickshaften Darstellungen zu den wirtschaftlichen Schwierigkeiten und den sozialen Kämpfen, und die Geschichten von der Front keinen Anlass für echte historische Analysen in der DDR. Hier zeigt sich ein weiteres Paradoxon der offiziellen Geschichtsschreibung auf, in der das „Volk“ und dessen Leid, welches durch die kapitalistische Ausbeutung und die Taten der Imperialisten ausgelöst worden war, permanent hervorgehoben und wertgeschätzt wurde. Diejenigen, die man heute für gewöhnlich als „Zeitzeugen“ (les témoins) bezeichnen würde, integrierte man nur wenig in die gesamte Erzählung. Die Stimmen der einfachen Soldaten, ihre Fronterfahrungen, nahmen nur eine untergeordnete Rolle in der Geschichtsschreibung und Vermittlung des Weltkrieges ein.⁶¹ Das war aber keine Frage der Perspektive, denn in der Tat waren die „Zeitzeugen“ des „kommunistischen Krieges“ und des antifaschistischen Kampfs von 1933 – 1945 im öffentlichen Raum der DDR sehr präsent. Einige nahmen sogar an regelrechten Zeitzeugen-Tourneen teil, vor mehr oder weniger besonderem Publikum: so z. B. 1958 Karl Artelt, einer der Anführer des Arbeiter und Soldat Zur Historiografie siehe: Stibbe, Controversy, S. 667. Zur Entwicklung und Bedeutung der Lokalgeschichte aus der Perspektive der DDR siehe: Maur, Hans: Zur Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung und Betriebsgeschichte. Geschichtskommissionen der SED im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 30 (1988), S. 239 – 247. Stibbe, Controversy, S. 667. Zu dieser „nationalen“ Agenda, die mehr oder weniger die Historiografie in der Ulbricht-Zeit bestimmte, siehe: Lokatis, Der Rote Faden; Berger, Stefan: National Paradigm and Legitimacy: Uses of Academic History Writing in the 1960s. In: Major, Patrick u. Osmond, Jonathan (Hrsg.): The Workersʼ and Peasantsʼ State. Communism and Society in East Germany under Ulbricht 1945 – 1971. Manchester 2002, S. 244– 261, hier S. 246 f. Hierbei handelte es sich vor allem um die Publikation bzw. Neuauflage und Verbreitung von literarischen oder autobiografischen Erfahrungsberichten aus der Zwischenkriegszeit, bzw. um Übersetzungen. Zu diesem ersten Punkt siehe den Beitrag von Julian Nordhues und zum zweiten siehe den Beitrag von Olaf Müller. Eine seltene Ausnahme: Eildermann, Wilhelm: Jugend im ersten Weltkrieg, Tagebücher, Briefe, Erinnerungen. Berlin 1972 (aus dem eigenen Archiv des Autors und mit Briefe von Freunden aus der Front), eine Publikation, die sich dadurch erklären lässt, dass Eildermann, als junger Sozialist und Soldat sich den Spartakisten anschloss und ein treuer Kommunist blieb. Darüber hinaus dokumentieren die Texte vor allem die (politischen) Tätigkeiten und Gedanken Eildermanns vor seinem Transport an die Front (S. 357).
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enrates von Kiel des Jahres 1918, oder aber Paul Eichler, ein Matrose, der an der Bewegung von 1917 teilgenommen hatte.⁶² In gleicher Weise wurden die lokalen historischen Kommissionen auch dazu ermutigt, Berichte von Veteranen der Arbeiterbewegung zu sammeln, zu benutzen und wertzuschätzen.⁶³ So lässt sich die Geschichte des Ersten Weltkrieges bis 1989, geschrieben von Militärhistorikern für das große Publikum, vor allem als eine Geschichte von oben charakterisieren: Themen wie Kriegsziele und Diplomatie, Operationen und Strategien an den unterschiedlichen Fronten und wirtschaftliche Mobilisierung spielten dabei eine besondere Rolle. Die Geschichten von unten, die der alltäglichen Erfahrung, wurde so selten thematisiert. Die einfachen Soldaten wurden auf eine visuelle Sichtbarkeit in Büchern und Zeitschriften reduziert, als würde es ausreichen, Fotografien zu betrachten, um verstehen zu können, was die Fronterfahrung gewesen ist.⁶⁴
Die Geschichte des Ersten Weltkrieges im Unterricht oder die praktische Erziehung zum „bewaffneten Frieden“ Neben der professionellen Historiografie nahmen die schulischen Institutionen im Alltag eine zentrale Rolle im politischen Umgestaltungsprojekt der DDR-Gesellschaft ein.⁶⁵ Die Erziehung zu einer neuen sozialistischen Persönlichkeit fußte auf einem doppelten Erbe: dem der deutschen Tradition der Bildung und dem der Arbeiterbewegung. Aus Sicht der kommunistischen Machthaber war die Schule ein Ort, an dem ein neues sozialistisches Bewusstsein geformt werden sollte. Diese sozialistischen Persönlichkeiten sollten über ein gemeinsames historisches Bewusstsein verfügen, wobei der Erste Weltkrieg eine wichtige Referenz darstellte,
Zu Artelt siehe: Segelke, Arne: Eine Revolution, zwei Sichtweisen. Die Erinnerung an Novemberrevolution und Matrosenaufstand in BRD und DDR. In: Kinzler, Sonja u. Tillmann, Doris (Hrsg.): 1918 – Die Stunde der Matrosen. Kiel und die deutsche Revolution. Darmstadt 2018, S. 269. Zu Eichler: Ihr Erbe liegt in guten Händen. In: Ostsee-Zeitung, 5. 9. 1967. Zur Sichtweise der DDR siehe Maur, Arbeiterbewegung, S. 239 – 247; und zur Frage des Sammelns siehe: Manke, Matthias: Erinnerungsort im Gedächtnisraum? Die Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung im Bezirk Schwerin und die Kommission zu ihrer Erforschung. In: Fuge, Janina [u. a.] (Hrsg.): Gedächtnisräume: Geschichtsbilder und Erinnerungskulturen in Norddeutschland. Göttingen 2014, S. 275 f. Dorst, Wünsche, Weltkrieg. Vgl. Droit, Emmanuel: Vorwärts zum neuen Menschen? Die sozialistische Erziehung in der DDR 1949 – 1989. Weimar 2013.
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wie im Beitrag von Rainer Bendick in diesem Sammelband verdeutlicht wird. Im Rahmen des Geschichtsunterrichts an der Oberstufe der Polytechnischen Oberschule, so wie er ab Mitte der 1960er-Jahre praktiziert worden ist, wurde der Erste Weltkrieg in einem Umfang von sechs Stunden (das entspricht etwa 15 % des jährlichen Stoffs) in der achten Klasse unterrichtet. So wurden die Jugendlichen im Alter von 14 bzw. 15 Jahren die Ereignisse, gemäß der verschobenen Chronologie, von 1914 bis 1917 vermittelt. Das ermöglichte es den Lehrkräften in der neunten Klasse mit der Besprechung der Oktoberrevolution thematisch fortzufahren. Der Erste Weltkrieg wurde den SchülerInnen als direktes Produkt des Kapitalismus und seiner Zwänge präsentiert und als „imperialistischer Krieg“ definiert. Diese Sichtweise ermöglichte es, gegenüber den SchülerInnen, die Existenz der DDR zu rechtfertigen. Es genügt ein Blick in ein Geschichtslehrbuch um den (gegenüber der westlichen Historiografie) verschobenen chronologischen Fokus auszumachen: „Die Große Sozialistische Oktoberrevolution wurde zur Wende der Menschheitsgeschichte; sie leitete eine neue Epoche ein, deren Hauptinhalt der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus ist.“⁶⁶ In Geschichte in Überschichten wurde der russischen Revolution ein Kapitel ähnlichen Umfangs (es ist sogar zwei Seiten länger) wie zum Ersten Weltkrieg gewidmet, Ursachen und Verlauf inklusive. Es gibt darin nur einen Absatz zum Grabenkrieg, genauso viel wie zu dem Frieden von Brest-Litowsk.⁶⁷ Die Vermittlung des Ersten Weltkrieges wurde als ein Mittel verstanden um die Vergangenheit mit der Gegenwart in Verbindung zu setzen: es wurde dabei aufgezeigt, dass der Feind des Sozialismus, der kapitalistisch-westliche Imperialismus, weiterhin agierte. Im Lehrplan (ab September 1969) lädt das Ministerium für Volksbildung Margot Honeckers die Lehrkräfte für Geschichte dazu ein, „alle Möglichkeiten aktueller Bezüge zur Kennzeichnung des Imperialismus in der Gegenwart zu nutzen.„⁶⁸ Der Lehrplan für Geschichte, so wie er 1968 konzipiert worden war, hatte zum Ziel, dass Schülerinnen und Schüler […] sichere und anwendbare Kenntnisse über die militärische, ökonomische, politische und ideologische Vorbereitung des ersten Weltkrieges durch den deutschen Imperialismus, über die Ursachen seiner besonderen Aggressivität und über den antiimperialistischen und antimilitaristischen Kampf der revolutionären deutschen Arbeiterklasse erwerben.⁶⁹
Geschichte. Lehrbuch für Klasse 8. Berlin 1969, S. 202. Ebd., S. 200 – 202; Geschichte in Übersichten.Wissensspeicher für den Unterricht. Berlin 1982, S. 299 – 317. Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik. Ministerium für Volksbildung (Hrsg.): Lehrplan Geschichte. Klasse 8. Berlin 1968, S. 44. Ebd., S. 40.
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Aber neben dem Ziel der Wissensvermittlung zielte der Unterricht auch darauf ab die Schülerinnen und Schüler politisch zu mobilisieren. Den Beispielen der offiziellen Geschichtsschreibung folgend, zielte die didaktische Vorgehendweise auch darauf ab, die Jugendlichen dazu einzuladen, Parallelen zwischen der Lage im Jahr 1914 und der Gegenwart zu ziehen: Die DDR sei von „deutschen“ bzw. „westlichen Imperialisten“ bedroht gewesen, die bereit gewesen wären einen neuen Krieg auszulösen. Gleichzeitig sollte die fokussierte Vermittlung des revolutionären Engagements der Arbeiterklasse dazu dienen, die Schülerinnen und Schüler mental auf die Verteidigung jenes friedlichen sozialistischen Staates vorzubereiten: Die „Märtyrer des Sozialismus„, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, wurden als sozialistische Vorbilder präsentiert. Die Rolle der Figur Liebknechts im Unterricht war so erdrückend,⁷⁰ dass dem deutschen Anführer gar mehr Raum als dem sowjetischen Gründers Lenin eingeräumt wurde. Nach dem Ende der DDR war die „heiße Erinnerung“ (C. Meier) an Liebknecht auf lokaler Ebene in einigen Städten Ostdeutschlands noch sehr präsent, wie die Historikerin Rita Aldendoff-Hübinger in ihrem Beitrag zur Namensgebung der Karl-Liebknecht-Schule in Frankfurt (Oder) darstellt.⁷¹ Im Lehrbuch für Geschichte der Klasse 7 aus dem Jahr 1952 enthielten die Seiten zum Ersten Weltkrieg aus Kostengründen nur zwei Abbildungen, davon wurde das Porträt Liebknechts als einziges Bild abgedruckt.⁷² In der Ausgabe der 1980er-Jahre nahm das „Nein“ des Reichstagsabgeordneten zu den Kriegskrediten fast genauso viel Platz ein wie der gesamte Text zum Grabenkrieg, ohne dabei die folgenden Erwähnungen in den Paragrafen zu den Anti-Kriegsbewegungen mitzuzählen. Wieder ist es der einzige Abschnitt im Kapitel zum Weltkrieg, der einer Person gewidmet wurde.⁷³ Auf eine gewisse Art und Weise konstituierte dieser Diskurs um den „wehrhaften Sozialismus“ das Pendant zum westdeutschen Diskurs über die „wehrhafte Demokratie„. Dabei spielten drei Daten, die die Schülerinnen und Schüler verinnerlichen sollten, eine zentrale Rolle: 1916, Gründung des Spartakusbundes; 1. Mai 1916, Antikriegsdemonstration mit Karl Liebknecht in Berlin; 1917, Aufstand der deutschen Matrosen, zu denen die Figuren Köbis und Reichpietsch gehören, die Nicolas Offenstadt in seinem Beitrag zu diesem Sammelband genauer untersucht hat.
Die Parteischule beim ZK der SED, die bedeutendste Schule im Land, trug ab 1978 seinen Namen. Vgl.: Im Geiste vom Karl Liebknecht unseren Kampfauftrag erfüllen. Von der Verleihung des Ehrennamens „Karl Liebknecht“ an die Parteischule beim ZK der SED, Kleinmachnow. (Broschüre). Siehe hierzu den Beitrag von Rita Aldenhoff-Hübinger in diesem Sammelband. Lehrbuch für den Geschichtsunterricht. 7. Schuljahr. Berlin 1952, S. 362. Geschichte in Übersichten 1982, S. 300 f.
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Ein neuer öffentlicher Raum entwickelt sich In seinem polyphonen Roman Landnahme (2004), der in der kleinen fiktiven sächsischen Stadt „Bad Guldenberg“ spielt, erwähnt der Autor Christoph Hein die Geschichte eines Kriegerdenkmals zu Ehren der Toten von 1914/1918. Versteckt unter einer Holzverkleidung, mit einer Friedenstaube und mit Fahnen geschmückt zum Ende des Zweiten Weltkrieges, wird dieses Denkmal von den streikenden Arbeitern im Kontext des Aufstandes von 17. Juni 1953 gestürzt. Indem sie die Verkleidung zerstören, fördern die Arbeiter die einstigen Symbole, wie das Eiserne Kreuz, zutage,⁷⁴ so als sei die Erinnerung an den Weltkrieg abgedeckt worden, da sie in der neuen Zeit als gefährlich angesehen wurde. Ein möglicher Kompromiss zwischen der noch bestehenden Tradition des Kriegergedenkens und der neuen sozialistischen Kultur konnte also in der Veränderung des Monumentes bestehen, so wie es die Taube von „Guldenberg“ zeigt. Kriegerdenkmäler zu Ehren der Gefallenen im Ersten Weltkrieg wurden in vielen Ländern aufgestellt und als Symbole der Trauer, aber auch der Ehre oder des Sieges aufgefasst, und für andere wiederum waren sie Ausdruck einer Antikriegshaltung. Eine ganz andere Sichtweise auf diese Denkmäler entwickelt sich in Deutschland nach 1945, wie die Studie von Elise Julien zeigt.⁷⁵ In der sowjetischen Besatzungszone bzw. dann später in der DDR wurden diese Bauten vor allem mit ihrer militaristischen und nationalistischen Dimension assoziiert und in der Folge als ein negatives Erbe der deutschen Vergangenheit stigmatisiert. Vor allem die Denkmäler, die von den Verbänden der extremen Rechten von Weimar bzw. nach 1933 erbaut bzw. verändert worden sind, gerieten dabei in den Fokus. Diese Sichtweise ging mit dem Bestreben einher, einen neuen öffentlichen Raum zu schaffen, in dem ausgewählte Helden der Arbeiterbewegung im Vordergrund stehen, sodass die nationalistischen und „revanchistischen“ Denkmäler, oder die, die als solche aufgefasst wurden, in den Hintergrund traten.⁷⁶ Die Denkmäler des Ersten Weltkrieges riskierten also auf Anhieb, zusammen mit den militaristischen und nationalsozialistischen Monumenten zerstört zu werden, so wie es eine interalliierte Direktive von 1946 vorgesehen hatte, in dem die Sichtweise auf den Zweiten Weltkrieg auf den Ersten übertragen wurde. Der Pazifismus selbst, den einige Denkmäler inkarnieren sollten, stand dann im Zentrum der Diskussionen
Siehe Hein, Christoph: Landnahme. Frankfurt a.M. 2004, S. 176, 182. Siehe allgemein Otto, Kirsten: Berlins verschwundene Denkmäler. Eine Verlustanalyse von 1918 bis heute. Berlin 2020 Siehe. z. B. Kiessling, Wolfgang u. Maur, Hans: Den Gedenk- und Erinnerungsstätten der Arbeiterbewegung mehr Aufmerksamkeit schenken. In: Neue Museumskunde 4.3 (1965), S. 174.
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und politischen Auseinandersetzungen zwischen der evangelischen Kirche und der SED, wie Elise Julien an einem Fallbeispiel aus Berlin zeigt. Auch über andere Denkmäler wurde diskutiert, wie in Eisenach über das Monument zu Ehren der toten Ärzte von 1914/1918, welches zwar nicht zerstört wurde, aber zunehmend verwahrloste. Ganz allgemein kann festgestellt werden, dass die Anpassungen bzw. Veränderungen der Denkmäler auf der Grundlage mehrerer Texte von Verordnungen durchgeführt worden sind. So z. B. wurde das Denkmal von Brieskow-Finkenheerd (Brandenburg) ab 1945 verändert: Das Eiserne Kreuz wurde – wie auch die Inschriften – entfernt, dann wurde das Denkmal um 1950 herum um eine neue Widmung und eine Friedenstaube ergänzt: „Dass endlich Friede sei …“ war dann darauf zu lesen. So wurde zur gleichen Zeit auch das Denkmal von Storkow verändert. Die Friedenstaube ist dort heute noch zu sehen.⁷⁷ Anderswo fügte man im Kontext der Veränderungen der Denkmäler auch Inschriften zu Ehren der Gefallenen vom Zweiten Weltkrieg hinzu.⁷⁸ Der Erste Weltkrieg wurde so aktualisiert und in den zeitgenössischen Kampf für den Frieden im Kalten Krieg integriert. Die Thematik konnte ein Anlass für ein engagiertes Vorgehen von Massenorganisationen sein, wie Elise Julien in ihrem Beitrag zeigt, die sich mehrmals für einen Abriss von Denkmälern einsetzten. An verschiedenen Orten wurden Demontagen durchgeführt: So z. B. die partielle Zerstörung eines Denkmals in Göhlsdorf ⁷⁹ (Brandenburg) oder der Abriss (Berlin-Kaulsdorf 1945 – 1951 oder Fürstenwalde 1977). Dahinter standen Mechanismen und zeitliche Gegebenheiten, die für das Verständnis der Vorgänge je nach Fall expliziert werden müssen. Wenn man das Territorium der ehemaligen DDR besucht hat, so stellt man fest, dass sich der Bildersturm jedoch in Grenzen gehalten hat: Überall sind noch viele Denkmäler des Krieges zu sehen. Nichtsdestotrotz stünde eine quantitative Studie noch aus. Die Monumente sollten in der DDR vielmehr den Krieg der Kommunisten von 1917– 1923 inkarnieren. Überall wurden Denkmäler zu Ehren der Opfer aufgestellt, vor allem der des Widerstands gegen den Kapp-Putsch, in Form von einfachen
Lang, Elke: Bedenken zum Denkmal. In: Märkische Oderzeitung, 14. 3. 2016. Kaminsky, Anna [u. a.] (Hrsg.): Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR. Leipzig 2004, S. 472. Andere Beispiele siehe Johst, David: „Als Totenehrung erlaubt“ – Die Entmilitarisierung des Kriegstotengedenkens in der Sowjetischen Besatzungszone. In: Deutschland Archiv, 4. 4. 2014, URL: http://www.bpb.de/182057 (29. 8. 2020). Zum Denkmal siehe die Website: Onlineprojekt Gefallenendenkmäler. Von Ahnenforschern für Ahnenforscher: Göhlsdorf, Gemeinde Kloster Lehnin, Landkreis Potsdam-Mittelmark, Brandenburg, URL: http://www.denkmalprojekt.org/2014/goehlsdorf_gem-kloster-lehnin_lk-pots dam-mittelmark_wk2_brb.html (27.08. 2020).
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Stelen, auf denen die Namen der Getöteten zu lesen oder imposantere Skulpturen zu sehen waren.⁸⁰ Die „Roten Matrosen“ (von 1917 in Wilhelmshaven, bzw. von 1918 in Kiel oder von 1919 die Volksmarinedivision in Berlin) nahmen besonders im Kontext der Ansiedlung der Volksmarine und Entwicklung der Häfen in der DDR eine wichtige Rolle ein, was sich auf die Gestaltung der Geografie der Erinnerung auswirkte. Der Kampf gegen den Krieg, so wie er von den Spartakisten geführt worden war, war so auch Teil dieser Erinnerungslandschaft, wie z. B. in Jena, wo eine Antikriegskonferenz 1916 stattgefunden hatte, oder in Luckau, wo Liebknecht aufgrund seines politischen Engagements während des Krieges inhaftiert war.⁸¹ Was den künstlerischen Bereich anbelangt, so zeigt Francesca Müller-Fabbri in ihrem Beitrag, dass die kritischen Werke, die nach dem Weltkrieg entstanden sind, vor allem jene Ernst Barlachs oder Otto Dix‘, nicht den künstlerischen Erwartungen des sich konstituierenden sozialistischen Staates entsprachen. Zu einem Zeitpunkt, als das Regime Tatendrang für jene Gründungszeit ausrief, konnten jene Bilder als zu pazifistisch oder aber auch als zu negativ beurteilt werden. Später konnten die Bilder, je nach Kontext, für den „Kampf für den Frieden“ stehen, den die DDR führte, wie z. B. das Gemälde „Der Krieg“ von Otto Dix, welches das Land Ende der 1960er-Jahre erworben hatte. Der Erste Weltkrieg war oft im Kino zu sehen, in Filmen, die diskursiv an die Meistererzählung anschlossen. Dabei war man gewissen Zwängen unterworfen, die wir hier herausgearbeitet haben. In ihrem Artikel analysiert Diane Barbe den Film von Egon Günther Erziehung vor Verdun (1973), der auf dem Roman Arnold Zweigs basiert, und zeigt auf, dass die DEFA auch in der Lage gewesen ist, abgesehen von der pädagogischen Dimension des Langfilms, einen allgemeinen Diskurs über die Schrecken des Krieges zu produzieren.
Fazit Abschließend kann festgestellt werden, dass dieser Sammelband ein eigentümlicher und erstmaliger Versuch ist, die Fäden zweier verschiedener Geschichten
Siehe das umfassende Handbuch: Miethe, Anna Dora: Gedenkstätten, Arbeiterbewegung, Antifaschistischer Widerstand, Aufbau des Sozialismus. Leipzig 1974. Zu den Roten Matrosen siehe den Beitrag von Nicolas Offenstadt in diesem Sammelband. Maur, Hans u. Mü ller, Horst H.: Gedenkstä tten fü r Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in der DDR. Berlin 1976, S. 52– 68., Maur, Hans: Karl Liebknecht in Luckau, 1916 bis 1918. Neue museale Erinnerungsstätte eröffnet. In Geschichte und Gegenwart des Bezirkes Cottbus 14 (1980), S. 59 – 70.
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zusammenzunehmen, die sich scheinbar nicht berühren. Die Geschichte und die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg wurde in der DDR von unterschiedlichen politischen und sozialen Institutionen erzählt und vermittelt. Jene haben einen nahezu geradlinigen Diskurs geschaffen, der darauf abzielte, die Gründung der DDR als eine politische Antwort auf den deutschen Militarismus der Zeit von 1871– 1945 darstellen. Die ideologische Lesart des Krieges von 1914– 1918 war der Grund dafür, dass Biografien und Autobiografien angepasst und die Chronologie verschoben wurde, sodass das Heldentum der kommunistischen Kämpfer der Zeit von 1917– 1923 besser betont werden konnte und gezeigt werden konnte, dass die DDR eine politische Antwort auf die gescheiterte Novemberrevolution gewesen ist. Anlässlich des 40. Jahrestages der Revolution im November 1958 wurde eine Kommission zur Vorbereitung der Feierlichkeiten gegründet, die unter der Leitung des Veteranen Hermann Matern stand, Mitglied der Kontrollkommission der SED. Dieser erhielt einen persönlichen Brief des Präsidenten des Nationalrates der Nationalen Front, dem Chemiker Erich Correns. Geboren 1896, kämpfte er im Krieg von 1914 bis 1918 an der Seite von Richard Sorge im Studentenbataillon des dritten Artillerieregimentes. Die beiden Studenten freundeten sich an und hielten in den 1920er-Jahren Briefkontakt.⁸² Im April 1958, vor der Gedenkveranstaltung, erkennt Correns in einem Brief, den er zunächst nicht verstanden hatte, die historische Chance, die man 40 Jahre später in der Novemberrevolution sehen könnte: Als die deutsche Arbeiterklasse im Nov. 1918 zur revolutionären Umwälzung in Deutschland schritt, stand ich wie viele andere junge Studenten und Akademiker dem revolutionären Ereignis ziemlich verständnislos gegenüber. Ich begrüße zwar das Ende der Monarchie in Deutschland und die Errichtung der Republik, aber ich war nicht in der Lage, das bekenne ich offen, die Bedeutung dieser Umwälzung und noch weniger die notwendigen Konsequenzen zu denen diese Umwälzung hätte führen müssen, zu begreifen. […] Erst als sich die zweite nationale Katastrophe über unserem Volk vollzog, begann mir klar zu werden, dass es niemals zu einer solchen verhängnisvollen Entwicklung in Deutschland gekommen wäre, wenn 1918 die Möglichkeit bestanden hätte, die Einheit der revolutionären deutschen Arbeiterklasse zu schaffen und den Militarismus in Deutschland entscheidend und für immer zu schlagen.⁸³
Es ist interessant festzustellen, wie ein Individuum, das dem intellektuellen Bürgertum entsprang (sein Vater war der berühmte Biologe Carl Correns) so ein Eingeständnis seiner zeitgenössischen Urteilsfähigkeit der Ereignisse von 1918 und der Bedeutung der revolutionären Bewegung hat formulieren können. In Siehe den übersetzten Briefwechsel zwischen Sorge und Correns in: Chatel, Nicole u. Guérin, Alain: Camarade Sorge. Paris 1965. SAPMO-BArch, DY 6/1376, Nationalrat der Nationalfront, 40. Jahrestag der Novemberrevolution, 1954– 1959, n. pag.
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dieses Bedauern, das er gegenüber Hermann Matern zum Ausdruck brachte, mischte sich aber auch die Überzeugung, dass man aus der Vergangenheit lernen sollte, und dass die DDR die beste Antwort darauf sei. Sie markierte auf gewisse Weise das Ende der Geschichte. Die DDR ist mehr als nur ein Produkt der Nachkriegszeit und der Transformation der geopolitischen Ordnung im Kampf der Systeme. So wie auch der Nationalsozialismus oder die wiederaufgenommene liberale Demokratie gründet sie sich auf der Erfahrung des Ersten Weltkrieges, nur tut sie das auf eine weniger sichtbare und direkte Art. Der Krieg von 1914– 1918 löste in der DDR scheinbar eine andere Erinnerungskultur aus, verglichen zum Umgang mit dem Krieg in den westeuropäischen Ländern und in den angelsächsischen Demokratien. Auf der Grundlage einer antiimperialistischen Rhetorik wurde der Krieg im öffentlichen Raum weitaus stärker thematisiert als es das in Westdeutschland der Fall war, wo jener Raum von den Debatten über den Nationalsozialismus schnell erschöpft war und die Spuren von 1914/1918 so in eine ferne Vergangenheit verschoben wurden. Demgegenüber gibt es zu den Figuren des „poilu„, des „Frontkämpfers„, des „Digger“ oder des „Tommy„, die in ihren jeweiligen Ländern geehrt worden waren, oder aber zu den Figuren der mobilisierten Zivilisten oder derjenigen, die Besatzung erfahren hatten, in der DDR kein Äquivalent. Die DDR ehrte die gefallenen kommunistischen Heldinnen und Helden, dabei aber jene, die durch die Kugeln der militärischen Justiz, der Polizei oder der Freikorps gefallen sind, nicht durch die Kugeln eines äußeren Feindes. In der Sichtweise derjenigen, die für die Erinnerungspolitik verantwortlich gewesen sind, hat die Chronologie des Weltkrieges bis 1917 nur wenig Bedeutung, einzig der „Verrat“ vom August 1914 ist relevant. Ab 1917 hätten sich dann Handlungsspielräume eröffnet. Von diesem Zeitpunkt ausgehend wird auf subtile Art und Weise eine zeitliche Eingrenzung vorgenommen, bei der die Episode von 1917– 1923 ins Zentrum des Legitimationsprozesses der DDR gerückt wird. Hier trat „der gerechte Krieg“ hervor, den man durch Monumente und auf Tafeln ehren konnte und sollte, denn er schuf Ereignisse und Märtyrer, die Grundlage für eine Tradition werden konnten. Dieses aktivistische Deutschland, das der „Kriegsunfreiwilligen“ und derjenigen, die zu Berufsrevolutionären konvertiert waren, blendete aber letztendlich die Erfahrungen des Krieges aus. Über die Front und die Kämpfe im Hinterland erzählte bzw. ließ die DDR nur wenig berichten. Der legitime „Große Krieg“ war der der Spartakisten. Das Volk, das doch symbolisch so sehr präsent gewesen ist (Marine und Armee hießen Volksmarine bzw. Volksarmee), und seine Diskurse verschwanden vollständig aus dem Ersten Weltkrieg, der stets von oben betrachtet dargestellt wurde, auch wenn jenes Volk in die historischen Praktiken der westlichen Geschichtsschreibung der 1970er-Jahre
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eindrang. Die ziemlich knappen und schwachen Seiten über 1914– 1918 von Jürgen Kuczynski in seiner Geschichte des Alltags des deutschen Volkes (1981) ändern nicht diese allgemeine Betrachtung⁸⁴. Der Krieg der Kommunisten ist gerahmt, verschoben, diaphan und eben auch entvölkert. Diese politisch komplexe, paradoxe Konstruktion, bekräftigt durch die Historiografie und verbreitet durch die Schule und durch Gedenkveranstaltungen, kann auch aus einer anderen Perspektive betrachtet werden: Sie verdeutlicht eben auch, dass die DDR, wie auch der Kommunismus, aus dem „Feuer“ des Krieges geboren ist, und inwiefern es nötig gewesen ist, diese unermessliche, formende Erfahrung, die die Gesellschaft immer noch durchwirkte, zu zähmen und zu dekonstruieren. Wie im Hintergrund des Stückes Professor Mamlock von Friedrich Wolf – der tragische Fall eines Veterans und jüdischen Arztes nach 1933 – ist der Große Krieg immer noch da. Auf eine gewisse Art und Weise hat die unternommene Rahmung, Verschiebung und Umwandlung dazu beigetragen, jenes Problem zu lösen, welches Walter Benjamin 1933 beschrieb: Nein, soviel ist klar: die Erfahrung ist im Kurse gefallen und das in einer Generation, die 1914– 1918 eine der ungeheuersten Erfahrungen der Weltgeschichte gemacht hat. Vielleicht ist das nicht so merkwürdig wie das scheint. Konnte man damals nicht die Feststellung machen: die Leute kamen verstummt aus dem Felde? Nicht reicher, ärmer an mitteilbarer Erfahrung.⁸⁵
Kuczynski, Jürgen: Geschichte des Alltags des deutschen Volkes, Studien, 4, 1871– 1918, Berlin/Köln 1981, „Alltag im Weltkrieg“, S. 447– 464. Benjamin, Walter: „Erfahrung und Armut“. In: Die Welt im Wort, 7. Dezember 1933.
Teil I: Erfahrung und Tradierung – eine biografische Perspektive
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Wilhelm Pieck im Krieg Der Erste Weltkrieg als biografische Zäsur und erinnerungspolitisches Kapital Dass er einmal am 1. Mai, dem „Kampftag der Arbeiter“, Worte mit dem preußischen Kronprinzen wechseln würde, hätte sich Wilhelm Pieck (1876 – 1960) als linker Sozialdemokrat in den Vorkriegsjahren sicher nicht träumen lassen. Doch bei einem Truppenbesuch in Lothringen 1916, für den er mit den übrigen Soldaten seiner Kompanie in aller Frühe hatte antreten müssen, reichte ihm Wilhelm von Preußen (1882– 1951), Kommandeur der 5. Armee sowie der Heeresgruppe Deutscher Kronprinz, die Hand und fragte ihn nach Alter, Wohnort und dem Befinden seiner Familie. Anschließend verabschiedete er sich. „Auf Kommando mußte noch Hurra geschrien werden. Dann stieg er ins Auto und fort.“¹ Die kurze Szene, die Pieck in einem Tagebuch festgehalten hat, wäre kaum weiter bemerkenswert, hätte er nicht ein Jahr zuvor eine Demonstration gegen den Krieg vor dem Reichstag organisiert, bei der er verhaftet und für mehrere Monate in Militärgewahrsam genommen worden war. Nun, nach seiner zwangsweisen Rekrutierung nach Frankreich im März 1916, blieb ihm als Ausdruck seiner oppositionellen Haltung nur mehr, den Hohenzollern in wenig schmeichelhaften Zügen als „hagere Figur mit spindeldürren Beinen“ und krankhaftem Aussehen darzustellen.² Piecks Weg von der Antikriegsdemonstration an die Westfront ist ein eindrückliches Beispiel für die gewaltigen Veränderungen, durch die der Krieg die Welt der linken Sozialdemokraten um Rosa Luxemburg (1871– 1919) und Franz Mehring (1846 – 1919) aus den Fugen geraten ließ. Über die langfristige Bedeutung des Ersten Weltkrieges für das Leben, Denken und Handeln der späteren Gründungsmitglieder der KPD herrscht in der historischen Forschung jedoch wenig Klarheit. Zwar ist die Geschichte der Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung während des Krieges ergründet und auch die Oppositionsarbeit der Gruppe Internationale und des Spartakusbundes wiederholt thematisiert worden.³ Welche Pieck, Wilhelm: Kriegstagebuch (23. 3. 1916 – ), Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (im Folgenden: SAPMO-BArch) NY 4036/12, Bl. 1– 46, hier Bl. 11r. Pieck, Kriegstagebuch, Bl. 11r. Siehe etwa Kuczynski, Jürgen: Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie. Chronik und Analyse. Berlin 1957; Miller, Susanne: Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg. Düsseldorf 1974; Kruse, Wolfgang: Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses https://doi.org/10.1515/9783110710847-003
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Stellung die Zeit des Krieges in der Erfahrungswelt und Erinnerung der späteren Kommunisten besaß und welchen Wandlungen sie von der Weimarer Republik bis in die Anfangsjahre der DDR unterworfen war, ist bislang jedoch kaum thematisiert worden.⁴ Überdies wird die Frage, ob mit der historischen Zäsur des Ersten Weltkrieges ein Umbruch politischer Vorstellungen und Handlungsweisen einherging, bis heute sehr unterschiedlich beantwortet. Auf der einen Seite findet sich die These von der Radikalisierung des linken Flügels der Sozialdemokratie infolge der Burgfriedenspolitik der Partei- und Fraktionsführung, eines enthemmenden Kriegserlebnisses und der russischen Revolutionen von 1917.⁵ So hat Andreas Wirsching „die mentale Ausgangsdisposition des frühen Kommunismus“ als „eine Mischung aus Bedrohungsangst und hemmungsloser Aggressivität“ charakterisiert, „deren Dimension und Intensität nur vor dem Hintergrund des säkularen Weltkriegstraumas und des russischen Bürgerkrieges zu begreifen“ seien.⁶ Auf der anderen Seite herrscht die schon 1919 von dem sozialdemokrati-
1914/15. Essen 1993 und Weber, Hermann: Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Die Gründung der KPD. Protokoll und Materialien des Gründungsparteitages der Kommunistischen Partei Deutschlands 1918 – 1919. Mit einer Einführung zur angeblichen Erstveröffentlichung durch die SED. Berlin 1993, S. 9 – 48. Siehe allerdings Hirschmüller, Tobias: Für den „Frontsoldaten“ und gegen den „imperialistischen Krieg“. Der Erste Weltkrieg in der Erinnerungskultur des deutschen Kommunismus während der Weimarer Republik. In: Jacob, Frank u. Altieri, Riccardo (Hrsg.): Krieg und Frieden im Spiegel des Sozialismus 1914– 1918. Berlin 2018, S. 405 – 438. Siehe schon Tormin, Walter: Zwischen Rätediktatur und sozialer Demokratie. Die Geschichte der Rätebewegung in der deutschen Revolution 1918/19. Düsseldorf 1954, S. 34– 39 und Ritter, Gerhard A.: Staat, Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung in Deutschland. Vom Vormärz bis zum Ende der Weimarer Republik. Berlin/Bonn 1980, S. 82. Wirsching, Andreas: Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918 – 1933/39. Berlin und Paris im Vergleich. München 1999, S. 43 f. Siehe auch ebd., S. 5, 29 u. 32 f.; Mallmann, Klaus-Michael: Kommunisten in der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung. Darmstadt 1996, bes. S. 109, 117 u. 226 f.; Nolte, Ernst: Der europäische Bürgerkrieg 1917– 1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, 5. überarb. u. erw. Auflage. München 1997, S. 90 – 103; Weber, Hermann: Zum Verhältnis von Komintern, Sowjetstaat und KPD. Eine historische Einführung. In: Ders. [u. a.] (Hrsg.): Deutschland, Russland, Komintern. Band 1: Überblicke, Analysen, Diskussionen. Neue Perspektiven auf die Geschichte der KPD und die deutsch-russischen Beziehungen (1918 – 1943). Berlin/Boston 2014, S. 9 – 139, hier S. 13 und Schröder, Joachim: Einleitung. In: Ochel, Ewald: „Was die nächste Zeit bringen wird, sind Kämpfe.“ Erinnerungen eines Revolutionärs (1914– 1921), hrsg. u. mit einer biografischen Notiz versehen von Joachim Schröder. Berlin 2018, S. 7– 27, hier S. 8 f. Siehe zur Kritik an der These einer tiefgreifenden Zäsurbedeutung des Kriegserlebnisses für die kommunistische Linke Ziemann, Benjamin: Das „Fronterlebnis“ des Ersten Weltkrieges – eine sozialhistorische Zäsur? Deutungen und Wirkungen in Deutschland und Frankreich. In: Mommsen,
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schen Politiker und Publizisten Paul Lensch (1873 – 1927) vertretene Ansicht, „daß im Spartakusbund und bei den Unabhängigen im Grunde nichts anderes zum Ausdruck kommt, als die alte Ideologie der Sozialdemokratie aus dem Voraugust“.⁷ Nach dieser Auffassung waren die Kriegsjahre weder ein tiefer, bewusstseinsprägender Einschnitt noch ein Motor der Brutalisierung.⁸ Anhand der Biografie Wilhelm Piecks werde ich im Folgenden einen genaueren Blick auf die Bedeutung des Ersten Weltkrieges für die sozialdemokratischen Linken und späteren Kommunisten um Luxemburg und Mehring werfen und die Perspektive über den Parteikommunismus der Weimarer Republik hinaus weiten. Denn Piecks Lebenslauf, der von der kaiserzeitlichen Sozialdemokratie bis in die Anfangsjahre der DDR reicht, erlaubt nicht nur, nach den Brüchen und Kontinuitäten in den politischen Erfahrungen, Anschauungen und Praktiken über die Epochenschwelle des Ersten Weltkrieges hinweg zu fahnden. Er ermöglicht auch, das Fort- und Umschreiben der Kriegserfahrungen in der historischen Meistererzählung der KPD und SED in das Blickfeld der Forschung zu rücken und den sich wandelnden Wert der Weltkriegszeit in der kommunistischen Erinnerungskultur am Beispiel des späteren Parteivorsitzenden und Präsidenten der DDR nachzuzeichnen.
Schock und Marginalisierung: das andere „Augusterlebnis“ Für den Kreis um Rosa Luxemburg und Franz Mehring, dem Pieck schon bald nach seiner Übersiedlung von Bremen nach Berlin im Mai 1910 angehört hatte, war nicht der Ausbruch des Krieges, sondern die Nachricht von der Bewilligung der Kriegskredite durch die sozialdemokratische Reichstagsfraktion die einschneidende Erfahrung des Jahres 1914. Während er – zumindest in der marxis-
Hans (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung. Sozialer Wandel und Formveränderung der Politik. Köln [u. a.] 2000, S. 43 – 82, hier S. 50 f. Lensch, Paul: Am Ausgang der deutschen Sozialdemokratie. Berlin 1919, S. 32. Siehe auch Frölich, Paul: Rosa Luxemburg. Gedanke und Tat. Berlin 1990, S. 8; Weitz, Eric D.: Creating German Communism, 1890 – 1990. From Popular Protest to the Socialist State. Princeton 1997, S. 95 und vor allem Trotnow, Helmut: Karl Liebknecht. Eine politische Biographie. Köln 1980, S. 183 – 248. Siehe zur Brutalisierungsthese zuletzt Alcade, Ángel: George L. Mosses These der Brutalisierung und ihre Kritik: Eine geschichtswissenschaftliche Debatte. In: Weipert, Axel [u. a]: „Maschine zur Brutalisierung der Welt?“ Der Erste Weltkrieg – Deutungen und Haltungen 1914 bis heute. Münster 2017, S. 95 – 112.
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tischen Theorie – auf den Krieg als Folge der wirtschaftlichen Konkurrenz zwischen den kapitalistischen Staaten gefasst war, hatte er die Kreditbewilligung am 4. August nicht für möglich gehalten.⁹ Die Nachricht wirkte daher wie ein Schock.¹⁰ Noch am Abend des 4. August kamen Mehring, Julian Marchlewski (1866 – 1925), Ernst Meyer (1887– 1930), Hermann Duncker (1874– 1960), Hugo Eberlein (1887– 1941) und Wilhelm Pieck in der Wohnung Luxemburgs zusammen, um zu beraten, „was in dieser grausigen Situation zu tun sei“.¹¹ Unter dem ersten Eindruck der Kreditbewilligung war auch ein Austritt aus der Partei erwogen worden. Am Ende beschlossen sie jedoch, „den Kampf gegen den Krieg in der Organisation zu führen“¹² – „eben weil wir die Partei gewinnen wollten“, wie Duncker später erklärte.¹³ Sie einigten sich darauf, all jene Genossen im Lande zu sammeln, mit denen sie sich in der Ablehnung der Fraktionspolitik einig wähnten, und sie zu einer Besprechung nach Berlin zu rufen. Über 300 Telegramme wurden verschickt, doch wie Eberlein schreibt, war das Resultat „katastrophal“. Clara Zetkin (1857– 1933) sei die einzige gewesen, die ihre Zustimmung gesandt habe.¹⁴ Dem Vorschlag eines öffentlichen Protestes gegen das Votum der Reichstagsfraktion begegnete sie allerdings mit großen Bedenken: „[…] er bliebe eine rein persönliche Kundgebung, die jetzt von Niemand verstanden würde, nur zeigte, daß wir völlig isoliert in der Luft stehen und wie klein und ohnmächtig wir
Siehe etwa Wette, Wolfram: Frieden durch Revolution? Das Scheitern der Friedenskonzeption der Radikalen Linken in der deutschen Revolution von 1918/19. In: Huber, Wolfgang u. Schwerdtfeger, Johannes (Hrsg.): Frieden, Gewalt, Sozialismus. Studien zur Geschichte der sozialistischen Arbeiterbewegung. Stuttgart 1976, S. 282– 357, hier S. 283 und Kruse, Krieg und nationale Integration, S. 212 sowie Eberlein, Hugo: Erinnerungen an Rosa Luxemburg bei Kriegsausbruch 1914. In: UTOPIE kreativ (2005), H. 174, S. 355 – 362, hier S. 359; Spartakus im Kriege. Die illegalen Flugblätter des Spartakusbundes im Kriege. Gesammelt und eingeleitet von Ernst Meyer. Berlin 1927, S. 5 und Zusammenstellung der Notizen, die während verschiedener Besuche bei Hermann Duncker gemacht wurden, Typoskript, Januar/Februar 1957, SAPMO-BArch SGY 30/142, Bl. 4– 82, hier Bl. 25 – 27. Siehe Nettl, Peter: Rosa Luxemburg. Köln 1967, S. 581 und Bergmann, Theodor u. Haible, Wolfgang: Die Geschwister Thalheimer. Skizzen ihrer Leben und Politik. Mainz 1993, S. 61. Eberlein, Erinnerungen an Rosa Luxemburg, S. 358. Eberlein, Erinnerungen an Rosa Luxemburg, S. 360. Zusammenstellung der Notizen, Bl. 29. Siehe auch Miller, Burgfrieden und Klassenkampf, S. 151 und Rojahn, Jürgen: Um die Erneuerung der Internationale: Rosa Luxemburg contra Pieter Jelles Troelstra. Zur Haltung der radikalen Linken in Deutschland nach dem 4. August 1914. In: International Review of Social History 30 (1985), H. 1, S. 2– 150, hier S. 64 u. 129. Eberlein, Erinnerungen an Rosa Luxemburg, S. 358 u. 360.
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sind“.¹⁵ Auch Karl Liebknecht (1871– 1919) lehnte zu dieser Zeit ab, in einer öffentlichen Erklärung gegen die Kreditbewilligung zu protestieren. Er hatte sich zwar mit einer Minderheit in der Reichstagsfraktion gegen die Bewilligung ausgesprochen, wahrte jedoch nach außen die Parteidisziplin und setzte darauf, dass die Fraktion ihren Kurs bald korrigieren würde. Erst Ende August oder Anfang September trat er in eine nähere Verbindung zu Luxemburg.¹⁶ So scheint es wenig übertrieben, wenn Paul Lensch rückblickend schreibt, dass es am 5. August 1914 unmöglich gewesen sei, „in Berlin auch nur ein halbes Dutzend Stimmen zum Protest gegen die Kreditbewilligung aufzutreiben“.¹⁷ Auf den Schock und die Enttäuschung über das Votum der Reichstagsfraktion folgte die Erfahrung der politischen Marginalisierung, die das Selbstbild der Gruppe fortan bestimmen und zu einem festen Bestandteil der Gründungserzählung der späteren KPD werden sollte. Beispielhaft formulierte Ernst Meyer 1927, dass sich nach der Bewilligung der Kriegskredite „nur ein ganz kleines Häuflein von aufrechten Genossen um Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Klara Zetkin und Marchlewski (Karski) scharte“.¹⁸ Während der 4. August von der Mehrheit der sozialdemokratischen Parteiführung und Reichstagsfraktion als „symbolische[] Aufnahme in die Nation“ erfahren wurde, markierte das Datum für die Gruppe um Luxemburg und Mehring den als Verrat an ihren Grundsätzen empfundenen Zusammenbruch der Sozialdemokratie als politischer Kampf- und Solidargemeinschaft.¹⁹ Ihnen zer-
Clara Zetkin an Rosa Luxemburg und Franz Mehring, Wilhelmshöhe, 5. August 1914, abgedruckt in: Kuczynski, Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges, S. 97 f. Siehe auch Miller, Burgfrieden und Klassenkampf, S. 81. Siehe Liebknecht, Karl: Betrachtungen und Erinnerungen aus der „großen Zeit“. In: Liebknecht, Karl: Gesammelte Reden und Schriften, Band 9: Mai 1916 bis 15. Januar 1919, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1974, S. 265 – 295, hier S. 276 f. sowie etwa Trotnow, Karl Liebknecht, S. 195 und Laschitza, Annelies: Die Liebknechts. Karl und Sophie – Politik und Familie. Berlin 2007, S. 241. Lensch, Paul: Ein Ende und ein Anfang. In: Die Glocke 4 (1919), S. 1333 – 1342, hier S. 1335. Spartakus im Kriege, S. 6. Siehe auch Zetkin, Clara: Der zweiten Auflage zum Geleit. In: Luxemburg, Rosa: Die Krise der Sozialdemokratie (Juniusbroschüre), 2. Auflage. Berlin 1919, S. III– XI, hier S. V; Walcher, Jacob: Das deutsche Proletariat und seine Revolution. In: Die Kommunistische Internationale (1921), H. 14, S. 126 – 132, hier S. 127; Eberlein, Erinnerungen an Rosa Luxemburg, S. 358 u. 360 sowie Frölich, Paul: 10 Jahre Krieg und Bürgerkrieg, Band 1: Der Krieg. Berlin 1924, S. 64. Kruse, Krieg und nationale Integration, S. 104. Siehe auch ebd., S. 15 u. 224; Das Kriegstagebuch des Reichstagsabgeordneten Eduard David 1914 bis 1918, in Verbindung mit Erich Matthias bearb. von Susanne Miller. Düsseldorf 1966, S. 13; Groh, Dieter: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Frankfurt a. M. 1973, S. 698, 701 u. 705 f.; Boll, Friedemann: Frieden ohne Revolution? Friedensstrategien der deutschen Sozialdemokratie vom Erfurter Programm 1891 bis zur Revolution 1918. Bonn 1980, S. 140 f.; Rojahn, Um die Erneuerung der Internationale,
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stob mit diesem Tag das Wunschbild einer revolutionären Massenpartei, die „in Wahrheit niemals existiert hatte“, wie der sozialdemokratische Publizist Friedrich Stampfer später treffend formulierte.²⁰
Wandel der politischen Praxis in Zeiten doppelter Opposition Da die Mehrheit der Sozialdemokratischen Partei die grundsätzliche Opposition gegenüber Regierung, Staat und bürgerlicher Gesellschaft aufgab, änderten sich die Bedingungen des politischen Handelns für die Minderheit radikal: Sie geriet in eine doppelte Opposition gegenüber der staatlichen und der sozialdemokratischen Politik.²¹ Der in die Partei hinein verlängerte Burgfriede machte es den Mitgliedern weitgehend unmöglich, politische Differenzen auszutragen. Kriegsgegnerischen Haltungen war damit die organisatorische Grundlage entzogen.²² Die Gruppe um Luxemburg und Mehring, die sich als Bewahrerin der alten sozialdemokratischen Grundsätze verstand,²³ sah sich deshalb in eine völlig neue Lage versetzt, die Paul Frölich (1884– 1953) bündig beschrieben hat: „Man war ,gegen diesen Krieg‘, gegen den Burgfrieden und für die Fortführung des Klassenkampfes. Aber mit welchen Methoden, wußte man nicht.“²⁴ S. 33 sowie Kruse, Wolfgang: Burgfrieden 1914: Der „Verrat“ schlechthin? In: Barck, Simone u. Plener, Ulla (Hrsg.): Verrat. Die Arbeiterbewegung zwischen Trauma und Trauer. Berlin 2009, S. 18 – 35, hier S. 26. Stampfer, Friedrich: Die ersten 14 Jahre der Deutschen Republik, 2. Auflage. Offenbach 1947, S. 20. Siehe Miller, Burgfrieden und Klassenkampf, S. 9 sowie Rosa Luxemburg an Franz Mehring, [Sillenbuch], 13. September 1914. In: Rosa Luxemburg: Gesammelte Briefe, Band 5: August 1914 bis Januar 1919, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1984, S. 9 – 11, hier S. 10; Dok. 18: Aus einem an den Vorstand der SPD gerichteten Brief Karl Liebknechts vom 2. Oktober 1914 zu seinem Auftreten auf der Sitzung der sozialdemokratischen Vertrauensmänner Stuttgarts vom 21. September 1914. In: Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Band 1: Juli 1914–Oktober 1917. Berlin 1958, S. 36; Spartakus im Kriege, S. 6 und Rück, Fritz: Von Bismarck bis Hermann Müller. Der Weg der deutschen Sozialdemokratie vom Sozialistengesetz zum Panzerkreuzer A 1878 – 1928. Berlin o. J., S. 14. Siehe Kruse, Krieg und nationale Integration, S. 11 u. 159. Siehe etwa Rosa Luxemburg an Helene Winkler, Berlin-Südende, 11. Februar 1915. In: Luxemburg: Gesammelte Briefe, S. 46 und Rojahn, Um die Erneuerung der Internationale, S. 129. Frölich, Paul: Im radikalen Lager. Politische Autobiographie 1890 – 1921, hrsg. u. mit einem Nachwort von Reiner Tosstorff. Berlin 2013, S. 107.
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Bei der tastenden Suche nach politischen Aktionsformen, die den veränderten Bedingungen entsprachen, spielte Wilhelm Pieck eine wichtige Rolle. Nach den Erinnerungen seiner Tochter Elly Winter (1898 – 1987) war er in dieser Zeit „fast keinen Abend zu Hause“.²⁵ Auf seine tägliche Arbeit als Sekretär der Parteischule und zweiter Geschäftsführer des Zentralbildungsausschusses (ZBA) folgten, wie er in einem Brief an den befreundeten sozialdemokratischen Redakteur Karl Schröder (1884 – 1950) schreibt, „die meistens bis über Mitternacht sich hinziehenden nebenberuflichen Parteipflichten, die in jetziger Zeit unaufschiebbar sind“.²⁶ Pieck beteiligte sich zunächst an den Versuchen, die regulären Zusammenkünfte der Partei zu nutzen, um die Mitglieder „über den imperialistischen Charakter des Krieges […] aufzuklären“ und eine Diskussion über die Haltung von Reichstagsfraktion und Parteivorstand in Gang zu bringen.²⁷ So versuchte er als Vorsitzender des Kreisbildungsausschusses des Sozialdemokratischen Wahlvereins Teltow-Beeskow-Storkow-Charlottenburg, die vom Ausschuss veranstalteten Vorträge darauf zu verwenden, die Opposition gegen die Kriegspolitik der Parteiführung zu stärken.²⁸ Obwohl diese bestrebt war, eine offene Auseinandersetzung über die Kreditbewilligung und den Burgfrieden zu verhindern,²⁹ kam es im Wahlkreis und besonders im Steglitzer Wahlverein in den ersten Kriegsmonaten auch zu Diskussionsabenden mit führenden Vertretern der Fraktionspolitik. Nachdem der Reichstagsabgeordnete Daniel Stücklen (1869 – 1945) für die Fraktionspolitik gesprochen hatte, trat am 9. Dezember auf Einladung Piecks Karl Liebknecht als Vertreter der Opposition auf, um den Steglitzer Genossen „unsere Meinung zu sagen“, wie Pieck schreibt. Der Vortrag musste Winter, Elly: Erinnerungen, Typoskript, geschrieben März 1961– 1965, SAPMO-BArch SGY 30/ 985, Bl. 1– 296, hier Bl. 80. Wilhelm Pieck an Karl Schröder, Steglitz, 21. Februar 1915. In: Neue Briefe Wilhelm Piecks aus dem Jahre 1915. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 31 (1989), S. 45 – 59, hier S. 48. Siehe auch Wilhelm Pieck an Karl Schröder, Steglitz, 6. Januar 1915. In: ebd., S. 47. Meyer, Ernst: Einleitung von Rosa Luxemburg: Entweder – Oder [April 1916]. In: Kommunistische Internationale (1925), H. 9, S. 944– 947, hier S. 944. Siehe etwa Vorwärts Nr. 292 vom 25. Oktober 1914; Wilhelm Pieck: Zur Parteigeschichte der K.P.D. (Spartakusbund) vom 28/10 1918 bis 10/2 1920, Typoskript mit handschriftlichen Einfügungen und Unterstreichungen, 1920, SAPMO-BArch NY 4036/384, Bl. 195 – 331, hier Bl. 199; Spartakus im Kriege, S. 7; Walcher, Jacob: Persönliche Erinnerungen aus der Zeit vor und während des 1. Weltkrieges, Typoskript, 1977, SAPMO-BArch SGY 30/932, Bl. 195 – 235, hier Bl. 200 f. sowie Bezirksleitung Berlin der SED, Kommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung (Hrsg.): Geschichte der revolutionären Berliner Arbeiterbewegung, Band 1: Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin 1987, S. 573 f. Siehe Pieck, Zur Parteigeschichte der K.P.D., Bl. 199. Siehe etwa Miller, Burgfrieden und Klassenkampf, S. 76 – 78 und Kruse: Krieg und nationale Integration, S. 150 f. u. 178.
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allerdings ohne Nennung des Redners als „Zeitgeschichtliche Rückblicke“ angekündigt werden, um eine polizeiliche Bespitzelung zu verhindern.³⁰ Schließlich hatte Liebknecht nur eine Woche zuvor als einziger Abgeordneter im Reichstag unter Protest „gegen den Krieg, seine Verantwortlichen und Regisseure“ und „gegen die kapitalistische Politik, die ihn heraufbeschwor“, die Bewilligung neuerlicher Kriegskredite abgelehnt.³¹ Damit hatte er ein „Fanal für die Kriegsgegner im In- und Ausland“³² gesetzt und „die Existenz einer innerparteilichen Opposition überhaupt erst allgemein bekannt“ gemacht.³³ Nachdem im Dezember 1914 das kritische Informationsmaterial über die sozialdemokratische Kriegspolitik eingestellt werden musste, das bis dahin unter dem „parteilegalen Mantel“³⁴ des Bildungsausschusses Niederbarnim herausgegeben worden war, beteiligte sich Pieck auch an der technischen Herstellung illegaler Rundschreiben. Meist unter der Überschrift Zur Information verbreitet, sollten sie zudem dazu beitragen, eine „Verbindung zwischen der Opposition im ganzen Lande herbeizuführen“.³⁵ Eine der ersten Gelegenheiten dazu hatten Zusammenkünfte geboten, die Pieck anlässlich der Sitzung des Parteiausschusses der Sozialdemokratie in Berlin und der anschließenden Redakteurskonferenz am 27. und 28. September 1914 organisierte.³⁶ Fortgesetzt wurden diese Versuche am
Wilhelm Pieck an Karl Liebknecht, [November o. Dezember 1914], SAPMO-BArch NY 4001/38, Bl. 109. Siehe zu dieser Parteiversammlung auch Pieck: Zur Parteigeschichte der K.P.D., Bl. 200 und Clara Zetkin an Robert Grimm, [Stuttgart‐]Wilhelmshöhe, 1. Januar 1915. In: Zetkin, Clara: Die Kriegsbriefe (1914– 1918), hrsg. von Marga Voigt. Berlin 2016, S. 87– 91, hier S. 89. Nr. 1 vom Dezember 1914: Zur Kriegssitzung des Reichstags. In: Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (Hrsg.): Spartakusbriefe. Berlin 1958, S. 3 f. Scharrer, Manfred: „Freiheit ist immer …“. Die Legende von Rosa & Karl. Berlin 2002, S. 65. Siehe auch Trotnow, Karl Liebknecht, S. 215. Kruse, Krieg und nationale Integration, S. 182. Siehe auch Schorske, Carl E.: Die grosse Spaltung. Die deutsche Sozialdemokratie 1905 – 1917. Berlin 1981, S. 377 und Laschitza, Die Liebknechts, S. 240 – 242. Frölich, 10 Jahre Krieg und Bürgerkrieg, S. 140. Pieck, Zur Parteigeschichte der K.P.D., Bl. 197 f. Siehe Frölich, 10 Jahre Krieg und Bürgerkrieg, S. 140; Spartakus im Kriege, S. 7; Meyer, Ernst: Vorwort zum ersten Band der Spartakusbriefe. In: Spartakusbriefe, S. XXXIV–XLIII, hier S. XXXIV und Schwenk, Paul: Lenin, Mehring und das Niederbarnimer Referentenmaterial. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 2 (1960), H. 1, S. 158 – 163, hier S. 160 f. Siehe Wilhelm Pieck an Konrad Haenisch, Berlin, 25. September 1914, SAPMO-BArch NY 4036/ 486, Bl. 12v.; Liebknecht, Betrachtungen, S. 278; Pieck, Zur Parteigeschichte der K.P.D., Bl. 197 f. und Chronik (Zusammenstellung persönlicher und politischer Daten aus dem Leben Piecks durch diesen selbst und Elly Winter), Typoskript, abgeschlossen um 1960, SAPMO-BArch NY 4036/10, Bl. 1– 395, hier Bl. 20 f.
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5. März 1915 mit einer Konferenz von Oppositionellen aus dem Reichsgebiet, die in Piecks Wohnung stattfand. Auf dieser Konferenz wurde die Herausgabe der Zeitschrift Die Internationale beschlossen, die monatlich unter der Federführung von Mehring, Luxemburg und Liebknecht erscheinen und „ein sozialdemokratische[s] Wort im alten Sinn“ bieten sollte.³⁷ Pieck verantwortete die Organisation von Druck und Vertrieb. Die Zeitschrift wurde sofort nach dem Erscheinen ihrer ersten Nummer verboten, doch gelang es offenbar, einen großen Teil der Auflage von 9.000 Exemplaren zu verkaufen. Der Titel des Blattes gab dem Kreis um die Herausgeber fortan seinen Namen, Gruppe Internationale, der später mit der Publikation der illegalen Spartakusbriefe durch die Bezeichnung Spartakusbund oder Spartakusgruppe ersetzt wurde.³⁸ Überdies hatte der Vertrieb der ersten Nummer in Berlin und im Reich Verbindungen gestiftet und organisatorische Strukturen geschaffen, die in der Folge vielfältig genutzt wurden: „Der Erfolg […] hatte die Genossen kühn gemacht“, schrieb Pieck 1920. Sie druckten und vertrieben weiteres illegales Material, worunter Liebknechts Flugblatt Der Hauptfeind steht im eigenen Land besonderes Aufsehen erregte.³⁹ Unter den Bedingungen der doppelten Opposition hatte Pieck eine Rolle eingenommen, die er etwa ein Jahrzehnt lang spielen sollte. Er gehörte nicht zu den Theoretikern oder charismatischen Führern der Gruppe Internationale, des Spartakusbundes und der frühen KPD, sondern er war einer ihrer wichtigsten Organisatoren. Anders als Liebknecht, Luxemburg, Mehring, Duncker oder Meyer, die sämtlich Doktortitel trugen, besaß er keinen bildungsbürgerlichen und akademischen Hintergrund, der ihn für die publizistische Arbeit prädestiniert hätte.⁴⁰ Rosa Luxemburg an Alexander Winkler, Berlin-Südende, 11. Februar 1915. In: Luxemburg, Gesammelte Briefe, S. 45. Siehe auch Rojahn, Um die Erneuerung der Internationale, S. 119. Siehe Emanuel Wurm an Karl Kautsky, 21. April 1915, Karl Kautsky Papers, inventory number D_XXIII_259, International Institute of Social History, Amsterdam; Karl Liebknecht an Julian Borchardt, Berlin, 4. Dezember 1915. In: Wohlgemuth, Heinz: Burgkrieg, nicht Burgfriede! Der Kampf Karl Liebknechts, Rosa Luxemburgs und ihrer Anhänger um die Rettung der deutschen Nation in den Jahren 1914– 1916. Berlin 1963, S. 281; Pieck, Zur Parteigeschichte der K.P.D., Bl. 201– 203; Frölich, 10 Jahre Krieg und Bürgerkrieg, S. 140 f.; Berten, Peter: Lebenslauf eines einfachen Menschen. Düsseldorf 1958, S. 145 – 147; Chronik, Bl. 22 f.; Winter, Erinnerungen, Bl. 80 f. sowie Weber, Einleitung, S. 15 f. u. 19. Pieck, Zur Parteigeschichte der K.P.D., Bl. 205. Siehe auch Bartel, Walter: Die Linken in der deutschen Sozialdemokratie im Kampf gegen Militarismus und Krieg. Berlin 1958, S. 230 sowie Liebknecht, Karl: Der Hauptfeind steht im eigenen Land! Flugblatt, Mai 1915. In: Karl Liebknecht. Gesammelte Reden und Schriften, Band 8: August 1914 bis April 1916, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1972, S. 225 – 230. Siehe Pelz, William A.: The Spartakusbund and the German Working Class Movement 1914– 1919. Lewiston/Queenston 1987, S. 271 und Luban, Ottokar: Führung und Basis des Rosa-Luxemburg-Karl-Liebknecht-Kreises (Spartakusgruppe), 1915 – 1918. Biographien und soziale Zu-
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Allerdings hatte Pieck im Unterschied zu diesen eine Funktionärslaufbahn in der Sozialdemokratischen Partei hinter sich, die vom Ehrenamt des Hauskassierers über die besoldete Anstellung als Parteisekretär bis zu seiner Tätigkeit im ZBA und in der Parteischule reichte. Daher besaß er nicht nur organisatorische Erfahrungen und Kompetenzen. Er konnte durch seine Funktionen auch Mittel und Netzwerke der Partei nutzen.⁴¹ In seiner daraus erwachsenen Stellung als Organisator der Oppositionsarbeit zeichnet sich der Wandel der politischen Handlungsformen seit dem August 1914 mit besonderer Deutlichkeit ab: Erfolgte zunächst „ein Abtasten des Terrains“ hinsichtlich der „Möglichkeiten legalen Auftretens“ innerhalb der Partei mit dem Ziel, die Mitgliedschaft zu gewinnen, so führten die restriktiven Bedingungen des Belagerungszustandes und innerparteilichen Burgfriedens allmählich jenseits von Parteiorganisation und Legalität, die bis dahin auch für radikale Sozialdemokraten wie Pieck den festen Handlungsrahmen gebildet hatten.⁴² Pieck hatte damit Teil an der Entwicklung konspirativer politischer Praktiken, die in die Anfangsjahre der Weimarer Republik weisen und die Oppositionsarbeit der Gruppe Internationale als Vorschule der frühen KPD erkennen lassen.⁴³ Mit dieser Transformation der politischen Praxis während des Ersten Weltkrieges ging bald auch ein tiefgreifender Wandel der persönlichen Lebensführung einher. Als Pieck am 28. Mai 1915 vor dem Reichstag bei einer von ihm organisierten Demonstration von etwa 1.500 Frauen gegen den Krieg festgenommen wurde,⁴⁴ begann eine fast zehnjährige Periode der wiederholten Haft, des unfreiwilligen Fronteinsatzes, der Desertion, Emigration und Illegalität, die sich von dem geordneten, beinahe bürgerlichen Leben des Parteiangestellten der sammensetzung. In: Ders.: Rosa Luxemburgs Demokratiekonzept. Ihre Kritik an Lenin und ihr politisches Wirken 1913 – 1919. Leipzig 2008, S. 172– 195, hier S. 182. Darauf haben bereits hingewiesen: Winzer, Otto: Wilhelm Pieck – Kampfgefährte der russischen Revolution und Freund der Sowjetunion. Berlin 1956, S. 21 und Voßke, Heinz u. Nitzsche, Gerhard: Wilhelm Pieck. Biographischer Abriß. Berlin 1975, S. 64. Siehe Reimer, Luise: Immer Zeit für die arbeitenden Menschen, Typoskript, o. D., SAPMO-BArch SGY 30/1053, Bl. 173 – 175, hier Bl. 174 f. und Kügelgen, Else von: FRAU VON HEUTE besuchte Luise Reimer – die erste Mitarbeiterin unseres Präsidenten. In: Frau von heute Nr. 1 vom 2. Januar 1959, S. 6. Siehe Frölich, 10 Jahre Krieg und Bürgerkrieg, S. 40 u. 140; ders.: Im radikalen Lager, S. 107 u. 112 f.; Meyer: Einleitung von Rosa Luxemburg: Entweder – Oder, S. 944; Wohlgemuth: Burgkrieg, nicht Burgfriede!, S. 101. Siehe Bericht von [Hugo] Eberlein über die illegale Arbeit des Spartakusbundes 1914– 1918, Typoskript (Abschrift), o. D., SAPMO-BArch NY 4036/487, Bl. 109 – 145 und Stiller, Alfred: Geburtsstätte der KPD, Maschinendurchschlag, vor 1955, SAPMO-BArch SGY 30/613, Bl. 1– 3, hier Bl. 1. Siehe Pieck, Wilhelm: Gefängnishaft in Moabit 1915 (Tagebuchaufzeichnungen), SAPMOBArch NY 4036/11, Bl. 1– 52, hier Bl. 2; Nr. 6 vom September 1915: Zur Information. In: Spartakusbriefe, S. 30 – 50, hier S. 42 f. und Winter, Erinnerungen, Bl. 80 f.
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Vorkriegszeit deutlich unterschied. Seine Familie sah Pieck seitdem nur unregelmäßig. Erst 1924 sei er, wie seine Tochter Elly Winter schreibt, wieder jeden Tag nach Hause gekommen.⁴⁵
Neue Erfahrungen und tradierte Deutungsmuster Von den tiefgreifenden Veränderungen, die Piecks Vorkriegsdasein ein Ende setzten, blieben seine politischen Vorstellungen und Gewissheiten weitgehend unberührt. „Gewiß“, schrieb er im September 1915 während seiner Haft in Moabit im Entwurf eines Briefes an Heinrich Schulz (1872– 1932), seinen Chef im ZBA und in der Parteischule, „hat der Krieg Radikale und Revisionisten durcheinander gewirbelt, aber die alte, auf dem Klassenkampf basierte Grundauffassung ist geblieben“. Diese kenne weder einen Burgfrieden noch erkenne sie in der staatlichen Organisierung der Kriegswirtschaft, die von einigen sozialdemokratischen Publizisten begeistert als „Kriegssozialismus“ bezeichnet wurde,⁴⁶ eine „Verwirklichung sozialistischer Forderung“.⁴⁷ Die vermeintlichen Irrtümer seiner Parteigenossen hatte sich Pieck bereits einige Monate zuvor – wie schon in den Richtungsdebatten der Vorkriegszeit – mit ihrer „mangelhaften theoretischen Durchbildung“ erklärt. Dagegen zog er selbst aus dem Glauben an die marxistische Lehre von den historischen Entwicklungsgesetzen Selbstbewusstsein und Sicherheit noch in unsicheren Zeiten: Mochte es der Parteiführung auch gelingen, die Mitglieder eine Weile in die Irre zu führen, so würde die „ganze Entwicklung der wirtschaftlichen und politischen Gegensätze die Massen wieder in Opposition zu den herrschenden Klassen treiben und damit den Klassenkampf in verschärfter Form aufleben lassen“. Dann, so erwartete Pieck, würden „die herrschenden Klassen jedweder Opposition die schärfsten polizeilichen und gesetzlichen Hindernisse bereiten und damit alle Träume von demokratischer Entwicklung zerstören“. Das werde schließlich „auch all denen die Augen öffnen, die jetzt glau-
Siehe Winter, Erinnerungen, Bl. 84. Siehe dazu etwa Krüger, Dieter: Kriegssozialismus. Die Auseinandersetzung der Nationalökonomen mit der Kriegswirtschaft 1914– 1918. In: Michalka, Wolfgang (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse. München/Zürich 1994, S. 506 – 529, hier S. 521 f. und Kruse, Krieg und nationale Integration, S. 116 – 124. Wilhelm Pieck an Heinrich Schulz, September 1915 (handschriftlicher Entwurf), SAPMOBArch NY 4036/486, Bl. 19 – 32, hier Bl. 30 f.
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ben, daß die Partei durch ihr Verhalten eine Veränderung der Verhältnisse zwischen Bürgertum und Arbeiterklasse herbeigeführt“ habe.⁴⁸ Piecks Verhaftung am 28. Mai 1915 war geeignet, seine Prophezeiung einer Verschärfung der gesellschaftlichen Gegensätze zu bekräftigen. Zusammen mit zwei Mitorganisatoren der Demonstration vor dem Reichstag, Joachim Klüß und Adolf Adena (1887– 1918), gehörte er zu den ersten sozialdemokratischen Oppositionellen, die unter Berufung auf den Belagerungszustand ohne das Urteil eines Zivilgerichtes in sogenannte Schutzhaft genommen wurden. Die Mitglieder der Gruppe Internationale waren fortan in besonderem Maße von staatlichen Zwangsmaßnahmen betroffen, die bis zu politisch motivierten militärischen Einberufungen reichten.⁴⁹ Pieck gab seiner Inhaftierung einen sardonischen Ausdruck, als er sein Gefängnistagebuch mit der Überschrift Auch ein Kriegserlebnis versah. Doch deutlicher als der Titel zeigt wohl das autobiografische Schreiben selbst, wie außerordentlich sich dieses Erlebnis vor dem Hintergrund seines bisherigen Lebens ausnahm. Schließlich scheint Pieck zuvor kein Tagebuch geführt zu haben. Auch die in seinen täglichen Notizen dokumentierte innere Unruhe, die Sorge um seine Familie und die quälende Ungewissheit über das Kommende zeigen, dass Piecks Haft den Erfahrungsraum der Vorkriegszeit durchbrach. Allerdings waren politische Repressionen, wie er sie nun erlebte, als unbestimmte Zukunftsprognose durchaus Teil seines Erwartungshorizontes gewesen.⁵⁰ Schon in den Auseinandersetzungen um den politischen Massenstreik 1905 war Pieck in der bremischen Partei als ein Revolutionär im Wartestand aufgetreten, der von seinen Genossen verlangte, im politischen Kampf notfalls die eigene Existenz und das Familienleben auf das Spiel zu setzen.⁵¹ Die Haltung, dass in zugespitzten politischen Verhältnissen persönliche Opfer notwendig seien, dürfte ihm dabei geholfen haben, das Hafterlebnis zu bewältigen. Wie das Tagebuch zeigt, standen ihm zudem tradierte Interpretationsraster und Handlungsstrategien zur Verfügung, um mit der neuen Situation umzugehen.Vermittelt waren diese durch Erzählungen von persönlicher Bewährung in den Zeiten
Wilhelm Pieck an Karl Schröder, Steglitz, 21. Februar 1915, S. 49. Ganz ähnlich sprach Rosa Luxemburg in der vom Berliner Parteivorstand einberufenen Referentenversammlung am 25. September 1914. Siehe Rojahn, Um die Erneuerung der Internationale, S. 61. Siehe Pieck, Gefängnishaft in Moabit 1915, Bl. 9r. sowie Kruse, Krieg und nationale Integration, S. 204– 206 u. S. 302, Anm. 326 und Weber, Einleitung, S. 19 f. Siehe zu den Kategorien Erfahrungsraum und Erwartungshorizont Koselleck, Reinhart: „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ – zwei historische Kategorien. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1979, S. 349 – 375. Siehe Bremer Bürger-Zeitung Nr. 189 vom 13. August 1905.
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staatlicher Verfolgung und Haft, die in der Erinnerungskultur der kaiserzeitlichen Sozialdemokratie einen festen Platz besaßen. Ein Klassiker dieser Erinnerungskultur war der 1911 veröffentlichte zweite Teil der Autobiografie August Bebels. Darin symbolisiert die politische Haft nicht nur die Ungerechtigkeit der herrschenden Ordnung, sondern auch die Unbeugsamkeit des aufrechten Sozialdemokraten, der noch die Gefangenschaft zu seinem eigenen Besten zu nutzen weiß. So schreibt der langjährige Parteivorsitzende, dass Arbeit „das beste Mittel“ sei, „über eine unangenehme Situation hinwegzukommen“, und dass er die Haftzeit „mit aller Kraft“ darauf verwendet habe, die Lücken seines Wissens „einigermaßen auszufüllen“.⁵² Bebel war die prominenteste Verkörperung eines sozialdemokratischen Verhaltensmodells, dem nun auch Pieck folgte. Als er 17 Tage nach seiner Verhaftung endlich „die langersehnten Bücher (2 Bände Müller-Lyer ,Kulturgeschichte‘ und einige gute Romane von Freund Duncker)“ erhalten hatte, notierte er: „Wie war ich froh, gute Bücher sind doch die besten Freunde, besonders in der Gefangenschaft.“⁵³ Piecks Haftdarstellung weist noch weitere Analogien zur Autobiografie Bebels auf, mit denen er sich in die Verhaltenstraditionen der sozialdemokratischen Gründergeneration einschrieb und die von der Erwähnung des Fremdsprachenstudiums über die ausführliche Auflistung der im Gefängnis gelesenen wissenschaftlichen und belletristischen Werke bis zur akribischen Schilderung der Ungezieferjagd vor dem Schlafengehen reichen.⁵⁴ Sie machen deutlich, dass Pieck zur Bewältigung der unbekannten Situation der Gefangenschaft auf bekannte Rollenvorbilder und Handlungsmuster zurückgreifen konnte. Das sollte für die kommenden Ereignisse nicht mehr gelten.
Politische und leibliche Selbstbehauptung: als Kriegsgegner an der Westfront Nachdem Pieck im Juli 1915 in der Haft seine Militäraufforderung erhalten und eine sechsmonatige militärische Ausbildung in Neiße durchlaufen hatte, bezog er
Bebel, August: Aus meinem Leben. Zweiter Teil. Stuttgart 1911, S. 263 f. Siehe in diesem Zusammenhang auch Laschitza, Die Liebknechts, S. 145. Pieck, Gefängnishaft in Moabit 1915, Bl. 14v. Siehe Pieck, Gefängnishaft in Moabit, Bl. 23v.; 24r. u. 26r. und Bebel: Aus meinem Leben, S. 208, 264 f., 269 f. u. 394 f.
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am 30. März 1916 mit dem 51. Infanterieregiment Quartier vor Verdun.⁵⁵ In welche Situation er als Kriegsgegner an der Front geraten könnte, hatte ihn schon in Neiße beschäftigt. An seinen Sohn Arthur hatte er eine Postkarte mit dem „Bild der Kameraden“ gesandt (Abb. 1), „mit denen ich in engerer Gemeinschaft meine Vorbereitungen zum Menschen …… ,genossen‘ habe. Die abgebildeten Vernichtungswerkzeuge“, zwei Gewehre mit aufgepflanztem Bajonett, „siehst Du auf dem Bild kreuzweis nebeneinander gehalten. Hoffentlich brauche ich sie nie anzuwenden“.⁵⁶
Abb. 1: Wilhelm Pieck (1. v. l.) während seiner militärischen Ausbildung. Vorderseite einer Bildpostkarte an Arthur Pieck, Neisse, 30. Januar 1916, SAPMO-BArch NY 4036/375, Bl. 1.
Pieck hatte mit seiner Karte die Möglichkeit zur Sprache gebracht, im Krieg ungewollt zum Täter zu werden und „durch Morden [s]ein Leben erhalten zu müssen“, wie es Hermann Duncker in einem Brief an seine Frau Käte (1871– 1953)
Siehe Pieck, Gefängnishaft in Moabit 1915, Bl. 49v.; Winter, Erinnerungen, Bl. 85; Wilhelm Petukat an Wilhelm Pieck, Berlin, 21. Januar 1946, SAPMO-BArch NY 4036/278, Bl. 18 f., hier Bl. 18r. sowie Pieck, Kriegstagebuch, Bl. 5v. f. Wilhelm Pieck an Arthur Pieck, Neisse, 30. Januar 1916, SAPMO-BArch NY 4036/375, Bl. 1.
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formulierte, nachdem er ebenfalls zum Militär eingezogen worden war.⁵⁷ Das moralische Dilemma des Tötens im Krieg spitzte sich für „Kriegsunfreiwillige“⁵⁸ wie Pieck und Duncker drastisch zu. Sie sahen sich weder auf einem „Feld der Ehre“ noch als „Vaterlandsverteidiger“, sondern in einen imperialistischen Raubkrieg hineingezogen, in dem Tausende von Soldaten für die wirtschaftlichen Interessen einiger weniger hingeschlachtet würden und die Gefährdung eigenen und fremden Lebens ohne Sinn und Rechtfertigung war. Ihre Zwangsrekrutierung stellte sie vor ein Problem, für das es keine Rollenvorbilder und Handlungsmuster gab, nämlich wie sie sich als Sozialisten und Kriegsgegner im Fronteinsatz verhalten sollten.⁵⁹ Die Frage, auf welche Weise ihre politischen Grundsätze auch unter den restriktiven Bedingungen eines militärischen Regimes gewahrt werden konnten, verband sich in den Materialschlachten des Stellungskrieges alsbald mit dem bloßen Wunsch zu überleben. Die Geschichte des Soldaten Pieck liest sich auf der Grundlage seines Tagebuchs und vereinzelter Briefe deshalb als eine Geschichte der politischen und leiblichen Selbstbehauptung.⁶⁰ In seinen Tagebucheinträgen aus der ersten Zeit im Kriegsgebiet schreibt Pieck von erschöpfenden Märschen und schlechter Versorgung, von Nässe, Dreck und Läusen, von Kanonendonner und Geschützfeuer am Tag und in der Nacht. Schon bald erlebte er die „fürchterliche[n] Einschläge“ der französischen Artillerie, die die Stellung der Kompanie beschoss.⁶¹ Den Kampfhandlungen an der Front konnte er aber für das Erste fernbleiben, da es ihm gelang, sich in der Etappe in Öttingen (Lothringen) zum Telefonisten ausbilden zu lassen.⁶² Am 9. Mai fuhr Pieck seiner Kompanie, die inzwischen an die Somme verlegt worden war, nach Cambrai-Petit Fontaine nach, wo sie Stellung bezogen hatte. Die Ta Siehe Hermann Duncker an Käte Duncker, 30. August 1916. In: Deutschland, Heinz (Hrsg.): Ich kann nicht durch Morden mein Leben erhalten. Briefwechsel zwischen Käte und Hermann Duncker 1915 bis 1917. Bonn 2005, S. 88. Geyer, Michael: Eine Kriegsgeschichte, die vom Tod spricht. In: Lindenberger, Thomas u. Lüdtke, Alf (Hrsg.): Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit. Frankfurt a. M. 1995, S. 136 – 161, hier S. 145. Siehe Frölich, Im radikalen Lager, S. 109; Deutschland (Hrsg.), Ich kann nicht durch Morden mein Leben erhalten; Engel, Gerhard: Sozialdemokratische Feldpost-Netzwerke im Ersten Weltkrieg. In: Didczuneit, Veit [u. a.] (Hrsg.): Schreiben im Krieg. Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege. Essen 2011, S. 411– 418, hier S. 414 und Hoffrogge, Ralf: Werner Scholem. Eine politische Biographie (1895 – 1940). Konstanz/München 2014, S. 61. Siehe allgemein zur soldatischen Verweigerung im Ersten Weltkrieg Jahr, Christoph: Gewöhnliche Soldaten. Desertion und Deserteure im deutschen und britischen Heer 1914– 1918. Göttingen 1998 und Ziemann, Benjamin: Gewalt im Ersten Weltkrieg. Töten – Überleben – Verweigern. Essen 2013. Pieck, Kriegstagebuch, Bl. 5v.–8v.; Zitat: Bl. 8v. Pieck, Kriegstagebuch Bl. 12v. und Winter, Erinnerungen, Bl. 91 f.
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gebucheinträge von seiner Zugfahrtsind neugierige Reisenotizen eines Mannes, der Frankreich und Belgien als Soldat das erste Mal sah und sich an den vorüberziehenden Frühlingslandschaften wohl auch deshalb erfreute, weil sie ein Gegenbild zur versehrten Erde um Verdun boten.⁶³ Der Krieg tauchte einstweilen nur in der Ferne auf. Noch die ersten Wochen an der Somme waren von relativer Ruhe geprägt, von Theater- und Kinobesuchen sowie sonntäglichen Ausflügen. Zum Ärger seiner Vorgesetzten verzichtete Pieck auch nicht auf seine Angewohnheit, vollständig entkleidet ausgiebige Sonnenbäder zu nehmen.⁶⁴ Das dürfte neben Gesundheitszwecken ebenso dem Bedürfnis gedient haben, in einer neuen Lage Kontinuität zu alten Lebenszusammenhängen zu wahren. Dazu trug auch die Feldpost bei, deren Ein- und Ausgang Pieck in seinem Tagebuch akribisch vermerkt hat. Neben seiner Familie waren es vor allem seine früheren Kollegen im ZBA Luise Reimer (1888 – 1959), Hedwig Reinhardt und Salo Drucker (1885 – 1940), die ihn mit Post und „Liebesgaben“ versahen und denen er häufiger schrieb.⁶⁵ Der Herausgeber der Arbeiterjugend Karl Korn (1865 – 1942) versorgte ihn bisweilen mit Zeitungen und Literatur. Über Briefe und Karten blieb Pieck auch mit führenden Mitgliedern des Spartakusbundes, allen voran Franz Mehring, in Verbindung.⁶⁶ So half die Feldpost Pieck dabei, seine politische Lebensführung in reduziertem Maße fortzusetzen und „vertraute Lebensgewohnheiten in einen Kriegsalltag hinüber zu retten, der diese ständig durchbrach“.⁶⁷ Ende Juni 1916 lag Piecks Regiment bereits nahe der Front. Nach dem Beginn der britisch-französischen Offensive auf die deutschen Stellungen an der Somme
Pieck, Kriegstagebuch, Bl. 13 und Chronik, Bl. 26. Einen allgemeinen Zusammenhang von Naturbegeisterung und Kriegserfahrung der Soldaten sieht Reimann, Aribert: Die heile Welt im Stahlgewitter: Deutsche und englische Feldpost aus dem Ersten Weltkrieg. In: Hirschfeld, Gerhard [u. a.] (Hrsg.): Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätengeschichte des Ersten Weltkriegs. Essen 1997, S. 129 – 145, hier S. 137. Siehe auch Nübel, Christoph: Durchhalten und Überleben an der Westfront. Raum und Körper im Ersten Weltkrieg. Paderborn 2014, S. 224, 239 u. 354. Pieck, Kriegstagebuch, Bl. 15r.–18r. Siehe zu den soldatischen Freiräumen der Ruhestellung und Etappe etwa Jahr, Gewöhnliche Soldaten, S. 110. Siehe Pieck, Kriegstagebuch, Bl. 8 – 25. Siehe Pieck, Kriegstagebuch, Bl. 16 – 29. Buschmann, Nikolaus: Der verschwiegene Krieg: Kommunikation zwischen Front und Heimatfront. In: Hirschfeld [u. a.] (Hrsg.), Kriegserfahrungen, S. 208 – 224, hier S. 217. Siehe in diesem Zusammenhang auch Reimann, Die heile Welt im Stahlgewitter, S. 141; Engel, Sozialdemokratische Feldpost-Netzwerke im Ersten Weltkrieg und Ebert, Jens: Großer Krieg und kleine Leute. In: Ders. (Hrsg.): Vom Augusterlebnis zur Novemberrevolution. Briefe aus dem Weltkrieg 1914– 1918. Göttingen 2014, S. 323 – 385, hier S. 352– 354.
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wurde sein Truppenteil am 3. Juli in heftige Kämpfe verwickelt,⁶⁸ seine „erste, größere u. ernsthafte Teilnahme an einer Schlacht“: Um 1/2 4 Uhr Alarm, in der vordersten Linie heftige Angriffskämpfe. Wir mußten schußbereit an der Brustwehr stehen. Unsere Stellung unausgesetzt mit Granaten und Schrappnells beschossen. Ein mörderisches Feuer und höllisches Konzert. Plötzlich fängt es in dem links von uns liegenden Dorf Guymont [gemeint ist Guillemont, M. S.] an zu brennen, wohl durch Brandgranaten hervorgerufen. Ein grausig-schönes Bild inmitten der tiefdunklen Nacht. Alle Nerven sind infolge des heftigen Feuers gespannt, jeder duckt sich wenn die heulenden Granaten herangesaust kommen. Vorn die Front erleuchtet durch helle Leuchtkugeln der Engländer, die die dichten Pulverwolken phantast. erhellen. Nach 1 Stunde ließ der Kampf etwas nach. Es war ein Angriff unsererseits, um den Wald zu säubern. Ob es gelungen war?⁶⁹
Angesichts des Erfahrungseinbruchs der Schlacht mischen sich in der Schilderung des Tagebuchs Faszination und Schrecken. Scheint Pieck die nervenspannenden Ereignisse der Kämpfe zunächst in einem Modus der Distanzierung wie das Geschehen auf einer Theaterbühne darzustellen, führte das Erleben der Todesgefahr wenige Zeilen später dazu, dass er sich im Schreiben unversehens als Teil einer soldatischen Überlebensgemeinschaft, eines „Wir“ begreift, von deren Erfolgen im Kampf gegen die Soldaten auf der anderen Seite der Front auch das eigene Leben abhing. Zwar bot Pieck der Dienst als Telefonist auch an der Front Phasen relativer Ruhe, die er „mit Lesen, Schreiben und Dösen“ verbringen konnte.⁷⁰ Bei Störungen der Leitung wurde diese jedoch jäh unterbrochen und die Telefonverbindung musste selbst unter heftigstem Beschuss wieder instandgesetzt werden.⁷¹ Zudem geriet bald auch der Unterstand der Telefonstation unter heftiges Feuer, das die Erde „unter den gewaltigen Einschlägen, die unausgesetzt erfolgen“, erbeben ließ.⁷² Als die Telefonisten am 14. Juli in Guillemont den Befehl erhielten, abzurücken und sich beim Regimentsgefechtsstand zu sammeln, machte „stärkstes Artilleriefeuer“ das Verlassen des Unterstandes beinahe unmöglich: Wir im Unterstand bange Stunden, denn eine Granate schlug nach der anderen vor dem Eingang ein […]. Das Feuer wurde immer heftiger, jeden Augenblick mit Einsturz des Unterstandes gerechnet. Endlich um 10 Uhr eine kleine Feuerspauße [sic!], die ich und ein
Siehe zur Schlacht an der Somme Leonhard, Jörn: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. München 2014, S. 451– 455 und Becker, Jean-Jacques/Krumeich, Gerd: Der Große Krieg. Deutschland und Frankreich 1914– 1918. Essen 2010, S. 230. Pieck, Kriegstagebuch, Bl. 20v.–21r. Pieck, Kriegstagebuch, Bl. 22v. Siehe Pieck, Kriegstagebuch, Bl. 21v.–22r. u. 31r. Pieck, Kriegstagebuch, Bl. 23r.
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Kamerad (Kroll) benutzte[n], um aus Unterstand hinaus zu klettern und fort ging [es] in größter Hast durch den Graben, über ein Getreidefeld vor Ginchy. Hier voll von Granatlöchern. Die Granaten flogen dicht über uns hinweg nach Ginchy. Ein Kurzschuß und wir wären getroffen. In Schweiß gebadet kam ich durch die engere Feuerzone. Erst ein wenig Rast, und dann weiter nach Morval, das ebenfalls beschossen wurde. Ein solcher Aufenthalt im Granat- und Schrappnellfeuer ist schrecklich[.] Die Kameraden stürzen mit angstvoll verzerrten Gesichtern und weitgeöffneten Augen herum.⁷³
Wohl unter dem Eindruck dieser extremen Erlebnisse des Artilleriekrieges, „des hilflosen Ausgeliefertseins an eine nicht beeinflussbare Gewalt“,⁷⁴ schickte Pieck am 17. Juli an Heinrich Schulz die Bitte, um Urlaub für ihn nachzusuchen.⁷⁵ Kurz zuvor war sein Regiment vom Frontdienst abgelöst worden, doch schien die Atempause nicht lange zu währen. „Wie es heißt“, schrieb er am 25. Juli an Korn, „soll es schon in einigen Tagen mit unserer Ruhe […] vorbei sein, indem es wieder in die vorherige Stellung nördlich der Somme gehen soll. Na, unsere Lücken sind ja wieder aufgefüllt mit neuem Kanonenfutter. Hoffentlich habe ich wieder Glück.“⁷⁶ Pieck sandte diese Zeilen auf der Rückseite einer Fotografie (Abb. 2), die er am Vorabend von sich hatte machen lassen.⁷⁷ Sie hielt mit seinem Antlitz auch eine Geste der Verweigerung fest: „Die etwas veränderte Visage ist gewissermaßen das Produkt der Verwilderung im Schützengraben, gleichzeitig aber auch ein stiller Protest gegen die Uniformierungssucht, die hier Kinn- und Backenbärte nicht leiden will.“⁷⁸
Vom Kinnbart zur Desertion: Steigerungsformen der Verweigerung Vom 19. bis 26. August 1916 wurde Pieck schließlich der gewünschte Urlaub gewährt. Gleich nach seiner Ankunft in Berlin nahm er Kontakt zu Mitgliedern der
Pieck, Kriegstagebuch, Bl. 25r. Siehe auch ebd., Bl. 24v. u. 26v. Ziemann, Gewalt im Ersten Weltkrieg, S. 30. Siehe in diesem Zusammenhang auch ebd., S. 14 u. 28 – 30; Reimann, Die heile Welt im Stahlgewitter, S. 133 sowie Leonhard, Die Büchse der Pandora, S. 328. Pieck, Kriegstagebuch, Bl. 27r. Am 28. Juli erhielt Pieck die Antwort, dass Schulz seiner Bitte nachgekommen sei. Siehe ebd., Bl. 29v. Wilhelm Pieck an Karl Korn, Le Catelet, 25. Juli 1916, SAPMO-BArch NY 4036/487, Bl. 81. Siehe auch Pieck, Kriegstagebuch, Bl. 27r. Pieck, Kriegstagebuch, Bl. 28v. Wilhelm Pieck an Karl Korn, Bl. 81. Siehe zu ähnlichen Formen der Selbstbehauptung und des Widerspruchs in seinem soldatischen Alltag auch Pieck, Kriegstagebuch, Bl. 12r. u. 16v.
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Abb. 2: Wilhelm Pieck als Soldat in Frankreich. Vorderseite einer Bildpostkarte an Karl Korn, Le Catelet, 25. Juli 1916, SAPMO-BArch NY 4036/487, Bl. 81.
Spartakusgruppe auf. Neben dem 70-jährigen „Schutzhäftling“ Franz Mehring, der trotz schlechter Gesundheit in Militärgewahrsam genommen worden war,⁷⁹
Siehe Pieck, Kriegstagebuch, Bl. 34v.–35r.; Winter, Erinnerungen, Bl. 93 sowie Luban, Ottokar:
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besuchte er Käte Duncker, die im Laufe des Krieges zu einem zentralen Anlaufpunkt für die Mitglieder der Gruppe wurde.⁸⁰ Über das Gespräch mit Pieck schrieb sie ihrem Mann: „Was der von dem Trommelfeuer an der Somme erzählt (er war 14 Tage lang dort ganz vorn, nachdem er am Toten Mann und anderwärts schon dabei war), das ist haarsträubend. Aber er erzählt es lächelnd und sieht, wenn auch mager und lederfarbig, doch frisch aus. Diese Proletarier bringen andere Nerven mit!“⁸¹ Der frische Eindruck, den Pieck auf Duncker machte, dürfte auch mit einem Entschluss zusammenhängen, den er in den Wochen zuvor gefasst haben muss. Denn als er am 27. Juli in Le Cateau auf den schlesischen Sozialdemokraten Karol Okonski (1880 – 1974) getroffen war, den er aus gemeinsamer Parteitätigkeit in Berlin kannte,⁸² hatte er neben Verpflegung auch einen Rat erbeten, wie er von der Front „wieder so rasch wie möglich verschwinden“ könne.⁸³ Okonski sollte den späteren SED-Vorsitzenden und Präsidenten der DDR in Briefen mehrmals daran erinnern, dass er ihm einst „den besten Weg nach Deutschland“ zeigte.⁸⁴ Dieser führte über das Reserve-Feldlazarett Nr. 31 in Saint André bei Lille, wo Pieck im September 1916 seine Krampfadern operieren ließ. „Damals“, so Okonski, „waren sie gluecklicherweise so schlimm, dass du ins Vaterland zurueck musstest“.⁸⁵
Spartakusgruppe, revolutionäre Obleute und die politischen Massenstreiks in Deutschland während des Ersten Weltkrieges. In: Ders., Rosa Luxemburgs Demokratiekonzept, S. 127– 171, hier S. 137. Sie erhielt unter anderem Besuche von Meyer und Eberlein, stand in Kontakt mit Piecks Frau und bekam auch diesen selbst während seiner Urlaube relativ häufig zu Gesicht. Siehe etwa Käte Duncker an Hermann Duncker, 7./8. Dezember 1915; Käte Duncker an Hermann Duncker, 30. Dezember 1915; Käte Duncker an Hermann Duncker, 13. Mai 1916 und Käte Duncker an Hermann Duncker, 30. November 1916. In: Deutschland (Hrsg.), Ich kann nicht durch Morden mein Leben erhalten, S. 37, 45, 71 und 104. Käte Duncker an Hermann Duncker, 20. August 1916. In: Deutschland (Hrsg.), Ich kann nicht durch Morden mein Leben erhalten, S. 85. Le mort homme ist eine Doppelanhöhe bei Malancourt und wurde in der Schlacht von Verdun heftig umkämpft. Siehe Deutschland (Hrsg.), Ich kann nicht durch Morden mein Leben erhalten, S. 85, Anm. 107. Pieck, Kriegstagebuch, Bl. 29v. Karol Okonski an Wilhelm Pieck, Ratiborhammer, 17. Mai 1932, SAPMO-BArch NY 4036/278, Bl. 1 f., hier Bl. 1. Siehe allgemein zu „Vermeidungsstrategien und Ausweichverhalten gegenüber den Zwängen des Grabenkrieges“ Offenstadt, Nicolas: Der erste Weltkrieg im Spiegel der Gegenwart. Fragestellungen, Debatten, Forschungsansätze. In: Bauerkämpfer, Arndt u. Julien, Elise (Hrsg.): Durchhalten! Krieg und Gesellschaft im Vergleich 1914– 1918. Göttingen 2010, S. 54– 77, hier S. 69. Karol Okonski an Wilhelm Pieck, Kuznia Raciborska, 10. Januar 1953, SAPMO-BArch NY 4036/ 278, Bl. 9. Karol Okonski an Wilhelm Pieck, Kuznia Raciborska, 15. August 1948, SAPMO-BArch NY 4036/ 278, Bl. 3.
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Als Pieck am 29. September nach Würzburg verlegt worden war, äußerte er sich „[f]roh in Deutschland zu sein, kein Geschützdonner u. fremdlautiges Sprechen der Bevölkerung“. Seine schnelle Heilung vermerkte er dagegen mit Bedauern.⁸⁶ Bevor er am 1. Dezember einem Ersatzbataillon zugeteilt werden konnte, notierte er im Tagebuch jedoch eine „unangenehme Entdeckung, krank, verflucht, sehr bedrückt wegen Ursache“.⁸⁷ Die Einspritzungen, schmerzhaften Massagen und Sitzbäder, denen er sich nach seiner Überweisung in das ReserveLazarett Alt Kogst im oberschlesischen Beuthen unterziehen musste, deuten auf eine Geschlechtskrankheit hin. Die Erkrankung, über die er „recht unglücklich“ war, führte dazu, dass er von einer baldigen Abkommandierung verschont blieb. Erst am 11. Juni 1917 wurde Pieck in Kattowitz kriegsverwendungsfähig geschrieben.⁸⁸ Als er erfuhr, dass er mit einem Transport an die Front kommen würde, sprach er gegenüber dem diensthabenden Feldwebel und dem ihm vorgesetzten Major jedoch seine Weigerung aus, wieder ins Feld zu gehen, da der Krieg ein Verbrechen sei.⁸⁹ Er wurde verhaftet und nach den Paragrafen 92 und 94 des Militärstrafgesetzbuches wegen Gehorsamsverweigerung angeklagt, die mit bis zu drei Jahren Gefängnis- oder Festungshaft bestraft werden konnte. Wegen bestehender Fluchtgefahr wurde er in Untersuchungshaft genommen.⁹⁰ Vor der Strafe fürchtete sich Pieck scheinbar nicht: „Lange genug“, heißt es in seinem Tagebuch, „habe ich mir die Sache überlegt.“⁹¹ Piecks Gehorsamsverweigerung bedeutete den vorläufigen Höhepunkt sich steigernder Formen der Verweigerung, die sich als Folge seines Überlebenswunsches, aber auch als allmähliche Antworten auf die Frage verstehen lassen, wie
Pieck, Kriegstagebuch, Bl. 45r. Pieck, Kriegstagebuch, Bl. 45v. Pieck, Kriegstagebuch, Bl. 46v. Um eine absichtliche Infizierung zur Herbeiführung der Dienstuntauglichkeit handelte es sich hier offenbar nicht. Siehe zu dieser Praxis der Verweigerung Jahr, Gewöhnliche Soldaten, S. 114 und Lipp, Anne: Meinungslenkung im Krieg. Kriegserfahrungen deutscher Soldaten und ihre Deutung 1914– 1918. Göttingen 2003, S. 143 sowie allgemein zu Sexualität und Geschlechtskrankheit im Krieg: Eckart, Wolfgang U.: Medizin, Krieg und Gesellschaft. Deutschland 1914– 1918. Paderborn 2007, S. 212– 244. Notizen zur Lebensgeschichte von W. Pieck. Betrifft: Episoden aus der Arrestzeit in Kattowitz und Verhandlung vor dem Kriegsgericht (1951 von Pieck diktiert), SAPMO-BArch NY 4036/13, Bl. 50 f. Siehe auch Pieck, Kriegstagebuch, Bl. 46r. f.; Pieck,Wilhelm: Militärgefängnis in Kattowitz (Tagebuchaufzeichnungen), SAPMO-BArch NY 4036/13, Bl. 1– 14, hier Bl. 1; Käte Duncker an Hermann Duncker, 17. Juli 1917. In: Deutschland (Hrsg.), Ich kann nicht durch Morden mein Leben erhalten, S. 143 f. sowie schon Pieck, Gefängnishaft in Moabit, Bl. 50 – 52. Siehe Pieck, Gefängnishaft in Moabit, Bl. 46r.; Pieck, Militärgefängnis in Kattowitz, Bl. 1r.–2r. sowie Notizen zur Lebensgeschichte von W. Pieck, Bl. 50 f. Pieck, Militärgefängnis in Kattowitz, Bl. 3r.
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sich ein Sozialist und Kriegsgegner an der Front zu verhalten habe.⁹² Nachdem am 3. August 1917 vor dem Militärgericht in Gleiwitz die Anklage verlesen wurde, nahm das Verfahren gegen ihn eine überraschende Wendung: Pieck bestritt den Vorwurf der Gehorsamsverweigerung, da ihm kein ausdrücklicher Befehl erteilt worden sei.⁹³ Nach einer ersten Verurteilung zu eineinhalb Jahren Haft wurde er in der Berufungsverhandlung in Breslau am 17. Oktober freigesprochen.⁹⁴ Zwei Tage später erhielt er den Befehl, „nachmittags 5.15 Uhr mit dem Transport ins Feld zu gehen“. Pieck folgte der Aufforderung, doch seine Absicht, nicht an die Front zurückzukehren, bestand fort.⁹⁵ Im mitteldeutschen Eilenburg, wo der Transport einen längeren Halt machte, desertierte er und fuhr unerkannt nach Berlin. Dort tauchte Pieck unter, um einer Verhaftung zu entgehen.⁹⁶ „Nur manchmal“, schreibt seine Tochter Elly, „kam er heimlich zu uns, um zu baden oder sich Bücher zu holen“, wobei er Haussuchungen nur knapp entkam.⁹⁷ Als Piecks Sohn Arthur, der gerade sein 18. Lebensjahr vollendet hatte, im Januar 1918 seinen Einberufungsbefehl erhielt, entschlossen sich Vater und Sohn in Absprache mit Mitgliedern des Spartakusbundes zur Flucht in die neutralen Niederlande, um „der Kriegsmaschine zu entgehen und fruchtbringendere Arbeit zu leisten“.⁹⁸ Am 1. Februar verließen sie Berlin. Am 19. Februar erreichten sie schließlich Amsterdam.⁹⁹
Siehe allgemein zur soldatischen Verweigerung im Ersten Weltkrieg Jahr, Gewöhnliche Soldaten und Ziemann, Gewalt im Ersten Weltkrieg. Pieck, Militärgefängnis in Kattowitz, Bl. 5. Pieck, Militärgefängnis in Kattowitz, Bl. 6v. u. 12r. Pieck, Militärgefängnis in Kattowitz, Bl. 13v. f. Siehe Pieck, Militärgefängnis in Kattowitz, Bl. 14v.; Notizen zur Lebensgeschichte von W. Pieck, Bl. 50 f.; Karl Fiedler an Wilhelm Pieck, Halle an der Saale, 22. November 1957 (Abschrift), SAPMO-BArch NY 4036/278, Bl. 285 f.; Barnack, Wilhelm: Genosse Wilhelm Pieck 1917 in der Redaktion des „Volksblattes“ in Halle, Typoskript, Januar 1956, SAPMO-BArch NY 4036/13, Bl. 57– 59 sowie zur Desertion als radikalster Form der Verweigerung und zur Rechtslage bei „Fahnenflucht“ Ziemann, Benjamin: Verweigerungsformen von Frontsoldaten in der deutschen Armee 1914– 1918. In: Gestrich, Andreas (Hrsg.): Gewalt im Krieg. Ausübung, Erfahrung und Verweigerung von Gewalt in Kriegen des 20. Jahrhunderts. Münster 1995, S. 99 – 122, hier S. 115 und Jahr, Gewöhnliche Soldaten, S. 31. Winter, Erinnerungen, Bl. 100. Siehe auch Franz, Rudolf: Erinnerungen an die gemeinsam mit Wilhelm Pieck verbrachten Zeiten, Typoskript, Dezember 1945, SAPMO-BArch NY 4020/4, Bl. 8 und Pannekoek, Anton: Herinneringen. Met bijdragen van B. A. Sijes en E. P. J. van den Heuvel. Amsterdam 1982, S. 185. Winter, Erinnerungen, Bl. 101. Siehe Chronik, Bl. 36 und Flucht nach Holland (1951 von W. Pieck diktiert), Typoskript, SAPMO-BArch NY 4036/14, Bl. 1 (dort eine Schilderung der abenteuerlichen Grenzüberquerung).
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„[A]uf dem Boden des schärfsten Klassenkampfes“: Pieck in der Emigration In der Stadt an der Amstel fand Wilhelm Pieck alsbald Arbeit als Tischler in einer Uhrenfabrik, Arthur als Schriftsetzer in der Druckerei der revolutionär-marxistischen Sociaal-Democratische Partij (SDP), wo das Presseorgan De Tribune gedruckt wurde.¹⁰⁰ Dort hatte der frühere sozialdemokratische Redakteur und Angehörige der Spartakusgruppe Carl Minster (1873 – 1942) im April 1917 mit Hilfe der SDP sowie finanzieller und logistischer Unterstützung des französischen Geheimdienstes begonnen, das „Revolutionär-sozialistische Wochenblatt“ Der Kampf herauszugeben. Es sollte einen „geistigen Mittelpunkt […] schaffen, um die in Holland weilenden deutschen Genossen für den zu erwartenden Kampf vorzubereiten“ und trug durch die Bildung von Gruppen der „Leser des Kampf[es]“ in Amsterdam, Den Haag und anderen Städten auch zu ihrer organisatorischen Verbindung bei.¹⁰¹ Überdies sollte das Blatt politische Aufklärungsarbeit unter den vielen Deserteuren und Flüchtlingen leisten, die in den neutralen Niederlanden Zuflucht gesucht hatten und den größten Anteil der von der Redaktion auf etwa 80.000 geschätzten dort lebenden Deutschen ausmachten. Es wurde aber auch über die Grenze geschmuggelt und im Rheinland sowie im Ruhrgebiet ver-
Siehe Chronik, Bl. 36; Lendle, Ottmar: Lebenslauf und politische Tätigkeit, Typoskript, 20. Oktober 1959, SAPMO-BArch SGY 30/395, Bl. 1– 41, hier Bl. 7 f.; Pieck, Arthur: Lebenslauf, 5. Dezember 1960 (Abschrift), SAPMO-BArch SGY 30/832, Bl. 17 und Winter, Erinnerungen, Bl. 101 f. Ein Jahr „Kampf“. In: Der Kampf Nr. 1 vom 4. Mai 1918 (Beilage). Siehe etwa Thimme, Hans: Weltkrieg ohne Waffen. Die Propaganda der Westmächte gegen Deutschland, ihre Wirkung und ihre Abwehr. Stuttgart/Berlin 1932, S. 107– 114; Bruntz, George G.: Allied Propaganda and the Collapse of the German Empire in 1918. Stanford 1938, S. 77– 80; Koszyk, Kurt: Das abenteuerliche Leben des sozialrevolutionären Agitators Carl Minster (1873 – 1942). In: Archiv für Sozialgeschichte 5 (1965), S. 193 – 225, hier S. 202– 207; Köhler, Henning: Beziehungen des französischen Geheimdienstes zu deutschen Linksradikalen 1917/18. In: Kurze, Dietrich (Hrsg.): Aus Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft. Festschrift für Hans Herzfeld zum 80. Geburtstag. Berlin/New York 1972, S. 189 – 208, hier S. 193 – 196; Montant, Jean-Claude: La propagande extérieure de la France pendant la Première Guerre Mondiale: l’exemple de quelques neutres Européens, Dissertation Paris-Panthéon-Sorbonne 1988, S. 1452– 1501; Ochel, „Was die nächste Zeit bringen wird, sind Kämpfe.“, S. 98 f. sowie zuletzt Luban, Ottokar: Gegen den Krieg! Frieden! Freiheit! Brot! Die Agitation für Frieden und Demokratie durch die im Ersten Weltkrieg nach Holland desertierten Linkssozialisten Carl Minster und Wilhelm Pieck und ihre Zusammenarbeit mit dem französischen Geheimdienst, 1917, 1918. In: Mitteilungen des Förderkreises Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung 57 (2020), S. 38 – 40.
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breitet.¹⁰² Die anfängliche Auflage von etwa 1.000 Exemplaren konnte im Laufe der Zeit um ein Vielfaches gesteigert werden, sodass die Redaktion im Juni 1918 vermeldete, dass Der Kampf an jedem Kiosk zu haben sei.¹⁰³ Da Minster im Oktober 1917 nach Deutschland verschleppt und inhaftiert worden war, trat Pieck bald nach seiner Ankunft in die geschwächte Redaktion ein. Dort arbeitete er mit Willi Schönbeck (1886 – 1957), Ewald Ochel (1875 – 1957) und Gustav Triebel (1889 – 1968) zusammen, allesamt desertierte Angehörige der Spartakusgruppe aus Berlin und dem Rheinland.¹⁰⁴ Ihre politische Haltung im letzten Kriegsjahr hat Schönbeck im Oktober 1918 auf den Punkt gebracht: „Im Gegensatz zu den Sozialpatrioten“, mit denen er die Vertreter der MSPD meinte, „die zu freiwilligen Knechten des Imperialismus geworden sind, und im Gegensatz zu den sogenannten Unabhängigen [gemeint ist die USPD, M. S.], die aus Angst vor den Entscheidungen zu unfreiwilligen werden, steht die Redaktion auf dem Boden des schärfsten Klassenkampfes, den zu propagieren und durchzuführen das Leitmotiv bei allen ihren Publikationen und Massnahmen“ sei. Dabei habe es sich die Redaktion besonders angelegen sein lassen, „die Genossen immer wieder auf die Bedeutung der russischen Revolution zu verweisen“, die sie „gegen alle unberechtigte und meist verleumderische Angriffe zu schützen“ versuche. „In der
Der Kampf Nr. 52 vom 20. April 1918. Siehe etwa Pieck, Wilhelm: Lebenslauf (Abschrift), 27. Oktober 1926, SAPMO-BArch NY 4007/19, Bl. 67 f., hier Bl. 67; Großmann: Lebenslauf Willi Schönbecks in Stichworten bis März 1919 (verfasst nach einem Besuch bei Willi Schönbeck), 12. November 1957, SAPMO-BArch SGY 30/567, Bl. 5 – 8, hier Bl, 6; Ochel, „Was die nächste Zeit bringen wird, sind Kämpfe.“, S. 97 sowie Köhler, Beziehungen des französischen Geheimdienstes, S. 193 und Montant, La propagande extérieure de la France, S. 1468. Über die Zahl der deutschen Deserteure variieren die Angaben in der Literatur zwischen 10.000 und 90.000. Siehe Timme, Weltkrieg ohne Waffen, S. 103 f.; Bruntz, Allied Propaganda, S. 79, Anm. 39 und Abbenhuis, Maartje M.: The Art of Staying Neutral. The Netherlands in the First World War, 1914– 1918. Amsterdam 2010, S. 111 u. 309, Anm. 165 sowie allgemein zu den deutschen Deserteuren in den Niederlanden während des Ersten Weltkrieges: Roodt, Evelyn de: Oorlogsgasten.Vluchtelingen en krijgsgevangenen in Nederland tijdens de Eerste Wereldoorlog. Zaltbommel 2000, S. 211– 243. Der Kampf Nr. 5 vom 1. Juni 1918 (Beilage). Siehe Willi Schönbeck an Rudolf Lindau, Berlin, 31. Januar 1956, SAPMO-BArch SGY 30/567, Bl. 15. Ob zuletzt etwa 20.000 Exemplare gedruckt wurden, wie in Großmann, Lebenslauf Willi Schönbecks, Bl. 6 zu lesen ist, oder die Angabe von Montant, La propagande extérieure de la France, S. 1469 zutrifft, dass seit Oktober 1918 jeden Monat bis zu 39.000 Exemplare allein nach Deutschland gelangten, lässt sich kaum feststellen. Siehe zu Auflage und Format auch Der Kampf Nr. 12 vom 20. Juli 1918; Die Landeskonferenz der deutschen „Kampf“-Gruppen in Holland. In: Der Kampf Nr. 25 vom 19. Oktober 1918 (Beilage) sowie Thimme, Weltkrieg ohne Waffen, S. 116. Siehe etwa Lendle, Lebenslauf und politische Tätigkeit, Bl. 9 f.; Koszyk, Das abenteuerliche Leben, S. 207 und Schreiber, Otto: Über Wilhelm Piecks journalistische Tätigkeit 1918 in Holland. In: Neue Deutsche Presse 13 (1959), H. 1, S. 3 – 6, hier S. 3.
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Erkenntnis, dass das deutsche Proletariat nur zu seiner Befreiung kommen kann, wenn es den Weg unserer russischen Brüder konsequent und zu Allem entschlossen betritt“, brandmarke die Redaktion „alle Volksverräter“ und sporne das Proletariat immer von Neuem zur revolutionären Erhebung an.¹⁰⁵ In diesem Credo der Redaktion spiegeln sich zwei Entwicklungen wieder, die die Spartakusgruppe über die Grenze hinweg prägten. Dazu zählt erstens ein zunehmend kompromissloses Auftreten, das sich nach der Spaltung der Sozialdemokratie nicht nur gegen die Fortsetzung der Burgfriedenspolitik durch die MSPD, sondern auch gegen die oppositionelle USPD richtete. Diese Haltung fußte auf der allmählich gewonnenen Überzeugung, dass die „Kompromisspolitik“ der Vorkriegssozialdemokratie zur „August-Katastrophe“ geführt habe. In den letzten großen Fragen habe der Partei die „Einmütigkeit über Ziel und Mittel der Aktion“ gefehlt, die Voraussetzung aller Aktionsfähigkeit und politischen Macht sei. Stattdessen habe eine „unter der Flagge der ,Einigkeit‘ betriebene Vertuschungspolitik“ „die prinzipielle und taktische Durchbildung des Proletariats, seine ernsthafte Vorbereitung zu schlagfertiger Aktion im entscheidenden Augenblick“ verhindert. „Nicht ,Einheit‘, sondern Klarheit über alles“ sollte daher die Maxime lauten.¹⁰⁶ Zwar schloss sich der Spartakusbund der im April 1917 gegründeten USPD an, um unter einer legalen Dachorganisation Schutz zu finden, die Partei vorwärtszutreiben und ihre Mitgliedschaft für seine Grundsätze und Ziele zu gewinnen. Doch die Gruppe behielt sich „ihre völlige Handlungsfreiheit und ihre gesonderte organisatorische Existenz vor“. Wie zuvor in der SPD wollte sie nur solange in der USPD verbleiben, „als diese ihre selbständige politische Aktion nicht hemmt“,¹⁰⁷ und ihre Entwicklung durch eine „unerbittliche Aufdeckung und Austragung der Differenzen“ begleiten.¹⁰⁸
Die Landeskonferenz der deutschen „Kampf“-Gruppen in Holland. Die Hervorhebungen entsprechen dem Original. Siehe zur politischen Linie des „Kampfes“ auch Thimme, Weltkrieg ohne Waffen, S. 113 f. und Köhler, Beziehungen des französischen Geheimdienstes, S. 194. Nr. 14 vom 3. Februar 1916. In: Spartakusbriefe, S. 111. Siehe auch Rosa Luxemburg an Franz Mehring, [Berlin,] 31. August 1915. In: Luxemburg, Gesammelte Briefe, S. 71; Rosa Luxemburg an Leo Jogiches, [Berlin, vor dem 8. Dezember 1915]. In: ebd., S. 92 f.; Nr. 12 vom 27. Januar 1916: Politische Briefe. In: Spartakusbriefe, S. 87; Spartacus Nr. 2 vom 5. November 1916. In: ebd., S. 246; Spartacus Nr. 6 vom August 1917. In: ebd., S. 356 sowie Trotnow, Karl Liebknecht, S. 243 und Rojahn, Um die Erneuerung der Internationale, S. 65. Spartakus im Kriege, S. 14. Siehe auch Protokoll der Reichskonferenz der Sozialdemokratie Deutschlands vom 21., 22. und 23. September 1916. Berlin o. J., S. 628; Meyer, Ernst: Zur Geschichte der KPD. (Zum Jahrestag der Gründung der KPD am 30. Dezember 1918). In: Die Kommunistische Internationale 7 (1926), H. 15, S. 674– 680, hier S. 678 sowie Ritter, Gerhard A.: Die sozialistischen Parteien in Deutschland zwischen Kaiserreich und Republik. In: Ders. (Hrsg.): Arbeiter, Arbei-
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Kaum weniger prägend für den Spartakusbund war zweitens die Rezeption der russischen Februar- und Oktoberrevolution 1917, die „das russische Proletariat“ zu einem Vorbild und Hoffnungszeichen für den revolutionären Klassenkampf gegen die Bourgeoisie werden ließ.¹⁰⁹ Während der Spartakusbund mal empört und mal verzweifelt auf die revolutionäre Apathie der deutschen Arbeiter sah, blickte er fasziniert nach Osten, wo mit den Bolschewiki „zum ersten Male in der Geschichte“ „eine revolutionäre Arbeiterpartei […] die Macht über ein gewaltiges Reich“ eroberte.¹¹⁰ Die Bolschewiki hätten nicht nur getan, wozu sich eigentlich – wie Pieck im Kampf hervorhob – die gesamte internationale Sozialdemokratie 1907 in Stuttgart verpflichtet hatte: Im Falle eines Krieges alles zu versuchen, um die durch ihn „herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen“. Von den Sowjets seien außerdem „die ersten wirklichen revolutionären Massnahmen unternommen“ und den Bauern der Boden gegeben, die Anleihen annulliert, Kirche und Staat getrennt und Fabriken zu Staats- oder Gemeineigentum erklärt worden.¹¹¹ Zeitschriften wie Der Kampf öffneten ihre Spalten nun vermehrt für Nachrichten und Revolutionäre aus Russland und erklärten die russische Revolution zur „Lehrterbewegung und soziale Ideen in Deutschland. Beiträge zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. München 1996, S. 253 – 291, hier S. 277. Nr. 14 vom 3. Februar 1916. In: Spartakusbriefe, S. 112. Siehe etwa Spartacus Nr. 11 vom September 1918. In: ebd., S. 452. Siehe etwa Rosa Luxemburg an Marta Rosenbaum, Wronke, [29. April 1917]. In: Luxemburg: Gesammelte Briefe, S. 226; Spartacus Nr. 4 vom April 1917. In: Spartakusbriefe, S. 304; Spartacus Nr. 6 vom August 1917. In: ebd., S. 352 u. 372; Der erste Mai. In: Der Kampf Nr. 53 vom 27. April 1918; Kämpfen und nicht verzweifeln. In: Der Kampf Nr. 10 vom 6. Juli 1918 und Spartacus Nr. 11 vom September 1918. In: Spartakusbriefe, S. 450 – 452. Mehring, Franz: Der tote Punkt [5. Januar 1918]. In: Schütrumpf, Jörn (Hrsg.): Diktatur statt Sozialismus. Die russische Revolution und die deutsche Linke 1917/18. Berlin 2017, S. 149 – 151, hier S. 149. Siehe auch Crisipien, Arthur: Russischer Anschauungsunterricht [24. November 1917]. In: Schütrumpf (Hrsg.), Diktatur statt Sozialismus, S. 107– 109, hier S. 107 f. und Hoernle, Edwin: Kritischer Dünkel [24. August 1918]. In: Schütrumpf (Hrsg.), Diktatur statt Sozialismus, S. 347– 350, hier S. 347; Spartacus Nr. 3 vom Dezember 1916. In: Spartakusbriefe, S. 280; Nr. 4 vom April 1917. In: ebd., S. 296 f; Nr. 6 vom August 1917. In: ebd., S. 355; Nr. 8 vom Januar 1918. In: ebd., S. 409; Nr. 9 vom Juni 1918. In: ebd., S. 425; Spartacus Nr. 10 vom August 1918. In: ebd., S. 440; [Pieck, Wilhelm]: Reaktion und Revolution. In: Der Kampf Nr. 11 vom 13. Juli 1918 sowie Zarusky, Jürgen: Die deutschen Sozialdemokraten und das sowjetische Modell. Ideologische Auseinandersetzung und außenpolitische Konzeptionen 1917– 1933. München 1992, S. 50. Internationaler Sozialisten-Kongress zu Stuttgart. 18. bis 24. August 1907. Berlin 1907, S. 66 und Pieck, Wilhelm: Friedensbringer – trotz alledem!. In: Der Kampf Nr. 46 vom 9. März 1918. Siehe auch Spartacus Nr. 1 vom 20. September 1916. In: Spartakusbriefe, S. 223 und Spartacus Nr. 6 vom August 1917. In: ebd., S. 352.
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meisterin des internationalen Proletariats“. Sie zeige die Arbeiterklasse aller Länder, „wie und mit welchen Mitteln sie ihren Befreiungskampf bis zum siegreichen Ende, bis zur Errichtung der Kommunistischen Gesellschaft durchführen muss“.¹¹² Im russischen Beispiel erblickte die Spartakusgruppe allerdings weniger einen neuen Weg, als die Bestätigung ihres eigenen Handelns. Schliesslich sei sie, wie Mehring in seinem offenen Brief an die Bolschewiki formulierte, diejenige „sozialdemokratische[] Richtung in Deutschland, die seit vier Jahren unter den schwierigsten Umständen, auf demselben Boden, mit derselben Taktik kämpft, wie sie von Euch angewandt worden, ehe die glorreiche Revolution Eure Anstrengungen mit dem Siege gekrönt hat“.¹¹³ Dieser Sieg aber, darin waren sich die Revolutionäre in Russland und Deutschland einig, könne „lediglich als Prolog der europäischen Revolution des Proletariats“ von Dauer sein. Würden „hingegen die europäischen, die deutschen Arbeiter dem spannenden Schauspiel weiter wohlwollend zuschauen und nur Zaungäste spielen“, dann dürfte „die russische Sowjetherrschaft nichts anderes gewärtigen als das Geschick der Pariser Kommune“.¹¹⁴ Wie die Spartakusbriefe riefen daher auch die Nummern des Kampf es immer wieder zur Hilfe für die „russischen Brüder“ durch den „Massenaufstand des deutschen Proletariats“ auf.¹¹⁵
Die Gewalt des Krieges und die „gewaltsame Revolution“ Wie Pieck sich die Revolution vorstellte, hat er im Juli 1918 in einem zweiteiligen Artikel zur Volksbewaffnung zum Ausdruck gebracht. Um „die Macht der Herr Die neue Ordnung. In: Der Kampf Nr. 22 vom 28. September 1918 sowie Montant, La propagande extérieure de la France, S. 1470. Siehe zu den ungezeichneten Artikeln aus der Feder Piecks Chronik, Bl. 36 f. und Pieck, Wilhelm: Gesammelte Reden und Schriften, Band 1: August 1904 bis Januar 1919, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, mit einem Vorwort von Walter Ulbricht. Berlin 1959. Ein offenes Schreiben des Gen. Franz Mehring an die Bolschewiki. In: Der Kampf Nr. 12 vom 20. Juli 1918. Spartacus Nr. 8 vom Januar 1918. In: Spartakusbriefe, S. 415. Die Hervorhebung entspricht dem Original. Siehe etwa [Pieck, Wilhelm]: Die Lösung. In: Der Kampf Nr. 6 vom 8. Juni 1918; Spartacus Nr. 5 vom Mai 1917. In: Spartakusbriefe, S. 328 und Lösche, Peter: Der Bolschewismus im Urteil der deutschen Sozialdemokratie 1903 – 1920. Berlin 1967, S. 107 f. u. 128 f. Spartacus Nr. 11 vom September 1918. In: Spartakusbriefe, S. 453, Anm. 1. Siehe auch Spartacus Nr. 5 vom Mai 1917. In: ebd., S. 328; [Pieck]: Die Lösung; [Pieck]: Reaktion und Revolution. Spartacus Nr. 8 vom Januar 1918. In: Spartakusbriefe, S. 413 und Spartacus Nr. 11 vom September 1918. In: ebd., S. 452 u. 460.
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schenden zu brechen“, schreibt er darin, würde der Massenstreik allein, der seit der russischen Revolution von 1905 die Diskussion über die „revolutionären Kampfmittel“ in der Sozialdemokratie bestimmte, nicht ausreichen. Gegenüber einer bewaffneten Macht, die „vor keinem Mittel zurückschrecken“ werde, „um das Proletariat zu knebeln“, genüge er als ein „im Wesen passiver Widerstand“ nicht mehr. Hinzukommen müsse „der aktive, ebenfalls von den Waffen unterstützte offene Kampf“. Ja, wolle das Proletariat nicht elend zugrunde gehen, müsse es erkennen, „dass Gewalt, mit Aussicht auf Erfolg, nur mit Gewalt zu begegnen“ sei und dass es für seine Existenz „mit den Waffen in der Hand“ denen gegenüber treten müsse, „die es bisher dahingeschlachtet haben“. Die Gewalt des Krieges bildet hier also den Rechtfertigungsgrund für die „gewaltsame Revolution“.¹¹⁶ Damit liest sich Piecks Artikel auf den ersten Blick wie ein biografischer Beleg der These von der Brutalisierung der Politik der radikalen Linken infolge des Weltkrieges. Danach formierte sich, wie Andreas Wirsching formuliert, am Kriegsende „die extreme Linke in dem Bewußtsein, angesichts einer – im Weltkrieg erfahrenen – mörderischen Bedrohung durch ,Kapitalismus‘ und ,Imperialismus‘ zur Notwehr berechtigt zu sein“, und übertrug dabei „die Selbstperzeption und -legitimation der Bolschewiki während des russischen Bürgerkrieges auf ihre eigene Politik“.¹¹⁷ Lässt man den forschenden Blick bis in die Vorkriegsjahre schweifen, ergibt sich allerdings ein anderes Bild. Wie viele Befürworter des Massenstreiks zeigte sich Pieck schon 1905 in der Parteidiskussion über die geeigneten „Kampfmittel der Sozialdemokratie“ sicher, dass die herrschenden Klassen ihre Macht nicht freiwillig aufgeben würden. Dabei gehörte er zu jenen, die im Massenstreik keineswegs nur ein Mittel des passiven Widerstands gesehen, sondern von einem „Angriffsstreik“ gesprochen haben, „durch den wir die Regierungsgewalt an uns reißen wollen“.¹¹⁸ Vertrat er mit dieser Position auch eine Minderheit, so galt es doch von Eduard Bernstein (1850 – 1932) bis Rosa Luxemburg als fraglos, „daß die Verblendung der herrschenden Gewalten in Deutschland es u.U. für die ,arbeitenden Klassen‘ ,notwendig‘ machen könnte, ,im Kampfe für ihr Recht zu den äußersten Mitteln zu greifen‘“.¹¹⁹ Die Möglichkeit eines gewaltsamen Handelns aus Notwehr lag also
[Pieck, Wilhelm]: Volksbewaffnung. In: Der Kampf Nr. 12 vom 20. Juli 1918. Die Hervorhebungen entsprechen dem Original. Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg?, S. 32. Bremer Bürger-Zeitung Nr. 189 vom 13. August 1905. Siehe zur Massenstreikdebatte etwa Grunenberg, Antonia (Hrsg.): Die Massenstreikdebatte. Beiträge von Parvus, Rosa Luxemburg, Karl Kautsky und Anton Pannekoek. Frankfurt a. M. 1970. Grebing, Helga: Arbeiterbewegung und Gewalt. In: Gewerkschaftliche Monatshefte 29 (1978), H. 2, S. 65 – 77, hier S. 71 (Zitat aus Bernstein, Eduard: Zur Geschichte und Theorie des Sozialismus.
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bereits innerhalb des Erwartungshorizontes führender Vertreter der Vorkriegssozialdemokratie. Für Pieck war der Gedanke an Gewalt als Mittel der Politik allerdings mehr als eine vage Zukunftsvorstellung. Er erklärte ihn bereits im März 1914 zur einzig verbliebenen Handlungsoption. In seinem Vortragstext über Die heutige politische Situation in Deutschland und die Stellung der Sozialdemokratie ist zu lesen, „dass die heutige Gesellschaft die reine Gewalt zur Grundlage“¹²⁰ habe, „der man nur mit Gewalt begegnen“ könne.¹²¹ Auf parlamentarischem und gesetzlichem Wege sei für die Partei kaum noch etwas zu erreichen.¹²² Ihre ganze Taktik müsse deshalb „von den beiden Gesichtspunkten ausgehen, dass eine Umwandlung der heutigen Gesellschaft und eine Niederwerfung der Reaktion nur auf gewaltsamem Wege vor sich gehen kann und dass wir in allernächster Zeit grossen Entscheidungskämpfen gegenüberstehen, die uns von den Herrschenden aufgezwungen werden“.¹²³ Dieser kurze Rückblick über die Epochenschwelle des Ersten Weltkrieges hinweg zeigt, dass Piecks Argumentationsmuster, die gewaltsame Revolution durch die Gewalt der Herrschenden zu rechtfertigen, weder aus der mörderischen Bedrohung des Weltkrieges noch aus der Rezeption der Russischen Revolution resultierte, sondern bereits innerhalb des radikalen linken Flügels der Vorkriegssozialdemokratie geprägt worden war. Von einer Radikalisierung seiner Vorstellungen infolge des Krieges kann daher nicht die Rede sein. Die Erfahrungen und Umwälzungen des Krieges bestätigen diese vielmehr und sie bereiteten den Boden dafür, dass aus dem Gedanken, bald zu den äußersten Mitteln greifen zu müssen, nunmehr Taten wurden.
Berlin 1901, S. 245). Siehe am Beispiel Rosa Luxemburgs auch Luban, Ottokar: Rosa Luxemburgs Demokratiekonzept. In: Ders.: Rosa Luxemburgs Demokratiekonzept, S. 11– 25, hier S. 19. Pieck selbst zeigte sich in seinem Vortrag „Krisentheoretisches“ (in: Bremer Bürger-Zeitung Nr. 120 vom 23. Mai 1908) sicher, dass sich die sozialistische Umwälzung „nicht in ruhiger Entwicklung […], sondern unter gewaltsamen, revolutionären Kämpfen“ vollziehen werde. Pieck, Wilhelm: Die heutige politische Situation in Deutschland und die Stellung der Sozialdemokratie (Referat), Typoskript, 8. März 1914, SAPMO-BArch NY 4036/487, Bl. 1– 17, hier Bl. 4. Pieck, Die heutige politische Situation in Deutschland, Bl. 8. Pieck, Die heutige politische Situation in Deutschland, Bl. 8 u. 10. Pieck, Die heutige politische Situation in Deutschland, Bl. 15.
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Waffen für die Revolution: Pieck, die Revolutionären Obleute und der französische Geheimdienst Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass Pieck die Waffengewalt gegen den Krieg und für die Revolution gerade in der zweiten Julihälfte 1918 auf die Tagesordnung setzte. Kurz zuvor war er illegal nach Deutschland gefahren und hatte neben Mitgliedern des Spartakusbundes wie Eduard Fuchs (1870 – 1940) offenbar auch Revolutionäre Obleute in Düsseldorf und Berlin getroffen.¹²⁴ Der Kreis der Revolutionären Obleute hatte sich seit dem ersten Kriegsjahr aus Funktionären des Berliner Metallarbeiterverbandes gebildet, die in Opposition zur Burgfriedenspolitik der Gewerkschaftsführung standen. Ihr Netz breitete sich vor allem in der Rüstungsindustrie über die Großbetriebe der Hauptstadt aus, spannte seine Fäden aber auch in andere Industrieregionen des Reiches.¹²⁵ Seit dem Frühjahr 1918 arbeiteten Spartakusbund und Obleute zeitweilig „in engster Verbindung“ daran, die „Bewaffnung von proletarischen Stoßtrupps zur Vorbereitung des bewaffneten Umsturzes“ voranzutreiben, wie Ernst Meyer rückblickend schreibt.¹²⁶ Dabei spielte der Emigrant Pieck eine wichtige Rolle. Nach Schönbecks späterer Auskunft kamen bald nach Piecks Rückkehr aus Deutschland Vertreter der Obleute aus Berlin und Rheinland-Westfalen nach Amsterdam, von denen er namentlich Paul Wegmann (1889 – 1945), Wilhelm Brauser und Hilde Steinbring nennt. Mit ihnen sei darüber gesprochen worden, welche Aktionen zur Beendigung des Krieges einzuleiten seien und wie dafür Geld
Siehe Großmann, Lebenslauf Willi Schönbecks, Bl. 6 und Einige Daten zur Biographie von Wilhelm Pieck in Verbindung mit Daten über die Geschichte des Spartakusbundes und der Kommunistischen Partei Deutschlands, Typoskript, o. D., Rossijskij gosudarstvennyj archiv socialno-političeskoj istorii (RGASPI) f. 495, op. 292, d. 61, l. 194– 198, hier l. 195. Der genaue Zeitraum der Reise ist unbekannt. In der erstgenannten Quelle ist von Juli die Rede, in letzterer vom Sommer. Siehe auch Köhler, Beziehungen des französischen Geheimdienstes, S. 201. Siehe Opel, Fritz: Der deutsche Metallarbeiterverband während des Ersten Weltkrieges und der Revolution. Hannover/Frankfurt a. M. 1957, S. 54 f.; Schneider, Dieter u. Kuda, Rudolf: Arbeiterräte in der Novemberrevolution. Ideen, Wirkungen, Dokumente. Frankfurt a. M. 1968, S. 17– 21; Oertzen, Peter von: Betriebsräte in der Novemberrevolution. Eine politikwissenschaftliche Untersuchung über Ideengehalt und Struktur der betrieblichen und wirtschaftlichen Arbeiterräte in der deutschen Revolution 1918/19, 2., erw. Auflage. Berlin [u. a.] 1976, S. 72– 76 sowie Hoffrogge, Ralf: Working-Class Politics in the German Revolution. Richard Müller, the Revolutionary Shop Stewards and the Origins of the Council Movement. Leiden 2015, S. 61. Spartakus im Kriege, S. 19. Siehe auch [Pieck],Volksbewaffnung sowie Meyer, Zur Geschichte der KPD, S. 679.
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und Waffen beschafft werden könnten.¹²⁷ Was Schönbeck nicht erwähnt, ist, dass sie das Geld für die Waffen von Frankreich zu erhalten hofften. Wie die Historiker Henning Köhler und Jean-Claude Montant herausgearbeitet haben, nahmen Brauser und Steinbring in Amsterdam Kontakt mit André Jung auf, einem Agenten des französischen Militärattachés in Den Haag, General Paul Boucabeille (1872– 1945). Der teilte dem französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau (1841– 1929) am 3. Juli 1918 per Telegramm mit, dass er mit einem Vertreter linker Gruppen aus Berlin in Verbindung stehe, die um direkte Hilfe der Franzosen bei der Vorbereitung einer revolutionären Bewegung nachsuchten.¹²⁸ Brauser und Steinbring seien gekommen, um die von „l’agent K“, einem Mann der KampfGruppe, während seines Aufenthalts in Berlin verlangten Angaben zu machen. In Anbetracht der Auskunft Schönbecks liegt die Vermutung nahe, dass es sich dabei um Pieck handelte.¹²⁹ In einem schriftlichen Bericht, den Brauser auf Veranlassung Jungs am 4. Juli verfasste, gab er Auskunft über den Auf- und Ausbau des Netzwerkes der Revolutionären Obleute und ihr Vorhaben, den bewaffneten Kampf gegen die Regierung zu organisieren. Allein für Berlin veranschlagte Brauser 5 Millionen Mark für 20.000 Revolver, Handgranaten und die Bestechung von Waffenlieferanten. Für ganz Deutschland seien etwa 60 Millionen Mark erforderlich. Die Vorbereitung des Aufstandes würde etwa fünf Monate in Anspruch nehmen und eine der ersten Aktionen der siegreichen Revolutionäre würde in der Beendigung der kriegerischen Feindseligkeiten und einem Waffenstillstandsangebot an alle Regierungen bestehen.¹³⁰ Aus Paris, wo Boucabeille mit Clemenceau, dem französischen Staatspräsidenten Raymond Poincaré (1860 – 1934) und dem Generalstabschef Edmond Buat (1868 – 1923) über die Angelegenheit sprach, ließ er Steinbring am 26. August im Beisein Piecks und Schönebecks mitteilen, dass die französische Regierung entschlossen sei, die geplante Aktion zu unterstützen und dafür
Siehe Desgranges, Pierre [d. i. Joseph Crozier]: In geheimer Mission beim Feinde 1915 – 1918. Leipzig/Zürich 1930, S. 276; Flucht nach Holland, Bl. 1; Notizen vom Besuch bei Paul Eckert, Blankenburg, Typoskript, 27. Februar 1951, SAPMO-BArch SGY 30/151, Bl. 10 – 13, hier Bl. 10; Großmann, Lebenslauf Willi Schönbecks, Bl. 6 (dort allerdings „Brause“); Köhler, Henning: Ein französischer Agentenbericht aus dem revolutionären Berlin vom Dezember 1918. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 16 (1972), S. 49 – 55, hier S. 53. Siehe Köhler, Beziehungen des französischen Geheimdienstes, S. 198 und Montant, La propagande extérieure de la France, S. 1479 u. 1483. Später hat Luban, Spartakusgruppe, S. 158 diese Episode wieder in das Blickfeld der Forschung gerückt. Montant, La propagande extérieure de la France, S. 1479. Montant sieht hinter „agent K“ Pieck und Schönbeck (ebd., S. 1480). Montant, La propagande extérieure de la France, S. 1480 f.
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40 Millionen Mark zur Verfügung zu stellen.¹³¹ Am 29. August reisten Pieck, Schönbeck und Brauser mit etwas Geld von der Dienststelle des Militärattachés und Exemplaren des Kampfes nach Deutschland, um weitere Informationen über den Stand der Bewegung einzuholen.¹³² Während Brauser dabei verhaftet wurde, fuhr Pieck am 12. September „mit Instruktionen und Material“ nach Amsterdam zurück.¹³³ Drei Tage später berichtete er Boucabeille, dass die Organisation in Berlin einsatzbereit, im Reich jedoch noch kaum ausgebaut und die Beschaffung von Waffen schwierig sei. Daher habe man den Aufstand auf Januar verschoben. Allerdings erklärte sich Pieck zuversichtlich, dass die zunehmende Entschlossenheit der deutschen Bevölkerung, den Krieg zu beenden, zu einer spontanen und breiten Unterstützung der revolutionären Bewegung führen werde. Deshalb würden etwa zehn Millionen Mark zur Vorbereitung genügen.¹³⁴ Als der Arbeiterrat, ein Gremium der Revolutionären Obleute, in der ersten Oktoberwoche um sofortige Zustellung von einer Million Mark sowie einer weiteren Million in zwei Wochen bat, blockierte die französische Regierung jedoch die Auszahlung des Geldes.¹³⁵ Zwar drängte Boucabeille auf die Einhaltung der gemachten Zusagen. Aber je näher die deutsche Niederlage rückte, desto weniger scheinen seine Vorgesetzten geneigt gewesen zu sein, sozialistische Umsturzpläne zu unterstützen – zumal die Sorge vor einem Überschwappen der revolutionären Bewegung nach Frankreich wuchs.¹³⁶ Am 25. Oktober meldete Boucabeille nach Paris, dass die Beziehungen zum Arbeiterrat abgebrochen und die beiden Verbindungsleute, die er bis zum Vortag habe zurückhalten können, nach Deutschland aufgebrochen seien, um sich aktiv an der revolutionären Bewegung zu beteiligen. Es waren Pieck und Gustav Triebel, die nicht länger warten und nach Deutschland zurückkehren wollten.¹³⁷ Ihr Entschluss wurde offenbar da-
Siehe Montant, La propagande extérieure de la France, S. 1484 sowie auch S. 1478 u. 1482 f. Siehe Montant, La propagande extérieure de la France, S. 1485 f. und Chronik, Bl. 37 f. Dort ist vom 28. August die Rede. Chronik, Bl. 37 f. und Flucht nach Holland, Bl. 1. Montant, La propagande extérieure de la France, S. 1490 f. Siehe Köhler, Henning: Novemberrevolution und Frankreich. Die französische Deutschlandpolitik 1918 – 1919. Düsseldorf 1980, S. 67 f.; ders.: Beziehungen des französischen Geheimdienstes, S. 198 f. sowie auch Desgranges, In geheimer Mission beim Feinde 1915 – 1918, S. 280 – 285. Siehe Köhler, Beziehungen des französischen Geheimdienstes, S. 198 – 200 u. 206; ders.: Novemberrevolution und Frankreich, S. 67 f. und Montant, La propagande extérieure de la France, S. 1492 u. 1494 f. Montant, La propagande extérieure de la France, S. 1493; Köhler, Beziehungen des französischen Geheimdienstes, S. 200 f. und Ochel, „Was die nächste Zeit bringen wird, sind Kämpfe.“, S. 123.
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durch erleichtert, dass die Revolutionären Obleute inzwischen Geld von den russischen Bolschewiki erhalten hatten, wie Boucabeille in einer letzten Unterhaltung erfuhr.¹³⁸ Am 26. Oktober traf Pieck in Berlin ein, wo er noch am selben Abend mit den Obleuten zusammenkam. Sein Sohn Arthur folgte zwölf Tage später. Der Kampf stellte sein Erscheinen mit der Ausgabe vom 13. November 1918 ein, nachdem er das Ende der Hohenzollernmonarchie und die Revolution in Deutschland hatte vermelden können.¹³⁹
Die Weltkriegszeit als prägende Erfahrung und symbolisches Kapital Die Erfahrungen der Haft, des unfreiwilligen Kriegseinsatzes und der politischen Zusammenarbeit in der Illegalität, die Pieck bei seiner Rückkehr aus den Niederlanden mit nach Berlin nahm, teilte er mit vielen anderen führenden Mitgliedern des Spartakusbundes. Sie schufen gemeinsame Bewusstseinslagen und schlossen die Gruppe als Schicksals- und Solidargemeinschaft eng zusammen. So erklärt es sich, dass Mathilde Jacob (1873 – 1943) von der Spartakusführung als einer „Familie“ schrieb und Hermann Duncker die „Zusammenarbeit mit den Freunden vom Spartakusbund […] zu den schönsten und wertvollsten Erinnerungen seines Lebens“ rechnete, obgleich der Weltkrieg für sie mit großen persönlichen Belastungen und Veränderungen einherging.¹⁴⁰ Die geteilten Erfahrungen der Gruppe verdichteten sich noch während des Krieges zu dem Selbstbild der wenigen Aufrechten, das seine Konturen vor dem Wahrnehmungshintergrund des „Verrats“ der sozialdemokratischen Mehrheit erhielt und bald in die Grün Siehe Franz, Erinnerungen an die gemeinsam mit Wilhelm Pieck verbrachten Zeiten, Bl. 8; Montant, La propagande extérieure de la France, S. 1493 und Köhler, Beziehungen des französischen Geheimdienstes, S. 200 f. u. 204. Siehe Notizen vom Besuch des Genossen Paul Neuendorf im M[arx]-E[ngels]-L[enin]-Institut am 5. Oktober 1951, Typoskript, SAPMO-BArch SGY 30/466, Bl. 1– 4, hier Bl. 4; Winter, Erinnerungen, Bl. 105; Pieck, Arthur, Lebenslauf, Bl. 17 sowie Köhler, Beziehungen des französischen Geheimdienstes, S. 202. Laut Chronik, Bl. 38 reiste Pieck bereits am 23. Oktober von Amsterdam ab. Von einer Rückkehr am 27. Oktober ist die Rede in Pieck, Wilhelm: Die Gründung der KPD. Erinnerungen an die November-Revolution. Berlin 1928, S. 3. Duncker, Hermann: Lebenslauf, Maschinenabschrift aus den Überprüfungsunterlagen von 1951, SAPMO-BArch SGY 30/142, Bl. 2 f. und Luban, Ottokar: Die „innere Notwendigkeit, mithelfen zu dürfen“. Zur Rolle Mathilde Jacobs als Assistentin der Spartakusführung bzw. der KPD-Zentrale. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 29 (1993), S. 421– 470, hier S. 442. Von einer „relativ starke[n] Gruppenbindung“ schreibt auch Boll, Frieden ohne Revolution?, S. 141.
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dungserzählung der KPD einging. Danach „war der 4. August 1914“, wie Hugo Eberlein beispielhaft formulierte, „nicht nur der Tag des schmählichen Verrats der sozialdemokratischen Partei, sondern gleichzeitig der Gründungstag des Spartakusbundes, der seine Arbeit in langen Kriegsjahren und unter den größten und schwersten Opfern unermüdlich fortsetzte, bis aus ihm die Kommunistische Partei und mit ihr zusammen die Kommunistische Internationale erwuchs“.¹⁴¹ Es war fortan auch ihre oppositionelle Rolle im Krieg, mit der die Mitglieder der Gruppe um Luxemburg und Liebknecht ihren Führungsanspruch in einer Partei begründeten, die nur zu einem Teil aus einstigen Spartakisten bestand.¹⁴² Die Rigorosität, mit der sie diesen Anspruch in den innerparteilichen Auseinandersetzungen der Anfangszeit durchzusetzen versuchten, gehörte gleichfalls zum Erbe des Krieges. Denn die aus dem Schock des 4. August und der Kriegspolitik der Sozialdemokratie gezogene Lehre, „daß die Reinheit einer Bewegung über ihre Einheit“ gehe, beförderte eine Praxis, „die eigenen Vorstellungen in der Gesamtpartei zu verallgemeinern“, statt einen sachlichen Ausgleich anzustreben.¹⁴³ Das trug zur Spaltung der KPD im Oktober 1919 und ihrer anschließenden „Bolschewisierung“ maßgeblich bei.¹⁴⁴ Pieck selbst erwuchs aus seinem Kampf gegen den Krieg und für die Revolution an der Seite Liebknechts und Luxemburgs im Laufe der 1920er-Jahre ein symbolisches Kapital, das sein Prestige innerhalb der Partei wesentlich mitbe-
Eberlein: Erinnerungen an Rosa Luxemburg, S. 360. Siehe auch Meyer, Ernst: Zur Vorgeschichte der KPD. In: Die Internationale 10 (1927), H. 4, S. 102– 107, hier S. 102; Frölich, Paul: „Spartakus im Kriege“. In: Die Internationale 10 (1927), H. 12, S. 374– 380, hier S. 377; Hirschmüller: Für den „Frontsoldaten“ und gegen den „imperialistischen Krieg“, S. 422– 424 sowie Wandel, Paul: Wilhelm Pieck 70 Jahre, In: Wilhelm Pieck. Dem Vorkämpfer für ein neues Deutschland zum 70. Geburtstag. Berlin 1946, S. 13 – 35, hier S. 22; Erpenbeck, Fritz: Wilhelm Pieck. Ein Lebensbild. Berlin 1951, S. 41; Reimann, Max: Die KPD erfüllt das Vermächtnis Karl Liebknechts, Rosa Luxemburgs und Ernst Thälmanns. In: Neues Deutschland Nr. 304 vom 30. Dezember 1953; Ulbricht, Walter: Genosse Wilhelm Pieck 60 Jahre Mitglied der Partei der Arbeiterklasse. In: Neues Deutschland Nr. 151 vom 1. Juli 1955 sowie Die SED – führende nationale Kraft in Deutschland. Festveranstaltung des Zentralkomitees zum 40. Jahrestag der KPD. In: Neues Deutschland Nr. 312 vom 31. Dezember 1958. Siehe etwa Protokoll des Gründungsparteitages der KPD. In: Weber, Hermann (Hrsg.): Der Gründungsparteitag der KPD. Protokoll und Materialien, Frankfurt/Wien 1969, S. 49 – 292. Kommunistische Partei Deutschlands (Spartakusbund) (Hrsg.): Bericht über den 2. Parteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund) vom 20. bis 24. Oktober 1919. Berlin [1919], S. 30 und Koch-Baumgarten, Sigrid: Aufstand der Avantgarde. Die Märzaktion der KPD, 1921. Frankfurt/New York 1986, S. 56. Siehe Schönewald, Marcus: Demokratische Anfänge? Die frühe KPD und die falsche Prämisse der Stalinisierungsthese. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2018, S. 163 – 180.
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gründete. So schrieb ihm Werner Scholem (1895 – 1940) anlässlich seines 50. Geburtstages am 3. Januar 1926: Wenngleich wir manches Mal uns in parteipolitischen Fragen gegenüberstanden, habe ich doch niemals vergessen, wie wertvoll für die gesamte Partei Dein Beispiel seit Jahren gewesen ist. Für die junge Generation, welche kurz vor und während des Krieges heranwuchs, und aus welcher unsere Partei sich in erster Linie rekrutiert, bist Du die Verkörperung jener wenigen treuen Vorkämpfer aus der alten Partei, die uns schon in der Jugendbewegung den Weg zum revolutionären Sozialismus gewiesen haben.¹⁴⁵
Je stärker sich die Reihen der früheren Spartakisten in der Führung der KPD infolge von politischen Morden und innerparteilichen Auseinandersetzungen lichteten, desto mehr wurde Pieck zum Repräsentanten ihres Kampfes gegen Imperialismus und Krieg, der die junge Partei mit einer revolutionären Tradition versah. Eine biografische Würdigung des Fünfzigjährigen in der Roten Fahne hebt denn auch jene Ereignisse hervor, die sich als Exempel seiner Kampf- und Opferbereitschaft lasen und noch im Rückblick auf das Zukunftsziel der Revolution verwiesen: von der Organisation der Demonstration vor dem Reichstag und der anschließenden Haft über die Zwangsrekrutierung und Gehorsamsverweigerung bis zur politischen Arbeit in der Emigration.¹⁴⁶ Die Erfahrungen des Soldaten Pieck spielten dabei nur insofern eine Rolle, als sie sich dem Erzählmuster des revolutionären Heldentums fügten. Auch seine Tätigkeit in den Niederlanden fand nur insoweit Erwähnung, als sie die „revolutionäre Aufklärungsarbeit“ unter den deutschen Deserteuren betraf. Seine zeitweiligen Verbindungen zum französischen Geheimdienst waren dagegen kein Thema. Bekannt wurden die Kontakte in ungenauen Zügen erst mit der deutschen Veröffentlichung eines Buches des französischen Agenten Joseph Crozier.¹⁴⁷ Sie wurden von nationalsozialistischen Publizisten bald zum Anlass genommen, Pieck und weitere Novemberrevolutionäre im Zusammenhang der Dolchstoßlegende des „Vaterlandsverrates“ zu zeihen.¹⁴⁸ Werner Scholem an Wilhelm Pieck, Berlin, 1. Januar 1926, SAPMO-BArch NY 4036/31, Bl. 84. Siehe auch Mühsam, Erich: Zum 50. Geburtstag des Genossen Wilhelm Pieck am 3. Januar 1926, Typoskript, SAPMO-BArch NY 4036/31, Bl. 57 f., hier Bl. 58; Sekretariat des EKKI an Wilhelm Pieck, Telegramm, 2. Januar 1926, SAPMO-BArch NY 4036/31, Bl. 12 sowie Wilhelm Pieck 50 Jahre alt. In: Die Rote Fahne Nr. 2 vom 3. Januar 1926. Siehe Wilhelm Pieck 50 Jahre alt sowie auch Pieck, Lebenslauf (Abschrift), Bl. 67. Siehe Desgranges [d. i. Crozier], In geheimer Mission beim Feinde 1915 – 1918 und Drahn, Ernst: Ausländer über den Dolchstoß. In: Süddeutsche Monatshefte 28 (1930/31), H. 6, S. 438 – 451, hier S. 445. Siehe etwa Zusammenbruch einer Verleumdung. Der französische Spion und die Sozialdemokratie. In: Der Abend Nr. 596 vom 20. Dezember 1930; Hakenkreuzstinkbombe geplatzt.
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Nach dem Verbot der KPD durch die Nationalsozialisten 1933 und während der Jahre der Verfolgung, Illegalität und Emigration hatte die Erinnerung an die Zeit des Weltkrieges Konjunktur. Pieck, der im Oktober 1935 auf der sogenannten Brüsseler Konferenz mit der Wahrnehmung des Parteivorsitzes anstelle des in Deutschland inhaftierten Ernst Thälmann (1886 – 1944) beauftragt worden war, avancierte in der Parteipublizistik vollends zur lebendigen Verkörperung der „heroische[n] Geschichte“ der KPD „von ihren Anfängen als linksradikale Bewegung in der Sozialdemokratie bis zu ihrem gegenwärtigen Kampf gegen den blutigsten tierischsten Faschismus“.¹⁴⁹ „Im Kampf gegen den deutschen Faschismus, den Hauptkriegstreiber“, heißt es in einer Adresse führender Vertreter der Kommunistischen Internationale anlässlich seines 60. Geburtstages am 3. Januar 1936, „steht der deutschen und internationalen Arbeiterklasse das leuchtende Beispiel Deines mutigen Handelns vor und während des imperialistischen Weltkrieges stets vor Augen.“¹⁵⁰ In der Moskauer Emigration während der Jahre der stalinistischen „Säuberungen“ fand dabei nicht allein seine „revolutionäre Arbeit und Energie“ als „Mitkämpfer und Freund Karl Liebknechts, Rosa Luxemburgs, Franz Mehrings und Klara Zetkins“ Anerkennung. Vor dem Hintergrund von Josef Stalins (1878 – 1953) Kritik an der „organisatorische[n] und ideologische[n] Schwäche“¹⁵¹ der linken Sozialdemokraten hob Wilhelm Florin (1894 – 1944), Mitglied des Zentralkomitees (ZK) und Politbüros der KPD, als das „unvergängliche Verdienst des Genossen Pieck“ vielmehr hervor, „dass er als der festeste und treueste aus der alten Garde des Spartakusbundes die Unzulänglichkeiten, Fehler und Schwächen in der Einstellung und Haltung des Spartakusbundes als Abweichungen vom Bolschewismus erkannte und anerkannte und daraus die Schlussfolgerungen zog“. Denn in „nie erlahmender Weise“ habe er
Französisches Geld und deutsche Revolution. In: Vorwärts Nr. 224 vom 16. Mai 1931 und Münchmeyer, Ludwig: Marxisten als Mörder am deutschen Volke im Solde des Feindes. Auf Urkunden gestütztes Beweismaterial für den organisierten Landesverrat und den Dolchstoß der Marxisten aller Schattierungen, der Zerstörer deutscher Ehr’ und Wehr, 5. Auflage. München 1935, S. 99 u. 161. Florin, Wilhelm: Wilhelm Pieck. In: Deutsche Zentral-Zeitung Nr. 2 vom 3. Januar 1936. Auch abgedruckt in: Wilhelm Pieck. Ein Kämpferleben im Dienste der Arbeiterklasse. Moskau 1936, S. 9 – 17, hier S. 11 f. Dimitroff, [Georgi] [u. a.]: Lieber Genosse Wilhelm Pieck!. In: Deutsche Zentral-Zeitung Nr. 2 vom 3. Januar 1936. Auch abgedruckt in: Wilhelm Pieck, S. 3 – 5, hier S. 4 f. Siehe auch Zum sechzigsten Geburtstag des Genossen Wilhelm Pieck am 3. Januar 1936. Gruß des Zentralkomitees der KPD. In: Wilhelm Pieck, S. 6 – 8, hier S. 6 f. Auch erschienen in: Der Gegen-Angriff Nr. 1 vom 3. Januar 1936. Stalin, Josef: Über einige Fragen der Geschichte des Bolschewismus. Brief an die Redaktion der Zeitschrift „Proletarskaja Rewoluzija“ [1931]. Berlin 1949, S. 5.
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„den Kampf zur Schaffung und Festigung der kommunistischen Massenpartei in Deutschland mit organisiert und geführt“.¹⁵² In der Atmosphäre verschärfter ideologischer „Wachsamkeit“ Mitte der 1930er-Jahre wurden auch die biografischen Akzente in der Darstellung der Kriegsjahre mitunter neu gesetzt. Schrieb Die Rote Fahne 1926 nur davon, dass Pieck sich weigerte, „auf seine Klassenbrüder im Ausland zu schießen“ und den politischen Kampf als Deserteur in den Niederlanden fortsetzte,¹⁵³ war nun in einer biografischen Broschüre über „syndikalistische und tolstoianische Einflüsse“ zu lesen, die es unter den Deserteuren „zu bekämpfen“ galt – wobei sich „Pieck und seine Freunde […] auch auf die Massenliteratur der Bolschewiki“ haben stützen können.¹⁵⁴
In neuem Licht: der „Kampf gegen den Krieg“ als nationale Heldengeschichte In der Sowjetischen Besatzungszone und frühen DDR fand mit den parteioffiziellen Biografien Piecks auch die Darstellung seines Wirkens im Ersten Weltkrieg massenmediale Verbreitung. Sie zeigte Pieck als einen „der Führer des Kampfes gegen den ersten imperialistischen Weltkrieg“ an der Seite von Liebknecht und Luxemburg, Mehring und Zetkin,¹⁵⁵ der sich auch von Belagerungszustand, Ker Florin, Wilhelm Pieck. Siehe auch Dimitroff [u. a.]: Lieber Genosse Wilhelm Pieck! sowie Florin, [Wilhelm] u. Heckert, [Fritz]: An Genossen Wilhelm Pieck. In: Deutsche Zentral-Zeitung Nr. 2 vom 3. Januar 1936. Wilhelm Pieck 50 Jahre alt. F.[ritz] Gl.[obig]: Der Weg eines kommunistischen Führers. In: Wilhelm Pieck, S. 18 – 32, hier S. 24. Siehe auch Walter, F. G.: Ruhmvoller Weg eines kommunistischen Führers. Genosse Wilhelm Pieck 60 Jahre. In: RGASPI f. 495, op. 205, d. 1 (1), l. 262. Ein Freund der Schaffenden. In: Berliner Zeitung Nr. 2 vom 4. Januar 1949. Siehe auch Gruß unseren Veteranen. In: Neues Deutschland Nr. 127 vom 20. September 1946; Grotewohl, Otto: Wilhelm Pieck 71 Jahre. In: Neues Deutschland Nr. 2 vom 3. Januar 1947; K. I.: Ankläger des Militarismus. Zum 101. Geburtstage Franz Mehrings. In: Neues Deutschland Nr. 49 vom 27. Februar 1947; Lindau, Rudolf: Kämpfer gegen den Militarismus. In: Neues Deutschland Nr. 12 vom 15. Januar 1947; Bartel, Walter: Zwei unvergeßliche Patrioten. Zum Jahrestag der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. In: Neue Zeit Nr. 12 vom 15. Januar 1953; Rattay, Arno: Der Arbeiterjunge aus Guben.Wilhelm Pieck begeht heute sein 60jähriges Parteijubiläum. In: Berliner Zeitung Nr. 151 vom 1. Juli 1955; Ulbricht, Genosse Wilhelm Pieck; Reimann, Die KPD erfüllt das Vermächtnis; Norden, Albert: Ein deutsches Arbeiterleben. In: Neues Deutschland Nr. 1 vom 1. Januar 1956; Wir grüßen unseren Präsidenten. Glückwunschadresse des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. In: Neues Deutschland Nr. 2 vom 3. Januar 1956; Ein Leben für die Arbeiterklasse, für das Glück des Volkes, für den Frieden. Aus der Biographie Wilhelm Piecks. In: Neues Deutschland Nr. 248 vom 8. September 1960.
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kerhaft und militärischer Zwangsgewalt nicht davon abhalten ließ, „den Krieg gegen den Krieg zu organisieren“¹⁵⁶ und „der Sache des proletarischen Internationalismus“ treu zu bleiben.¹⁵⁷ Markierte der Erste Weltkrieg im Geschichtsbild der Kommunisten eine historische Bewährungsprobe,¹⁵⁸ so wurde Pieck „zu den wenigen in Deutschland“ gezählt, „die das Banner des internationalen Sozialismus hochhielten“¹⁵⁹ und die „jede Kurve der Entwicklung aufs neue im Lager der folgerichtigen Vertreter der Arbeiterinteressen fand“.¹⁶⁰ Damit wurde ein Erzählmuster vervielfältigt, an dem schon in der Weimarer Zeit gewoben wurde. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges änderte sich der Kontext dieses Narratives jedoch markant. Denn nach der neuerlichen militärischen Niederlage und dem moralischen Zusammenbruch Deutschlands ließ sich Piecks Kampf gegen Imperialismus und Krieg zwischen 1914 und 1918 in ein neues, gleichsam historisches Licht setzen. In der Parteipresse wurde betont, dass dieser Kampf nunmehr „von der Norden, Ein deutsches Arbeiterleben. Siehe auch Wilhelm Pieck 50 Jahre alt; Norden, Albert: Deutschlands Präsident. In: Neues Deutschland Nr. 239 vom 12. Oktober 1949; Der Präsident der DDR. In: Neue Zeit Nr. 2 vom 3. Januar 1950 sowie Rattay, Der Arbeiterjunge aus Guben. Schmied der Einheit, Vater des Vaterlandes. In: Neues Deutschland Nr. 2 vom 3. Januar 1956 und Gemeinsamer Nachruf des ZK der SED, des Ministerrates der DDR, der Volkskammer der DDR und der Nationalen Front des demokratischen Deutschland. In: Berliner Zeitung Nr. 243 vom 8. September 1960. Siehe auch Wandel, Wilhelm Pieck 70 Jahre, S. 23; Ulbricht, Walter: Wilhelm Pieck – ein Vorkämpfer für eine einheitliche Arbeiterpartei. In: Wilhelm Pieck, S. 36 – 46, hier S. 45; Ackermann, Anton: Wilhelm Piecks patriotischer Kampf gegen Imperialismus und imperialistischen Krieg. In: Wilhelm Pieck, S. 47– 61, hier S. 51; Grotewohl, Wilhelm Pieck 71 Jahre; Norden, Deutschlands Präsident; Ein Leben für die Arbeiterklasse sowie Bartel, Walter: „Ich war, ich bin, ich werde sein!“. In: Berliner Zeitung Nr. 246 vom 11. September 1960. Siehe Ulbricht, Wilhelm Pieck, S. 39; Ackermann, Wilhelm Piecks patriotischer Kampf, S. 51; Gedenkrede Albert Nordens. In: Berliner Zeitung Nr. 259 vom 24. September 1960 und Wilhelm Pieck 1876 – 1960, Berlin 1960, S. 137. Deutschlands treuester Sohn. Zum 77. Geburtstag Wilhelm Piecks. In: Berliner Zeitung Nr. 2 vom 3. Januar 1953. R. H.: Ein Jubiläum. In: Berliner Zeitung Nr. 1 vom 3. Januar 1946. Siehe auch Sekretariat des EKKI an Wilhelm Pieck (Telegramm), 2. Januar 1926; Lindau, Rudolf: Zum 75. Geburtstag Karl Liebknechts. In: Neues Deutschland Nr. 94 vom 13. August 1946; Grotewohl, Wilhelm Pieck 71 Jahre; Ein Freund der Schaffenden; Norden, Deutschlands Präsident; Grotewohl, Otto: Unserem Wilhelm Pieck zum Gruß. In: Neues Deutschland Nr. 2 vom 3. Januar 1952; Grotewohl, Otto: Ein großer Sohn unseres Volkes. Zum 76. Geburtstag Wilhelm Piecks. In: Berliner Zeitung Nr. 2 vom 3. Januar 1952; Norden, Ein deutsches Arbeiterleben; Duncker, Hermann: Wilhelm Pieck – ein wahrhafter Sohn des Volkes. In: Berliner Zeitung Nr. 2 vom 3. Januar 1956; Ulbricht, Walter: Der einzig richtige Weg [Teilbeitrag von: Staatsakt zu Ehren unseres Präsidenten. Glückwünsche der SED, der Volkskammer, der Regierung und des Nationalrats]. In: Neues Deutschland Nr. 3 vom 4. Januar 1956 und Grotewohl, Otto: Unbeirrbar für die große Zukunft unseres Volkes [Teilbeitrag von: Staatsakt zu Ehren unseres Präsidenten. Glückwünsche der SED, der Volkskammer, der Regierung und des Nationalrats]. In: ebd.
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Geschichte als richtig, notwendig und beispielhaft“ erwiesen worden sei und ein Erfolg „dem Land den zweiten, noch viel tieferen Absturz erspart“ hätte.¹⁶¹ Der Verweis auf Piecks damalige Haltung und ihre geschichtliche Weihe sollte dem Wort des KPD-Vorsitzenden in den Auseinandersetzungen um die zukünftige Entwicklung Deutschlands eine besondere Legitimation verleihen.¹⁶² So fragte Fred Oelßner (1903 – 1977), Leiter der Abteilung Agitation und Propaganda des ZK der KPD, seine Leserinnen und Leser in einem Buchbeitrag zum 70. Geburtstag des KPD-Vorsitzenden 1946: Wenn er sich vor dem ersten Weltkrieg dem linken Flügel der Sozialdemokratischen Partei anschloß und Schulter an Schulter mit Karl Liebknecht gegen den preußisch-deutschen Militarismus focht, kämpfte er da nicht dafür, dem deutschen Volke die Schrecken des ersten Weltkrieges zu ersparen? Wenn er – wieder mit Karl Liebknecht, mit Rosa Luxemburg und anderen – im Kriege gegen die kaiserliche Regierung für die schnelle Beendigung des Krieges kämpfte, war das nicht der Weg, Deutschland die Niederlage 1918 und das Versailler Diktat zu ersparen?¹⁶³
Angesichts der langfristigen Folgen des Ersten Weltkrieges ließ sich nun argumentieren, dass es die lange als „Vaterlandsfeinde“ geschmähten sozialistischen Kriegsgegner wie Pieck waren, die „für die wahren nationalen Interessen des deutschen Volkes gekämpft“ hatten:¹⁶⁴ Heute, nach den furchtbaren Erfahrungen dieser beiden Kriege, kann man mit fester Ueberzeugung aussprechen: dieser Kampf des bewußtesten Teils der deutschen Arbeiter war ein nationaler Kampf. Wenn er sich nach dem Wunsche und Willen Wilhelm Piecks und seiner Gesinnungsfreunde zu der großen Erhebung unseres Volkes gegen die Kriegspartei gesteigert hätte, so wäre das deutsche Volk zu der Kraft geworden, die den Krieg lange vor seinem
R. H.: Ein Jubiläum. Siehe auch Grotewohl, Unserem Wilhelm Pieck zum Gruß und per.: Deutsche Geschichte in Bildern und Dokumenten. Aus dem Leben unseres Präsidenten. In: Neue Zeit Nr. 69 vom 21. März 1956. Oelßner, Fred: Freund und Führer des Volkes. In: Wilhelm Pieck, S. 77– 90, hier S. 86. Siehe auch R. H.: Ein Jubiläum; Ein Leben für den Frieden. Festliche Uraufführung des DEFA-Filmes vom Leben des Präsidenten. In: Neue Zeit Nr. 3 vom 4. Januar 1952; bag.: Persönlichkeit und Geschichte. Uraufführung des DEFA-Dokumentarfilms „Wilhelm Pieck, das Leben unseres Präsidenten“. In: Berliner Zeitung Nr. 3 vom 4. Januar 1952 sowie per.: Deutsche Geschichte in Bildern und Dokumenten. Oelßner, Freund und Führer des Volkes, S. 86. Siehe auch Ulbricht, Wilhelm Pieck, S. 39 f.; Wandel, Wilhelm Pieck 70 Jahre, S. 25; Diehl, Ernst: Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs Kampf für die Sache der Nation. In: Neues Deutschland Nr. 12 vom 15. Januar 1955; bag: Es ist genug!. In: Berliner Zeitung Nr. 12 vom 15. Januar 1955 sowie Bartel, Die Linken in der deutschen Sozialdemokratie, S. 5, 578 u. 581.
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späteren Ende beendigt hätte. Millionen Menschen wäre das Leben erhalten geblieben. Es hätte keine Macht der Erde gegeben, die die nationale Unabhängigkeit eines solchen Deutschlands hätte antasten können. Das deutsche Volk hätte sich die Achtung und Begeisterung aller Völker erworben, die damals ohne Ausnahme von einer tiefen Friedenssehnsucht erfüllt waren, und ohne sich des Verdachts einer Uebertreibung auszusetzen, [es hätte] keine Inflation, keinen Hitler und keinen Hitlerkrieg gegeben.¹⁶⁵
Die Überzeugung, dass die jüngste deutsche Geschichte der Kommunistischen Partei Recht gegeben habe, hatte Pieck bereits im Oktober 1944 in der Moskauer Emigration zum Ausdruck gebracht: Sie allein habe vom Beginn des Ersten Weltkrieges und der Oppositionsarbeit der Gruppe um Liebknecht und Luxemburg an gegen Imperialismus, Militarismus und Krieg als den Ursachen der deutschen Katastrophe gekämpft.¹⁶⁶ In diesem Vergangenheitsentwurf war vordergründig von einem Kampf für Revolution und Sozialismus ebenso wenig die Rede wie in dem politischen Aktionsprogramm, mit dem die Partei in die deutsche Nachkriegsöffentlichkeit trat.¹⁶⁷ Vielmehr wurde „der nationale Charakter“¹⁶⁸ ihrer Politik in Geschichte und Gegenwart herausgestellt. So zeigte der Blick zurück die KPD in der Rolle, die sie in Deutschland künftig spielen wollte: die der „einzige[n] wahrhaft nationale[n] Volkspartei“.¹⁶⁹ In der Partei aber war es der Vorsitzende Pieck, der diesen Anspruch wie kein zweiter lebensgeschichtlich zu beglaubigen schien. Seine Biografie wurde daher immer öfter in das Gewand einer nationalen Heldengeschichte gekleidet.¹⁷⁰ Darin erschien Pieck nicht nur als „der
Wandel, Wilhelm Pieck 70 Jahre, S. 27. Siehe auch Ein Leben für den Frieden; bag: Persönlichkeit und Geschichte und per.: Deutsche Geschichte in Bildern und Dokumenten. Dok. 30: Der Aufbau der KPD und ihre organisationspolitischen Probleme – Handschriftliche Rededisposition Wilhelm Piecks für eine Lektion vor dem 1. Lehrgang der Parteischule der KPD, am 31. Oktober 1944 vorgetragen. In: Erler, Peter [u. a.] (Hrsg.): „Nach Hitler kommen wir“. Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/1945 für Nachkriegsdeutschland. Berlin 1994, S. 269 – 289, hier S. 273 f. Siehe auch Zur programmatischen Arbeit der Moskauer Führung 1941– 1945. In: ebd., S. 23 – 123, hier S. 102– 104. Dok. 30: Der Aufbau der KPD, S. 285. Siehe Meuschel, Sigrid: Legitimität und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945 – 1989. Frankfurt a. M. 1992, S. 58 u. 76 – 79; Erdmann, Klaus: Der gescheiterte Nationalstaat. Die Interdependenz von Nationsund Geschichtsverständnis im politischen Bedingungsgefüge der DDR. Frankfurt a. M./New York 1996, S. 58 u. 76 – 79 sowie Könczöl, Barbara: Märtyrer des Sozialismus. Die SED und das Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Frankfurt a. M. 2008, S. 126 f. Wandel, Wilhelm Pieck 70 Jahre, S. 25. Dok. 30: Der Aufbau der KPD, S. 274. Begrüßung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Deutschlands an den Genossen Wilhelm Pieck zu seinem 70. Geburtstag. In: Wilhelm Pieck, S. 9 – 12, hier S. 10.
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große internationale Sozialist“,¹⁷¹ sondern zugleich als „glühender Patriot“ und „nationale[r] Freiheitskämpfer“, der bereits vor und während des Ersten Weltkrieges alles darangesetzt habe, „die deutschen Mütter vor dem Kriegsunglück zu bewahren“.¹⁷² Schließlich sollte die Geschichtserzählung der Partei den Menschen im Nachkriegsdeutschland zeigen, dass die „Interessen der Arbeiterklasse“ und „die Interessen der Nation“ keine Gegensätze seien.¹⁷³ Hatte sich der Nationalismus in der Vergangenheit meist gegen die Kommunisten gewandt und erfolgreich gegen den Internationalismus der Arbeiterbewegung behauptet, so wurde der Bezug auf die Nation als rhetorische Integrationsfigur zum festen Bestandteil der politischen Sprache der KPD und SED.¹⁷⁴
Pieck und die „richtigen Lehren“ aus der deutschen Vergangenheit Nachdem Pieck am 11. Oktober 1949 von der Provisorischen Volkskammer zum Präsidenten der DDR gewählt worden war, schrieb Walter Ulbricht (1893 – 1973), die Bevölkerung habe ihn erkoren,
Arendsee, Martha: Ein Vorkämpfer für die Befreiung der Frauen. In: Wilhelm Pieck, S. 91– 99, hier S. 97. Siehe auch Begrüßung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Deutschlands, S. 10 sowie Deutschlands treuester Sohn. Deutschlands treuester Sohn. Siehe auch He.: Unser Präsident Wilhelm Pieck. In: Berliner Zeitung Nr. 1 vom 3. Januar 1951. Dok. 30: Der Aufbau der KPD, S. 285. Siehe Grotewohl, Unserem Wilhelm Pieck zum Gruß; Matern, Hermann: Wilhelm Pieck – Patriot und proletarischer Internationalist. Zum 80. Geburtstag des Präsidenten. In: Neues Deutschland Nr. 305 vom 30. Dezember 1955; Müller, Werner: Die deutschen Linken – Kämpfer für die nationale Sache. Bemerkungen zu einem Buch von Prof. Dr. Walter Bartel. In: Neues Deutschland Nr. 127 vom 31. Mai 1958 und Gemeinsamer Nachruf des ZK der SED. Siehe Amos, Heike: Die Westpolitik der SED 1948/49 – 1961. „Arbeit nach Westdeutschland“ durch die Nationale Front, das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten und das Ministerium für Staatssicherheit. Berlin 1999, S. 19 f. und Erdmann, Der gescheiterte Nationalstaat, S. 303. Eine „Kehrtwendung von 180 Grad“ bedeutete „der Wechsel in Ideologie und Sprache vom ,proletarischen Internationalismus‘, dem ,Proletarier aller Länder vereinigt euch‘, zu ,Nation‘ und ,wahrem deutschen Nationalismus‘“ (Amos, Die Westpolitik der SED 1948/49 – 1961, S. 20) aber nicht. Schließlich hatte die KPD bereits während der Ruhrbesetzung 1923 und in der Endphase der Weimarer Republik einen „betont ,nationalen‘ Kurs“ eingeschlagen (Haury, Thomas: Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie und Antizionismus in der frühen DDR. Hamburg 2002, S. 253).
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weil er in zwei Weltkriegen den Kampf gegen den Imperialismus und für den Frieden geführt hat. Nachdem die deutschen Militaristen, die Konzernherren, Bankherren und Großgrundbesitzer Deutschland zweimal in die Katastrophe getrieben haben, konnte in Deutschland für die hohe Funktion des Präsidenten nur ein Mann in Frage kommen, der sein ganzes Leben treu der Sache des Friedens und Fortschritts gedient hat, ein Mann aus der Arbeiterschaft, der selbst mit den fortschrittlichen Kräften des arbeitenden Volkes gekämpft und gelitten hat.¹⁷⁵
Präsidierte Pieck als Vorsitzender der KPD und Ko-Vorsitzender der SED (1946 – 1954) einer Partei, die seit dem Ersten Weltkrieg stets auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden habe, so repräsentierte er als Präsident der DDR einen Staat, der die richtigen Lehren aus der deutschen Vergangenheit ziehe. Denn während in Westdeutschland „die alten Finanz- und Industrieherren, die Junker und Militaristen von den imperialistischen Besatzungsmächten wieder in den Sattel gehoben worden“ seien und „nach Revanche für die Niederlagen, die sie in zwei Weltkriegen erlitten haben“, dürsteten, bilde die Deutsche Demokratische Republik „ein Bollwerk der nationalen Bewegung für Einheit und Frieden“.¹⁷⁶ Die positive Bezugnahme auf die Geschichte des Kampfes der Linken gegen Imperialismus und Krieg ging damit stets mit der Diskreditierung der politischen Entwicklung in „Westdeutschland“ einher. So zog die politische Propaganda düstere Parallelen zwischen der frühen Bundesrepublik und dem deutschen Kaiserreich.¹⁷⁷ Dabei gerieten besonders die Sozialdemokraten ins Visier: „Die-
Ubricht, Walter: Wilhelm Pieck – Vertrauter des Volkes. In: Neues Deutschland Nr. 1 vom 3. Januar 1951. Siehe auch Norden: Deutschlands Präsident; He.: Unser Präsident Wilhelm Pieck und Antwortschreiben des Genossen André Marty an den Generalsekretär des ZK der SED. In: Neues Deutschland Nr. 274 vom 25. November 1951. Unser Präsident. In: Neues Deutschland Nr. 236 vom 8. Oktober 1953. Siehe auch Grotewohl, Unserem Wilhelm Pieck zum Gruß; Karl Liebknechts Vermächtnis für unseren Kampf gegen Remilitarisierung und Kriegsgefahr. Aus der Rede Wilhelm Piecks zum 80. Geburtstag Karl Liebknechts am 13. August 1951 in der Staatsoper zu Berlin. In: Neues Deutschland Nr. 186 vom 14. August 1951; Grotewohl, Ein großer Sohn unseres Volkes; Reimann, Die KPD erfüllt das Vermächtnis; Unbeugsame Kämpfer gegen den deutschen Militarismus. In: Neues Deutschland Nr. 12 vom 15. Januar 1955; Diehl, Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs Kampf; bag: Es ist genug!; pt.: Kämpfer gegen den Militarismus.Vor 40 Jahren organisierte Wilhelm Pieck Frauendemonstration vor dem Reichstag. In: Neues Deutschland Nr. 124 vom 29. Mai 1955 sowie Das Bonner Rattennest des Krieges. Hitlers Kriegsrichter sammeln sich / Neue Macht für Judenmörder Globke. Aus der Rede von Prof. Dr. Albert Norden auf der Pressekonferenz des Ausschusses für Deutsche Einheit am 14. Oktober 1960 in Berlin. In: Neues Deutschland Nr. 285 vom 15. Oktober 1960. Siehe allgemein zur propagandistischen Abgrenzung der DDR vom Feindbild Bundesrepublik Gries, Rainer: Die Heldenbühne der DDR. Zur Einführung. In: Satjukow, Silke u. Gries, Rainer (Hrsg.): Sozialistische Helden: Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR. Berlin 2002, S. 84– 100, hier S. 86 sowie Gibas, Monika: „Bonner Ultras“, „Kriegstreiber“
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selben SPD-Führer, die dem Kaiser damals die Kriegskredite bewilligten, die in der Weimarer Republik mit der Schwarzen Reichswehr der Junker und Industriebarone paktierten, sind auch jetzt wieder bereit, das deutsche Volk dem Dollarimperialismus zu opfern.“¹⁷⁸ Ja, die „Sozialchauvinisten von 1914“ würden sogar „noch übertroffen durch ihre heutigen Nachfolger in der Führung der SPD und des DGB, die Ollenhauer, Freitag und Co., die zwar zeitweise, z. B. vor Wahlen, mit scheinradikalen Redensarten auftreten, in Wirklichkeit aber die Politik der Spaltung der Arbeiterklasse, der verleumderischen Hetze gegen die Sowjetunion, die Volksdemokratien und die Deutsche Demokratische Republik, die Politik der aktiven Unterstützung der Kriegstreiber, betreiben“.¹⁷⁹ Der Präsident Wilhelm Pieck fungierte inmitten dieser dichotomen Sicht auf Geschichte und Gegenwart als „leuchtendes Vorbild für den Kampf gegen die imperialistischen Kriegsbrandstifter“.¹⁸⁰ Sei er 1915 „als Kämpfer gegen Militarismus und Krieg bei einer Frauendemonstration vor dem Reichstag verhaftet“ worden, so führe er nun 40 Jahre später „einen entschiedenen Kampf gegen die Pariser Kriegsverträge“, „die Wiedergeburt des Militarismus in Westdeutschland“ und „für die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands auf demokratischer Grundlage“.¹⁸¹ „So wie damals“, erhebe Pieck „auch gegenwärtig aus tiefer Sorge um sein Volk seine Stimme“. „Heute so wie damals“ wirke er „als motorische Kraft bei der Sammlung aller patriotischen Kräfte im Kampf gegen nationale Versklavung und imperialistische Kriegsgefahr“.¹⁸²
und „Schlotbarone“. Die Bundesrepublik als Feindbild der DDR in den fünfziger Jahren. In: Satjukow, Silke u. Gries, Rainer (Hrsg.): Unsere Feinde. Konstruktionen des Anderen im Sozialismus. Leipzig 2004, S. 75 – 106. Ein Leben für den Frieden. Siehe auch bag: Persönlichkeit und Geschichte. Dlubek, Rolf: Eine Abrechnung mit der imperialistischen Außenpolitik. Zum Buch von Prof. Albert Schreiner „Zur Geschichte der deutschen Außenpolitik 1871 bis 1945“, 1. Band. In: Neues Deutschland Nr. 256 vom 31. Oktober 1953. Siehe auch Karl Liebknechts Vermächtnis und Die Toten mahnen uns. Aus der Rede des Genossen Wilhelm Pieck am 13. Januar 1952 zum 33. Jahrestag der Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs. In: Neues Deutschland Nr. 12 vom 15. Januar 1952. Dlubek, Eine Abrechnung mit der imperialistischen Außenpolitik. Siehe auch Groth, Wolfgang u. Rössler, Johannes: Ein Sohn des Volkes. Zum 75. Geburtstag des Präsidenten der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin/Leipzig 1950, S. 12. pt.: Kämpfer gegen den Militarismus. Siehe auch Diehl, Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs Kampf und bag: Es ist genug!. Matern, Wilhelm Pieck – Patriot und proletarischer Internationalist. Siehe auch Grotewohl, Unserem Wilhelm Pieck zum Gruß; ders.: Ein großer Sohn unseres Volkes und Lindner, Heinz: Gemeinsam gegen die NATO, wie damals gegen Bismarck. Zur Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Friedrich Engels und Paul und Laura Lafargue. In: Neues Deutschland Nr. 289 vom 7. Dezember 1957.
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Gegenwärtige Geschichte: das Vermächtnis Liebknechts und Luxemburgs Da im Geschichtsverständnis der Kommunisten mit dem Ersten Weltkrieg eine Epoche angebrochen war, die bis in die Gegenwart reichte, war auch die Erinnerung an den „Kampf der Linken gegen den Krieg und für die Revolution“ von einer höchst gegenwärtigen Relevanz. Sie lehrte in den Worten Karl Schirdewans (1907– 1998), Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED, „die Grundaufgaben der Arbeiterklasse gegen den imperialistischen Krieg zu beherrschen und sich von jeglicher Unterschätzung des westdeutschen Militarismus frei“ zu machen. Dafür müsse besonders die Jugend „viel tiefer mit dem kämpferischen Wirken von Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Wilhelm Pieck gegen den ersten imperialistischen Weltkrieg verbunden werden“.¹⁸³ Bei dieser erinnerungspolitischen Zielsetzung kam dem Erbe von Liebknecht und Luxemburg die zentrale Bedeutung zu: Fungierte Ernst Thälmann als „die Personifizierung des antifaschistischen Kampfes“ so galten Liebknecht und Luxemburg nicht nur „als die Gründer und Märtyrer der Kommunistischen Partei Deutschlands“, sondern auch „als die zentralen Identifikationsfiguren für den Kampf der revolutionären Linken während des Ersten Weltkriegs“.¹⁸⁴ Auf der Basis der Annahme, dass sich Deutschland heute „im Kampf gegen die gleichen Kräfte“ befände, „gegen die Karl und Rosa ihr Leben lang kämpften“, konnte ihr Leben und Werk „für die Sache der Nation“ zum „Vorbild und Vermächtnis“ erklärt werden.¹⁸⁵ Dabei war es allen voran Pieck, der als ihr „enge[r] Kampfgefährte“¹⁸⁶ zum parteioffiziellen Interpreten ihres ideellen Erbes wurde und besonders beim jährlichen Gedenken an die Ermordung Liebknechts und Luxemburgs öffentlich aufzeigte, welches
Schirdewan, Karl: Der revolutionäre Marxismus siegt. Zum 50. Jahrestag des Internationalen Sozialistenkongresses in Stuttgart. In: Neues Deutschland Nr. 198 vom 23. August 1957. Siehe auch Wir grüßen unseren Präsidenten; Forschung mit Kampf verbinden. Genosse Jürgen Kuczynski über sein Buch: „Der Ausbruch des ersten Weltkrieges und die Sozialdemokratie“. In: Neues Deutschland Nr. 61 vom 12. März 1958 und Müller, Die deutschen Linken. Könczöl, Märtyrer des Sozialismus, S. 14 f. Diehl, Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs Kampf. Siehe auch Neue Zeit Nr. 9 vom 11. Januar 1952 (Rubrik „Hier spricht der Leser“). per.: Deutsche Geschichte in Bildern und Dokumenten. Siehe auch Hauth, Wilhelm: Ein Leben für die Partei. Erinnerungen an den Kampfgefährten Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs. In: Neues Deutschland Nr. 120 vom 24. Mai 1949; Erpenbeck, Wilhelm Pieck, S. 74; Antwortschreiben des Genossen André Marty; Deutschlands treuester Sohn; Schmied der Einheit, Vater des Vaterlandes und Globig, Fritz W.: Einer hat dennoch sein Antlitz erhoben. Am 13. August 1871 wurde Karl Liebknecht geboren. In: Neues Deutschland Nr. 192 vom 12. August 1956.
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Handeln in der Gegenwart aus der von ihnen herrührenden historischen Mission zu folgen habe. Anfang der 1950er-Jahre lautete ihr Vermächtnis angesichts „der Bedrohung des deutschen Volkes und aller Völker Europas durch den wiedererstandenen deutschen Imperialismus“ vor allem: „Kampf, entschiedener Kampf gegen die Remilitarisierung!“¹⁸⁷ Unter das Schlagwort der Remilitarisierung fielen im Grunde sämtliche Schritte zur wirtschaftlichen, politischen und militärischen Integration der Bundesrepublik in den Westen, die vom Schuman-Plan und der aus ihm folgenden Montanunion 1951 bis zum schließlich gescheiterten Vorhaben der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) reichten. Seien durch Liebknecht und Luxemburg der Kampf „gegen den Vaterlandsverrat der Kanonenkönige und Schlotbarone“ geführt und „die Eroberungspläne entlarvt“ worden, „durch die das Ruhrgebiet mit den Erzgruben Frankreichs vereinigt werden sollte“, so werde Vaterlandsverrat und Kriegsvorbereitung heute mit dem SchumanPlan betrieben, durch den „die deutsche Industrie ganz in den Dienst den amerikanischen Aufrüstung gestellt werden“ solle. Ein „Recht und eine Pflicht zu dieser Mahnung“ folgerte Pieck daraus, dass in der Deutschen Demokratischen Republik „das Vermächtnis der großen Toten erfüllt“ und „die Grundlagen für eine friedliche Entwicklung des deutschen Volkes geschaffen“ seien.¹⁸⁸ In „Westdeutschland“ seien dagegen „dieselben Konzernherren an der Macht, die für beide Weltkriege verantwortlich sind, die Hitler in den Sattel gehoben hatten“. Darum sei „der Kampf gegen die Ratifizierung der Kriegsverträge von Paris und Bonn“, wie er das EVG-Vertragswerk nannte, „höchste nationale Pflicht“ und „jeder, der heute nein zu diesen Verträgen sagt“, handele „im Geist von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, als sie das deutsche Volk zum Kampf gegen den ersten Weltkrieg aufforderten“.¹⁸⁹ Seine Worte richtete Pieck nicht zuletzt nach Westdeutschland, wo die Verehrung Liebknechts und Luxemburgs in der Sozialdemokratie noch lebendig sei. Wer dort ihr Andenken wirklich ehren wolle, der müsse „gemeinsam mit den Kommunisten und den Mitgliedern unserer Sozialistischen Einheitspartei gegen die Remilitarisierung kämpfen“.¹⁹⁰
Karl Liebknechts Vermächtnis. Die Toten mahnen uns. Unserer Toten Mahnung: Handelt gemeinsam! Aus der Rede Wilhelm Piecks zum 34. Jahrestag der Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs. In: Berliner Zeitung Nr. 16 vom 20. Januar 1953. Karl Liebknechts Vermächtnis. Siehe auch Die Toten mahnen uns und Unserer Toten Mahnung.
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Übertreibungen und Auslassungen: Erzählzwänge des Helden-Narratives Unter den veränderten Vorzeichen der Nachkriegspolitik wurde schließlich auch die Soldatenzeit des Präsidenten Teil einer öffentlich zur Darstellung gebrachten Geschichte der historischen Bewährung, die dazu diente, den Führungsanspruch seiner Partei und den gesamtdeutschen Anspruch des von ihm repräsentierten Staates zu legitimieren.¹⁹¹ An ihr ließ sich Piecks Prinzipienfestigkeit eindrücklich demonstrieren, hatte er doch selbst innerhalb eines militärischen Zwangsregimes einen Weg gefunden, seinen politischen Grundsätzen treu zu bleiben und der Gefahr des Todes und Tötens zu entgehen. In der offiziellen Repräsentation bildeten seine Kriegserlebnisse gleichwohl nur Ausgangspunkte einer sozialistischen Heldengeschichte, die sich durch Auswahl und Dramatisierung von dem rekonstruierbaren Geschehen mitunter deutlich löste. So habe der militärische Gestellungsbefehl „die Zuteilung in ein Todeskommando“ bedeutet und Pieck den Gehorsam „trotz der Todesdrohung des Offiziers“ verweigert,¹⁹² worauf bekanntlich die Todesstrafe gestanden habe.¹⁹³ Auch die Operation seiner Krampfadern in Lille wurde zur Lebensrettung in letzter Sekunde stilisiert.¹⁹⁴ Während Piecks Desertion durchaus nicht unter den Tisch fiel, wie Henning Köhler meint, blieb eine andere Episode aus Piecks Weltkriegsjahren in den DDRVeröffentlichungen sorgsam ausgespart: seine Kontakte zum französischen Geheimdienst und der Versuch, mit finanzieller Hilfe Frankreichs Waffen für die Revolution zu beschaffen.¹⁹⁵ Auf diese markante Lücke im Lebenslauf des Präsidenten machten westliche Publizisten aufmerksam. 1953 referierte die Deutsche Rundschau einen Artikel der Baseler National-Zeitung, in dem davon zu lesen war,
Siehe Ulbricht, Wilhelm Pieck, S. 39 u. S. 45; S. 63; Wandel, Wilhelm Pieck 70 Jahre, S. 22 f.; Ackermann,Wilhelm Piecks patriotischer Kampf, S. 51 f.; Erpenbeck,Wilhelm Pieck sowie Winzer, Wilhelm Pieck, S. 11. Wandel, Wilhelm Pieck 70 Jahre, S. 24. Erpenbeck, Wilhelm Pieck, S. 56. Siehe auch Norden, Deutschlands Präsident; Rattay, Der Arbeiterjunge aus Guben; Rundfunkkommentar des Genossen Albert Norden zum 60jährigen Parteijubiläum des Genossen Wilhelm Pieck, Typoskript, 1. Juli 1955, SAPMO-BArch NY 4036/278, Bl. 245 und Norden, Ein deutsches Arbeiterleben. Erpenbeck, Wilhelm Pieck, S. 50. Siehe im Zusammenhang solcher Übertreibungen auch Ackermann, Wilhelm Piecks patriotischer Kampf, S. 52. Offene Erwähnung findet die Operation der Krampfadern in Bartel, Walter: Wilhelm Pieck. Präsident der Deutschen Demokratischen Republik. Kurze Lebensbeschreibung. [Berlin 1949], S. 13. Siehe Köhler, Beziehungen des französischen Geheimdienstes, S. 208 und beispielhaft Schreiber, Über Wilhelm Piecks journalistische Tätigkeit in Holland, S. 3 f.
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dass Pieck in den Niederlanden die „Geschäfte des ,Deuxième Bureau‘“, also des französischen Militärgeheimdienstes, besorgt habe.¹⁹⁶ Zwei Jahre später veröffentlichte der niederländische Autor und Publizist Silvio van Rooy (1924– 1982) unter dem Pseudonym Piet Lingbeek einen Pieck in Holland betitelten Artikel über das bis dahin wenig beleuchtete Kapitel im Leben des Präsidenten der DDR. Er erschien in der Zeitschrift Ost-Probleme, die von der Pressestelle der US-Botschaft in Bonn herausgegeben wurde und darauf zielte, „die mannigfaltigen und wichtigen Probleme zu klären, die der Kommunismus der abendländischen Welt stellt“.¹⁹⁷ Van Rooy bemühte sich darum, die Darstellung des DDR-Präsidenten als „Patrioten“ als scheinheilige Propaganda zu enthüllen, zeige seine Tätigkeit in der Emigration doch, „daß der heutige ,Patriot‘ Pieck im Ersten Weltkrieg als Agent eines ,bürgerlichen‘ Staates tätig war, der sich mit Deutschland im Kriegszustand befand“ und „daß der große ,Entlarver westlicher Agenten‘ selbst für Frankreich Spionage trieb“.¹⁹⁸ Niederländische, deutsche und englische Textfassungen sollten dafür sorgen, dass der Artikel weite Verbreitung fand. Eingang in die großen Blätter erhielt er aber offenbar nicht. So schrieb der SPIEGEL-Redakteur Hans Dieter Jaene (1924– 2004): „Leider im Augenblick nichts zu machen – Thema zu abseitig.“¹⁹⁹ Dass Piecks Kontakte zum französischen Geheimdienst in den Veröffentlichungen der DDR verschwiegen wurden, zeigt jedoch, dass van Rooy einen wunden Punkt getroffen hatte. Als Episode einer „nationalen“ Heldengeschichte, die ein propagandistisches Integrationsangebot für die deutsche Nachkriegsgesellschaft entwarf und den jungen Staat der DDR mit einer legitimierenden Vergangenheit versorgte, eigneten sich diese Kontakte jedenfalls nicht. Dafür dürften sie den verbreiteten zeitgenössischen Vorstellungen „patriotischen“ Handelns zu deutlich widersprochen haben und allzu geeignet gewesen sein, den traditionsreichen Vorwurf an die Kommunisten, „Vaterlandsverräter“ zu sein, neue Nahrung zu geben. Der heroische Duktus, der in den Schilderungen aus Piecks Soldatenzeit vorherrscht, mag erklären, warum auch ein anderes Ereignis keine öffentliche Darstellung fand: seine Begegnung mit dem preußischen Kronprinzen in Lothringen am 1. Mai 1916. Zwar ließ sich die Szene im Rückblick als ein symbolhaftes Aufeinandertreffen von Vergangenheit und Zukunft lesen, war Wilhelm von
Wilhelm Pieck – der Imperialist. In: Deutsche Rundschau 79 (1953), H. 7, S. 755 f. Ost-Probleme 25/26 (1955), S. 1020. Linbeek, Piet: Pieck in Holland. In: Ost-Probleme 25/26 (1955), S. 1010 – 1012, hier S. 1012. Siehe auch Schröder, Joachim: Einleitung. In: Ochel, „Was die nächste Zeit bringen wird, sind Kämpfe.“, S. 7– 27, hier S. 25. Archief Silvio van Rooy, inventory number 95, International Institute of Social History, Amsterdam.
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Preußen mitsamt der Hohenzollernmonarchie doch längst Geschichte, Wilhelm Pieck hingegen der Präsident des ersten „Arbeiter- und Bauernstaates“ auf deutschem Boden. Sie führte aber keinen der heldenhaften Augenblicke und Opfer des „Kampfes der Linken gegen Imperialismus und Krieg“ vor Augen, sondern einen der Momente der Ohnmacht, wie sie Wilhelm Pieck im Krieg immer wieder erfahren hatte.
Norman LaPorte
„Legenden haben ein zähes Leben“: Ernst Thälmann, der Erste Weltkrieg und Erinnerung in der DDR Bis das Buch Ernst Thälmann. Eine Biographie 1979 erschien existierte überhaupt keine wissenschaftliche Biografie von dem ehemaligen KPD-Führer in der DDR. Ein Autorenkollektiv von zehn Mitarbeitern des Instituts für Marxismus-Leninismus (IML), geleitet vom Direktor Günter Hortzschansky, stellte dieses Werk zusammen.¹ Diese verspätete Publikation ist um so mehr überraschend, wenn man die Bedeutung Thälmanns für die Errichtung einer offiziellen Betrachtung der Vergangenheit seitens der SED in Betracht zieht. Als die Verkörperung heldenhafter anti-faschistischer Opferbereitschaft – man könnte fast Martyrium sagen – war sein Bild ständig vorhanden im „anti-faschistischen Staat“ der DDR und es prägte eine breite Palette von Gedächtnisstätten einschließlich Filmen, Ausstellungen, Denkmälern und Straßennamen und selbstverständlich auch Zeitungsartikeln und Schulbücher.² Es gab eine große Zunahme während der Sechzigerjahre in der Vermarktung von Veteranenbiografien seitens des IML, nicht nur um eine sozialistische Tradition zu erfinden, sondern auch um die Herrschaft der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) zu legitimieren.³ Jedoch wurden nur ein paar eher unwissenschaftliche Broschüren während dieser Zeit herausgebracht. Die berühmteste dieser Produktionen war die Schrift Ernst Thälmann, von Willi Bredel.⁴ Horst Naumann, ein Mitglied des oben erwähnten Autorenkollektivs, wurde von der Partei mit der Arbeit an der Thälmann-Biografie betraut. Er behauptete in einem Artikel, gedruckt in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft im Jahre 1976, dass bis zu jenem Datum eine wissenschaftliche Untersuchung über Thälmanns Leben aufgrund eines Mangels an Dokumentation über die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg und gleich danach nicht möglich war.. Diesen Nachteil konnte jetzt
Hortzschansky, Günter [u. a.]: Ernst Thälmann. Eine Biographie. Ost-Berlin 1979. Lemmons, Russell: Hitler’s Rival. Ernst Thälmann in Myth and Memory. Kentucky 2013. Über die Rolle des IML in der Benutzung von Veteranenbiografien und die Ausarbeitung einer Meistererzählung, siehe Epstein, Catherine: The Last Revolutionaries. German Communists and their Century. Harvard 2003, S. 2– 10, 188 – 196. Bredel, Willi: Ernst Thälmann. Ein Beitrag zu einem politischen Lebensbild. Ost-Berlin 1948. Über die Brüche im allgemeinen, siehe Börrnert Rene: Ernst Thälmann als Leitfigur der kommunistischen Erziehung in der DDR. Braunschweig 2002, S. 17– 21. https://doi.org/10.1515/9783110710847-004
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erfolgreich überwunden werden.⁵ Aber Originaldokumente in den Archiven enthüllen, dass der eigentliche Stolperstein woanders lag. Die Dokumentation bezüglich der Kriegsjahre Thälmanns war nicht im Einklang zu bringen mit dem schablonenhaften Vorbild eines kämpfenden Kriegsgegners. Thälmann war nicht geeignet, in die spartakistische Tradition eingefügt zu werden, und außerdem wurde er nicht inspiriert von der Oktoberrevolution. Dieses Faktum wurde schon Anfang der fünfziger Jahre offenkundig, zu einem Zeitpunkt, an dem eine wissenschaftliche Biografie erstmals in Erwägung gezogen wurde. Rudolf Lindau war ein langjähriges Mitglied der Partei, ein Propagandist mit sowjetischer Ausbildung, und auch ein persönlicher Bekannter Thälmanns, den er während seiner Zeit in Hamburg getroffen hatte. Im Jahre 1951 gab Wilhelm Pieck Lindau den Auftrag, das notwendige Archiv zusammenzubringen, auf dessen Grundlage die erste wissenschaftliche Biografie geschrieben werden könnte.⁶ Im Gegensatz zu Bredel, lehnte Lindau es ab, die Vergangenheit Thälmanns einfach zu verfälschen und eine auf vorherige parteioffizielle Veröffentlichungen (insbesondere in Bezug auf Thälmanns Kriegsjahre) gestützte Biografie zu schreiben. Die Frage erhebt sich, warum er stark genug war, dem Druck der Partei in dieser Angelegenheit zu widerstehen. Eine Suche nach der Ursache seiner Widerstandsfähigkeit wirft ein Licht auf den Aufbau der offiziellen Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in der DDR und auch auf die prägende politische Kultur des SED-Regimes bis in die Sechzigerjahre. Im öffentlichen Bereich, nicht zuletzt in Parteiveröffentlichungen, die auf die Vermittlung sozialistischer Werte an die Jugend ausgerichtet waren, wurde Thälmann als antimilitaristischer und antiimperialistischer Aktivist in der spartakistischen Tradition dargestellt. Die politische Kultur des Stalinismus war trotzdem nicht monolithisch, auch in der Ära Ulbrichts nicht. Parteiveteranen wie Lindau, die die „Großen Säuberungen“ in der Sowjetunion überlebt hatten, waren häufig bereit, gegen die Orthodoxie der Partei zu opponieren. Mitte der Fünfzigerjahre nahm diese Bereitschaft zu, im Zusammenhang mit den Auswirkungen des zeitgenössischen Entstalinisierungsprozesses, der eine Lockerung der Einschränkungen der Geschichtsschreibung mit sich brachte.⁷ Zu den SED-Mitgliedern zählten Genossen, die verschieden sozialisiert wurden und verschiedene Lebenserfahrungen hatten. Dieses Spek-
Naumann, Horst: Ernst Thälmann im ersten Weltkrieg und in der Novemberrevolution. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 24 (1976), S. 1425, Anmerkung 1. Siehe der Briefwechsel zwischen Pieck und Lindau, in SAPMO-BArch, NY 4036/625. Epstein, Last Revolutionaries, S. 8; siehe Schröder, Jürgen: Rudolf Lindau (1888 – 1977). In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung (1997), S. 271– 293, für einen biografischen Artikel über Lindau, der seinen wiederholten Widerstand gegen die Eingriffe Walter Ulbrichts in die Geschichtsschreibung unterstreicht.
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trum umfasste erstens Individuen, die während der Nazi-Zeit und der Kriegsjahre in Moskau waren, und die an dem anti-faschistischen Kampf im Exil teilgenommen hatten; zweitens Stalinisten, die in der Weimarer Zeit Thälmann unterstützt hatten, drittens sogenannte „Rechtskommunisten“, die nach ihrer Abkehr von der Partei 1928/1929 mit der KPD-Opposition zusammengingen, und viertens Gründungsmitglieder der KPD die wie Lindau aus dem Kreis der Bremer Linksradikalen und nicht aus dem Spartakusbund stammten.⁸ Obwohl Ulbricht sich direkt in die Geschichtsschreibung hätte einmischen könnte, zeigt die Verwendung des Archivguts des IML, wie weit von monolitisch die SED und ihre Historiker bis in der 1970er-Jahren entfernt war.⁹
Thälmanns Erfahrungen im Ersten Weltkrieg In August 1914 und kurz danach hat Thälmann in Ortsversammlungen der Hamburger SPD den Krieg denunziert. So viel stimmt. Aber im Januar 1915 lief seine Einberufung ordentlich (wie auch sein Militärdienst in 1907). Er hatte überhaupt keinen Kontakt mit dem Kreis der marxistischen Linken in der SPD um Liebknecht und Luxemburg, die später in die Reihen der Spartakisten, oder, noch mehr in Hamburg, der Linksradikalen eingerückt sind – und mit ihrer politischen Analyse war er nicht vertraut. In der Vorkriegszeit war er ein militanter Gewerkschafter – das beweisen unter anderen seine Beiträge auf den Reichs-Kongressen des Deutschen Transportarbeiter-Verbandes (DTV), dessen Delegierter er ab 1912 war.¹⁰ Von Anfang 1915 bis zum Ende des Krieges ist er Artillerist an der Westfront gewesen; er war auf allen Hauptschlachtfeldern im Einsatz – u. a. an der Somme, Champagne und Aisne. Die regelmäßigen und kurzen Einträge in Thälmanns DTV-Notizkalender zwischen 1916 und 1918 erlauben uns, einen Einblick in seine
Lindau hat die Hamburger Linksradikale Gruppe mitbegründet, war eng verbunden mit Heinrich Laufenberg, dem ultralinken Führer der frühen KPD im Hamburg bis zur Parteispaltung von 1920, und hatte – bis zu seiner Einberufung zum Reichswehr als Armierungssoldat im Jahr 1916 – an kriegsgegnerischer Agitation in Hamburg im Untergrund teilgenommen. Siehe Schröder, Rudolf Lindau, S. 271– 273. Niess, Wolfgang: Die Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichtsschreibung: Deutungen von der Weimarer Republik bis ins 21 Jahrhundert. Berlin 2013, S. 337 f.; Weber, Hermann: Demokratischer Kommunismus? Zur Theorie, Geschichte und Politik der kommunistischen Bewegung. Hannover 1969, S. 206 ff. Eine ausführlichere Darstellung findet sich in LaPorte, Norman: Ernst Thälmann: The Making of a German Communist, 1886 – 1921. In: Moving the Social 51 (2014), S. 135 – 145.
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Kriegserfahrungen zu werfen.¹¹ Seine Hauptaufgabe als Artillerist war es, Munitionen zu transportieren und die Pferde zu pflegen, sowie gelegentlich Kurierdienst zu leisten. Am 19. September 1916 wurde Ernst Thälmann an der Somme schwer verletzt; er lag bis Ende Oktober im Feldlazarett. Andere Verletzungen und nicht näher bezeichnete Krankheiten – u. a. starkes Fieber und Durchfall – sind im Notizkalender häufig eingetragen, wie auch Giftgasangriffe und der Tod seiner Kameraden. Es war vielleicht das Bewusstsein seiner Sterblichkeit, das ihn in dieser Zeit bewog, einem Gottesdienst beizuwohnen. Seine Schilderungen der Barbarei in den Schützengräben stehen auf den Blättern dieses Notizkalenders in unbequemer Nachbarschaft zu Hinweisen auf Kartenspiel und Saufen, aber auch auf Lesen und das Schreiben von Briefen an Freunde und Familie. Es ist schwierig, den Zeitpunkt seiner Wiederkehr in die Reihen der Kriegsgegner genau zu etablieren. Trotz der Behauptungen in den SED-Biografien, wurde er nur wegen unpolitischer Angelegenheiten diszipliniert (z. B. wegen Unpünktlichkeit bei der Rückkehr aus dem Urlaub). Seine Frontkameraden kannten Thälmann, den Hitzkopf, nicht, sie kannten stattdessen Thälmann, den guten Frontkameraden. Sein Vater war eher völkisch veranlagt; aber anscheinend war das kein Hindernis dafür, dass die beiden ein enges Verhältnis zueinander hatten. Im Sommer 1918 hatte er eine Verabredung mit zwei USPD-Männern, Jacob Rieper und Alfred Henke. Thälmann hat seine Uniform bis zum Kriegsende getragen. Er war Teil einer Störungstruppe im Sommer 1918 und Mitte August wurde ihm das Eiserne Kreuz (Zweiter Klasse) verliehen. Die Briten und die Franzosen wurden in seinem Notizkalender immer als „Feinde“ bezeichnet. Am 11. November 1918, als Thälmann endlich wieder nach Hamburg zurückkehrte, war die November-Revolution schon im Gange. Er ist zwar ein einflussreicher Ortspolitiker im linken Flügel der USPD geworden, und, ab Ende 1920, wurde er Vertreter für Hamburg im ZK der Vereinigten Kommunisten Partei Deutschlands (VKPD). Aber sein Fronterlebnis war viel komplizierter als die SED je zugeben wollte. An Stelle von Einzelheiten darüber stand in der Literatur nur eine kurze politische Botschaft: „Die Schule der harten Kriegsjahre hatte Ernst Thälmann zum entschlossenen Revolutionär gemacht.“¹²
Eine Kopie dieses Notizkalenders befindet sich in SAPMO-BArch, NY 4003/2. Bredel, Ernst Thälmann, S. 36.
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Geschichtspropaganda in der DDR Als einer der führenden ostdeutschen Historiker des Ersten Weltkrieges räumte Fritz Klein ein, dass die DDR die Geschichtsforschung als ein Instrument für die ideologische Legitimation der Diktatur der SED benutzt hatte.¹³ Obwohl sich die Legitimität des Regimes hauptsächlich auf ein „anti-faschistisches“ Narrativ stützte,¹⁴ wies Klein zusätzlich auf den Wert des Ersten Weltkrieges als legitimierende offizielle „Meistererzählung“ hin. Es war der proto-kommunistische Flügel der Arbeiterbewegung – der Spartakusbund um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht – der gegen „Reaktion, Imperialismus und Krieg“ gekämpft hatte, während die Sozialdemokraten die Arbeiterklasse angeblich „verraten“ hatten, indem sie eine Position auf der Seite der deutschen herrschenden Klasse und des Imperialismus einnahmen.¹⁵ Fritz Zimmermann, ein Kollege von Klein an der Akademie der Wissenschaften, erinnerte sich, dass die Parteihistoriker verpflichtet waren, die DDR als die Erfüllung eines jahrhundertlangen Kampfes der revolutionären Arbeiter darzustellen.¹⁶ Die SED baute wissenschaftliche Akademien und Forschungsinstitute auf, insbesondere das IML, mit dem Ziel der Ausbildung einer neuen Historikergeneration, die der Partei helfen würde, ein neues historisches Bewusstsein zu schmieden.¹⁷ Eine der Hauptaufgaben des IML in der Erzeugung dieser Geschichtspropaganda bestand in der Zusammenstellung der Biografien führender Parteiveteranen.¹⁸ In dieser Hinsicht kamen zwei Kategorien in Betracht: erstens, Personen, die noch am Leben waren und jetzt leitende Stellen in der SED bekleideten, und zweitens, Genossen wie Thälmann, deren Leben ein Ende schon in den Kämpfen vor dem Aufbau der DDR gefunden hatte. Walter Ulbricht zufolge war Thälmann, abgesehen von August Bebel, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Wilhelm Pieck, der populärste Parteiführer des deutschen Sozialismus. Seine vorbildliche Rolle zeigte sich in einem unbeugsamen Kampf gegen Militarismus und Krieg und
Klein, Fritz: Der Erste Weltkrieg in der Geschichtswissenschaft der DDR. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 42 (1994) H. 4, S. 293 – 294. Lemmons, Hitler’s Rival, S. 4– 5, 277 f. Klein, Der Erste Weltkrieg, S. 293 – 294. Zimmermann, Fritz: 40 Jahre Beiträge zur Geschichte. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 40 (1998) 4, S. 3. Herbst, Andreas [u. a.]: So funktioniert die DDR. Bd.1, Reinbek 1994, S. 420 – 422. Siehe auch Jarausch, Konrad: The Failure of East German Antifascism: Some Ironies of History as Politics. In: German Studies Review 14 (1991) S. 88. Epstein, Catherine: The Politics of Biography: The Case of East German Old Communists. In: Daedalus 128 (1999) 2, S. 1– 30.
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in seiner Erkenntnis der Gültigkeit von Leninismus für die deutsche Arbeiterbewegung.¹⁹ Zwischen 1948 und 1961 spiegelte sich der Platz Thälmanns im Pantheon der SED-Helden in einer wachsenden Produktion von Material mit biografischen Einzelheiten seitens des IML. Dieses umfasste an den allgemeinen Lesern gerichtete Kurzbiografienien, Bände von Thälmanns Reden und Schriften, Aufsätze und Dokumente, die in der internen Zeitschrift des Instituts veröffentlicht wurden, Fotoalben und ein Erinnerungsband seiner ehemaligen Genossen. Thälmann fand auch einen Platz im mehrbändigen 1966 abgeschlossenen Werk Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. ²⁰ Das Muster für die Konstruktion des Thälmann-Bilds in der DDR was die frühe Hagiografie von Willi Bredel. Diese offizielle Arbeit bemächtigte sich des Lebens von Thälmann in Form von einem sehr ideologisierten Narrativ. Sie verwertete die Erinnerung an ihn, um ihn als einen wahren „Sohn des Volkes“ darzustellen, der in eine Familie von Sozialisten hineingeboren worden war und dessen politische Erfahrungen, Seite an Seite mit einfachen Arbeitern in den Werften von Hamburg, sein Klassenbewusstsein geschmiedet hatten. Seine Vorkriegserfahrungen garantierten, dass er in enger Berührung mit dem Volk blieb, auch nach dem 4. August 1914, der als Datum des Verrats der deutschen sozialdemokratischen Führer an den Massen dargestellt wurde. Thälmann habe sich auf dem leninistischen Weg des Widerstands gegen den imperialistischen Krieg gemacht und stehe in der Tradition des Spartakismus, eine Tradition, die sich in diesen ostdeutschen Erzählungen von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht bis Thälmann auf alle Veteranen der deutschen kommunistischen Bewegung der Zwischenkriegszeit erstreckte, die jetzt am Aufbau des Sozialismus arbeiteten – Wilhelm Pieck und, vor allem, Walter Ulbricht.²¹ Bredels Buch Ernst Thälmann war auch der Ausgangspunkt für zwei DEFA Filme, gedreht von Kurt Maetzig, nämlich Sohn seiner Klasse (1954) und Führer seiner Klasse (1955).²² Ein „Thälmann Kollektiv“ wurde im Sommer 1949 etabliert. Maetzig gehörte ihm an und Thälmanns Witwe, Rosa, erhielt eine beratende Rolle. Diese Gruppe hatte die Aufgabe, ein Epos sozialrealistischer Art zu schaffen, mit
Zitiert in Börnert, Ernst Thälmann, S. 19 – 20. Lemmons, Hitler’s Rival, S. 130, 277 f., 296 f. Bredel, Ernst Thälmann, S. 27– 37. Für eine ausführlichere Erörterung dieser Fragen, siehe Lemmons, Hitler’s Rival, S. 129 – 131, 277 ff. Russel Lemmons: „Great Truths and Minor Truths“: Kurt Maetzig’s Ernst Thälmann Films, the Antifascist Myth, and the Politics of Biography in the German Democratic Republic. In: John Davidson/Sabine Hake (Hrsg.): Framing the Fifties. Cinema in a Divided Germany, Oxford 2007, S. 91– 105.
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dem Ziel, ein möglichst breites Publikum zu inspirieren.²³ Der Stellenwert dieses Projekts stellt sich dar im riesigen Partei- und Staatsapparat, eingesetzt zur Organisierung der Erstaufführung im Berliner Friedrichstadt-Palast, zur Koordinierung der Medienaufmerksamkeit und zur Gewährleistung, dass jedes Mitglied einer SED-Basisorganisation die Filme nicht nur sehen, sondern auch „ausgewerteten“ und seine Bedeutung in den Betrieben oder in der Nachbarschaft betonen sollte.²⁴ Hinter den Kulissen gab es allerdings ernsthafte Auseinandersetzungen über den Inhalt des Films, und auch wiederholte Eingriffe seitens Walter Ulbricht. Letztendlich schnitt man die ersten drei Kapitel der Bredelschen Biografie aus dem Film Sohn seiner Klasse heraus. Die Anfangsszene des Films startete im November 1918 mit einem Aufstand in den Schützengräben an der Westfront gegen die Offiziere seiner Einheit, geführt von Thälmann, nachdem er die Nachricht über den Matrosenaufstand zu Kiel gehört hatte, der den Auftakt zur deutschen Revolution kennzeichnete!²⁵ Die Ähnlichkeit mit der Oktober-Revolution in Russland war offensichtlich, aber die geschichtliche Unrichtigkeit des Films störte andere Berater, einschließlich Rudolf Lindau, weil in Wirklichkeit die Deutsche Revolution sich nur an der Heimatfront ausgebreitet hatte.
Vorstöße in Richtung einer wissenschaftlichen Biografie Lindau hatte keine grundsätzlichen Einwände gegen die Verwertung der Thälmann-Legende als ein Mittel, die politische Botschaft der SED zu verbreiten. In den frühen Fünfzigerjahren hatte er tatsächlich Zeitungsartikel mit genau dieser Zielsetzung geschrieben.²⁶ Er war aber nicht bereit, die Vergangenheit zu verfälschen, soweit es sich von dem vermeintlichen aktiven Anti-Militarismus Thälmanns bevor und während des Ersten Weltkrieges handelte. Der Grund dafür, wie unten ausführlicher erklärt wird, war seine Weigerung, seine eigene politische Vergangenheit aus der Geschichtspropaganda der SED auszumerzen. Kurz nachdem er den Auftrag erhalten hatte, die erste wissenschaftliche Biografie von Thälmann zu verfassen, schrieb er nicht nur an Ulbricht sondern auch an Pieck,
Siehe den Briefwechsel in SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/9.07/124. Plan zur Vorbereitung und Werbung zum Thälmannfilm I – ideologische und organisatorische Gesichtspunkte, [o. D.: 1954], in SAPMO-BArch, SgY 30/0577. Lemmons, Hitler’s Rival, S. 160 – 165. Siehe die Handschriften in SAPMO-BArch, Sg Y 30/0577.
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um die beiden über eine Reihe langjähriger Mythen in der biografische Behandlung von Thälmann seitens der Partei zu informieren, besonders hinsichtlich seines angeblichen Anti-Militarismus vor und während des Ersten Weltkrieges.²⁷ Mit diesen Briefen beginnt Lindaus anhaltender, aber letzten Endes erfolgloser Feldzug gegen den „Thälmann-Mythos“. Er beteuerte nachträglich, dass der Zweck dieser Kampagne „sachliche Richtigkeit“ und „Wachsamkeit auf der ideologischen Front“ war.²⁸ Die Ungenauigkeiten, die Lindau zu korrigieren versuchte, wiederholen sich konsequent durch die ganze Dokumentation hindurch und beziehen sich auf gewisse Schlüsselthemen: Die Teilnahme Thälmanns an der Verteilung von Flugblättern an Matrosen auf dem Schlachtschiff „Karl der Große“ im Jahre 1908 ist eine Lüge. Das Schiff wurde nicht auf der Schiffswerft „Germania“ in Hamburg, sondern in Kiel repariert, und außerdem ist der Fall, dass Matrosen sich auf dem Schiff befanden sehr unwahrscheinlich: sie hätten keine Erlaubnis bekommen können, das Hafenviertel von St. Pauli zu durchstreifen. Thälmann missbilligte zwar die Unterstützung des Krieges durch die SPD, aber im Januar 1915 war er nur ein lokaler Delegierter und nicht zu Parteiversammlungen auf der städtischen Ebene delegiert. Lindaus Kenntnisse stützen sich auf persönliche Kontakte mit Thälmann zu jener Zeit. Thälmann war nicht in der Lage, die Bremer Bürgerzeitung oder spartakistische Literatur an der Westfront zu erhalten, weil die Post von den militärischen Zensurbehörden geprüft wurde. Ferner, war „Zellenarbeit“ an der Front unmöglich, und Lindau bezweifelte auch die Wahrscheinlichkeit, dass Thälmann auf verschiedenen geheimen politischen Treffen während seines Fronturlaubs anwesend war. Die Behauptung, dass Thälmann Beziehungen mit führenden Spartakisten hatte, war auch ein Mythos: Der Spartakusbund war in Hamburg nicht organisiert. Die Stadt schickte radikale Delegierte zu der Reichskonferenz der Gruppe Internationale im Jahr 1916, einschließlich Lindaus selbst.²⁹ Thälmann hatte die politischen Broschüren Lenins auch nicht lesen können, obwohl andere Veröffentlichungen das behauptet hatten, um eine frühe Verbindung Thälmanns zum Bolschewismus zu beweisen.³⁰
Andere Briefe an und von Lindau bestätigen diese Briefe von Lindau an Ulbricht und Pieck. Siehe Lindau an Dohm, 9. 4. 1952, in SAPMO-BArch, NY 4036/625, Bl. 28; Büro Pieck an Lindau, 24. 1. 1953, in SAPMO-BArch, NY 4036/625 (Nachlaß Pieck), Bl. 35. Lindau, Rudolf: Bemerkungen über die Arbeit des Gen. D. S. Dawidowitsch, [o. D: 1973], in SAPMO-BArch, DY 30/33885, Bl. 3. Siehe Schröder, Rudolf Lindau, S. 272. Siehe, zum Beispiel, Lindau, An die Direktion des Instituts für Marxismus-Leninismus. Betr.: Schädliche Legenden über Ernst Thälmann, 13. 11. 1972, in SAPMO-BArch, DY 30/33885, Bl. 1– 2.
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Lindau entdeckte die ursprüngliche Quelle dieser Thälmann-Mythen in einer Kurzbiografie, die von dem kommunistischen Publizisten Paul Maslowski geschrieben wurde und von einem „bürgerlichen Herausgeber“ während der Präsidentschaftswahl von 1932 veröffentlicht wurde.³¹ Er hatte das Buch Maslowskis in der Bibliothek der Kommunistischen Internationale während seine Zeit als Student an der Lenin-Schule in Moskau Mitte der 1930er-Jahre entdeckt und andere Studenten gewarnt, dass das Buch Fehler enthalte. Diese Fehler hatten dennoch in andere Handschriften Eingang gefunden – zum Beispiel in dem Entwurf einer Biografie von Wilhelm Florin – ebenso wie in Materialien, die von ausländischen Parteien in den 1930er-Jahren herausgegeben wurden. Nach 1945 schlichen sie, in einer noch übertriebeneren Form, in die Geschichtspropaganda der DDR hinein.³² In den frühen 1950er-Jahren schlug Fred Oelßner vor, dass man eine öffentliche Erklärung herausgeben solle, zwecks Richtigstellung dieser Dinge. Lindau aber, beraten von Wilhelm Pieck, lehnte das strikt ab: Er wollte verhindern, dass Willi Bredel, der sich auf Maslowskis früherer Veröffentlichung stützte, an irgendwelchen „unerwünschten Folgen“ leiden würde.³³ Von Anfang an, versuchte Lindau die schnelle Herausgabe einer „wissenschaftliche Biografie“ zu verhindern. In einem Brief an Bernhard Dohm, den SEDParteisekretär im IML, beschwerte er sich, dass er keine Antwort, weder vom Politbüro noch vom ZK-Sekretariat, auf seine ausführlichen Vorschläge für die Biografie erhalten habe. Eine solche Arbeit, fuhr er fort, würde gewöhnlich von einem Autorenkollektiv geschrieben, und die erheblichen Dimensionen der Aufgabe verlangten die Einbeziehung wissenschaftlicher Mitarbeitern. Er beklagte auch den unzureichenden Zugang zum geschichtlichen Archiv der KPD, das in Moskau untergebracht war. Das Ergebnis dieser Beschwerde im April 1952 war, dass Ulbricht Dohm mit der Sammlung und Auswertung der vorhandenen Do-
Maslowski, Paul: Ernst Thälmann. Männer und Macht. Leipzig 1932. Das Belegmaterial verdeutlicht nicht, ob Maslowski auf eigene Faust gehandelt hat oder nicht, es ist aber wahrscheinlich, dass die Parteileitung ihm diesen Auftrag gab, weil er erst 1938 aus der Partei ausgeschlossen wurde. In der DDR war er eine Unperson, ausgelöscht von der parteigenehmigten Geschichte der Zwischenkriegszeit. Siehe Kopke, Christoph: Peter Maslowski im Exil – Antifaschismus und Antistalinismus. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 45 (2003) 4, S. 157– 169. Lindau an Dohm, 9. 4. 1952, in SAPMO-BArch, NY 4036/625, Bl. 29 – 30. Fred Oelßner und auch andere SED-Führer sind einer Parteisäuberung 1958 zum Opfer gefallen, weil sie versuchten, den politischen Spielraum, der durch die Entstalinisierungspolitik Nikita Chruschtschows gegeben war, zu erweitern. Siehe Grieder, Peter: The East German Leadership, 1946 – 1973: Conflict and Crisis. Manchester 1999, S. 115.
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kumentation über das Leben Thälmanns beauftragte. Es war ein erster Schritt in der Richtung einer „wissenschaftlichen“ Biografie.³⁴ Die zusammengestellte Dokumentation wurde 1954 als eine Serie von Bänden unter dem Titel Ernst Thälmann. Reden und Aufsätze herausgegeben. Die Auswahl der Dokumente wurde einer Kommission anvertraut, an der Lindau natürlich teilnahm. Andere Mitglieder waren führende SED-Politiker wie Hermann Matern, Kurt Hager und Erich Paterna. Rosa Thälmann war auch dabei. Die Hauptarbeit wurde aber unter der Aufsicht von Lindau durchgeführt. Zwei wissenschaftliche Mitarbeiter wurden ihm zur Verfügung gestellt – Charlotte Erxleben und Wolfgang Arlt – und drei Studenten von der Parteihochschule, die den Auftrag erhielten, die Zeitungen „durchzukämmen“, um entsprechende Materialien herauszufinden.³⁵ Als die Kommission von sechs aus der Periode vor 1918 aus dem Hamburger Echo stammenden Artikeln Kenntnis nahm, entschied sie, dass die Artikel nicht benützt werden sollten, weil sie nicht zu der ideologischen Linie passten.³⁶ Der Mangel an brauchbarem Material führte zu einer Auseinandersetzung darüber, wie man am besten in der Zukunft vorgehen sollte. Die Kommission richtete sich nach der Praxis von anderen kommunistischen Parteien des Sowjetblocks. Sie zog eine „redaktionelle Überarbeitung“ in Erwägung, und Arlt fragte, ob es möglich wäre, eine „Streichung theoretisch ungenauer oder fehlerhafter Formulierungen“ von Thälmann oder anderen, die ihn kommentierten, vorzunehmen.³⁷ Andere Debatten bezogen sich auf die Zweckmäßigkeit einer Verstärkung gewisser Abschnitte, in Anbetracht der Bedeutung von Thälmanns Schriften für die gegenwärtige Kämpfe der DDR.³⁸ Das endgültige Ergebnis war folgendes: Weil es „keine zuverlässige Quellen für die Periode zwischen 1908 und Mai 1919“ gab, wurde der Anfang des ersten Bands der Reden und Aufsätze mit Juni 1919 festgelegt, und
Lindau an Dohm, 9. 4. 1952, in SAPMO-BArch, NY 4036/625, Bl. 29030. Trotz wiederholter Anfragen blieb das geschichtliche Archiv der KPD in Moskau für Lindau unzugänglich. Siehe Ludwig Einicke, Protokoll über die Beratung mit Gen. Rudolf Lindau am 31. März 1958, in SAPMOBArch, DY/30/IV 2/9.07/155, Bl. 106 – 108. Aus dem Protokoll Nr. 156 der Sitzung des Sekretariats für Gen. Oelßner, Hager, Matern, Dohm, Wolff, Trautzsch, 24. 4. 1952, in SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/9.07/124, Bl. 2– 4. Beschlüsse der Thälmann-Kommission in der Sitzung vom 13. November1952, in SAPMOBArch, DY 30/IV 2/9.07/124, Bl. 13. Bericht der Kommissionssitzung am 10. 6. 1953. Betr.: Reden und Aufsätze des Gen. Ernst Thälmann, in SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/9.07/124, Bl. 28 – 29. Einicke an Gen. Richard Herber, Sekretariat Einicke, 24. 1. 1955, in SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/ 9.07/124, Bl. 99.
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Bezugnahmen auf Thälmanns Erfahrungen während des Ersten Weltkrieges würde man unterlassen.³⁹ Das einzige biografische Werk aus der Feder Lindaus war aber nicht eine großangelegte akademische Studie, sondern eine 35-seitige Broschüre.⁴⁰ Der notwendige wissenschaftliche Fußnotenapparat einer akademischen Untersuchung fehlte völlig. Der Zweck der Broschüre bestand darin, nach Lindaus eigener Aussage, den Thälmann-Mythos, der in Parteiveröffentlichungen seit den letzten Tagen der Weimarer Republik fortgeschrieben wurde, zu korrigieren.⁴¹ In dieser Weise erschien eine alternative Fassung, ohne irgendwelche Hinweise auf fehlerhafte Aspekte vorheriger Veröffentlichungen. Wahrscheinlich konnten nur sehr wenigen Personen die „feinen“ Unterschiede erkennen. Der Abschnitt der Broschüre über die Periode vor dem Ersten Weltkrieg enthielt eine Erörterung über Thälmanns Erfahrungen als lokaler Gewerkschafter, die sein Misstrauen gegen die „reformistische“ Führer erzeugten, die sich von den Interessen ihrer Basismitglieder entfernt hatten. In der sicheren Überzeugung, dass er Recht hatte, bestritt Thälmann die „Kautskistische Lüge“, dass die sozialdemokratischen Massen auch von der Kriegsbegeisterung des Monats August 1914 berauscht wurden. Er blieb angeblich in engem Kontakt mit den „Massen der Kriegsgegner“, und, gleich nach der Zustimmung der SPD-Fraktion im Reichstag zu den Kriegskrediten, erzählte er einer Versammlung lokaler Aktivisten, dass sie „nach unten gehen müssen „, um unter den Massen von Arbeitern, die gegen den Krieg waren, zu agitieren. Diese Version hielt sich strikt an die Leninistische Linie, aber es gab überhaupt keinen Hinweis auf jegliche aktive oppositionelle Tätigkeit Thälmanns an der Westfront. Statt über seine vermeintlichen Verbindungen zu den Spartakisten zu schwafeln, behauptete die Broschüre ganz einfach, dass es keine organisierte Spartakistengruppe in Hamburg gab. Die Behauptungen, dass er Kopien der Bremer Bürgerzeitung und Spartakistenliteratur an der Front erhielt, dass er „Zellenarbeit“ betrieb, oder dass er sich während seiner Urlaubszeit an illegalen politische Versammlungen in Hamburg beteiligt hätte, fielen einfach weg. Diese Einzelheiten überspringend, beschrieb Lindaus Text gemächlich den politischen Aufstieg Thälmanns nach dem Krieg, zuerst in der USPD und dann in der KPD.⁴²
Vorbemerkung zum ersten Band, [o. D 1954], in SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/9.07/124, Bl.87– 88; siehe auch der Entwurf eines Nachworts für die Edition, SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/9.07/124, Bl. 442 ff. Lindau, Rudolf: Ernst Thälmann. Leben und Kampf. Ost-Berlin 1956. Lindau, Schädliche Legenden über Ernst Thälmann, 13. 11. 1972, in SAPMO-BArch, DY 30/ 33885, Bl. 1– 2. Lindau, Ernst Thälmann, S. 12– 13.
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Laut der Werbung, mit der die Herausgabe dieser Broschüre begleitet wurde, war es deren Absicht, die Weichen für eine fundierte wissenschaftliche Studie von Thälmanns Leben zu stellen. Das Ergebnis war anders: Lindau empfahl, das ganze Vorhaben aufzugeben.⁴³ Aber das IML war einer anderen Meinung, und Lindau wurde in der nächsten Zeit wiederholt nach dem Fortschritt seiner biografischen Arbeit befragt. Zwischen 1957 und 1962 wurde er mehrmals zu formellen Treffen unter dem Vorsitz des Institutsdirektors Ludwig Einicke eingeladen. Insbesondere am Ende des Jahres 1959 musste er vor der Zentralen Revisionskommission des Instituts über seine Aktivitäten in dieser Angelegenheit Bericht erstatten.⁴⁴ Von Anfang an wurde erheblicher Druck ausgeübt, um ihn zu überzeugen, seine Thälmann-Biografie weiterzuführen.⁴⁵ Der letzte Versuch, Lindau zur Verantwortung zu ziehen, fand 1962 statt. Die Untersuchung stellte fest, dass Lindau spätestens 1960 mit alle Vorbereitungen für die Biografie aufgehört hatte. Er war aber alles andere als untätig gewesen. In der Tat, hatte er sich der Aufgabe gewidmet, ein umfangreiches Archiv aufzubauen, einschließlich der Übertragung handschriftlichen Materials, eine besessene Ermittlung der Tatsachen und eine persönliche Befragung von Parteiveteranen.⁴⁶ Lindau konnte sich dieser unwillkommenen Aufgabe entziehen, teils aus gesundheitlichen Gründen, aber, noch wichtiger, auch dank seiner Beziehung zu führenden Mitgliedern der SED – insbesondere Wilhelm Pieck –, die er seit den 1920er-Jahren kannte. Die einzige Bestrafung, die er erleiden musste, war, dass das IML ihm zwang, den umfangreichen Nachlass von Thälmann aus seiner Wohnung in das Institutsgebäude zurückzubringen.⁴⁷
Ernst Thälmanns Leben war Kampf. Zu einer Thälmann-Biographie von Rudolf Lindau. In: Volksstimme, 28. 8. 1956, eine Kopie in SAPMO-BArch, Sg Y 30/0577, Bl. 28. Knittel, Zur Arbeit des Genossen Lindau, 12. 1. 1962, in SAPMO-BArch, Sg Y 30/0577, Bl. 373. Eine Zusammenfassung des Inhalts dieser Meetings befindet sich in Betr.: Genossen Prof. Dr. Rudolf Lindau, [o. D. 1962], in SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/9.07/155, Bl. 374– 381. Da es kein IMLFindbuch bis 2015 gibt, nahmen frühere Forscher an, dass Lindau nach einer Sitzung des Politbüros im Jahre 1953 seiner Rolle als Biograf Thälmanns enthoben wurde. Siehe Schröder, Rudolf Lindau, S. 287. Wolfgang Arlt, Über meine Tätigkeit bei Genosse Rudolf Lindau, 18. 1. 1962, in SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/9.07/155, Bl. 382; G. Liebscher, Bemerkungen zu meiner Arbeit als Assistent des Gen. Prof. Dr. Rudolf Lindau (1958– 1960), 18. 1. 1962, in SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/9.07/155, Bl. 385; Charlotte Erxleben, Über meine Tätigkeiten bei Gen. Lindau, 19. 1. 1962, in SAPMO-BArch, DY 30/ IV 2/9.07/155, Bl. 286 – 288. Einicke, Aktennotiz zur Beratung mit Gen. Rudolf Lindau am 2. April 1962, in SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/9.07/155, Bl. 451. Über die guten Beziehungen Lindaus mit Pieck im Laufe vieler Jahrzehnte, siehe Schröder: Rudolf Lindau, S. 277 f.
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In Juli 1958, mit Blick auf den 75. Jahrestages von Thälmanns Geburt, machte Lindau als eine Art Kompromiss den Vorschlag, einen redigierten Band von Reminiszenzen von Veteranen über ihre Begegnungen mit Thälmann herauszugeben. Als Rechtfertigung dieses Vorhabens wies er auf die Notwendigkeit hin, Parteiveteranen vor dem Sterben zu interviewen. Das wurde auch damit begründet, dass es nur so möglich sei, sachliche Fehler in der möglichen Produktion einer wissenschaftlichen Biografie zu vermeiden.⁴⁸ Das Institut erklärte sich mit der Ausführung der Interviews und der Herausgabe des Buchs einverstanden, betonte aber, dass dieses Projekt nicht als ein Ersatz für eine wissenschaftliche Biografie gesehen werden sollte, sondern als zusätzliche wertvolle primäre Quelle.⁴⁹ Die endgültige Fassung des Buchs umfasste 600 Seiten und beinhaltete 67 Beiträge. Die Aussagen von Parteiveteranen wurden instrumentalisiert, um einen heroischen Kult um den toten Kommunistenführer zu erfinden. Ernst Thälmann sei im Kampf gegen den Faschismus gestorben, damit die DDR sein Erbe im Aufbau des Sozialismus erfüllen könne.⁵⁰ Lindau konnte einen kleinen Erfolg verbuchen: Der Beitrag von Willi Bredel wurde in der endgültigen Fassung wegen „Ungenauigkeit“ und „Fehlern“ weggelassen. So die Erklärung, die Einicke seinen sowjetischen Kollegen in der Moskauer Akademie der Wissenschaften gab.⁵¹
Thälmann und die umstrittene Vergangenheit der SED Der Standpunkt Lindaus bezüglich der Thälmann-Biografie war mit breiteren Debatten in der SED und dem IML während der 1950er- und der frühen 1960erJahre verbunden. Es gab, in Bezug auf der DDR-Geschichtsschreibung des Ersten Weltkriegs, drei ineinander verwobene Themen: Erstens der vermeintliche Verrat der SPD-Führung gegenüber ihren kriegsgegnerischen Mitgliedern an der Basis; zweitens die Herausbildung einer politischen Strömung aktiver Gegner des Militarismus, inspiriert von Lenin, und drittens die Eigenart und Periodisierung der
Lindau an die IML, 27. 7. 1958, in SAPMO-BArch, DY/30/IV 2/9.07/155, Bl. 182. An Gen. Sepp Hahn, Zentrale Revisionskommission, 24. 11. 1958, in SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/9.07/124, Bl. 362. IML (Hrsg.): Deutschlands unsterblicher Sohn. Erinnerungen an Ernst Thälmann. Ost-Berlin 1961. Einicke an Drabkin [Akademie der Wissenschaft der USSR], 19. 1. 1961, in SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/9.07/124, Bl. 371– 372.
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November-Revolution.⁵² Die Periode der Entstalinisierung Mitte der 1950er-Jahre verlangte eine erneute Überprüfung der stalinistischen Auslegung der Geschichte, und ermöglichte diese drei Debatten. Jürgen Kuczynski war ein wichtigster Initiator dieses heftigen Streits.⁵³ Er erhob seine Stimme 1956 zugunsten größerer „Sachlichkeit“ in der marxistisch-leninistischen Geschichtsschreibung und forderte weniger Eingriffe von Seiten der SED und Walter Ulbrichts im Interesse der Auferlegung einer politischen Linie. Im darauffolgenden Jahre verärgerte er die SED mit seinem Buch Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in dem er das Argument hervorbrachte, dass nicht nur die SPD-Führung, sondern auch die breite Masse der Anhänger der SPD ihre Unterstützung für den Kriegseintritt im August 1914 gegeben hatte. Diese Debatte endete mit einer Parteirüge für Kuczynski und eine Mahnung an die DDR-Wissenschaftler, dass sie „Parteihistoriker“ waren, und dass es ihre Rolle sei, die Vergangenheit mit den gegenwärtigen politischen Kämpfen der SPD in Einklang zu bringen.⁵⁴ Nachdem sich die SED-Führung über diese Ereignisse ausgesprochen hatte, widerrief die überwiegende Mehrheit der ostdeutschen Historiker ihre Anschauungen in selbstkritischer Weise.⁵⁵ Lindau machte eine Ausnahme. Als Veteran, der sich an diesen Ereignissen beteiligt hatte, fühlte er sich ermächtigt, seine eigene Meinung auszusprechen. Es war sein hauptsächliches Ziel, die Anerkennung der Bedeutung der Bremer Linksradikalen zu erreichen, in Gegensatz zu der gewöhnlich ausschließlichen Fokussierung auf die Spartakusgruppe. Er wollte also die Anerkennung einer politischen Strömung, die während des Krieges und der darauffolgenden deutschen Revolution dem Leninismus ideologisch am nächsten war.⁵⁶ Für eine ausführliche Darstellung ostdeutscher Geschichtsschreibung, siehe Dorpalen, Andreas: German History in Marxist Perspective. The East German Approach. London 1985, insbesondere S. 287 ff., 313, 317 ff. S. in diesem Band den Beitrag von Paul Maurice „Parteilichkeit und Objektivität in der Geschichte“. Die Rezeption der Thesen Jürgen Kuczynskis über den „Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie“ (1957). Geißler, Anke: Für eine Neuorientierung der DDR und ihrer Geschichtswissenschaft – Jürgen Kuczynski und die Kontroverse um sein Buch „Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie. Chronik und Analyse“ Mitte der 1950er Jahre. Berlin 2011 (HellePanke Hefte zur DDR-Geschichte 124); Stibbe, Matthew: Reactions from the Other Germany. The Fischer Controversy in the GDR. In: Journal of Contemporary History, 48 (2013) 2, S. 319; Dorpalen, German History in Marxist Perspective, S. 320. Der Umschwung der Linie der Zeitschrift „Beiträge zur Geschichte“ nach dem Eingreifen Ulbrichts bezüglich der November-Revolution ist als Beispiel angeführt in: Zimmermann, 40 Jahre Beiträge zur Geschichte, S. 8 – 9. Der Index zu der umfangreichen Behandlung Dorpalens von der ostdeutschen Geschichtsschreibung enthält kein Zitat über die Bremer Linksradikalen oder ihre leitenden Persönlichkeiten. Lindau bestand darauf, dass genaue Auskunft über diese Ereignisse nur von Veteranen zu
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Lindau beschäftigte sich in den frühen 1960er-Jahren kontinuierlich mit diesen Fragen. Er lehnte 1958 eine Einladung ab, die von der SED veröffentlichte Neuauflage der Spartakusbriefe zu rezensieren, mit der Begründung, dass die neue Edition nicht die gebührende Aufmerksamkeit der Bedeutung der Bremer Linksradikalen geschenkt hätte.⁵⁷ Er wies ferner auf eine Serie sachlicher Fehler hin, die er auf ein bedingungsloses Vertrauen auf das ursprünglichen Vorwort, das der ehemalige Kommunistenführer Ernst Meyer 1926 geschrieben hatte, zurückführte.⁵⁸ Er pochte auch darauf, dass Rosa Luxemburg eine „anti-Leninistische Stellung“ hinsichtlich des „Versagens der Massen“ und ihrer Theorie von der Spontaneität, im Gegensatz zu der Bedeutung der revolutionären Partei, eingenommen hatte. Solche Positionen, sagte Lindau, sollten nicht ohne eine vorherige Entgiftung durch die Hinzufügung einer marxistisch-leninistischen Erklärung in Druck gegeben werden. Durch die Unterlassung einer solchen Richtigstellung würde die Gefahr einer mangelnder ideologischen Klarheit im IML entstehen. Er bestand darauf, dass, die „zukunftsorientierteste“ und ideologisch fortschrittlichste Tendenz bei den Bremer Linksradikalen zu finden war. Während des Krieges hatten die Linksradikalen den Leninismus angenommen. Geführt von Johann Knief, waren die Linksradikalen – im Gegensatz zu den Spartakisten – nicht der USPD beigetreten, und demzufolge dem Einfluss des Zentrismus nicht ausgesetzt gewesen. In einer kontinuierlichen Debatte mit seinen Kollegen vom IML etablierte sich Lindau als eine Autorität in Sachen Leninismus; er konnte Kapitel und Vers aus den gesammelten Werke Lenins zitieren, und verwies auf die Leninsche Kritik von, zum Beispiel, der Junius-Broschüre der Spartakisten.⁵⁹ Auf der gleichen Linie, lehnte Lindau es ab, das Eingreifen Ulbricht in der Sache der November-Revolution zu akzeptieren. Er Argumentierte, dass die Revolution nicht mit der Unterdrückung der Kämpfe in Berlin in Januar 1919 geendet hatte. Er unterstrich stattdessen, dass eine revolutionäre Situation bis zum Frühjahr 1919 bestehen geblieben war, also bis zur Niederschlagung der Münchner Räterepublik, und auch die Ereignisse auf Reichsebene gebührende Aufmerksamkeit den Entwicklungen an der Ruhr, in Bremen, in Hamburg und in
erhalten sei. Siehe z. B. Persönlich. Einicke an Fritz Knittel. Betr.: Vorwort für Spartakusbriefe. Telephongespräch mit Genossen Rudolf Lindau am 14. 8. 1958, in SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/9.07/ 155, Bl. 143. Einicke, Betr.: Vorwort für Sprtakusbriefe. Telephongespräch mit Genossen Rudolf Lindau am 14. 8. 1957, in SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/9.07/155, Bl. 143. Heinz Neugebauer, Erklärung zur Herausgabe der Spartakusbriefe, 1. 7. 1959, in SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/9.07/155, Bl. 164– 165. Rudolf Lindau, Bemerkungen zu den Dokumentenbänden in der Sitzung des wissenschaftlichen Rates des IML am 18. Oktober 1960, in SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/9.07/155, Bl. 260 – 266.
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Mitteldeutschland schenken sollten.⁶⁰ Nach Ulbrichts Intervention erklärten einige verantwortliche Kollegen im IML Lindau, dass sein Benehmen „eines Parteihistorikers nicht würdig“ sei, und dass seine Arbeit der Partei in ihren jetzigen Kämpfen behilflich sein soll sie mussten jedoch zugeben, dass er ein „klares Verständnis von der Wichtigkeit der Existenz einer erfahrenen revolutionären Partei“ habe.⁶¹ Bezeichnenderweise, und trotz dieser Angriffe, gestattete das IML 1960 die Herausgabe von Lindaus Buch Revolutionäre Kämpfe beim Dietz-Verlag, dem Verlagshaus der SED, unter seiner „eigenen Verantwortung“. Das Buch war im Wesentlichen eine Überarbeitung seiner früheren Schriften, zurückreichend bis zu seiner Rolle in der Herausgabe der Illustrierten Geschichte der deutschen Revolution 1929. Diese Episode zeigt, dass Lindau sich weigerte, seine eigene politische Vergangenheit aufzugeben – auch wenn das einen Konflikt mit der SED bedeutete. Um die Jahreswende 1961/1962 wurde Lindau in einem Parteiverfahren zur Rechenschaft gezogen. Die Anklage lautete, dass er versucht habe, eine Plattform aufzubauen, um die Periodisierung von Ulbrichts „Thesen zur Novemberrevolution“ infrage zu stellen. Trotz seiner Unnachgiebigkeit, die er mit seiner Pflicht begründete, seine Anschauungen offen auszusprechen, überstand Lindau auch diese Schwierigkeiten, und arbeitete weiter im IML bis zu seinem Tod im Jahr 1977.⁶²
Die Geschichtswissenschaft als Dienstmädchen der SED? Auch nachdem Lindau von seiner unerwünschten Aufgabe, die erste wissenschaftlichen Biografie Ernst Thälmanns zu verfassen, entlastet wurde, blieb sein starkes Interesse an dem Thema erhalten. Zum Beispiel bat er um die Genehmigung, die „Thälmann-Zelle“ im Gefängnis Bautzen zu besuchen.⁶³ Später im Jahre 1972 und im Frühjahr 1973 spielte er eine maßgebliche Rolle bei der Verhinderung der Herausgabe einer Übersetzung einer Thälmann-Biografie, die von dem sowjetischen Historiker D. S. Dawidowitsch geschrieben wurde. Er wehrte sich in
Gutachten über die Arbeit: Rudolf Lindau, Revolutionäre Kämpfe 1918/19, Aufsätze und Chronik, Dietz Verlag, Berlin 1960, 2. 2. 1962, in SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/9.07/155, Bl. 423 – 435. Gutachten über die Arbeit, in ibid, Bl. 424. Siehe die Materialsammlung bezüglich des Parteiverfahrens, in SAPMO-BArch, DY 30/33884. Knitter, An des MdI, Abt.Strafvollzug, 26. 6. 1966, in SAPMO, BArch DY 30/IV 2/9.07/124, Bl. 176.
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einem Brief, den er persönlich an Erich Honecker schrieb.⁶⁴ In diesem Brief signalisierte er, dass Dawidowitsch, wie Bredel, seine Arbeit auf der in dem frühen Buch von Maslowski verbreiteten Legende aufgebaut habe.⁶⁵ Außerdem, fügte er hinzu, die Quellenbasis sei unzureichend: Zum Beispiel hätte Dawidowitsch Stellen aus Max Zimmerlings Kinderbuch über Thälmann zitiert. Auch hätte er Fotografien offensichtlich verfälscht, um frühere Kommunisten, die keinen Platz mehr in der Vergangenheit der Partei fanden, zu entfernen.⁶⁶ Das Eingreifen Lindaus war folgenreich. Er konnte Kurt Hager überzeugen, das IML anzuweisen, dass man eine Kommission etablieren solle, um die wissenschaftliche Leistung des Buches von Dawidowitsch zu überprüfen. Diese sogenannte „GutachtenKommission“ tagte unter dem Vorsitz von Günter Hortzschansky, dem Direktor des IML. Zuerst bevorzugte die Kommission einen Kompromiss, wobei die anfängliche Druckauflage von 17.000 Kopien des Buches verbreitet werden sollte, wie ursprünglich geplant. Man sollte aber keine zusätzliche Kopien drucken.⁶⁷ Die SEDFührung fällte am Ende eine andere Entscheidung: Es sollten keine Kopien verbreitet werden, und Vertreter des IML und des Dietz-Verlag sollten Dawidowitsch in Moskau besuchen, um ihm zu erklären, dass seine populäre Geschichte von Thälmann sich mit der geplanten wissenschaftlichen Biografie überschneiden würde.⁶⁸ Dawidowitsch war am Anfang erheblich überrascht, akzeptierte aber letztendlich die angegebenen Gründe.⁶⁹ Dieser Erfolg erweis sich aber als eher ein Pyrrhussieg für Lindau. Im Jahre 1973 errichtete das IML auf Anweisung der SED-Führung ein aus zehn Mitarbeitern bestehendes Autorenkollektiv, unter dem Vorsitz des Institutsleiters Günter Hortzschansky, und betraute es mit der Aufgabe, eine wissenschaftliche Biografie von Ernst Thälmann zu verfassen. Im Gegensatz zu früheren Veröffentlichungen wurde ein umfangreicher wissenschaftlicher Apparat von Fußnoten und Zitierungen aus archivalischen Quellen in Aussicht gestellt.⁷⁰ In dieser Weise triumphierte der Schein über den Inhalt. In einem Interview nach dem Zusammenbruch
Rudolf Lindau, Bemerkungen über die Arbeit des Gen. D. S. Dawidowitsch, in BArch DY 30/IV 2/9.07/124; Günter Henning an Kurt Hager, 22. 11. 72, in SAPMO-BArch, DY 30/33885, Bl. 1– 2. Rudolf Lindau, Bemerkungen über die Arbeit des Gen. D. S. Dawidowitsch, in SAPMO-BArch, DY 30/33884, Bl. 2. Lindau an die Direktion des IML, Gen. Heyden, Gen. Diehl, 7. 1. 1973, in SAPMO-BArch, DY 30/ 33885, Bl. 1. IML, Abt.Geschichte, Stellungnahme zu: D. S. Dawidowitsch, Ernst Thälmann. Seite seines Lebens und Kampfes, Dietz Verlag, Berlin 1972, in SAPMO-BArch, DY 30/33885, Bl. 1– 4. Kurt Kager an Gen.Heyden, in SAPMO-BArch, DY 30/33885, Bl.1– 4. H. Karl, Notiz über eine Aussprache mit D. S. Dawidowitsch am 29. Mai 1973 in Moskau, in SAPMO-BArch, DY 30/33885, 4. 6. 1973, Bl. 1– 2. Lemmons, Hitler’s Rival, S. 279, 301– 303, 307.
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des Kommunismus, gab Hortzschansky zu, dass die Biografie auf historiografischen Traditionen basierte, die sich an der Biografie Bredels und den von Maetzig verfassten Filmen orientierten. Demzufolge leistete das Projekt einen wichtigen Beitrag zu der Geschichtspropaganda der DDR. Wie Lindau 1973 bedauerte, „haben Legende ein zähes Leben, wenn sie nicht öffentlich korrigiert sind“.⁷¹ Hätte er es sich vielleicht im Nachhinein gewünscht, dass er sich in den frühen 1950erJahren über die wirkliche Rolle Thälmanns im Ersten Weltkrieg öffentlich ausgesprochen hätte?
Schlussbemerkungen Obwohl Thälmann den Ersten Weltkrieg als „imperialistischen Krieg“ ablehnte, stand die SED einer Schwierigkeit gegenüber: Thälmanns gelebte Erfahrung war viel zu kompliziert für die von der Partei gewünschte Instrumentalisierung. Die SED wollte ihre Attraktivität stärken, die Legitimität der „sozialistischen Nation“ verankern und den Interessen ihrer gegenwärtigen politischen Kämpfe dienen, Kämpfe die nicht zuletzt von der Teilung Deutschlands an der Front des europäischen Kalten Krieges bestimmt wurde.⁷² Wie wir gesehen haben, ermöglichte es eine Anhäufung von Faktoren Lindau, auf seinen Ansichten zu beharren, gegen den Strom der historischen Orthodoxie Ulbrichts zu schwimmen. Der entscheidende Faktor dabei war das Moment der Entstalinisierung, das, ungeachtet seiner begrenzten Laufzeit in der DDR, Möglichkeiten für eine Neubewertung der stalinisierten Geschichtsschreibung Deutschlands eröffnet hatte.⁷³ Es ist kaum zu bestreiten, dass die ostdeutsche Geschichtsschreibung ihren Lauf unter dem Schatten Walter Ulbrichts nahm. Aber er fühlte sich weniger fest im Sattel, als zeitgenössische westdeutsche Beobachter wähnten.⁷⁴ Wie die Erzählung von Joachim Petzold, einem Insider, beweist, war die Gestaltung der Vergangenheit für die SED auch ein politisches Instrument, Ulbrichts eigene Stellung in seiner Partei zu untermauern, die tiefer gespalten war, als das vor-
Rudolf Lindau, Bemerkungen über die Arbeit des Gen. D. S. Dawidowitsch, SAPMO-BArch, DY 30/33885, Bl. 2. Eine wertvolle Erörterung der Versuche Ulbrichts, die Vergangenheit mit dem Ziel zu benutzen, um eine ostdeutsche Identität zu konstruieren, findet sich bei Berger, Stefan: Inventing the Nation. Germany. London 2004, S. 200 ff. Grieder, The East German Leadership, S. 114 ff.; Niess, Die Revolution von 1918/19, S. 337 ff. Siehe Weber, Demokratischer Kommunismus, S. 99.
Ernst Thälmann, der Erste Weltkrieg und Erinnerung in der DDR
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herrschende Bild zeigte. Die SED besaß keine monolithische Machtstruktur.⁷⁵ Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wurden diese Fragen von Fritz Klein aufgeworfen. Er betonte, dass man seine Kritik nur privat offen ausdrückte, zwischen Leuten, die einander vertrauten, gegen die Autorität der Partei konnte man nur in engen Grenzen agieren.⁷⁶ Lindau wirkte bei der Stalinisierung der KPD in den 1920er-Jahren mit, und, wie Jürgen Schröder unterstreicht, war er ein typischer Apparatschik und sein Standpunkt war weit von den Ansichten der Oppositionellen entfernt, die in der späten 1950er-Jahren den „Säuberungen“ zum Opfer fielen.⁷⁷ Dessen ungeachtet ist seine Weigerung, das Verhalten Thälmanns während des Ersten Weltkrieges so darzustellen, wie es von Ulbricht gewünscht wurde, ein Beweis dafür, dass die Bereitschaft der SED, abweichende Auffassungen zu tolerieren, größer war als normalerweise in der Literatur zugegeben wird. Insofern hat Fritz Klein recht. Es beleuchtet auch, welche Spannungen hinter den Kulissen die Darstellung Thälmanns als führendes Gesicht des „Antifaschismus“ während der ganzen vierzigjährigen Existenz der DDR hervorrief.
Petzold, Joachim (unter Mitarbeit von Waltraud Petzold): Parteiaufnahme wofür? DDR-Historiker im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft. Potsdam 2000, S. 129 f. Klein, Fritz: Drinnen und Draußen. Ein Historiker in der DDR, Frankfurt a. M. 2001. Stefan Berger setzt sich mit diesen Fragen in einem Artikel auseinander: Berger, Stefan: Former GDR Historians in the Reunified Germany: An Alternative Historical Culture and its Attempts to Come to Terms with the GDR Past. In: Journal of Contemporary History 38 (2003) 83, S. 70 ff. Schröder, Rudolf Lindau, S. 292– 293.
Emmanuel Droit
Geteilte Schicksale zweier Tschekisten. Zaissers und Wollwebers Erbe der Front Zwei geteilte tschekistische Schicksale Die Tscheka und ihre Nachfolge-Institutionen in der UdSSR (OGPU, NKWD und KGB) sowie die Geheimpolizeien des Ostblocks,¹ wie die Staatssicherheit (Stasi) in der DDR, besaßen eine zentrale Position in der Machtkonstellation der kommunistischen Diktaturen sowjetischer Prägung. In den ersten Jahren ihrer Existenz haben diese „besondere[n] Maschine[n] zur Unterdrückung“ (Lenin) eine rücksichtslose Gewaltenergie entfesselt, die im Namen eines existenziellen Kampfes gegen die „imperialistischen Feinde“ und „Saboteure“ gerechtfertigt war. Das am 8. Februar 1950 gegründete Ministerium für Staatssicherheit (MfS) war ein entscheidendes Instrument in der Etablierung und Stabilisierung des frühen SED-Staates.² Seine zwei ersten berufenen Minister – Wilhelm Zaisser und Ernst Wollweber – übten ihre Funktionen in der schwierigsten Phase der SEDHerrschaft aus. Ohne prädestiniert zu sein, waren sie aufgrund ihrer persönlichen Qualitäten (Disziplin, Autorität, Kaltblütigkeit), ihrer langjährigen Erfahrungen mit der konspirativen Arbeit und ihrer guten Beziehungen zu den sowjetischen Tschekisten für dieses Amt gut gewappnet. Als zwei Kinder der Fin de siècle gehörten Zaisser (geb. 1893) und Wollweber (geb. 1898) zur selben Generation, die am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte. Sie teilten nicht nur diese Schlüsselerfahrung, sondern beide waren als sowjetische Agenten in der Zwischenkriegszeit tätig und gehörten gleichzeitig zur DDRund zur MfS-Gründergeneration. Sie hatten die selbe bescheidene soziale Herkunft und hatten eine gewaltreiche Politisierung im Zeichen eines konspirativen Kampfs erlebt, die ihre auf existentiellem Überleben basierende Weltanschauung erklärt: Der Kommunismus sowjetischer Art allein sollte die Antwort auf die „Ausbeutung der proletarischen Schichten“ sein und Gewalt stellte die beste rationelle Option dar, um „Feinde“ und „Saboteure“ zu liquidieren. Zaisser und Wollweber waren nicht nur die zwei ersten Minister für Staatssicherheit, sondern auch zwei wichtige Mitglieder des Politbüros der SED und Droit, Emmanuel: Les polices politiques du bloc de l’Est. A la recherche de l’Internationale tchékiste 1955 – 1989. Paris 2019. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Stasi konkret: Überwachung und Repression in der DDR. München 2020. https://doi.org/10.1515/9783110710847-005
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gefährliche Rivalen Ulbrichts bis zu ihrem politischen Sturz im Kielwasser des 17. Juni 1953 und des begrenzten Entstalinisierungsprozesses. Zaisser und Wollweber sind darüber hinaus wegen politischer Konflikte innerhalb der SED-Führung bekannt. Ihre sogenannte „fraktionelle Tätigkeit“ im Zusammenhang mit Rudolf Herrnstadt für den ersten und mit Karl Schirdewan für den zweiten führte zu ihrem Ausschluss aus dem ZK der SED und dem Verlust ihrer Sitze als Abgeordnete in der Volkskammer. Nach dem politischen Fiasko des 17. Juni und aus dem Machtkampf im Politbüro ging Zaisser als Verlierer hervor. Er hoffte auf eine Erneuerung der politischen Spitze und eine Absetzung Ulbrichts: „neuer Kurs, neue Leute“. Zaisser und Wollweber wurden mit vier Jahren Abstand zwischen 1954 und 1958 politisch gedemütigt und zu damnatio memoriae verurteilt. Walter Ulbricht nannte Zaisser sogar einen bürgerlichen Entarteten.³ Beide Namen verschwanden fast komplett aus der Öffentlichkeit. In einem Brief an das Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer bedauerte Zaissers Witwe 1965 diese Demütigung und die Dynamik des offiziellen verordneten Vergessens: „Alle meine Eingaben nach Überprüfung der Angelegenheit blieben unbeantwortet und das ganze mutige, opfervolle, selbstlose Leben des Gen. Willi Zaisser wurde aus der Geschichte gestrichen.“⁴ Zaisser arbeitete als Übersetzer bis zu einem tödlichen Schlaganfall im Jahre 1958, während Wollweber bis zum seinem Tod 1967 als zurückgezogener Rentner in Alt-Hohenschönhausen lebte. Als Zaisser starb, veröffentlichte das Institut für Marxismus-Leninismus eine kleine Anzeige in der Berliner Zeitung, in der Zaisser als einer seiner Mitarbeiter vorgestellt wurde.
Biografie und Erfahrungszäsur Es lohnt sich, diese beiden Biografien zu untersuchen, allerdings nicht im klassischen und linearen Sinne der Geschichtsschreibung. Es geht in diesem Beitrag darum, am Beispiel dieser beiden Tschekisten den Ersten Weltkrieg als Vorgeschichte einer DDR-Gegenwart unter die Lupe zu nehmen. Die zentrale Hypothese dieses Beitrags besteht darin, den Ersten Weltkrieg als wegweisende Erfahrungszäsur, als entscheidendes Schlüsselereignis nachzufragen. Wie haben Zaisser und Wollweber den Ersten Weltkrieg erlebt? Inwieweit waren Erlebnisse
Bundesarchiv, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BArch), Nachlass Zaisser, NY 4277/1, Bl. 93. SAPMO-BArch, Nachlass Zaisser, NY 4277/1, Bl. 93.
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und Erfahrungen aus der Zeit zwischen 1914 und 1918 für ihre Laufbahnen und Persönlichkeit entscheidend? Zaisser und Wollweber sind zwei Fallbeispiele, um die möglichen Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges in ihrer jeweiligen Laufbahn bis zum tschekistischen Engagement zu untersuchen, ohne mechanische Kausalität aufzubauen. Allgemein bietet der biografische Zugang eine Chance, die DDR und ihre politischen Hauptakteure in den historischen Längsschnitt einzubeziehen und besser zu verstehen. Am Beispiel von Zaisser und Wollweber werden hier vor allem Kontinuitäten und Brüche untersucht. Mit diesen historischen Figuren hat man es – wie bei vielen Biografien dieser Epoche – mit außergewöhnlichen Lebensläufen zwischen West- und Osteuropa, zwischen Nationalismus und Internationalismus, zwischen Antimilitarismus und Kriegseuphorie zu tun. Sie waren letztendlich an allen wichtigen Weltereignissen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beteiligt, vom Ersten Weltkrieg über den Ruhrkampf und den spanischen Bürgerkrieg bis hin zur Gründung der DDR. Bisher liegen keine ausführlichen Biografien vor, weder über Zaisser noch über Wollweber. Wilfriede Otto hat Dokumente über Zaisser gesammelt und mit Gerhard Lauter 1993 einen kleinen Beitrag geschrieben.⁵ Noch zu erwähnen sind auch zwei Aufsätze von Helmut Müller-Enbergs und Roger Engelmann, die die Karrieren der beiden ersten MfS-Minister mit vielen Details schildern.⁶
Wollweber oder die ideale Figur des kommunistischen Berufsrevolutionärs Ein antiimperialistischer Rebell Die verschiedenen Lebensstationen von Ernst Wollweber vor 1945 tragen die Züge eines idealen kommunistischen Kaders. Aus kleinsten sozialen Verhältnissen kommend (sein Vater war Tischler) hatte er schon als Jugendlicher aufgrund
Otto, Wilfriede u. Lauter, Gerhard: Wilhelm Zaisser. Zwischen Parteibefehl und Bannbulle, Disput, H. 12, 1993, S. 12– 15. Müller-Enbergs, Helmut: Wilhelm Zaisser (1893 – 1958). Vom königlich-preussischen Reserveoffizier zum ersten Chef des MfS. In: Krüger, Dieter u. Wagner, Armin (Hrsg.): Konspiration als Beruf. Deutsche Geheimdienstchefs im Kalten Krieg. Berlin 2003, S. 32– 60. Für Wollweber: Engelmann, Roger: Ernst Wollweber (1898 – 1967). Chefsaboteur der Sowjets und Zuchtmeister der Stasi. In: Krüger/Wagner (Hrsg.), Konspiration als Beruf, S. 179 – 206.
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schwieriger Lebensverhältnisse eine sehr ausgeprägte Disziplin verinnerlicht und eine klare anti-imperialistische Einstellung entwickelt, die ihn ab 1919 zur KPD und zu illegalen Aktivitäten führte. Wollweber verkörperte das Streben nach sozialer Gerechtigkeit und war bereit, alle Gewaltformen für dieses Ziel einzusetzen. Er war ein Rebell und der Kommunismus wurde zu seinem Kompass. Nach seiner politischen Karriere verfasste Wollweber unveröffentlichte Lebenserinnerungen, teils handschriftlich festgehalten, teils seiner Frau Elisabeth diktiert. Nach seinem Tod 1967 wurden diese Memoiren von ihr redaktionell bearbeitet. Dieses autobiografische Dokument ist in fünf Hauptteile gegliedert und deckt fünf Perioden seines Lebens ab: die Kindheit und die Kriegserfahrung von 1910 bis 1918, die kommunistische Untergrundtätigkeit zwischen 1919 und 1927, die politische legale und illegale Arbeit von 1928 bis 1934, den Kampf gegen den Faschismus zwischen 1934 und 1945 und die Zeit nach 1946, die ohne Titel geblieben ist. Die Seiten über seine Kriegserfahrung, auf denen er das Schicksal seiner Freundesgruppe beschreibt, spiegeln eine klare rebellische und revolutionäre Einstellung wider: Mit 18 Jahren waren wir für den Frontdienst reif. Wir wollten aber nicht Soldat werden und schon gar nicht an die Front. Durch militärische Untersuchungen waren wir schon kriegsverwendungsfähig geschrieben. Paul für die Infanterie, Franz und ich für die Marine. Unser Sinnen und Trachten war nur darauf gerichtet, zu vermeiden, Soldat zu werden. Alle möglichen Pläne wurden geschmiedet und wieder verworfen. Sich im neutralen Ausland in Schweden oder Holland internieren lassen. Nein, das ging nicht, wir waren noch keine Soldaten, waren nach damaligen Gesetzen noch Minderjährige. Die Schweden und die Holländer hätten uns zurückgeschickt […]. Wir waren in einigen Arbeiterjugendversammlungen, aber da war mehr Kriegsbegeisterung als Anti-Kriegsstimmung.⁷
Sein Vater fiel als Infanterist 1915 an der Westfront. Ein Jahr später, nachdem er angefangen hatte, in einer Brauerei zu arbeiten, wurde er zur Kaiserlichen Marine für eine U-Boot-Ausbildung eingezogen: „Zuerst kamen wir nach Wilhelmshaven. […] Hier wurden wir geschliffen nach allen Regeln der Kunst.Wir haben so gut wie alle idiotischen Seiten des militärischen Drills kennengelernt, obwohl doch schon länger als zwei Jahre Krieg war.“⁸ Dieser Drill erinnerte ihn an die Autorität seiner Lehrer an der Volksschule. Er war weiter politisch sehr aktiv, wodurch er für antimilitärische Reden und die Verbreitung von Propaganda-Material für die USPD bei der Polizei bekannt wurde. In seinen Memoiren präsentierte Wollweber Reichpietsch und Köbis als die In SAPMO-BArch, NY 4327/7, Nachlass Wollweber, Bl. 14– 15. SAPMO-BArch, NY 4327/7, S. 16.
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itiatoren der Matrosenerhebung vom Sommer 1917, was nur der halben Wahrheit entspricht. Dieser kollektive Protest hat den rebellischen Charakter von Wollweber verstärkt und führte ihn – laut seiner Erinnerungen – in das illegale Netzwerk der kaiserlichen Marine, wodurch er an vorderster Front in die Rebellion involviert war: „So kam ich – damals 19 Jahre alt – in das illegale Vertrauensmänner-Netz der kaiserlichen Marine und wurde, ohne vorerst gewählt zu sein, für die revolutionären Matrosen ihr Vertrauensmann unter den U-Bootsbesatzungen.“⁹ Die Existenz eines solchen Netzwerks ist bis heute durch die historische Forschung nicht bewiesen worden¹⁰. Diese Rekonstruktion der Matrosenbewegung suggeriert, dass diese sehr schnell strukturiert wurde.Wollwebers Erzählung spiegelt vor allem die von der KPD und dann der SED propagierte Meistererzählung wider, die die Matrosenbewegung als eine schon revolutionäre organisierte Bewegung darstellte.¹¹
Die Entstehung eines Berufsrevolutionärs Im November 1918 nahm er am Kieler Matrosenaufstand als Mitglied dieses Vertrauensmänner-Netzwerkes der kaiserlichen Marine teil.¹² Dieses Schlüsselereignis und das Scheitern der sozialistischen Revolution in Deutschland prägten maßgeblich den jungen Wollweber. In seinen Memoiren zog er folgende Lehre aus dem erfolgslosen Aufstand: „Uns fehlte die politische, zielklare Führung.“¹³ Er bezog sich noch einmal explizit auf die orthodoxe Interpretationslinie der KPD und dann der SED: An eine Revolution in Deutschland ohne eine disziplinierte Arbeiterpartei war nicht zu denken. Von daher widmete er sein Leben der neu gegründeten KPD und der Sowjetunion. Die Revolution wurde zu seinem Beruf und hat seine Identität maßgeblich geprägt. In seinen Memoiren stellt er das „Wir“ in den Vordergrund, sodass sein „Ich“ mit diesem kollektiven Projekt der radikalen Umwälzung der Gesellschaftsordnung verschmolz: „Wir haben als Revolutionäre in Kiel und auch später in vielen Teilen Deutschlands gekämpft.“¹⁴
SAPMO-BArch, NY 4327/7, Bl. 27. Regulski, Christoph: „Lieber für die Ideale erschossen werden, als für die sogenannte Ehre fallen“. Albin Köbis, Max Reichpietsch und die deutsche Matrosenbewegung 1917. Wiesbaden 2014, S. 278. Siehe den Beitrag von Offenstadt, Nicolas: Die „roten Matrosen“ von 1917 in diesem Band. Siehe auch Regulski, Christoph: Die Novemberrevolution. Wiesbaden 2018. SAPMO-BArch, NY 4327/7, Bl. 31. SAPMO-BArch, NY 4327/7, Bl. 31.
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In den 1920er-Jahren ging sein politisches Engagement als politischer Sekretär des KPD-Bezirks Hessen-Waldeck und als Mitglied des Zentralausschusses der KPD (dann als Abgeordneter des Preußischen Landtages) Hand in Hand mit der Entwicklung einer konspirativen Arbeit im Dienste der KPD-Militärorganisation und der UdSSR. Die Kriegserfahrung als Kristallisationspunkt einer Revolte war der Beginn seiner geradlinigen Karriere als Berufsrevolutionär bis zur Ernennung zum Chef der ostdeutschen Geheimpolizei. Unter seiner Führung und mit der Unterstützung der sowjetischen Berater des KGB – der „Sovietniki“ – wurde die Priorität auf den Kampf gegen die westlichen Geheimdienste gelegt. Sein Amtsvorgänger und Zeitgenosse, Wilhelm Zaisser, entwickelte aus einer fast identischen sozialen Ausgangssituation einen anderen Lebensentwurf, in dem der Erste Weltkrieg eine andere, aber nicht unbedeutendere Rolle gespielt hat. 1993 schrieb das Neue Deutschland über Zaisser, dass „sich sein politisches Weltbild durch diese Erfahrung gründlich verändert hatte“.¹⁵
Zaisser oder die Figur des Hurra-Patrioten? Eine charismatische Figur Im Sommer 1949, als Zaisser sein Amt als Innenminister Sachsens verließ, um Vize-Präsident der Deutschen Verwaltung des Innern zu werden, wurde er vom Ministerpräsidenten Max Seydewitz bei der Landtagssitzung am 1. 7. 1949 gelobt: Durch seine vorzügliche Amtsführung, durch die Sicherheit mit der er alle seine schweren Aufgaben löste, durch sein ruhiges und ausgeglichenes Wesen, wurde der scheidende Minister sehr bald zu einer der meistgeschätzten Persönlichkeiten innerhalb unseres Gesamtministeriums.¹⁶
Aufgrund seiner Persönlichkeit hat er nicht nur Politiker beeindruckt, sondern auch die junge Generation von MfS-Offizieren, die in den 1920er-Jahren heranwuchs. In seinen Erinnerungen hat der spätere Chef der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS Markus Wolf folgende lobende Worte über Zaisser geschrieben:
Neues Deutschland, 19.06.1993, S. 27. SAPMO-BArch, NY 4277/1, Nachlass Zaisser, Bl. 85.
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Es machte Spaß, mit Zaisser zusammenzuarbeiten. Er strahlte eine vertrauenserweckende Autorität aus, die sich wohltuend von Mielkes wichtigtuerischer Hektik abhob, aber auch von Ulbrichts steifer, unpersönlicher Art.¹⁷
Zaisser scheint alle Eigenschaften einer charismatischen Figur besessen zu haben. Er gehörte zu der Kategorie des anerkannten Chefs, der über Autorität und Respekt verfügte. Diese Einschätzung wurde von Heinz Lippmann, ehemals Stellvertreter von Erich Honecker als Vorsitzender der FDJ, bestätigt. Obwohl schon 1953 in den Westen geflohen, schrieb er 1957 über Zaisser: [Er] strahlte in allen Fällen eine überlegene Ruhe aus und war nie aufgeregt und unsachlich. […] Ich hatte von ihm immer den Eindruck, er besitze weit mehr menschliche Züge als beispielsweise, Ulbricht […]. Das Besondere an seiner Erscheinung waren zweifellos seine Augen.. Diese hellen Augen konnten hart und unerbittlich blicken und, wenn man sie sah, konnte man sich vorstellen, welche Energie und Entschlossenheit in Zaisser wohnten.¹⁸
Woher aber kamen sowohl diese „Energie und diese Entschlossenheit“ als auch diese „menschlichen Züge“? Wie Wollweber war Zaisser schon vor 1945 ein überzeugter Kommunist mit viel Erfahrung im Bereich der illegalen Abwehrarbeit, der Spionage und der ideologischen Schulung. Heinrich Rabbich kannte Zaisser seit dem Putsch-Kapp. Als 17-Jähriger gründete der Essener Mechanikerlehrling Heinrich Rabbich am 13. Juli 1907 den „Verein für Lehrlinge, jugendliche Arbeiter und Arbeiterinnen“ in Essen. Dieses Datum gilt als Geburtsstunde der Arbeiterjugendbewegung in Essen. 1916 war Rabbich Teilnehmer der Jenaer Osterkonferenz gegen die Burgfriedenspolitik der SPD. Er war der Führer der Proletarischen Hundertschaften der Arbeiterwehr und war, wie Zaisser, einer der Angeklagten 1921. Er erinnerte sich nach dem Zweiten Weltkrieg an Zaisser: In all den Kämpfen in und um Essen und weiter über Mülheim bis Wesel sowie in den Rückzugsgefechten bis zum Ende hat er mir mit einer unerschütterlichen Treue und Kameradschaft mit fachmännischem Rat zur Seite gestanden. W. Zaisser war mir immer ein lieber, uneigennütziger Freund, Kamerad und Berater von dem ich während der wechselvollen Kämpfe der 20er Jahre viel gelernt habe. Er war bei allen Genossen und Kameraden die mit ihm zu tun hatten wegen seinem offenen und ehrlichen Charakter sehr beliebt und geschätzt.¹⁹
Markus, Wolf: Spionagechef im geheimen Krieg. List 1997, S. 74. Archiv der Sozialen Demokratie der FES, PD-PV-Ostbüro 03670, Heinz Lippmann: Wilhelm Zaisser. Manuskript, 1. 10. 1957. SAPMO-BArch, NY 4277/1, Privatarchiv von W. Zaisser, Bl. 87.
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Diese Beschreibung zeugt von einer kämpferischen Kameradschaft, die Zaisser im Krieg entwickelt hat. Der Erste Weltkrieg war für ihn ein wichtiger Erfahrungsraum und bildet letztendlich den „starting point“ einer kontinuierlichen militärischen Karriere als Unteroffizier, im Ersten Weltkrieg, dann als „General der Roten Ruhrarmee“ im Frühjahr 1920, militärischer Berater von Abd el-Krim in Syrien und Marokko, als Nachrichtendienstler in China und Spanienkämpfer (als General Gomez). Im Unterschied zu seinem Nachfolger Ernst Wollweber, der nach seinem Ausscheiden als Chef der ostdeutschen Geheimpolizei 1957 die Absicht hatte, seine Lebenserinnerungen zu schreiben, liegen vom ersten Ministers für Staatssicherheit keine Memoiren vor. Im Bundesarchiv gibt es einen Nachlass von Wilhelm und Elisabeth Zaisser. Auf den ersten Blick verfügt der Historiker über kaum aussagekräftige biografische Schriftstücke wie Briefe oder Tagebücher. In diesem Nachlass sind Dokumente aus seinem privaten Archiv zu finden: verschiedene, aber eher vage mit der Maschine geschriebenen Lebensläufe aus den Jahren 1947 und 1951 und ein detaillierterer Lebenslauf von seiner Tochter Renate von 1987, Erinnerungen von Kameraden aus dem März-Aufstand 1920, ein Brief von Elisabeth Zaisser an das Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer. Parallel dazu kann man das Quellenmaterial anhand des Presse-Archivs – Zeitungsartikel aus dem offiziellen Presse-Organ der SED Neues Deutschland, und eine Reihe von Artikeln aus der westdeutschen Zeitschrift Der Spiegel zwischen Februar 1950 und Juni 1950 – ergänzen. Innerhalb weniger Wochen erschienen im Spiegel eine Reihe von Artikeln über Zaisser mit Zeugenaussagen. Im Kontext des entstandenen Kalten Krieges waren diese Artikel Teil einer Diffamierungskampagne gegen Zaisser, der in West-Berlin vom „Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen der Sowjetzone“ angeklagt wurde. Leider ist es schwierig, andere Informationen aus dem Entstehungskontext dieser Artikel zu sammeln. Eine Frage bleibt u. a. offen: Woher stammten diese Zeugen, die Zaisser als einen „Hurra-Patrioten“ darstellten? Wurden Sie von dem Journalisten des Spiegels erfunden? Am 22. Februar 1950 erschien in der Spiegel-Ausgabe 8/1950 ein zweiseitiges Porträt „Heinrich Himmlers Nachfolger als Minister für Staatssicherheit: Gomez – kein Spanier“. Einen Monat später, am 22. März 1950, erschien in der Ausgabe 12 ein Leserbrief von Ewald Ferhoff aus Radevormwald (südlich von Wuppertal). Der Leser wollte eine Ergänzung zur Abhandlung über Zaisser liefern. Er war Kompanieschreiber in der 3. Komp. Inf. Regiment Nr. 438, als Zaisser Leutnant in diesem Regiment war. Und am 21. Juni 1950 in der Ausgabe 25 wurde vom Spiegel ein von Zaisser an seinen Schulfreund Wilhelm Peter während des Krieges geschriebener Brief veröffentlicht.
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Keine klassische Kaderbiografie Im Unterschied zu seinem Nachfolger, Ernst Wollweber, hat der Werdegang von Zaisser nicht die idealtypischen Züge einer klassischen kommunistischen Kaderbiografie. Er wurde im Juni 1893 in Rotthausen bei Essen geboren und stammte wie Wollweber aus einfacheren Verhältnissen, konnte aber im Unterschied zu seinem tschekistischen Alter Ego – Wollweber war ein Autodidakt und hatte ein sehr schwieriges Verhältnis zu pädagogischen Autoritäten – dank der Schule einen echten sozialen Aufstieg vorweisen. Sein brillanter Schulweg führte ihn von der Volksschule (1899) bis zum Königlichen Lehrerseminar zu Essen (1914). Auf dem Schulentlassungszeugnis der Evangelischen Gemeindeschule der Stadt Essen (März 1907) ist seine Ordnungsliebe als „gut“ bewertet. Nach seiner Dienstpflicht (Pflichtdienst?) vom 1. April 1913 bis 31. März 1914 in der 1. Kompagnie des Infanterie Regiments 16 in Köln/Mülheim, wurde er am 1. April 1914 als Volksschullehrer in Essen angestellt. Das war wahrscheinlich ein Traumberuf für ihn, denn er hat sich später in seinem Leben in mehreren Situationen als „Pädagoge“ im weitesten Sinne des Wortes engagiert: an der Schule, für die KPD in Deutschland und in Moskau in den 1930er-Jahren sowie an Antifa-Schulen in der UdSSR während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Trotz einer in einem bescheidenen Milieu stattgefundenen Sozialisation und obwohl er in einer Hochburg der Sozialdemokratie groß geworden ist, war er nicht besonders „links“ orientiert. Im Unterschied zu Wollweber schloss er sich nicht als Jugendlicher der Arbeiterbewegung an. Noch vor dem Kriegsausbruch scheint er sich nicht groß für Politik interessiert zu haben. Durch seinen Vater, einen Fußgendarmen und später Gendarmerie-Wachtmeister, hatte er bis 1914 eher eine deutsch-nationale Einstellung. In einem Brief an seinen Schulfreund Wilhelm Peter schrieb er voller Begeisterung: „Nach Abschluss des Dienstjahres Anstellung in Essen. Dort die unvergesslichen letzten Juli-Tage 14. Spannung, Begeisterung.“²⁰ Diese Einstellung ist weit entfernt von der Erfahrung, die Wollweber in seinen Memoiren für dieselbe Zeit beschrieb: „Wir waren in einigen Arbeiterjugendversammlungen, aber da war mehr Kriegsbegeisterung als Anti-Kriegsstimmung.“²¹
Der Spiegel 25/1950, 21. Juni 1950, S. 12. SAPMO-BArch, NY 4327/7, Nachlass Wollweber, Bl. 14– 15.
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Der Erste Weltkrieg als Umwandlungserfahrung Wie hat Zaisser den Krieg in seinen verschiedenen Lebensläufen dargestellt? Nach seiner Rückkehr nach Deutschland im Februar 1947 und nach seiner Ernennung als Landeschef der Polizei von Sachsen-Anhalt, hatte er einen Lebenslauf mit der Maschine geschrieben. In diesem Dokument thematisierte er nur am Rande die Zeit des Ersten Weltkrieges. Er widmete ihm einen kleinen chronologischen Absatz, wo nur einige Stationen und Beförderungen erwähnt wurden: Bei Kriegsausbruch am 1. August 1914 mobilisiert, nahm ich am 1. Weltkrieg teil, wurde im November 1916 zum Leutnant befördert (am 14. 2. 1917 laut Militärpass) und am 31. März 1919 als Leutnant und Batl. Adjutant demobilisiert. Vom 1. April 1919 an war ich wiederum in Essen als Volksschullehrer tätig. Im Sommer 1919 trat ich in die KPD, Ortsgruppe Essen ein.²²
Der 1951 abgefasste Lebenslauf ist eine Kopie des vorherigen aus dem Jahr 1947 und bringt keine neuen Details. Der Erste Weltkrieg scheint keine wichtige Rolle gespielt zu haben. Zaisser selbst hat diese Erfahrung nie in den Vordergrund gestellt, weil diese Episode als Frontsoldat höchstwahrscheinlich keinen Platz in einer zu erwartenden kommunistischen Kaderbiografie hatte.²³ Es war nicht angebracht, seine Erfahrung als einfacher Soldat zu beschreiben. Jedoch spielte der Erste Weltkrieg als Erfahrungsraum eine entscheidende Rolle und kann als Schlüsselereignis betrachtet werden. Anhand des 1987 von seiner Tochter Renate nach Dokumenten und mit Hilfe seiner Frau Elisabeth Zaisser aufgeschriebenen Lebenslaufes können wir mehr Details über dieses „Gedächtnisloch“ erfahren.²⁴ Bei Kriegsausbruch wurde er einberufen und diente im Reserve-Infanterieregiment 220, 8. Kompanie und in anderen Truppenteilen. Er schien begeistert zu sein. Einem Schulfreund schrieb er: „Frisch-froher Krieg in Begeisterung und Manöverstimmung.“²⁵ Wenn man die unveröffentlichten Lebenserinnerungen von Ernst Wollweber liest, herrscht dort ein anderer Ton vor: „In den ersten Tagen des Weltkrieges bekam ich also gleich eine wohltuende Spritze gegen den sich in wüsten Orgien austobenden Hurrah-Patriotismus und Siegestaumel.“²⁶
SAPMO-BArch, NY 4277/1, Nachlass Zaisser, Lebenslauf von 1947, Bl. 13. Siehe den Beitrag von Norman LaPorte über Ernst Thälmann in diesem Sammelband. SAPMO-BArch, NY 4277/1, Nachlass Zaisser, Lebenslauf (1987 von Tochter Renate nach Dokumenten und mit Hilfe Elisabeth Zaissers aufgeschrieben), Bl. 23 – 24. Der Spiegel 25/1950, 21. Juni 1950, S. 12. SAPMO-BArch, NY 4327/7, Nachlass Wollweber, Bl.13.
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Zaisser nahm vom 26. 10 bis 23. 11. 1914 an Stellungskämpfen um Verdun teil, wurde am 11. Dezember 1914 zum Gefreiten befördert und kämpfte an der Ostfront in der Schlacht bei Limanowa-Lapanow und am unteren Dunajec. In den Karpaten hat er viele wichtige Kriegserfahrungen in der Konfiguration eines Bewegungskriegs gesammelt: Gestürmt, zurückgeschlagen und immer wieder gestürmt. Gefangene grundsätzlich nicht mehr gemacht. Förmlicher Blutrausch kam über mich, alte Raubtierinstinkte erwachten. Fürchterliche Zeit, und doch möchte ich sie nicht missen. Ich habe im Nahkampf manchen Menschen getötet und es erfüllte mich zur Befriedigung.²⁷
Zaisser erlebte, was der Historiker Jörg Baberowski das „Rätsel der Gewalt“ nennt,²⁸ nämlich eine Reise in eine neue Welt, in der andere Regeln gelten. Er hat einen Gewaltraum betreten und erfuhr, dass nichts mehr ist, wie es war. Er wurde am 13. Juli 1915 zum Unteroffizier und schon eine Woche später zum Vize-Feldwebel befördert und vom 1. Juni bis zum 8. August 1915 zum Ausbildungskurs für Offiziers-Aspiranten abkommandiert. Ab September 1915 bis Mitte November 1916 nahm er an den Stellungskämpfen an der oberen Schawa teil. Am 19. Oktober 1915 erhielt er das Eiserne Kreuz II. Klasse und wurde ein Jahr später zum OffiziersAspiranten ernannt. Im November 1916 wurde er in die III. Kompanie des 438. Infanterie-Regiments versetzt, das ebenfalls bei den Stellungskämpfen an der oberen Schawa eingesetzt war. In diesen Kämpfen fiel Ende November 1916 sein jüngerer Bruder Robert durch einen Kopfschuss, er starb in seinen Armen. Robert hatte sich als Schüler mit 17 Jahren freiwillig gemeldet. Am 14. Februar 1917 wurde er zum Leutnant der Reserve befördert und zur 8. Kompanie seines Regiments versetzt. Er wollte wieder an der Westfront kämpfen, wurde aber als letzter Sohn seiner Familie geschont. An der Ostfront hat er, wie er in einem Verhör 1921 einräumte, Bolschewisten erschossen. 1917 schrieb er seinem Schulfreund einen Brief mit einem noch sehr nationalistischen Ton: Augenblicklich gibt’s doch nur ein Sehnen – Kampf und Sieg. Sieg bis zur Vernichtung der anderen, und wenn in Deutschland noch Hohlköpfe von Verständigung und Menschenrechten faseln (Erzberger, etc.) so sollte man sie an die nächste Laterne hängen.²⁹
Es ist natürlich schwierig, diese Erzählung als eine authentische Abbildung des Kampfes zu betrachten. Diese Aussage erzählt aber etwas über die Weltan-
Der Spiegel 25/1950, 21. Juni 1950, S. 13. Baberowski, Jörg: Räume der Gewalt. Frankfurt a. M. 2015, S. 17. Der Spiegel 25/1950, S. 14.
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schauung von Zaisser. Sie vermittelt eine mögliche Sicht auf eine radikalisierte Gewaltkultur und auf eine binäre Entweder-Oder-Logik, wo der Feind zu vernichten war und die man später auch zur Zeit des Kalten Krieges sehen wird. Der Erste Weltkrieg hat Zaisser verändert, in dem er Gewalt als etwas Akzeptables und Notwendiges ansah. Diese Ordnungsvorstellung hat auch mit dem Zeitalter der Hypermoderne zu tun. Die Liquidierung von „Feinden“ war für ihn völlig legitim und bildete später die Grundlage seiner tschekistischen Einstellung. Er verkörperte ein patriotisches Ideal: „Und doch änderte mich der Krieg – was war mir früher Deutschland – nun ja die Heimat, aber sonst – und heute, heute ist es mir das Ideal, Deutschland, Deutschland über alles der Heiland unter den Völkern der Erde.“³⁰ Während des Ersten Weltkrieges war Zaisser, im Gegensatz zu Wollweber, kein Revolutionär. Er war der deutschen Armee bis zum Ende treu geblieben. Er stand nicht an der vordersten Front der Revolte. Im März 1919 wurde er als Leutnant der Reserve und Bataillons-Adjutant aus dem Heeresdienst entlassen und kehrte als einziger von drei Brüdern (auch sein älterer Bruder, Carl, war 1917 gefallen) zu den Eltern nach Essen zurück. Er arbeitete ab Anfang März 1919 wieder als Lehrer und trat im Sommer in Essen der KPD bei, wo er sich dann als Lehrer und militärischer Berater aktiv engagierte.Wie lässt sich diese eher unerwartete Politisierung nach links erklären? Wie lässt sich diese politische Umwandlung vom Nationalismus zum Kommunismus erklären?
Die Verwandlung zum kämpferischen Kommunisten Zaisser hat den Krieg sowohl an der West- (in Lothringen) als auch an der Ostfront (in den Karpaten) erlebt. Man kann nicht behaupten, dass das Grauen des Ersten Weltkrieges ihn zum überzeugten Kommunisten werden ließ. Das Militärische hat ihm gefallen und sicherlich fasziniert. Der Krieg war für Zaisser eine fundamentale Erfahrung: Er hat ihn für die revolutionären Kämpfe der Zwischenkriegszeit vorbereitet. Er hat sich in einen engagierten Kämpfer verwandelt: diszipliniert, mutig und kaltblütig. Zaisser erlebte das Kriegsende an der Ostfront. Im November 1918 war sein Regiment an der Sicherung der Bahnlinie Gomel/Brest-Litovsk beteiligt. Er war selbst nah an der Demarkationslinie zwischen den sowjetischen und den von
Der Spiegel 25/1950, S. 14.
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Deutschen besetzten Gebieten stationiert. Der Kompanieschreiber Ewald Ferhoff gibt uns ausführlichere Details: Zaisser zeigte damals in Gomel (Ukraine) ein außergewöhnliches Interesse für die bolschewistische Revolution. Er war ein ständiger Besucher und Diskutierter mit den Führern der neu gegründeten Roten Armee. Von Ende November 1918 bis Januar 1919 lagen wir 20 000 deutsche Soldaten mit 20 000 Rotarmisten gemeinsam in der gleichen Stadt: Reschitza bei Gomel.³¹
Zaisser hat an der Verbrüderung teilgenommen und erinnerte sich an diese Übergangszeit in einem Brief an einen Freund: Nach dem Zusammenbruch im November 1918 ist das deutsche zurückgebliebene Militär in Polen von Deutschland abgeschnitten gewesen. Infolgedessen hat der Abtransport nicht funktioniert und man hat mit der russischen Armee verhandeln müssen. Dabei habe ich gute Organisation, insbesondere bei der Verwaltung, wahrgenommen und bemerkt, dass man von Seiten der russischen roten Armee […] viel rigoroser vorging als es vordem von Seiten der Deutschen der Fall war. Dadurch bin ich veranlasst worden, den Bolschewismus anders zu beurteilen, als ich es vordem getan habe.³²
Er erlebte in Białystok die bolschewistische Revolution und das Bekenntnis zum Bolschewismus war seine erste politische Erfahrung nach dem Krieg. Er sah im Bolschewismus die einzige Chance, Deutschland zu retten. Er fing an, Marx, Engels und Lenin zu lesen, und hat später einen Exkurs über deutsche Zeitgeschichte nach 1918 geschrieben. Darin bot er eine sehr klassische marxistischleninistische Interpretation des Konflikts an: „Dieser militärischen Abenteuerpolitik, die das deutsche Volk mit seinem Blut bezahlen musste, entsprach die wirtschaftliche Abenteuerpolitik, die ebenfalls auf Kosten der Werktätigen betrieben wurde.“³³ Und er verteidigte eine allgemeine antimilitärische Perspektive, die weit weg von seiner eigenen Erfahrung war: „Seit 1917 wurde auch die Front in immer breiterer Masse von dieser Friedenssehnsucht erfasst (Der Matrosenaufstand vom Juli 1917 und die Verbrüderung an der Ostfront sind zwei deutliche Beispiele).“³⁴ Die Verwandlung lief perfekt. Der Erste Weltkrieg diente nun in den 1920erund den 1930er-Jahren als Ressource für kommunistische illegale Aktivitäten in Deutschland, aber auch in Europa, in Afrika und im Nahen Osten. Zaisser war Der Spiegel 25/1950, S. 13. Der Spiegel 25/1950, S. 14. SAPMO-BArch, NY 4277/11, Nachlass Zaisser, Bl. 1 SAPMO-BArch, NY 4277/11, Nachlass Zaisser, Bl. 3. Die Flottenzentrale konstituierte sich am 23. Juli 1917 und der Matrosenaufstand entwickelte sich eher im August.
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führend beteiligt an der Niederschlagung des Kapp-Putsches, war Mitglied der zentralen militärischen Leitung der kämpfenden Arbeiter in Essen, und gründete die ersten roten Hundertschaften im Ruhrgebiet. In einer 1960 abgefassten Zeugenaussage schrieb Leo Regener, der damalige Direktor der Pädagogischen Zentralbibliothek in Ost-Berlin: „Seine Rolle bei den Kämpfen im Ruhrgebiet imponierte mir sehr.“³⁵ Ab dem 1. August 1923 war Zaisser der Leiter des konspirativ arbeitenden MApparats (Militär-Apparat) der KPD im Ruhrgebiet zur Zeit der französischen Besatzung. In einem 1964 geschrieben Brief schilderte Zaissers Frau Elisabeth die Tätigkeit ihres Ehemannes: „Nach Besetzung des Ruhrgebietes durch die Franzosen 1923 machte W. Zaisser Anti-Arbeit in der Französischen Besatzungsarmee, eine Arbeit, die großen persönlichen Mut, Kaltblütigkeit und Disziplin verlangte.“³⁶ Ende 1925 fuhr Zaisser nach Nordafrika auf Befehl des Exekutivkomitees der kommunistischen Internationale, das ihn als militärischen Berater zu Abd el-Krim, „selbstproklamierter Präsident der Republik der Rifkabylen“ schickte, der den Widerstand gegen die spanischen und französischen Kolonisatoren anführte. Nach diesem Einsatz kehrte er im April 1926 zurück und nahm seine militär-politische Arbeit in Deutschland wieder auf. Vom Sommer 1927 bis März 1930 leistete Zaisser illegale Arbeit in der Mandschurei während der Besetzung durch die Japaner als Kundschafter im Auftrage der IV. Abteilung. Dann war er wieder in Europa, wo er von 1930 bis 1932 illegale Arbeit in der tschechischen Armee leistete. Vor seinem Einsatz im spanischen Bürgerkrieg leitete er vier Jahre lang gemeinsam mit dem polnischen Genossen Karol Swierczewski (General Walter im spanischen Bürgerkrieg) in Babowka bei Moskau eine Schule der Kommunistischen Internationale, an der deutsche Arbeiter auf „den antifaschistischen Kampf“ in Deutschland vorbereitet wurden. Zu Zaissers damaligen Schülern gehörte u. a. Erich Mielke. Diese ununterbrochene Aktivität beruhte auf seiner Kriegserfahrung. Diese Kontinuitätslinie ist aber schwer zu beweisen, denn Zaisser hat seine Erfahrungen im Ersten Weltkrieg in seiner kommunistischen Kaderbiografie bewusst verborgen.³⁷
SAPMO-BArch, NY 4277/11, Nachlass Zaisser, Bl. 88. SAPMO-BArch, NY 4277/11, Nachlass Zaisser, Bl. 90. Vor kurzem hat der Historiker Helmut Müller-Enbergs die „Westverwandschaft“ von Zaisser herausgefunden. Seine Schwester war mit Karl Patry, einem hochrangigen SS-Offizier, verheiratet. Die genauen Beziehungen zwischen Zaisser und Patry bleiben aber unbekannt. Siehe Göllnitz, Martin [u. a.] (Hrsg.): Konflikt und Kooperation. Die Ostsee als Handlungs- und Kulturraum. Frankfurt a. M. 2020.
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Schlussbemerkungen Zaisser und Wollweber gehörten zur MfS-Gründergeneration. Ihre kommunistischen Biografien sind asynchron, selbst wenn sie einige Elemente teilen: eine entscheidende Kriegserfahrung, die eine rebellische Einstellung verstärkt hat, oder eine nationalistische Einstellung in eine kommunistische verwandelt hat, eine politische Karriere als KPD-Funktionäre in der Weimarer Republik, eine Spionagetätigkeit im Auftrag des sowjetischen Gemeindienstes für verschiedene militärische und nachrichtendienstliche Aktionen. Jenseits aller unterschiedlichen Erfahrung mit dem Ersten Weltkrieg sind Zaissers und Wollwebers Biografien von Kämpfern, die mit großer Intensität dieses Ereignis erlebt haben. Nach 1918 haben Zaisser und Wollweber an vielen Fronten gekämpft, und aufgrund dieser internationalen und konspirativen Erfahrungen verfügten sie in den frühen 1950er-Jahren über eine unleugbare und selbstbewusste Autorität. Ihr politisches Engagement hatte mit dem festen Glauben zu tun, dass die Zukunft Deutschlands ohne das kommunistische Projekt nicht zu denken war. Zaisser und Wollweber waren oft schwierige Figuren. Zaisser war in Spanien unbequem für seine sowjetischen Vorgesetzten und Wollweber hatte immer diesen rebellischen Charakter behalten. Aus dieser selbstbewussten Position lässt sich auch vielleicht das Verhalten Zaissers gegenüber Walter Ulbricht in den Jahren 1952– 1953 erklären. Zaisser und Wollweber waren keine Produkte des Stalinismus wie Erich Mielke. Sie waren aber von einer bestimmten Art von Gewaltkultur geprägt. Beide waren in der Lage, kaltblütig das MfS zu einem Terrorinstrument aufzubauen. Sie waren bereit, eine Säuberungswelle durchzuführen und Schauprozesse zu organisieren, ohne – wie Mielke – selbst Vernehmungen durchzuführen. Am Tag des 17. Juni 1953 war Zaisser ruhig und entschlossen: „Es geht jetzt darum wir oder sie.“³⁸ Wollweber hat auch zum Aufbau des Nachrichtendienstes beigetragen. Beide waren an die binäre Logik des Kalten Krieges gewöhnt. Es war nur die Fortsetzung eines historischen Kampfes und koste was es wolle, alle Gewaltmittel waren erlaubt, um den Kommunismus durchzusetzen, selbst gegen den Willen der eigenen Gesellschaft. Zaisser wie Wollweber scheiterten aber letztendlich an Ulbrichts Willen, die Stasi streng unter Kontrolle zu halten. Erst die Ernennung Mielkes zum Minister
Mitter, Armin: Die Ereignisse im Juni und Juli 1953 in der DDR. Aus den Akten des MfS, Politik und Zeitgeschichte 5/1991, S. 31– 42.
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für Staatssicherheit 1957 hat letztendlich die Machtposition von Ulbricht stabilisiert und die beiden ersten Stasi-Chefs in die Vergessenheit geschickt.
Teil II: Das „monumentale“ Gedächtnis des Ersten Weltkrieges in der DDR
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Die „Roten Matrosen“ von 1917 Albin Köbis und Max Reichpietsch, Helden der DDR Die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in acht Bänden (1966) ist das große geschichtliche Werk der Ära Ulbricht. Der Machthaber selbst betreute das ganze Projekt und beeinflusste sogar direkt den Inhalt. Die Vorgeschichte der DDR als Meistererzählung sollte so einem breiten Publikum nähergebracht werden. Die Auflagenstärke wurde dabei sehr hoch angesetzt, um eine massive Verbreitung zu ermöglichen. Der letzte Teil des Werkes thematisiert auch die Geschichte der SED und der DDR.¹ Wie üblich stellt 1917 auch darin eine große Zäsur dar. Der zweiten Band endet kurz vor der Oktoberrevolution. Die letzten Seiten dieses Bandes erzählen vom Aufstand der Matrosen der deutschen Marine von 1917. Das ist kein Zufall. Wichtig sind hier die beiden letzten Absätze. Der vorletzte entspricht der Interpretation Lenins der Ereignisse: „Der Aufstand in der deutschen Flotte [ist] ein Anzeichen der großen Krise des Heranreifens der Weltrevolution.“² Mit diesen Worten wird die Verbindung zwischen dem Aufstand und der Oktoberrevolution direkt hervorgehoben. Mehr noch kündigt der letzte Paragraf des Bandes (vor dem Quellen-Anhang) „die Große Sozialistische Oktoberrevolution“ an, die „unmittelbar bevor[stand]“. In seinem letzten Satz kommt er auf Deutschland zurück: „Damit begann auch für die deutsche Arbeiterbewegung eine neue historische Epoche.“³ Damit ist der Kreis geschlossen. Dazu enthält der Band in seinem
Anmerkung: Ich bedanke mich bei Anna Hesse und Olaf Müller, die diesen Text in ein idiomatisches Deutsch überführt haben. Danke an Thomas Werner (Amt für Kultur, Denkmalpflege und Museen Rostock) für seine wertvolle Hilfe, sowie Ilse-Dore Eckardt, die mir großzügige Einblicke in den Nachlass ihres Mannes gewährt hat. Danke für unseren bereichernden Austausch. Ich bedanke mich ebenfalls beim Landesarchiv Greifswald, insbesondere bei Michael Sparing, für den freundlichen Empfang und die Hilfe bei der Arbeit. Schließlich möchte ich mich noch bei Dieter Flohr, Theodor Hoffmann (2018 verstorben), Hendrik Born (2021 verstorben) und Werner Ortmann für ihre Zeitzeugenberichte bedanken. Lokatis, Siegfried: Der rote Faden. Kommunistische Parteigeschichte und Zensur unter Walter Ulbricht. Köln 2003; ders.: Ein „Heiliger Text“ der SED? Die achtbändige „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ Walter Ulbrichts. In ders: Verantwortliche Redaktion: Zensurwerkstätten der DDR., Stuttgart 2019, S. 367– 394. Lenin: Brief an die Genossen Bolschewiki, die am Kongress der Sowjets des Nordgebiets teilnehmen. (8.) Oktober 1917. In: Werke, Bd. 26, Berlin 1961, S. 169 – 175 (hier S. 169). Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 2.Vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis 1917. Berlin 1966, S. 324. https://doi.org/10.1515/9783110710847-006
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Bildteil zwei Aufnahmen von den erschossenen Matrosen Albin Köbis und Max Reichpietsch – es handelt sich hierbei um klassische Bilder der beiden Matrosen, die überall zu sehen waren, weil wahrscheinlich nur wenige andere Aufnahmen verfügbar gewesen sind. Damit werden die Erschossenen fast in den gleichen Rang wie Bebel, Pieck oder Liebknecht gehoben, denn insgesamt enthält der Bildteil nur eine kleine Menge von Porträts: Sie machen ca. ¼ der ungefähr 95 Illustrationen aus. Köbis und Reichpietsch waren Helden, aber eben „deutsche“ Helden, die sich so sehr gut in die nationale Grundkonzeption (Nagruko) Ulbrichts integrieren ließen, in der die Kommunisten (und die DDR) nicht nur die Interessen der Arbeiterklasse, sondern auch der ganzen deutschen Nation verteidigen oder vertreten. In der Erinnerungslandschaft des heutigen Deutschlands hingegen sind die beiden Matrosen des ersten Weltkrieges Albin Köbis und Max Reichpietsch, die nach der Unruhe vom August 1917 in Wilhelmshaven erschossen wurden, ohne Zweifel vergessene Figuren. Anlässlich des 100. Jahrestages ihrer Hinrichtung (September 2017) wurde nur eine sehr bescheidene Gedenkfeier von vor allem linken Aktivisten durchgeführt. Das war in der DDR anders. Die beiden Figuren waren in der Öffentlichkeit sehr präsent und avancierten zu vertrauten Ikonen für die Bevölkerung.⁴ Ihr Gebrauch war damals ziemlich intensiv und vielfaltig. Für die „kleine Republik“ stellte der Aufruhr einen entscheidenden Bezugspunkt der historischen Selbstvergewisserung dar. Die Matrosenbewegung von 1917 und seine beiden Märtyrer ordneten sich in die große Erzählung von der fortschrittlichen deutschen Geschichte ein. Für die KPD, danach die SED und mehr noch für die Selbstdarstellung der DDR spielten dieses Ereignis und seine Helden eine bedeutende Rolle: Es sollte zeigen, dass die Arbeiterbewegung in Deutschland schon 1917 und sogar schon vor der Oktoberrevolution einen eigenen revolutionären Weg beschritten bzw. gesucht hatte. Die „revolutionäre“ Interpretation der Begebenheit in der Flotte und von Wilhelmshaven diente also der Konstruktion des Ereignisses als erfundene Tradition. In diesem Aufsatz möchte ich diese Konstruktionen beschreiben, dekonstruieren und erklären. Dabei soll vor allem auf den Konstruktionsprozess in der DDR eingegangen werden und dabei die Errichtung des Denkmals für die Roten Matrosen in Rostock (1967– 1977) in den Blick genommen werden. In einem ersten Abschnitt wird die Kanonisierung der „Roten Matrosen“ ab 1917 bis in die Drei-
So z. B. in: Albrecht, Christoph: Max Reichpietsch und sein Ufer. In: WZB-Mitteilungen 116 (2007), S. 55. und hier S. 137.
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ßigerjahre analysiert. In einem zweiten Abschnitt wird die Rolle Köbis, Reichpietsch und der „Roten Matrosen“ in der DDR in den Blick genommen. In einem dritten Abschnitt geht es um die Verkörperung dieser Geschichte in das, was zu dieser Zeit das größte Denkmal eines Künstlers der DDR werden sollte. Dabei werden auch die zeitgenössischen Debatten rund das Monument in den Blick genommen. Die Geschichte seiner Errichtung zeigt deutlich, wie umstritten und konfliktreich die Erinnerungspolitik und politisch-künstlerische Projekte der SED sein konnten.
I Die Kanonisierung und ihr Erbe in der DDR Eine frühe Fixierung des Kanons Um diesen Ikonisierungsprozess und die daraus resultierenden Spannungsfelder zu verstehen, soll zunächst der historische Kontext des Aufstandes kurz skizziert werden. Auf allen am Weltkrieg beteiligten Seiten machte sich 1917 eine große Kriegsmüdigkeit bemerkbar, besonders in Deutschland, wo die Blockade durch die Alliierten und die auf Kriegswirtschaft umgestellte Produktion zu Mangelernährung und Versorgungsengpässen führte. Die Verpflegung der Matrosen auf den Kriegsschiffen wurde immer schlechter. Die Spannungen nahmen zu, zwischen den überheblichen Offizieren, die den konservativen Eliten entstammten, und den Matrosen, die meist aus einfachen, oft proletarischen Verhältnissen kamen und von denen einige unter dem Eindruck der russischen Revolution vom Februar 1917 standen. Im Juni und Juli 1917 mehrten sich die Zwischenfälle in der Flotte, wobei sich die Lage aufgrund der Schikanen seitens der Offiziere weiter verschärfte.⁵ Am 1. August protestierten in Wilhelmshaven die Matrosen gegen eine Übung, die sie als ungerecht ansahen. Elf von ihnen wurden bestraft, worauf sich die Revolte weiter ausbreitete. Am 2. August versammelten sich Hunderte von Matrosen an Land (Rüstersiel), einige verlangten sogar das Ende des Krieges. Die Unruhe wurde brutal unterdrückt, und nach einem äußerst einseitigen und fehlerhaften Verfahren wurden mehrere Matrosen zum Tode verurteilt, aber nur Köbis und Reichpietsch wurden tatsächlich exekutiert (in Wahn, in der Nähe von Köln, am 5. September).
Siehe hierzu Horn, Daniel: The German naval Mutinies of Word War I. New Brunswick 1969 und jetzt vor allem: Regulski, Christoph: „Lieber für die Ideale erschossen werden, als für die sogenannte Ehre fallen“. Albin Köbis, Max Reichpietsch und die deutsche Matrosenbewegung 1917. Wiesbaden 2014, hier S. 12, S. 89 ff.
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Der Mechaniker und Heizer Köbis (geb. 1892) wuchs im Arbeiterviertel Pankow auf. Er wurde zur Marine eingezogen (1911) und zu Ende seiner Dienstzeit begann der Krieg. Er vertrat zwar progressive Ideen, las die Zeitung Vorwärts, gehörte aber keiner Partei an: „Linkisch von Benehmen, aber ehrlich und trotzig von Natur“ laut seinem Kampfgefährten Hans Beckers.⁶ Reichpietsch (geb. 1894), war Zimmermann und entstammte dem Proletariat von Berlin (seine Eltern waren Arbeiter in Neukölln). 1912 trat er als Freiwilliger in die Marine ein. Er schloss sich der USPD, dem ehemaligen linken Flügel der SPD, an und stand mit anderen Parteimitgliedern schon seit Juni 1917 in Kontakt. Diese Verbindungen zwischen Reichpietsch und der USPD spielten in der Konstruktion der Dolchstoßlegende eine gewisse Rolle: sie seien ein Beweis dafür gewesen, dass die Linksparteien auf die Soldaten an der „Front“ einen schlechten Einfluss ausgeübte hätten. Dieses Narrativ wurde bereits im Verfahren gegen die Matrosen, welches vom Kriegsgerichtsrat Dobring geführt wurde, verwendet. Doch die USPD hatte, im Gegenteil, die Matrosen zur Vorsicht gemahnt.⁷ Ähnlich wie in Lenins Urteil wurden Köbis und Reichpietsch ab sofort unter den Spartakisten als „wahre Helden“ anerkannt,⁸ bzw. als „wahre Helden des Weltkrieges“⁹. Dieser Ausdruck wurde absichtlich benutzt, um einen Kontrast zu den Soldaten in den Schützengräbern zu bilden, die nicht mehr als Helden, sondern als Teilnehmer/Opfer des schrecklichen, imperialistischen Krieges erschienen. Der Aufstand wird danach als vorbereitende Handlung der Novemberrevolution interpretiert. 1919 sieht die Abgeordnete Luise Zietz (USPD) die Matrosen als „Vorläufer“ dieser Revolution.¹⁰ Gewiss haben die Ereignisse, die arbiträre Erschießung und die harten Repressionen, viele Matrosen geprägt und sind ihnen im Gedächtnis geblieben, unter anderen bei denjenigen, die an der Revolution von 1918 teilgenommen hatten.¹¹
Beckers, Hans: Wie ich zum Tode verurteilt wurde. Frankfurt 1986 [1928], S. 51. Horn, Naval Mutinies, S. 118 ff., und Regulski, Lieber für die Ideale erschossen werden, S. 274. Flugblatt der Spartakusgruppe: Folgt Ihrem Beispiel, September 1917. In: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, S. 503. Spartakusbrief Nr. 7, vom November 1917. In: Regulski, Lieber für die Ideale erschossen werden, S. 288. Philipp, Albrecht (Hrsg.): Die Ursachen des Deutschen Zusammenbruchs im Jahre 1918. (= Das Werk des Untersuchungsausschusses der Deutschen Verfassungsgebenden Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages 1919 – 1928). Vierte Reihe. Bd. 9, 1. Verhandlungsbericht: Marine und Zusammenbruch. Berlin 1928, S. 307, und Regulski, Lieber für die Ideale erschossen werden, S. 288. Regulski, Lieber für die Ideale erschossen werden, S. 237. Laut des Zeitzeugenberichtes von Gustav Noske: „War Missstimmung unter den Mannschaften wegen des strengen Urteils aus dem
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Ein geteiltes Erbe der Weimarer Linken Diese Interpretation bleibt und entfaltet sich in der kommunistischen Welt der Zwanzigerjahre. Köbis und Reichpietsch wurden als „die ersten Märtyrer der deutschen Revolution“ kanonisiert, aber als Märtyrer mit Zukunft: „Das Blut der ersten Märtyrer der deutschen Revolution sollte nicht umsonst geflossen sein.“¹² In den Sitzungen des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses über die Ursachen des deutschen Zusammenbruches im Jahre 1918 beschäftigt man sich auch mit dem Aufstand von Wilhelmshaven und seinen Folgen. Viele Matrosen werden als Augenzeugen gehört. Diese Sitzungen fungieren auch als eine Bühne für die Sozialisten, um die Militärjustiz mit dem Fall Köbis und Reichpietsch zu denunzieren. So schreibt Wilhelm Dittmann in seinem Bericht, in dem er das Verfahren anklagt, von einem „Justizmord“.¹³ Genereller wird das Vermächtnis der Aufständischen besonders von linken Militärverbänden und Gruppierungen kultiviert. Die Erinnerung an die beiden Matrosen wurde während der Weimarer Republik insbesondere bei der Rotfront lebendig gehalten, die den Tag der Erschießung (5. September) als Gedenktag in ihren politischen Kalender einschrieb und einen Aufmarsch zu den Gräbern zu diesem Anlass organisierte.¹⁴ Jene Gräber der beiden „Märtyrer“ auf dem Gelände einer Kaserne in der Wahner Heide bei Köln nahm der Rote Frontkämpferbund (RFB) in seine Obhut.¹⁵ Das führte zum Streit mit der Polizei, die den Zugang zur Kaserne und zum Friedhof beschränkte.¹⁶ Die Kommunisten errichteten auf diesen Ruhestätten einen kleinen Gedenkstein in der Nähe der Grabmale. Dieser wurde 1928 unter Beteiligung vieler Aktivisten und mit einer Rede des Reichstagsabgeordneten Walter Stoecker enthüllt.
Jahre 1917 vorhanden? mit Ja beantworten. Schon in der allerersten Sitzung, an der ich in Kiel am Montag, den 4. November, auf der Station teilgenommen habe, war eine der Forderungen, die von den Wortführern der Mannschaften vorgetragen wurden, dass sofort die zu schweren Zuchthausstrafen verurteilten Kameraden freizulassen sein“. Zitiert aus: Philipp, Die Ursachen, S. 68 – 69. Vgl. Illustrierte Geschichte der Deutschen Revolution, Berlin 1929, S. 158. So sei das Verfahren „eines der größten Schandstücke der Militärjustiz“. Dittmann, Wilhelm: Die Marine-Justiz-Morde von 1917 und die Admirals-Rebellion von 1918. Berlin 1926. Sewell, Sara Ann: Mourning Comrades: Communist Funerary Rituals in Cologne during the Weimar Republic. In: German Studies Review 32/3 (2009), S. 539 – 540. Finker, Kurt: Geschichte des Roten Frontkämpferbundes, Berlin 1982, S. 105, 116. Sewell, Mourning Comrades, S 540 – 541.
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Abb. 1: Enthüllung des Gedenksteines für Köbis und Reichpietsch, Köln-Wahn. Rede des Reichstagsabgeordneten Walter Stoecker (KPD), 1928, Pressefoto, Nachlass Wolfgang Eckardt.
Wenige Jahre später werden die Nazis die Gräber zerstören und die Denksteine zerschlagen.¹⁷ Im Unterschied zu den anderen Kampf- und Veteranenverbänden stellte der RFB nicht die Kriegsgefallenen in den Vordergrund der Totenehrung, sondern die „für die Revolution“ gefallenen Kämpfer. Hierbei stehen Köbis und Reichpietsch in der ersten Reihe. Die Zeitung Rote Front würdigte in mehreren Ausgaben den Kampf der revolutionären Matrosen, insbesondere von Köbis und Reichpietsch. Bei Demos und Paraden marschierte die Abteilung „rote Matrosen“ der Rotfront mit Transparenten und Bildern der erschossenen „Genossen“. Auf einem Bild der RFB sieht man sogar die Sektion „Rote Marine“ mit einer Fahne, worauf die Gesichter der beiden Matrosen abgebildet sind.¹⁸ Nach dem Verbot des RFB (1929) wurde der „Rote Marine Verein Köbis-Reichpietsch“ gegründet. Auch Sozialisten, die dem Reichsbanner angehörten, setzten sich für das Gedenken an die erschossenen Matrosen ein.¹⁹ Hier schafft die Literatur die Wege der Erinnerung. Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror. Paris/Basel 1933, S. 185. Hier zu sehen: http://niqolas.de/postcard-social.de/1928_marineg.png. In einem Artikel des Reichsbanners klagt Scheidemann Scheer an, der die Matrosen füsilieren lässt, ohne die Gnade des Kaisers zu beantragen (Vgl. Justizmorde im Kriege. Ein Beitrag zu der Dolchstoßlegende. In: Das Reichsbanner, 13. Februar 1926, S. 24– 25). Darüber ins Gesamt Zie-
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Helden auf der Bühne Von den verschiedenen literarischen Werken, die in der Weimarer Zeit das Thema der Roten Matrosen behandelt haben, werden bestimmte ausgewählt, die in die Meistererzählung der DDR integriert werden konnten.²⁰ Eigentlich organisiert sie eine Rangliste: Es gibt diejenigen, die den Grundstein legten, „gegen den Preußischen Kadavergehorsam“,²¹ aber ohne „konsequent“ die Schlüsse zu ziehen oder die richtigen Interpretationen darzulegen (Albert Daudistel, Ernst Toller, Theodor Plievier) und es gibt das Werk, das den notwendigen Rahmen gebaut hat, um die Zeit richtig zu verstehen, und zwar Die Matrosen von Cattaro von Friedrich Wolf. Die ersten Werke werden infolgedessen erst spät in der DDR publiziert und erlebten eine sporadische Rezeption. Im Gegensatz dazu wird das Stück von Wolf zu einem mehrfach publizierten und politischen Werkzeug. Albert Daudistel zählt zu den „Wegbereitern einer proletarischen Literatur in Deutschland“ liest man in einem Literatur-Handbuch der DDR.²² Der Schriftsteller, der an der Münchner Rätepublik teilgenommen hatte, verfasste in den zwanziger Jahren Das Opfer, welches in kommunistischen Einrichtungen publiziert wurde und schnell und mehrmals ins Russische übersetzt wurde. Mit der Figur des Heinrich Hölzel schildert Daudistel die Entwicklung eines aus dem rheinischen Grubengebiet stammenden Waisenknaben zum Revolutionär, der in der Novemberrevolution als Opfer der Konterrevolution und Märtyrer umkommt. Mit Köbis und Reichpietsch gründete er erst einen revolutionären Zirkel und leitete dann die Aktion. Hier ist der Aufruhr von Kiel die natürliche Folge der Unruhe von 1917. Die Matrosen von Kiel verwirklichen die Hoffnungen der Männer von Wilhelmshaven. Die Porträts von Köbis und Reichpietsch werden sogar durch die Mannschaft verteilt. Der Topos Rache steht im Mittelpunkt des Romans. Im November 1918 fordert Hölzel in Wilhelmshaven „das Leben von Zehntausend Offiziere[n]“ für diejenigen von „Max und Albin“. Hölzel ist zu dieser Zeit noch in der Volksmarinedivision in Berlin und verteidigt das Schloss. Mit dem Werk Daudismann Benjamin : Veteranen der Republik: Kriegserinnerung und demokratische Politik 1918– 1933, Bonn 2014 Zu dieser Frage siehe den Beitrag von Julian Nordhues in diesem Band. Klein, Alfred: Im Auftrag ihrer Klasse. Weg und Leistung der deutschen Arbeiterschriftsteller, 1918 – 1933. Berlin/Weimar 1972, S. 240. Vgl. Neugebauer, Heinz (Hrsg.): Proletarisch-revolutionäre Literatur 1918 bis 1933. Ein Abriss (Schriftsteller der Gegenwart). Berlin 1962. S. 121, Daudistel, Albert: Das Opfer. Berlin 1929. Über Daudistel siehe Fähnders, Walter: „Aber diese verfluchten Menschen versagten!“ Albert Daudistels Roman Das Opfer (1925). In „Friede, Freiheit, Brot!“. Romane zur deutschen Novemberrevolution, Hrsg. von Ulrich Kittstein u. Regine Zeller. Amsterdam 2009 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 71), S. 139 – 161.
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tels konnte man in der DDR den Roten Matrosen jedoch kein Denkmal setzen. Der Schriftsteller selbst besaß nämlich keine geeignete Biografie: Er wurde aus dem KPD-nahen Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller ausgeschlossen. So attestierte man eine „mangelnde Bindung Albert Daudistels an die revolutionäre Arbeiterklasse“. Sein Werk zeuge außerdem von den „anarchistischen Vorstellungen“ Hölzels und stelle ihn vor allem als sprunghafte Einzelpersönlichkeit dar. Auch sei versäumt worden, die „führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei“ darzustellen.²³ Außerdem fehle die Darstellung der „treibende[n] Kraft des Widerstandes gegen den imperialistischen Krieg“, d. h. der Spartakisten.²⁴ So wurde Das Opfer nur 1981 noch einmal in der DDR publiziert.²⁵ Auch Des Kaisers Kulis von Theodor Plievier passt nicht so gut in das geschichtliche Narrativ der DDR.²⁶ Der Aufstand der Matrosen wird dort mit zu viel Spontaneität aufgeladen. Wie Daudistel fehle Plievier die Einsicht, dass eine revolutionäre Führung („eine marxistisch-leninistische Kampfpartei“) eine „Stärke“ und keine „Schwäche“ sei.²⁷ Die „anarchistischen Komponenten seiner Weltanschauung“, um im DDR-Wortlaut zu bleiben, der oft gegen die Halb-Alliierten von Links benutzt wurde, verringern auch die Strahlkraft seines Werkes. Plievier war ein ehemaliger Matrose, der der USPD nahestand. Sein Buch erzählt ausführlich von der Unruhe von 1917, aber diese ist nur ein Teil des Romans. Köbis spielt eine große Rolle als Rädelsführer. Wie Ernst Toller (siehe unten), empört sich Plievier stark über die Militärjustiz und das Verfahren. Seine ideologischen Kritiken gegenüber der Partei und seine Erfahrung führten 1947 zu seiner Abkehr vom Kommunismus und zur Übersiedlung in den Westen. So erschien sein Buch Kaisers Kulis nur in den 1980er-Jahren in der DDR.²⁸ Ernst Toller (1893 – 1939) hat seinerseits dem Aufstand und Köbis und Reichpietsch ein Theaterstück gewidmet: Feuer aus den Kesseln, von 1930. Die Geschichte beginnt mit der Schlacht vor dem Skagerrak, über den Aufstand von
Neugebauer (Hrsg.), Proletarisch-revolutionäre Literatur, S. 122– 124: „[…] weil das mehrfache Versagen der deutschen Sozialdemokratie im Kriege und in der Novemberrevolution als menschliches Versagen, als Schwäche der Arbeiterklasse überhaupt interpretiert wird. Während die revolutionären Matrosen den Arbeitern von Wilhelmshaven im Munitionsarbeiterstreik von 1917 beistehen, lassen – nach Daudistel -– die Arbeiter und Soldaten der Ost und Westfront die Matrosen in November 1918 im Stich.“ (S. 124). Siehe auch Klein, Im Auftrag, S. 221, 232. Klein, Im Auftrag, S. 226. Im Verlag Neues Leben. Plievier, Theodor: Des Kaisers Kulis. Roman der deutschen Kriegsflotte. Berlin 1930. Klein, Im Auftrag, S. 237. Zu dieser Interpretation der Ereignisse und den Debatten darüber in der DDR vgl. Niess,Wolfgang: Die Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichtsschreibung: Deutungen von der Weimarer Republik bis ins 21. Jahrhundert, Berlin 2013. S. 345 – 351 u. a. 1985 bei Aufbau, 1988 beim Verlag der Nation
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1917 und erzählt dann ausführlich vom Verfahren bis zur Erschießung, sowie vom späteren Ausschuss des Reichstages. Das Schauspiel avanciert zu einer klaren Klage gegen die Militärjustiz. Hier wird eine direkte Verbindung zwischen den Ereignissen von Wilhelmshaven (1917) und denen von Kiel (1918) hergestellt.²⁹ Das Schicksal dieses Stückes in der DDR ist ambivalent. Einerseits wird es mehrmals publiziert³⁰ und gespielt, andererseits wird Toller niemals als bevorzugter Autor des Regimes präsentiert, ja sogar für seine politischen Einstellungen viel kritisiert. Für die Kommunisten blieb das Stück von seinen pazifistischen Ansichten geprägt und enthielt nicht die „richtigen“ politischen Sichtweisen:³¹ „Er konnte nicht die Ursachen für das Scheitern der spontanen Erhebung aufdecken: die Uneinigkeit der Aufständischen und das Fehlen einer organisierten Führung, der revolutionären Partei.“³² Ab den 1950er-Jahren wird Tollers Engagement während der Räterepublik immer mehr negativ beurteilt.³³ Nichtdestotrotz wird eine Auswahl seines Werkes publiziert, Feuer aus den Kesseln inklusive. Das Stück wird sogar anlässlich des Jahrestages der Novemberrevolution 1958 feierlich aufgeführt. Die Beurteilung Tollers ändert sich in den 1970er- und 1980er-Jahren: Er wird in das literarische Erbe der DDR stärker integriert. So schreibt 1979 der Theaterwissenschaftler Hugo Fetting, dass das Werk Tollers „den Weg zu einem parteilich und politisch engagiertem Theater, den die Bühnenkunst etwa Mitte der zwanziger Jahre einzuschlagen begann“.³⁴ Wolfs Stück ist ohne jeden Zweifel der Text, der in der DDR die literarische und theatralische Erinnerung an die „roten Matrosen“ als eigene Kategorie transportierte, was umso leichter möglich wurde, als das Stück schon in den 1930er-Jahren ein großer Erfolg war, und das nicht nur in Deutschland, sondern auch in der UdSSR und den USA.³⁵ Die Präsenz des Stückes in der kommunistischen Welt war stark durch die Persönlichkeit des Autors bestimmt, der ein treues Mitglied der Partei blieb, während der Nazizeit im Exil in der Sowjetunion lebte
Toller, Ernst: Gesammelte Werke, Band 3. Politisches Theater und Dramen in Exil, 1927– 1939. München/Wien 1995, S. 180. Erstmals bei Henschel (1958), und danach in den Ausgewählten Schriften bei Volk und Welt, 1959 und 1961. Gill, Douglas u. Schneider, Ulrich: Mutiny as a Theme in English and German Literature on World War I. In: Intimate Enemies, English and German literary reactions to the Great War 1914– 1918. Hrsg. von Martin Löschnigg u. Franz Stanzel. Heidelberg 1993, S. 369. Neugebauer (Hrsg.), Proletarisch-revolutionäre Literatur. S. 295 – 296. Lamb, Stephen: Hero or Villain? Notes on the Reception of Ernst Toller in the GDR. In: The German Quarterly 59/3 (1986), S. 375 – 386. Lamb, Hero or Villain S. 382. Vgl. dazu den reichhaltigen Apparat in Hammer, Klaus (Hrsg.): Friedrich Wolf, Die Matrosen von Cattaro, Stücktexte/Dokumente zur Wirkungsgeschichte. Leipzig 1988, S. 80.
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und in seinem Text die kanonische Interpretation der Zeit vertrat. Das Schauspiel hat nicht Wilhelmshaven, aber den Aufstand der österreich-ungarischen Matrosen im Januar/Februar 1918 zum Gegenstand. In der Bucht von Kotor/Cattaro protestierten Tausende von Matrosen gegen den Nahrungsmangel und die schlechte Qualität des Essens. Ein Matrosenausschuss wurde gegründet, der weitreichende politische Forderungen stellte. Das geht also politisch viel tiefer und weiter als in Wilhelmshaven ein paar Monaten vorher. Auch die Aktion der Matrosen von Kronstadt (1917), die die Bolschewiki unterstützt haben, nehmen sie sich als Vorbild. In dem Stück Wolfs singen sie sogar das (russische) Lied, das in der DDR als Lied der Matrosen von Kronstadt bekannt wurde. Franz Rasch, der „Rädelsführer“ sieht den Kampf der Matrosen von Cattaro als Verlängerung des Kampfs der russischen Matrosen und der exekutierten Matrosen Köbis und Reichpietsch. Sollte die Marine in Cattaro gegen die Meuterer schießen, würden „die Schüsse von Cattaro […] ebenso durch die Länder dröhnen wie 1917 die Schüsse von Kronstadt und der Wahner Heide [also des Orts der Hinrichtung von Köbis und Reichpietsch]“. Es muss nochmals betont werden, wie wichtig für die Meistererzählung diese Operation ist, die darin besteht, Köbis und Reichpietsch auf die gleiche Ebene wie die russischen/revolutionären/bolschewistischen Matrosen von Kronstadt zu heben. In der DDR war das Stück ein Bühnenklassiker. Als das Land gegründet wurde gab es ein doppeltes Erbe, gezeichnet als Kategorie der „Tradition“, vor allem als literarische: „Die Roten Matrosen“ als Ganzes und Köbis und Reichpietsch als Vorbilder. Die „Fehler“ und die „Lehren“, die sich aus diesen Geschichten ableiten ließen, traten klar hervor.
II Helden der DDR Mit der Gründung der DDR gewinnen die Figuren von Reichpietsch und Köbis eine neue Bedeutung. Aus Antihelden der Weimarer Linke und Ikonen der KontraKultur des Kommunismus werden Vorläufer von Nationalhelden des Regimes.Wie schon gezeigt wurde, sollten Köbis und Reichpietsch als Akteure konstruiert werden, die sich an der Etablierung eines deutschen revolutionären Weges beteiligt hatten.³⁶ In der Geschichtspolitik der SED avancieren die beiden Märtyrer zu Schlüsselfiguren und werden so für die Deutung der Ereignisse von 1917 immer wieder ins Spiel gebracht.
Sogar mit Verfälschungen, Lokatis, Der rote Faden, S. 73.
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Ein Meisterstück des Meisternarrativs Die diskursive Verwendung der Unruhe in der Flotte und des Aufstandes von Wilhelmshaven stützt sich auf eine interpretative Linie, die kurz nach den Ereignissen erstmals formuliert wurde. Für die KPD und die SED ist der Matrosenbewegung eine echte revolutionäre Aktion, das heißt, er wird nicht nur als ein einfacher Protest – für eine Verbesserung der Lebensbedingungen an Bord – verstanden. Ferner wird unterstrichen, dass es sich dabei nicht nur um eine Bewegung für den Frieden, sondern um eine Erhebung für eine neue Welt, einen echten revolutionären Kampf handelte. In der Geschichtsschreibung der DDR wird der Aufstand als „die zweite große Massenaktion gegen den imperialistischen Krieg“ (nach dem Aprilstreik) bezeichnet.³⁷ Der Aufstand von 1917 ordnet sich in die Etappen der Weltrevolution ein. Im Nachwort von Rebellion in der Hölle (1976) schreiben Robert Rosentreter und Horst Westphal: „Die revolutionäre Matrosenbewegung 1917 war die erste größere revolutionäre Massenbewegung in den Streitkräften des deutschen Imperialismus überhaupt.“³⁸ Das bedeutet zweitens, dass die Ereignisse in Wilhelmshaven durch eine „organisierte revolutionäre Mannschaftsbewegung“ und „die von Reichpietsch und Köbis geschaffenen sozialistischen Organisationen“³⁹ ausgelöst wurden und dadurch „eine weitverzweigte revolutionäre Bewegung“⁴⁰ entstand. Nach dieser Interpretation werden die Aufmärsche des 1./2. Augusts als die Umsetzung und Vollendung eines revolutionären „Plans“ verstanden.⁴¹ „Die Kämpfe der Matrosen von 1917 bis 1919 waren keine einzelnen Aktionen, sondern trugen organisierten Massencharakter und dienten progressiven Zielen“, schrieb noch der Korvettenkapitän der Volksmarine Hafenstein.⁴² Mehr noch: Die Erhebung wäre zusammen mit den Hafen- und Werftarbeitern vorbereitet wor-
Vgl. Norden, Albert: Zwischen Berlin und Moskau, Zur Geschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen. Berlin 1954, S. 69, Gutsche, Willibald [u. a.]: Von Sarajevo nach Versailles. Deutschland im Ersten Weltkrieg. Berlin 1974/1985, S. 205. Und später noch: Dorst, Klaus u. Wünsche,Wolfgang: Der erste Weltkrieg. Erscheinung und Wesen. Berlin 1989, S. 219 für das Zitat. Rosentreter, Robert u. Westphal, Horst: Rebellion in der Hölle. Berlin 1976, S. 251. Gutsche [u. a.], Von Sarajevo, S. 202– 203; („eine breite revolutionäre Friedensbewegung“), Bernhard, Hans-Joachim: Der Aufstand in der deutschen Hochseeflotte im Sommer 1917. Leipzig (Diss.) 1958. Norden, Berlin und Moskau, S. 68. Er spricht hier auch von einer „zentralen Führung“. Gutsche [u. a.], Von Sarajevo, S. 204. Hafenstein, H.: Die revolutionären Traditionen der Volksmarine. In: Marinewesen 9 (1965), S. 1027.
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den.⁴³ Dieses Merkmal der Bewegung – nicht die Spontaneität, sondern einen gewissen Grad an Organisation – hervorzuheben, stärkt die politische Interpretation des Protestes. Diese Interpretationslinie betont auch, dass die organisierten Matrosen gute Kontakte und Beziehungen mit den Spartakisten gehabt hätten. Beide hätten die gleichen Ziele gehabt:⁴⁴ „Ein enger Zusammenhang besteht zwischen der Matrosenbewegung in der kaiserlichen Flotte und dem Kampf der Spartakusgruppe, [die] einen aktivierenden Einfluss auf die Bewegung in der Flotte ausübte.“⁴⁵ In der Forschung werden diese Interpretationen nuanciert betrachtet. Die Schaffung von Frieden war sicher mehr der Erwartungshorizont als ein klares Ziel der Revolution. Zwar gab es einen „Soldatenbund“ der Matrosen und danach eine „Flottenzentrale“, aber beide hatten keine Zeit, sich wirklich stark zu entwickeln⁴⁶. Zwar waren mehrere Matrosen schon politisiert (wie Willy Sachse und Willi Weber u. a), zwar haben mehr und mehr Diskussionen und Debatten um die USPD stattgefunden, zwar zirkulierten auch linke Zeitungen unter den Matrosen – doch die Revolution als Ziel der Proteste und Unruhen, wenn auch nur vage, taucht eigentlich kaum in den Quellen auf.⁴⁷ Bei den Matrosen ist keine politische Einigkeit festzustellen.⁴⁸ Einige von ihnen (Reichpietsch) schlossen sich der USPD an und forderten die Kameraden dazu auf, es ihnen gleich zu tun, mehr aber auch nicht.
Vgl. Strauhs, H.: Die Verkörperung der revolutionären Traditionen der Roten Matrosen und der Volksmarinedivision in der Volksmarine der DDR. In: Marinewesen 3 (1963), S. 280. Vgl. Norden, Berlin und Moskau, S. 68, und Bernhard, Der Aufstand. In: Regulski, Lieber für die Ideale erschossen werden, S. 19. Hafenstein, Die revolutionären Traditionen, S. 1027. Mit Nuancen bei den Historikern: „Die immer stärkere Hinwendung zu revolutionären Kampfformen war nicht zuletzt auf den Einfluss der Linken, insbesondere der Spartakusgruppe, zurückzuführen, deren Flugschriften in die Hände der Matrosen und Heizer gelangten“, Gutsche [u. a.], Von Sarajevo, S. 203. Horn, Naval Mutinies, S. 93, 126, Regulski, Lieber für die Ideale erschossen werden, S. 125, 151– 154, 203, 275 – 278. Der Soldatenbund des Prinzregent-Luitpold-Schiffs wurde vor allem für die Verbesserung der Bedingungen am Bord gegründet, laut Daniel Horn (S. 103) und das politische Engagement war hauptsächlich für den Frieden (S. 115). Reichpietsch wollte trotzdem die offiziell erlaubten „Menagekommissionen“ als ein Rahmen benutzen, um eine Art Sowjet zu schaffen. Sie wären der erste Schritt zu Bildung von Matrosenräten nach russischem Muster, laut eines von ihm geschrieben Rundschreibens, Regulski, Lieber für die Ideale erschossen werden, S. 96. Regulski, Lieber für die Ideale erschossen werden, S. 85 – 86 (für das Frühjahr), 148, Horn, Naval Mutinies, S. 126: Hans Beckers möchte sich nicht vor den Matrosen des Friedrich-der-Grosse beugen.
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Dennoch lehnten Köbis und Beckers es strikt ab, „ überhaupt zu einer Partei oder Gruppierung Kontakt aufzunehmen “⁴⁹. Folgt man Daniel Horn – und danach auch Christoph Regulski – so zielte die Matrosenbewegung vor allem auf die Schaffung eines Friedenszustandes ab und war ein Protest gegen die Behandlung der Besatzung durch die Offiziere. So betont er, dass in den Vorfällen von Anfang August niemals der Frieden oder politische Ziele als Forderungen auftauchten, ausgenommen die Rede von Köbis in Rüstersiel vom 2. August.⁵⁰ Die Matrosen griffen nie zu Waffen, so wie es in etlichen DDR-Erzählungen behauptet wird.⁵¹ Die Darstellung dieser Episode in der DDR fällt in den 1980er-Jahren zunehmend bescheidener aus. Die Politisierung der Matrosen wird weder pauschal dargestellt, noch werden die revolutionären Einstellungen pauschal verallgemeinert.⁵² Zwar sind die Matrosen von Wilhelmshaven ein „ leuchtendes Vorbild für Kühnheit und Opfermut“,⁵³ nichtsdestotrotz sollen ihre Fehler erklärt und erläutert werden. Die gegebene Erklärung ist immer die Gleiche, auch für die folgenden Jahre. Es habe an einer echten revolutionären und bolschewisierten Partei gefehlt, wie es der Offizier der Volksmarine Strauhs behauptet: „Die Hauptursache ihrer Niederlage war, dass die revolutionäre marxistisch-leninistische Kampfpartei, die Führerin der Bewegung, fehlte und dieser Aufstand verraten wurde.“⁵⁴ Der Gebrauchswert der Revolutionäre oder angeblichen Revolutionäre des Weltkrieges liegt auch daran, dass ihre Kämpfe als eine Aktion, die viel besser dem Vaterland und dem deutschen Volk insgesamt (und nicht nur der Arbeiterklasse) genutzt hat, als die Taten der Herrschenden und des Imperialismus. „[Die Matrosen] handelten als wahrhafte Patrioten […] [und] führten im Interesse der deutschen Nation in der kaiserlichen Flotte einen mutigen und opferreichen Kampf.“⁵⁵ Diese Lesart des Protestes der Matrosen schreibt sich in eine generelle Einstellung der Opposition zum Großen Krieg ein, die die KPD schon am Ende des Zweiten Weltkrieges entwickelt hatte und durch die „Nagruko“ der Sechzigerjahre gestärkt wurde:⁵⁶ „Wenn [Pieck] sich vor dem ersten Weltkrieg dem linken Flügel
Regulski, Lieber für die Ideale erschossen werden, S. 289. Horn, Naval Mutinies, S. 133 – 134. Horn, Naval Mutinies, S. 130 – 131, 133, Regulski, Lieber für die Ideale erschossen werden, S. 145 – 148. Für die Erzählung von bewaffneten Matrosen vgl. Strauhs, Die Verkörperung, S. 280, 282. Dorst/Wünsche, Der erste Weltkrieg. S. 219. Gedenkstätten der Arbeiterbewegung im Bezirk Rostock (Kommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung bei der Bezirksleitung Rostock der SED und vom Bezirksvorstand Rostock der Gesellschaft für Sport und Technik), 1973, S. 49. Strauhs, Die Verkörperung, S. 282. Hafenstein, Die revolutionären Traditionen, S. 1035, 1037. Hervorhebung d. V. Siehe hierzu den Beitrag von Marcus Schönewald in diesem Band.
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der Sozialdemokratischen Partei anschloß und Schulter an Schulter mit Karl Liebknecht gegen den preußisch-deutschen Militarismus focht, kämpfte er da nicht dafür, dem deutschen Volke die Schrecken des ersten Weltkrieges zu ersparen?“ (1946).⁵⁷ In diesem Interpretationsmuster werden die Sichtweisen umgekehrt: Die angeblichen „Verräter“ des Vaterlandes sind nunmehr die, die „das Interesse des Vaterlandes anders, besser und richtiger verstanden und vertraten als ihre Herren“.⁵⁸ Wenn dem Kampf der Revolutionäre viele gefolgt wären, wäre das Leben so vieler Menschen gerettet worden. Am Ende des Ersten Weltkrieges hätte infolgedessen die nationale Unabhängigkeit gewahrt werden können: „keine Inflation, keinen Hitler und keinen Hitlerkrieg“ (1946).⁵⁹ Die „Interessen der Arbeiterklasse“ und „die Interessen der Nation“ sind hier keine Gegensätze.⁶⁰ In dieser Meistererzählung spielt natürlich die Russische Revolution als Vorbild eine bedeutende Rolle. Gewiss weckten die Ereignisse in Russland überall in den Heeren neue Ideen und Hoffnungen, so auch bei den schlecht behandelten Matrosen. In der DDR hob man hervor, dass die Matrosen vor allem durch die Russische Revolution motiviert gewesen seien. Sie hätten „nach ihrem Beispiel“, nach dem ihrer russischen Genossen, gehandelt. Man hob außerdem hervor und unterstrich die Idee, im Rückgriff auf Reichpietsch, einen Matrosenrat nach dem russischen Modell zu bilden.⁶¹ Diese Diskurse ermöglichten es, die zeitgenössischen Beziehungen der Marine der Warschauer Vertragsstaaten und insbesondere der UdSSR in der Vergangenheit zu verankern: So sprach man von den „historischen Wurzeln der Waffenbrüderschaft unserer beiden Flotten“.⁶² Insbesondere die Volksmarine folgte in ihrer Kooperation mit der sowjetischen Flotte dem Vorbild des Jahres 1917 und hob sie auf eine höhere Ebene. Der Aufstand der deutschen Matrosen von 1917 ist hier nicht nur eine Folge der Russischen Revolution, er ist auch ein wichtiger Schritt hin zur deutschen
Zu Fred Oelßner siehe den Beitrag von Marcus Schönewald in diesem Band. Norden, Berlin und Moskau, S. 5 – 6; und breiter Lokatis, Der Rote Faden, S. 160 ff. Paul Wandel: Wilhelm Pieck 70 Jahre. In: Wilhelm Pieck. Dem Vorkämpfer für ein neues Deutschland zum 70. Geburtstag, Berlin 1946, in Beitrag Schönewald, bes. S. ###. Zu dieser Herangehensweise der Nation vgl. insgesamt Berger, Stefan: National Paradigm and Legitimacy: Uses of Academic History Writing in the 1960s. In: The Workers’ and Peasants’ State. Communism and Society in East Germany under Ulbricht 1945 – 1971. Hrsg. von Patrick Major u. Jonathan Osmond. Manchester 2002, besonders S. 250 ff. Siehe Hafenstein, Die revolutionären Traditionen, S. 1036 für das Zitat, S. 1029 – 1030, 1034. In dieser Beziehung war Reichpietsch sicher mehr engagiert als andere Matrosen (Vgl. Horn, Naval Mutinies, S. 87, 101, 113). Hafenstein, Die revolutionären Traditionen, S. 1036.
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Revolution vom November 1918.⁶³ Die Proteste von 1917 und Wilhelmshaven wurden so zur Ankündigung der Revolution von 1918, die zuerst in der Marine ausbrach, besonders in Kiel. Erstens wird hier durch den Aktivismus der ehemaligen Kameraden Reichpietsch und Köbis eine direkte Verbindung mit den Ereignissen vom November 1918 hergestellt. Gewiss ist die sehr harsche Behandlung der Menschen den Matrosen im Gedächtnis geblieben, umso mehr als die Bestraften zu diesem Zeitpunkt noch in den Zuchthäusern saßen. Es gibt mehrere Belege und Quellen dafür.⁶⁴ Für einige von ihnen sei Kiel ein Art Rache für Wilhelmshaven/Köln gewesen. „Die Anhänger von Max Reichpietsch und Albin Köbis, die man zu Hunderten in die Strafbataillone nach Flandern verbannt hatte, marschierten unter roten Fahnen und in geschlossenen Formationen nach Deutschland zurück und stellten sich in ihren Heimartorten an die Spitze der revolutionären Bewegung.“⁶⁵ Die persönliche Kontinuität fungiert als großes Argument, um die beiden Ereignisse in ein direktes Verhältnis zu bringen: „Mancher Teilnehmer bzw. Verurteilter des bewaffneten Matrosenaufstandes von 1917 stand in der Novemberrevolution 1918 an vorderster Front und kämpfte aktiv für die Lösung des nationalen Grundwiderspruchs in Deutschland.“⁶⁶ Zweitens stellt die Geschichte des Aufstandes der Wilhelmshavener Matrosen keine Niederlage dar, denn die Ermordung der beiden Matrosen konnte die revolutionäre Bewegung nicht aufhalten⁶⁷. So ordnet sich der Aufstand in eine Reihe revolutionärer Kämpfe ein, die letztlich zum Sieg geführt haben: zunächst 1918, als „Kampferfahrungen, die sie befähigten, in der Novemberrevolution 1918 voranzugehen“.⁶⁸ Bei Lothar Lang zum Beispiel werden Köbis und Reichpietsch als „Opfer“ der „Brutalität der Konterrevolution“ in einer Reihe zusammen mit Karl Liebknecht
Zur Erinnerung der Novemberrevolution, siehe Segelke, Arne: The Memoralization of 9 November 1918 in the Two German States. In: Memorialization in Germany since 1945. Hrsg. von Bill Niven u. Chloe Paver. London 2010, S. 369 – 377, ders.: Eine Revolution, zwei Sichtweisen. Die Erinnerung an Novemberrevolution und Matrosenaufstand in BRD und DDR. In: Die Stunde der Matrosen. Kiel und die deutsche Revolution 1918. Hrsg. von Sonja Kinzler u. Doris Tillmann. Darmstadt, S. 266 – 272. Vgl. Anm. 12. Rosentreter/Westphal, Rebellion in der Hölle, S. 254. Die Autoren zitieren Paul Lux, ein Matrose der „Friedrich der Große“ (siehe auch S. 51, 53, 104, 154– 156, 211), Paul Eichler, aus Leipzig, Matrose der „Prinzregent Luitpold“ (siehe auch S. 42, 50, 81 87, 98 – 99,), Robert Linke (siehe auch S. 92, 94, 220), Franz Müller, aus Merseburg, Matrose der „Friedrich der Große“ (siehe auch S. 54, 81, 154– 155, 211), Karl Meseberg von der „Westfalen“, ermordet in Halle, März 1919 (siehe auch S. 227, 247– 248, 256). Strauhs, Die Verkörperung, S. 282. Norden, Berlin und Moskau, S. 6. Rosentreter/Westphal, Rebellion in der Hölle, S. 251.
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und den Erschossenen der bayerischen Räterepublik dargestellt.⁶⁹ So wird der Protest von 1917 als „Vorläufer der großen Matrosenerhebung im Jahre 1918“ (Strauhs) bezeichnet. Das „Rote Matrosen“-Narrativ der DDR ist eine Konstruktion, die auf drei wesentlichen Elementen fußt: der Matrosenbewegung und dem Aufstand von Wilhelmshaven von 1917, von Kiel 1918 und der Episode der Volksmarine in Berlin von 1919. Aufgrund der Nähe von vielen Matrosen zur USPD, den Spartakisten und den Gründern der KPD war diese „Division“ ein wichtiger Bezugspunkt der DDRGeschichtspolitik.⁷⁰ Um die Revolution zu verteidigen, bildete sich am 11. November eine „Volksmarinedivision“. Sie bezog ihr Quartier teils im Berliner Marstall, teils im Schloss. Ende Dezember entstand ein Konflikt mit der Regierung über die Entlohnung und Kunstgegenstände des Schlosses. Das führte zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung an Weihnachten mit Toten, die auf dem „Friedhof der Märzgefallenen“ bestattet wurden. Die Division wird im Januar 1919 schließlich in die Republikanische Schutzwehr integriert, zersplittert und untergedrückt mit den Märzkämpfen in Berlin. Immer wenn es in der DDR um die „Roten Matrosen“ geht, nimmt diese Geschichte einen wichtigen Platz ein.⁷¹ Die sehr offizielle Illustrierte Geschichte der DDR widmet den „Erben der Roten Matrosen“ eine Seite.⁷² Darin wird lediglich die Volksmarinedivision in Zusammenhang mit zwei Bildern erwähnt. Das Vermächtnis dieser dreigliedrigen Geschichte steht im Zentrum der DDRGeschichtspolitik und nimmt einen bedeutenden Platz in der diskursiven Identitätsstiftung ein. So behauptete der DDR-Verteidigungsminister Heinz Hoffmann (1910 – 1985), „das Vermächtnis der roten Matrosen [ist] erst in einem Teil Deutschlands [erfüllt]“ (1960).⁷³ Als Lehre für den revolutionären Klassenkampf seien die Taten der Rote Matrosen „heute“ so gültig wie einstmals. Der Erfolg der Novemberrevolution habe sich erst dreißig Jahre später mit der Gründung des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden – der DDR – manifestiert. So heißt es auf einem Plakat zum 70. Jahrestag der Novemberrevolution „1918 – Die Lang, Lothar (Hrsg.): George Grosz, Berlin 1979, S. 126. Vgl. Jordan, Günter: 1978, Matrosen in Berlin. DEFA-Stiftung. Dieser schwarz-weiß-Dokumentarfilm schildert die Geschichte der Division. Online abrufbar unter URL: https://www.filmpor tal.de/node/140423/video/1216825. Vgl. H. Strauhs präsentiert diese Geschichte ausführlich (Die Verkörperung); Hafenstein betont die Notwendigkeit, die drei Ereignisse zu lernen (Die revolutionären Traditionen, S. 1032, 1045). Heitzer, Heinz u. Schmerbach, Günther: Illustrierte Geschichte der DDR. Berlin 1984, S. 356– 357. Ehm, Wilhelm: Der Ehrenname „Volksmarine“ ist uns Symbol und Verpflichtung. In: Marinewesen 11 (1970). S. 1284
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Revolution lebt in unseren Taten – 1988“ und das Bild mischt eine Matrosenmütze mit einem Arbeiterhelm. Mehr noch: Die DDR vollende was die „Rote Matrosen“ angefangen hatten: Der Korvettenkapitän H. Strauhs argumentierte 1963 so: „Der Kampf der revolutionären Matrosen war nicht umsonst. Er fand seine Anerkennung durch die Existenz der DDR, denn hier wurden die Lehren ihres Kampfes verwirklicht.“⁷⁴ „Die Ziele, für die sie kämpften, sind heute in der DDR verwirklicht“, so auch Hafenstein.⁷⁵ Die Legende einer Abbildung, die eine Baustelle zeigt, stellt fest: „Im Kampf um die Verwirklichung unserer Aufbaupläne erfüllen die Werktätigen der DDR das revolutionäre Vermächtnis der Roten Matrosen“.⁷⁶ In Rostock erklärte der Stadtrat für Kultur, dass am Kabutzenhof, wo die roten Matrosen 1918 gelandet waren, um die Revolution zu verbreiten und wo ein Denkmal errichten worden war, sich diese Vergangenheit mit der Gegenwart verbinde, indem die NVA die Grenze des Landes bewache.⁷⁷ Es ist nicht immer möglich, in den verschiedenen Diskursen die drei Elemente klar voneinander zu trennen. Der Begriff „Rote Matrosen“ bleibt flexibel und kann unterschiedlich aufgeladen und umfunktioniert werden, um die Geschichtspolitik der Zeit zu bedienen. Dabei kann eine Episode, ein Aspekt oder auch andere, je nach dem, hervorgehoben werden. Diese Erzählung führt oft auch zu Missverständnissen und zur Vermischung beider Ereignisse von Wilhelmshaven 1917 und Kiel 1918, was sich in vielen verschiedenen feierlichen Gelegenheiten widerspiegelt: Im Traditionsbuch des Raketenschnellbootes „Albin Köbis“ wird der Namenspatron des Bootes als „Mitorganisator des Kieler Aufstands“ bezeichnet. In Dranske, als das Denkmal für Reichpietsch und Köbis eingeweiht werden sollte, prangten auf dem Sockel die Jahreszahlen 1918 – 1968. Das musste vor der Einweihung in „1917“ abgeändert werden.⁷⁸ An Köbis‘ Geburtshaus in Berlin hängt so
Strauhs, Die Verkörperung, S. 279. Hafenstein, Die revolutionären Traditionen, S. 1039. Schultze, Willy: Die Reichpietsch-Köbis-Gedenkstätte in Rostock. Berichte, Dokumente, Erzählungen vom Kampf der Roten Matrosen. Begleitheft der Ausstellung im Traditionsraum der Reichpietsch-Köbis-Gedenkstätte in Rostock. Rostock 1971, S. 21, siehe auch S. 31. Entwurf der Rede, ohne Datum [September 1977], Stadtarchiv Rostock, 2.1.1.5554, Siehe unten für den Kontext: „[Die Gedenkstätte] bewacht das Vermächtnis der Roten Matrosen, die die Lehren der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in unserem Lande verwirklichen wollten, zum anderen ist die Gedenkstätte der Platz, an dem die revolutionären Taten der Matrosen der sozialistischen Armee der DDR beim Schutz der Grenzen des Sozialismus in würdiger Weise aufbewahrt werden. So verbinden sich an dieser Stelle unter dem Monument die revolutionäre Vergangenheit und Gegenwart der Menschen an der Ostseeküste.“ Huck, Stephan: Marinestreiks und Revolution in Wilhelmshaven 1917 und 1918. In: Revolution! Revolution? Hamburg 1918/1919. Hrsg. von Hans-Jörg Czech [u. a.]. Kiel/Hamburg 2018, S. 45, Brief an den Autor von Dieter Flohr.
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z. B. eine Gedenktafel (1981) mit folgendem Text: „Albin Köbis. In diesem Hause am 18.12.1892 geboren. Er starb als führender Vertreter revolutionärer Matrosen in der deutschen Novemberrevolution für die Sache der Arbeiterklasse. Ermordet am 5.9.1917 durch die Reaktion“.⁷⁹
Abb. 2: Gedenktafel aus der DDR-Zeit, angebracht am Haus von Albin Köbis, Berlin-Pankow, Aufnahme von Nicolas Offenstadt, Februar 2015.
Dabei war es von Bedeutung, auch eine physische Kontinuität zu schaffen. Oft wurde während Gedenkfeiern und in offiziellen Diskursen die Anwesenheit
Das Datum der Gedenktafel wird auf der sehr guten Website URL: https://www.gedenktafelnin-berlin.de/ angegeben. Das Haus stand damals im Grenzsperrgebiet (Schulzestraße 36). Das ist auch der Fall anlässlich der Umbenennung der Tirpitz- und Von-Schröder-Str. in Berlin (1947), dort werden die beiden Matrosen als „Anführer der Kieler-Matrosen-Revolte im Oktober 1918“ präsentiert. Der Spiegel, 3. Dezember 1958, S. 133.
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ehemaliger „Roter Matrosen“ in den Vordergrund gerückt.⁸⁰ Dieser Umgang mit dem Vermächtnis der Matrosen in der DDR stehe diametral entgegengesetzt zur Interpretation der gleichen Ereignisse in der Bundesrepublik, wo „die Henker an der Macht [sind], die die revolutionären Matrosen Köbis und Reichpietsch auf dem Gewissen haben“⁸¹. „Die Mörder von Reichpietsch und Köbis, von Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Ernst Thälmann, die deutschen Imperialisten haben in Westdeutschland heute noch die Macht.“⁸² Im Westen fungiere Admiral Scheer sogar noch als Vorbild, als man die erschossenen Matrosen zu ehren ablehnte.⁸³ Die Bundesmarine sei „die Fortsetzung der faschistischen Kriegsmarine und unterscheidet sich im Charakter und in der Aufgabenstellung grundsätzlich von der Volksmarine der DDR.“⁸⁴ In der Bundesrepublik lehnten es die militärischen Behörden ab, Köbis und Reichpietsch „als Vorbilder der Bundesmarine“ anzunehmen, denn sie gelten für sie „als Vorkämpfer einer Staatsform […], wie sie heute in der deutschen Sowjetzone verwirklicht wird; sie werden dort auch als Volkshelden gefeiert.“⁸⁵ Eigentlich umfassen diese Beschreibungen nur einen Teil der Erinnerungslandschaft der Bundesrepublik. In linken Milieus gab es auch eine dünne Traditionslinie, die die Erinnerung an die füsilierten Matrosen wachhielt.⁸⁶ Rosentreter/Westphal, Rebellion in der Hölle, S. 258, wie Robert Linke Mitarbeiter der SEDBezirksleitung Leipzig, Paul Eichler, Bürgermeister von Knautnaundorf bei Leipzig, Franz Müller, Parteifunktionär der SED in Merseburg oder Paul Lux, Sicherheitsorgane in Weißenfels. Strauhs, Die Verkörperung, S. 279. Schultze, Die Reichpietsch-Köbis-Gedenkstätte, S. 33. Schultze, Die Reichpietsch-Köbis-Gedenkstätte, S. 32, siehe auch Rosentreter/Westphal, Rebellion in der Hölle, S. 257. Strauhs, Die Verkörperung, S. 279, 291. „Rüstzeit für Offiziere“, Der Spiegel, 3. Dezember 1958. In der Bundesrepublik kultivierten sozial-demokratische/Juso-Aktivisten die Erinnerung an Köbis und Reichpietsch, besonders um die Gedenksteine in Köln herum. Dieses Gedächtnis taucht besonders um den 40. Jahrestag der Novemberrevolution 1958 auf. Vgl. „Rüstzeit für Offiziere“, Der Spiegel, 3. Dezember 1958, S. 30 – 34; Uellenberg-van Dawen, Wolfgang: Lieber für die Ideale erschossen werden, als für die sogenannte Ehre fallen. Ein Bericht über die Gedenkfeier zum 100. Jahrestag der Hinrichtung der Matrosen Albin Köbis und Max Reichpietsch am 5. September 2017 in Köln. In: Mitteilungen, Archiv der Arbeiterjugendbewegung 2 (2017), S. 50; Jungclas, Georg: 1902– 1975: Von der proletarischen Freidenkerjugend im Ersten Weltkrieg zur Linken der siebziger Jahre: eine politische Dokumentation. Hamburg 1980, S. 222 ff; Hans Beckers seinerseits, der in Düsseldorf lebte, verteidigte noch das Gedächtnis seiner Kameraden, Gespräch mit Werner Ortmann, Nachlassverwalter Beckers, Köln, 5. September 2017, Schriftliche Korrespondenz, November 2020. Dazu wurde für das ZDF 1969 ein Film gedreht, der die Geschichte des Protestes von 1917 erzählt, nicht ohne eine gewisse Sympathie für die Matrosen: Marinemeuterei 1917 von Hermann Kugelstadt nach einem Dokumentarspiel von Michael Mansfeld, alias Eckart Heinze, der gegen die Duldung ehemaliger Nazis gekämpft hat.
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Überall präsente Helden in der DDR So avancierten Köbis und Reichpietsch in der DDR zu vertrauten Figuren. Die beiden Matrosen waren im öffentlichen Raum sehr präsent, vor allem im Zusammenhang mit dem Marinewesen und Jugendeinrichtungen. Bereits im Mai 1947 erarbeitete der Berliner Stadtbehörde (bei der SPD dominierte) eine Vorlage, nach der das sogenannte „Tirpitz-Ufer“ am Landwehrkanal in „ReichpietschUfer“ und die „Admiral-von-Schröder-Straße“ in „Köbisstraße“ umbenannt werden sollten. In der DDR verbreiteten sich die Namen der erschossenen Matrosen: So tragen Straßen, Plätze und Schulen ihre Namen.⁸⁷ Nach Willy Sachse, der 1917 begnadigt worden war,⁸⁸ benannte man eine Straße und er erhielt einen Gedenkstein in Holzweißig, einem Stadtteil von Bitterfeld-Wolfen. So gab es mehrere Marinesektionen und Standorte der Gesellschaft für Sport und Technik (GST), die die Namen der Matrosen trugen.⁸⁹ Die Geschichte des Aufstandes von Wilhelmshaven ist auch in vielen Publikationen und Traditionskabinetten der DDR zu finden. Als Vorbilder für die neue Gesellschaft sollten die beiden Matrosen besonders bei den Jugendlichen gewürdigt werden. Ihre Geschichte wird in den Schulbüchern ausführlich erläutert. Sie werden als „erste Märtyrer der deutschen Revolution“ dargestellt.⁹⁰ Ein ganzer Paragraf in Geschichte in Übersichten ist der Unruhe von 1917 gewidmet, ebenso viel wie für den Mord von Sarajevo oder den Schützengrabenkrieg insgesamt aufgewendet wurde.⁹¹ Mehrere Schulen tragen
MECKLENBURG-VORPOMMERN: In Rostock-Markgrafenheide, nur wenige Meter von der Ostsee und der Marinekaserne entfernt, liegt eine Albin-Köbis-Straße, Dranske/Rügen, Altenkirchen/Rügen (AK.-Str., MR.-Ring) Wismar (MR.-Weg), Schwerin (MR.-Str.), Tarnewitz (AK.Siedlung). BRANDENBURG: Strausberg (MP.-Ring, AK.-Ring). In der brandenburgischen Gemeinde Glienicke/Nordbahn wurde die Bismarckstraße in Köbisstraße umbenannt. SACHSEN: Leipzig-Reudnitz, (MR-Str., AK-Str.). Dresden (AK.-Platz). THÜRINGEN: Weimar-Schöndorf (MR.Straße). Danach Mitglied der KPD, dann ausgeschlossen, Widerstandskämpfer, im August 1944, im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet. Seesportausbildungszentrum „Albin Köbis“ der GST, Marineklubs der GST „Albin-Köbis“ in Berlin-Grünau, Senftenberg und Grimma, Erholungsheim Albin-Köbis in Seebad Heringsdorf (Usedom). Geschichte. Lehrbuch für Klasse 8. Berlin 1969, S. 201. Das Kapitel wurde von Willibald Gutsche geschrieben. Geschichte. Lehrbuch für Klasse 8, S. 200 – 202; Geschichte in Übersichten. Wissensspeicher für den Unterricht. Berlin 1982, S. 305; schriftliches Interview mit Hendrik Born, September 2017. Hendrik Born (Vizeadmiral und letzter Chef der Volksmarine) und Theodor Hoffmann erinnern sich beide daran, die Namen der beiden Matrosen in der Schule gelernt zu haben (Theodor
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ihre Namen, wie in Rostock-Lütten-Klein die Max-Reichpietsch-Schule (34. POS) und die Albin-Köbis-Schule (35. POS). In seiner wissenschaftlich-autobiografischen Studie Lütten Klein erinnert sich der Soziologe Steffen Mau auch viele Jahre später noch daran, dass seine Schule nach Albin Köbis benannt war und wer dieser Matrose gewesen ist: „Auf dem Schulgelände gab es ein Ehrenmal, dass wir pflegten und harken mussten und vor dem bei wichtigen Anlässen Fahnenappelle und Ordensverleihungen stattfanden“⁹². Die Namen begleiteten die Jugendlichen auf ihrem weiteren Ausbildungsweg bis in die Betriebe der DDR; so begegneten sie den Matrosen in der Betriebsberufsschule „Max Reichpietsch“ des VEB Nachrichtenelektronik Greifswald. Auch gab es eine Jugendbrigade „Albin Köbis“ des VEB SME (Sondermaschinen Elektrotechnik) in Dresden-Reick, oder eine FDJGruppierung trug den Namen „Albin Köbis“, nämlich die des Transportpolizeireviers in Görlitz. Für die „Heimabende“ der FDJ schrieb Konrad Schmidt 1952 den Text Rote Flaggen im Topp. Die Marineerhebung 1917 und der Kieler Matrosenaufstand 1918. ⁹³ 1968, laut dem ehemaligen Pressesprecher der DDR-Volksmarine Dieter Flohr, erhielten die beiden Militärjournalisten Robert Rosentreter und Horst Westphal den Auftrag, in der Zeitung Junge Welt einen mehrteiligen Artikel über den Aufstand von 1917 zu verfassen. Dies kann als die erste systematische Aufarbeitung und Analyse jener Ereignisse bezeichnet werden. Dabei wurden Zeitzeugengespräche mit Überlebenden geführt und Archivmaterial umfassend ausgewertet. Aus den Artikeln entstand später das Buch der beiden Autoren Rebellion in der Hölle, welches im Militärverlag der DDR erschien.⁹⁴ Interessanterweise findet darin auch die Fiktion Einzug: Erfundene Figuren und Dialoge wurden durch die Autoren zum Teil hinzugefügt. Nichtsdestotrotz ist festzustellen, dass dieses „Vermächtnis“ Köbis‘ und Reichpietsch‘ erst im Bereich der Marine und bei nautischen Aktivitäten der DDR gewürdigt wurde. Diese erforderten eine Legitimation durch eine „Tradition“, die weit über die (kurze) DDR-Geschichte hinausgeht. Jene Tradition spielte für die Volksmarine eine bedeutende Rolle.
Hoffmann verstarb 2018 und war letzter Chef der NVA und ehemaliger Verteidigungsminister, der als Matrose (zur Seepolizei) 1952 seine Karriere begann.). Mau, Steffen: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, Berlin 2019, S. 80. Ein Heimabend für die Gruppen der FDJ (Heimabendreihe der Freien Deutschen Jugend, Heft 17). Berlin 1952. Ich bedanke mich bei Dieter Flohr für diese Information.
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Das große Erbe für die Volksmarine Als eine neue Institution musste die Marine der DDR für sich eine eigene „Tradition“ stiften. Das bedeutete einerseits, sich in die Geschichte der Arbeiterbewegung einzuordnen und anderseits ein Spezifikum für die Marine zu schaffen: Die Kämpfe der revolutionären Matrosen von 1917 bis 1919 stellten auf diese Weise „die wichtigsten geschichtlichen Traditionen der Volksmarine“ dar.⁹⁵ So spielen „die revolutionären Aktionen in der Hochseeflotte 1917 und während der Novemberrevolution 1918“ (Marinewesen, 1985) eine große Rolle als „Traditionsgut“.⁹⁶ So erhielt die Marine der DDR den Namen „Volksmarine“ am 3. November 1960, genau am Jahrestag des Beginns des Aufstandes von Kiel 1918. In ihrer Fahne findet man so auch die rote Flagge der Novemberrevolution wieder.⁹⁷ So stellte der Minister für Verteidigung, Heinz Hoffmann, in seiner Rede am 3. November 1960 fest: Der Titel Volksmarine wurde vergeben 42 Jahre nachdem die Roten Matrosen das erste Feuer der November-Revolution entzündet haben. Die späteren Kommentare gingen dabei in die gleiche Richtung: Rot war das Banner der revolutionären Matrosen vor 52 Jahren, rot ist das Banner der internationalen Arbeiterbewegung im Kampf um Fortschritt und Sozialismus. Rot ist auch unsere Dienstflagge, sinnfällig mit den Farben und dem Emblem unseres Arbeiter-undBauern-Staates verflochten. Sie verkörpert die revolutionäre Vergangenheit, die sieghafte Gegenwart und unsere sozialistische Zukunft.⁹⁸
Dieser Traditionsstiftung stützt sich auch, wie gesagt, auf das dritte Element des Narrativs, auf die Volksmarinedivision von Berlin von Ende 1918 bis Frühjahr 1919.⁹⁹ Die „Helden“ der Volksmarine der DDR, die im Dienst getötet wurden, sollten der Tradition der roten Matrosen folgen.¹⁰⁰ Damit konstruiert die Volksmarine eine fast lineare Urgeschichte. So erklärte die Marine meuternde Matrosen zu ihrem Vorbild: „Die Angehörigen der Volksmarine der DDR [haben] immer das Vorbild ihrer Klassengenossen,
Hafenstein, Die revolutionären Traditionen, S. 1033. Heinemann, Werner: Maritime Tradition in der ehemaligen DDR. In: Marineforum 11 (1991), S. 393. Das ist noch zu lesen in einem ziemlich neuen Band, der von Ehemaligen der NVA verfasst wurde: Flohr, Dieter u. Seemann, Peter: Die Volksmarine. Menschen, Meer, Matrosen. Friedland/ Meckl. 2009, S. 33, mit einem kritischen Blickpunkt, als eine zu exklusive Tradition. Heinemann, Maritime Tradition, S. 394. Ehm, Der Ehrenname „Volksmarine“, S. 1290. Heinemann. Maritime Tradition, S. 393. Wie Horst Liebig, der bei einem Bergungseinsatz mit einem westdeutschen Frachter starb (1956) oder Günter Harder, der während einer Operation gegen „Agenten“ getötet wurde (1951).
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der revolutionären Matrosen von 1917 und der Volksmarinedivision 1918, vor Augen.“¹⁰¹ Die verschiedenen Diskurse und Publikationen der Marine der DDR unterstreichen immer die Kontinuität zwischen den Matrosen von 1917/1918 und den Matrosen der DDR: „Heute setzen die Angehörigen der Volksmarine den Friedenskampf der revolutionären Matrosen von 1917 bis 1919 unter neuen Bedingungen und mit neuem Inhalt fort.“¹⁰² Auf einem Bild in einem Artikel von Wilhelm Ehm, dem Chef der Volksmarine (1970), sieht man einen Veteranen der Volksmarinedivision, der einen jungen Matrosen der DDR-Marine umarmt: „Matrosen von gestern und heute: die Volksmarine erfüllt das Vermächtnis der Kämpfer der Novemberrevolution“. Laut Heinz Hoffmann heißt es (1960): Die Besatzungen der Volksmarine „erfüllen als Fortsetzer des revolutionären Kampfes die Verpflichtung, mit gleicher Kraft, mit gleichem Heldenmut und gleicher Opferbereitschaft wie Reichpietsch und Köbis und die Roten Matrosen der Volksmarinedivision für das Glück und den Frieden des deutschen Volkes, für den Sozialismus zu kämpfen.“¹⁰³ Eine solche fast lineare Kontinuität zu schaffen, erfordert auch Umsetzungen und Anpassungen. So unterstrich Hoffmann, dass sich aus dem Geist von einst heute die Verteidigung des Vaterlandes gegen die Feinde im Namen der Roten Matrosen ableiten ließe.¹⁰⁴ Kontinuität bedeutete auch – wie schon gezeigt wurde – physische Kontinuität. Ehemalige „rote Matrosen“ nahmen an Veranstaltungen teil, wie zum Beispiel Paul Eichler, ein Meuterer der SMS Prinzregent Luitpold (1917), Karl Artelt, der Anführer des Kieler Rates 1918, der der „der Rote Admiral“ von Kiel genannt wurde, der am Jahrestag 1958 von Offiziersschülern eingeladen wurde. Ihm wurde eine Admiralsmütze geschenkt, die er bei öffentlichen Gelegenheiten noch trug.¹⁰⁵.Dazu zählt auch Franz Beiersdorf, aus Berlin-Lichtenberg, Mitglied der Volksmarinedivision, der auch während der Märzereignisse in Berlin gekämpft hatte.¹⁰⁶ Am 4. November 1965, aus Anlass des 47. Jahrestages der Novemberrevolution, wurden die Raketenschnellboote, die damals modernsten Schiffe der Volksmarine, nach den Roten Matrosen Albin Köbis, Max Reichpi-
Strauhs, Die Verkörperung, S. 284. Hafenstein, Die revolutionären Traditionen, S. 1034. Schultze, Die Reichpietsch-Köbis-Gedenkstätte, S. 33. Siehe auch Peifer, Douglas: Commemoration of Mutiny, Rebellion, and Resistance in Postwar Germany: Public Memory, History, and the Formation of „Memory Beacons“. In: The Journal of Military History 4 (2001), S. 1018. Er trat der SED bei. Vgl. Segelke, Eine Revolution, S. 269. Lange, Dietmar: Schießbefehl für Lichtenberg. Das gewaltsame Ende der Revolution 1918/19 in Berlin, (Begleitbroschüre zur gleichnamigen Ausstellung). Berlin 2019, S. 45, 49, 82 (Feierlichkeiten zum Gedenken der Ermordeten von Lichtenberg, März 1919, in den Fünfzigerjahren).
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etsch, Rudolf Egelhofer („revolutionärer“ Matrose und Anführer der „Roten Armee“ der Münchner Räterepublik) und anderer benannt. Die Einweihung wurde vom Chef des Stabes der Volksmarine, Konteradmiral Johannes Streubel, im Beisein der ehemaligen „Roten Matrosen“ Karl Beier, Franz Beiersdorf, Hans Vogelsang und Walter Steffens vorgenommen¹⁰⁷. Die Präsenz von Köbis und Reichpietsch in der Volksmarine (und auch in der zivilen Seefahrt) zeigt sich in der Verwendung der Namen der beiden Matrosen für die Benennung vieler Schiffe.¹⁰⁸ Sogar die Staatsyacht der DDR hieß „Albin Köbis“. Auch das Pionier-/Kinderferienlager der Volksmarine in Kühlungsborn trug den Namen „Max Reichpietsch“. Diese Ehrungen der meuternden Matrosen sollten nicht nur passiv bleiben. Sie fungierten auch als Vorbilder für die Jugend und sollten damit eine Dynamik für die Gegenwart anstoßen. Die Geschichte der Roten Matrosen wurde auch im Politunterricht und in der Ausbildung gelehrt. Zum Jahrestag der Novemberrevolution 1957 beispielsweise wurde der III. Jahrgang der See- und Ingenieuroffiziersschüler in Stralsund mit einem „Albin-KöbisEhrenbanner“ für gute Ergebnisse ausgezeichnet. Am 2. August 1967 hielt Paul Eichler einen Vortrag über die Geschichte von 1917 in der Offiziershochschule der Volksmarine „Karl Liebknecht“ in Stralsund.¹⁰⁹ Admiral Theodor Hoffmann berichtet davon: „Als Vorgesetzte versuchten wir unseren Unterstellten den Stolz zu vermitteln, dass wir die Erben der Roten Matrosen sind.“¹¹⁰
III In Ritualen und Stein: die inszenierten Helden Jahrestage Wie schon gezeigt wurde, spielen die Jahrestage eine große Rolle in der Inszenierung der Erinnerung an die Matrosen. Wie üblich fanden die größten Feierlichkeiten jeweils im Abstand von zehn Jahren statt, also 1957 u. 1958, 1967 u. 1968
Schriftliches Interview von Theodor Hoffmann, September 2017. Unter anderen: Flagg- und Schulschiff Albin Köbis (ehemals Ernst Thälmann) von 1961 bis 1963 in Saßnitz, (ein Foto ist in Rosentreter/Westphal, Rebellion in der Hölle, zu sehen), Kleine Raketenschiff (Flugkörperkorvetten) AK; Raketenschnellboot (Flugkörperschnellboote), AK; Raketenschnellboot (Flugkörperschnellboote) MR (Foto in Rosentreter/Westphal); zwei Hochseefrachter, AK und MR, (Fotos in Rosentreter/Westphal); andere Schiffe tragen auch Namen von „Roten Matrosen“ der Kämpfe von 1918 – 1919, wie Rudolf Egelhofer, Heinrich Dorrenbach und Karl Meseberg. „Ihr Erbe liegt in guten Händen“, Ostsee-Zeitung, 5. September 1967. Mündliches und schriftliches Interview durch den Autor, im September 2017.
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usw. Während dieser Gedenkfeiern wurden Elemente der russischen und deutschen Revolution oft miteinander vermischt. Besonders das Jahr 1958 wurde dabei in der Tradition stark und fest verankert.¹¹¹ Dieser Jahrestag war durch einen Film von Kurt Mätzig und Günter Reisch geprägt: Das Lied der Matrosen. Der Film entstand, mit Blick auf den Jahrestag, unter Zeitdruck, und wurde am 9. November 1958 in der Ost-Berliner Werner-Seelenbinder-Halle zum ersten Mal vorgeführt. Der Film erzählt die Geschichte des Aufstandes von Kiel von 1918, mit der vorherigen wichtigen Episode der Verbrüderung zwischen den russischen „Roten“ Matrosen und den Soldaten. In den ersten Szenen wird die martialische Hinrichtung von Köbis und Reichpietsch dargestellt, es ist die einzige Episode des Aufstandes von 1917. Nachdem sich Soldaten geweigert hatten, auf die „Kameraden“ zu schießen, sollten neue Orte für das Erschießungskommando gefunden werden. Mit dieser Episode wird die Solidarität der Matrosen bis in die letzte spannende Situation gezeigt. Im Verlauf des Films tauchen Köbis und Reichpietsch nach diesen einführenden Szenen mehrmals in den Parolen der Matrosen auf – eine Hauptfigur des Films hatte das Schießen verweigert –, die Namen der erschossenen Matrosen schweben wie ein Schatten über der Handlung und dienen als Rache- oder Vorbildmotiv.¹¹² Ein Matrose wirft den Major, der die Hinrichtung befehligt hatte, sogar ins Wasser, mit den Worten: „Feuer! Feuer! Feuer! zischte er Mörs in Gesicht.“ 1958 werden darüber hinaus zwei Theaterstücke den Schicksalen Köbis und Reichpietsch gewidmet. Kommando von links von Manfred Richer wurde sogar im Fernsehen gezeigt. Hier soll das Szenario die unvollendete Interpretation der Stücke der Zwischenkriegszeit korrigieren und so verdeutlichen, dass die Matrosen von Anfang an in der Nähe der Spartakisten kämpften.¹¹³ Dies wird in einer Passage Köbis im Stück deutlich, die inhaltlich klar von den historischen Grundlagen abweicht: Köbis: Versagt haben die Führer! Ebert, Noske, Kautsky. Unser Kampf aber war die Schmiede der neuen Partei – verbunden mit teueren Namen: Liebknecht, Luxemburg, Zetkin, Mehring und Pieck. […] Lernend von Lenin, dem Weisen, schlugen wir Lichtungen in das Dickicht der Zeiten.¹¹⁴
Laut Hafenstein wurde die Aneignung dieser Tradition zum 40. Jahrestag gestärkt; siehe Hafenstein, Die revolutionären Traditionen, S. 1039; siehe auch, Segelke, Eine Revolution, S. 269. Das komplette Szenario wurde veröffentlicht: Egel, Karl Georg u. Wiens, Paul: Das Lied der Matrosen. Eine Erzählung für den Film. Berlin 1958. Für die Erinnerung und die Erwähnung von Köbis und Reichpietsch, S. 27, 83, 85, 91, 153. http://www.fernsehenderddr.de/index.php?script=dokumentationsblatt-detail&id1=14279, vgl. Peifer, Commemoration of Mutinity, S. 1020. Gill/Schneider, Mutiny as a Theme, S. 374.
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Ein anderes (Hör)spiel geht in die gleiche Richtung, SMS Prinzregent Luitpold: Szenische Reportage nach historischen Ereignissen von dem Widerstandkämpfer Friedrich Schlotterbeck und seiner Frau Anna, indem Günther Simon Albin Köbis verkörpert.¹¹⁵ Auch hier dienen die Parolen der Matrosen dazu, eine richtige Interpretation der Ereignisse vorzulegen: Köbis: Spartakus, ja, das wäre was! Reichpietsch: eine Partei müssten wir haben, eine Partei mit der Übersicht übers Ganze! Eine richtige Kampfpartei der Arbeiter! Nichts könnte schiefgehen.¹¹⁶
Die beiden Helden tauchen noch hier und da in der Literatur auf. In Feuerpause (1954), erzählt Arnold Zweig durch den Mund von „Robert Mau“, einem Spartakusanhänger, vom Ereignis von Wilhelmshaven, vom Schicksal Köbis und Reichpietsch und vom Versäumnis der „Reformer“, die nichts dagegen unternommen hatten.¹¹⁷
Die Roten Matrosen als Denkmal Zehn Jahren später (1967– 1968) wird die Erinnerung an die Märtyrer noch sehr präsent, was durch die Verbreitung von Publikationen, Veranstaltungen und künstlerischen Werken deutlich wird.¹¹⁸ Diese starke Präsenz der Unruhe von Wilhelmshaven muss im Kontext der Geschichtsauffassung und Denkmuster Ulbrichts verstanden werden. Gegenüber den Russen, aber auch mit ihnen, erlaubt diese Geschichte, einen deutschen revolutionären Weg zu skizzieren und gleichzeitig eine Nähe und Ferne zu unterstreichen.¹¹⁹ Die Ereignisse sind so Bestandteil von Diskursen über einen deutschen Weg bzw. Charakter der Revolution: Sie stärken jene geschichtliche „nationale Grundkonzeption“ Ulbrichts.¹²⁰
Erstausstrahlung: 23.04.1958, http://hoerspiele.dra.de/vollinfo.php?dukey=1438427&vi= 7&SID. Gill/Schneider, Mutiny as a Theme, S. 374; Peifer, Commemoration of Mutiny, S. 1020. Zweig, Arnold: Die Feuerpause. Berlin 1956, S. 376 – 383. Siehe noch Bredel,Willi: Die Söhne. Berlin 1949. Der zweite Band einer Romantrilogie „Verwandte und Bekannte“, um die Geschichte einer Hamburger Arbeiterfamilie über drei Generationen, 1943 geschrieben, wo auch die Figuren von Köbis und Reichpietsch auftauchen. Z. B. „Ihr Erbe liegt in guten Händen“, Ostsee-Zeitung, 5. September 1967, S. 3. Darüber Lokatis, Der rote Faden, S. 160 ff., S. 359 – 360. Darüber Lokatis, Der rote Faden, S. 160 ff., S. 359 – 360.
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So erhielt auch der Rostocker Bildhauer Wolfgang Eckardt¹²¹ von der Volksmarine den Auftrag, eine doppelte Bronzestatue von Köbis und Reichpietsch für ein Objekt in Dranske (Rügen) zu schaffen, welches anlässlich des 50. Jahrestages der Novemberrevolution (9. November 1968) eingeweiht werden sollte, und das wieder in Anwesenheit noch lebender ehemaliger „Roter Matrosen“, nämlich Hans Vogelsang, Paul Eichler und Kurt Kluge.¹²² Der Bezirk Rostock stand bei den Gedenkfeiern im Vordergrund. Es ist eine Stadt, die die „rote“ maritime Tradition kultivierte, wie wir im folgenden Abschnitt betrachten werden. So setzte sich die Bezirksleitung der FDJ in Rostock auch dafür ein, dass der traditionelle „Lauf der Ostsee-Zeitung“ ab September 1967 alljährlich als „Reichpietsch-Köbis-Gedenklauf“ veranstaltet wurde.
Die großen Feierlichkeiten in Rostock zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution Am 5. September 1967 beging die DDR den 50. Jahrestag der Hinrichtung von Köbis und Reichpietsch. „Die Würdigung des 50. Jahrestages der Ermordung von Max Reichpietsch und Albin Köbis“ wird „als Höhepunkt in Vorbereitung auf den 50. Jahrestag des Roten Oktobers“ betrachtet.¹²³ Diese Verbindung zwischen den
1919 geboren in Naunhof/Leipzig. erlernt er den Beruf des Elektrikers, wird eingezogen 1939 – 1945, Kriegsgefangener bei den Briten, besucht 1948 die Fachschule für Angewandte Kunst (Empferthausen-Rhön); wird Mitglied im Verband bildender Künstler der DDR (VBK). Laut seiner eigenen Darstellung kommt Eckardt langsam zum Sozialismus und wird erst Mitglied der NDPD, denn der SED. Nach Grimma lässt er sich in Rostock 1953 als „freischaffender Künstler“ nieder, arbeitet im VBK und als Abgeordneter des Bezirkstages von Rostock, ist Mitglied eines Kollektivs der sozialistischen Arbeit und Verdienter Aktivist. So arbeitete er auf dem Land (VEG Elmenhorst) und schuf Porträts der dortigen Leute, auch von einem Helden der Arbeit, einem Parteiveteranen und einem Helden der Sowjetunion. Eckardt gehört zu denen, die dem Bitterfelder Weg folgend „eine kontinuierliche und vorbildliche Zirkelarbeit in Großbetrieben und Einrichtungen unserer Stadt [leisten“] (Fischkombinat, Fischerei). Vgl. Bekenntnis zum neuen Leben. Ein Kandidat für den Bezirkstag stellt sich vor, LAG. Er definiert sich als ein engagierter Kommunist. Gedenkstätten der Arbeiterbewegung im Bezirk Rostock (Kommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung bei der Bezirksleitung Rostock der SED und vom Bezirksvorstand Rostock der Gesellschaft für Sport und Technik), zweite Auflage, 1973, S. 48 – 49. SAPMO-BArch, FDJ, DY 24/6182/I, 8. „Ablaufplan zur Vorbereitung des 50. Jahrestages der Ermordung von Max Reichpietsch und Albin Köbis“, 1967. Die verschiedenen Veranstaltungen und Gedenkfeiern für die Oktoberrevolution selbst sind nicht direkt unser Thema, darüber siehe für den Bezirk Rostock, Landesarchiv Greifswald (LAG), SED IV/A4/07/132 und SED-BL IV/A/2.3/ 337.
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Abb. 3: Der Bildhauer Wolfgang Eckardt mit dem Bruder Max Reichpietschs bei der Enthüllung seines Werkes: ein den beiden erschossenen Matrosen gewidmetes Denkmal, das sich auf dem Gelände der Volksmarine in Drankse (Rügen) befand, November 1968, Nachlass Wolfgang Eckardt.
zwei Gedenkfeiern stärkte das große Rote-Matrosen-Narrativ. Diese Narrativität wurde durch den performativen Charakter des Rituals gestärkt. Wie schon gezeigt wurde, fungierten Köbis und Reichpietsch als Vorbilder für die Jugendlichen der DDR. Das ist besonders anlässlich des Jahrestages „der Ermordung“ der Fall. Das Ritual des 5. Septembers 1967 war eigentlich ein deutschsowjetisches Ritual in Anwesenheit einer sowjetischen Flotte.¹²⁴ Darüber hinaus wurden Kampfappelle für diesen Anlass in den Kreisen vorab organisiert: Laut einem Bericht gab es ins gesamt 40.000 Teilnehmer.¹²⁵ Die Jugendorganisationen wurden dabei besonders mobilisiert.¹²⁶ Am 4. September 1967 wurden so in allen
Für den Bezirk ist es eine sehr große Mobilisierung mit ca. 13.000 vorgesehenen (jungen) Teilnehmern. LAG, SED-BL IV/A/2.3/363, SED-KL-IV/A4/07/140 1967. LAG, SED-BL IV/A/2.3/363, S. 4 Für die geistigen und praktischen Vorbereitungen des Tages, siehe LAG, SED-KL-IV/A4/07/ 140 1967, Kreisleitung der SED Rostock-Stadt, Abteilung Agitation und Propaganda, „Maßnahmen
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Schulen des Bezirkes Rostock Gedenkappelle „anläßlich des 50. Jahrestages der Ermordung“ durchgeführt. In den Betrieben, Schulen und Institutionen wurden in Vorbereitung auf die Appelle Jugend- und FDJ-Versammlungen, Treffen, Heimabende und Ausspracheabende zum Leben von Köbis und Reichpietsch organisiert.¹²⁷ Sie standen unter dem Motto: „Verwirklichung des Vermächtnisses der revolutionären Matrosen durch unsere aktive Teilnahme am Aufbau des Sozialismus“.¹²⁸ Das Gedenken sollte hier die Dimension des bloßen Rituals überschreiten: Es ging nun auch um ein Verständnis und eine Aneignung der Vergangenheit, so wurde „die Erkenntnis über das Leben und den Kampf von Reichpietsch und Köbis wesentlich erweitert“.¹²⁹ Hierbei sollten Kampfgefährten der revolutionären Matrosen nach Möglichkeit als Zeitzeugen „gewonnen werden“.¹³⁰ In einem Bericht, in dem versucht wird, eine Bilanz des Ereignisses zu ziehen, heißt es, dass diese Vorbereitung „einen hohen erzieherischen Wert“ habe.¹³¹ Wie üblich gab es eine große Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Neben vielen organisatorischen Mängeln stellte der Bericht fest, dass viele junge Teilnehmer nur wenig Interesse an den Feierlichkeiten gezeigt hatten: So hätten sie sich, als die Nationalhymne und die Internationale gespielt wurden, miteinander unterhalten,¹³² einige hätten sogar geraucht. Andere hätten den Ort schon vor dem Ende der Veranstaltung verlassen oder hatten es zumindest versucht. Minutiös zeigt der Bericht, dass die Vorbereitung in den Betrieben und sogar in den Schulklassen zu kurz und zu oberflächlich war oder gar nicht durchgeführt wurde: „Für viele Lehrer und Ausbilder war dieser Kampfappell nicht zu einer eigenen Angelegenheit geworden.“¹³³ Die Mobilisierungskraft von Köbis und Reichpietsch ließ also langsam nach.
zur Durchführung eines Kampfappells der Jugend am 5. September 1967 aus Anlaß des 50. Jahrestages der Ermordung von Köbis und Reichpietsch…“, 7. August 1967. LAG, SED-KL-IV/A4/07/140 1967. SAPMO-BArch, FDJ, DY 24/6182/I, 8. „Ablaufplan zur Vorbereitung des 50. Jahrestages der Ermordung von Max Reichpietsch und Albin Köbis“, Juli 1967. LAG, SED-KL IV/A4/07/141, „Einschätzung zur Vorbereitung und Durchführung des Kampfappells der FDJ und Pionierorganisation „Ernst Thälmann“ aus Anlaß des 50. Jahrestages der Ermordung von Max Reichpietsch und Albin Köbis und der Übergabe der Flamme des ewigen Feuers von Marsfeld in Leningrad“, 7. September 1967, S. 2. SAPMO-BArch, FDJ, DY 24/6182/I, 8. Ablaufplan. LAG, SED-KL IV/A4/07/141, Einschätzung. LAG, SED-KL IV/A4/07/141, Einschätzung, S. 3. LAG, SED-KL IV/A4/07/141, Einschätzung, S. 4– 6.
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Zu diesem Anlass kam auch extra eine sowjetische Delegation nach Rostock, „um die revolutionären Matrosen zu ehren“.¹³⁴ Sie brachte die Flamme der Revolution direkt aus der UdSSR mit.¹³⁵ Rostock war nur eine erste Etappe für diese Flamme, die danach nach Leipzig und Berlin gebracht werden sollte. Der Auftakt des Rituals war die Übergabe der Flamme durch Alexander Panow, einen vermutlichen Teilnehmer am Sturm auf das Winterpalais in Petrograd, an Günther Jahn, 1. Sekretär der Bezirksleitung Rostock der FDJ. Danach wurde eine Rede gehalten. Dann lief die sowjetische Delegation mit der Flamme durch ein Spalier von FDJlern. Der Höhepunkt war die Übergabe des Ehrenbanners Max Reichpietsch und Albin Köbis an die beste FDJ-Organisation aus den Händen des Kampfgefährten der Matrosen, Paul Eichler, und in Anwesenheit von Willy Reichpietsch, dem Bruder von Max. Auf Fotos sieht man ein großes Schild mit den zwei üblichen Darstellungen von Köbis und Reichpietsch in einem Medaillon und die Losung, die die Verbindung zwischen den Epochen herstellt: „Euer Kampf gegen den deutschen Militarismus ist unser Vermächtnis“.¹³⁶ Zum Abschluss wurde das Lied vom Kleinen Trompeter gesungen. Presseartikel hoben vor allem die Anwesenden, d. h. „drei Generationen“ von sowjetischen Genossen hervor, Alexander Panow, Konstantin Samsonow, ein Rotarmist der anwesend war, als 1945 die Flagge auf dem Reichstag in Berlin gehisst wurde, und die Leninpioniere.¹³⁷ In seiner Rede lobt Harry Tisch, Erster Sekretär der Bezirksleitung Rostock, die Aufständischen von Wilhelmshaven: „Die Flamme der Revolution war nie auszulöschen, so wie die Namen der beiden revolutionären Matrosen für die gesamte junge Generation unserer Republik unauslöschlich sind.“ Er verband die Vorgänge von 1917 und die „Roten Matrosen“ von 1918, besonders in Rostock am Kabutzenhof, wo das gegenwärtige Ritual stattfand. An dieser Stätte brachten die Matrosen aus Kiel vom November 1918 die Kunde der Revolution nach Rostock. Diese Gedenkfeier verkörperte das Masternarrativ und die Geschichtspolitik, die wir bisher analysiert haben. Der Protest von Wilhelmshaven wurde in die große Meistererzählung der russischen und deutschen Revolutionen eingeordnet. Die Zeremonie schaffte dementsprechend eine physische Kontinuität zwischen jener Unruhe von 1917 und der DDR, durch die Anwesenheit von Paul Eichler und
Ostsee-Zeitung, 6. September 1967, S. 1. Norddeutsche Neueste Nachrichten, 7. September 1967. LAG, SED-KL-IV/A4/07/140 1967, Kreisleitung der SED Rostock-Stadt, Abteilung Agitation und Propaganda, „Maßnahmen zur Durchführung eines Kampfappells der Jugend am 5. September 1967 aus Anlass des 50. Jahrestages der Ermordung von Köbis und Reichpietsch…“, 7. August 1967. S. 2 (39). Ostsee-Zeitung, 6. September 1967, Norddeutsche Neueste Nachrichten, 7. September 1967.
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dem Bruder Reichpietschs. Das war eine eigentümliche Konstruktion, da Reichpietschs Bruder ja eigentlich kein Revolutionär war. Mit ihm konnte eigentlich keine Kontinuität gestiftet werden, denn er zeigte kein Engagement, kein Interesse für die DDR und „das Wort DDR brachte er bisher nicht über die Lippen“. (1967)¹³⁸ Theodor Hoffmann, der im Anschluss der Einweihung der Statue in Dranske beiwohnte, berichtete dazu: Mein Nachbar beim anschließenden Empfang, bei dem eine Würdigung von Reichpietsch und Köbis sowie des Künstlers erfolgte, war der Bruder von Albin Köbis [Er meint wahrscheinlich Max Reichpietsch, Anm. d. Verf.]. Aus der Unterhaltung mit ihm entnahm ich, dass er die politische Dimension der Handlung seines Bruders, die ja Signalwirkung für die Novemberevolution hatte, nicht verstanden hatte. Nach seiner Meinung hatte sich sein Bruder in der Menagekommission lediglich für besseres Essen eingesetzt.¹³⁹
Die lange Geschichte eines Denkmals In der Folge der Zeremonie vom Kabutzenhof sollte für Köbis und Reichpietsch an dieser Stelle ein Denkmal errichtet werden.¹⁴⁰ Die Kreisleitung nahm dazu im April 1968 Stellung und gab den Vorschlag an die Bezirksleitung weiter¹⁴¹. Die Idee dazu scheint von Harry Tisch und der Bezirksleitung gekommen zu sein, wie Dieter Flohr meint, zusammen mit dem Chef der Volksmarine, Vizeadmiral Wilhelm Ehm.¹⁴² Das Denkmal sollte aus zwei Hauptteilen bestehen: eine Reliefwand von Reinhard Dietrich¹⁴³ und eine Großplastik von Wolfgang Eckardt. Die Fertigstellung sollte anlässlich der Arbeiterfestspielen von 1970 erfolgen.¹⁴⁴ BStU, Sdm, Nr. 1439, Ministerium für Staatssicherheit, HA VIII, Ermittlungsbericht Fam. Reichpietsch, 25. Juli 1967.Vielen herzlichen Dank an Ilko Sascha-Kowalczuk, der mir diese Quelle zur Verfügung gestellt hat. Schriftliches Interview mit dem Autor, September 2017. Rede von Andreas Waack, Stadtrat für Kultur, Stadtarchiv Rostock, 14. September 1977, für die Eintragung des Namens des Künstlers in das Ehrenbuch der Stadt; „Ein Monument der Revolution“, Norddeutsche Neueste Nachrichten, 13. Juni 1977. LAG, SED-KL, IV.B.23.50. Erste Diskussionen schon Ende 1967: Reichpietsch, Köbis, Revolutionäre Matrosen. Zur Geschichte einer Gedenkstätte. Ausstellung im Kröpeliner Tor, 8. November 2018 bis 3. Februar 2019, S. 8. Rede von Wolfgang Eckardt (Entwurf), 17. August 1977, S.1, LAG, SED-KL Nr. IV/D/4/07/228 35, SED-KL Nr. IV/B/2.9/04/ 1970; Brief von Dieter Flohr an den Autor, September 2017. Reinhard Dietrich, geboren 1932 in Breslau, gestorben 2015 in Dresden, zu seinen weiteren bekannten Werken zählen: Brunnen der Lebensfreude am Universitätsplatz Rostock, Möwenflug in Warnemünde. Er hat auch den Hausgiebel mit den jetzt traurig berühmten Sonnenblumen des Asylbewerberheimes in Rostock-Lichtenhagen geschaffen. Dietrich hat mit Wieland Förster und Jo Jastram gearbeitet. Der Künstler war nicht in der SED.
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Ein erster Schritt bestand also darin, die Erinnerung an das Ritual selbst festzuhalten. Auf Höhe der ersten Treppen am Kabutzenhof wurde dafür eine Gedenktafel mit der Ewigen Flamme auf einem Sockel errichtet.¹⁴⁵ Sie sollte daran erinnern, dass im Oktober 1967 Komsomolzen aus der Heldenstadt Leningrad diese Ewige Flamme an die Jugend der DDR übergeben hatten. Sie verweist auch auf die Revolution von 1918. Nochmals werden die beiden Ereignisse so in einen Zusammenhang gebracht.¹⁴⁶. Die Errichtung des Denkmals von Eckardt führte zu vielen Debatten und Konflikten zwischen den Protagonisten. Sie zeigt, wie umstritten solche Projekte in der DDR gewesen sein konnten und wie unterschiedlich die Meinungen sein können, wenn es um künstlerisch-politisch Fragen geht. Im Vorwort seiner umfangreichen Studie über die Geschichtspolitik der SED schreibt Jon Berndt Olsen zu Recht: Thus, unearthing elements of negotiation and compromise are key elements to understanding the SED’s memory-work. In order to bring its vision of the past into the public realm, the state depended on a variety of partners—the museum workers who curated exhibits, the artists who created the monuments, and the organizers and participants of commemoration activities. The formal and informal negotiations between the state and these non-state actors reveal that the state rarely pushed through its agenda without compromise. It is precisely this push and pull between the state and its citizenry over the SED’s „memory-work“ (Erinnerungsarbeit), the official party policy term, that illustrates the process of negotiation that was necessary to project a party-specific interpretation of the past into the built environment.¹⁴⁷
In unserem Fall sind diese Prozesse das Gegenteil einer Top-Down-Entscheidung, die reibungslos ablaufen sollte. Rostock war eine strategische Stadt der DDR: Dort hatte das Regime seinen Überseehafen erbaut (1957 erster Spatentisch, 1960 Inbetriebnahme), um seine Unabhängigkeit gegenüber der Bundesrepublik zu sichern. Zwar gab es in der DDR bereits geeignete Anlagen, doch nach einem um-
LAG, SED-KL IV.B.23.50 – 1. Das Relief wurde durch den Künstler Hans-Peter Jaeger geschaffen (1969/1970). So lautet die Inschrift: „November 1918. Rote Matrosen hissten auf ihren Schiffen die Fahne der Revolution/ Oktober 1967. Matrosen der Baltischen Rotbanner-Flotte uebergaben der Jugend der DDR die ewige Flamme der Grossen Sozialistischen Oktober-Revolution aus der Heldenstadt Leningrad“. Olsen, Jon Berndt: Tailoring Truth. Politicizing the Past and Negotiating Memory in East Germany, 1945 – 1990. New York 2015, S. 7. Siehe auch Saunders, Anna: The Ghosts of Lenin, Thälmann and Marx in the Post-Socialist Cityscape. In: German Life and Letters 2010, besonders S. 444; und Ladd, Brian: East Berlin Political Monuments in the Late German Democratic Republic: Finding a Place for Marx and Engels. In: Journal of Contemporary History, 1 (2002), S. 91– 104.
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strittenen Auswahlprozess bekam die Stadt den Zuschlag. Die lokalen Behörden (u. a der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Rostock, Karl Mewis) hatten hart gekämpft, um den Wettbewerb zu gewinnen. Rostock hat sich in der Folge zu einem international anerkannten Hafen entwickelt, der zu einem bedeutenden Element der Identität des Bezirkes wurde.¹⁴⁸ Die Bezirkshauptstadt sollte ebenfalls ein monumentales Denkmal erhalten. Verschiedenen Akteure – Staat/Parteiführung, Volksmarine, Bezirksleitung, Stadt, lokale Künstler, künstlerische Einrichtungen etc. – hatten dabei nicht immer die gleichen Interessen und verfolgten nicht die gleichen Richtungen. Viele Akten zeugen von heftigen Debatten, die wir im Folgenden analysieren werden. Der Verlauf erscheint als komplex. Die Gedenkstätte sollte aus zwei Elementen bestehen: eine umfangreiche Erzählung auf einer Reliefwand und eine Verkörperung durch eine Großplastik. Die Aufträge für diese beiden Elemente wurden 1968/1969 vergeben.¹⁴⁹ Es sollte zehn Jahren dauern, das Ensemble fertigzustellen. Der erste Teil des Denkmals konnte scheinbar reibungslos enthüllt werden. Im Juli 1970 wurde die Reliefwand (20 Meter lang) übergeben und direkt am Ufer der Warnow enthüllt.¹⁵⁰ Das Steinrelief sollte – gemäß ursprünglicher Beschreibung – die „revolutionären Ereignisse des Jahres 1918 und die Verbindung zwischen der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution und der Novemberrevolution in Deutschland“ abbilden¹⁵¹ und den „Kampf der Arbeiter und Soldaten unter Führung der deutschen Linken“ künstlerisch darstellen.¹⁵² Im Vordergrund steht der Ausspruch Liebknechts: „Und ob wir dann leben werden, wenn es erreicht wird – leben wird unser Programm; es wird die Welt der erlösten Menschheit beherrschen. Trotz Alledem!“. Das Denkmal stellt fünf Szenen dar: die Gräuel des Krieges, der Aufstand von 1917, die Erschießung (wahrscheinlich von Köbis und Reichpietsch, aber es scheint nur ein Opfer gezeigt zu werden), die Oktoberrevolution mit dem Panzerkreuzer Aurora und eine Rede Liebknechts. So werden
Köhler, Siegfried: Der Überseehafen Rostock unter Kontrolle der Staatssicherheit, Schwerin 2012, S. 11– 15. Verträge in Nachlass Wolfgang Eckardt, Ilse-Dore Eckardt, Rostock [2016], 19. März 1968; siehe für diese ersten Schritte auch: Reichpietsch, Köbis, Revolutionäre Matrosen, S. 8. Das Denkmal wurde anlässlich der Ostseewoche eingeweiht, LAG SED-KL, IV.B.23.50, Kreisleitung der SED Rostock-Stadt, „Vorlage zur Gestaltung des Köbis-Reichpietsch-Monuments am Kabutzenhof“, 20. April 1968; „Reliefwand übergeben“. Ostsee-Zeitung, 17. Juli 1970, S. 2. Sie sollte das Verhältnis zwischen den beiden Revolutionen zeigen (LAG SED-KL IV.B.23.50). SED-KL IV.B.23.50 – 1, Kreisleitung der SED Rostock-Stadt, „Vorlage zur Gestaltung des Köbis-Reichpietsch-Monuments am Kabutzenhof“, 20. April 1968. Gedenkstätten der Arbeiterbewegung im Bezirk Rostock (Kommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung bei der Bezirksleitung Rostock der SED und vom Bezirksvorstand Rostock der Gesellschaft für Sport und Technik), Zweite Auflage, 1973, S. 10.
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die beide Revolutionen grafisch verflochten und die Folge und Kette der Ereignisse von Wilhelmshaven 1917 nach Berlin 1919 über Petrograd klar präsentiert. Im Innern des Betonkörpers wurde eine Ausstellung gezeigt, ein Traditionsraum über die Roten Matrosen, deren Geschichte in die Geschichte des Jahres 1917/1918 eingebettet ist (1971).¹⁵³ 1977 wurde anlässlich des 60. Jahrestages der Oktoberrevolution der Ort für eine neue Präsentation umgestaltet mit dem Titel „Das Antlitz des bewaffneten Kämpfers der Arbeiterklasse“.¹⁵⁴ Sie sollte „das Hauptereignis in unserem Jahrhundert“ (Honecker) betonen und verehren. In dieser neuen Ausstellung schuf die Erzählung noch eine historische Kontinuität von Köbis und Reichpietsch (Erste Tafel) bis zur Gründung der DDR, dem Warschauer Vertrag und der zeitgenössischen Lage (letzte Tafel).¹⁵⁵ Bis 1983 fand auch darin eine Sonderausstellung über Thälmann statt.¹⁵⁶ Wie üblich bei Stätten dieser Art wurden hierhin oft Besuche von Schulklassen und FDJ-Gruppen organisiert. 1968 arbeitete Wolfgang Eckardt seinerseits ebenfalls an seinem Werk.¹⁵⁷ Wofür genau? Alle ersten Dokumente (1968 – 1970) sprechen öffentlich sowie vertraulich von einem „Köbis-Reichpietsch“-Monument, Denkmal oder Ehrenmal (sogar Ehrenhain). Ab Ende 1970 taucht der Name „Ehrenmal der Revolutionären Matrosen“ mehr und mehr auf, statt Köbis und Reichpietsch. Am Ende des Prozesses (1977) geraten die beiden füsilierten Matrosen fast in Vergessenheit, zugunsten des obengenannten Begriffs der „Roten Matrosen“ und letztendlich „Revolutionären Matrosen“.¹⁵⁸
„Eröffnet an historische Stätte“, Ostsee-Zeitung, 15./16. Mai 1971. Eine Vorlage aus der Feder von Klaus Krumsieg (Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Armeemuseum der DDR) ist in dem Archiv Greifswald zu finden: SED-KL IV/D/4/07/228 (56), „Gliederung und Gestaltung der Ausstellung ,Das Antlitz des bewaffneten Kämpfers der Arbeiterklasse‘ in der Gedenkstätte der roten Matrosen“, 1977. Ein Bild ist in dem Begleitheft Reichpietsch, Köbis, Revolutionäre Matrosen, S.15 zu sehen, dazwischen gibt es Tafeln für 1918, 1923, 1932, 1936, 1945, 1946 (Gründung der SED). Begleitheft Reichpietsch, Köbis, Revolutionäre Matrosen, S. 15. LAG, SED-KL Nr. IV/B/2.9/04/ 1970. Vgl. Rede von Wolfgang Eckardt (Entwurf), 17– 8 – 1977 S.1, LAG, SED-KL Nr. IV/D/4/07/228 35. Eine der ersten Erwähnungen als Ehrenmal der „Revolutionären Matrosen“ ist in einem Brief von Lorenz, Abteilung Kultur [Rostocks], zu Kurt Bork, Stellvertreter des Ministeriums für Kultur, 19. November 1970, LAG, SED-BL-IV/B/2.9/04/541. Es gibt noch eine Ungewissheit zwischen „Roten Matrosen“ und „Revolutionären Matrosen“ in den 1970er-Jahren (Vgl. LAG, SED-KL Nr. IV/ D/4/07/228, n°42– 43 Abt. Wissenschaft. Bildung und Kultur. Information für den Genossen Kochs). Gelegentlich kann man später die Erwähnung „Ehrenmal Köbis Reichpietsch“ noch finden, zusammen mit „Gedenkstätte der revolutionären Matrosen“, wie 1989, „Baufachliche Stellungnahme“, 3. April 1989, Stadtarchiv Rostock, Bestand Schifffahrtsmuseum. 2.1.13.2.7.
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Wie ist es zu dieser Wandlung gekommen? Diese ziemlich umfangreiche Geschichte der Jahre 1967– 1977 soll hier erzählt werden. Hierbei ergaben sich in der Recherche gewisse Schwierigkeiten, die nicht aufgrund von mangelnden Quellen entstanden. So konnte nicht immer nachvollzogen werden, auf welche Fassung des Denkmalentwurfes sich in den Debatten bezogen wurde. Darüber hinaus mischten sich in den Argumentationen ästhetisch-künstlerische, persönliche und politische Argumente, sodass es herausfordernder ist, Debattenstränge und Gewichtungen adäquat nachzuzeichnen. Der erste Entwurf Eckardts (um 1968/1969) zeigt die beiden Matrosen gerade wie die Skulptur von Rügen (Dranske): Sie stehen nebeneinander ohne spezifische Kennzeichen. Nur scheinen die Fäuste geballt zu sein (Abb. 4).¹⁵⁹
Abb. 4: Projektentwurf für das Köbis-Reichpietsch-Ehrenmal, Nachlass Wolfgang Eckardt, ohne Datierung.
Es ist auch möglich, dass dies als eine reine Kopie des Denkmals von Dranske, als Ausgangspunkt gedacht war. Es wäre aber seltsam gewesen, zweimal ein gleiches Denkmal zu schaffen, besonders für solch ein bedeutendes Projekt.Wie dem auch sei, Eckhardt entwickelte im Frühjahr 1970 einen neuen Entwurf (2) in mehreren
Nachlass Wolfgang Eckardt, Ilse-Dore Eckardt, Rostock [2016], siehe auch Reichpietsch, Köbis, Revolutionäre Matrosen, S. 8.
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Varianten.¹⁶⁰ Aber die Hauptstruktur war die gleiche: Die Hauptfigur steht fest und gerade aufgerichtet. Der andere Matrose im Vordergrund ist von Schüssen bereits getroffen. Beide tragen ein Matrosenhemd, sonst kann man kein anderes Charakteristikum feststellen (Abb. 5).¹⁶¹ Diese ersten Entwürfe verursachten viel Kritik und Diskussionen.¹⁶² Das Projekt war nämlich zu wichtig für die DDR, um locker behandelt zu werden. In seiner Tragweite überschritt es den Rahmen dessen, was sich ein Bezirk leisten konnte, es handelte sich nämlich um eine Plastik, deren vorgesehenes Ausmaß – 8 bis 9 Meter hoch (ohne den Sockel) – „noch von keinem Künstler der DDR geschaffen wurde“.¹⁶³ So erweckten die Entwürfe nicht nur kritische Werkstattgespräche, sondern führten auch zu einer Beurteilung durch einen bedeutenden Experten, Hubert Schiefelbein.¹⁶⁴ Laut dieses Spezialisten war die „ideologische Arbeit“ bei Eckardt noch unzureichend inkorporiert. Diese evozierten unterschiedlichen Anforderungen führten zur Schaffung von neuen Varianten. In den unzähligen und heftigen Diskussionen über die Entwicklung des Werkes kristallisierten sich verschiedene Aspekte heraus: Einer Ansicht nach sollte eine (relative) Autonomie der künstlerischen bzw. der Führungselite Rostocks gegenüber Berlin und den zentralen Behörden unbedingt
LAG, SED-BL-IV/B/2.9/04/541, Beirat für Architektur und bildende Kunst des Rates der Stadt Rostock, „Zum Entwicklungsstand der Zweifigurengruppe von Wolfgang Eckardt für das Ehrenmal der revolutionären Matrosen am Kabutzenhof“, 17. Dezember 1971, S. 4/140. LAG, SED-BL-IV/B/2.9/04/541, Büro für Stadtplanung Abteilung Architektur und bildende Kunst, „Stellungnahme zum Entwicklungsstand der Reichpietsch-Köbis-Gruppe für das Ehrenmal am Kabutzenhof“ 2. Juli 1970, S. 2; Beirat für Architektur und bildende Kunst des Rates der Stadt Rostock, „Zum Entwicklungsstand der Zweifigurengruppe von Wolfgang Eckardt für das Ehrenmal der revolutionären Matrosen am Kabutzenhof“, 17. Dezember 1971 S. 4/140, Nachlass Wolfgang Eckardt, Ilse-Dore Eckardt, Rostock [2016], Reihe von Bildern (undatierte und 22. Juli 1970). Im Januar 1971 scheint dieser Entwurf noch im Gespräch und wird als Skizze vor Ort auf einem Sockel benutzt (Nachlass Wolfgang Eckardt, Ilse-Dore Eckardt, Rostock [2016]. Bilder von diesem Datum), Reichpietsch, Köbis, Revolutionäre Matrosen, S. 11 f. Vgl. das kritische Werkstattgespräch am 26. Februar 1970, das zu neuen Entwürfen führte, LAG, SED-BL-IV/B/2.9/04/541, „Aktennotiz über die Diskussion der Entwürfe Köbis/Reichpietsch Ehrenhain am 26. 2. 1970“, S. 111– 112. LAG, SED-BL-IV/B/2.9/04/541, „Aktennotiz über die Diskussion der Entwürfe Köbis/Reichpietsch Ehrenhain am 26. 2. 1970“, S. 113. LAG, SED-BL-IV/B/2.9/04/541, „Aktennotiz“, (Diskussion der 26. 2. 1970), „Information über den Besuch Prof. Schiefelbeins am 9. 3.1970 in Rostock“, S. 114– 116. Hubert Schiefelbein, Bildhauer, war Professor an der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar und ein berühmter Künstler der DDR.
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Abb. 5: Skizze Wolfgang Eckardts, Nachlass Wolfgang Eckardt, ohne Datierung.
behauptet werden.¹⁶⁵ Immer wenn „Berlin“ kritisiert und fordert, finden die ästhetischen und politischen Umsetzungen Eckardts dennoch lokal Unterstützung¹⁶⁶. Der Bildhauer ist tief in der Stadt verankert. Sein Atelier für das Projekt liegt auf dem Gelände des Fischkombinats. Und dennoch bestehen Spannungen zwischen den lokalen Künstlern – umso mehr, als sich das Projekt noch in der
Darüber insgesamt, Rowell, Jay: Le pouvoir périphérique et le „centralisme démocratique“ en RDA. In: Revue d’Histoire Moderne et Contemporaine 49/2 (2002), S. 102– 124, der die „Peripherie“ bezeichnet als einen Raum, der seine „eigene Dynamik“ besaß (S. 104). Der erste Sekretär des Bezirks versteht sich als ein „courtier (dt. Makler)“ für seinen Bezirk (S. 116). Interview des Autors mit Ilse-Dore Eckardt, Rostock, 1. Mai 2016.
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Entstehungsphase befindet.¹⁶⁷ Anfang Juli 1970 dauerten die Diskussionen über dieses Model noch an,¹⁶⁸ aber mit dem Besuch Walter Ulbrichts in Rostock für die Ostseewoche nahm das Projekt eine neue Richtung, aus politischen Gründen. Anlässlich der Veranstaltung wurden die Entwürfe von Eckardt dem SED-Chef im Modellraum am 25. Juli¹⁶⁹ präsentiert. Ulbricht schien von den Vorlagen wenig überzeugt.
Abb. 6: Walter Ulbricht mit Wolfgang Eckardt während seines Besuches in Rostock, Juli 1970, während der Ostseewoche. Ganz links Harry Tisch, Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Rostocks (siehe Anm. 170).
LAG, SED-BL-IV/B/2.9/04/541, Beirat für Architektur und bildende Kunst des Rates der Stadt Rostock, „Zum Entwicklungsstand der Zweifigurengruppe von Wolfgang Eckardt für das Ehrenmal der revolutionären Matrosen am Kabutzenhof“, 17. 12. 1971. S. 8 – 9/144– 145 LAG, SED-BL-IV/B/2.9/04/541, Büro für Stadtplanung, Abteilung Architektur und bildende Kunst, „Stellungnahme zum Entwicklungsstand der Reichpietsch-Köbis-Gruppe für das Ehrenmal am Kabutzenhof“ 2. 7. 1970, S. 2. LAG, SED-BL-IV/B/2.9/04/541, Brief von Wolfgang Eckardt an Harry Tisch, 11. August 1970.
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Der Erste Sekretär forderte eine Verbesserung der Thematik, das heißt eine kämpferischere Darstellung der Matrosen.¹⁷⁰ Er forderte nachdrücklich die Darstellung von Matrosen mit Waffen, „so oder nicht“, sagt heute die Witwe des Bildhauers.¹⁷¹ Die Volksmarine ihrerseits wollte Matrosen in Uniform. Diese andere Forderung muss in den obengenannten Kontext eingeordnet werden. Der Aufstand von 1917 erlaubte die Erfindung einer Tradition, ein perfektes Ereignis, das Kriegsmarine und Sozialismus verknüpft. Deshalb ist es so wichtig, Uniformen zu sehen, die diese Kontinuität verkörpern können. Nun aber tragen – wie gezeigt – die ersten Matrosenfiguren von Eckardt weder Uniformen noch Waffen. Diese Darstellung passt zu den politischen Einstellungen Eckardts. Ein Bericht der SED kritisierte allerdings eine große pazifistische Stimmung unter den Künstlern Rostocks. Eckardt wird nicht direkt genannt, aber mehrere andere Künstler.¹⁷² Der zweite Entwurf Eckardts passte auch besser zu den Ereignissen von 1917, während derer niemals zu den Waffen gegriffen worden war. In diesem Moment gibt es für Eckardt keine andere Wahl als sich der Staatsmacht zu beugen. Er schreibt an Harry Tisch, um ihm einen neuen Entwurf vorzustellen: der Stürzende überträgt das Gewehr dem Nachstreitenden, um den Sieg der Revolution zu symbolisieren (Abb. 7). Diese Weiterentwicklung überzeugte die Autoritäten jedoch nicht. In einer handschriftlichen Notiz auf Eckhardts Brief wird gefordert: „Darum geht es nicht. Es geht um das Sichtbarmachen, dass es eine kämpfende, bewaffnete Klasse war.“¹⁷³ Der Bildhauer entfaltete neue Entwürfe, bei denen immer eine Figur ein Gewehr (3) trägt. Es gab noch weitere Varianten, die viel Kritik und Diskussionen hervorriefen, wie z. B. von Reinhard Dietrich und Jo Jastram.¹⁷⁴ Es gibt noch einen
LAG, SED-BL-IV/B/2.9/04/541, Verband Bildender Künstler der Deutschen Demokratischen Republik, Zentrale Sektionsleitung Plastik, „Entwurf eines Denkmals für die Matrosen Reichpietsch und Köbis von dem Bildhauer Wolfgang Eckardt für die Stadt Rostock“ [Um März/April 1971] S. 3/124. Darüber hinaus hat Ulbricht den ersten Teil des Denkmals und den Ort mit Eckardt besucht (30. Juli). Bild von diesem Besuch, Nachlass Wolfgang Eckardt, Ilse-Dore Eckardt, Rostock [2016]. Interview des Autors mit Ilse-Dore Eckardt, Rostock, 1. Mai 2016. LAG, SED-KL IV/B/4/7/66 und 83 „Einschätzung der Lage unter der künstlerischen Intelligenz in der Stadt Rostock“, Vorlage Nr. 69 – 56/68 der Abt. Schulen, Fachschulen, Kultur der Kreisleitung der SED Rostock-Stadt für das Sekretariat der SED-Kreisleitung Rostock-Stadt vom 1. 11. 1968, „III. Zur Lage der künstlerischen Intelligenz in unserer Stadt“, S. 51– 52. LAG, SED-BL-IV/B/2.9/04/541, Brief von Wolfgang Eckardt an Harry Tisch, 11. August 1970. LAG, SED-BL-IV/B/2.9/04/541, „Zusatz zur Aktennotiz vom 19. 7. 1971“ (für die Kritik von Dietrich und Jastram), S. 136, 23. 2. 1971. So wurde Eckardt verdeutlicht, dass Jastram nur darauf wartete, die Aufgabe zu übernehmen (LAG, SED-BL-IV/B/2.9/04/541, Beirat für Architektur und
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Abb. 7: Skizze Wolfgang Eckardts, Nachlass Wolfgang Eckardt, 30. März 1971.
weiteren Entwurf (4), wahrscheinlich nach der Absetzung Ulbrichts, der eine Art Kompromiss darstellen könnte. Das Gewehr ist nicht mehr das Hauptsymbol, das
bildende Kunst des Rates der Stadt Rostock, „Zum Entwicklungsstand der Zweifigurengruppe von Wolfgang Eckardt für das Ehrenmal der revolutionären Matrosen am Kabutzenhof“, 17. 12. 1971. S. 2/138, S. 9/145).
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die fallende Figur der stürzenden Figur überträgt, sondern eine Fahne. Eine Skizze zeigt die Fahne auf ein Gewehr aufgehängt, das so als Stange dienen würde.¹⁷⁵ Für die Behörde Rostocks scheinen die Veränderungen geeignet zu sein: Die „einbezogene Fahne bewirkt eine eindeutige ideelle Verbindung beider Figuren“.¹⁷⁶ Die künstlerische und ästhetische Kritik hörte jedoch nicht auf. Für viele Beobachter fehlte es an Dynamik, eigentlich einer Dynamik, die die Revolution verkörpern sollte.¹⁷⁷ Dem Künstler wurde es dann zu viel: „Er hat diese Auffassung verbreitet – zu viele Berater hätten ihm in die Arbeit hineingeredet und deshalb sei er unsicher und ratlos geworden.“¹⁷⁸ Dieser Entwurf von der Erschießung – ohne oder mit Waffen, ohne oder mit Fahne – bleibt als Arbeitsrahmen noch für eine gewisse Zeit bestehen. Parallel dazu schwächt sich die Position Ulbrichts am Gipfel der Macht bis zur Absetzung durch eine Palastrevolution. Für Eckardt ist es die Gelegenheit, von den Waffen wegzukommen. Diese kürzlich gewonnene Freiheit wurde aber durch neue ideologische Anforderungen wieder stark begrenzt. Die politische Wende und die neuen Orientierungen führten jedoch zu einer völlig neuen Darstellung der Matrosen. Es gibt sicherlich in diesen Debatten eine starke ästhetische Kritik des Stiles Eckardts: zu altmodisch, zu grob, unzureichend. Es sei ein zu wichtiges und zu großes Projekt für einen solchen Künstler gewesen, der eigentlich nur kleine Werke geschaffen hatte. Aber es gab auch die Meinung, dass Eckardt die zeitgenössischen ideologischen Einstellungen und Herausforderungen weder verstünde noch in Kunst zu übertragen wisse. Jetzt sei in der DDR die Arbeiterklasse die führende Klasse, und nicht die Klasse von Opfern und Ausgebeuteten. Die Notwendigkeit eines Stilwandels für das Denkmal wurde bei den Behörden schon 1971 laut: Es sei das „Ziel, de[n] Sieg der Arbeiterklasse über die Bourgeoisie unter Aufbietung von Opfern sichtbar und dauerhaft darzustellen“¹⁷⁹. Eckardt hätte
Ein nur gezeichneter Entwurf dieser Art ist in dem Nachlass Eckardt zu sehen, siehe auch LAG, SED-BL-IV/B/2.9/04/541, Beirat für Architektur und bildende Kunst des Rates der Stadt Rostock, Zum Entwicklungsstand. LAG, SED-BL-IV/B/2.9/04/541. Das ist das erste Mal (chronologisch), dass ich die Anwesenheit einer Fahne gefunden habe. Diese Kritiken blieben in Erinnerung, wie in den Notizen der Werkstattgespräche berichtet wird: LAG, SED-BL-IV/B/2.9/04/541, „Aktennotiz zum Ateliergespräch bei Wolfgang Eckardt am 15. 7. 1971“: „Es wurde hervorgehoben, dass es bei der Weiterarbeit darauf ankommt, die Idee des Weiterwirkens der Revolution, des Sieges und der Überlegenheit des Revolutionärs zu verstärken.“ LAG, SED-BL-IV/B/2.9/04/541, Beirat für Architektur und bildende Kunst des Rates der Stadt Rostock, Zum Entwicklungsstand, S. 7/143. LAG, SED-BL-IV/B/2.9/04/541, Verband Bildender Künstler der Deutschen Demokratischen Republik, Zentrale Sektionsleitung Plastik, „Entwurf eines Denkmals für die Matrosen Reichpi-
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diese Einstellung nicht ganz verstanden und verinnerlicht. Diese „führende Rolle der Arbeiterklasse und ihre Bündnisbeziehungen zu den anderen Klassen und Schichten „auf die tatsächlichen sozialen Prozessen““ sollte jetzt mehr betont werden.¹⁸⁰ Kurz: eine reife Klasse, die vorangeht. Diese Veränderungen müssen in einem breiten Kontext verstanden werden. Ab den 1970er-Jahren orientierte sich die Geschichtspolitik der SED hin zur Erschließung eines gesamten deutschen Erbes und einer „humanistischen Tradition“.¹⁸¹ Mit Honecker entwickelte sie theoretisch eine neue Beziehung zur Nationalgeschichte. Man betonte außerdem viel stärker die Eingliederung in den sozialistischen Block, als „sozialistische Nation“ und die Nähe zur Geschichte/ Politik der Sowjetunion, ihre führende Rolle in der Vergangenheit (was im Kontext mit dem Sturz Ulbrichts zu verstehen ist).¹⁸² Als Repräsentanten der „nationalen Grundkonzeption“ mussten Köbis und Reichpietsch in den Hintergrund rücken. An zweiter Stelle hatte die Republik nun das Stadium einer entwickelten sozialistischen Gesellschaft erreicht,¹⁸³ die nicht mehr diejenige des kämpferischen Aufbaus war¹⁸⁴. Das Erbe der Streitkräfte der DDR veränderte sich auch. Es integrierte nicht nur die Aufständischen der Arbeiterbewegung, die Kämpfer gegen den imperialistischen Krieg in seine „Tradition“, sondern auch „herausragende Persönlichkeiten“, die als „progressiv“ in ihren Zeiten gelten konnten. Es gab für die DDR so auch ein „progressives militärhistorisches Erbe der deutschen Militärgeschichte“, zu der die preußischen Militärreformer, Gneisenau oder Clausewitz zählen.¹⁸⁵ In diesem neuen Interpretationsmuster erscheinen die kämpferischen „Märtyrer“ und deutsche „Helden“ Köbis und Reichpietsch, die der „alten“ „Tradition“
etsch und Köbis von dem Bildhauer Wolfgang Eckardt für die Stadt Rostock“ [Um März/April 1971] S. 4/125. Die SED und das kulturelle Erbe. Orientierungen, Errungenschaften, Probleme. Berlin 1986, S. 379. Für das Erbe der „humanistischen Tradition“ zu dieser Zeit, Die SED und das kulturelle Erbe, S. 358 – 359, 379. Lokatis, Der Rote Faden, S. 350 ff., Sabrow, Martin: Das Diktat des Konsenses: Geschichtswissenschaft in der DDR 1949 – 1969. München 2001, S. 432. So Honecker,VIII. Parteitag, Juni 1971: siehe Die SED und das kulturelle Erbe, S. 357– 358, Auf diesem VIII. Parteitag wurde festgelegt, dass die DDR „ein neuer Typus der Nation, die sozialistische Nation“, eine „entwickelte sozialistische Gesellschaft“ ist, vgl. Geschichte der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Abriss. Berlin 1978, S. 555 – 557; Malycha, Andreas u. Winters, Peter Jochen: Die SED. Geschichte einer deutschen Partei. München 2009, S. 203 – 204. Niess, Die Revolution von 1918/19, S. 360. Brühl, Reinhard: „Zu Erbe und Tradition in der deutschen Militärgeschichte“, Militärgeschichte (DDR), Jg. 22 (1983/6), S. 689 – 694.
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angehören, als nicht so wichtig. Nunmehr wird ein abstraktes Bild von den „Roten/Revolutionären Matrosen“ als Sieger und direktes Vorbild für die Marine evoziert. Die Männer von Wilhelmshaven gerieten langsam in Vergessenheit. Die Veränderung der ursprünglichen Thematik „Hinrichtung der Matrosen Reichpietsch und Köbis“ auf die neue Thematik „Revolutionäre Matrosen“ zeigt eine progressive Weiterentwicklung unserer gesellschaftspolitischen und geistigen Einstellung zur Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung und deren Widerspiegelung in der bildenden Kunst.¹⁸⁶
In seiner Rede zur Einweihung des Denkmals 1977 bediente sich Eckardt der ideologischen Wandlungen des Projekts, die es verkörpern sollte, „dass eine Revolution im Sinne des Sozialismus, Kommunismus noch nicht beendet ist“. Der Bildhauer behauptete, dass die Ereignisse in Chile, in der CSSR und in Ungarn Einfluss auf seine Entwicklung gehabt hätten, was auch mehrdeutig hätte sein können. In einem Interview mit der Presse äußert er diese Idee ziemlich anders und auch die Beispiele sind andere: Chile nochmals, aber Vietnam oder Afrika statt der CSSR und Ungarn.¹⁸⁷ Alle diese Debatten führten zu einer ganz neuen Thematik (5). Die ersten Entwürfe in Terrakotta wurden, davon zeugen die Bilder aus dem Archiv des Künstlers, schon im Juni 1972 angefertigt.¹⁸⁸ Um 1974/1975 entstand die Skizze der finalen Großplastik.¹⁸⁹ Die beide Matrosen drängen jetzt entschieden nach vorn, wie eine „ballistische Kurve“ (Eckardt; Abb. 8)). Die Bewegung der Männer wird sehr dynamisch dargestellt, einer von ihnen ballt die Faust mit ausgestrecktem Arm. Das Ergebnis hat nichts mehr mit einer Opfer-Darstellung oder nichts mehr mit der Erschießung von Köbis und Reichpietsch zu tun. Die Matrosen tragen weder Uniformen oder Kleidung, noch Gewehre. Sie sind nackt dargestellt, weil sie, so rechtfertigte es Eckhart, so nicht mehr an eine bestimmte Epoche gebunden sind.¹⁹⁰ Sie stützen sich auf eine Art Fels mit gebrochenen Linien, die an der Dynamik des Ganzen teilnehmen. Laut Francesca Müller-Fabbri (vgl. ihren Beitrag in diesem Band) ist es eine Anspielung an das „Märzgefallenen“-Denkmal von Walter Gropius (1922) in Weimar. Das Ensemble kann für jedermann ganz klar und einfach interpretiert werden, als Aufmarsch zum Sieg des Sozialismus. „Das umfasst die ursprüngliche Idee, in Reichpietsch-Köbis die Revolution von 1917 LAG, SED-BL-IV/B/2.9/04/541, Verband Bildender Künstler der Deutschen Demokratischen Republik, Zentrale Sektionsleitung Plastik, Entwurf, S. 4/125. „Kraft der Revolution“, Interview mit Ilse Grunert, Ostsee-Zeitung, 3./4. Juli 1977. Nachlass Wolfgang Eckardt, Ilse-Dore Eckardt, Rostock [2016]. Reichpietsch, Köbis, Revolutionäre Matrosen, S. 1 und 12, der die Billigung des neuen Entwurfs um 1974 datiert. Rede von Wolfgang Eckardt (Entwurf), 17– 8 – 1977 S. 3, LAG, SED-KL Nr. IV/D/4/07/228 35.
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Abb. 8: Die Gedenkstätte der revolutionären Matrosen, Aufnahme von Nicolas Offenstadt, Juli 2007.
darzustellen, das geht darüber hinaus und reicht über 1945 bis weit in die Gegenwart und Zukunft hinein. Ich hoffe, dass das lesbar ist“, erläuterte Eckardt.¹⁹¹ Der Erste Weltkrieg als Gründungskampf löste sich hier auf. Eckardt rechtfertigte schlechthin die Wandlung von Köbis-Reichpietsch hin zu den „Roten Matrosen“ so: Wer macht die Revolution? Der Mensch. So verallgemeinert soll mit diesen beiden Figuren der Gedanke und das Wissen darum dargestellt sein, dass der Mensch Träger jeder revolutionären Idee ist. […] Das drückt sich bereits in der Konzeption aus : in der schrägen Lage der beiden Figuren, dem Vorwärts- und zugleich Aufwärtsdrängenden, der Dynamik in der Gruppe, erinnernd an eine ballistische Kurve, erdballumspannend – wie der Gedanke der Revolution.¹⁹²
„Kraft der Revolution“, Interview mit Ilse Grunert, Ostsee-Zeitung, 3./4. Juli 1977. Ibid.
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Mit dieser Einigung über den Stil des Denkmals war der Prozess aber noch nicht abgeschlossen. Die DDR war nicht in der Lage, eine solche Großplastik in Bronze zu gießen und herzustellen. Dies musste in Leningrad in einem Werk für Monumentalskulpturen aus einem Gipsmodell erfolgen, was noch viele Diskussionen und Organisationsarbeit erforderte.¹⁹³ Diese Kooperation erlaubt es den Rostocker Behörden, die engen Beziehungen zwischen der DDR und der UDSSR nochmals hervorzuheben und die „Integration“ des Ostblocks in das Projekt zu betonen.¹⁹⁴ Schließlich war das Denkmal aber zur angedachten Einweihung am 14. September 1977 fertig. Die Enthüllung sollte ein „fester Bestandteil der massenpolitischen Aktivitäten zum 60. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ sein.¹⁹⁵ In den Gedenkfeiern spielte die Zahl „60“ eine viel benutzte symbolische Rolle, hier mit der Niederlegung von 60 Blumen am Sockel der Plastik; 60 Fahnenträger mit Roten Fahnen waren auch anwesend.¹⁹⁶ Hauptredner war der Erste Sekretär der Kreisleitung der SED Rostock-Stadt, Heinz Kochs, vor tausenden Zuschauern.¹⁹⁷ Der Plan sah vor, dass das Musikkorps das Lied der „Matrosen von Kronstadt“ intoniert. In der Veranstaltung hatte darüber hinaus die Volksmarine eine wichtige Rolle.¹⁹⁸ Die Anwesenheit der UdSSR zeigte sich durch eine Meldung der Volksmarine an den 1. Sekretär der Kreisleitung, die die Verabschiedung einer Delegation nach Riga zu den „Tagen der Freundschaft“ zum 60. Jahrestag erwähnt. Nach ihrer Errichtung spielte die Gedenkstätte weiterhin eine wichtige Rolle: Auf ihrer Freifläche wurden verschiedene Veranstaltungen durchgeführt, besonders solche der Volksmarine. Aber mehrere Indizien bestätigen, dass die Geschichten der „Helden“ der Jahre 1917/1918 in der DDR nicht mehr effektiv waren. Die Zahl der individuellen Besucher der Ausstellung war sehr niedrig (vier pro Monat), wobei es sich hierbei vor allem um Gruppen- bzw. Pflichtbesuche han-
Es gibt eine Fülle von Informationen und Details über die technischen Maßnahmen und die Vereinbarungen mit den Sowjets im Stadtarchiv Rostock, Aktenbestand 2.1.1.5554, „Errichtung der Gedenkstätte ,Revolutionäre Matrosen‘“. Dies betrifft aber nicht immer unser Thema. Entwurf der Rede des Stadtrates für Kultur, ohne Datum [September 1977], S. 3., Stadtarchiv Rostock, 2.1.1.5554. „Maßnahmen zur Durchführung eines Meetings anläßlich der Einweihung der Plastik „Revolutionäre Matrosen“, Stadtarchiv Rostock, 2.1.1.6363. LAG, SED-KL Nr. IV/D/4/07/228 – 23, „Ablauf und Regieplan…“, siehe auch die Rede von dem Delegierten nach Riga, Dickelmann, SED-KL Nr. IV/D/4/07/228 – 30, die weitere Beispiele zitiert, S 1. Es gibt noch verschiedene Pläne und Vorschläge für den Ablauf des Treffens im Stadtarchiv Rostock, Aktenbestand, 2.1.1.6363. Eine detaillierte Liste der teilnehmenden Gruppen ist im Stadtarchiv Rostock zu finden. Signatur: 2.1.1.6363 „Ablauf und Regieplan“, LAG, SED-KL Nr. IV/D/4/07/228 – 23.
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delte. Zehn Jahre nach der Einweihung der Großplastik Eckardts begann bereits ein Verfallsprozess. Ein Gutachten des Schifffahrtsmuseums (1987) kam zu dem Schluss, dass es unmöglich wäre, eine „würdige“ Ausstellung vor Ort im jetzigen Zustand zu organisieren. Die Räume erwiesen sich als wenig geeignet: Es gab Probleme mit dem Licht, der Heizung, der Feuchtigkeit usw.¹⁹⁹ Im folgenden Jahr listete der Leiter des Museums mehrere bauliche Probleme und Defekte, Indizien einer Verwahrlosung auf: „[…] muß in jeden Fall des äußere Bild der Gedenkstätte wiederhergestellt werden“. Darüber hinaus benutze die Stadtreinigung den Ort als Schneeabladeplatz. Ohne Reparaturen könnte dies kein „würdiger Kranzniederlegungsplatz“ mehr sein.²⁰⁰ Ein Gutachten derelativierte jedoch die Sorge des Direktors des Museums. Der gesamte Zustand sei „gut“, trotz der „unterbliebenen Instandhaltung“.²⁰¹ Zwar hatte die DDR riesige Finanzierungsprobleme in diesen Jahren, jedoch signalisiert auch diese Vernachlässigung, dass die „Roten Matrosen“ nicht mehr die höchste Priorität des Regimes darstellten. Alles geht in die Richtung, die wir schon aufgezeichnet haben.
Schlussbemerkungen Resümierend lässt sich feststellen, dass bis in die 1990er-Jahre Köbis und Reichpietsch große Figuren der Meisterzählung des deutschen Kommunismus geblieben sind, aber nicht ohne einen Wandlungsprozess durchlaufen zu haben. Mit der Gründung der DDR avancierten sie von den Anti-Helden oder Kampffiguren der Weimarer Republik zu offiziellen Figuren des Regimes, sogar zu Vorläufern. Dieser neue Status verdeutlicht sich u. a. durch einen konsequenten Platz im öffentlichen Raum des Landes, besonders in Beziehung mit den maritimen Gegenden und Einrichtungen. Mit den Spartakisten verkörpern Köbis und Reichpietsch die Kämpfe der „Arbeiterklasse“ gegen den imperialistischen Krieg. Sie zeugen auch von einem gnadenlosen Imperialismus, dessen Gewalt die bewaffneten Aktionen der Arbeiterbewegung rechtfertigt, 1918 und danach. In den 1970er- und 1980er-Jahren wandelte sich die Praxis der Erinnerung an die beiden
„Stellungnahme zum gegenwärtigen Stand der Einbeziehung der Gedenkstätte der Revolutionären Matrosen am Rostocker Kabutzenhof in die Arbeit des Schifffahrtsmuseums“ [1987]. Stadtarchiv Rostock, Bestand Schifffahrtsmuseum. 2.1.13.2.7. Brief von Jörg Meyer an Dr. Peverstorf, 26. April 1988 und an den Stadtrat für Kultur, 26. April und 5. [Juni?] 1988, Stadtarchiv Rostock, Bestand Schifffahrtsmuseum. 2.1.13.2.7. „Baufachliche Stellungnahme“, 3. April 1989, Stadtarchiv Rostock, Bestand Schifffahrtsmuseum. 2.1.13.2.7.
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Abb. 9: Die Gedenkstätte der revolutionären Matrosen heute, Aufnahme von Nicolas Offenstadt, April 2019.
Matrosen: sie verliert an Bedeutung. Dieser Prozess zeichnete sich bereits in der verblassenden Differenzierung zwischen dem Aufstand von 1917 und der Revolution von 1918 ab. Manchmal war die Vermischung so umfassend, wie in der Gedenktafel an dem Haus von Köbis deutlich wird.
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Für die jüngere Generation rückte der Zusammenhang des Krieges immer mehr in den Hintergrund. Die DDR als „entwickelte sozialistische Gesellschaft“ brauchte modernere und jüngere Helden, wie die Kosmonauten oder die Rebellen der USA oder Chiles. Die Episode von Wilhelmshaven geriet zunehmend in Vergessenheit. In dem vor der Enthüllung des Werkes Eckardts erschienenen zweiten Auflage des detaillierten Stadtführers Rostocks (1977, 168 Seiten), werden Köbis und Reichpietsch bei der Präsentation des Denkmals und des Kabutzenhofes nicht einmal erwähnt.²⁰² Auf ähnliche Weise verweist die Präsentation des Denkmals in dem Band Bewaffnete Kämpfe in Deutschland, 1918 – 1923 (1988) nur auf die „Kieler Matrosen, die hier am 6. November 1918 mit ihren Booten anlegten“. Mehr noch: „Die Anlage ist auch der Pflege der Waffenbrüderschaft mit den Matrosen der Baltischen Rotbannerflotte gewidmet“. Von 1917 ist keine Rede.²⁰³ Wie es in dem Ehrenbuch von Rostock heißt, „der ursprüngliche Auftrag, eine Reichpietsch/Köbis-Gruppe,“ wäre „nicht umfassend genug“ gewesen.²⁰⁴ Insgesamt betrachtet stellen die beiden Matrosen die Verkörperung der Möglichkeit dar, einen deutschen revolutionären Weg aufzuzeigen, gegenüber der Bundesrepublik, mit, aber auch vis-à-vis der UdSSR.
Witt, Horst: Rostock (TOURIST-Stadtführer). Leipzig 1977, S. 100 f. Dreetz, Dieter [u. a.]: Bewaffnete Kämpfe in Deutschland. 1918 – 1923. Berlin 1988, S. 305. Reichpietsch, Köbis, Revolutionäre Matrosen, S. 14.
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Denkmäler des Ersten Weltkrieges in Berlin, der SBZ und der DDR Um das Erbe und den Stellenwert des Ersten Weltkrieges in der DDR zu analysieren, wird in diesem Beitrag auf die Frage nach dem Werden der Kriegerdenkmäler von 1914/1918 nach 1945 eingegangen. Diese Frage betrifft zwar politische Entscheidungen hinsichtlich der Darstellung der nationalen Vergangenheit. Sie fügt sich außerdem in die Geschichte der Denkmalpflege in der Nachkriegszeit ein, die sich selbst als ziemlich komplex erweist, in Hinsicht sowohl auf die Strukturen als auch auf die Regelungen und Praxis.¹ Die Frage des Kulturerbes ist tatsächlich in dem politischen Programm der DDR präsent.² Der vorherrschende Wille ist zuerst der eines Bruchs mit der politischen Vergangenheit Deutschlands und einer Umwälzung der sozialen Verhältnisse. Dieser Wille spiegelt sich deutlich zum Beispiel in der Zerstörung des Berliner Schlosses 1950 wider: Das Schloss wird von Walter Ulbricht ausschließlich als ein feudalistisches Symbol betrachtet, ohne Interesse für seinen kulturellen bzw. Kunstwert. Aufgrund des notwendigen Wiederaufbaus kommen auch praktische Aspekte ins Spiel.³ Dabei legen die Wirtschaftsplaner die Priorität auf Wohnungen und Infrastruktur, die sie als sinnvollere und produktivere Aufgaben betrachten. In diesen Jahren stellen sich die Denkmalpfleger regelmäßig gegen die Behörden; seltener frontal, eher versuchen sie, die Priorität auf gewisse Fälle zu konzentrieren, indem sie symbolische Beispiele unterstützen. Erst die 1970er- und 1980er-Jahre stehen für eine Entspannung im Vergleich zur Ulbricht-Ära: Nach der Phase des Wiederaufbaus kann man eine Entwicklung der Prioritäten erkennen. Die Regierung der DDR versucht sich mehr in eine historische Kontinuität einzufügen, auch im Rahmen der Konkurrenz mit der Bundesrepublik in der Aneignung des nationalen Erbes. Damit die Bürger sich in ihrer sozialistischen Heimat wohlfühlen, soll ein DDR-spezifisches Heimatbewusstsein entwickelt werden.⁴ Pragmatisch führt dies zu einem wachsenden In-
Vgl. Denkmalpflege in der DDR – Rückblicke, hrsg.vom Landesdenkmalamt Berlin. Berlin 2014. Goralczyk, Peter: Denkmalpflege und Politik in der DDR – ein Rückblick. In: Denkmalpflege in der DDR, S. 118 – 127. Deiters, Ludwig u. Wipprecht, Ludwig: Organisation und Praxis der Denkmalpflege in der DDR – Vorbemerkungen. In: ebd., S. 11– 13. Vgl. Palmowski, Jan: Inventing a Socialist Nation: Heimat and the Politics of Everyday Life in the GDR, 1945 – 1990. Cambridge 2009. https://doi.org/10.1515/9783110710847-007
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teresse für kulturelle Traditionen und regionale Besonderheiten, und somit auch für historische Denkmäler. Auf historische Persönlichkeiten oder Ereignisse bezugnehmende Denkmäler werden nun rehabilitiert; Bemühungen um Renovierung alter kriegszerstörten Stadtzentren werden ansatzweise unternommen.⁵ Das gilt aber noch lange nicht für andere Denkmäler, wenn sie schon längst, kurz nach dem Krieg, verschwunden sind. Direkt nach dem Krieg erlaubt die Sowjetische Militäradministration (SMAD) den Aufbau deutscher Strukturen in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ); die Verwaltungen der Länder führen u. a. Landesdenkmalämter ein (in Potsdam, Schwerin, Dresden, Halle). In ihrem Sektor in Berlin führen die sowjetischen Behörden Zentralverwaltungen ein, um die Aktivitäten der fünf Länder zu koordinieren, u. a. eine „Zentralverwaltung für Volksbildung“ mit einem „Referat für Museen und Denkmalpflege“. Die Stadt Berlin selbst, unter der Verwaltung der vier Besatzungsmächte stehend, bleibt davon aber ausgenommen. Mit der Teilung der Stadt ab 1948 unterteilt sich dort auch die Denkmalpflege: Im Westen untersteht sie der Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen; im Osten untersteht sie dem Magistrat, wechselt jedoch mehrmals zwischen Bau- und Kulturabteilung. Nach der Gründung der DDR 1949 und der Auflösung der Länder 1952, werden die Landesdenkmalämter in Außenstellen eines 1953 gegründeten Instituts für Denkmalpflege (IfD) umgewandelt und unter Aufsicht des Ministeriums für Kultur gestellt. 1956 wird das Institut für Denkmalpflege aufgelöst und wird von vier autonomen Instituten ersetzt, die sich jeweils unter Aufsicht des Ministeriums befinden: Potsdam, Schwerin, Dresden, Halle. 1961 wird letztendlich ein zentrales Institut für Denkmalpflege wiederbelebt; mit der Eröffnung einer fünften Außenstelle in Erfurt findet man die komplette Struktur der fünf Länder wieder. Von nun an ist das IfD zuständig für das gesamte Gebiet der DDR, was bedeutet, dass Berlin in dieser Hinsicht nicht mehr ausgeklammert bleibt. In diesem institutionellen Rahmen sollten sich die Quellen zur Frage der Kriegerdenkmäler von 1914/ 1918 im Archiv des IfD befinden. Allerdings stellt sich heraus, dass das Interesse für die Kriegerdenkmäler sehr früh eintritt, schon vor der Gründung und während der ersten Jahre der DDR, bevor sie offenbar relativ verschwindet. Insofern bleiben die Quellen relativ verstreut, von den Beständen der Stadtarchive bis hin zu denen des Ministeriums des Innern, des Ministeriums für Kultur und des Ministeriums für Volksbildung.
Deiters, Ludwig: Das Institut für Denkmalpflege in der DDR – Erinnerungen und Reflexionen. In: Denkmalpflege in der DDR, S. 16 – 46, hier S. 40.
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Im Folgenden wird anhand von zwei unterschiedlichen Fallbeispielen von Denkmälern örtlicher Reichweite vorgegangen: das eine, halbwegs erhalten, in Berlin; das andere, zerstört, in Dresden. Diese Beispiele sollen dazu dienen, die Unterschiede in der Erhaltung, Veränderung und Beseitigung der Kriegerdenkmäler des Ersten Weltkrieges in Ost-Berlin und in der SBZ, später der DDR, aufzudecken. Abschließend wird der Fall des Gebäudes der Neuen Wache Unter den Linden erwähnt, seine sukzessiven Umwandlungen und die damit zusammenhängenden Debatten. Dies soll die Praxis und Diskurse zum Gedenken an den Ersten Weltkrieg nicht nur aus einem lokalen, sondern auch aus einem nationalen Blickwinkel erläutern.
Ein Fall bedingter Erhaltung in Berlin: das Denkmal Berlin-Oberschöneweide Das Kriegerdenkmal Berlin-Oberschöneweide befindet sich vor der Christuskirche. Es wurde von der Kirchengemeinde nach dem Ersten Weltkrieg initiiert und 1931 eingeweiht.⁶ Auf jeder Seite des Sockels befinden sich große Bronzeplatten, die jeweils eine Statue tragen. Diese repräsentieren: den verwundeten Krieger; die Sorge; die Abwehr; die Trauer. Das Denkmal wurde von großen Gedenktafeln in der Kirche ergänzt, die die Namen der Gefallenen tragen. Allerdings handelt es sich hier um ein Denkmal, dessen lokale Bedeutung die der Kirchengemeinde allein überschreitet:⁷ Bei der Einweihung wurde es den städtischen Behörden, vom Bürgermeister des Bezirks Berlin-Treptow vertreten, überreicht.⁸ Nach dem Zweiten Weltkrieg verwickelt sich die Lage, da die Grenzen der Bezirke geringfügig
Vgl. http://www.denkmalprojekt.org/dkm_deutschland/b-oberschoeneweide_wk1.htm. Bei der Aufstellung von lokalen Kriegerdenkmälern in Deutschland muss man beachten, dass (im Gegensatz insbesondere zu Frankreich) die Grenze zwischen Zivil- und Kirchengemeinde oft verschwommen ist: Das Denkmal wird im Übrigen auf dem Dorfplatz errichtet, meistens vor der Kirche. Die Einheitsgemeinde Groß-Berlin wurde erst durch ein Gesetz von 1920 ins Leben gerufen. Dadurch verschwanden die zuvor existierenden Gemeinden am Stadtrand, indem sie in die neuen Bezirke eingegliedert wurden. In der Zwischenkriegszeit waren es jedoch diese alten Gemeinden, obwohl sie administrativ gesehen nicht mehr existierten, die den lokalen Rahmen für das Gedenken an den Krieg innerhalb Groß-Berlins boten. Vgl. Julien, Elise: Paris, Berlin, la mémoire de la guerre, 1914– 1933. Rennes 2010.
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geändert werden: Dieses Gebiet befindet sich nun im Stadtbezirk Berlin-Köpenick⁹.
Abb. 1: Das Denkmal Berlin-Oberschöneweide. Einweihung am 19. 04. 1931. Foto: Susanne Kähler, 2020, CC BY 4.0. https://bildhauerei-in-berlin.de/bildwerk/kriegerdenkmal-oberschoe neweide (23. 11. 2021).
Das Denkmal wurde auf dem Gebiet der Kirchengemeinde errichtet, wurde aber dem Bezirksamt überreicht, was eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich der Verantwortung seiner Pflege mit sich brachte. Daher wurde 1936 ein Vertrag zwischen der Kirchengemeinde Oberschöneweide und der durch den Bezirk Treptow ver-
Köpenick hat seine Bestände dem Stadtarchiv übergeben, so dass man sie heute im Landesarchiv Berlin (LAB) finden kann: Bezirk Köpenick/Amt für Kirchenfragen, C Rep.146 – 01/136 und C Rep.101– 04/8.
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tretenen Stadt Berlin unterzeichnet.¹⁰ Letztere verpflichtete sich darin, „die gärtnerischen Anlagen des Denkmal-Platzes in würdiger, die Interessen der Stadt berücksichtigenden Art zu unterhalten und zu pflegen“. Allerdings machte nach dem Krieg der Platz einen „keinesfalls würdigen Eindruck“. Im Mai 1946 schrieb Pfarrer Kurt Rasenberger an das Bezirksamt Berlin-Köpenick, als den jetzigen Vertragspartner, um ihn zu bitten, „die Verpflichtungen der Stadtgemeinde zu erfüllen“. Im Juli antwortete das Bezirksamt, dass „alle bestehenden Verträge durch Zusammenbruch aufgehoben worden sind“, was der Pfarrer bestritt, indem er sich auf Aussagen des Magistrats von Berlin berief. Im August 1946 forderte weiterhin der Gemeindekirchenrat (GKR) die Bronzeplatten ein, die dem Denkmal von der Stadt entnommen wurden; sie „könnten wieder angebracht werden. Dies würde umso unbedenklicher sein, als diese Reliefs den Krieg nicht verherrlichen“. Ab dann schrieb der Pfarrer fast jeden Monat Nachfassschreiben. Im Mai 1947 schrieb er den Bürgermeister des Bezirks direkt an, was ihm eine knappe Antwort einbrachte: Die Platten wurden nicht wiedergefunden (sie wurden in der Tat 1942 für „Rüstungszwecke“ eingeschmolzen) und die Pflegearbeiten würden in Kürze beginnen. Bis Juni wurde jedoch nichts unternommen, daher klingt der Pfarrer immer verbitterter. Das Bezirksamt antwortete, dass „noch wichtigere Sachen zu erledigen seien“. Es fügte hinzu: „Im Übrigen wäre zu prüfen, ob dieses Kriegerdenkmal noch als Denkmal angesprochen werden kann, wo Inschriften usw. vollkommen fehlen.“ Diese Frage markiert einen Wechsel im Kräfteverhältnis um das Denkmal. Ende Juli informierte der Pfarrer: Der Gemeindekirchenrat „kann der von Ihnen angeschnittenen Frage, ob dieses Ehrenmal zurzeit als solches angesprochen werden kann, aus Pietätsgründen nicht nähertreten“. Daraufhin erinnerte er weiter das Bezirksamt an seine Pflegepflicht. Im April 1948 wendete sich der Pfarrer wieder direkt an den Bürgermeister, indem er die rund fünfzehn Schreiben auflistet, die er dem Bezirksamt bereits zugesendet hat, ungerechnet der Anrufe; dieses Mal drohte er damit, Berufung beim Schiedsgericht einzulegen. Die Antwort ist eine kaum beeindruckte Absage; sie wiederholt darüber hinaus die Frage, „ob der Steinsockel des ehemaligen Denkmals noch als Denkmal angesprochen werden kann“. Der nachfolgende Briefwechsel zeugt von einer Umkehrung der InitiativeErgreifung in diesem Fall. Im Juli 1948 bestätigte das Kunstamt des Bezirks, dass das Denkmal nicht als Denkmal betrachtet werden kann: Es fehlen klare Verweise auf ein historisches Ereignis, da die Platten mit Einschriften verschwunden sind.
Alle folgenden Verweise, sofern nicht anders angegeben, stammen aus dem LAB, Bestand C Rep.146 – 01/136.
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Der Bezirk sei somit nicht mehr zur Pflege des Denkmals, welches keines mehr ist, verpflichtet. Er will es sogar beseitigen lassen. Wenn der Gemeindekirchenrat das Denkmal nicht verschwinden sehen will, kann er seinen Vertrag mit der Stadt kündigen und somit den Besitz des Sockels wieder für sich gewinnen; dafür muss er aber auf die Forderung der Pflege durch die Stadt verzichten. In Bedrängnis entscheidet sich der Gemeindekirchenrat für die zweite Alternative. Die beiden Parteien einigen sich Ende Juli 1948, um ihren 1936 unterzeichneten Vertrag zu kündigen: Der Bezirk entledigt sich von den Überresten des Denkmals, welches in den Besitz der Kirchengemeinde wechselt. Bald kann diese die Pflege des Denkmals nicht mehr gewährleisten und muss an das Bezirksamt appellieren und dieses für seine Dienstleistung entlohnen. Vor allem läutet dieser Besitzwechsel eine neue Phase im Konflikt um das Denkmal ein, da der Gemeindekirchenrat neue Pläne für das Denkmal hegt. Er will es, unter der Inschrift „Unseren Gefallenen 1914– 1918“, mit einem Bronzekreuz ergänzen, gefolgt von den Worten: „Dem geschändeten Menschen – Christus unsere Hoffnung – 1949“. Dafür braucht der GKR die Genehmigung der Stadt. Der Pfarrer erklärt im August 1949: „Ich bin überzeugt, dass alle maßgebenden Stellen des Bezirksamtes einverstanden sein können, zumal es sich um die Ergänzung bzw. Umdeutung eines Gefallenendenkmals in ein christliches Mahnmal des Friedens [handelt].“ Der Bürgermeister Köpenicks ist jedoch anderer Meinung und versucht die Inschrift verändern zu lassen, damit sie sich einerseits nicht nur an die evangelische, sondern an die ganze Bevölkerung wendet, andererseits und vor allem, um das Datum 1949 zu vermeiden. Dieses wird als Provokation angesehen, als Teil einer Hetzkampagne der gerade entstehenden DDR; die Inschrift „Dem geschändeten Menschen“ sollte eher von den Jahreszahlen 1933 – 1945 begleitet werden, um die Grausamkeit des Hitler-Regimes anzuprangern. Trotzdem wird das Denkmal im November 1949 ohne Genehmigung des Bezirks eingeweiht. Im Dezember fordert das Bezirksamt zumindest die Auswechslung der Jahreszahl 1949 durch die Jahreszahlen 1933 – 1945. Der Gemeindekirchenrat versucht sich zu rechtfertigen und verlangt eine schriftliche Begründung der Entscheidung des Bezirksamtes, vergebens. Tatsächlich sucht der Bürgermeister nicht mehr nach einer friedlichen Lösung mit der Kirchengemeinde. Ein Wohlwollen oder gar Toleranz gegenüber der lokalen Kirchengemeinde ist umso mehr ausgeschlossen, als Pfarrer Rasenberger mit reaktionären und anti-sowjetischen Diskursen aufgefallen war. Im Mai 1950 bleibt die Inschrift trotz Mahnungen unverändert. Im Juni erfährt man, dass von „unbekannter“ Seite die letzte 9 aus der Jahreszahl 1949 herausgebrochen worden ist. Im Juli mischt sich der Landesvorstand der SED ein. Der Fall endet mit einem lakonischen Brief des Pfarrers an das Bezirksamt im Oktober
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1950: „Auf Grund der Vorstellung eines Vertreters des Ministeriums für Staatssicherheit hat der Gemeindekirchenrat die Jahreszahl ,1949‘ und die Worte ,Dem geschändeten Menschen‘ am 27. September 1950 entfernt.“¹¹
Alte Kriegerdenkmäler im Berliner Kontext der Nachkriegszeit Dieses Fallbeispiel gibt Anlass zu einer Erweiterung auf den breiteren Kontext Berlins.¹² Nach dem Krieg beginnen die Sieger relativ schnell in der deutschen Vergangenheit aufzuräumen – und der Magistrat (damals noch von Groß-Berlin) hilft dabei mit. Auf der Sitzung der Alliierten Kommandantur am 18. Oktober 1945 wird schon beschlossen, das Zeughaus Unter den Linden als „ein Symbol des deutschen Militarismus“ aufzulösen. Unter Berufung auf diesen Beschluss stellen Stadträte aus der SPD und der KPD in der Magistratssitzung am 30. Oktober den Antrag, alle öffentlichen Berliner Gebäude von Emblemen zu säubern, die an die Hohenzollern, die „Militärkaste“ und die Nationalsozialisten erinnern; auch die im öffentlichen Straßenraum sowie in den Parks stehenden Denkmäler seien zu entfernen. Der parteilose Stadtrat Hans Scharoun – zuständig für Bau- und Wohnungswesen – sagt, er werde eine Liste solcher Denkmäler erarbeiten, treibt diese Frage aber offenbar bewusst nicht voran, und wird in der Magistratssitzung vom 16. Februar 1946 erneut aufgefordert, die Denkmalliste vorzulegen. Der politische Druck auf Scharoun ist offensichtlich groß, denn er teilt bereits eine Woche später mit, er habe nun die Liste der Abteilung Volksbildung und der Alliierten Kommandantur zukommen lassen. Die Alliierten sind allerdings nicht so schnell wie der Berliner Magistrat: Erst am 13. Mai 1946 erlässt der Alliierte Kontrollrat die Richtlinie Nr. 30 zur „Liquidierung deutscher militärischer und nazistischer Denkmäler und Museen“. Diese Richtlinie ist für das Thema äußerst wichtig: Sie stellt die grundlegende Initiative und Entscheidung für die Auseinandersetzung mit Kriegerdenkmälern in den folgenden Jahren dar.
LAB, C Rep.101– 04/8. Vgl. Engel, Helmut: „Auferstanden aus Ruinen“. Aneignung einer Geschichtslandschaft in der DDR. In: Engel, Helmut u. Ribbe, Wolfgang (Hrsg.): Via Triumphalis. Geschichtslandschaft „Unter den Linden“ zwischen Friedrich-Denkmal und Schlossbrücke. Berlin 1997, S. 91– 128, insbesondere S. 92– 95. Dabei stützt sich Engel auf folgendem Band: Kampf um Freiheit und Selbstverwaltung 1945 – 1946 (=Schriftenreihe zur Berliner Zeitgeschichte, Bd. 1), hrsg. im Auftrage des Senats von Berlin. Berlin 1961 [2. Aufl.], 623 S.
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Scharoun muss inzwischen mit seiner Haltung in der Denkmal-Frage angeeckt haben, denn in der Magistratssitzung vom 18. Mai 1946 trägt nicht mehr er, sondern der Stadtrat für Volksbildung Otto Winzer (von der SED) vor, mit einer eigenen, längeren und nun endgültigen Liste. Scharoun erhält nur noch den Auftrag zur Ausführung des Beschlusses; er hält allerdings der Eile, mit der die sozialistische Fraktion diese Angelegenheit erledigen will, Personal- und Kostengesichtspunkte entgegen. Bei dieser nun offenkundigen Opposition geht Stadtrat Ottomar Geschke (von der SED), gegen Scharoun – und das macht die im Magistrat herrschende Spannung deutlich – mit dem Vorschlag vor, die Berliner Arbeiter und Gewerkschaften zur Zerstörung der Denkmäler aufzurufen. Mit der Auseinandersetzung in dieser Magistratssitzung am 18. Mai 1946 ist aber zunächst der Höhepunkt in der Denkmäler-Debatte überschritten. Die KPD/ SED-Fraktion tritt im Magistrat mit politischen Gründen zum Sturz der Denkmäler an. Diese Haltung ergibt sich nahtlos aus dem „Aufruf des Zentralkomitees der KPD vom 11. Juni 1945“: „Nicht nur der Schutt der zerstörten Städte, auch der reaktionäre Schutt aus der Vergangenheit muss gründlich hinweggeräumt werden.“¹³ Die Verteidiger der Denkmäler stellen sich währenddessen mit dem Argument des Kunstwertes der Zerstörung entgegen. Nach Gründung der DDR werden die denkmalpflegerischen Belange von Berlin von der Abteilung Kultur des Magistrats wahrgenommen, in Absprache mit dem Ministerium für Kultur. Am Beispiel des Denkmals Berlin-Oberschöneweide wird erkennbar, dass die Frage nach dem Werden der Denkmäler sehr schnell nach Ende des Krieges auftaucht. In diesem Fall stellt sich die Frage auf lokaler Ebene so früh aufgrund der Initiative der Kirchengemeinde, und nicht der Stadtverwaltung oder der Besatzungsmächte. Der Konflikt dehnt sich zwischen 1946 und 1950 aus, somit teilweise einhergehend mit den Debatten im Magistrat. Dennoch wäre es schwer, in diesem Denkmal einen Inhalt zu finden, der seine Beseitigung begründen
Diese Haltung wendet sich gegen Kriegerdenkmäler, auch wenn nicht hauptsächlich gegen diese, bzw. diese Haltung ist nicht immer klar und bleibt veränderlich. Das merkt man 1948, wenn der Magistrat zum 100. Jahrestag der Märzrevolution beschließt, die Invalidensäule in der Scharnhorststraße zu beseitigen. Oberbürgermeisterin Luise Schroedter erklärt: „Dieses Denkmal ist weder ein nationales noch ein Kriegerdenkmal, sondern lediglich eine Regiments-Gedenkstein zum Gedächtnis der gefallenen Soldaten, die gegen die Freiheitskämpfer 1848 in Berlin eingesetzt waren. Es liegt uns fern, irgendein Denkmal zum Gedächtnis Gefallener aus einem Kriege zu beseitigen.“ Festsitzung der Stadtverordnetenversammlung von Groß-Berlin am 18. März 1948; Beratung des Antrages der Fraktion der SED über Beseitigung des National-Kriegerdenkmales, Vorlage 100/721. Eine Kopie des Berichtes befindet sich u. a. im LAB, C Rep.146 – 01/136. Vgl. außerdem Demps, Laurenz: „18. März 1848. Zum Gedenken an 100 Jahre Märzrevolution in Berlin“. In: Hartwig, Wolfgang (Hrsg.): Revolution in Deutschland und Europa 1848/49. Göttingen 1998, S. 11– 31.
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würde. Das Hauptargument ist deshalb auf beiden Seiten das der äußeren Erscheinung und somit der Beschaffenheit des Denkmals als solches. Fernab der Debatten des Magistrats erkennt man auf lokaler Ebene eine gewisse Toleranz gegenüber solchen Denkmälern, wobei die Anliegen vor allem materiell sind. Erst später, mit Einführung des DDR-Regimes, zeichnet sich die politische Orientierung der städtischen Behörden ab und der Bezirk zeigt eine wachsende Stärke gegenüber der Kirchengemeinde (und der Kirche allgemein). Der Fall scheint nicht mehr an einen vom Ersten Weltkrieg abhängigen Inhalt gebunden zu sein; dieser Inhalt ist vom ursprünglichen Denkmal fast vollständig verschwunden und ist am Denkmal in seiner neuen Version auch nicht mehr vorhanden.
Eines von vielen Beseitigungsfällen in Sachsen: Dresden-Blasewitz Das Kriegerdenkmal der Gemeinde Dresden-Blasewitz wurde im Jahre 1920 errichtet und steht dicht neben der Kirche, auch auf Grundeigentum der Kirchengemeinde. Es besteht aus einem Sandsteinquader, der auf einem Sockel ruht und oben pyramidisch abgeschlossen ist. Drei Seiten tragen die Namen der gefallenen Gemeindemitglieder, während die Vorderseite ein Relief zeigt: Ein großer Engel mit der Palme des Friedens weist einen Krieger in altrömischer Tracht nach oben.¹⁴ Spuren eines Konflikts um dieses Denkmal findet man in den Akten der Länder, die dem Ministerium des Innern der DDR übermittelt wurden.¹⁵ Im September 1949 informierte der Stadtbaudirektor der Stadt Dresden die dortige Evangelische Kirche, dass die Stadtverordneten die Beseitigung einer Reihe von Denkmälern beschlossen haben, u. a. das Kriegerdenkmal an der Blasewitzer Kirche: „Gesetzliche Bestimmungen sind in dem Beschlusse der Stadtverordneten nicht angeführt. Der Beschluss gründet sich auf die allgemeine Forderung, alle Denkmäler militärischen und faschistischen Inhalts zu beseitigen.“ Im März 1950 bestreitet die Kirche die Entscheidung und legt Widerspruch ein. Formal gesehen erklärt die Kirche: „Da Denkmale, soweit sie nicht den Nationalsozialismus und seine Führer verherrlichen, nur noch mit besonderer Genehmigung der DDR – Ministerium des Innern – beseitigt werden dürfen, bitten wir, bei dem Ministerium des Innern der DDR für die Erhaltung des Denkmals
Vgl. http://www.elbhangkurier.de/2014/08/fotos-von-ehrenmalen-des-ersten-weltkrieges/. Bundesarchiv (BA) (Abteilung DDR), Bestand DO1/8129. Alle folgenden Verweise, sofern nicht anders angegeben, stammen aus diesem Bestand.
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Abb. 2: Das Denkmal Dresden-Blasewitz Anfang der 1920er-Jahre. Foto (vor 1926): Sammlung Bernd Beyer. Aus: Werkverzeichnis Georg Wrba, 1998, hrsg. von Günter Kloss. http://elbhang kurier.de/2014/08/fotos-von-ehrenmalen-des-ersten-weltkrieges (23. 11. 2021).
besorgt zu sein.“ Und weiter: „Die im Schreiben des Rates der Stadt Dresden erwähnten gesetzlichen Bestimmungen können auf den vorliegenden Fall nicht bezogen werden.“ Auf die Rechtmäßigkeit der Entscheidung hin antwortet der städtische Einspruchsausschuss, dass das Ministerium des Innern der DDR, zusammen mit dem Ministerium für Volksbildung, die Vorschläge des Ministeriums des Innern Sachsens im Februar 1950 anerkannt hat und somit die Beseitigung des Denkmals genehmigt hat. Die Stadt sei nun an diese Entscheidung gebunden. Inhaltlich gesehen unterstreicht die Kirche: „Das Denkmal ist weder militaristisch noch faschistisch; es handelt sich vielmehr um ein reines Gedächtnismal, das als einzigen Hinweis auf die Art des Todes an der Steinsäule oben ein eisernes
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Kreuz aus Stein aufzeigt; dieses Sinnbild verherrlicht keineswegs militärische Traditionen und bleibt auch auf den Denksteinen der Friedhöfe unbeanstandet.“ Daraufhin antwortet der Einspruchsausschuss: „Dieses Sinnbild ist im Gegenteil, wenn wir recht die Lehren aus dem Vernichtungssinn des nazistischen Krieges gezogen hätten, eine ernste Mahnung, insbesondere an die Jugend unserer Tage, zum unabdingbaren Friedenswillen.“ Der Ausschuss weist den Einspruch somit zurück und fügt hinzu: „Von den Ehrenmälern aus früherer Zeit sollen nur die nicht beseitigt werden, die künstlerisch wertvoll sind. Dazu gehört dieses Ehrenmal nicht. Infolgedessen ist es mit zu beseitigen.“ In den ersten Monaten des Jahres 1951 versuchte die Kirchengemeinde mit der Stadt und dem Ministerium des Innern Sachsens zu verhandeln, damit das Denkmal erhalten bleibt. So war die Kirchengemeinde bereit, das Eiserne Kreuz an der Spitze durch das christliche Kreuz zu ersetzen. Damit erreichte sie bei der Stadt Dresden jedoch lediglich eine zweimonatige Aufhebung der Beseitigung, bis die Evangelische Kirche in Deutschland eine Antwort vom Ministerium des Innern der DDR bekomme. Jedoch unterstreicht der Stellvertreter des Ministerpräsidenten der DDR im Mai 1951, dass das Denkmal der Kirche gehöre und sich auf dem Grundeigentum der Kirchengemeinde befinde, und deshalb von der Verfassung der DDR (im Artikel 45) geschützt sei. Er wendet sich an den Ministerpräsidenten Sachsens um Rat; letzterer antwortet, dass die Entscheidung in den Händen des Ministeriums des Innern der DDR liege; er wendet sich also an das Ministerium des Innern der DDR. Darauf antwortet das Ministerium, dass es nicht Bescheid wisse und wendet sich wiederum selbst an den Ministerpräsidenten Sachsens, um Details zur Sache herauszufinden. Letztendlich stellt das Ministerium des Innern der DDR den Zusammenhang zwischen den Briefaustauschen her und antwortet dem Ministerpräsidenten, dass eine Entscheidung im August 1951 getroffen wurde; diese wiederholt tatsächlich die Entscheidung vom Februar 1950. Das ganze Verfahren scheint also ziemlich unsicher und widerspricht sowieso den zwischenzeitlichen Richtlinien, oder zumindest denen, die in Vorbereitung sind. Ein Brief vom 4. Juni 1951 des Ministeriums des Innern der DDR an die Landesregierung Sachsen bezüglich des Kriegerdenkmals in Blasewitz erklärt ebenfalls: Die in Vorbereitung befindliche Verordnung über die Errichtung, Beseitigung und Veränderung von Denkmälern sieht in den Durchführungsbestimmungen folgendes vor: Denkmäler und Gedächtnisstätten, die dem Gedächtnis von Gefallenen dienen, sollen nicht beseitigt werden. Wird in ihrer Gestaltung oder Beschriftung der Militarismus verherrlicht, sind sie so zu verändern oder zu ergänzen, dass sie Verpflichtungen der Lebenden zum Kampf für den Frieden zum Ausdruck bringen. Wir bitten, die Denkmalsentfernung bis zur Veröffent-
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lichung der obergenannten Verordnung zurückzustellen und dann, da es sich um ein Objekt von örtlicher Bedeutung handelt, in eigener Zuständigkeit zu entscheiden.
Es stellte sich allerdings heraus, dass das Denkmal in Blasewitz tatsächlich abgerissen wurde. Seit der Beseitigung blieben nur die beiden ursprünglichen Urnen und der Sockel übrig, auf dem eine liegende Gedenktafel mit der Inschrift 1914– 1918 / 1939 – 1945 angebracht wurde.
Alte Kriegerdenkmäler im Kontext der SBZ und der DDR Dieses Fallbeispiel ist ebenso lehrreich für ein Verständnis der Denkmalslage im breiteren Kontext der SBZ bzw. der DDR.¹⁶ Den äußeren Anlass für die Bereinigung der Denkmalslandschaft bildet hier auch die Richtlinie Nr. 30 des Alliierten Kontrollrates vom 13. Mai 1946 zur „Liquidierung der deutschen militärischen und nazistischen Denkmäler und Museen“: […] u. a. Denkmäler, die der Förderung der Erhaltung und Unterhaltung der deutschen militärischen Traditionen, der Wiederbelebung des Militarismus und der Verewigung der nazistischen Partei dienen oder militärische Episoden lobpreisen werden verboten und als ungesetzlich erklärt.
Der Text fügt jedoch hinzu: Gegenstände allgemeiner militärischer Nutzung oder solche, die einen großen architektonischen Wert besitzen, müssen nicht vernichtet oder liquidiert werden, wenn sich der Zweck dieser Direktive durch Entfernung von Teilen des Gegenstandes oder auf irgendeiner anderen Weise, die effektiv den Gedächtniswert des Gegenstandes beseitigt, erreichen lässt.¹⁷
Bis zur Gründung der DDR liegt die Zuständigkeit dieser Frage bei der Zentralverwaltung für Volksbildung, die von den Weisungen der SMAD abhängig ist. Dabei sprechen die eigenen Richtlinien der Zentralverwaltung für Volksbildung sowie deren Kommentar zur Kontrollratsrichtlinie eine eindeutige Sprache: „Der
Vgl. Johst, David: „Als Totenehrung erlaubt“ – Die Entmilitarisierung des Kriegstotengedenkens in der Sowjetischen Besatzungszone. In: Deutschland-Archiv, 4. April 2014. Abrufbar unter: http://www.bpb.de/182057. Ein Exemplar der Richtlinie Nr. 30 des Alliierten Kontrollrates vom 13. Mai 1946 ist u. a. unter BA, DO1/8130 zu finden.
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Beseitigung hat zu verfallen alles, was zum Andenken an faschistische, chauvinistische, imperialistische oder militaristische Personen, Ereignisse oder Daten errichtet worden war.“¹⁸ Im Hinblick auf das Kriegstotengedenken befindet die Zentralverwaltung summarisch: „Kriegerdenkmäler der Kriege ab 1850 – 1914 sind fast ausnahmelos wertlos. Ihre Beseitigung ist anzuregen, falls nicht in Sonderfällen künstlerischer Wert vorliegt.“ Mit dieser Forderung geht die Zentralverwaltung weit über die Forderungen des Alliierten Kontrollrates hinaus. Jedoch schlägt sie vor, die Kriegerdenkmäler – wenn möglich – nicht vollständig zu entfernen, sondern umzugestalten: „Zahlreiche Denkmäler können durch Beseitigung einer Inschrift ihres militärischen Charakters entkleidet, bzw. durch neue Inschriften zur Anklage gegen die Schuldigen am Krieg werden. Sie verbleiben dann als einfache oder anklagende Totenmale.“ Auf lokaler Ebene herrscht zunächst eine gewisse Unklarheit über die Umsetzung der Kontrollratsrichtlinie. Die Gemeinden werden aufgefordert, detaillierte Denkmäler-Listen aufzustellen. Zugleich soll in jeder Gemeinde ein Ausschuss bestehend aus dem Bürgermeister, je einem Vertreter der Antifaschistischen Blockparteien, der Freien Deutschen Jugend (FDJ) sowie des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) gebildet werden. Der Ausschuss soll über Entfernung, Erhaltung oder Veränderung der Denkmäler beraten. Bei künstlerisch wertvollen bzw. historisch bedeutsamen Denkmälern soll überdies ein Sachverständiger hinzugezogen werden. Die SMAD setzt ihrerseits eine eigene Kommission ein, die die Listen überprüfen lässt und sie anschließend freigibt. Nach Gründung der DDR besteht eine solche Kommission beim Ministerium für Volksbildung der DDR. Trotzdem ist das Verfahren wenig bekannt. So schreibt das Ministerium für Volksbildung der DDR an das Ministerium des Innern der DDR im März 1950: Gelegentlich der Kreiskontrolle Cottbus durch unser Ministerium stellte sich heraus, dass weder in der Stadt noch im Kreis die lokalen Dienststellen die [Verfügung] über die Beseitigung von Kriegerdenkmälern usw. kannten. Es scheint dringend geboten, die Ihnen nachgeordneten Dienststellen nochmals auf diese [Verfügung] hinzuweisen, um politisch bzw. kulturell bedauerliche lokale Fehllösungen zu vermeiden.¹⁹
Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung in der SBZ, Richtlinien für die Beseitigung faschistischer und militaristischer Denkmäler, 5. Mai 1946, zitiert nach Johst, „Als Totenehrung erlaubt“. Von der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung in der SBZ siehe auch: Erklärungen zu den Richtlinien für die Beseitigung faschistischer und militaristischer Denkmäler, 24. Mai 1946, BA, DR2/629; und Kommentar zum Befehl Nr. 30 des Alliierten Kontrollrates, o. D., BA, DR2/1492. BA, DO1/8130.
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Später wird das Ministerium des Innern der DDR selbst deutlich vorsichtiger. In einem Brief von Januar 1951 an die Landesregierungen steht: Wie Ihnen auf der Länderbesprechung am 18. Dezember 1950 in Berlin mitgeteilt wurde, werden z. Zt. keine Genehmigungen zur Entfernung von Denkmälern erteilt. Zu beseitigen sind lediglich die Inschriften, Reliefs, Embleme usw., die den Krieg verherrlichen, reaktionären Tendenzen Vorschub leisten und nazistischen Traditionen lebendig erhalten. Wir bitten, hiervon Kenntnis zu nehmen und auf die Beantwortung der hier noch vorliegenden Einzelfälle zu verzichten.²⁰
Das Ministerium arbeitet in der Tat an einer „Verordnung über die Errichtung, Beseitigung und Veränderung von Denkmälern und Schaffung von Gedächtnisstätten“. Diese kommt jedoch erst im Januar 1952 zustande; sie bezieht sich weniger auf den Inhalt als auf die Genehmigungsprozedur, die ab jetzt einer „Kommissionen für Denkmalschutz“ anvertraut werden²¹ – schon dieser Name zeigt, dass die Perspektive etwas verändert wird. Kurz nach dem Krieg sollten die meisten Denkmäler beseitigt werden, nur die besonders wertvollen durften weiterbestehen. Ein paar Jahre später sollten die meisten Denkmäler im Prinzip weiterbestehen, nur die besonders problematischen sollten beseitigt bzw. geändert werden. Auch im Falle des Denkmals in Dresden-Blasewitz erkennt man eine gewisse Entwicklung der Lage. Die Bestätigung des Einspruchsausschusses, wonach die Forderung, „[…] von den Ehrenmälern aus früherer Zeit sollen nur die nicht beseitigt werden, die künstlerisch wertvoll sind“, eine radikale Interpretation der Richtlinie der Alliierten und der deutschen Regelungen ist. Sie übernimmt womöglich die Überzeugung des Stadtrats, der die Zerstörung einer ganzen Reihe von Denkmälern entschieden hat. Jedoch, sobald diese Entscheidungen vom Ministerium des Innern der DDR bestätigt werden, übertrumpft das juristische Argument das inhaltliche, obwohl das Ministerium des Innern sich in Richtung einer konzilianteren Position orientiert hat. Der Fall Dresden-Blasewitz zeigt außerdem, dass der Umgang mit Denkmälern zwar in Zeit, aber auch in Raum abweicht, und dass die lokalen Behörden eine wichtige Rolle spielen, indem sie mit mehr oder weniger Eifer die Denkmäler loswerden wollen. Der Zahl der Akten nach, die der Kommission des Ministeriums für Volksbildung zur Untersuchung vorgelegt werden, steht Sachsen an der Spitze. So sieht die Lage im Januar 1950 aus: Das Land Mecklenburg schlägt eine Denkmalsverlagerung auf einen Friedhof vor; das Land Thüringen konzentriert
BA, DO1/8130. BA, DO1/8130.
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sich auf den Fall des 1896 eingeweihten Kyffhäuserdenkmals; das Land Sachsen legt 13 Denkmäler vor, darunter 12, die zerstört werden sollen, und ein einziges, das erhalten werden soll (ein Kriegerdenkmal, das sich auf einem Friedhof befindet). Unter diesen 13 Denkmälern kommen 11 aus der Stadt Dresden, die sich in diesem Bereich als besonders aktiv herausstellt.²² Schließlich erkennt man auch das Mitwirken einzelner Gruppen. Die Stifter der Denkmäler, hauptsächlich die Kirchen oder Kirchengemeinden, protestieren gegen die Beseitigung der Denkmäler, die sie als nicht militaristisch betrachten. Im Gegensatz dazu sprechen sich Institutionen oder Gruppen für eine Beseitigung mancher Denkmäler aus. Im März 1950 muss das Ministerium des Innern Thüringen auf Druck des Thüringer Volks antworten, welches die Inschrift auf dem Denkmal für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Ärzte in Eisenach kritisiert – „Dulce et decorum est pro patria mori“ [dt. „Süß und ehrenvoll ist’s, für’s Vaterland zu sterben“] – und seine Beseitigung fordert.²³ Im Januar 1952 muss das Ministerium des Innern Sachsen-Anhalt auf Druck des Mitteldeutschen Rundfunks Antworten geben, welches die Beseitigung des Skagerrakschlacht-Denkmals auf dem Karl-Liebknecht-Platz in Mücheln verlangt.²⁴ In Eisenberg bestehen die aktivsten Gruppen für die Beseitigung des Germania-Denkmals aus der Wohnbezirksgruppe der SED und der Ortsgruppe der FDJ. Aber auch die Junge Pioniere verschaffen sich Gehör, wie in diesem Flugblatt von Mai 1950: Während 500.000 junge Friedenskämpfer in Berlin für Einheit und Frieden demonstrieren, steht auf dem Marktplatz in Eisenberg noch ein Kriegerdenkmal. Wir Jungen Pioniere verstehen nicht, dass dieses Denkmal noch nicht verschwunden ist. Das Denkmal stellt eine Frau mit einem Schwert dar. Doch alle Frauen sind für Frieden! […] Wir Jungen Pioniere stellen daher den Antrag an unsere Gemeindeverwaltung, welche doch fortschrittlich ist und sich mit diesem Denkmal nicht einverstanden erklärt, das Denkmal bis zum Deutschlandtreffen entfernen zu lassen.²⁵
Einblick in das Werden eines zentralen Denkmals: die Neue Wache in Berlin Im Gegensatz zu den kleinen Denkmälern, deren Schicksal schnell nach dem Krieg besiegelt war, wurde die Neue Wache keiner schnellen Entscheidung aus-
Aufzählung aus: BA, DO1/8129. BA, DO1/8130. BA, DO1/8129. BA, DO1/8130.
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gesetzt. Der lange Streit um das Werden des Gebäudes nach dem Krieg spiegelt exemplarisch die unterschiedlichen politischen Kräfte der sich konstituierenden DDR wider, sowie ihre gegensätzlichen Interessen im Umgang mit der Vergangenheit.
Abb. 3: Die Neue Wache nach ihrer Zerstörung im Zweiten Weltkrieg, 1945. Foto: Otto Donath, Bundesarchiv, Bild 183-M1205 – 329, CC BY-SA 3.0. https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Bundesarchiv_Bild_183-M1205-329,_Berlin,_die_Neue_Wache.jpg (23. 11. 2021).
Anfang des 19. Jahrhunderts wurde die Neue Wache in Berlin Unter den Linden als Wachhaus für die Wache des Königs und Gedenkstätte für die Gefallenen der Befreiungskriege errichtet. Sie diente bis zum Ende der Monarchie 1918 als Hauptund Königswache. Dann stand sie leer, während die Weimarer Republik einen Ort und eine Form zum Gedenken an die Gefallenen des Weltkrieges suchte. 1931 gestaltete Heinrich Tessenow das Gebäude zu einer Gedenkstätte für die Gefallenen des Weltkrieges um, und zwar eine Gedenkstätte der Preußischen Staatsregierung in Zusammenarbeit mit dem Reichswehrministerium. Seit 1931 befand sich im schlichten inneren Großraum, auf einem Gedenkstein aus schwarzem Granit ein Eichenkranz aus Gold-, Silber- und Platinblättern. Darüber öffnete sich kreisrund das Dach der Halle. Ab 1933 integrierten die Nazis die Neue Wache scheinbar mühelos in ihre Propaganda. Sie erhielt eine neue Funktion: Die „Gedenkstätte“ wurde zum „Ehrenmal“ und aus dem „Totengedenken“ wurde ein „Heldengedenken“, durch eine ständige militärische Doppelwache gesichert. 1942 kam sie unter die Zuständigkeit des Oberkommandos des Heeres. 1945 wurde das
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Gebäude insgesamt als Inkarnation des deutschen Militarismus angesehen, und wie viele andere war es stark beschädigt.²⁶ Im Juli 1945 ließ der Magistrat von Groß-Berlin verlauten: Eine alsbaldige Wiederherstellung des Ganzen im alten Ehrenmal-Sinn würde unter den jetzigen Verhältnissen wohl schwerlich in Frage kommen, gleichwohl weckt die hohe künstlerische Bedeutung dieses Schinkel-Werkes und seine Lage an so hervorragender Stelle Berlins den lebhaftesten Wunsch, wenigstens das Äußere in einen würdigen Zustand zu bringen.²⁷
Tatsächlich findet die Neue Wache auf Grund ihres Kunstwertes engagierte Streiter für eine Wiedergeburt. Erst Mal bleibt sie aber eine Ruine. 1948 ist – nach Teilung der Stadt – ein eigener Magistrat für Ost-Berlin gebildet worden. Zu diesem Zeitpunkt wird die Diskussion über das künftige Schicksal des Schinkel-Gebäudes wieder aufgegriffen. Im Jahre 1949 geht es darum, „das Gebäude entweder ganz zu beseitigen oder es anderen Zwecken zuzuführen“.²⁸ Zwar setzte sich die FDJ dezidiert für den Abriss der Neuen Wache ein. Aber es wurde auch der Vorschlag unterbreitet, wenigstens „den nachträglich verliehenen Charakter als Ehrenmal“ zu beseitigen, um eine Umwandlung vorzusehen, zum Beispiel in eine Goethe-Gedenkstätte, ein Schinkel-Museum oder ein Pantheon der deutschen Kultur.²⁹ Deutlich ist, dass der Verwendungszweck des Gebäudes in einen übergeordneten Zusammenhang gestellt werden sollte, mit der Zukunft der ganzen Straße Unter den Linden. Angesichts der fortschreitenden Rekonstruktion der Straße Unter den Linden wird ab 1954 die Nutzung der Neuen Wache erneut diskutiert, zumal die Entscheidung darüber eine wichtige Vorbedingung für ihre endgültige Wiederherstellung ist. Der Chefarchitekt von Ost-Berlin, Hermann Henselmann, fasst die Debatten zusammen und formuliert vorsichtig: „Der Gedanke, das Bauwerk mit dem Andenken an die Opfer der Weltkriege zu verbinden, ist sicherlich der Diskussion wert.“³⁰ In der folgenden Zeit setzt sich allerdings immer mehr der Gedanke durch, das Gebäude außer als Denkmal für die Opfer der Kriege auch als
Zur Geschichte der Neuen Wache siehe: Demps, Laurenz: Die Neue Wache. Vom königlichen Wachhaus zur Zentralen Gedenkstätte. Berlin 2011; Engel/Ribbe (Hrsg.), Via Triumphalis; Halbach, Robert: Nationaler Totenkult: Die Neue Wache. Eine Streitschrift zur zentralen deutschen Gedenkstätte. Berlin 1995; Stölzl, Laurenz: Die Neue Wache Unter den Linden. Ein deutsches Denkmal im Wandel der Geschichte. Berlin 1993. Landesdenkmalamt, Archiv, Magistratsbestand, zitiert nach Demps, Die Neue Wache, S. 115. Demps, Die Neue Wache, S. 118. Demps, Die Neue Wache, S. 124– 125. Demps, Die Neue Wache, S. 127.
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Denkmal für die Kämpfer gegen Naziherrschaft und deren Opfer zu nutzen. Seit 1945 gibt es eine ebenfalls öffentlich geführte Diskussion um die Errichtung eines solchen Denkmals, und zwar in einem zentralen Ort. Im Juli 1956 teilt der OstBerliner Magistrat der Öffentlichkeit mit: „In Verfolgung der 10. Volkskammertagung beabsichtigt die Denkmalpflege, die ehemalige ,Neue Wache‘ als Gedächtnisstätte für die Opfer des Faschismus auszugestalten.“³¹ Somit teilt die Neue Wache Unter den Linden nicht das Schicksal u. a. des 1950 gesprengten Berliner Schlosses. Dabei verdankt sie sicher ihre Erhaltung und Wiederherstellung zum einen dem Anknüpfen an den Klassizismus Schinkels als nationale und regionale Bautradition für die junge DDR, zum anderen der Zugehörigkeit zu dem herausragenden Bauensemble Unter den Linden. Im September 1956 fasst der Magistrat von Ost-Berlin einen Beschluss über die endgültige künftige Verwendung der Neuen Wache als „Mahnmal für die Opfer des Faschismus und der beiden Weltkriege“.³² Was den Inhalt angeht, spielt bestimmt die innere Entwicklung der DDR eine wesentliche Rolle: Im Januar 1956 ist offiziell die Nationale Volksarmee geschaffen worden. Eine veränderte Haltung zur Armee und zum Soldatentum wird notwendig. Nach Jahren antimilitaristischer Propaganda geht es nun eher darum, die Aufrüstung der DDR zu rechtfertigen und die Streitkräfte der DDR in eine „progressive“ Traditionslinie einzubinden. Deshalb muss das Mahnmal zugleich ein Ort des Totengedenkens sein, der Ehrung der Opfer dienen, die der Faschismus und zwei Weltkriege gekostet haben, und die Soldaten ebenfalls als Opfer in den beiden Weltkriegen einschließen. So bleibt die Neue Wache offiziell ein Ort des Gedenkens auch für die Toten des Ersten Weltkrieges – selbst wenn die Erwähnung des Ersten Weltkrieges in der neuen Fassung auf ein Minimum beschränkt bleibt. Aus dem ursprünglichen Namen entwickelt sich übrigens ab 1959 die gebräuchliche Bezeichnung „Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus“.³³ Die Zentralität des Gebäudes – in Berlin und innerhalb Berlins – ist wichtig. In aller Öffentlichkeit sollen die Schrecken der Vergangenheit aufgezeigt werden, und zugleich die bahnbrechende politische Haltung der sozialistischen Gesellschaft gegen den Krieg. 1960 werden die Restaurierungsarbeiten abgeschlossen. Bei der inneren Gestaltung wird auf das Kreuz verzichtet, während der Altar im überlieferten Zustand steht, und zwar ohne den verschwundenen Kranz.
Demps, Die Neue Wache, S. 128. Demps, Die Neue Wache, S. 130. Demps, Die Neue Wache, S. 130.
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In der nachfolgenden Zeit zeigt sich allerdings, dass die innere Gestaltung des Mahnmals nicht dem politischen Verständnis entspricht, das die DDR-Führung mit ihm verbunden wissen will. 1969, kurz vor dem 20. Jahrestag der DDR, wird der Neuen Wache deshalb eine neue innere Gestalt verliehen (die dann bis nach 1990 beibehalten wird): Die Inschrift „Den Opfern des Faschismus und Militarismus“ bekommt an den Seitenwänden ihren neuen Platz, die Rückwand schmückt nun das Staatswappen der DDR. Unter Bronzeplatten liegen nun die sterblichen Überreste eines unbekannten Widerstandskämpfers und eines unbekannten deutschen Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg; hinter diesen Gräbern mahnt die ewige Flamme in einem quadratischen Glaskörper. Der Erste Weltkrieg rückt dabei immer mehr nach hinten.
Schlussbetrachtungen Aus den hier skizzierten Fällen seien zum Schluss ein paar Punkte zum Werden der Kriegerdenkmäler von 1914 bis 1918 im östlichen Teil Deutschlands nach 1945 hervorzuheben. Zuerst gilt die Richtlinie Nr. 30 des Alliierten Kontrollrates zur „Liquidierung deutscher militärischer und nazistischer Denkmäler und Museen“ prinzipiell für alle Besatzungszonen, obwohl sie in den westlichen Zonen wenig Achtung fand. Dagegen lassen sich für die SBZ Besonderheiten feststellen, die nach Gründung der DDR weiterhin Einfluss haben. Zum einen drängt die SMAD von Beginn an auf eine zügige und radikale Umsetzung der Richtlinie, zum anderen haben die deutschen Behörden ein Eigeninteresse daran. Aus beiden Seiten gibt es im Osten den politischen Willen zur symbolischen Umgestaltung öffentlicher Räume; das zeigt sich etwa in den errichteten Denkmälern für die Opfer des Faschismus. Die Beseitigung oder Umgestaltung von Kriegerdenkmälern – wie auch im Ostteil Berlins, u. a. im Falle der Neuen Wache – bietet dann einen willkommenen Anlass für eine symbolische Inszenierung des politischen Neuanfangs. In diesem Sinne stellt die Umsetzung der Kontrollratsrichtlinie keinen pflichtschuldig ausgeführten Verwaltungsakt dar, sondern beinhaltet bereits die Elemente einer eigenen staatlichen Denkmalspolitik, die sich zwischen Ost und West deutlich unterscheidet. Als Ergebnis davon sind manche Kontraste bemerkenswert. So sind in West-Berlin bis heute Kriegerdenkmäler beibehalten worden; darunter gibt es eine gewisse Anzahl an Regimentsdenkmäler – Berlin war Garnisonstadt –, zum Teil unverkennbar revanchistisch.³⁴ Im benachbarten Potsdam
U. a. im Garnisonfriedhof am Columbiadamm. Vgl. Schütze, Karl-Robert: Von den Befrei-
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– auch Garnisonstadt – sind solche Regimentsdenkmäler des Ersten Weltkrieges bis auf eines alle beseitigt worden.³⁵ Überdies lässt sich allgemein eine Tendenz feststellen, die „einfache Totenehrung“ aus dem historischen und dem militärischen Kontext zu lösen.³⁶ Inschriften und Symbole werden häufig beseitigt. Kriegerdenkmäler sollen allein dem stillen Totengedenken dienen, nicht aber der Erinnerung an einen aktiven und heroischen Kampf. Akzeptiert werden Darstellungen, die das Sterben und Leiden im Krieg zeigen. Damit verändert sich der Charakter der Kriegerdenkmäler und setzt sich die Interpretation des Todes im Ersten Weltkrieg als passives Opfer in der öffentlichen Erinnerungskultur der DDR durch. Dies wird vor allem im Vergleich mit dem Gedenken an gefallene sowjetische Soldaten sichtbar, in denen das aktive heroische Opfer gegen den Faschismus beschworen wird. Somit wird das Gefallenengedenken aus dem Ersten Weltkrieg in gewisser Weise weiter privatisiert und vor allem entpolitisiert.
ungskriegen bis zum Ende der Wehrmacht – Die Geschichte des Garnisonfriedhofs am Rande der Hasenheide in Berlin-Neukölln. Berlin 1986; siehe eine entsprechende Galerie von Fotos unter: http://www.denkfried.de/wp/?page_id=4559. Vgl. Bauer, Frank [u. a.]: Vernichtet, vergessen, verdrängt: Militärbauten und militärische Denkmäler in Potsdam. Berlin 1993; siehe auch: „Viele Kriegerdenkmäler des 1. WK sind verschwunden. Kampf um die Erinnerung“, Märkische Allgemeine Zeitung, 10. August 2014 und die dazu entsprechende Galerie von Fotos unter: https://www.maz-online.de/Lokales/Potsdam/ Kampf-um-die-Erinnerung. Johst, „Als Totenehrung erlaubt“.
Teil III: Das „literarische“ Gedächtnis des Ersten Weltkrieges in der DDR
Jan Vermeiren
„Ankläger des imperialistischen Krieges“ und „führender Repräsentant der sozialistischen Literatur der DDR“ – Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte Ludwig Renns nach 1945 Arnold Friedrich Vieth von Golßenau (1889 – 1979), besser bekannt unter seinem Pseudonym Ludwig Renn, gehörte zweifellos zu den populärsten Schriftstellern der DDR. Der aus Dresden stammende Verfasser von zahlreichen Romanen und autobiografischen Schriften, Reisebeschreibungen sowie Kinder- und Jugendbüchern war langjähriger Ehrenpräsident der Akademie der Künste der DDR und Träger des Nationalpreises, des Karl-Marx-Ordens sowie des Großen Sterns der Völkerfreundschaft. Sein Ruhm gründete sich ursprünglich auf das 1928 erschienene Buch Krieg, einen der bedeutendsten Weltkriegsromane der Weimarer Republik. Renn, der an den Kampfhandlungen als kaiserlich-adliger Offizier teilgenommen hatte, schilderte darin auf sachlich-nüchterne Art und aus der Perspektive eines einfachen Soldaten das Geschehen an der Westfront vom Einmarsch in Belgien über den Stellungskrieg und die Materialschlachten in Frankreich bis hin zum Zusammenbruch der deutschen Armee. „Nicht der Offizier war es gewesen, dessen Handlungen mir an der Front imponiert hatten“, schrieb er später, „sondern der namenlose Soldat, dessen Wärme und Hilfsbereitschaft ich in der schwersten Not der Kämpfe so stark miterlebt hatte.“¹ In seinen posthum erschienenen Memoiren hieß es ähnlich: „Von diesen unscheinbaren Personen wollte ich berichten, die ich als die wahren Helden des Krieges achten und lieben gelernt hatte. Keiner der Kriegsberichterstatter oder Schreiberlinge im Dienst der Herrschenden hat von ihnen geschrieben.“² Das Buch war überaus erfolgreich; bereits 1929 erschienen die ersten Übersetzungen.³ In Deutschland erreichte es innerhalb von zwei Jahren eine Auflage von 130.000 Stück, übertroffen nur von
Renn, Ludwig: Nachwort 1948. Wiederabgedruckt in ders.: Krieg. Mit einer Dokumentation. Hrsg. von Klaus Hammer. Berlin/Ost 1989, S. 343 – 345, hier S. 343. Renn, Ludwig: Anstöße in meinem Leben. 2. Aufl. Berlin/Ost 1982, S. 71. Siehe z. B. Renn, Ludwig: War. Übers. von Willa u. Edwin Muir. London 1929 und Renn, Ludwig: Guerre. Übers. von Charles Burghard. Paris 1929. https://doi.org/10.1515/9783110710847-008
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Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues. ⁴ Auch nach 1945 erfuhr Krieg zahlreiche Neueditionen, zuletzt durch den Aufbau-Verlag zum 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges.⁵ Umso mehr erstaunt, dass die Forschungsliteratur zu Leben und Werk Ludwig Renns sehr überschaubar geblieben ist. Michael Gollbach und Hans-Harald Müller haben in ihren 1978 bzw. 1986 publizierten Standardwerken zur Kriegsliteratur der Weimarer Republik Renns Roman eingehend diskutiert und dabei den fiktionalen Charakter des Buches betont.⁶ Die wenigen seither erschienenen Arbeiten trugen einzelne Aspekte zum Forschungsstand bei; zu nennen wären etwa Vergleiche mit Robert Graves und Henri Barbusse oder auch die Diskussion, inwiefern der Roman der Neuen Sachlichkeit zuzuordnen ist.⁷ Die spätere Rolle und Bedeutung Ludwig Renns als Schriftsteller und Intellektueller in der DDR ist allerdings – trotz seiner zahlreichen nach 1945/1949 erschienenen Werke, politischen Kolumnen für das Neue Deutschland und Auszeichnungen – fast völlig vernachlässigt worden.⁸ Jüngere, auf die DDR bezogene literaturgeschichtliche
Vogt-Praclik, Kornelia: Bestseller in der Weimarer Republik 1925 – 1930. Eine Untersuchung. Herzberg 1987, insbesondere S. 47– 62. Renn, Ludwig: Krieg. Berlin 2014. Gollbach, Michael: Die Wiederkehr des Weltkrieges in der Literatur. Zu den Frontromanen der späten Zwanziger Jahre. Kronberg/Ts. 1978, S. 84– 109; Müller, Hans-Harald: Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik. Stuttgart 1986, S. 186 – 210. Für eine der wenigen englischsprachigen Darstellungen siehe Travers, Martin Patrick Anthony: German Novels on the First World War and Their Ideological Implications, 1918 – 1933. Stuttgart 1982, S. 67– 82. Broich, Ulrich: World War I in Semi-Autobiographical Fiction and in Semi-Fictional Autobiography – Robert Graves and Ludwig Renn. In: Intimate Enemies. English and German Literary Reactions to the Great War 1914– 1918. Hrsg. von Franz Karl Stanzel u. Martin Löschnigg. Heidelberg 1993, S. 313 – 323; ders.: „Hier spricht zum ersten Male der gemeine Mann“. Die Fiktion vom Kriegserlebnis des einfachen Soldaten in Ludwig Renn: Krieg (1928). In: Von Richthofen bis Remarque. Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg. Hrsg. von Thomas F. Schneider u. Hans Wagener. Amsterdam 2003, S. 207– 216; Jäger, Andrea: „Ich wollte den wahren Helden zeigen“. Ludwig Renns Antikriegsroman „Krieg“. In: Neue Sachlichkeit im Roman. Neue Interpretationen zum Roman der Weimarer Republik. Hrsg. von Sabina Becker u. Christoph Weiß. Stuttgart 1995, S. 157– 175; Drommer, Günther: All die tapferen Soldaten. Nachwort. In: Ludwig Renn: Krieg. Roman. Berlin 2001, S. 323 – 334. Zur Traumaproblematik bei Renn siehe Süselbeck, Jan: Im Angesicht der Grausamkeit. Emotionale Affekte literarischer und audiovisueller Kriegsdarstellungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Göttingen 2013, S. 65 – 77. Siehe jedoch die bis in die frühen 1950er-Jahre reichende Studie von Schmidt, Birgit: Wenn die Partei das Volk entdeckt. Anna Seghers, Bodo Uhse, Ludwig Renn u. a. Ein kritischer Beitrag zur Volksfrontideologie und ihrer Literatur. Münster 2002.
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Darstellungen erwähnen ihn überhaupt nicht oder nur en passant.⁹ Das vor wenigen Jahren publizierte Metzler-Lexikon zur DDR-Literatur etwa hat keinen eigenen Eintrag zu Renn.¹⁰ Auch die umfangreiche Studie Werner Mittenzweis zum Verhältnis von Literatur und Politik in Ostdeutschland nennt den Autoren nur ein einziges Mal im Zusammenhang mit der Biermann-Kontroverse des Jahres 1976. Neben Anna Seghers, Hermann Kant, Willi Sitte, Ernst Busch und zahlreichen anderen Kulturschaffenden hatte sich dieser für die offizielle Ausbürgerung des Liedermachers ausgesprochen.¹¹ Insofern betritt dieser Aufsatz zur Rezeption Ludwig Renns und seines Weltkriegsbuches geschichts- und literaturwissenschaftliches Neuland. Der Roman ist ein Beispiel dafür, dass die Wirkung, Wahrnehmung und Interpretation von Literatur Konjunkturen unterliegt und von den jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen abhängig ist. So galt Renn in der Bundesrepublik trotz aller Kritik an seinen schriftstellerischen Fähigkeiten und politisch-ideologischen Haltung weithin als ein Klassiker der Antikriegsliteratur, während die folgenden Werke oft scharf verurteilt wurden. In der DDR dagegen schien das Augenmerk gerade auf jenen späteren Büchern und autobiografischen Schriften zu liegen, drückten diese doch eine zumindest nach Meinung der dortigen Kommentatoren klarere politische Linie aus. Renns früher Roman Krieg wurde dabei meist als das Übergangswerk eines noch um die richtige, d. h. revolutionär-kommunistische Geisteshaltung ringenden Autoren bewertet.
Vom kaiserlichen Offizier zur kommunistischen Galionsfigur Ein kurzer Überblick über Ludwig Renns wechselvolle Lebensgeschichte ist unerlässlich für das Verständnis seines oft autobiografisch geprägten Werkes und
Siehe etwa Schmitt, Hans-Jürgen (Hrsg.): Die Literatur der DDR. München 1983; Glaser, Horst Albert (Hrsg.): Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995. Eine Sozialgeschichte. Bern 1997; Barner, Wilfried: Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. 2. akt. und erw. Aufl. München 2006; Emmerich,Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erw. Neuausgabe. 4. Aufl. Berlin 2009. Opitz, Michael u. Michael Hofmann (Hrsg.): Metzler-Lexikon DDR-Literatur. Autoren – Institutionen – Debatten. Stuttgart 2009. Mittenzwei, Werner: Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945 – 2000. Berlin 2003, S. 276.
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dessen Rezeption.¹² Tatsächlich machte ihn seine adlige Herkunft in den Augen zahlreicher Beobachter in der DDR zu einem wichtigen Beispiel für die Überzeugungskraft und Unanfechtbarkeit der marxistisch-leninistischen Lehre. Renn war 1889 in eine altsächsische Adelsfamilie geboren worden, ein entfernter Verwandter Heinrich von Treitschkes übrigens, und über seinen Vater, der als Gymnasialprofessor und Prinzenerzieher wirkte, frühzeitig auch in höheren Gesellschaftskreisen verkehrend. Im Jahre 1910 trat er in seiner Heimatstadt eine Offizierslaufbahn an und hatte bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges den Rang eines Leutnants inne.¹³ Während der Protagonist seines Kriegsromans als Tischlergeselle im Laufe der vier Kriegsjahre immerhin vom einfachen Gefreiten zum Vizefeldwebel aufsteigt, zeichnete sich Renn selbst schnell als Truppenführer aus und wirkte zeitweilig als jüngster Regimentsadjutant des kaiserlichen Heeres, bevor er auf eigenen Wunsch wieder an die Front versetzt wurde. Seine eigentlichen Kriegserlebnisse schilderte er später ausführlich in seinen Lebenserinnerungen Anstöße in meinem Leben von 1980, eine unentbehrliche Grundlage für die Diskussion um Authentizität und Fiktion in dem Kriegsroman und überaus wertvolle, jedoch weitgehend übersehene Quelle für Weltkriegshistoriker, nicht zuletzt was die Erschießung von Zivilisten im belgischen Dinant betrifft.¹⁴ Nach 1918 war Renn zunächst bei der sozialdemokratischen Sicherheitstruppe Dresden tätig und übernahm dann einen Verwaltungsposten bei der Sicherheitspolizei, nachdem er sich im Verlauf des Kapp-Putsches geweigert hatte, auf unbewaffnete Arbeiter zu schießen. Renn verarbeitete diese Erlebnisse später in dem 1930 erschienenen, erneut stark autobiografisch geprägten Roman Nachkrieg. ¹⁵ Nach seiner Entlassung im Jahre 1920 studierte er u. a. Russisch, Jura, Kunstgeschichte und außereuropäische Geschichte in Göttingen, München sowie Wien, und unternahm ausgedehnte Reisen nach Südosteuropa, in den Orient und später auch
Siehe auch Toper, Pavel u. Alfred Antkowiak: Ludwig Renn, Erich Maria Remarque. Leben und Werk. Berlin/Ost 1964, insbesondere S. 9 – 88 und Mertens, Edith: Literatursoziologische und persönlichkeitstheoretische Aspekte der biographischen Entwicklung des Offiziers Arnold Friedrich Vieth von Golßenau zum Schriftsteller Ludwig Renn. Dissertation. Münster 1981. Siehe dazu seine autobiografischen Schriften Meine Kindheit und Jugend. Berlin/Ost 1957 und das ungleich bekanntere und zuerst 1944 in Mexiko erschienene Werk Adel im Untergang. Berlin/ Ost 1947. Renn, Anstöße in meinem Leben, insbesondere S. 70 – 377; zum Massaker von Dinant siehe S. 83 – 93. Renn, Ludwig: Nachkrieg. Berlin 1930. Siehe dazu jetzt Hippe, Christian: Mehr als ein Tendenzroman. Die verratene Revolution in Ludwig Renns Nachkrieg (1930). In: „Friede, Freiheit, Brot!“. Romane zur deutschen Novemberrevolution. Hrsg. von Ulrich Kittstein u. Regine Zeller. Amsterdam 2009, S. 221– 238.
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in die Sowjetunion.¹⁶ Kurz vor dem Erscheinen seines Weltkriegsromans war Renn schließlich der Kommunistischen Partei (KPD) und dem Roten Frontkämpferbund beigetreten, wobei die Niederschlagung der Wiener Julirevolte von 1927 und die Lektüre von John Reed von ihm später als Schlüsselerlebnisse bezeichnet wurden. Angeblich hat Renn daraufhin die Tantiemen aus den Verkäufen seines Buches dem Kampffonds der Partei übergeben. Zugleich brach er mit seiner adligen Herkunft und übernahm den Namen seines Protagonisten Ludwig Renn. Über diese, seiner Meinung nach exemplarischen und vor allem aus einer antibürgerlichen Haltung herrührenden Wendung hin zur kommunistischen Arbeiterbewegung schrieb er 1931: Die Fälle mehren sich in Deutschland, wo Angehörige adliger Familien zur Roten Front stoßen. Ist das ein Zufall? Ich persönlich habe mich stets mehr zu den echten Proletariern hingezogen gefühlt als zu den Bürgerlichen oder gar Sozialdemokraten, die mir als Menschen erschienen, die etwas scheinen wollen, was sie nicht sind, und sich dabei lächerlich machen. […] Vom Adel aus gesehen ist das Bürgertum eine Emporkömmlingsklasse, die nicht einmal imstande ist, sich eine eigene Sitte und Moral zu schaffen. […] Wo noch die alten feudalen Traditionen da sind, ist auch der Kampf gegen das Bürgertum da, dessen gefühlsmäßiger Ausdruck die Verachtung ist. Auch dieser Umstand begünstigt den Umschlag des Adligen in das klassenbewußte Proletariat. […] Der Adel als eine alte herrschende Klasse haßt die Winkelzüge und das viele Reden des ewig schwankenden Kleinbürgertums. Er ist bereit, sich klar zu entscheiden, ohne erst jede Möglichkeit zu untersuchen.¹⁷
Als kommunistischer Publizist und Militärexperte wurde Renn nach der „Machtergreifung“ Adolf Hitlers im Zusammenhang mit dem Reichstagsbrand für 30 Monate eingesperrt. Ganz im Sinne seines Credos der notwendigen Einheit von Wort und Tat kämpfte er anschließend während des Spanischen Bürgerkrieges als Kommandeur des Thälmann-Bataillons und Stabschef der 11. Internationalen Brigade auf Seiten der Republikaner.¹⁸ Seine in dieser Zeit gemachten Erfahrungen flossen in den vielbeachteten Erlebnisbericht Im Spanischen Krieg (1955) ein. Nach der Flucht aus einem südfranzösischen Konzentrationslager ging Renn, wie Siehe dazu seine Rußlandfahrten. Berlin 1932; Zu Fuß zum Orient. Weimar 1966 und den auf eigenen Erfahrungen beruhenden Roman Inflation. Berlin/Ost 1963. Zitiert nach Rühle, Jürgen: Literatur und Revolution. Die Schriftsteller und der Kommunismus. Köln 1960, S. 237. So erklärte Renn im Sommer 1937 auf dem Schriftstellerkongress in Madrid, „wir wollen nicht Geschichte schreiben, sondern Geschichte machen“. Zitiert nach dem Interview Josef-Hermann Sauers mit Renn vom März 1969, wiederabgedruckt in Sauer: Interviews mit Schriftstellern. Texte und Selbstaussagen. Leipzig 1986, S. 85 – 103, hier S. 98. Ausführlich zu Renns Rolle in Spanien und der späteren literarischen Verarbeitung siehe Drommer, Günther: Ludwig Renn – Schriftsteller und Militär. In: Der Spanische Bürgerkrieg in der DDR. Strategien medialer Erinnerungsbildung. Hrsg. von Wolfgang Asholt [u. a.]. Frankfurt a. M. 2009, S. 185 – 204.
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viele andere kommunistische Autoren auch, nach Mexiko ins Exil, wo er als Geschichtsprofessor und Präsident der Bewegung „Freies Deutschland“ sowie des „Latein-Amerikanischen Komitees der freien Deutschen“ wirkte.¹⁹ Im Jahre 1947 kehrte er schließlich in seine Heimatstadt Dresden zurück, um an der dortigen Technischen Hochschule zu lehren, bevor er sich 1952 in Ost-Berlin als freier Schriftsteller niederließ. Seitdem schuf Renn neben seinem Spanienband sowie diversen autobiografischen Schriften und Reisebeschreibungen Romane zur Revolution von 1918 und zum Zweiten Weltkrieg, die wie schon sein in der Exilzeit entstandenes Buch zur nationalsozialistischen Gewaltherrschaft sehr viel freier (d. h. weniger auf autobiografischem Material beruhend) und mit deutlicher politischer Tendenz verfasst waren.²⁰ Ungleich populärer waren freilich seine Kinder- und Jugendbücher, die sich mit dem Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung in Mexiko, Kuba, Afrika und der germanischen Vorzeit beschäftigten.²¹ Renn starb 1979 im Alter von 90 Jahren in Ost-Berlin.
„So war der Krieg!“ – Die Rezeption des Weltkriegsromans in der Weimarer Republik Ludwig Renn behauptete später, seit 1916 an seinem Roman gearbeitet und ihn im Wesentlichen im Jahr 1924 abgeschlossen zu haben, d. h. noch vor seinem Beitritt zur KPD. Dies begründe auch den neutralen Gehalt des Buches. „Es entstand in einer Zeit“, so notierte er im Jahre 1929, „in der ich hoffnungslos suchte, in der mir der Sozialismus durch die Sozialdemokratie zum Ekel gemacht war und ich doch nicht mehr zu den Bürgerlichen zurück konnte. […] Mein ‚Krieg‘ ist also ein Übergangswerk, wie seine Auffassungen Übergangsauffassungen sind. Nur in einer Übergangsstellung ist eine solche Art Objektivität möglich, wie sie die Er-
Siehe Renn, Ludwig: Morelia. Eine Universitätsstadt in Mexiko. Berlin/Ost 1950 und ders.: In Mexiko. Berlin/Ost 1979. Renn, Ludwig: Auf den Trümmern des Kaiserreichs. Weimar 1961 und ders.: Krieg ohne Schlacht. Berlin/Ost 1957. Sein Roman zum Dritten Reich war zuerst 1936 in der Schweiz erschienen: Vor großen Wandlungen. Berlin/Ost 1989. Siehe Trini. Die Geschichte eines Indianerjungen. Berlin/Ost 1954; Der Neger Nobi. Berlin/Ost 1955; Herniu und der blinde Asni. Berlin/Ost 1956; Herniu und Armin. Berlin/Ost 1958; Camilo. Eine ungewöhnliche Geschichte aus Kuba, von einem tapferen kleinen Jungen und seinem Großvater. Berlin/Ost 1963. Siehe dazu auch die Studie von Goldbach, Gisela: Ludwig Renn als Jugendschriftsteller. Frankfurt a. M. 1985.
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zählung zeigt.“²² Renns unpolitische Haltung und kühl beschreibender Stil mag erklären, warum das Buch auch in rechten Kreisen Anklang fand, die es als angebliches „Dokument für den unbeugsamen Gehorsam, die Opferbereitschaft und Kameradschaft des einfachen deutschen Frontsoldaten“ gegen Remarques bereits erwähnten Roman und dessen pazifistische Tendenz ausspielten.²³ Die konservative Schlesische Zeitung etwa meinte: Remarque ist erfahrener Schriftsteller, aber er steht als Gestalter und als Deuter nicht auf der Höhe Renns. […] Renns „Krieg“ ist erdhaft, natürlich, zwanglos, ohne Effekte, aber strahlend wirksam und den andächtigen Beschauer nicht mehr loslassend. […] Remarque ist im allgemeinen künstlicher. […] Die alten Krieger werden wohl Renn vorziehen, denn: So war der Krieg!
Die NSDAP-nahe Rheinisch-Westfälische Zeitung urteilte übereinstimmend: Tatsächlich ist die Innerlichkeit des seelischen Kriegserlebnisses bei Renn ungleich tiefer als bei Remarque. […] Renn hat eins, was Remarque fehlt. Er hat den Kern dessen erfaßt, was der bleibende Eindruck der Frontjahre für den Frontsoldaten und damit für eine ganz deutsche Generation geworden ist. […] Die richtigere Schilderung des Fronterlebnisses dürfte uns Renn gegeben haben!²⁴
Diese und viele ähnliche Äußerungen sind bemerkenswert, weil wir gewohnt sind, den Roman als Plädoyer gegen den Krieg zu lesen, und so ist er auch von bürgerlicher und linker Seite rezipiert worden. Dabei blieb freilich der Bezug auf Remarque häufig bestehen. So argumentierte der Journalist und spätere Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky: „Die Bücher von Remarque und Ludwig Renn bieten qualitativ keine Unterschiede; beide wuchsen aus Anschauung und Erlebnis, beide hat die Erinnerung in langen Jahren geformt.“²⁵ Auch der linksliberale Publizist und Politiker Theodor Heuss lobte beide Romane als authentisch-entlarvende Darstellungen des Krieges des einfachen Mannes, als willkommenes Korrektiv zu den neueren trocken-abstrakten Generalstabswerken und den vielen apologetisch-verherrlichenden Schriften von meist höherrangigen
Renn, Ludwig: Über die Voraussetzungen zu meinem Buch „Krieg“ (1929). Wiederabgedruckt in ders.: Krieg. Mit einer Dokumentation, S. 315 – 332, hier S. 331– 332. Broich, „Hier spricht zum ersten Male“, S. 215. Siehe dazu auch Bock, Sigrid: Wirkungsbedingungen und Wirkungsweisen der Antikriegsliteratur in der Weimarer Republik. In: Zeitschrift für Germanistik 5/1 (Februar 1984), S. 19 – 32. Zitiert nach: Renn oder Remarque. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 96/104 (1929), S. 3655. Wiederabgedruckt in Vogt-Praclik, Bestseller, S. 57. Ossietzky, Carl von: Ludwig Renn. In: Die Weltbühne 25/10 (1929), S. 381– 383. Wiederabgedruckt in Renn, Krieg. Mit einer Dokumentation, S. 417– 421, hier S. 418.
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Kriegsveteranen. Renns klares und unpathetisches Buch sei dabei „die Epopöe der einfachen soldatischen Pflichterfüllung, im Leiden und im Kämpfen, in Freundschaft und Fürsorge“, „ein Werk starker Kunst und dabei von einer Einfachheit, zu der man das Wort volkstümlich setzen möchte, wenn dies nicht sentimental klingen wollte.“²⁶ Arnold Zweig, selbst Verfasser mehrerer bedeutender Weltkriegsromane, scheint zu den wenigen gehört zu haben, die erkannten, dass es sich bei Renns Buch nicht um einen Tatsachenbericht, sondern um ein weitgehend fiktiv gestaltetes und kunstvoll arrangiertes Werk handelte.²⁷ Die Vorstellung jedoch, dass Krieg einen unverfälschten Blick auf das Fronterlebnis biete, hat sich bis heute gehalten. So soll das Werk in den 1930er-Jahren an den Kriegsakademien von Stockholm und Helsinki als Lehrbuch verwendet worden sein.²⁸ Und noch jüngst schrieb der Herausgeber der Neuedition von Renns Werken im Verlag Das Neue Berlin: „Von allen literarischen Veröffentlichungen über die Jahre zwischen 1914 und 1918 […] ist Renns Buch ‚Krieg‘ das wahrhaftigste.“²⁹
Literarischer Dilettant und „Soldat der Komintern“: Die Wahrnehmung Renns in der Bundesrepublik Ludwig Renn gehörte neben Anna Seghers, Arnold Zweig, Bertolt Brecht, Johannes R. Becher und Stefan Heym zur ersten, vor 1914 geborenen Generation der DDR-Schriftsteller, d. h. bereits etablierten Autoren, die sich nach den Erfahrungen von Verfolgung und Exil mit den Zielen und Idealen der jungen sozialistischen Republik identifizierten und mit ihren Werken volkspädagogisch an ihrem Aufbau mitwirken wollten. Dabei blieben sie, wie etwa Konrad Franke in seiner 1971 im westdeutschen Kindler-Verlag erschienenen Literaturgeschichte der DDR betonte, meist konventionellen Schreibweisen verhaftet:
Heuss, Theodor: Zwei Kriegsbücher. In: Wille und Weg 5/22 (1929), S. 562– 565. Wiederabgedruckt in Renn, Krieg. Mit einer Dokumentation, S. 493 – 497, hier S. 496. Zweig, Arnold: Ein Kriegsroman. In: Berliner Tageblatt, 13. Dezember 1928. Wiederabgedruckt in Renn, Krieg. Mit einer Dokumentation, S. 369 – 374. Auer, Annemarie: Ein Geschöpf seines Autors. Zum Gattungsproblem bei Ludwig Renn. In: Sinn und Form 16/2 (1964), S. 228 – 244. Wiederabgedruckt in dies.: „Standorte – Erkundungen“. Acht kritische Versuche. 2. Aufl. Halle/S. 1968, S. 109 – 135, hier S. 112. Drommer, Günther: Skizze eines apokalyptischen Reiters. Nachwort. In: Renn, Ludwig: Adel im Untergang. Roman. Berlin 2001, S. 383 – 394, hier S. 386.
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Sie knüpften lediglich an frühere Literatur-Traditionen an, retteten aus dem bürgerlichen Formenvorrat, was zu retten war, gaben Erlebtem durch Aufschreiben Dauer – sie bewahrten, setzten mit dem Bewahrten und mit Bewährtem den Anfang der DDR-Literatur, entwickelten aber nicht: neue, den geänderten politischen Verhältnissen entsprechende, spezifische Formen, die den neuen Themen notwendigen zugehörigen neuen Helden.
Das Festhalten am Althergebrachten, die mangelnde Originalität und Unfähigkeit zur Aufnahme neuer Themen und Schreibweisen, so Franke, gälte auch für Ludwig Renn, dessen nach 1945 publizierten Bücher als zumeist „farblos, blass, langweilig“ und oft auch wenig glaubhaft bezeichnet werden. Das Leben in der DDR sei nie sein Thema gewesen.³⁰ Tatsächlich war die westdeutsche Rezeption der Werke Ludwig Renns eher kritisch, auch wenn das Weltkriegsbuch meist lobend als bedeutender Roman erwähnt wurde, der dem Krieg „die ihm vom Hurrapatriotismus künstlich angehängte Glorie herunterriß [und] seinen mörderischen Wahnsinn enthüllte“.³¹ Der prominente Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki erwies sich als besonders ablehnend. In seinem 1963 zuerst erschienenen und viel diskutierten Buch Deutsche Literatur in West und Ost widmete er Renn – neben Zweig, Seghers, Stephan Hermlin und Erwin Strittmatter – ein ganzes Kapitel. Darin stellte ReichRanicki sogar die Frage, ob Renn „überhaupt ein Schriftsteller“ sei und ob sein Hauptwerk Krieg „zur Literatur gehöre“: „Kann es als epische Kunstleistung gelten?“³² Während Remarque ein „raffiniertes episches Plädoyer gegen den Krieg“ geschaffen habe, freilich unter Zuhilfenahme zum Teil geschmackloser und tendenziöser Darstellungsmittel, sei Renns Roman „nur eine schlichte, unbedarfte Zeugenaussage“, das Werk eines Dilettanten.³³ Die Kritik zahlreicher Rezensenten der Weimarer Zeit aufgreifend, die allerdings davon ausgegangen waren, dass es sich bei dem Buch um den unbedarften und gerade deshalb wahrheitsgetreuen Erlebnisbericht eines einfachen Soldaten handelte, betonte Reich-Ranicki, dass der Autor nicht in der Lage gewesen sei, „die sichtbare und greifbare Welt darzustellen sowie Gefühle und Stimmungen zu vergegenwärtigen“: „Er kann weder
Franke, Konrad: Die Literatur der Deutschen Demokratischen Republik. München 1971, S. 324, 287. Ein Leutnant macht sich Gedanken – und wurde Ludwig Renn. In: Der Spiegel, 7. Juni 1947, S. 18. Ähnlich auch jüngere Einschätzungen von Krieg und Nachkrieg als „äußerst lesenswerte literarische Zeitdokumente, die den Widerpart bilden zur martialischen Ideologie der Kriegsbücher von Ernst Jünger“: Reinhard, Stephan: Abschied vom Ehrgeiz. Ludwig Renn: Nachkrieg. In: Deutschlandfunk, 9. August 2004: https://www.deutschlandfunk.de/abschied-vom-ehrgeiz.700. de.html?dram:article_id=81934 (7. 10. 2020). Reich-Ranicki, Marcel: Deutsche Literatur in West und Ost. 3. Aufl. München 2002, S. 289. Reich-Ranicki, Deutsche Literatur, S. 293.
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Gestalten schaffen, noch eine Entwicklung zeigen, noch eine Handlung entwerfen. Er hat weder Phantasie noch Einfühlungsgabe.“ Und weiter: „Renn führt Fakten an, protokolliert Vorgänge, beschreibt Zustände. Weiter reicht sein Horizont nicht.“ Sein Stil sei von einer „makellosen Naivität“ und zuweilen „infantil“.³⁴ Laut Reich-Ranicki hätte jedoch gerade diese simple und monotone, aber doch authentisch und glaubhaft wirkende Darstellungsweise wesentlich zum Erfolg des Romans beigetragen: „Die Wirkung des Buches rührte vom Stoff her und nur vom Stoff her.“³⁵ Renns folgende Werke zeugten von einer ähnlichen literarischen Unfähigkeit. Nachkrieg sei „ein propagandistisches Kampfbuch“ eines „linkische[n], unbeholfene[n] Agitator[s]“; Vor großen Wandlungen so schlecht, dass man den Roman „selbst in der DDR nicht neu auflegen konnte – und das will schon etwas heißen“; das 1944 zuerst publizierte Erinnerungsbuch Adel im Untergang „nicht ein gesellschaftskritisches oder gar militantes, sondern ein harmloses, wehmütig-verklärendes Buch“; und Renns Memoiren Meine Kindheit und Jugend „erschreckend belanglos und langweilig“.³⁶ Die in den 1950er-Jahren erschienenen Kinderbücher seien eine logische Folge dieser Amateurhaftigkeit: „Die Umstellung auf die Literatur für Kinder ist dem Autor vermutlich leichtgefallen. Er brauchte weder seine Schreibweise zu ändern, noch die intellektuellen Ansprüche, die er bisher an seine Leser stellte, zu reduzieren.“³⁷ Nur Renns Spanien-Buch wird lobend erwähnt: es sei von hohem zeitdokumentarischem Wert, freilich keine Literatur. Darüber hinaus sei Renn von der Partei zu zahlreichen Änderungen am Originaltext gedrängt worden, was der Autor bereitwillig hingenommen hätte.³⁸ In der Tat habe er sich voll in den Dienst des Regimes gestellt; indirekte Kritik wie bei manch anderen DDR-Autoren suche man vergebens: „Keine Ungerechtigkeit konnte ihn aus der Reserve locken, von keiner Tauwetter-Entspannung machte er Gebrauch.“ Reich-Ranickis Kapitel war dementsprechend als „Der brave Soldat Renn“ betitelt, wohl kaum mit Bezug auf Jaroslav Hašeks Anti-Helden Schwejk, sondern als deutlicher Hinweis auf die Willfährigkeit Renns, der als ehemalig adlig-kaiserlicher Offizier seinen Gehorsam lediglich vom wilhelminischen zum kommunistischen Regime übertragen habe: Renn habe nun „neue Vorgesetzte gefunden, deren Befehle er folgen konnte“.³⁹
Reich-Ranicki, Deutsche Literatur, S. 291– 292. Reich-Ranicki, Deutsche Literatur, S. 293. Reich-Ranicki, Deutsche Literatur, S. 294, 296, 297. Reich-Ranicki, Deutsche Literatur, S. 298. Siehe dazu auch Drommer, Günther: Die Front war so still, daß ich den einzelnen Schuß hörte. Vorwort. In: Renn, Ludwig: Der Spanische Krieg. Dokumentarischer Bericht. Erstveröffentlichung nach dem ursprünglichen Manuskript. Berlin 2006, S. 7– 14. Reich-Ranicki, Deutsche Literatur, S. 297.
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Während bei Reich-Ranicki die ästhetisch-literarische Kritik im Vordergrund stand, so missbilligte der kulturpolitisch engagierte Journalist und spätere Fernsehredakteur Jürgen Rühle in seiner Studie zu dem Verhältnis von Literatur und Kommunismus vor allem Renns politisch-ideologischen Standpunkt. Dem 1960 erschienenen Buch des bis 1955 in der DDR tätigen Publizisten war ein kurzes Vorwort vorangestellt, in welchem der Autor „die Perversion des Geistes unter der totalitären Diktatur“ und das Abwürgen künstlerischer Kreativität durch die „Hegemonie der Parteiideologie“ anprangerte.⁴⁰ In dem Renn gewidmeten Kapitel warf Rühle diesem eine militaristische Gesinnung vor, die der im Kaiserreich sozialisierte Schriftsteller trotz – oder vielleicht gerade wegen – seiner Wendung zum Kommunismus beibehalten habe. Während Remarques Buch trotz aller Effekthascherei ein „Manifest des Pazifismus“ gewesen sei, habe Renn das Fronterlebnis und vor allem die soldatische Kameradschaft in nahezu mythischer Weise beschrieben. Dass die Kommunisten im Gegensatz zu den bürgerlichen Pazifisten den Krieg an sich nicht ablehnten, habe ihm den Übergang überleichtert. Renn sei letztlich auch „im Dienst der Komintern […] Soldat“ geblieben, wie seine zahlreichen Aufsätze und Vorträge zu militärpolitischen und kriegsstrategischen Themen sowie seine aktive Rolle im Spanien-Krieg bewiesen. Mit dem Spanien-Buch sei er sich selbst treu geblieben: „Jede Zeile verrät in Stil und Haltung die Schule des alten deutschen Generalstabs.“ Und weiter: Überhaupt folgt Renn auf dem Schauplatz des spanischen Bürgerkrieges derselben Disziplin und demselben Ehrenkodex, die das kaiserliche Offizierkorps auszeichneten. Dienen ohne zu murren, gehorchen ohne zu fragen, mehr sein als scheinen – nur daß jetzt die Kommunistische Partei Befehlsgeber und Treueempfänger ist.⁴¹
„Wahrheitssucher und Wahrheitsfinder“: Ludwig Renn in der DDR In einer der ersten ostdeutschen, freilich nicht unumstrittenen Gesamtdarstellungen zur neueren deutschen Literatur aus dem Jahre 1950 urteilte Heinz Rein, der mit Finale Berlin (1947) selber als Antikriegsschriftsteller hervorgetreten war, überaus kritisch über Ludwig Renn. Sein Kriegsbuch habe die Soldaten „wie Mechanismen“ geschildert, „die durch eine unbekannte Macht und einen unbe-
Rühle, Literatur und Revolution, S. 11. Rühle, Literatur und Revolution, S. 233 – 242, hier S. 233 – 234, 240 – 241. Siehe auch Keller, Ernst: Nationalismus und Literatur. Langemarck – Weimar – Stalingrad. Bern 1970, S. 65 – 84.
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greiflichen Willen gelenkt wurden, sie fragten nicht nach Ursache und Sinn, es gab für sie keine moralischen Probleme.“ In den folgenden autobiografischen Werken Nachkrieg und Adel im Untergang sei der Protagonist ebenso passiv und beobachtend geblieben, die Handlung ähnlich „dürr und blutarm“. Renn habe es darüber hinaus nicht erreicht, „das private Erlebnis in die Ebene des Allgemeingültigen, Typischen“ zu erheben. Das im Mittelpunkt von Reins Analyse stehende Buch Adel im Untergang erfülle nicht die vom Titel geweckten Hoffnungen; es sei eben nicht „die umfassende Historie vom Untergange des ersten Standes des kaiserlichen Deutschlands, das Präludium zu seinem Totentanz“, sondern eine harmlose, zuweilen sogar verklärende Sammlung von privaten Anekdoten. Die als „degeneriert, versoffen, verhurt, faul und stumpfsinnig“ geschilderten Offiziere hätten sich im Weltkrieg von einer ganz anderen Seite gezeigt.Vor allem würde nicht klar, „weshalb der Adel als Kaste, als Stand oder auch als Klasse bekämpft werden mußte“: „So fehlt der Nachweis, daß der Adel, der über das Militär und den Großgrundbesitz gebot, gemeinsam mit dem bürgerlichen Industriemagnaten die Herrschaft im kaiserlichen Imperium ausübte.“ Die Gefahren, die von den Repräsentanten dieser Gesellschaftsschicht immer noch ausgingen, seien nicht erkannt und beschrieben worden. Für die Aufgaben der Gegenwart wäre Renns Werk leider völlig belanglos.⁴² Der einflussreiche Literaturkritiker und -wissenschaftler Hans Mayer, damals noch Professor in Leipzig, äußerte sich 1959 im immerhin ausführlichsten Beitrag zu der Festschrift zum 70. Geburtstag Renns zwar nicht ohne Sympathie für den Schriftsteller, aber erstaunlich abschätzig. Renn sei ein großer und authentischer Berichterstatter, habe es allerdings nie vermocht, wirkliche Literatur „in der großen deutschen epischen Tradition von Keller oder Fontane, Thomas Mann oder Arnold Zweig“ zu schaffen. Sein unverwechselbarer, nüchtern-präziser Stil sei jedoch nicht unbedingt ein Ausdruck mangelnder schriftstellerischer Fähigkeiten, sondern eine bewusste Entscheidung zugunsten der sozialen und volkspädagogischen Funktionalität seiner Schriften: „Renns Bücher haben niemals kulinarischen Charakter. Sie wollen nicht verzaubern, sondern berichten. Dabei ist der Bericht hier meistens mit Unterricht verbunden.“ Der Autor verzichte weitgehend auf die psychologische Darstellung und habe infolgedessen Gestalten ohne Entwicklung und episches Dasein geschaffen, was auf Kosten von „Kunstwirkung im üblichen Sinne“ gehe. Als „Zeichner“ arbeite er eben ohne Farben.⁴³
Rein, Heinz: Die neue Literatur. Versuch eines ersten Querschnitts. Berlin/Ost 1950, S. 20 – 22, 24. Mayer, Hans: Der Zeichner und die Farben. In: Ludwig Renn. Zum 70. Geburtstag. Berlin/Ost 1959, S. 63 – 76, hier S. 70, 66, 68.
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Sowohl Rein als auch Mayer sind nach ihrem Bruch mit dem SED-Regime in den 1950er und frühen 1960er Jahren in die Bundesrepublik gegangen. Tatsächlich sind ihre Ansichten nicht charakteristisch für die durchgängig positive Rezeption Ludwig Renns durch Literaturexperten, Intellektuelle und Politiker in der DDR, die ihn als „einen der bedeutendsten Kritiker der alten Gesellschaft“, „führenden Repräsentanten der sozialistischen Literatur der DDR“ und „Autor[en] von Weltruf“ feierten.⁴⁴ Der Herausgeber und Publizist Walther Victor etwa nannte ihn einen „roten Ritter“ und für den Dichter und Komponisten Louis Fürnberg habe sich Renn vom „Humanisten bürgerlicher Bildungsprägung zum aktiven Soldaten der Menschheit“ und „Dichter des nationalen Befreiungskampfes“ entwickelt. In seinen ersten Werken sei er „als der militante Chronist des imperialistischen Krieges und des Untergangs morbider Gesellschaftsschichten“ hervorgetreten. Sein Weltkriegsbuch „war kein Roman, sondern der Bericht eines Homer aus dem zweiten Dezennium des XX. Jahrhunderts.“⁴⁵ Die bereits erwähnte Festschrift versammelte Glückwünsche und Erinnerungsberichte zahlreicher literarischer und intellektueller Größen der DDR, darunter Anna Seghers, Franz Fühmann, Stefan Heym und Alexander Abusch. Der in die USA emigrierte, aber weithin als Antifaschist verehrte Lion Feuchtwanger rühmte Renn darin als einen „Schriftsteller im besten Sinn des Wortes“, als „Wahrheitssucher und Wahrheitsfinder“, während der Komponist der DDR-Nationalhymne Hanns Eisler ihn als einen der „Größten“ der Literatur und „Nützlichsten“ beim „Aufbau des Sozialismus“ lobte. Auch Arnold Zweig betonte Renns Bedeutung als Schriftsteller und Parteiaktivist, der sich „vor allem für den Frieden und gegen jene aggressiven Kriegstreibereien [einsetzte], dessen Segnungen wie
Auer, Annemarie: Ludwig Renn. Chronik und Dichtung. In: Ludwig Renn. Hrsg. von Deutscher Kulturbund. Berlin/Ost 1964, S. 8 – 17, hier S. 15; Günter Albrecht, Kurt Böttcher, Herbert GreinerMai u. a.: Schriftsteller der DDR. Leipzig 1974, S. 448; Diersen, Inge u. Haase, Horst: Lexikon sozialistischer deutscher Literatur. Von den Anfängen bis 1945. Monographisch-biographische Darstellungen. Halle/S. 1963, S. 411. Ähnlich noch das 1985 in 4. Auflage erschienene ostdeutsche Standardwerk zur Literatur der DDR: Horst Haase, Hans Jürgen Geerdts, Erich Kühne u. a.: Geschichte der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik. 4. Aufl. Berlin/Ost 1985, S. 288 – 290. Sehr knapp dagegen die Würdigung Renns in dem Vorgängerband der Reihe, vor allem im Vergleich zu den Weltkriegsromanen Erich Maria Remarques und Arnold Zweigs. Siehe Hans Kaufmann, Dieter Schiller u. a.: Geschichte der deutschen Literatur 1917 bis 1945. Berlin/Ost 1973, S. 311– 312, 345 – 353. Victor, Walther: Der rote Ritter. Ein nachträglicher Glückwunsch für Ludwig Renn (1959). Wiederabgedruckt in ders.: Freund und Feind. Kritiken aus fünf Jahrzehnten. 2. Aufl. Berlin/Ost 1985, S. 515 – 520; Fürnberg, Louis: Ludwig Renn – Dichter des nationalen Befreiungskampfes. Aus Louis Fürnbergs unveröffentlichtem Fragment über Renns Roman Trini. In: Weimarer Beiträge 1964/6, S. 837– 838.
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deren Verwüstungen er so intensiv zu erleben und auszudrücken verstand.“⁴⁶ Die wenige Jahre zuvor erschienene und sich Ludwig Renn widmende Broschüre mit „Hilfsmaterial für den Literaturunterricht an den Ober- und Fachschulen“ charakterisierte den Schriftsteller übereinstimmend als „denkenden und schreibenden Kritiker an Adel und Bourgeoisie“, als „Ankläger des imperialistischen Krieges“. Seine drei Erlebnisbücher gehörten „durch ihre Kritik an den gesellschaftlichen und politischen Vorgängen der Jahre vor dem ersten Weltkrieg, während des Krieges und in der Weimarer Republik zu den bemerkenswertesten Erscheinungen der deutschen Literatur.“ Und weiter: „Ein Mensch läßt seine Entwicklung zum Spiegelbild des Zerfalls der herrschenden Klasse und der fortschreitenden Herausbildung neuer progressiver Kräfte in der Geschichte seines Volkes werden.“⁴⁷ Schon hier wird deutlich, dass Renns Weltkriegsroman meist im Zusammenhang mit seinen späteren Schriften und seiner aktiven Rolle in der kommunistischen Arbeiterbewegung gesehen wurde, wobei deutliche Präferenzen vorzuherrschen scheinen. Zwar sei, wie etwa der Schriftsteller und Herausgeber Günther Cwojdrak bereits im Nachwort zur 1951 erschienenen Gemeinschaftsausgabe von Krieg und Nachkrieg in der sogenannten Bibliothek fortschrittlicher deutscher Schriftsteller notierte, in Renns Darstellung „der Krieg jeder marktschreierischen Phrase, jeder falschen Poesie, jedes verlogenen, künstlich erhitzten Heldentums entkleidet“: „Der Krieg steht nackt und kalt und schmutzig vor uns. Die Wunden, die er schlägt, werden nicht verdeckt.“ Allerdings zeige das Buch aufgrund seiner Konzentration auf das unmittelbare Frontgeschehen nur einen Teil des gesamten Krieges und diskutiere nicht die tieferen Ursachen und gesellschaftlich-politischen Bedingungen. Insofern sei es, wie Renn es ja auch selbst zugegeben hatte, ein Übergangswerk: „Noch hatte er nicht bewußt Partei ergriffen […]. Noch aber begriff er nicht den Klassencharakter dieser Politik, noch war ihm die Existenz einer revolutionären Klasse und einer revolutionären Politik nicht bewußt.“ Auch Nachkrieg sei noch von unreflektierter Beobachtung und mangelnder Parteinahme geprägt, wobei freilich ersichtlich wird, „daß die reformistische Führung der Sozialdemokratie mit den alten Mächten, den kaiserlichen Generalen und den Schwerindustriellen, mit den Hindenburgs, den Thyssens, Krupps und Stinnes‘ ein Bündnis einging, um die Verwirklichung der Ziele
Feuchtwanger, Lion: Wahrheitssucher und Wahrheitsfinder. In: Ludwig Renn. Zum 70. Geburtstag, S. 11; Eisler, Hanns: Ludwig Renn. In: Ebd., S. 12; Zweig, Arnold: Glückwunsch an Ludwig Renn. In: Ebd., S. 46 – 50, hier S. 50. Rusch, Heinz: Ludwig Renn. Hilfsmaterial für den Literaturunterricht an den Ober- und Fachschulen. Berlin/Ost 1956, S. 5.
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der Revolution, der Ziele der Arbeiterklasse, zu hintertreiben“.⁴⁸ Andere Kommentatoren urteilten ähnlich, darunter der deutschbaltische Buch- und Filmautor Alexander Graf Stenbock-Fermor, der sich wie Renn (bzw. Vieth von Golßenau) in der Nachkriegszeit trotz seiner adligen Herkunft zum Kommunismus bekannt hatte. So bezeichnete er das Weltkriegsbuch als „sachliche[n], erregende[n] Bericht von den Schicksalen der einfachen Soldaten“, betonte aber, dass nicht Renn selbst als Ankläger hervorgetreten sei, sondern die geschilderten „Tatsachen“ die abschreckende Wirkung des Buches erklären: „Er zeigte keinen Ausweg. Er sah ihn noch nicht. Ein Mensch fühlte die Ketten, konnte sie aber nicht zerbrechen. Das gibt dem Buch den dunklen, drohenden Ton, der nachklingt und den Leser nicht in Ruhe läßt.“ Der Protagonist von Nachkrieg war ebenso „schwankend, unentschieden bis zum Schluß“: es sei für Renn noch eine „Zeit des bitteren Lernens und Suchens“ gewesen.⁴⁹ Auch das 1963 erschienene Lexikon sozialistischer deutscher Literatur schrieb in diesem Sinne: „Die Typik seiner Gestalten und der Realismus seiner Werke hängen unmittelbar von dem Grad gesellschaftlicher Erkenntnis ab, den der Autor in der jeweiligen Schaffensperiode erreichte. Von Werk zu Werk bekommen die Klassenbewegungen mehr Gewicht, die Wirklichkeit wird tiefer und umfassender widergespiegelt.“ Erst mit Adel im Untergang sei Renn „zum bewußten Gesellschaftskritiker von nationalem Rang“ geworden. Der 1955 erschienene Spanische Krieg sei dann dem ersten Kriegsbuch „an Gehalt überlegen“: „Vermöge der sozialistischen Weltanschauung und Kampferfahrung des Autors wird in den Werken der Reifezeit der Gegenstand umfassend und in seiner historischen Perspektive sichtbar. Die Authentizität der Aussage war gewachsen, weil sich R. zur Position des revolutionären Proletariats entwickelt hatte.“⁵⁰ Die einflussreiche Literaturzeitschrift Weimarer Beiträge schließlich verwies vor allem auf die volkspädagogisch angelegten Kinder- und Jugendbücher, mit denen sich Renn endgültig zum sozialistischen Dichter entwickelt habe, der auf der Grundlage der marxistischen Geschichtsauffassung „bestimmte Fragen“ stellt und löst, „die für unsere Zeit, für die sozialistische Erziehung der Jugend durch und durch aktuell sind: die Verderblichkeit der Kriege für die ökonomische und kulturelle Entwicklung der Völker; Demokratie und persönliche Macht, der wahre Ruhm des deutschen Volkes.“⁵¹
Cwojdrak, Günther: Nachwort. In: Renn, Ludwig: Krieg – Nachkrieg. Berlin/Ost 1951, S. 603 – 608, hier S. 605 – 607. Stenbock-Fermor, Alexander Graf: Vorbild und Beispiel. In: Ludwig Renn. Zum 70. Geburtstag, S. 43 – 45, hier S. 44. Diersen/Haase: Lexikon sozialistischer deutscher Literatur, S. 413 – 414. Wülfing, W. O.: Ludwig Renn und der sozialistische Realismus. Die Herausbildung der schöpferischen Methode eines Schriftstellers. In: Weimarer Beiträge 1964/6, S. 819 – 836, hier
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Schlussbetrachtung: Ein falscher Krieg Die vielen erhaltenen Auszeichnungen, die im Aufbau-Verlag erschienene Gesamtedition seiner Werke in dreizehn Bänden, die 1981 erfolgte Verfilmung des Buches Adel im Untergang sowie die Benennung von zahlreichen Straßen und Schulen unterstreichen Ludwig Renns Bedeutung im literatur- und kulturpolitischen Leben der DDR. In seinem auf der Titelseite des Neuen Deutschlands abgedruckten Nachruf würdigte das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands den Schriftsteller als einen Kämpfer „für die revolutionäre Sache der Arbeiterklasse, gegen Krieg und Faschismus“, als einen Mitbegründer „des festen Bündnisses zwischen Kulturschaffenden und Arbeiterklasse“ sowie als Mitgestalter der „antifaschistisch-demokratische[n] Umwälzung“ und des „sozialistischen Aufbau[s] in unserem Land“: „Sein literarisches Schaffen ist unvergänglicher Bestandteil unserer sozialistischen Nationalkultur.“⁵² Noch wenige Monate vorher hatte Alexander Abusch, der Ehrenpräsident des Kulturbundes und frühere Kulturminister der DDR, seinem ehemaligen Weggefährten in der Weltbühne zum 90. Geburtstag gratuliert. Renns Leben und Werk seien ein Beispiel des „Zusammenwirkens der schöpferischen Persönlichkeit mit dem Erlebnis der Epoche, der Kenntnis der Welt und dem parteilichen Eintreten für ihre Veränderung“. Renn sei geradezu „legendär“ geworden als „der Adelsherr von vorgestern, der Soldat der Revolution von gestern, der Kommunist von heute und morgen“.⁵³ Ludwig Renns außergewöhnlicher Lebensweg, seine geistig-seelische Entwicklung hin zur marxistisch-leninistischen Weltanschauung und zum aktiven Einsatz für die revolutionäre Arbeiterbewegung machten ihn in den Augen des DDR-Regimes zu einem lebenden Beweis für den Wahrheitsanspruch und die Überlegenheit der offiziellen Staatsideologie. Dabei spielte sein erster und wohl
S. 829. Für eine ausführliche Diskussion der weltanschaulichen Verortung und Wandlung Renns in seinen Frühwerken siehe Klein, Alfred: Literarische Dokumente über Krieg und Nachkrieg. Ludwig Renns Beitrag zur Erhellung der Zeitgeschichte (Teilabdruck 1964). Wiederabgedruckt in ders.: Wirklichkeitsbesessene Dichtung. Zur Geschichte der deutschen sozialistischen Literatur. Leipzig 1977, S. 298 – 331. Ludwig Renn verstorben. Nachruf des ZK der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. In: Neues Deutschland, 23. Juli 1979, S. 1. Abusch, Alexander: Eine legendäre Gestalt. In: Die Weltbühne, 24. April 1979, S. 524– 527. Wiederabgedruckt in ders.: Ansichten über einige Klassiker. Berlin/Ost 1982, S. 269 – 272, hier S. 272. Auch noch zu seinem einhundertsten Geburtstag im Jahre 1989 gedachte man in der DDR dem Schriftsteller und ehrte ihn mit der Herausgabe einer Sonderbriefmarke und diversen Sonderveranstaltungen. Siehe dazu etwa Schnabel, Manfred: Autorenporträt Ludwig Renn zum 100. Geburtstag. Berlin/Ost 1989.
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auch bekanntester Roman Krieg nie eine zentrale Rolle in der Diskussion um Leben und Werk des Schriftstellers. Die innere Entwicklung des Protagonisten und generelle Tendenz des Buches erschienen dafür zu blass, trotz der eindringlichen Darstellung der Brutalität und Unerbittlichkeit des Krieges. Die Ablehnung von Hurra-Patriotismus und phrasenhafter Kriegsdemagogie sowie die Kritik an der Arroganz und Erbarmungslosigkeit der militärischen Führung sind unscharf und verschwommen. Selbst das im Roman entwickelte Gegenbild von kameradschaftlicher Solidarität und Treue, auch und gerade zwischen Offizieren und Soldaten, ist aufgrund des Mangels an psychologischer und emotionaler Tiefe wenig greifbar. Politisch noch orientierungslos, bietet Renn keinen Einblick in die Ursachen des Krieges, die dahinterstehenden Interessen und gesellschaftlichen Zusammenhänge; er ergreift keine Partei. Die wenigen reflektierenden Stellen im Buch, etwa zur Rolle der Religion, zur Vaterlandsliebe und zu den Kriegszielen sind stets sehr knapp und unbestimmt gehalten. Auch die das Buch beschließende und durchaus beeindruckende Schilderung des militärischen Rückzuges, der zusammenbrechenden Moral und zunehmenden Disziplinlosigkeit des deutschen Heeres bleibt weitgehend deskriptiv und zeigt keinen Ausweg auf. Im Gegensatz zu Arnold Zweigs Romanzyklus zum Ersten Weltkrieg, Adam Scharrers Vaterlandslose Gesellen. Das erste Kriegsbuch eines Arbeiters (1930) oder Theodor Plieviers Des Kaisers Kulis. Roman der deutschen Kriegsflotte (1930) entwickelt Renns Buch keine Fundamentalkritik am politischen System und Militarismus des wilhelminischen Regimes.⁵⁴ Wie bereits betont, bezeichnete er es bereits 1929 selbstkritisch als ein „Übergangswerk“ aus der Zeit vor seiner weltanschaulichen Wandlung: Mein Held gehorcht, weil er nicht weiß, um welchen Zieles er nicht gehorchen sollte. Wegen dieses Gehorsams lieben die Nationalisten mein Buch. Sie brauchen solche Ludwig Renns, die blind gehorchen und die kein Ziel mehr haben, weil man ihnen alle zerstört hat. Sie brauchen sie für ihre Reichswehr und für ihre Bürgerkriegsorganisationen.⁵⁵
Er habe erst später, nach der Niederschrift des Manuskripts, erkannt, dass der „einfache Mann im Schützengraben“ im Grunde „der Arbeiter im Waffenrock“ sei.⁵⁶ Es ist gerade dieser innere Reifeprozess, die Erkenntnis des Klassencha So auch Hammer, Klaus: Nachwort. In: Renn, Krieg. Mit einer Dokumentation, S. 529 – 539.Von daher erscheint es auch nicht in Bartz, Thorsten: „Allgegenwärtige Fronten“ – Sozialistische und linke Kriegsromane in der Weimarer Republik 1918 – 1933. Motive, Funktionen und Positionen im Vergleich mit nationalistischen Romanen und Aufzeichnungen im Kontext einer kriegsliterarischen Debatte. Frankfurt a. M. 1997. Renn, Über die Voraussetzungen zu meinem Buch „Krieg“, S. 332. Renn, Ludwig: Vaterlandslose Gesellen. In: Die Weltbühne 26/34, S. 287– 288, hier S. 288.
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rakters der politischen und gesellschaftlichen Zustände seiner Zeit sowie Renns aktiver Kampf gegen Imperialismus und Faschismus, der im Mittelpunkt der Rezeption des Schriftstellers in der DDR stand. In einem ganz zentralen Punkt erfuhr Renn jedoch keinen Sinneswandel: die Einstellung zum Krieg an sich. Schon im Weltkriegsroman gibt es eine bezeichnende Stelle, wo sich der Protagonist nach den ersten Kampfeshandlungen und Verlusten in einer Art innerem Monolog über seine Gefühle und Haltung klarzuwerden versucht: „Es ist ja auch gar nicht der Krieg, was so furchtbar ist, sondern – ja, was? Ich ahnte wohl etwas davon, aber in die Nähe der Gedanken kam es nicht.“⁵⁷ Wie bereits von Rühle hervorgehoben, unterstreichen Renns Eingreifen im Spanischen Bürgerkrieg und seine lebenslange Beschäftigung mit militärischen Themen, dass er etwa im Gegensatz zu Erich Maria Remarque kein Pazifist war.⁵⁸ Tatsächlich grenzte er sich von letzterem scharf ab und warf ihm „mangelnde Ahnung von den größeren Zusammenhängen militärischer Vorgänge“ vor. Remarques Buch über den Ersten Weltkrieg sei unauthentisch und stellenweise „journalistischer, reißerischer Unsinn“ gewesen.⁵⁹ Im Januar 1956 forderte Renn auf dem IV. Deutschen Schriftstellerkongress sogar eine wirkungsvolle und „zukunftsweisende Kriegsliteratur“, die einen Beitrag „zur Erziehung zur Männlichkeit und dergleichen“ leiste. In diesem Zusammenhang betonte er seine Ablehnung einer rein pazifistischen Einstellung und den Unterschied zwischen gerechten und ungerechten Kriegen. Natürlich gälte es, „ihn zu vermeiden, wenn es nur irgend möglich ist“, aber: „Wenn man sich wirksam verteidigen will, so muß man sich darauf vorbereiten. Man muß sich die Kenntnisse aneignen, die notwendig sind, wenn wir gezwungen sind, einen gerechten Krieg zu führen.“ Gerade für diesen Fall sei es erforderlich, etwa durch die richtige Literatur und Bildungsarbeit, Begeisterung zu wecken, nicht im Sinne einer „chauvinistischen, großsprecherischen Hurra-Begeisterung“, sondern eine „Begeisterung, die einem tiefen, inneren Drang zum Handeln entspricht, einem Drang, der aus dem Glau-
Renn, Krieg. Mit einer Dokumentation, S. 70. Siehe dazu etwa die folgenden Publikationen: Renn, Ludwig: Das Gesicht des kommenden Krieges. In: Die Linkskurve 1931/7 (Juli). Wiederabgedruckt in Renn, Krieg. Mit einer Dokumentation, S. 339 – 342; Renn, Ludwig: Warfare. The Relation of War to Society. Übers. von Edward Fitzgerald. London 1939. Ähnlich auch Toper und Antkowiak, die Renn als progressiven Kämpfer für ein sozialistisches und demokratisches Deutschland schilderten, Remarque dagegen als individualistischen Pazifisten, der sich mit der Rolle eines „kritischen Beobachters“ begnügt hätte. Siehe Toper u. Antkowiak, Ludwig Renn, Erich Maria Remarque, S. 5 – 6. Renn, Anstöße in meinem Leben, S. 73.
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ben an unsere Zukunft geboren ist“.⁶⁰ Angesichts dieser über mehrere Jahrzehnte beständigen persönlichen Einstellung lohnen sich die erneute Lektüre und Prüfung von Renns Weltkriegsroman auf die Frage hin, inwiefern es sich dabei tatsächlich um ein Antikriegsbuch handelte. Kurz vor seinem Tod unterstrich der Schriftsteller in einem Interview, dass gerade die Pazifisten den „schwersten Irrtum in der Beurteilung“ des Bandes begangen hatten: „Da mein Buch zweifellos auch gegen die Verherrlichung des Krieges gerichtet war, wollten sie es ihrer Verurteilung des Krieges schlechthin dienstbar machen. Dabei gerieten sie aber in Schwierigkeit, da sie die ihnen wichtigen billigen Antikriegs-Phrasen bei mir vermißten.“⁶¹ Tatsächlich werden an keiner Stelle die Armee als hierarchische Institution, die antiindividualistische Befehlsdisziplin, und der antihumanistische Akt des Tötens und Verwundens Anderer hinterfragt und kritisiert. Obwohl Opfer deutscher Aggression, werden die feindlichen Belgier und Franzosen, einschließlich der Zivilisten, ohne Sympathie und Anteilnahme dargestellt. Das große, freilich nur rudimentär entwickelte Dilemma des Protagonisten ist die Frage nach dem eigentlichen Sinn des Krieges, eine zunehmende Orientierungslosigkeit durch den Verlust des Glaubens an Gott,Vaterland und die Lauterkeit des Feldzuges. Die militärische Auseinandersetzung an sich bleibt allerdings zulässig, und insofern ist Rühle zuzustimmen, der die prinzipielle Übereinstimmung zwischen Renns Bellizismus und dem Kommunismus der Zwischenkriegszeit als kampf- und gewaltbereiter Ideologie und Bewegung zur Erreichung bestimmter Ziele hervorhob. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges war bekanntlich auch die DDR kein antimilitaristischer Staat, und so erschien der Erste Weltkrieg hier im Gegensatz zu legitimen antiimperialistischen Befreiungs- und Verteidigungskriegen vor allem als falscher Krieg im Dienste reaktionärer Interessen, auch wenn Renn in seinem Roman noch nicht zu dieser endgültigen Schlussfolgerung gelangt war.
Deutscher Schriftstellerverband (Hrsg.), IV. Deutscher Schriftstellerkongreß Januar 1956. Protokoll. Brandenburg 1956. Renns Wortmeldung findet sich im 2. Teil, S. 109 – 113, hier S. 110, 112– 113. Roscher, Achim: Umsetzung der Wirklichkeit. Gespräch mit Ludwig Renn. In: Neue Deutsche Literatur 26/3 (1978), S. 107– 115. Wiederabgedruckt in Renn, Krieg. Mit einer Dokumentation, S. 352– 356, hier S. 356.
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„Vom Nein zum Krieg bis zum Ja zur Revolution“ – Die Rezeption der Antikriegsliteratur der Weimarer Republik in der DDR „Der Arzt schüttelt den Kopf: Das soll einer begreifen: Ihr seid für den Frieden, aber dabei führt ihr Krieg! Thälmann entgegnet ruhig: Krieg und Krieg ist zweierlei, Herr Doktor.“¹
Diese Dialogszene, entnommen aus dem Film Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse von Kurt Maetzig, spielt inmitten der Oktoberkämpfe 1923 in Hamburg. Für den Arzt, der kein „Genosse“ ist und weder Ernst Thälmann noch die marxistischleninistische Theorie von gerechten und ungerechten Kriegen kennt, lässt sich der Widerspruch nicht auflösen. „Wofür et is, dadrauf kommt et an!“, versucht ihm ein verwundeter Arbeiter noch zu erklären. Wenn es im Folgenden um die Rezeption von Antikriegsliteratur über den Ersten Weltkrieg in der DDR geht, veranschaulicht die Filmszene die Schwierigkeiten, die sich bei der Beschäftigung mit dem Themenfeld von Krieg und Frieden ergeben. Die literarische Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg hatte aus Sicht der DDR mehrere Funktionen zu erfüllen. Ähnlich wie bei der geschichtswissenschaftlichen Weltkriegsforschung² sollten auch in der Literatur die Zusammenhänge zwischen Krieg und Imperialismus, Politik und Ökonomie sowie der Führungsanspruch der Kommunisten dargestellt werden. Insbesondere der Kampf der Arbeiterbewegung innerhalb der revolutionären Umwälzungen sollte von Schriftstellern positiv hervorgehoben und argumentativ unterstützt werden. Der sowjetische Literaturwissenschaftler Pawel Toper formulierte die Erwartung an einen Roman über den Ersten Weltkrieg folgendermaßen: Das Erwachen der Volksmassen zu aktivem gesellschaftlichen Handeln, zu revolutionären Aktionen war das geschichtlich Neue, das sich während des Ersten Weltkrieges ausgebildet hatte. Und jeder Roman, der Anspruch auf eine wahrheitsgetreue Darstellung des Ersten Weltkriegs erhebt, muß daran gemessen werden.³
Bredel, Willi u. Tschesno-Hell, Michael: Hamburg auf den Barrikaden. Auszug aus dem Szenarium zu dem Film „Ernst Thälmann“. In: Neues Deutschland, 13. 5. 1953, S. 4. Vgl. Klein, Fritz: Die Weltkriegsforschung der DDR. In: Hirschfeld, Gerhard [u. a] (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Paderborn 2009, S. 316 – 319, hier S. 316. Toper, Pawel: Wie klingt der Name Frieden jetzt. Der Krieg in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Berlin 1985, S. 114. https://doi.org/10.1515/9783110710847-009
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Exemplarisch sollen im Folgenden Autoren diskutiert werden, deren Werke, im Gegensatz zu beispielsweise Arnold Zweigs Der Streit um den Sergeanten Grischa oder Ludwig Renns Krieg, in der DDR nicht zum Kanon kriegskritischer Literatur zum Ersten Weltkrieg gehörten. Für den vorliegenden Beitrag wurden die Tageszeitungen Neues Deutschland, Berliner Zeitung und Neue Zeit systematisch gesichtet und analysiert sowie literaturwissenschaftliche Abhandlungen und Lexika herangezogen. Es soll sich der Frage angenähert werden, welche Faktoren im Sinne der marxistisch-leninistischen Theorie und Literaturkritik für eine positive oder negative Beurteilung von Autor und Werk ausschlaggebend waren. Welche Voraussetzungen musste das Werk in verschiedenen Phasen der Rezeption, aber auch – und vielleicht vor allem – der Autor mit seiner politischen Biografie erfüllen?
Die frühe Antikriegsliteratur – Andreas Latzko: Menschen im Krieg und Leonhard Frank: Der Mensch ist gut In der Erinnerungskultur der DDR war der politische Widerstand gegen den Ersten Weltkrieg unmittelbar mit dem Namen Karl Liebknechts⁴ verbunden, er galt als das „Symbol des internationalen Kampfes für den Frieden“.⁵ Die starke Hervorhebung der Rolle Liebknechts führte auch zu der Frage, inwieweit der beginnende literarische und publizistische Widerstand gegen den Krieg, der in Deutschland beispielsweise in Zeitschriften wie Die Aktion von Franz Pfemfert und Das Forum von Wilhelm Herzog vorgebracht wurde, als Zustimmung zu Liebknechts Positionen zu werten war. Der Schriftsteller Johannes R. Becher warf den frühen Kriegskritikern einen Mangel an Klarheit zusammen mit einer „Verwirrung der Gefühle“ vor.⁶ In Bechers Aussage spiegelt sich die Einschätzung wider, dass es insbesondere unter intellektuellen und linksbürgerlichen Kriegsgegnern aufgrund ihrer mangelnden Einsicht in die ökonomischen Verhältnisse und den Klassencharakter des imperialistischen Krieges zu keiner eindeutigen Positionierung gemäß der sozialistischen Kriegskritik gekommen sei. Erst im Verlauf des Krieges hätten die Schriftsteller „neue Wirklichkeitseinsichten“ gewonnen und
Vgl. den Beitrag von Rita Aldenhoff-Hübinger in diesem Band. Köhler, Willi: Der Widerhall. In: Neues Deutschland, 2.12.1964, S. 5. Vgl. Köhler, Der Widerhall.
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ihre Kritik auch auf „die materiellen, sozialen Vorgänge in der Gesellschaft, auf Kapitalinteressen, Machtkämpfe und ideologische Mechanismen“ bezogen.⁷ Um während des Ersten Weltkrieges staatlicher Verfolgung und der Repression durch die Zensur zu entgehen, suchten nicht wenige oppositionelle und pazifistische Autoren Zuflucht im Schweizer Exil. Die hier vor allem in den letzten beiden Kriegsjahren entstandene Antikriegspublizistik artikulierte die Friedenssehnsucht der Menschen und wirkte durch illegale Verbreitung auch über die Grenzen der Schweiz hinaus. Der Novellenband Menschen im Krieg (1917) von Andreas Latzko steht zusammen mit Leonhard Franks Der Mensch ist gut (1917) als frühes Beispiel dieser deutlichen Kriegskritik. Arnold Zweig erinnert sich 1935 anlässlich des Todes von Henri Barbusse an prägende Antikriegsbücher: Immer wartete ich voll Sehnsucht auf den Augenblick, wo ich in den Roman „Einsetzung eines Königs“ den Aufruhr schildern würde, den „Das Feuer“, „Der Mensch ist gut“ und „Menschen im Krieg“ in uns hervorbrachten. […] Mit glühenden Stirnen, brennenden Augen, trockenen Kehlen saßen wir über diesen Büchern und schauten in grenzenloser Dankbarkeit und leidenschaftlicher Verbundenheit über Tausende von Kilometern weg auf jene Schriftsteller, die in die Nacht des Krieges den ersten Stollen zum Ausgang, zum Tageslicht gegraben hatten.⁸
Andreas Latzko (1. 9. 1876 – 11. 9. 1943) nahm als Reserveoffizier der österreichischungarischen Armee am Ersten Weltkrieg teil. In den Kämpfen an der Isonzo-Front erlitt er einen Nervenzusammenbruch und wurde zu einem Kuraufenthalt in die Schweiz entlassen. Hier verfasste er erste Erzählungen, die anonym in schweizerischen Zeitungen und auch in René Schickeles Weißen Blättern erschienen. Menschen im Krieg wurde 1917 im Zürcher Max Rascher Verlag zunächst anonym publiziert und entwickelte sich schnell zu einem literarischen Erfolg.⁹ Nach dem 1918 erschienenen Roman Friedensgericht stand Latzko bereits auf dem Höhepunkt seines literarischen Schaffens.¹⁰ Der Autor gelte als „der deutsche Bar-
Kaufmann, Hans u. Schlenstedt, Silvia [u. a.]: Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 9: Vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis 1917, 2. Aufl., Berlin 1985, S. 343. Zweig, Arnold: Er rettete die Ehre der Literatur. In: Neues Deutschland, 27. 8. 1960, S. 8. Vgl. Billeter, Nicole: „Worte machen gegen die Schändung des Geistes!“ Kriegsansichten von Literaten in der Schweizer Emigration 1914/18. Bern 2005, S. 184. Vgl. Weichselbaum, Hans: Nachwort. In: Latzko, Andreas: Menschen im Krieg. Wien 2014, S. 166 – 182, hier S. 174.
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busse“, notiert Victor Klemperer 1919 anlässlich eines bevorstehenden Vortrags Latzkos in München in seinem Tagebuch.¹¹ In der DDR spielten aber weder der Autor noch sein Werk eine große Rolle, da sowohl Menschen im Krieg als auch Latzkos Biografie nur wenig Interesse am Klassenkonflikt erkennen ließen.¹² Latzkos Figuren drängte es trotz der erfahrenen Grausamkeiten nicht zu einer revolutionären Erhebung, ihre Ablehnung des Krieges blieb passiv. Die Novellensammlung bot der marxistischen Literaturkritik kaum positive Bezugspunkte und so wurde das Werk als Ganzes nicht wieder verlegt. Das Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller ordnet den Autor im Beitrag zu Wilhelm Lamszus ein und qualifiziert Menschen im Krieg als „pazifistische Novelle“ ab.¹³ Erst als der Aufbau-Verlag 1981 die Anthologie Deutschsprachige Erzählungen 1900 – 1945 in drei Bänden herausgab, tauchte Latzko als ein „fast Vergessene[r]“ mit der Novelle „Der Sieger“ aus Menschen im Krieg wieder auf.¹⁴ Nur ein Jahr später erschien „Der Sieger“ auch in dem Reclam-Band Sekunde durch Hirn. 21 expressionistische Erzähler, herausgegeben von Thomas Rietzschel. Latzkos satirische Erzählung handelt von einem alten General, der sich weitab der Front in einer Ortschaft eingerichtet hat und gar nicht genug vom Krieg bekommen kann. Er sieht im Kampf ausschließlich die positiven Wirkungen und es ängstigt ihn allein, dass der Krieg einmal vorüber sein könnte. Aber fernes Geschützfeuer vermag ihn zu beruhigen: „Gott sei Dank! Noch gab es Krieg.“¹⁵ Helmut Ullrich beschreibt die Novelle in seiner Besprechung des Reclam-Bands als Beispiel „jener konsequenten Antikriegshaltung, die für die meisten Expressionisten charakteristisch war – als sarkastisch genaue Beschreibung militaristischer Mentalität“.¹⁶ Ein weiteres Mal erschien Latzkos „Der Sieger“ in der Anthologie Vor Verdun verlor ich Gott. Geschichten von Menschen im Krieg, 1985 von Rudolf Chowanetz im Verlag Neues Leben herausgebracht. Angesichts der Bedrohung
Klemperer, Victor: Man möchte immer weinen und lachen in einem. Revolutionstagebuch 1919. Berlin 2015, S. 53. Vgl. Barker, Andrew: „Ein Schrei, vor dem kunstrichterliche Einwendungen gern verstummen“. Latzko, Andreas: Menschen im Krieg (1917). In: Schneider, Thomas F. u.Wagener, Hans: Von Richthofen bis Remarque: Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg. Amsterdam/New York 2003, S. 85 – 96, hier S. 86. Böttcher, Kurt [u. a.] (Hrsg.): Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 2. Leipzig, 1968, S. 8. Vgl. Neue Zeit, 27. 7. 1981, S. 4. Latzko, Menschen, S. 101. Neue Zeit, 13. 12. 1982, S. 4.
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durch einen Nuklearkrieg müsse es die Leser des Bandes nach der Lektüre dazu drängen, „alle Kräfte gegen die imperialistische Kriegsdrohung einzusetzen“.¹⁷ Während Andreas Latzko also fast zu den vergessenen Autoren zählt, ist Leonhard Frank (4. 9. 1882– 18. 8. 1961) ein geradezu prominenter Autor gewesen. Schon vor dem Ersten Weltkrieg betätigte er sich schriftstellerisch, sein Roman Die Räuberbande wurde 1914 zu einem großen Erfolg. Im Schweizer Exil verfasste Frank ab 1916 kriegskritische Novellen, die 1917 bei Max Rascher als Der Mensch ist gut erschienen. In Deutschland konnte das Werk erst 1919 bei Gustav Kiepenheuer verlegt werden. Zu Leonhard Franks 65. Geburtstag schrieb das Neue Deutschland 1947 über den Autor, dieser sei von „revolutionärem Schwung erfüllt“ und habe „die imperialistischen Ursachen des Krieges klar erkannt“. Der Mensch ist gut habe dieselbe Wirkung ausgelöst, wie Das Feuer von Henri Barbusse und sei trotz des versöhnlichen Titels „eine heftige bittere Anklage gegen den imperialistischen Krieg“ gewesen. Der Artikel schließt mit der Hoffnung, „daß mit seinen Büchern er selbst recht bald den Weg zu uns zurückfindet“.¹⁸ Doch Frank ließ sich kurz nach seiner Rückkehr aus den USA in München nieder. Zu Franks 70. Geburtstag findet Alexander Abusch kritischere Worte zum Werdegang des Autors und zu Der Mensch ist gut. Die Novellensammlung sei „vorwiegend auf einen abstrakten Pazifismus beschränkt“, trotzdem „dämmerte in ihr doch schon die Erkenntnis (und wurde ausgesprochen): daß man für solche gesellschaftlichen Zustände kämpfen müsse, die den Menschen ermöglichen, wirklich gut zu sein“. Franks Werdegang sei dabei nicht „geradlinig“ verlaufen. Da er in seiner Jugend nicht früh genug mit der „marxistischen Theorie und Praxis der Arbeiterbewegung bekannt geworden war“, blieb er zunächst ein „einsamer und individualistisch Suchender“. In den 1920er-Jahren habe Frank um „sein eigenes entschiedenes Bekenntnis zum Kampf für den Sozialismus“¹⁹ gerungen, doch letztlich trat der Autor konsequent für den Sozialismus und gegen den Faschismus ein. Daher sei es eine „Ehrenaufgabe“, Franks Bücher den Werktätigen in der DDR zugänglich zu machen, so Abusch. In der Folge erschienen etliche Texte Franks in Anthologien, seine Romane und Erzählungen wurden wieder herausgebracht. 1955 erhielt Leonhard Frank den Nationalpreis 1. Klasse der DDR sowie zwei Jahre später ein Ehrendoktorat der Berliner Humboldt-Universität. Die Festredner der Veranstal-
Böttcher, Kurt: Geschichten vom Krieg – Appelle für den Frieden. In: Neues Deutschland, 4. 3. 1985, S. 4. „Der Mensch ist gut“. Leonhard Frank zum 65. Geburtstag. In: Neues Deutschland, 4. 9. 1947, S. 3. Abusch, Alexander: Ein deutscher Meister der Erzählung. Zu Leonhard Franks 70. Geburtstag. In: Neues Deutschland, 4. 9. 1952, S. 4.
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tungen hoben in ihren Ansprachen die künstlerische und humanistische Bedeutung der Werke Franks hervor und betonten, wie eng verbunden sich der Autor mit den Menschen in der DDR fühle.²⁰ Insbesondere zu Gedenktagen erinnerten sich DDR-Autoren an die Wirkung, die Der Mensch ist gut während des Ersten Weltkrieges entfaltete. „‚Eine aufwühlende Lektüre‘, blickt Willi Bredel zurück, ‚sie ging in unserem Kreis, von Hand zu Hand.‘ Damit auch ältere Kameraden an der Front sie lesen konnten, schrieben er und seine Freunde sie ab und vervielfältigten sie mühsam.“²¹ Auch für Albert Norden wurde die Lektüre zu einem Erweckungserlebnis. Norden beschreibt die Zeit vor seinem Beitritt in die Freie Sozialistische Jugend: „Vorher hatte ich im Sommer 1918 ein Erlebnis, dessen aufwühlende Wirkung heute schwer erklärbar ist. Um jene Zeit kursierten illegal in Schreibmaschinenabschrift Kapitel aus Leonhard Franks ‚Der Mensch ist gut‘.“²² Zwar sei bei Frank weder „die Rede von der Krise einer Gesellschaftsstruktur“ gewesen, noch stellte sein „radikaler Pazifismus“ die Frage nach „der kapitalistischen Klassenherrschaft und einer neuen Ordnung der sozialen Beziehungen“. Doch angesichts der furchtbaren Umstände „mußten Franks novellenartige Aufrufe gegen den Krieg die Herzen packen“. Willi Köhler erinnert sich, dass Franks Novelle „Der Vater“ aus Der Mensch ist gut bei der Wiederkehr Karl Liebknechts 1918 in Berlin verteilt wurde: „Was hatte die jungen Proletarier bewogen, hier, wo Liebknecht sprach, die Geschichte vom Servierkellner Robert zu vertreiben […]? Doch wohl dies: Diese Erzählung, deren Verbreitung die kaiserlich-imperialistische Monarchie verboten hatte, sollte dabei sein, sollte mitwirken, wo die Ausgebeuteten antraten, um die politische Macht zu erobern.“²³ Frank selbst hatte das Ende seines Buchs für die Fassung von 1919 noch einmal überarbeitet und die beschriebenen Massenproteste konkret mit dem Namen Karl Liebknechts verbunden: „Die Bekenner der Wahrheit verlassen die aufspringenden Zuchthauszellen, finden den Zug, geführt von dem Einen, dessen Namen die ganze Menschheit kennt und ehrt: Liebknecht!“²⁴ Für Franks Antikriegswerk begann damit eine Phase der Historisierung. Als der Aufbau-Verlag 1957 die Gesammelten Werke Franks in sechs Bänden herausgab, befand sich Der Mensch ist gut nahezu versteckt im 6. Band der „Erzählun-
Ehrendoktor für Leonhard Frank. In: Neues Deutschland, 20. 9. 1957. Er stand links, wo das Herz ist. Gedenkstunde der Akademie für Leonhard Frank. In: Neues Deutschland, 26. 9. 1962, S. 4. Norden, Albert: Wie ich zur Arbeiterbewegung kam. In: Neues Deutschland, 12. 12. 1964, S. 9. Köhler, Willi: 500 Jahre Monopol der Gewalt. Wo Geist Macht geworden ist. In: Neues Deutschland, 19. 10. 1968, S. 3. Frank, Leonhard: Der Mensch ist gut. Potsdam 1919, S. 139.
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gen“. Eine eigenständige Publikation erschien erst wieder 1967 im Reclam-Verlag (2. Auflage: 1974). Die Novellensammlung stand nun beispielhaft für „die Schaffensperiode, die Leonhard Frank beginnt, als er 1918 nach Deutschland und nach Berlin heimkommt“.²⁵ Erst hier, „[z]u Beginn der zwanziger Jahre befasst er sich nun auch ernsthaft mit der Theorie des Marxismus“.²⁶ Der Mensch ist gut wurde so dem Frühwerk zugeordnet, in die Zeit vor der politischen Bewusstwerdung, die den Autor zumindest „gefühlsmäßig zum Sozialismus“²⁷ führte. Die Rezeption und Bewertung der frühen Antikriegsliteratur orientierte sich stark daran, wie Autoren das revolutionäre Ende des Krieges literarisch gestalteten. Im Fall von Franks Der Mensch ist gut bestand in der untersuchten Presse und Literatur an einer weitergehenden Beschäftigung mit dem Inhalt, der vor allem über alltagsgeschichtliche Phänomene des Krieges hätte Auskunft geben können, kaum Interesse. Aufgrund Franks pazifistischer Darstellung, die sich beispielsweise vehement gegen eine militaristische Erziehung von Kindern und Jugendlichen aussprach, lag der Fokus der Interpretation fast gänzlich auf dem Ende des Buches, das mit Karl Liebknecht das Symbol des revolutionären Widerstands gegen den Krieg präsentierte. Franks politische Biografie und vor allem seine Sympathiebekundungen gegenüber dem Sozialismus machten ihn in der DDR zu einem überaus geachteten Autor, dessen Gesamtwerk dem Beginn der Entwicklungslinie der sozialistischen Literatur und damit dem humanistischen Kulturerbe zugeordnet wurde.²⁸
Die Antikriegsliteratur der 1920er-Jahre – Adam Scharrer: Vaterlandslose Gesellen Seit Mitte der 1920er-Jahre stieg in der Weimarer Republik das öffentliche Interesse an Antikriegsliteratur. Arnold Zweigs Grischa, Ludwig Renns Krieg und Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues wurden nicht zuletzt durch die Veröffentlichung als Fortsetzungsromane im Feuilleton zu großen Erfolgen und erschlossen neue Leserschichten. In der DDR nahm Zweigs Grischa eine Sonder-
Dippel, Gerhardt: Erfüllt von neuem Gefühl für Deutschland. Zum 75. Geburtstag von Leonhard Frank. In: Neues Deutschland, 31. 8. 1957, S. 10. Dippel, Erfüllt von neuem Gefühl. Emmrich, Christian: Sein Herz schlug für den arbeitenden Menschen. Zum 90. Geburtstag von Leonhard Frank. In: Neues Deutschland, 4. 9. 1972, S. 4. Vgl. Abusch, Alexander: Humanismus und Realismus in der Literatur, 4. Aufl., Leipzig 1971, S. 302.
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stellung innerhalb der deutschen Literaturgeschichte ein. Russische Menschen werden hier als die Träger der Revolution dargestellt und die Hauptfigur Grischa, ein russischer Soldat, bleibt als Objekt der Gewalt nicht passives Opfer, sondern lehnt sich gegen die reaktionäre Gewalt auf.²⁹ Aus volkspädagogischer Perspektive wurde insbesondere die „erzieherische Lebensfülle in Arnold Zweigs Kriegsepik“³⁰ hervorgehoben, die sich programmatisch im Titel seines Romans Erziehung vor Verdun zeigt. Inhaltlich stellt Zweig damit dem Topos der „verlorenen Generation“ den einer „unerfahrenen Generation“ gegenüber, für die der Krieg den Beginn eines Reifeprozesses markierte, an dessen Ende die konsequente Parteinahme für den Sozialismus stand. Neben den Werken bürgerlich-humanistischer Autoren bildete sich in den 1920er-Jahren eine proletarische Literatur heraus, deren Vertreter sich ebenfalls mit der Verarbeitung des Kriegserlebnisses auseinandersetzten. Adam Scharrer (13. 7. 1889 – 2. 3. 1948) gehörte zu diesen proletarisch-revolutionären Schriftstellern. Sein autobiografisch angelegter Roman Vaterlandslose Gesellen erschien 1929/1930 mit dem Untertitel „Das erste Kriegsbuch eines Arbeiters“. Scharrers Held, der Metallarbeiter Hans Betzoldt, erlebt den Krieg als Soldat an der Front, als Arbeiter in Rüstungsbetrieben und im sozialdemokratischen Freundes- und Familienkreis in der Heimat. In der DDR wurden Scharrers Bücher schon früh wieder aufgelegt, wobei das Interesse zunächst fast ausschließlich seinem Roman Maulwürfe. Ein deutscher Bauernroman (1934) galt, der 1951 mit der ersten Serie der Bibliothek fortschrittlicher deutscher Schriftsteller erneut erschien.³¹ Die Neuauflage der Vaterlandslosen Gesellen im Aufbau-Verlag 1951³² wurde hingegen in der untersuchten Presse kaum registriert. Die Neue Zeit bespricht das Buch äußerst knapp zusammen mit Scharrers ebenfalls wiederveröffentlichtem Roman Der große Betrug (1931): „Scharrers Roman ‚Vaterlandslose Gesellen‘ bedeutet, wie Ludwig Renn meint, ‚vielleicht den letzten Schritt in der Literatur über den Weltkrieg‘.“³³ Dieses Zitat Renns aus einer zeitgenössischen Besprechung legitimierte das Werk und begleitete fast jede Nennung des Romans in der untersuchten DDR-Presse.
Vgl. Toper, Der Name Frieden, S. 67. Rilla, Paul: Vom bürgerlichen zum sozialistischen Realismus. Leipzig 1967, S. 112. Vgl. Neues Deutschland, 6. 1. 1951, S. 3. Vgl. Jacob, Herbert: Literatur in der DDR. Bibliographische Annalen 1945 – 1962. Berlin 1986, S. 261. Neue Zeit, 11. 11. 1951, S. 5.
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Im Artikel „Dichter der Arbeiter und Bauern“³⁴ zum 10. Todestag des Schriftstellers geht Horst Haase näher auf Vaterlandslose Gesellen ein. Das Buch habe eine „unmittelbar aktuelle politische Aufgabe“ und „greift direkt in den politischen Kampf ein“. Der reaktionären und nationalistischen Kriegsliteratur setze Scharrer „das Beispiel proletarischer Kampfbereitschaft gegen den Krieg in den Gestalten der Kämpfer um Karl Liebknecht entgegen“. Im Mittelpunkt von Haases Interpretation steht allerdings Scharrers Leistung bei der Darstellung der Klassenbeziehungen von Bauernschaft und proletarischen Arbeitern. Dazu zitiert Haase einen Auszug, worin ein mit Betzoldt befreundeter Bauer und Kriegskamerad darauf hinweist, dass es ohne die Hilfe der Landbevölkerung keine erfolgreiche Revolution geben könne. Anhand dieser kurzen Szene, deren Repräsentativität für das gesamte Buch jedoch infrage gestellt werden kann, wird Vaterlandslose Gesellen mit der Gesamtinterpretation Scharrers als volkstümlichem Schriftsteller in Einklang gebracht. In den folgenden Jahren bezogen sich Gedenkartikel für Scharrer wesentlich auf seine Bauerndarstellungen und sahen den Autor als einen der Begründer des sozialistischen Dorfromans. So trägt der Beitrag im Neuen Deutschland anlässlich Scharrers siebzigsten Geburtstags 1959 den Titel „Bauernleben in neuer Sicht“.³⁵ Auch im Fall Adam Scharrers dürfte die politische Biografie des Autors ausschlaggebend für die Interpretation des Werks gewesen sein. Scharrer nahm in den 1920er-Jahren eine einflussreiche Position innerhalb der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD) ein. Hierüber herrschte aber in der Literaturwissenschaft der DDR zunächst ein Zustand des „beredten Schweigens“.³⁶ In Vaterlandslose Gesellen spiegelte sich der aus DDR-Sicht nicht unproblematische politische Werdegang des Autors. Zwar schätzte das Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller den ideologischen Einfluss der KAPD auf das Werk Scharrers als „verhältnismäßig gering“³⁷ ein, doch könnten politische Vorbehalte ein Grund für die Verzögerung des Erscheinens der Vaterlandslosen Gesellen in den Gesammelten Werken in Einzelbänden gewesen sein. „Obwohl als erster Band dieser
Haase, Horst: Dichter der Arbeiter und Bauern. Zum 10. Todestag Adam Scharrers. In: Neues Deutschland, 1. 3. 1958, S. 8. Arndt, Franziska: Bauernleben in neuer Sicht. Zum siebzigsten Geburtstag Adam Scharrers. In: Neues Deutschland, 11. 7. 1959, S. 8. Fähnders, Walter u. Rector, Martin: Linksradikalismus und Literatur. Untersuchungen zur Geschichte der sozialistischen Literatur in der Weimarer Republik, Bd. 2. Reinbek bei Hamburg 1974, S. 243. Böttcher [u. a.] (Hrsg.), Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller, Bd. 2, S. 406.
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Reihe vorgesehen und später auch als solcher ausgezeichnet, schob man fünf andere Bände vor und wartete bis 1974.“³⁸ Erst gegen Ende der 1970er-Jahre wurde thematisiert, dass das Frühwerk Scharrers „linksradikale Grundpositionen“³⁹ aufweise. Demnach fuße Scharrers literarische Entwicklung auf „proletarisch-anarchistischen Traditionen“⁴⁰ und die Zentralfiguren in Vaterlandslose Gesellen seien „rebellierende Außenseiter mit anarchistischen Zügen“.⁴¹ Nach dem Ende der DDR wurde Scharrer in der Neuen Zeit als „Anarchist“ und „ultralinke[r] Anarcho-Rebell“ bezeichnet.⁴² Ähnlich wie bei Leonhard Frank ordnete die DDR-Literaturkritik auch Scharrers Antikriegsbuch zeitlich einer Schaffensphase des Autors zu, in der dieser noch nicht gänzlich im Sinne der sozialistischen Tradition geschrieben habe. Aus dem „schreibenden Arbeiter“ der späten Weimarer Republik entwickelte sich erst „im Exil ein Schriftsteller von Format“.⁴³ Für die Vaterlandslosen Gesellen bedeutete dies, dass auch „Das erste Kriegsbuch eines Arbeiters“ in der DDR nicht als Musterbeispiel eines Antikriegsromans gelten konnte.
Literaturpolitische Entspannung in der DDR der 1980er – Edlef Köppen: Heeresbericht und Alexander Moritz Frey: Die Pflasterkästen Spätestens seit Beginn der 1980er-Jahre kam es in der DDR bei der Rezeption von Antikriegsliteratur des Ersten Weltkrieges zu einer literaturpolitischen „Entspannung“, die sich vor allem anhand von Wiederveröffentlichungen bisher nicht beachteter Romane aus der Weimarer Republik und an einer Verschiebung der Bewertungskriterien erkennen lässt. Diese Erweiterung des Kanons kriegskritischer Publikationen ging mit einer weit weniger dogmatischen Bewertung der Autoren und ihrer Werke einher. Dittmann, Ulrich: Das erste Kriegsbuch eines Arbeiters. Adam Scharrer: Vaterlandslose Gesellen (1930). In: Schneider/Wagener, Von Richthofen bis Remarque, S. 375 – 386, hier S. 376. Fähnders/Rector, Linksradikalismus und Literatur, S. 249. Nössig, Manfred: Revolutionärer Auftakt einer neuen Literatur. Zum 50. Jahrestag der Gründung des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. In: Neues Deutschland, 18. 10. 1978, S. 4. Kaufmann, Hans [u. a.]: Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 10: Von 1917 bis 1945. 2. Aufl., Berlin 1978, S. 310. Borchert, Jürgen: Mecklenburgische Spaziergänge. In: Neue Zeit, 29. 2. 1992, S. 21. Hammer, Franz: Das Bündnis von Dorfarmen und Arbeiterklasse war sein Thema. In: Neues Deutschland, 17. 4. 1980, S. 4.
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1981 erschien im Verlag der Nation der Roman Heeresbericht von Edlef Köppen (1. 3. 1893 – 21. 2. 1939) mit einem Nachwort von Wolfgang U. Schütte. Das Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller ordnet Köppen, wie auch Andreas Latzko, im Eintrag zu Wilhelm Lamszus ein und zählt Heeresbericht zu den bürgerlichen Antikriegsbüchern, „die ein Gegengewicht gegen die kriegsverherrlichende Literatur“ bildeten, aber „durch ihre im Gefolge der sog. Neuen Sachlichkeit angestrebte Zustandsschilderungen nur einen begrenzten Wirkungsradius hatten“.⁴⁴ In der Besprechung der Neuauflage wurde auf Köppens Verfahren der Kontrastierung hingewiesen: „[D]em offiziellen Heeresbericht und anderen zeitgenössischen Dokumenten stellt er das Erleben des Blutbades entgegen. So entlarvt er die imperialistische Kriegspropaganda und verdeutlicht den Erkenntnisprozess seiner Figur, die autobiografische Züge trägt.“⁴⁵ Schütte geht in seinem Nachwort auf die Darstellung von Köppens Hauptfigur Adolf Reisinger ein. Nachdem der Kriegsfreiwillige Reisinger die Materialschlachten an der Westfront durchlief, erlebte er Ende 1917 an der Ostfront, wie die friedlichen Begegnungen deutscher und russischer Soldaten von der Heeresleitung unterdrückt wurden. Reisingers leidenschaftliche Anklage gegen den Krieg sei noch „nur private Auflehnung, doch Reisinger wird dabei nicht stehenbleiben – auch wenn das nicht mehr Gegenstand des ‚Heeresbericht‘ ist“.⁴⁶ Bisher spielte bei der Bewertung eines Romans die Darstellung der großen persönlichen Veränderung der Hauptfigur eine entscheidende Rolle, also die exemplarische Wandlung einer als passiv, bürgerlich, nicht-proletarisch, pazifistisch oder individualistisch dargestellten Figur hin zu einem aktiven Mitkämpfer für die Revolution, der durch seine Kriegserfahrungen Einsicht in die ökonomischen und sozialen Ursachen des imperialistischen Weltkrieges gewann und sich konsequent an die Seite des revolutionären Proletariats stellte. Die Bewertung von Köppens Heeresbericht veranschaulicht die weniger dogmatische Kritik in den 1980er-Jahren. Nun wurde schon der Erkenntnisprozess an sich als positives Merkmal des Romans hervorgehoben. Die Figur des Soldaten Reisinger hatte den nächsten Schritt, den Übergang von privater Rebellion hin zu direkter revolutionärer Aktion, innerhalb der Romanhandlung gar nicht unternommen. Für die Kritik Schüttes war das aber nicht ausschlaggebend, er würdigte die in der literarischen Darstellung Köppens angelegte Wandlungsfähigkeit der Figur. Mit Alexander Moritz Freys (29. 3. 1881– 24. 1. 1957) Roman Die Pflasterkästen. Ein Feldsanitätsroman von 1929 gelang dem Gustav Kiepenheuer Verlag 1984 eine Böttcher [u. a.] (Hrsg.), Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller, Bd. 2, S. 8. Zeugnisse eines Überlebenden. In: Berliner Zeitung, 8. 5. 1982, S. 10. Schütte, Wolfgang U.: Nachwort. In: Köppen, Edlef: Heeresbericht. Berlin 1981, S. 361– 369, hier S. 368.
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Wiederentdeckung. Frey und sein Antikriegsroman waren bis zu dieser Wiederherausgabe vollkommen in Vergessenheit geraten. In seinem Nachwort zeichnet Herbert Greiner-Mai den Lebensweg Freys nach, der ihn während des Ersten Weltkrieges als Sanitätsunteroffizier in das bayrische Infanterieregiment führte, dem auch Adolf Hitler angehörte.⁴⁷ Zur Einordnung des Buchs bezieht sich Greiner-Mai auf eine Debatte über pazifistische Kriegsliteratur, die 1929 unter anderem von Karl Hugo Sclutius und Arnold Zweig in der Zeitschrift Die Weltbühne geführt wurde.⁴⁸ Sclutius argumentiert, dass Antikriegsromane wie Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues und Ludwig Renns Krieg auch kriegsverherrlichend wirken können. Die literarische Darstellung der Grausamkeiten des Krieges schrecke nicht notwendigerweise ab, sondern mache die Gefahr insbesondere für jugendliche Leser nur reizvoller. Den genannten Antikriegsbüchern von Remarque und Renn sei es nicht gelungen, „die alte Freude am Krieg als unbürgerlicher Lebensform, als Gelegenheit zum großen Abenteuer“⁴⁹ zu zerstören, so Zweig. Den dokumentarisch-autobiografischen Pflasterkästen attestiert Greiner-Mai, dass sie ganz im Sinne Zweigs die Lüge vom abenteuerlichen Krieg zerstören würden. Aber Freys Roman biete „keine Anleitung zum Handeln“ und sei von einer „pazifistischen Wehrlosigkeit“ geprägt. Dennoch stelle das Werk angesichts eines „drohenden dritten Völkermordens“ eine „unübersehbare Mahnung“ dar. Es müsse allein deshalb wieder aufgelegt werden, „um Menschen aller politischen und religiösen Konfessionen wachzurütteln und zu mobilisieren“.⁵⁰ Trotz der Kritik, die sich erwartungsgemäß auf die pazifistische Darstellung in den Pflasterkästen bezog, sah Greiner-Mai in Freys Roman das Potential, Wirkung zu entfalten, in einer Zeit, in der der Frieden höchst gefährdet schien. Der Bezug auf die Weltbühne-Debatte eröffnete die Möglichkeit, neu über die Rolle von Antikriegsliteratur in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext nachzudenken. Die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Bock knüpft in den 1980er-Jahren mit ihren Beiträgen ebenfalls an die Literaturdebatten der späten Weimarer Republik an, um die Bedeutung und Wirkungsweisen von Antikriegsliteratur für die Gegenwart zu diskutieren.⁵¹ Dabei reflektiert sie auch die Unversöhnlichkeit, mit der
Vgl. Greiner-Mai, Herbert: Nachwort. In: Frey, Alexander Moritz: Die Pflasterkästen. Ein Feldsanitätsroman. Leipzig/Weimar 1984, S. 247– 254, hier S. 250. Vgl. Sclutius, Karl Hugo: Pazifistische Kriegspropaganda. In: Die Weltbühne, 2. 4. 1929, S. 517– 522; Zweig, Arnold: Kriegsromane. In: Die Weltbühne, 16. 4. 1929, S. 597– 599. Zweig, Kriegsromane, S. 597. Greiner-Mai, Nachwort, S. 254. Vgl. Bock, Sigrid: Wirkungsbedingungen und Wirkungsweisen der Antikriegsliteratur in der Weimarer Republik. In: Zeitschrift für Germanistik 5 (1984) 1, S. 19 – 32; Dies.: Antikriegsliteratur zwischen zwei Weltkriegen – Bemerkungen zu Wirkungsbedingungen und Wirkungsweise
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sich die Debattenteilnehmer aus verschiedenen weltanschaulichen und sozialen Lagern gegenüberstanden.⁵² Während die Diskussion in den 1920er-Jahren über literarische Schwächen einzelner Romane und eine damit verbundene eingeschränkte Wirksamkeit geführt wurde, drohte das übergreifende gemeinsame Ziel, nämlich die Erhaltung des Friedens und die Bekämpfung des Faschismus, aus dem Blick zu geraten. In Bezug auf die Debatte um Remarques Bestseller und dessen ebenso erfolgreiche Verfilmung schrieb Carl von Ossietzky in der Weltbühne: „Es handelt sich nur darum, ob eine bestimmte maßvoll pazifistische Denkungsart, die über Millionen von Anhängern verfügt, […] noch weiterhin erlaubt sein soll oder nicht.“⁵³ Ossietzky habe damit „auf den gesellschaftlichen Systemzusammenhang auch literarischer Wirkungen aufmerksam gemacht“,⁵⁴ urteilt Bock und verweist auf die Fähigkeit öffentlich ausgetragener Kontroversen um die Antikriegsliteratur, „Abwehrkräfte“ zu aktivieren und „und im Kollektiv kriegsverweigernde Haltungen einzuüben“.⁵⁵ Die Wiederentdeckung und Neubewertung kriegskritischer Literatur aus der Zeit der Weimarer Republik geschah vor dem Hintergrund der Proteste gegen die atomare Aufrüstung und der Entstehung einer Friedensbewegung in West- und Ostdeutschland in den 1980er-Jahren. Antimilitaristische und pazifistische Werke wurden nun verstärkt als ein Beitrag zur Sicherung des Friedens interpretiert und konnten damit Bestandteil des literarischen Erbes der DDR werden. Bei der Bewertung der Romane erfolgte ein inhaltlicher Rückgriff auf literaturpolitische Debatten der 1920er-Jahre, deren Teilnehmer ein parteienübergreifendes Bündnis im Kampf gegen den Faschismus und für den Frieden anstrebten. Sigrid Bocks Analyse des besonderen „Gesprächscharakters“⁵⁶ von Antikriegsliteratur in der Weimarer Republik und ihre Feststellung, dass eine „Diskussion um ein Buch sich zugleich zu einem Versuch gegenseitigen Gewinnens von Bündnispartnern für den Kampf um Frieden und soziale Gerechtigkeit gestaltete“,⁵⁷ lässt sich auf die liberalere kulturpolitische Situation in der DDR der 80er übertragen.
deutscher Literatur. In: Friedliche Koexistenz. Erfahrungen – Chancen – Gefahren. Berlin 1987, S. 87– 131. Vgl. Bock, Wirkungsbedingungen, S. 30. Ossietzky, Carl von: Remarque-Film. In: Die Weltbühne, 16. 12. 1930, S. 889. Bock, Wirkungsbedingungen, S. 26. Bock, Wirkungsbedingungen, S. 28. Bock, Wirkungsbedingungen, S. 27. Bock, Antikriegsliteratur, S. 131.
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Schlussbetrachtungen In der DDR orientierten sich die Bewertungskriterien für Antikriegsliteratur zum Ersten Weltkrieg nach der Theorie des Marxismus-Leninismus an der Unterscheidung zwischen ungerechten, reaktionären Kriegen und gerechten, revolutionären Kriegen. Die literarische Kriegskritik sollte sich nicht in der moralischen Verdammung des Krieges im Allgemeinen erschöpfen, sondern die politischen und ökonomischen Ursachen sowie die historischen Besonderheiten des Konflikts aufdecken. Pazifistische Werke, die mit ihrer Darstellung der Gräuel des Krieges auch eine Abscheu vor gerechten Kriegen hätten hervorrufen können und ohne revolutionären Anspruch auftraten, mussten in der DDR-Literaturkritik auf Ablehnung stoßen. Die Kapitelüberschrift „Vom Nein zum Krieg bis zum Ja zur Revolution“ aus der Geschichte der deutschen Literatur ⁵⁸ kann zusammenfassend für den Anspruch stehen, der in der DDR an Antikriegsliteratur gestellt wurde. Für eine positive literaturkritische Bewertung eines Werks mussten Romanfiguren eine Wandlung durchlaufen, die von der Ablehnung und Bekämpfung des imperialistischen Weltkrieges zur Unterstützung der sozialistischen Revolution führte. Eine literarische Darstellung dieses idealtypischen Lernprozesses war ganz im Sinne des pädagogischen Anliegens der DDR-Kulturpolitik. Mit der Interpretation und Neubewertung literarischer Strömungen sowie einzelner Werke verfolgte die DDR-Kulturpolitik konkrete Ziele der innen- und außenpolitischen Einflussnahme. So diente die Beschäftigung mit der proletarisch-revolutionären Literatur der Zwanziger- und Dreißigerjahre in der DDR ab Mitte der 1950er-Jahre unter anderem „der ideologischen Disziplinierung der gegenwärtigen Autoren.“⁵⁹ Dieser Befund lässt sich auch auf den Umgang mit Antikriegsliteratur zum Ersten Weltkrieg übertragen. Das Vorwort des Buchs Frieden – Krieg – Militarismus im kritischen und sozialistischen Realismus von 1961 richtet sich direkt an Schriftsteller der Gegenwart und möchte mit dem Hinweis auf die Tradition antiimperialistischer und kriegskritischer Werke zum kritischen Umgang mit der Militarisierung der Bundesrepublik anregen sowie vor „Irr- und Umwegen“ warnen.⁶⁰ Insofern spiegeln sich in der Literaturkritik der DDR die Grenzen des Sagbaren und zugleich die zu vermittelnden gesellschaftspolitischen Werte im ideologischen Kampf mit der Bundesrepublik wider, wobei der Rückgriff
Kaufmann/Schlenstedt [u. a.], Geschichte der deutschen Literatur, S. 349. Schiller, Dieter: Antwort auf einige Fragen eines Bundesdeutschen zur DDR-Literatur. In: Heyer, Andreas (Hrsg.): Diskussionen aus der DDR: Festschrift für Siegfried Prokop. Bd. 2. Norderstedt 2015, S. 11– 39, hier S. 26. Vgl. Bock, Wirkungsbedingungen, S. 31 f.
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auf Antikriegsliteratur die Friedenspolitik der DDR unterstreichen sollte. Insgesamt steht zu vermuten, dass Neuauflagen bestimmter Bücher auch als literarische Kommentare zum politischen Zeitgeschehen zu verstehen sind. Franz Werfels Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh (1933), der den Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges schildert, erschien 1955 im AufbauVerlag, kurz nach der Beilegung des Gebietskonflikts zwischen der Sowjetunion und der Türkei in den Jahren 1945 bis 1953. Die Neuauflage von Johannes R. Bechers Levisite oder Der einzig gerechte Krieg (1926) im Jahr 1985 kann mit seiner Thematik eines bevorstehenden Krieges mit chemischen Massenvernichtungswaffen als ein Kommentar zur atomaren Aufrüstung in den 1980er-Jahren gelesen werden. Die Rezeption der Antikriegsliteratur in der DDR erfolgte innerhalb eines besonderen Spannungsfelds von postulierter Friedenspolitik und gleichzeitiger Militarisierung von Staat und Gesellschaft. Kriegskritische Werke über den Ersten Weltkrieg waren Instrumente in ideologischen Deutungskämpfen, dienten der Legitimierung gesellschaftspolitischer Haltungen und wurden als Teil eines literarischen Erbes reklamiert. Die Analyse der literaturkritischen Interpretation und Deutung dieser Bücher in der DDR gibt dabei möglicherweise weniger Aufschluss über die Sicht auf den Ersten Weltkrieg und seine literarische Verarbeitung, als über die Verfasstheit der Gesellschaft und Politik der DDR in einem bestimmten Zeitabschnitt ihrer Geschichte.
Olaf Müller
Immer nur Barbusse? Der französische Kriegsroman in der DDR Französische Literatur zum Ersten Weltkrieg hat im deutschsprachigen Raum nach 1945 kaum noch jemand gelesen und erst recht nicht verlegt. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Buchmärkte in Ost- und Westdeutschland zwischen 1945 und 1990 nicht wesentlich. In beiden Teilen Deutschlands war infolge der Erfahrung des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges das Interesse an literarischen Darstellungen des Ersten Weltkrieges verständlicherweise sehr gering geworden, egal, ob es sich dabei um deutsche oder fremdsprachige Texte handelte. Selbst von der deutschsprachigen Literatur zum Ersten Weltkrieg wurde nach 1945 außer Remarque und Jünger in Deutschland kaum noch etwas neu aufgelegt, umso weniger kann man daher mit Neuauflagen oder gar Neuübersetzungen französischer Texte in besonderer Zahl rechnen. Wenn wir nun nach dem „roten Erbe der Front“ auf dem Literaturmarkt der DDR suchen, können wir also damit rechnen, dass wir es mit einem überschaubaren Textbestand zu tun haben, selbst wenn wir die deutschsprachige Literatur mit einbeziehen.
Im Westen und im Osten wenig Neues? Wenn man aber auch die deutschsprachige Literatur berücksichtigt, hat man mit Ludwig Renn und Arnold Zweig gleich zwei der wichtigsten Verfasser von Antikriegsliteratur der Weimarer Zeit, die in der DDR zu den bekanntesten und auflagenstärksten Autoren gehören. Arnold Zweigs Streit um den Sergeanten Grischa von 1927 und Erziehung vor Verdun von 1935 und Ludwig Renns Krieg von 1928 und Nachkrieg von 1930 wurden nach 1945 in der SBZ und der DDR regelmäßig aufgelegt, sowohl in Einzelausgaben als auch innerhalb der Werkausgaben, die beiden Autoren zuteil wurden. Während Arnold Zweig bis weit in die 1960er-Jahre nur in der DDR verlegt wurde, und Ludwig Renn sogar bis Mitte der 1970er-Jahre warten musste, bis Krieg und Nachkrieg in Westdeutschland erschienen, war umgekehrt Erich Maria Remarque mit seinem Welterfolg Im Westen nichts Neues von 1929 bis Mitte der 1970er-Jahr ein ausschließlich westdeutscher Autor. Während Übersetzungen von Im Westen nichts Neues nach 1945 auch in zahlreichen Ostblockstaaten erschienen, waren in der DDR lange Zeit nur Remarques in den 1950er-Jahren veröfhttps://doi.org/10.1515/9783110710847-010
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fentlichte Romane Zeit zu leben und zu sterben (West 1954 / Ost 1957) und Der schwarze Obelisk (West 1956 / Ost 1957) erschienen. In Jugoslawien, Bulgarien, Polen, Rumänien, der Tschechoslowakei und sogar in der Sowjetunion¹ gab es bis Ende der 1950er-Jahre Übersetzungen des Romans, in der DDR jedoch nicht. 1957 war Zeit zu leben und zu sterben bei Aufbau erschienen, die Geschichte eines deutschen Soldaten, der zwischen der Ostfront und seiner Heimatstadt die Endphase des Nationalsozialismus nach Stalingrad miterlebt. In Westdeutschland war der Roman 1954 vom Verlag Kiepenheuer & Witsch zensiert worden, um Rücksicht auf die zarten Gemüter ehemaliger Nazis und Mitläufer unter den Lesern zu nehmen, was zu einem großen internationalen Skandal führte, da die zensierten Stellen anhand der gleichzeitig erschienenen englischen und dänischen Übersetzungen bemerkt wurden. Ebenfalls 1957 erschien bei Aufbau Der schwarze Obelisk, der zwar in der Weimarer Republik spielt, aber mit dem Akzent auf Inflation und Weltwirtschaftskrise aus der Perspektive der späten 1950er-Jahre vor allem als Vorgeschichte des Nationalsozialismus zu lesen war. Es gab zwar ab 1964 eine Einführung in Remarques Werk von Alfred Antkowiak, damals Lektor bei Volk und Welt,² und ab 1970 eine Dissertation der Pädagogischen Hochschule Potsdam,³ aber die erste Ausgabe von Im Westen nichts Neues erschien erst 1975 bei Aufbau, also nachdem der gesamte Ostblock, inklusive der Sowjetunion, den Roman schon seit bald zwanzig Jahren in offiziellen Ausgaben lesen konnte. Warum ausgerechnet Remarques bekanntester Roman so lange nicht in der DDR verlegt wurde, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Vielleicht wollte man nicht Geld für die Rechte eines Romans ausgeben, den viele DDR-Bürgerinnen und -Bürger vermutlich noch aus der Zeit der Erstausgabe von 1929 kannten. Außerdem gab es mit Renns Krieg den ideologisch kompatibleren Antikriegsroman, dessen Autor dazu auch noch zu den prominenten DDR-Autoren gehörte, während Remarque amerikanischer Staatsbürger geworden war und im Westen lebte, wo er „von antikommunistischen Ressentiments nicht freie“ Texte verfasste, wie es in einem DDR-Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller von den
Remarque, Erich Maria: Im Westen nichts Neues. Moskau 1956. Die erste Auflage war als Doppeltitel erschienen und umfasste auch eine Einführung in Ludwig Renns Werk: Toper, Pavel Maksimovič u. Antkowiak, Alfred: Ludwig Renn. Erich Maria Remarque. Berlin 1964. Brautzsch, Johannes: Untersuchungen über die Publikumswirksamkeit der Romane „Im Westen nichts Neues“ und „Der Weg zurück“ von Erich Maria Remarque vor 1933. Potsdam, Diss. Pädagogische Hochschule 1970.
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Anfängen bis zur Gegenwart 1974 hieß.⁴ Über Im Westen nichts Neues heißt es im selben Lexikon, der Roman schildere in einer „desillusionierenden, teils naturalistisch, teils sentimentalen Schreibart“ „Kampf und seelische Verwüstung einer Soldatengruppe aus deren unmittelbarer (und begrenzter) Perspektive“.⁵ Remarque zeige den Krieg „mit scharfem Blick für die Erscheinungen der Oberfläche des Lebens, ohne jedoch die gesellschaftlichen Ursachen aufzudecken, sie vielmehr durch ‚lebensphilosophische‘ Ansichten verstellend“.⁶ Das Gesamturteil über Remarques Werk fällt hinreichend negativ aus, als dass man sich zumindest vorstellen kann, dass es keinen großen Bedarf gab, auch seine frühen Werke noch einmal in DDR-Ausgaben zu bringen: Die Widersprüche und Schwächen in R.s Werken sind nicht zu übersehen: so das Vorherrschen vulgarisierter lebensphilosophischer Ansichten (oft in psychologisch unzureichend begründeten platten Philosophemen – Aperçus über Gott und die Welt – vorgetragen); die ahistorische Denkweise und die Verabsolutierung mythisierter „Lebensmächte“ (Gesetzlosigkeit, Kameradschaft, Anpassung, Selbstbehauptung); die nicht selten kolportagehafte Handlungsführung mit (sich stets ähnelnden) Grundkonflikten und Typen; die psychologisch undifferenzierten, z. T. plakativen Charaktere (die sich nicht unterkriegen lassen).⁷
Unter Verwendung von Passagen aus Antkowiaks Einführung in das Werk Remarques heißt es aber abschließend mit einer deutlich positiveren Note, die dann auch die Veröffentlichung einer DDR-Ausgabe von Im Westen nichts Neues ein Jahr später rechtfertigen konnte: Dennoch hat R. Millionen Menschen erreicht, weil seine Bücher – wenngleich die großen sozialen Zusammenhänge nicht immer sichtbar werden – von einer unübersehbaren gesellschaftskritischen Tendenz erfüllt sind; sie beziehen ihre Stärke aus der Darstellung der Schrecken des Krieges, der menschlichen Not im Kapitalismus und im Faschismus, des Elends der Emigration.⁸
Und, wörtlich aus Antkowiak zitierend, schließt der Eintrag zu Remarque im Lexikon dann mit dem Fazit, dass der Autor von Im Westen nichts Neues aufgestanden sei
Albrecht, Günter [u. a.]: Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 2, Leipzig 1974, S. 206. Das Urteil bezieht sich auf Remarques 1952 erschienenen KZ-Roman Der Funke Leben. Albrecht, Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller, S. 205. Albrecht, Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller. Albrecht, Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller, S. 206. Albrecht, Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller.
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wider die Barbarisierung des Gemüts und der Welt durch Krieg, Militarismus und Faschismus. Humanitäre Gesinnung spricht immer wieder aus seinem spannend und wirkungssicher geschriebenen Werk, das zwar nicht in die Zukunft weist, wohl aber in vielem den Stab über die Vergangenheit bricht.⁹
Ludwig Renns Krieg erschien dagegen zum ersten Mal 1979 in einer westdeutschen Ausgabe. Es handelte sich dabei um eine parallele Publikation zwischen dem Leipziger Reclam-Verlag und dem Athenäum Verlag aus Königstein im Taunus bei Frankfurt am Main.¹⁰ Die Reclam-Ausgabe kostete 18 Mark und war mit 24 Lithografien von Bernhard Heisig¹¹ ausgestattet, die in einer 600 Mark teuren Sonderausgabe auch einzeln zu kaufen waren. Im Westen erschien nur die Ausgabe in Buchform, die 24 D-Mark kostete. Eine offizielle DDR-Sicht auf den Ersten Weltkrieg hatte Ludwig Renn da schon in einem mehrfach aufgelegten Text in einer kinderfreundlichen Form geboten. In dem zum ersten Mal 1973 im Kinderbuchverlag in Berlin erschienenen Bildband Krieger, Landsknecht und Soldat erklärte der ehemalige Offizier Renn den jugendlichen Lesern die Entwicklung des Krieges von der „Epoche der Sklavenhalterordnung“ über die „feudale Ordnung“, „Volksheere und Fürstenarmeen“ bis zum „Übergang zum Imperialismus“ und zum Ersten Weltkrieg. Der Zweite Weltkrieg erhält kein eigenes Kapitel, der Band endet mit dem Kapitel „Kampf um den Frieden“, das die Perspektive wiedergibt, aus der auch die Kriegsliteratur und die Darstellung des Krieges zu sehen waren: Die endgültige Abschaffung des Krieges ist ohne die Beseitigung der Ausbeutung nicht möglich, und das bedarf, wo es nicht anders geht, der Gewalt. Der sozialistische Staat beendet nicht nur die Ausbeutung des einzelnen, sondern auch die Ausbeutung fremder Völker. Nach dem zweiten Weltkrieg schlossen sich sozialistische und andere friedliebende Staaten zusammen, um den Ausbruch eines dritten Weltkrieges zu verhindern und jede Art von Raubkrieg unmöglich zu machen. Lenin hat wiederholt über die Darstellung des Krieges gesprochen. So schrieb er: „Man muss den Leuten die reale Lage erläutern: wie groß das Geheimnis ist, in dem der Krieg geboren wird“. Dieser Forderung wollte dieses Buch vor allem entsprechen. Es zeigt die Eroberungs- und Raubkriege in ihren Hintergründen und in ihrer brutalen und schmutzigen Praxis. Es will auch die Kriegstreiber entlarven, deren
Albrecht, Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller. Ob diese Parallelaktion schon der Phase der „literaturpolitischen Entspannung“ auf dem DDR-Literaturmarkt zuzurechnen ist, von der Julian Nordhues im vorliegenden Band spricht, ist schwer zu sagen, da Renns Text in Ostdeutschland ja ohnehin greifbar war. Es ließen sich vermutlich auch ökonomische Gründe für diese Kooperation finden. Vgl. zu Heisigs bildkünstlerischer Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg den Beitrag von Francesca Müller-Fabbri im vorliegenden Band.
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Propaganda sich mit Vorliebe der Darstellung hübscher, fröhlicher Krieger bedient, um ihre Absichten zu verschleiern.¹²
Französische Kriegsliteratur Die Forderung an die Kriegsliteratur, ob französische oder deutsche, war in diesem von Renn in seinem Kinderbuch formulierten Sinn, dass die Protagonisten einen Bewusstseinsprozess zu durchlaufen hatten, an dessen Ende idealerweise die Einsicht in die Überlegenheit des Sozialismus, wenigstens aber die Erkenntnis des bevorstehenden Untergangs der bürgerlichen Gesellschaft zu stehen hatte. Unter dem Schlagwort „Wandlungsliteratur“ ließ sich so in der Frühphase der DDR auch Literatur von ehemaligen Wehrmachtssoldaten und NSDAP-Mitgliedern integrieren, wenn, wie es in einem Gutachten hieß, „aus dem Fronterlebnis die gesellschaftliche Sinngebung“ aufgebaut wurde. Unter den wenigen französischen Texten zum Ersten Weltkrieg, die sich in dieses Schema passen ließen, war der Roman Le feu von Henri Barbusse besonders geeignet.¹³ Nicht nur gestaltet der Roman auf der Handlungsebene eine Konversion im religiös-politischen Doppelsinn, die ausdrücklich mit dem Namen Karl Liebknecht verbunden ist, sondern dazu war Barbusse einer der prominentesten kommunistischen Intellektuellen im Frankreich der Zwischenkriegszeit. Seine eigene Konversion hatte er 1935 mit seinem letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Text dokumentiert, einem hagiografischen Stalinbuch von mehr als 300 Seiten mit dem schönen Titel Staline. Un monde nouveau vu à travers un homme. ¹⁴ Barbusse, Jahrgang 1873, hätte sich bei Kriegsausbruch aufgrund seines Alters und seiner angegriffenen Gesundheit vom Dienst an der Front fernhalten können, bestand aber darauf, in einem Infanterieregiment eingesetzt zu werden. In einem Brief an die sozialistische Tageszeitung L’Humanité begründete er, warum dieser Schritt keine Abkehr von seinen antimilitaristischen und internationalistischen Vorkriegsüberzeugungen bedeute, sondern deren zwingende
Renn, Ludwig: Krieger, Landsknecht und Soldat, Berlin/Weimar 1979, S. 207. Vgl. zur Rezeption von Le Feu in der DDR auch Risterucci-Roudnicky, Danielle: Lire Le Feu d’Henri Barbusse à l’ombre du mur. In: Revue d’histoire littéraire de la France 115 (2015), S. 907– 914. Dort auch nähere Angaben zu den Auflagenzahlen. Barbusse, Henri: Staline. Un monde nouveau vu à travers un homme, Paris 1935. Eine erste deutschsprachige Ausgabe erschien 1935 in der Übersetzung von Alfred Kurella in Paris bei den Éditions du Carrefour, eine zweite 1937, ebenfalls in Kurellas Übersetzung, in Basel bei der Universum-Buchgemeinschaft, jeweils unter dem Titel „Stalin. Eine neue Welt“.
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Konsequenz.¹⁵ Hier finden sich bereits die meisten der Motive, die zwei Jahre später Le Feu durchziehen werden und die veranschaulichen, wie sehr die Union sacrée, das französische Pendant zum deutschen „Burgfrieden“, ein intellektuelles Phänomen geworden war, das bis weit in die ehemals pazifistische Linke reichte: Frankreich, so die Argumentation, führe einen Krieg für die gesamte Menschheit, nicht zuletzt für das unterdrückte deutsche Volk. Die Aussicht auf den sozialen Emanzipationsprozess, den der Krieg einleiten werde, ermögliche es selbst einem Pazifisten, freudig in den Kampf zu ziehen. Barbusse bezeichnete sich in dem am 9. August 1914 abgedruckten Schreiben als einen der antimilitaristischen Sozialisten die sich freiwillig für den gegenwärtigen Krieg melden. […] Weit davon entfernt, die Ideen zu verleugnen, die ich mit hohem Einsatz immer verteidigt habe, glaube ich ihnen zu dienen, indem ich zur Waffe greife. Dieser Krieg ist ein sozialer Krieg, der unsere Sache einen großen Schritt – vielleicht den entscheidenden Schritt – voranbringen wird.¹⁶
Die alten Gegner des Internationalismus, der Militarismus und der Imperialismus, seien inzwischen identisch mit der herrschenden Klasse in Deutschland, die ihr
Für weitere Ausführungen zu Barbusse erlaube ich mir, auf Müller, Olaf: Der unmögliche Roman. Antikriegsliteratur in Frankreich zwischen den Weltkriegen, Frankfurt a. M. 2006, zu verweisen (besonders das Kapitel „Henri Barbusses Le Feu und der Diskurs der linken Selbstmobilisierung“, ebd., S. 47– 89), wo ich versuche, Barbusses Roman als literarische Kippfigur zu beschreiben, der sich vor 1918 als Beitrag zur moralischen Remobilisierung nach den ergebnislosen Massakern des Jahres 1916 lesen ließ, der vor einem veränderten Erwartungshorizont nach 1918 aber als pazifistische Kriegsanklage gelesen werden konnte. Eine französische Fassung ist erschienen als Müller, Olaf: Le Feu (1916) de Barbusse: la „vraie bible“ des poilus. Histoire de sa réception avant et après 1918. In: Cazals, Rémy [u. a.] (Hrsg.): La Grande Guerre. Pratiques et expériences. Toulouse: Privat 2005, S. 131– 140. Ähnlich hatten den Roman bereits Horst F. Müller, der große Barbusse-Spezialist schon zu DDR-Zeiten, und Eberhard Demm interpretiert, vgl. Müller, Horst F.: Die Vision des Korporal Bertrand. Plädoyer für eine historische Lektüre von Barbusses Le Feu. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 18 (1994), S. 108 – 125, sowie Demm, Eberhard: Barbusse et son Feu: la dernière cartouche de la propagande de guerre française. In: Guerres mondiales et conflits contemporains 197 (2000), S. 43 – 63. Auch Benjamin Gilles vertritt in einem Aufsatz von 2015 noch einmal diese These, allerdings ohne den zu diesem Zeitpunkt schon mehr als zwanzig Jahre alten Aufsatz von Horst F. Müller zur Kenntnis zu nehmen, ebenso wenig wie die Beiträge von Demm und Müller von 2000, 2005 und 2006, vgl. Gilles, Benjamin: L’horizon d’attente à l’épreuve de la guerre: Lire Le Feu d’Henri Barbusse (1916 – 1918). In: Revue d’histoire littéraire de la France 115 (2015), S. 883 – 892. „[…] socialistes antimilitaristes qui s’engagent volontairement pour la présente guerre […] loin d’avoir renié les idées que j’ai toujours défendues à mes dépens, je pense les servir en prenant les armes. Cette guerre est une guerre sociale qui fera faire un grand pas – peut-être le pas définitif – à notre cause.“ L’Humanité, 9. 8. 1914, zit nach Meyer, Jacques: Le Feu d’Henri Barbusse. In: Europe 477 (1969), S. 16 – 67, hier S. 40; dort auch alle folgenden Zitate aus dem Brief.
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eigenes Volk gefangen halte und die anderen europäischen Völker zu unterjochen drohe: Die Welt kann sich nur gegen sie emanzipieren. Wenn ich mein Leben geopfert habe und wenn ich mit Freuden in diesen Krieg ziehe, dann nicht nur als Franzose, sondern vor allem als Mensch.¹⁷
Barbusse befand sich damit keineswegs auf einer kuriosen Außenseiterposition, sondern übernahm die Elemente des offiziellen Kriegsdiskurses, mit denen sich auch die zum Krieg bekehrten Sozialisten identifizieren konnten. Besonders die Behauptung, der Krieg setze die Revolutionskriege von 1792/1793 fort, fand in beinahe allen Lagern der Union sacrée ihre Anhänger. Im Schlusskapitel von Le Feu wird diese Konstruktion, die hier eine Art französischen Welterlösungsauftrag behauptet, noch einmal explizit bemüht: ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Dieser Krieg ist wie die Französische Revolution, die weiter geht. Dann arbeiten wir also auch für die Preußen? Aber das will ich doch hoffen, sagte einer der Unglücklichen. Warum sind’n immer wir die, die für die ganze Welt marschieren! Das ist eben so, sagte ein Mann, und er wiederholte die Worte, die er eben benutzt hatte: Um so besser, oder um so schlimmer.¹⁸
Le Feu ist unterteilt in vierundzwanzig Kapitel, die den Alltag der Frontsoldaten am Beispiel der titelgebenden „escouade“ um den charismatischen Caporal Bertrand in allen seinen Phasen schildern.Während das erste (Die Vision) und das letzte Kapitel (Morgendämmerung) einen weitgehend statischen, in prophetischdeklamatorischem Ton gehaltenen Rahmen bilden, sollen die übrigen zweiundzwanzig Kapitel eine Gegenrealität zu den Klischees der traditionellen Kriegspropaganda präsentieren. Dazu bemüht Barbusse sich vor allem, den überkommenen soldatischen Heldendiskurs zu dekonstruieren und ihm das Bild vom durch und durch humanen Frontkämpfer entgegenzustellen, der ausdrücklich kein Soldat, sondern schlicht ein Mensch sei:
„Le monde ne peut s’émanciper que contre eux. Si j’ai fait le sacrifice de ma vie et si je vais avec joie à la guerre, ce n’est pas seulement en tant que Français, c’est surtout en tant qu’homme.“ „Cette guerre, c’est comme la Révolution française qui continue. – Alors, comme ça, on travaille pour les Prussiens, aussi? – Mais, dit un des malheureux de la plaine, il faut bien l’espérer. […] – Pourquoi qu’ c’est toujours nous qui marchons pour tout le monde! – C’est comme ça, dit un homme, et il répéta les mots qu’il avait employés à l’instant: Tant pis ou tant mieux.“ Henri Barbusse, Le Feu. Journal d’une escouade. Roman. Suivi du Carnet de guerre. Édition préfacée et annotée par Pierre Paraf. Paris 1965 (1999), S. 366.
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Wir sind keine Soldaten, wir sind Menschen, sagt der dicke Lamuse. Die Stunde hat sich verfinstert, und doch legt dieses richtige und helle Wort einen Lichtschein über die, die hier sind, die seit heute morgen warten, die seit Monaten warten. Sie sind Menschen, beliebige Männer, die plötzlich aus ihrem Leben gerissen worden sind. Wie beliebige, aus der Menge gegriffene Menschen sind sie ungebildet, wenig begeistert, kurzsichtig, voll von grobem Menschenverstand, der manchmal entgleist. Sie sind geneigt, sich führen zu lassen und zu tun, was man ihnen zu tun aufgibt, ertragen die Mühe und können lange leiden.¹⁹
Barbusse liefert hier in nuce die Botschaft, die der Roman unablässig wiederholt und die sich in ihrer Verherrlichung des einfachen Frontsoldaten und seiner Opferbereitschaft bis zur Behauptung der Christusmäßigkeit der „bonhommes“ steigert: die Männer seien unkultiviert und indolent, dabei aber folgsam und unendlich leidensresistent. Von solchen Soldaten seien keine Revolten, sondern nur bedingungslose Hingabe für die gute Sache zu erwarten. Die Lichtsymbolik („und doch legt dieses richtige und helle Wort einen Lichtschein über die, die hier sind“) unterstreicht hier, wie an allen zentralen Stellen des Romans, die Bedeutung dieser Passage. Gerade die Lichtsymbolik und der ausdrückliche Bezug auf Karl Liebknecht, den Bertrand in einem visionären Moment anruft, legten eine Lektüre des Texts nach dem Wandlungsschema nahe, und so erschien bereits 1947 eine erste Ausgabe bei Volk und Welt. Schon 1946 hatte Victor Klemperer in einem Aufsatz für den Aufbau Le feu von Barbusse mit dem 1945 erschienenen Roman Stalingrad von Theodor Plievier verglichen und Plievier als „den deutschen Barbusse“ bezeichnet.²⁰ Zwischen 1946 und 1955 hielt Klemperer mindestens zwanzig Vorträge über „Nous ne sommes pas des soldats nous, nous sommes des hommes, dit le gros Lamuse. L’heure s’est assombrie et pourtant cette parole juste et claire met comme une lueur sur ceux qui sont ici, à attendre, depuis ce matin, et depuis des mois. Ils sont des hommes, des bonhommes quelconques arrachés brusquement à la vie. Comme des hommes quelconques pris dans la masse, ils sont ignorants, peu emballés, à vue bornée, pleins d’un gros bon sens, qui, parfois, déraille; enclins à se laisser conduire et à faire ce qu’on leur dit de faire, résistants à la peine, capables de souffrir longtemps.“ Barbusse: Le Feu [Anm. 18], S. 68. Vgl. auch ebd. S. 266: „Ce ne sont pas des soldats: ce sont des hommes. Ce ne sont pas des aventuriers, des guerriers, faits pour la boucherie humaine – bouchers ou bétail. Ce sont des laboureurs et des ouvriers qu’on reconnaît dans leurs uniformes. Ce sont des civils déracinés. Ils attendent le signal de la mort et du meurtre; mais on voit, en contemplant leurs figures entre les rayons verticaux des baïonnettes, que ce sont simplement des hommes.“ Klemperer, Victor: Barbusse und Plievier. In: Aufbau 2 (1946), S. 635 – 645. Den Vergleich Barbusse-Plievier hatte Klemperer bereits 1945 im Tagebuch notiert, vgl. den Eintrag vom 7. September 1945 in Victor Klemperer: So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 1945 – 1949. Hrsg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian Löser, Bd. 1, Berlin 1999, S. 98 – 99: „Vor einigen Wochen war Theodor Plievier der aktuellste Name. Sein Stalingrad erschien in der Berliner Volkszeitung, er las Capitel daraus im Funk vor, mit einer merkwürdig gehemmten, etwas
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Barbusse in der DDR und zwei sogar in Rumänien. Barbusse ist für Klemperer eine Übergangsfigur, ein Autor, der in seiner traditionellen, noch weitgehend dem Symbolismus des 19. Jahrhunderts verhafteten Formsprache bereits fortschrittliche politische Inhalte transportiere. In einer Besprechung eines Barbusse-Vortrags, den Klemperer 1953 in Leipzig hielt, fasst der Rezensent Klemperers Argumentation folgendermaßen zusammen: Professor Dr. Victor Klemperer, der bekannte Romanist, spannte in seiner Würdigung des Dichters einen weiten Bogen von den lyrischen Anfängen bis zu seinem fundamentalen Spätwerk [sc. dem Stalinbuch, OM], zugleich den Versuch unternehmend, das Allgemeingültige aus dem Werk Barbusses als Kriterium und Beispiel für unsere Literaturentwicklung abzuleiten. Das Entscheidende im Schaffen von Barbusse, der sich vom Journalisten zum anklagenden Schriftsteller entwickelte, war sein Bekenntnis zur Sowjetunion. 1923 trat er der KPF bei. Barbusse bewies das Gegenteil der bürgerlichen Auffassung, daß die Politik der Dichtung feindlich sei; seine Aufrufe waren von dichterischer Kraft beflügelt. Was er in seinem Kriegsbuch „Das Feuer“ bereits gezeigt hatte, bestätigt er auch weiterhin: die Fähigkeit, die objektive Darstellung der Wirklichkeit mit der klaren Parteilichkeit zu verbinden. Professor Klemperer bewies an der schriftstellerischen Entwicklung von Barbusse bis zu seinem größten Bekenntnis, dem Stalin-Buch, daß das Fehlen einer kritischen dialektischen Gesamtbetrachtung bei uns wie auch im Heimatland des Dichters ein wesentlicher Mangel ist. […] Entscheidend ist uns der Sprung des Dichters hin zum Realismus in seinem Buch über Stalin.²¹
fremdländischen – E. sagt: versoffenen Stimme. Ich zerbrach mir den Kopf, woher mir der Name bekannt war, obschon ich nie etwas von dem Mann gelesen habe. Gestern, erlösend, ein kleines Feuilleton über ihn u. anschließend eine Skizze von ihm. Matrosenaufstand Kiel 1918. Der Kaiser ging, die Generale blieben – dieser Titel ist mir eine Schlagwortreminiszenz von damals. Der Mann ist ein deutscher Barbusse, er hat in Russland gelebt, ist nun auferstanden. Er hat, sagt das Feuilleton, ein Arbeiter- und Abenteurerleben geführt, ist auch Seefahrer gewesen. Da könnte die ‚versoffene Stimme‘ herstammen“. Als „deutschen Barbusse“ hatte Klemperer 1919 schon Andreas Latzko bezeichnet, vgl. dazu den Beitrag von Julian Nordhues im vorliegenden Band. Börsenblatt für den deutschen Buchhandel (Leipzig), 1953, Nr. 23, 6. Juni, S. 466. 1949 gab es den Plan, das Stalinbuch auch in der DDR zu veröffentlichen, der aber an der politischen Konjunktur scheiterte, wie Klemperer bei einem seiner Vorträge erfahren musste, vgl. Klemperer: So sitze ich denn [Anm. 20], Bd. 1, S. 701 (15. 11. 1949, Präsidialrat der Session: „[Alexander] Abusch eröffnete mir: Einspruch der Russen, der Name Barbusse darf im Zusammenhang mit Stalins Geburtstag nicht erwähnt werden. Mein Aufsatz bleibt ungedruckt, das ganz ausgedruckte deutsche Stalinbuch von Barbusse bei Volk und Welt darf nicht erscheinen, Abusch selber mußte aus seiner druckfertigen Monografie über Stalin [das ist Alexander Abusch: Stalin und die Schicksalsfragen der deutschen Nation, Berlin 1949] alle Barbussestellen streichen, natürlich ist nun auch mein Barbusse für den Aufbau-Verlag hinfällig. Freiheit, die ich meine! […] Jetzt wo wir souverän sind, wird diese Knechtung wohl noch schärfer werden. Nur: ist man im Westen freier? Das beste wäre, nur für den Schreibtisch und Nachlaß arbeiten.“ Im Januar 1950 (ebd., Bd. 2, S. 23) heißt es dann aber: „Noch eine Berliner Freude: plötzlich heißt es: mit Barbusse waren wir zu ängstlich, Du kannst die Monographie schreiben. – Und wer gibt mir die Zeit dazu?“. Klemperers
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Auf die erste DDR-Ausgabe von Le feu von 1947, die noch die alte Übersetzung aus der Zeit der Weimarer Republik abdruckte, folgten zwischen 1955 und 1986 noch fünf weitere Ausgaben, von denen die letzten beiden (1973 und 1986) dank der philologischen Leistung des Romanisten Horst F. Müller, der einen großen Dokumentenanhang und einen ausführlichen Kommentar erstellte, eine Qualität erreichten, die keine französische Ausgabe je besaß. Ab der zweiten Ausgabe von 1955 wurde auch eine eigens angefertigte, neue Übersetzung zugrunde gelegt. Zu dieser Ausgabe von 1955 verfasste Arnold Zweig eine begeisterte Besprechung, in der er das „Neuerscheinen eines epochemachenden Buches“ feierte und ebenfalls Barbusse zum „Vorkämpfer“ stilisierte: [Barbusse] vor allem war es, der dem imperialistischen Krieg die Maske der Vaterlandsverteidigung vom Gesicht riss. Das tat er 1917 [eigentlich 1916] – und als er 1936 [eigentlich 1935] in Moskau starb, wußte er schon genau, daß er nur den Anfang des Kampfes geschaffen hatte und schon erlebt, was nach 1918 von den landräuberischen, menschenfressenden Siegerstaaten als Interventionskriege fortgesetzt wurde. […] Und so bleibt Henri Barbusse […] auch für die Generationen von heute und morgen der Vorkämpfer. Mögen die Leser, welche mit uns an der Ausrottung des Angriffskrieges als politisch erlaubten Mittels arbeiten, durch die neue Übersetzung in der Ausgabe des Verlages Volk und Welt auch als Deutsche aufgerüttelt und bestärkt werden in der Beharrlichkeit, mit der uns Ältere der erste Weltkrieg entließ: Daß die Kraft des Friedens über die Anstifter von Kriegen siegen wird, aber nur siegen kann, wenn wir jede Gefahr erspähen und anprangern, die Welt noch einmal in einen Blutsumpf zu verwandeln – ja, in die Atomwüste, mit welcher die Sachwalter des neuesten und gefährlichsten Imperialismus spielen, der USA und all der Manager, die sich hinter dem neuen Kapitol und seinem Weißen Haus verbergen. Laßt uns 1955 nicht vergessen, was schon 1917 ins Nichts verwiesen wurde!²²
Doch neben Barbusse waren es vor allem kommunistische Gegenwartsautoren wie Jean Laffitte, Pierre Daix oder André Stil, die aus dem Französischen übersetzt wurden.²³ Die waren zwar orthodox und pflegten einen sozialistisch-realistischen Stil, doch boten sie, wenn es sich nicht gerade um Autoren wie Aragon oder Éluard handelte, oft literarisch eher zähe Kost. Auf dem schon im Zeichen der Entstalinisierung stehenden IV. Schriftstellerkongress vom Januar 1956 plädierte Stephan Hermlin deshalb dafür, westdeutsche und andere westeuropäische Autoren in der Buch über Barbusse kam nie zustande, auch das Stalinbuch von Barbusse wurde in der DDR nicht neu aufgelegt, es blieb bei den genannten deutschsprachigen Ausgaben von 1935 und 1937. Zweig, Arnold: Henri Barbusse „Das Feuer“. Zum Neuerscheinen eines epochemachenden Buches. In: Ders.: Früchtekorb. Jüngste Ernte. Aufsätze, Rudolstadt [1957], S. 118 – 125, hier S. 124– 125. Vgl. Hartmann, Hans-Jürgen: Französische Literatur in der DDR. Ein bibliographischer Kommentar. In: Röseberg, Dorothee (Hrsg.): Frankreich und „Das andere Deutschland“, Tübingen 1999, S. 217– 224.
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DDR bekannt zu machen, die nicht auf den ersten Blick in die literaturpolitischen Schemata passten. Nachdem er vorausgeschickt hatte, dass weltweit und die politischen Lager übergreifend die bekanntesten deutschsprachigen Gegenwartsautoren DDR-Bürger seien, nannte er einige Desiderate: Zur Zeit gibt es nur wenige deutsche Schriftsteller, die man in Buenos Aires und Peking, in Paris und Moskau, in London und Prag liest. Dabei denkt man vor allem an Brecht, Anna Seghers, Arnold Zweig. Ich sage das nicht aus lokalpatriotischen Gründen, sondern weil die Tatsachen beweisen, daß man nicht über die Literatur in der Deutschen Demokratischen [Republik] hinweggehen kann, ohne sich allenfalls selber lächerlich zu machen. […].
Nach einem Plädoyer für Wolfgang Koeppens Romane Das Treibhaus und Tod in Rom – letzterer war Anfang 1956 noch an der Zensur gescheitert,²⁴ konnte im Laufe des Jahres aber beim Mitteldeutschen Verlag in Halle erscheinen – ging er zu fremdsprachigen Titeln über, die in der DDR 1956 noch fehlten, u. a. Joseph Conrad und E. M. Forster, dann die von französischen Autoren: Sehr oft kommt das wirkliche literarische Gesicht einer Nation bei uns noch nicht genügend zum Ausdruck. […] Aragon ist nicht nur einer der größten Lyriker Frankreichs, sondern auch ein sehr bedeutender Romancier; aber Aragon und andere französische Romanciers, die wir in den letzten Jahren veröffentlicht haben, zeigen noch nicht das ganze Gesicht der humanistischen Literatur Frankreichs. Von einem großen Schriftseller wie Sartre hat man bisher lediglich ein Buch veröffentlicht […]. Ein Romancier vom Range eines Roger Martin du Gard ist mit seinem Familienroman Die Thibaults bei uns völlig unbekannt, obwohl der größte Teil dieses Romans in Deutschland vor 1933 bereits veröffentlicht war. Wo bleiben die Werke von Pierre Gascar, Robert Merle, Roger Vailland?²⁵
Pierre Gascar ist zwar nie in der DDR erschienen, von Roger Vailland, dem ehemaligen Résistancekämpfer und Kommunisten, konnten aber schon bald nach Hermlin, Stephan: In: IV. Deutscher Schriftstellerkongreß Januar 1956, Berlin: Deutscher Schriftstellerverband 1956, Teil 2, S. 56 – 64, hier S. 61: „Ich bedaure außerordentlich, daß diese beiden bedeutenden und mutigen Bücher, die ersten epischen Auseinandersetzungen mit der faschistischen Restauration in Bonn, bisher bei uns nicht erschienen sind. Aber ich weiß z. B., daß ein Verlag in der Deutschen Demokratischen Republik bereits einen Vertrag über eines der beiden Bücher von Koeppen abgeschlossen hat, daß jedoch das Amt für Literatur nach langem Hin und Her sich gegen das Buch von Koeppen ausgesprochen hat. Ich glaube, daß es sich hier um eine Kompetenzüberschreitung handelt. […] es geht nicht, daß bedeutende humanistische Werke der zeitgenössischen Literatur nicht erscheinen können, weil sie nicht in allen Punkten den Moralbegriffen eines Lektors entsprechen. (Beifall) Weltliteratur ist meist nicht nach den Vorstellungen der Leiterin eines Mädchenstifts gemacht worden.“ Vgl. auch Erbe, Günter: Die verfemte Moderne. Die Auseinandersetzung mit dem „Modernismus“ in Kulturpolitik, Literaturwissenschaft und Literatur der DDR. Opladen 1993. Hermlin, Schriftstellerkongreß 1956 [Anm. 24], S. 62.
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Hermlins Rede mehrere Titel in Lizenzausgabe²⁶ erscheinen. Der große Romanzyklus Les Thibault von Roger Martin du Gard, den Hermlin nach Sartre als erstes Beispiel für bedeutende „humanistische“ Literatur in Frankreich nennt, konnte ab 1960 in sieben Bänden in einer Lizenzausgabe des Wiener Zsolnay-Verlags bei Volk und Welt in Berlin erscheinen. Roger Martin du Gard, der Literaturnobelpreisträger von 1937, war um 1960 nicht nur in der DDR weitgehend in Vergessenheit geraten und bedurfte einer grundsätzlichen Vorstellung, die ein „Nachwort des Verlages“ der Volk-und-Welt-Ausgabe am Ende des letzten Bandes bot. Die beiden letzten Teile von Martin du Gards großem Familien- und Gesellschaftsroman Les Thibault, an dem Martin du Gard von 1920 bis 1939 gearbeitet hatte, spielen während des Ersten Weltkriegs.²⁷ Im vorletzten Teil, dem Sommer 1914, folgt der Erzähler den Versuchen des Protagonisten Jacques Thibault, durch eine spektakuläre Flugblattaktion aus einem Flugzeug den Kriegsausbruch noch zu verhindern. Er kommt dabei zunächst mit pazifistischen und sozialistischen Kreisen in Zürich zusammen und stirbt schließlich, als das Flugzeug bei dem Versuch abstürzt, einen pathetischen Friedensaufruf per Flugblatt über der Frontlinie abzuwerfen. Die Handlung des Schlussteils mit dem Titel Epilog endet am 18. November 1918, also eine Woche nach dem Waffenstillstand, mit dem Selbstmord des Protagonisten. Der Épilogue erzählt das langsame Sterben des Arztes Antoine Thibault, der in einer Lungenklinik in der Provence die Folgen einer Senfgasvergiftung zu kurieren versucht, die er sich im November 1917 in einem Gefecht am Chemin des Dames nördlich von Reims zugezogen hatte. Die präzise datierte Handlung setzt am 3. Mai 1918 ein und endet am 18. November 1918, eine Woche nach dem Abschluss des Waffenstillstands, mit Antoines Selbstmord, der seinen unerträglich gewordenen Leiden ein Ende setzt. Der Roman gliedert sich in drei Teile, von denen der letzte in Tagebuchform Antoines Gedanken über das sich abzeichnende Kriegsende festhält und die Aussichten auf einen anhaltenden Frieden kommentiert, die sich besonders mit dem Programm des amerikanischen Präsidenten Wilson verbinden. Mit Antoines Selbstmord und der fragwürdigen Hoffnung, die Aufzeichnungen möchten seinem kleinen Neffen nützlich sein, endet der Text.
Die junge Frau Amable [Beau masque]. Übers. Edmund Th. Kauer. Berlin 1959 (Lizenz Globus Verlag Wien); Seltsames Spiel [Drôle de jeu] Übers. Karl Heinrich. Nachwort Henryk Keisch. Berlin 1964 (Lizenz?); Das Gesetz. Übers. Richard Moering. Berlin 1983 (Lizenz Fischer Verlag, Frankfurt a. M.). Vgl. zu Martin du Gards im Ersten Weltkrieg spielenden Romanen auch meine Ausführungen in Müller, Der unmögliche Roman [Anm. 15], S. 295 – 324.
Immer nur Barbusse? Der französische Kriegsroman in der DDR
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Da der Roman in Frankreich erst im Frühjahr 1940 und somit nach Beginn des Zweiten Weltkrieges erscheinen konnte, war diese Hoffnung auf Wilsons Friedensprogramm auf der Handlungsebene bereits durch den Rezeptionskontext für die ersten Leser des Romans als Illusion ersichtlich. In der Tat hatte der Text zwischen Ende 1939 und Anfang 1940 beim Verlag Gallimard für große Aufregung gesorgt, weil man sich Sorgen um die politische Opportunität eines derart pessimistischen Texts in einer Zeit machte, in der die französische Bevölkerung vor allem zum Kampf gegen Deutschland ermutigt werden sollte. Das Nachwort der Volk und Welt-Ausgabe von 1960 schloss in gewisser Weise an die Bedenken des Gallimard-Lektürekomitees von 1939 an und kommentierte vor allem die Begeisterung des Protagonisten für den Friedensplan des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson. Wie bereits die ersten Leser von Martin du Gards Text, hatte auch der Verfasser des Volk-und-Welt-Nachworts die pessimistische Pointe der raffinierten Romankonstruktion nicht verstanden. Auch Roger Martin du Gard machte sich, als er den Épilogue verfasste, keine Illusionen mehr über die Wirksamkeit von Wilsons Plan von 1918, hielt seine Leser aber für intelligent genug, um anzunehmen, dass die politische Lage in Europa zum Erscheinungszeitpunkt des Romans Kommentar genug sei und er sich und seinem Publikum didaktisch-moralisierende Erläuterungen durch die Erzählerstimme ersparen könne. Der Verfasser des Volk-und-Welt-Nachworts traute diese Intelligenz seinem DDR-Publikum aber offensichtlich genau so wenig zu wie die Gallimard-Leser um Schlumberger und Paulhan sie ihrem französischen Publikum von 1939 zugetraut hatten, wenn auch seine Einwände gegen die Wilson-Passagen anderer Art sind. Hatten die Leser bei Gallimard 1939 noch befürchtet, die Lektüre des Épilogue könne die Kampfmoral der Franzosen unterminieren, drückt sich im Nachwort der DDR-Ausgabe von 1960 eher die Sorge aus, das ostdeutsche Publikum könne den imperialistischen Anspruch auf amerikanische Weltherrschaft hinter Wilsons friedlich wirkenden Reden vom Völkerbund nicht erkennen: [Antoine] stirbt mit der Illusion, daß die Politik des amerikanischen Präsidenten Wilson, der sich in seinem 14-Punkte-Programm als Friedensstifter ausgab, den gequälten Völkern dauernden Frieden geben könnte. Antoine teilt damit die Illusion vom Völkerbund, der sich viele friedliebende Menschen am Ende des Ersten Weltkrieges hingaben. Damals erkannten nur wenige, daß Wilsons Programm nichts anderes war als ein mit pazifistischen Phrasen verbrämtes und noch sehr vorsichtig formuliertes Programm des Anspruchs der amerikanischen Imperialisten auf Einmischung und Vorherrschaft in Europa, ja des Anspruchs auf die Weltherrschaft.²⁸
Martin du Gard, Roger: Die Thibaults. Berlin 1960, Bd. 7, S. 358.
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Martin du Gard sei aber dennoch „weiter gegangen als Thomas Mann, mit dem er vieles gemeinsam“ habe.²⁹ Denn „Martin du Gard hat nicht nur die Symptome des Untergangs der bürgerlichen Gesellschaft aufgedeckt, sondern auch die Ansätze zu ihrer Überwindung angedeutet.“³⁰ Durch die Bücher „Sommer 1914“ und „Epilog“ werden „Die Thibaults“ zu einem literarischen Manifest gegen den imperialistischen Krieg, die furchtbarste Ausgeburt der bürgerlichen Gesellschaft. Mit Hilfe vieler historischer Tatsachen demonstriert Martin du Gard, daß der erste Weltkrieg das war, als was ihn Lenin schon am 5. September 1914 in seinen „Thesen über den Krieg“ definiert hat: ein von beiden Seiten kaltblütig vorbereiteter Raubkrieg. […] Dabei rückt er allerdings die zum Krieg treibende Rolle Frankreichs und Rußlands über Gebühr in den Vordergrund. Die besondere Aggressivität des deutschen Militarismus, die brutale Kriegslust des preußisch-deutschen Militarismus, wird nicht deutlich. […] Daß Martin du Gard diese Differenzierung nicht vorgenommen hat, dürfte wohl darauf zurückzuführen sein, daß es ihm in erster Linie darauf ankam, die eigene herrschende Klasse und deren Verbündete anzuprangern.³¹
Der letzte französische Roman zum Ersten Weltkrieg, der in der DDR erscheinen konnte, ist die neu durchgesehene Übersetzung des zuerst 1930 in deutscher Fassung veröffentlichten Les Croix de bois von Roland Dorgelès. Das Buch konnte 1988 unter dem Titel Die hölzernen Kreuze im Gustav Kiepenheuer Verlag (Leipzig und Weimar) erscheinen. Das Nachwort, das der bereits erwähnte BarbusseHerausgeber Horst F. Müller verfasst hat, ist von Aktualisierungsversuchen und ideologischen Verrenkungen, wie sie bei Martin du Gard offensichtlich noch nötig waren, vollkommen frei. Die Etikettierung von Dorgelès als „christlicher Anarchist“ nimmt nur eine Selbstbeschreibung des Verfassers der Croix de bois auf, und auch die Rede vom „Geist bohemehafter Auflehnung und des humanistischen Protests“ wirkt angemessen. Man könnte sich sogar fragen, ob der abschließende Hinweis auf die von Dorgelès „an den Hölzernen Kreuzen praktizierte Selbstzensur“, die er „aus Furcht vor den verschärften Zensurbestimmungen und vielleicht, um den Greis Clemenceau, seinen ehemaligen Chef, nicht zu verärgern“, vorgenommen habe, nicht auf einen anderen zensurfreudigen Greis verweisen, der nach dem Erscheinen des Buchs 1988 in der DDR noch ein knappes Jahr zu regieren hatte.³²
Martin du Gard, Die Thibaults, S. 352. Martin du Gard, Die Thibaults. Martin du Gard, Die Thibaults, S. 357– 358. Dorgelès, Roland: Die hölzernen Kreuze. Leipzig/Weimar 1988, S. 302.
Teil IV: Malerei und Film – eine künstlerische Perspektive
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Zwischen Archiv und Fiktion, zwischen Erfahrung und Erinnerung: die Darstellung des Raumes im Film Erziehung vor Verdun „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“. Diesen Satz schreibt Karl Liebknecht an der Westfront in Solange Leben in mir ist – der filmischen Biografie des kommunistischen Politikers (R: Günter Reisch, 1964/65, DDR). Liebknechts Anklage an den Feind im eigenen Land ist das bestimmende Leitmotiv nahezu aller DEFAProduktionen zum Ersten Weltkrieg. Zwischen 1948 und 1986 wurden in der DDR mehr als zwanzig Spiel- und Fernsehfilme¹ über den ersten Weltkrieg produziert. Im Mittelpunkt der filmischen Erzählung steht im Besonderen eine Vorstellung des Krieges, die den Klassenkampf und die Auseinandersetzung zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten hervorhebt. Fast die Hälfte der Filme legt ihren Schwerpunkt auf die Jahre 1917– 1918, wobei wahlweise die Oktoberrevolution oder die Novemberrevolution in den Fokus gerückt werden: Diese besondere Akzentuierung lässt die Revolution als das eigentliche Schlüsselereignis des Ersten Weltkrieges erscheinen. Diese in der rückwärtigen Logik eines deterministischen Geschichtsbilds entworfene Gewichtung der historischen Ereignisse betraf nicht nur die Leinwandproduktionen der DDR, sie bestimmte de facto alle Publikationen und öffentlichen Darstellungen, die dieses zentrale Sujet der nationalen Traditionsstiftung und historischen Selbstlegitimation der DDR berührten. In diesen Kontext gehören auch all jene Filme, die die heroischen Figuren der Arbeiterbewegung und des Kommunismus, wie etwa Ernst Thälmann, Karl Liebknecht oder Rosa
Zu diesen Filmen gehören Die Buntkarierten (R: Kurt Maetzig, 1948/49); Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse (R: Kurt Maetzig, 1953); Ernst Thälmann – Führer seiner Klasse (Kurt Maetzig, 1954/ 55); Das Lied der Matrosen (R: Kurt Maetzig und Günter Reisch, 1958); Engel im Fegefeuer (R: Herrmann Zschoche, 1964); Solange Leben in mir ist (R: Günter Reisch, 1964/65); Abschied (R: Egon Günther, 1967/68); Die Toten bleiben jung (R: Joachim Kunert, 1968); Unterwegs zu Lenin (R: Günter Reisch, 1969/70); Der Streit um den Sergeanten Grischa (R: Egon Günther, 1968); Junge Frau von 1914 (R: Egon Günther, 1969); Schwarzer Zwieback (R: Herbert M. Rappaport, 1971); Trozt alledem (R: Günter Reisch, 1971); Erziehung vor Verdun (R: Egon Günther, 1973);Wolz (R: Günter Reisch, 1974); Die Insel der Silberreiher (R: Jaromil Jires, 1976); Die Frau und der Fremde (R: Rainer Simon, 1984); Käthe Kollwitz – Bilder eines Lebens (R: Ralf Kirsten, 1986); Wengler & Söhne (R: Rainer Simon, 1986). Diese keineswegs erschöpfende Liste basiert auf der Auswertung des Filmlexikons: Schenk, Ralf (Red.): Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg. DEFA-Spielfilme 1946 – 1992. Berlin 1994. https://doi.org/10.1515/9783110710847-011
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Luxemburg gewidmet waren. Aber selbst in Filmen, die sich weder mit der Revolution noch mit ihren politischen Helden beschäftigten, wurde der Erste Weltkrieg ganz selbstverständlich mit dem kommunistischen Kampf gegen den Imperialismus und Faschismus verbunden. In einigen von ihnen wurde die „Urkatastrophe“ in einen längeren Zeitabschnitt eingefügt: Als Chroniken einer Epoche stellen sie ein Schlüsselereignis innerhalb eines breiteren chronologischen Rahmens dar, der sich vom Kaiserreich bis zum Zweiten Weltkrieg erstreckt. Ganz gleich welche Facette der historischen Ereignisse die DEFA in den Mittelpunkt ihrer filmischen Darstellung rückte, eines hatten alle ihre Produktionen gemeinsam: Stets wird in ihnen das historische Geschehen mit einem expliziten oder impliziten Gegenwartsbezug verbunden. Als Spiegel ihrer Entstehungszeit und der Gesellschaft, in der sie entstanden, sind diese Spielfilme heute überaus aufschlussreiche Quellen, um zu zeigen, wie unterschiedlich die Geschichtsschreibung in beiden deutschen Staaten in Bezug auf dieses Schüsselereignis des 20. Jahrhunderts ausfiel. Die Inszenierung der „eigenen“ Vergangenheit und insbesondere die Geschichte der Arbeiterbewegung und des kommunistischen Widerstandkampfs gegen den Nationalsozialismus diente der Legitimation der SED-Herrschaft: „Der letztlich über die Verbreitung jener Filme entscheidenden Parteispitze diente die Vergangenheit immer dazu, den Führungsanspruch der Kommunisten zu rechtfertigen.“² Und trotzdem kam es, laut Susanne Brandt durchaus vor, dass einzelne dieser historischen Filme unerwartet „subversiv doch auf die Gegenwart [zielten] – und zwar mit gänzlich anderer als der von der dogmatischen Parteispitze gewünschten, die Kommunistische legitimierende Intention.“³ Unter den DEFA-Produktionen über den Ersten Weltkrieg findet sich auch ein sehr interessanter Fernsehfilm, der in der Literatur weit seltener diskutiert wird als andere prominentere Beispiele: Gemeint ist Erziehung vor Verdun in der Regie von Egon Günther aus dem Jahr 1973. Dieser im Folgenden ausführlich untersuchte Fernsehfilm weist insofern bereits eine Besonderheit auf, als er sich auf einen ganz bestimmten Zeitabschnitt des Krieges bezieht: die Schlacht um Verdun. Zudem gibt der Film nicht nur eine in der DDR vorherrschende Sicht auf das Kriegsgeschehen wieder, sondern steht mit seiner Deutung ganz und gar in der internationalen Tradition des politischen Kinos.
Brandt, Susanne: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ Die DEFA und der Erste Weltkrieg. In: Rother, Rainer u. Herbst-Meßlinger, Karin (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg im Film. München 2009, S. 236 – 255, hier S. 238. Brandt, „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“.
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Mit Erziehung vor Verdun bringt Egon Günther⁴ bereits seinen dritten Spielfilm über den den Ersten Weltkrieg auf die Leinwand. Stets handelt es sich hierbei um Verfilmungen deutschsprachiger literarischer Vorlagen.⁵ Der berühmteste unter ihnen ist Abschied (1968), der auf einen gleichnamigen Roman von Johannes Robert Becher zurückgeht. Mit Junge Frau von 1914 (R: Egon Günther, 1970) und Erziehung vor Verdun (Egon Günther, 1973) adaptierte Günther anschließend im Auftrag des Deutschen Fernsehfunks der DDR (DFF) den zweiten und dritten Teil von Arnold Zweigs Romanzyklus „Der große Krieg der weißen Männer“. Der Eröffnungsroman des Zyklus Der Streit um den Sergeanten Grischa war 1967/1968 zuvor bereits von Helmut Schiemann für den DFF verfilmt worden. In den beiden von Günther adaptierten Romanen steht eine Nebenfigur aus Streit um den Sergeanten Grischa im Mittelpunkt der Erzählung: Ihr gemeinsamer Protagonist heißt Werner Bertin. Zweigs Intention bestand erkennbar darin, seiner Leserschaft vor Augen zu führen, was für eine Person dieser Werner Bertin ursprünglich einmal vor dem Krieg gewesen war, um daran anknüpfend zu verdeutlichen, welchen Einfluss die traumatischen Erlebnisse vor Verdun auf dessen weiteres Leben haben sollten. Aus der Vorgeschichte, die ursprünglich nur einige wenige Einführungskapitel hätte bilden sollen, wurde schließlich ein vollwertiger Roman, der 1931 veröffentlicht wurde: Junge Frau von 1914. Mit dem parallel dazu geschriebenen, mehrfach überarbeitete und 1935 fertiggestellte Roman Erziehung vor Verdun unternahm Zweig nicht weniger als den Versuch, eine Epoche anhand ihres Schicksalsereignis möglichst konkret zu beschreiben und ihr dabei zugleich eine universelle Dimension zu verleihen. Analog zur Handlung dieser beiden Romanvorlagen sind auch die zwei Verfilmungen von Egon Günther durch ihren gemeinsamen Protagonisten Werner Bertin verbunden. Bereits im Falle seiner ersten erfolgreichen Fernsehadaption Junge Frau von 1914 hatte Egon Günther künstlerische Ausdrucksmittel gefunden, deren Wirkungskraft er in seiner Verfilmung von Erziehung vor Verdun sogar noch zu steigern vermochte: Hervorzuheben sind hierbei vor allem die Verkettung einzelner Bilder, die Arbeit mit unterschiedlichen Bildfarben und Farbfiltern sowie die Kombination aus Spiel- und Dokumentarfilmsequenzen.
Über Egon Günther, siehe Richter, Rolf: Egon Günther. Der Mensch ist veränderbar. In: Richter, Rolf (Hrsg.): DEFA-Spielfilme – Regisseure und ihre Kritiker, Band I. Berlin 1981, S. 32– 56. Zwar gibt es zahlreiche Adaptionen und historische Filme in der Geschichte des deutschen Kinos, allerdings bin ich der Meinung, dass man die Kinoverfilmungen der DEFA nicht nur als die Folge einer Film-Tradition betrachten kann.Vielmehr folgen sie einer geistigen Strömung zu dieser Zeit. Diese versucht, sich einen Teil der deutschen Kultur und der Klassiker der deutschen Literatur „wieder“ anzueignen. Dadurch sollte die Existenzberechtigung der DDR bekräftigt und deren historische Legitimität untermauert werden.
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Diese Kombination aus verschiedenen jeweils bedeutungstragenden Elementen macht diesen Film auch aus heutiger Perspektive noch überaus bemerkenswert: Denn obwohl viele dieser Elemente durchaus als Anknüpfungspunkte an das Kino den Zwanzigerjahre zu verstehen sind und der Film somit teils große Ähnlichkeiten mit pazifistischen Filmklassikern aus dem Westen offenbart, fand Günther für seine Romanadaption zugleich auch ganz und gar neue filmische Mittel, insbesondere in der Darstellung des Raumes.
Von Roman bis zum Film „Wir werden in der Gosse abkratzen denn der Sieg wird dem Schurken gehören.“ Mit Bleistift hat Arnold Zweig diesen Satz auf der ersten Seite seines Romanmanuskripts⁶ zu Erziehung vor Verdun notiert. Weit intensiver als es eine bloße Widmung für die Toten des Krieges vermocht hätte, klingen diese Worte im Laufe der Erzählung nach. Sie bilden eine Art Epitaph, in dem die Sichtweise des Autors auf die historischen Ereignisse pointiert zum Ausdruck kommt. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Romans 1935 lebte Zweig bereits seit zwei Jahren im Exil in Palästina. Umso deutlicher ist der Roman – über die Ereignisse der Jahre 1914– 1918 hinaus – von einer radikalen Kritik an Militarismus, Nationalismus und Krieg geprägt. Mit welcher Form der Kriegsdarstellung lässt sich einerseits eine möglichst breite Leserschaft gewinnen und diese andererseits zugleich umso nachdrücklicher gegen den Krieg aufbringen? Diese Grundsatzfrage und das darin anklingende Dilemma hatte Zweig mit von vielen linksintellektuellen Autoren seiner Zeit gemein. Umso wichtiger ist diese Frage für das Verständnis seines Romans. In Erziehung vor Verdun betont Zweig die Frage nach den Ursprüngen des Krieges und unterstreicht die Notwendigkeit zur Veränderung eines Gesellschaftssystems, das diese Urkatasprophe überhaupt erst möglich gemacht hat. Nach dem zweiten Weltkrieg und den von Nazideutschland verübten Gräueltaten, regten die Schriftsteller aus dem Exil – und mit ihnen auch die Alliierten – an, sich den Fragen rund um eine mögliche „Reorientation“ und „Reeducation“ der Deutschen zu widmen. Zweigs Begriff der „Erziehung“ wurde somit schlagartig wieder aktuell: In der DDR war der Roman ein nahezu unumgängliches Standardwerk und wurde seit 1950 unaufhörlich neu aufgelegt.⁷ Deutsches Exilarchiv 1933 – 1945, Frankfurt a. M. Der Roman wurde siebenmal im Aufbau-Verlag in Ost-Berlin und siebenmal bei Reclam in Leipzig verlegt. Insgesamt kommt der Roman damit in der DDR auf eine Druckauflage von über 400.000 Exemplaren.
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Unter dem Schlagwort der „Erziehung“ wurde der Roman in das ideologische Fundament eines Regimes eingeschrieben, zu dessen Selbstverständnis es von Beginn an gehörte, sich in der Förderung von Kultur und Erziehung zu beweisen. Als Mittel der politischen Erziehung eignete sich Zweigs Roman unter anderem auch deshalb so besonders gut, weil seine Betrachtung des Krieges unverkennbar von einer marxistischen Weltsicht geprägt war. Bertolt Brecht schätze Erziehung vor Verdun als ein Werk ein, das anderen Kriegsromanen gerade darin überlegen war, dass es Zweig gelungen war, den Krieg konsequent als einen großen Klassenkampf zu schildern.⁸ Besonders deutlich tritt diese politisch-erzieherische Dimension des Romans auch in Günthers filmischer Adaption zutage. Günthers Inszenierung war sogar mehr als nur ein „geeignetes Instrument zur Geschichtserziehung“⁹. Der Film lud in seiner Machart regelrecht dazu ein, als kinematografisches Pendant eines „Erziehungsromans“ gelesen zu werden. Einerseits erscheint der Film somit nahezu wie ein Spätausläufer der Tradition des Erziehungsfilms der Zwanziger- und der beginnenden Dreißigerjahre. Andererseits ist er damit zugleich unmittelbar anschlussfähig an die Kinoauffassung der DDR, die hierin nicht weniger als das bedeutendste Medium zur Erziehung und Massenbeeinflussung sah. Gleichzeitig bot Günthers Romanverfilmung durchaus auch Raum für signifikante filmische Neuerungen: Die von ihm kreierte eigenwillige Perspektive, mit der er die VerdunSchlacht im Format eines panoramaartigen Überblicks zeigte, wurde zu einem Archetypus in der Darstellung einer „Gesamtschlacht“. Unter den filmischen Darstellungen des Ersten Weltkrieges ist Erziehung vor Verdun auch deshalb besonders interessant, da der Regisseur eine auf den ersten Blick üblich erscheinende Bildauswahl mit einem sehr originellen Schnitt zu kombinieren verstand. Dieser originelle Zug ist auf die besondere Komposition und die Raumkonstruktion des Filmes zurückzuführen. Durch den Schnitt ergibt sich ein Wechselspiel dreier gänzlich verschiedener Bildmaterialen: angefangen von den fiktionalen Bildern der Erzählung, über historische Archivaufnahmen der Schlacht, bis hin zu einer Reihe halbfiktionaler Sequenzen. Diese unterschiedlichen Bildgenres und Zeitebenen eröffnen drei ungleichartige Räume, die kunstvoll ineinander übergreifen: der diegetische Raum aus dem Roman, ein anderer diegetischer Raum, der für das Drehbuch entworfen wurde, und der extradiegetische Raum, der sich durch das verwendete Archivmaterial auftut.
Bertolt Brecht an Arnold Zweig, London 30. Mai 1936. In: Brecht, Bertolt: Große Kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 28, Briefe I (1913 – 1936). Berlin/Frankfurt a. M. 1998, S. 554. Brandt, „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“, S. 236.
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Diese für die damalige Zeit noch recht neue Form der Komposition stellt meiner Meinung nach eine äußerst wirksame Methode dar, um die Inanspruchnahme der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg sichtbar zu machen.
Der diegetische Raum: die fiktionale Landschaft in Film und Roman In allen fünf Romanen des Zyklus Der große Krieg der weißen Männer tritt die Figur des Armierungssoldaten und Schriftstellers Werner Bertin in Erscheinung. Diese Figur ist unverkennbar so etwas wie das Alter Ego des Verfassers, dessen meiste Erzählungen deutlich autobiografische Züge tragen und damit oft sogar dem Genre der Autofiktion nahekommen. Der Roman Erziehung vor Verdun hat aber nicht zuletzt auch eine dokumentarische Bedeutung: Die Vielfalt der Situationen, die Bertin erlebt, beschreiben nahezu alle Schauplätze der Schlacht und bieten somit eine kontrastreiche Darstellung dieser Kriegslandschaft. Hinzu kommt in diesem Zusammenhang, dass auch die Beziehungen und Gespräche zwischen den einzelnen Figuren viele politische, soziologische und psychologische Gedanken des Autors wiederzugeben scheinen. Diese Form der kritischen Fiktion, die sich auf autobiografisches Material stützt, hat im Wesentlichen zwei Aufgaben: Einerseits stellt sie einen besonders glaubhaften Erlebnisbericht dar und verfolgt andererseits zugleich das aufklärerische Ziel, die diffuse und teils widersprüchliche Motivlage jener Menschen zu beschreiben, die sich bereitwillig an einem solchen Jahrhundertkrieg beteiligten. Das sich hieraus ergebende Stimmungsbild ergibt einen gesellschaftlichen Querschnitt, der das von deutschnationalen Weltkriegsromantikern beschworene Idealbild einer vermeintlich geschlossenen Kriegs- und Heeresgemeinschaft höchst effektvoll als Schimäre entlarvt. Genau so wollte es Egon Günther auch in seinem Film inszenieren. Es ist beeindruckend, mit welcher Genauigkeit sich Günther hierbei an seiner Vorlage orientierte. Wie werkgetreu seine Inszenierung ausfiel, wird besonders mit Blick auf die von ihm übernommenen Dialogpassagen deutlich. Es handelt sich hierbei vor allem um jene Textstellen, in denen von Werner Bertins Kriegserfahrungen die Rede ist: So erfährt man aus dem Munde Bertins – nahezu wortgetreu wie in der Vorlage – wie dieser als Armierungssoldat an die Westfront nach Frankreich beordert wurde und wie die dort erlebten Schrecken des Krieges eine grundsätzliche Veränderung seines politischen Bewusstseins bewirkten. Die Spielszenen des Filmes wurden von Kameramann Erich Gusko mit einer Handkamera aufgenommen, „die unruhig zwischen den Figuren pendelt, deren inneres Beben transparent macht und immer auch den Raum zwischen ihnen
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ästhetisch ins Spiel bringt“.¹⁰ Bertins Geschichte bietet darüber hinaus immer wieder Gelegenheit, um wertvolle Details über den Kriegsalltag in Szene zu setzen. Zunächst gibt eine Vielzahl von Szenen das Leben im Fort Douaumont wieder: so etwa wenn Bertin dort den Pionierleutnant Kroysing besucht, oder die Kompanie des Hauptmanns Niggls dorthin verlegt wird. Aber auch das Gebiet im Hinterland der Front von Verdun wird von Günther wiederholt auf die Leinwand gebracht. Die dortigen Szenen geben Einblick in die gewaltige Logistik hinter der deutschen Kriegsmaschinerie, sie zeigen das Eintreffen und Verladen von Nachschub an Proviant und Munition. Darüber hinaus wird das Hinterland aber vor allem in seiner Funktion als Rückzugsraum für die Erholung und Neuformierung erschöpfter oder dezimierter Truppenverbände präsentiert: Gerade jene Szenen, die die Soldaten während ihrer Ruhepausen im Badewagen, beim Kartenspiel oder im Lazarett zeigen, sind es, in denen immer wieder auch politische Gespräche zwischen den Soldaten stattfinden. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn Werner Bertin seinen verwundeten Kameraden, den Sozialdemokraten Wilhelm Pahl, im Lazarett besucht und bei dieser Gelegenheit auch den am Bein verletzten Leutnant Kroysing wiedersieht. Der diegetische Raum besteht aber nicht nur aus diesen Fiktionsbildern, die mit einem Sepiafilm gedreht wurden, sondern auch aus einigen Farbfilmszenen. Diese Farbdramaturgie¹¹führt bei genauerer Betrachtung einen interessanten Aspekt in Günthers Montageprinzip vor Augen: Denn bemerkenswerterweise wurden nur die Sequenzen aus dem Hinterland, sowie die Fiktionsbilder aus den 1970er-Jahren in Farbe gedreht. Dies ist insofern bemerkenswert, als auf diese Weise die farbigen Szenen jeweils als eine Zäsur wahrgenommen werden und somit unwillkürlich aus den Bildern des Kriegsalltags herauszufallen scheinen. Sowohl hinsichtlich ihrer Form als auch ihres Inhaltes nehmen diese Farbfilmsequenzen somit eine Sonderstellung ein; so zeichnen sie sich oftmals zum Beispiel durch einen besonders spielerischen Charakter aus und zeigen kurze Phasen der Ablenkung und des Ausruhens für die Soldaten im Hinterland der Front. Der Anfang des dritten Teiles kann in diesem Zusammenhang als besonders bezeichnend gelten. Ein paralleler Schnitt zieht einen Vergleich zwischen der Erholung der Soldaten und des Luxuslebens einiger hoher Offiziere. Diese Eröffnungssequenz besteht aus folgenden Szenen: 1/ die deutschen Soldaten verbringen Zeit in einem behelfsmäßigen Bordell, das von einer theatralischen „Erziehung vor Verdun“. Ich war immer ein Spieler. In: Berliner Zeitung vom 23. 10. 2013 (https://www.berliner-zeitung.de/kultur/-erziehung-vor-verdun-ich-war-immer-ein-spieler3119384). Egon Günther hat diese Technik in seinem vorigen Film Junge Frau von 1914 ausprobiert und in diesem weiterentwickelt.
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Puffmutter geführt wird, 2/ die Soldaten befinden sich im Badewagen um ihre Geschlechtsteile zu waschen und sich zu rasieren, 3/ im Park eines Gutshauses beteiligen sich hochrangige Militärangehörige an einer Hetzjagd, 4/ die Frontsoldaten erhalten ihre Mahlzeit, 5/ am Ende der Jagd kommen die Jäger mit einem Wildschwein zurück. Der mit diesem parallelen Schnitt erzielte Effekt wird zusätzlich wiederum auch durch eine signifikante Farbdramaturgie betont: Sowohl die Szenen im Bordell als auch die Jagdszenen im Park sind in Farbe gedreht, während alle übrigen in Sepia gehalten sind. Spätestens seitdem der Farbfilm zum Standard wurde, werden in schwarzweiß gedrehte Zwischensequenzen vom Publikum als Signal verstanden, dass die gezeigte Handlung in der Vergangenheit spielt. Im Kontrast dazu werden die farbigen Sequenzen dann umgekehrt automatisch der erzählten Gegenwart zugerechnet. Diese traditionelle Dichotomie hat in der Kinoanalyse aber auch noch eine darüber hinausgehende symbolische Bedeutung als Indikator für den fiktionalen bzw. dokumentarischen Charakter der gezeigten Aufnahmen, denen deshalb intuitiv ein unterschiedlicher Realitätsgehalt zugesprochen wird. Somit ist für das Publikum klar, dass die in Sepia gehaltenen Bilder entweder Szenen aus der Vergangenheit zeigen, oder aber das unmittelbare Kriegsgeschehen wiedergeben, das durch die künstlerische Montage mit historischem Filmmaterial noch zusätzlich an historischer Glaubwürdigkeit gewinnt. Auf diese Weise entsteht ein Erzählungsraum, in dem suggeriertermaßen die Realität in Verdun zum Ausdruck kommt. Die farbigen Sequenzen, die erkennbar stets nur das Hinterland der Front zeigen, kennzeichnen dagegen einen Abstand zur Realität des Krieges. Meiner Ansicht nach bringt dieser Verfremdungseffekt auch eine politische Intention des Regisseurs zum Ausdruck: Metaphorisch erscheinen die farbigen Bilder weniger real als ihre Pendants in Sepia, weniger real nicht im Sinne ihrer Wahrhaftigkeit, aber umso mehr im Erlebnis des Grauens und der Unmenschlichkeit des Krieges. Am Ende des Films unterstreichen zwei aufeinanderfolgende Szenen diese Form der Gegenüberstellung mit Blick auf die Nachkriegszeit. Zunächst werden die Mitglieder einer erkennbar wohlhabenden Familie gezeigt, wie sie im Garten ihres Landsitzes um einen Tisch versammelt dem Familienvater, einen Offizier, voller Bewunderung dabei zusehen, wie er auf einen Hindernisparcour entlang reitet. Sie applaudieren ihm nach jedem erfolgreichen Hindernissprung. Im Wechsel dazu wird ein Schwimmwettkampf zwischen Kriegsversehrten gezeigt. Die Nachkriegszeit für Offiziere und verstümmelte Frontsoldaten wird hier vergleichend gegenübergestellt. Dieser symbolische Brückenschlag zwischen den denkbar ungleichen Lebensrealitäten dieser ehemals verbundenen Hierarchieebenen ist von erkennbar politischem Gehalt. Die Kombination von parallelem Schnitt und politischer und sozialer Konnotation begegnet uns nicht nur mit Blick
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auf die fiktionalen Bilder des Films, sondern auch in der Montage des historischen Filmmaterials.
Der extradiegetische Raum: das Bildmaterial aus deutschen und französischen Archiven Diese Form der Collage von Archivmaterial und Bildern der filmischen Fiktion ist ein etabliertes Stilmittel, das bereits in einer ganzen Reihe von Weltkriegsfilmen Verwendung fand. Schon zu Beginn der 1920er-Jahre war es üblich, Montagen mit Originalaufnahmen von Kriegsschauplätzen zu erstellen.¹² Meist vermengten diese Filme fiktive Szenen, Dokumentarsequenzen, Archivbilder und persönliche Erlebnisberichte in erkennbar pädagogischer und pazifisticher Absicht. Diese Form bildunterlegter Wortmeldungen von Zeitzeugen erscheinen nahezu wie eine „Anklagerede mit Bildern gegen den Krieg“¹³. Beispielhaft sei an dieser Stelle nur auf Filme wie in Verdun tel que le poilu l’a vécu (Émile Buhot, 1927, Frankreich), Le film du poilu (Henri Desfontaines, 1928, Frankreich), Douaumont ¹⁴ (Heinz Paul, 1931, Deutschland) und Les hommes oubliés (Alexandre Ryder und André Dugès, 1935, Frankreich) verwiesen. Das konsequente Zurückgreifen auf Archivbilder hing unmittelbar mit dem erzieherischen Charakter dieser Aufklärungswerke zusammen. Ihre Vorgehensweise stützte sich auf eine „Pädagogik des Schocks und der Aufregung“¹⁵, die gegen die Vergessenheit und die Gleichgültigkeit der Zeitgenossen gerichtet war. Das Archivmaterial wurde hierbei als eine Art Hilfsmittel oder „aide-mémoire¹⁶“ verstanden, dessen vermeintlich objektives Wesen es zu betonen galt, um das Gedächtnis an die Gewalt des Krieges wachzuhalten. Egon Günther stand mit seinem Ansatz also ganz und gar in Kontinuität zu dieser Tradition. Meist wurde das Material in mehr oder weniger lange Sequenzen geschnitten, die man für geeignet hielt, die Authentizität des im Film dargestellten Kriegsgeschehens zu bezeugen. In ähnlicher Weise verfährt auch Günther, wenn er seine Vision der Schlacht um Verdun und den erbitterten Kampf um das Fort Douau Über die Drehverfahren und die Natur dieser Bilder siehe Véray, Laurent: La grande guerre au cinéma. De la gloire à la mémoire. Paris 2008, S. 23 – 30. [„réquisitoire en images contre la guerre “], Véray, La grande guerre au cinéma, S. 101. Über diesen Film, siehe Rother, Rainer: Germany’s „Douaumont“ (1931): Verdun and the depiction of World War I“. In: Historical Journal of Film, Radio and Television, (1999)19:2, S. 217– 238. [„pédagogie du choc et de l’émotion“], Rother, Germany’s „Douaumont“. Rother, Germany’s „Douaumont“, S. 99.
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mont als eine Collage von Archivbildern inszeniert. Seine Entscheidung für dieses Vorgehen und seine Kriterien bei der Auswahl des Materials legte Günther 1973 in einem Interview mit Ilse Jung im Auftrag des Fernsehdienstes dar: Ich konnte und wollte das Kriegsgeschehen nicht nachgestalten, weil es in jedem Falle so etwas wie eine „sportliche Variante“ des Krieges geworden wäre, und das ist unmoralisch. Das ist der Hauptgrund, weshalb ich, was man im Sprachgebrauch unter „Materialschlacht“ versteht, aus authentischem Material gesucht habe.¹⁷
Was den Film Erziehung von Verdun jedoch gänzlich einzigartig macht, ist sowohl die Fülle der ca. 40 Minuten umfassenden Materialausschnitte, als auch die meisterliche Art und Weise, mit der sie in die Fiktion des Filmes eingewoben sind. Die Aufnahmen beziehen sich auf verschiedene Ereignisse, Orte und zahllose Alltagsdetails des Krieges. Das Material stammte aus deutschen und französischen Archiven und war erst dank einer Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern zugänglich.¹⁸ Manchmal sind die Archivbilder dem diegetischen Raum in der Kontinuität der Erzählung zugeordnet. Anschaulich wird diese Form der handlungsleitenden Bildverbindung anhand des folgenden Beispiels: Eine Archivaufnahme, die ein Flugzeug am Himmel zeigt, ist drei fiktionalen Sequenzen vorangestellt: Ein Soldat, der das Flugzeug beobachtet, gefolgt von Granatfeuer und Aufnahmen, die den Großbrand eines Lagers zeigen. Hier ist es also das Dokumentarbild, das den Luftangriff auf den Nachschubweg und das Munitionslager in der Filmhandlung einleitet. Günther nutzt die historischen Darstellungen vor allem um jene Romanauszüge zu illustrieren, in welchen die Kämpfe, das Granatfeuer und der Alltag im Grabenkrieg beschrieben werden. In ihrem schnellen Schnitt zeigen diese Sequenzen die Erfahrung der Schlacht und die Entwertung des Lebens nahezu wie im Zeitraffer. Das Fort Douaumont und die Umgebung von Verdun werden dabei mit großer visueller Kraft dargestellt, und mit ihnen auch die Gräben, die Schützenreihen, die verstümmelten Leichen und die hilflos im Schlamm stecken gebliebenen Soldaten. Nicht nur die Schlacht um Verdun wird gezeigt, sondern auch andere Fronten des Krieges, wie etwa die Seeschlacht gegen Großbritannien oder auch die Hei-
Interview mit Egon Günther vom Fernsehdienst, 1973. In: DVD-Booklet, RBB-Media-GmbH, Berlin 2010, S. 7– 9, hier S. 8. Die deutschen Archive wurden französischen Forschern zugänglich gemacht. Für Günther war die Verwertung des Materials kostenlos. Der Regisseur und sein Stab haben für den Film etwa 30.000 bis 40.000 Meter Dokumentarfilmmaterial auf ihrer Verwendbarkeit geprüft.
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matfront: die Nachschubwege, die Munitionsfabriken, in denen Frauen arbeiten, Zivilisten, Vertriebene aus den zerstörten Städten und Dörfern. Diese Dokumentarausschnitte visualisieren einen Querschnitt durch das Kriegsgeschehen: Sie zeigen die Abnutzungsschlacht mitsamt ihrer materiellen Folgen und vermitteln somit einen Eindruck von der Totalität des Krieges und seinen ökonomischen und soziologischen Konsequenzen. Dank einer sorgfältigen Schnittarbeit hebt Egon Günther mehrmals die politische Dimension dieser Archivbilder hervor. Wie bereits gesehen, bedient er sich hierfür mit Vorliebe der Technik des parallelen Schnitts. In der Gegenüberstellung der sehr unterschiedlichen Lebenslagen einzelner Gruppen gelingt es ihm, gesellschaftspolitische Fragen in intuitiv verständliche Sinnbilder zu übersetzen. Zwei emblematische Bildfolgen bringen das besonders vordergründig-lehrhafte Potenzial dieser Technik zum Vorschein: In farbigen Bildern wird die karrikaturhaft überzeichnete Figur eines sich an Fleisch überfressenden und mit Rotwein besaufenden Generals gezeigt. Vorangestellt und im Nachgang dieser Szene sieht man Bilder von Schlachten, Kanonenfeuer, toten Soldaten, Truppentransporten, Panzern sowie einige Luftaufnahmen, die die infernale Gewalt des Granatfeuers noch zusätzlich betonen. Angesichts des symbolischen Gehalts dieser Gegenüberstellung ist die Versuchung groß, in dieser Art des provokanten Parallelschnitts sogar als eine offene Anknüpfung an die Tradition Sergei Eisensteins zu sehen. Wie kann man beim Anblick dieser Bilder nicht an Der Streik (1928, UdSSR) denken? Eisenstein montierte für diesen Film in einer seither berühmten Sequenz eine Schlachthausszene, in der einer Kuh die Kehle durchtrennt wird, mit Bildern, die das Massaker an Arbeitern durch die zaristische Armee zeigen.¹⁹ Analog dazu verkörpert Günthers Figur des nimmersatten Generals gleichermaßen den verheerenden Geist des preußischen Imperialismus als auch die Dekadenz und die Unmoral einer sich an Gräueln des Krieges bereichernden Oberschicht. Auf diese Weise werden zahlreiche Passagen des Romans zu einer Sequenz verdichtet, in denen Zweig nicht nur den Kriegsursprüngen nachspürt, sondern den Krieg zugleich als Klassenkampf verständlich macht. Günther gelingt durch diesen Kunstgriff eine filmische Übersetzung der erzieherischen Leitmotive des Romans: Zweigs Kritik am preußischen Imperialismus und die damit einhergehende Verurteilung der herrschenden Klasse werden in dieser Sequenz wirkungsvoll und allgemeinverständlich auf den Punkt gebracht. Günther versuchte damit zugleich eine publikumswirksame und zeitgemäße Interpretation des erzieherischen Grundtons seiner Vorlage zu entwerfen:
Man findet auch diese spezielle Schnitttechnik im deutschen Kino, zum Beispiel bei Walther Ruttmann in Berlin, die Sinfonie der Großstadt (1927, Deutschland).
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Ich meine, man muss jeden historischen Stoff zeitgemäß interpretieren. Dies ist wahrscheinlich die schwierigste und zugleich die wichtigste Aufgabe eines Regisseurs, der sich eines solchen künstlerisch und politisch bedeutsamen Werkes annimmt: Die Substanz des Romans erhalten, und das Werk auf neue Weise für die Menschen unseres wissenschaftlichen Zeitalters erlebbar machen.²⁰
Die von Günther verwendeten Archivstreifen vermitteln darüber hinaus vor allem aber eine globale Perspektive von den Gräben bis an die Heimatfront. In diesem Sinn lässt sich insbesondere das französische Material deuten. Denn einzelne Passagen, wie zum Beispiel die Bilder der Siegesparade in Paris im Jahr 1918 sind mit einer französischen Tonspur unterlegt. Auch in allen Spielszenen, in denen Franzosen auftreten, wird konsequent französisch gesprochen, ohne dass diese Passagen eigens untertitelt würden. Auf diese Weise wird eine Brücke zwischen den Frontsoldaten beider Seiten geschlagen: Die fremden Feinde von gestern gleichen sich nicht nur in ihren Schmerzen, Leiden und traumatischen Kriegserlebnissen, sie sind vor allem Angehörige einer gemeinsamen Klasse und damit zugleich als natürliche Verbündete im Kampf für eine revolutionäre Erneuerung der gesellschaftlichen Verhältnisse in beiden Staaten dargestellt. Die Kombination aus Archivbildern mit Originaltonspur und Spielszenen, in denen sich die Schauspieler jeweils in ihrer Muttersprache bewegen fügt sich wiederum zugleich in eine Filmtradition der 1930er-Jahre ein, die nicht weniger versuchte, als ein gemeinsames Gedächtnis an den Ersten Weltkrieg auf der Leinwand entstehen zu lassen. Als prominenter Vertreter dieser Gattung kann zum Beispiel Leon Poiriers Verdun, vision d’histoire (1928, Frankreich) gelten. Der Film rief nachdrücklich zur Annäherung zwischen den ehemaligen Feinden auf,²¹ und kam nahezu einer Ode an den universellen Frieden gleich. Zugleich strebte Poirier eine möglichst detailgetreue Wiedergabe und Verurteilung des Krieges an, wie es der französische Historiker Laurent Véray zusammenfasste.²² Auch hierin lässt sich eine Parallele zu Erziehung vor Verdun erkennen, denn auch Günther verstand seinen Film als Mittel der historisch-politischen Erziehung. Susanne Brandt kommt in der Frage nach der Intention des Regisseurs zu dem Schluss, dies „habe mit dem Nebeneinander von dokumentarischem Material und Spielfilmszenen das Publikum schockieren wollen. Der Schock, so sein Kalkül, mo-
Interview mit Egon Günther vom Fernsehdienst, S. 7. [qui appelait au rapprochement entre anciens ennemis], Jacquet, Michel: La grande guerre sur grand écran. Parçay-sur-Vienne 2006, S. 31. Véray, La grande guerre au cinéma, S. 111.
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bilisiere das Publikum und zwinge es, sich für der Erhalt des Friedens einzusetzen.“²³
Der supradiegetische Raum: Fiktionsbilder der 1970er-Jahre Der Film beginnt und endet jeweils in der Gegenwart. Die erste und die letzte Sequenz spielen im Frankreich der 1970er-Jahre. In beiden Szenen begegnet uns der Schauspieler Klaus Piontek in seiner Rolle als Werner Bertin. Das Zustandekommen dieser Handlungsklammer hätte es erfordert, dass die Figur Bertins am Ende des Films weit über achtzig Jahre alt sein müsste. Die Verwirrung über das offensichtlich unveränderte Alter der Hauptfigur löst sich in einer Allegorie auf. Die Tatsache, dass die Person, die hier beim Besuch eines Kriegsdenkmals gezeigt wird, noch immer das selbe Gesicht hat wie der Verdun-Soldat von einst, lässt die Grenzen der Zeit verschwimmen und betont somit nur umso mehr die Universalität der Erinnerung. Zu Beginn des Films fährt der jung gebliebene Werner Bertin vom Place de l’Étoile in Paris nach Verdun, um dort an einer Führung im Fort Douaumont teilzunehmen. Hier lauscht er den Ausführungen des deutschsprachigen Guides und den Erinnerungen eines alten französischen Soldaten. An späterer Stelle wohnt er einer Parade französischer Veteranen bei. Bei alledem tauchen in seinem Gedächtnis immer wieder Bilder aus dem Ersten Weltkrieg auf. Es handelt sich hierbei um zeitgenössische Dokumentaraufnahmen über die Schlacht um Verdun. In der Schlussszene des Films unternimmt Bertin einen Spaziergang in der Nähe des Beinhauses von Douaumont, vorbei an den einstigen Gräbern. Auf der Tonspur sind die Kommentare der deutschsprachigen Führung zu hören, die hier nun die Bilder der Abfahrt von Verdun und Bertins Rückkehr nach Paris begleiten. Die Fahrt zwischen Paris und Verdun, und die aus dem Auto heraus gefilmten Aufnahmen der Stadt zeugen von den selbstverständlichen Reisemöglichkeiten, die das Filmteam genoss. Sie können somit zugleich als Hinweis auf das Ende der diplomatischen Isolierung der DDR verstanden werden. Betrachtet man den Film im Kontext des Strebens der DDR nach internationaler Anerkennung, so erscheint zumindest der Zeitpunkt seiner Erstausstrahlung nahezu symbolisch: Denn diese erfolgte nur zwei Monate nach der Aufnahme der DDR in die Vereinten Nationen
Brandt, „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“, S. 250.
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am 18. September 1973.²⁴ Angesichts dieser zeitlichen Koinzidenz könnte man sogar geneigt sein, den Film rückblickend auch in einen Kontext zum innerdeutschen Verhältnis und zur seinerzeit einsetzenden Politik des „Wandels durch Annäherung“ setzen zu wollen. Eine derart großzügige Interpretation wäre indes nur möglich, wollte man übersehen, dass die kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit für die DDR letztlich eben doch vor allem ein Element ihrer historischen Selbstlegitimation war, die sich seit jeher in radikaler Abgrenzung zur Bundesrepublik vollzog. So war es in der DDR-Presse selbst während dieser Phase der Annäherung noch durchaus üblich, die Bundesrepublik als NS-Nachfolgestaat und als Reservat für die Nachfahren des preußischen Militarismus darzustellen. Die beschriebene filmische Aussöhnung mit dem einstigen Erzfeind Frankreich ließe sich also auch ebenso gut in dieser Richtung deuten. Denn es stellt sich die Frage, ob sich die DDR durch diesen Film nicht zunächst vor allem selbst einen Vorsprung gegenüber der Bundesrepublik bescheinigte. Unabhängig davon ist diese Sequenz aber vor allem als ein ästhetisches Mittel zu verstehen, um den Zuschauer hier sogar wortwörtlich an das anspruchsvolle Sujet eines „geteilten Gedächtnisses“ heranzuführen. Denn das DouaumontDenkmal steht für das Leid aller Kriegsteilnehmer und ist somit ein Ort der Erinnerung jenseits des Nationalismus. Besonders deutlich tritt dieser Geist des Ortes im Moment des Zusammentreffens der Hauptfigur und des alten „Poilu“ zutage. Aber auch die Bilder am Rande der Parade französischer Veteranen weisen in die gleiche Richtung. Mit diesen Szenen wird gleich zu Beginn des Films die universelle Bedeutung der Erinnerung an die Erfahrungen des Krieges als übergeordnetes Leitmotiv der Handlung etabliert. Es ist meines Erachtens naheliegend, in dieser Stoßrichtung auch eine Kritik eines deutsch-nationalen Patriotismus zu erkennen. In dieser Implikation verweist die politische Aussage des Filmes wiederum zugleich auf eine internationale Strömung des zeitgenössischen Kinos, die sich ihrerseits einer kritischen Hinterfragung nationalstaatlicher Patriotismuskonzepte verschrieb. Zu nennen wäre in diesem Zusammenhang beispielsweise King and country (Joseph Losey, 1964, USA) und Uomini contro (Francesco Rossi, 1970, Italien). Beide Filme schildern wie der Krieg die sozialen Beziehungen verhärtet, da er lediglich eine Erweiterung der Klassengesellschaft ist. Zugleich legen beide Filme offen, wie sehr die mythologische Überhöhung kriegerischer Heldentaten letztlich doch nur politischen Zwecken dient. Glaubt man dem Historiker Laurent Véray, so sind diese Filme nicht nur Anti-Kriegs-Filme, sondern vielmehr Filme, die die Unter-
Die drei Teile wurden am 25. November, 28. November und 2. Dezember 1973 ausgestrahlt.
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drückung einer Klasse anprangern. In dieser Weise interpretiert erscheint der Erste Weltkrieg als „der monströse Zusammenstoß der Imperialismen, deren Völker die blutige Rechnung bezahlten“.²⁵ Mit Blick auf den Begriff der Erziehung lohnt es sich, sich zwei weitere filmische Mittel vor Augen zu führen, derer sich Egon Günther bedient. Als erstes fallen in diesem Zusammenhang einige in den Film hineinmontierte Textbotschaften²⁶ ins Auge. Mit diesen versuchte Egon Günther „die Realität des Weltkriegs aus seiner Sicht ein[zu]fangen“.²⁷ Ebenso auffällig sind etwa zehn Spielszenen, die allesamt unmittelbar vor oder nach eingestreuten Archivbildern des Krieges montiert wurden: Sie alle zeigen eine Gruppe von Schulkindern und lassen dabei die Stimme eines Jungen hören, der aus Zweigs Roman vorliest. Die Stimme des jungen Vorlesers wurde teilweise auch als Tonspur über die Archivaufnahmen gelegt und wird in diesen Passagen als Filmkommentar wahrgenommen. Zweigs Worte begleiten und erklären die Archivbilder des ersten Weltkriegs. Der diegetische Raum – literarisch und filmisch – und der extradiegetische Raum sind hier in diesem Supraraum der Darstellung miteinander verbunden. Das offenbar im schulischen Kontext vorlesende Kind steht zugleich sinnbildlich für die historische Lehrhaftigkeit des Romans, in dessen Tradition sich Egon Günther mit diesen Szenen bereitwillig einordnet. Die Szenen verweisen zugleich auf den gemeinsamen Titel von Roman und Film und die gemeinsamen Ziele von Autor und Regisseur: Wir haben diese ständige Konfrontation der Gegenwart mit dem historischen Geschehen bewusst angestrebt. Indem wir auf diese Weise kritische Distanz zur Historie wahrten, entgingen wir der Gefahr, einen „rein“ historischen Film zu machen. Gleichzeitig waren wir durch die ständige Behauptung der Gegenwart in der Lage, im historischen Geschehen genauer zu sein.²⁸
Die inhaltliche Verklammerung von Anfang und Ende umgibt die diegetischen und extradiegetischen Räume, die Fiktionsbilder und die Archivausschnitte, die filmische und die literarische Erzählung. Die beiden Sequenzen erscheinen selbst wie ein supradiegetischer Raum, der als Rahmenerzählung fungiert, die eine zeitgenössische Sicht auf das historische Geschehen ermöglicht. Zum Abschluss möchte ich Marcel Reich-Ranicki zitieren, der 1974 nach der Erstausstrahlung von Erziehung vor Verdun im Fernsehen der Bundesrepublik zu [l’entrechoc monstrueux d’impérialismes dont les peuples payèrent la note sanglante], Libération vom 2. 6. 1971. Zum Beispiel: „Die bürgerlich Gesellschaft ist nicht reformierbar“. Brandt, „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“, S. 249. Interview mit Egon Günther vom Fernsehdienst, S. 7
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folgendem Urteil kam: „Solche Filme aus der DDR mag uns das Fernsehen so häufig wie möglich importieren […].“²⁹ Die authentischen und inszenierten Motive bilden eine bestürzende Einheit, die nicht nur von der Verdun-Schlacht und vom Ersten Weltkrieg erzählt, sondern die es darüber hinaus vermag, das Gedächtnis, das sich an diese Urkatastrophe knüpft, hinsichtlich seiner politischen Implikation zu hinterfragen. Ebenso wie Arnold Zweig, wollte auch Egon Günther bei seinem Publikum eine Verurteilung des Krieges auf dem Wege einer möglichst detailgetreuen Darstellung seiner Schrecken und Folgen bewirken. Dieser Film, der wie kaum eine andere DDRProduktion das Prädikat „pazifistisch“ verdient, gibt nicht nur Einblick in eine (ost‐)deutsche Perspektive, sondern liefert eine universelle Abhandlung über den Krieg. Er verweist auf Verdun, vision d’histoire, der „allen Märtyrern der grausamsten menschlichen Leidenschaft: dem Krieg“ gewidmet ist.
Zitiert in: „Erziehung vor Verdun“. Ich war immer ein Spieler.
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Der Erste Weltkrieg in der DDR-Kunst. Fragmente und Hindernisse einer Interpretation Ehret die neuen Meister. Der erste Weltkrieg in der DDR-Kunst: eine differenzierte Rezeption Seit einigen Jahren sind die offizielle sowie die inoffizielle Kunst der DDR immer mehr in den Focus der Forschung gerückt worden, nachdem diese direkt nach der Wende zunächst von den Kunsthistorikern pauschal abgewertet worden waren: Ein großer Teil der in der DDR produzierten Kunstwerke sind Auftragsarbeiten, wie die „westliche“ Kunstgeschichte sie sonst nur aus der Zeit vor den Avantgarden kennt, und diese Tatsache hat, zusammen mit der bewussten „östlichen“ Ablehnung der Abstraktion, lange eine offene Diskussion über die DDR-Kunst erschwert.¹ Kollektive Geschichte und ihre kunstspezifische Verbildlichung, die Historienmalerei, gehörte in der DDR, wie auch in anderen sozialistischen Ländern, zum Alltag.² Aus Aktualitäts- und politischen Gründen wurden historische Themen systematisch ausgewählt und bearbeitet: Man denke nur an die Präsenz in der DDR-Kunst von Themen wie den Bauernkriegen des 16. Jahrhunderts (die zum Bau des Panorama-Museums in Bad Frankenhausen 1988 geführt haben), die Revolution von 1848, die Pariser Kommune von 1870, der Kampf der internationalen Brigaden in Spanien zwischen 1936 und 1939, um nur einige der verbreitetesten Sujets zu erwähnen.³ In dieser Fülle von historischen Bildern sind Darstellungen des Ersten Weltkrieges selten zu finden, und das hängt sicherlich mit der politischen Bewertung dieses katastrophalen Ereignisses zusammen, aber aus der Katastrophe des Ersten Weltkrieges werden der Untergang der alten Gesellschaften und die neuen revolutionären Ideen hervorgehen, die die sozialistischen Gesellschaften umsetzen werden. Die Schwierigkeit, dieses Gemisch von Themen
Rehberg, Karl-Siegbert u. Kaiser, Paul (Hrsg.): Bilderstreit und Gesellschaftsumbruch: Die Debatten um die Kunst aus der DDR im Prozess der deutschen Wiedervereinigung. Berlin 2013; Rehberg, Karl-Siegbert [u. a.] (Hrsg.): Abschied von Ikarus. Bildwelten in der DDR – neu gesehen. Köln 2012; Kelly, Eleine u. Wlodarski¸ Amy (Hrsg.): Art Outside the Lines : New Perspectives on GDR Art Culture. Amsterdam 2011. Krenzlin, Ulrike: „Historienmalerei in der DDR. Anspruch auf die wahre Geschichte?“. In: Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte, 1 (1994), S. 213 – 234. Luhn, Rolf (Hrsg.): Sichtungen und Einblicke: Zur künstlerischen Rezeption von Reformation und Bauernkrieg im geteilten Deutschland. Petersberg 2011. https://doi.org/10.1515/9783110710847-012
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(und Gefühlen) auszudrücken, ist deutlich spürbar in dem Bronzerelief des Bildhauers Theo Balden (1904 – 1995), das 1972 für das Militärische Museum Dresden angefertigt wurde.
Abb. 1: Theo Balden, Der antiimperialistische Kampf der deutschen Linken, Dresden, Militärhistorisches Museum, 1977.
Den Auftrag des Armeemuseums der DDR erhielt Balden im Oktober 1969, und der Titel des Werks sollte lauten: Der antiimperialistische Kampf der deutschen Linken. Das Relief zeigt die Kolonnen des deutschen Militarismus, die bei ihrem Auszug in den Ersten Weltkrieg von einer kreuzschwingenden Priesterhand gesegnet und aus einem großen Füllhorn mit Blumen überschüttet werden, um anschließend ihrer Vernichtung entgegen zu marschieren. Der Katastrophe entgegen stellen sich Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die in Überlebensgröße das gesamte Relief dominieren: eine mütterliche Rosa Luxemburg beschützt die Demonstranten, ein kämpferischer Karl Liebknecht ballt die rechte Hand zur Faust; die kleine Demonstrationsgruppe weitet sich aus zu einer unübersehbaren Menschenmenge, während ein Teil der Soldaten sich den Demonstranten anschließt. An der Seite wird der illegale Kampf durch eine Gruppe Verschworener und die Gefahr der Inhaftierung dargestellt. Das Relief hat mehrere Titel getragen: Kampf der deutschen Linken gegen Imperialismus und Krieg, Kampf der Linken gegen Militarismus und Krieg, Kampf der Linken gegen den Ersten Weltkrieg, Der Erste Weltkrieg und der Kampf der Linken, und gerade diese Titelvielfalt verweist deutlich auf die Schwierigkeit, das Thema des ersten Weltkrieges in einem Kunstobjekt zu reprä-
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sentieren.⁴ Solche Schwierigkeiten bei der Benennung traten natürlich nicht auf, wenn es sich um die deutsche Novemberrevolution von 1918 handelte, die direkt mit der russischen Oktoberrevolution verbunden war und die ein häufig dargestelltes Thema wurde. Um für die DDR und für die deutsch-russische Freundschaft wirklich funktional zu sein, brauchte es Beispiele von Meutereien, die auf dem Gebiet der DDR stattgefunden hatten.⁵ Das beeindruckendste Beispiel in diesem Sinn ist sicherlich das Denkmal für die Matrosen von Rostock: nicht ein Denkmal, sondern ein Ort, die Aneignung eines Raumes und eines Ereignisses, und somit eine Gedenkstätte. Man reduziert oft das Denkmal auf die neun Meter hohe Bronzeplastik vom Bildhauer Wolfgang Eckardt (1919 – 1999), aber sehr wichtig für die historische Einbettung der Skulptur, und damit für die Bedeutung der Gedenkstätte, ist die 20 Meter lange Reliefwand von Reinhard Dietrich (1932– 2015), die eine erhöhte Fläche umgrenzt, unter der sich ein Ausstellungsraum über dieses historische Ereignis befand. Das Relief von Reinhard Dietrich zeigt die direkte Verbindung mit dem Parteiauftrag: Zuerst wird die Situation der Menschen im Ersten Weltkrieg gezeigt, dann die Niederschlagung des Aufstandes in der deutschen Seekriegsflotte im Sommer 1917, in dessen Folge die Matrosen Max Reichpietsch und Albin Köbis zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden, am Ende die Schüsse des Panzerkreuzers „Aurora“ in St. Petersburg im Herbst 1917, die als Signal zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution gelten und der Aufruf zur Revolution, die am Ende des Reliefs anfängt. Die monumentale Gedenkstätte war geplant (und diente auch) unter anderem als Ort für Gedenkveranstaltungen für die deutsch-sowjetische Freundschaft (und deswegen war der Bezug auf die Oktoberrevolution so wichtig).⁶ Es ist sicher kein Zufall, dass die nach vorne strebende Struktur in Rostock ein direktes Zitat des Denkmals für die Märzgefallenen in Weimar ist. Das Denkmal im Hauptfriedhof der Klassikerstadt, das die neun bei einer Kundgebung am 15. März 1920 von Putschisten erschossenen Arbeiter würdigt, wurde von Walter Gropius errichtet und 1922 enthüllt. Es wurde als unter den Nazis als „entartete Kunst“ zerstört, 1946 wieder aufgebaut und 1976
Siebeneicker, Arnulf: „Theo Balden, Der Kampf der deutschen Linken gegen Militarismus und Krieg“. In: Flacke, Monika (Hrsg.): Auftrag: Kunst 1949 – 1990. Bildende Künstler in der DDR zwischen Ästhetik und Politik. Berlin 1995, S. 217– 223. Richter, Rolf: „Die revolutionären Kämpfe in der deutschen Novemberrevolution als Tradition der DDR“. In: Pädagogik, 38 (1983) 10, S. 753 – 762. Die Novemberrevolution ist ein sehr häufig behandeltes Thema in der Malerei der DDR, z. B. in den Werken von Günther Brendel, Inge Platzer, Bernhard Heisig, Bernhard Franke. Siehe den Beitrag von Nicolas Offenstadt in diesem Band.
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unter Denkmalschutz gestellt.⁷ Die Gedenkstätte in Rostock ist in figurativer Form ein deutliches Zitat des abstrakten und geometrischen Blitzes von Gropius, doch die Rostocker Struktur, die den Raum für gemeinsame Nutzung öffnet, zielt stärker auf die kollektive Erfahrung von großen Betrachtermengen. Die riesige Bronzeplastik des Rostocker Denkmals wurde 1977 im Leningrader Zweigbetrieb des Allunionskombinats für Monumentalplastik gegossen und am 14. September 1977 in Rostock offiziell eingeweiht. Sie hätte die aufständischen Matrosen Max Reichpietsch und Albin Köbis darstellen sollen, aber der Künstler, selber Matrose im Zweiten Weltkrieg und überzeugter Pazifist, entwarf einen zeitloser Männerakt ohne Waffen, in dem die zwei gigantischen nackten Figuren entschieden nach vorne schauen und schreiten. Die Spitze von Gropius’ Blitz wird damit bei Eckardt bezeichnenderweise zur geschlossenen Faust. War es also möglich für einen Künstler bei einem offiziellen und zielorientierten Denkmal programmatisch einzuwirken? Um ein DDR-Kunstwerk interpretieren zu können, muss man eine ganz grobe, aber doch fundierte Periodisierung mitdenken: Die erste Phase, unter dem Muster des Sozialistischen Realismus und der Formalismusdebatte, kann mit den Worten Walter Ulbrichts resümiert werden: „Wir wollen in unseren Kunstschulen keine abstrakten Bilder mehr sehen, […]. Es ist höchste Zeit einen entschiedenen Kampf gegen den Formalismus und den Kosmopolitismus zu führen. […] die Grau in Grau Malerei, die ein Ausdruck des kapitalistischen Niedergangs ist, steht in schroffstem Widerspruch zum neuen Leben in der Deutschen Demokratischen Republik.“ (Rede vor der Volkskammer 31. 10. 1951, abgedruckt in Neues Deutschland am 1. 11. 1951).⁸ Die Bilder dieser ersten Phase mussten figurativ sein, farbig, optimistisch, nach vorne weisen: Zu sehen sind hier Menschen im Kollektiv in der Arbeiterbrigade, bei der Diskussion eines politischen Beschlusses, froh und aktiv. Tabuisiert wurden Alter, Gebrechlichkeit, Trauer, Einsamkeit, alle existentiellen Motive, alle religiösen Mitbedeutungen; Abstraktion oder Abweichung von „realistischer“ Darstellung wurden mit Skepsis aufgenommen oder komplett abgelehnt. Die bildende Kunst bekam in diesem Sinne Repräsentations- und Erziehungsaufgaben zugewiesen: Sie sollte ein Medium der Erzeugung idealer Bilder des Zukünftigen sein (und zwar kollektiver Bilder), und ein Mittel der Veränderung des Menschen und seiner Lebensbedingungen. „Die im Kunstwerk
Winkler, Klaus-Jürgen u. Bergeijk, Herman van: Das Märzgefallenen-Denkmal in Weimar. Weimar 2004. Judt, Matthias: DDR-Geschichte in Dokumenten: Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse. Berlin 1997. Zu der komplizierten Rezeption der Werke des Expressionismus in dieser ersten Phase: Steinkamp, Maike: Das unerwünschte Erbe. Die Rezeption „entarteter“ Kunst in Kunstkritik, Ausstellungen und Museen der SBZ und frühen DDR. Berlin 2008.
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gestalteten Erkenntnisse und Gefühle […] regen zu großen Taten für den Sozialismus an […] und erziehen zu echter Lebensfreude“, so ausdrücklich im Programm der SED noch im Jahr 1963.⁹ Mit dem Ende der 1960er-Jahre war aber eine Wende spürbar, und eine neue Kunstorientierung wurde auf dem VIII. Parteitag (15.–19. 6. 1971) der SED offiziell erklärt: Hier versprach Erich Honecker den Künstlern „Weite und Vielfalt“ und erlaubte (förderte sogar) die „schöpferische Suche nach neuen Formen“. Die Spannung zwischen den Erwartungen des politischen Apparats und den Ansprüchen der Künstler blieb, aber in einer neuen Dimension, sodass 1983 ein Maler wie Bernhard Heisig (1925 – 2011) auf dem IX. Kongress des Verbandes Bildender Künstler der DDR (VBK) sagen konnte, dass der Auftraggeber (der Staat, die Partei, das Kombinat) und der Künstler jetzt Partner geworden seien, dass der Künstler im Sozialismus sogar die Reibung mit dem Auftraggeber dringend benötige: „[M]an kann sich ab und zu ruhig die Zähne zeigen. Man tut das übrigens am besten lächelnd, weil man da die Zähne sieht.“¹⁰ Die bildende Kunst erhielt damit eine neue Funktion: Sie wurde zu einem Ventil, da sie eine Realität ausdrücken durfte, die von den stärker kontrollierten Medien wie Fernsehen, Radio und Zeitungen nicht unmittelbar wiedergegeben wurde. Kunst wurde somit zu einer Ersatzöffentlichkeit für gesellschaftliche Probleme, eine Ersatzdiskussionsplattform, damit nicht thematisierbare Spannungen überhaupt diskursfähig werden konnten. Es ist also nicht überraschend, dass in der ersten Phase der DDR-Kunst das Bild des Ersten Weltkrieges negiert wurde, sowohl in der zeitgenössischen Kunstproduktion, als auch in der Rezeption von Kunstwerken, die während des Ersten Weltkrieges oder in seiner Folge entstanden sind. Es war der Zweite Weltkrieg, der zugleich essentiell für die programmatische und politische Identität der DDR war, wie schon die Hymne allen in Erinnerung ruft: „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“: Die Ruinen sind ausschließlich die des Zweiten Weltkrieges, aus denen dann der fröhliche Aufbau hervorgeht. Beispielhaft in diesem Sinn ist das große Mosaik (24 x 3 Meter) aus Meißner Porzellan, das
Vgl. Rehberg, Karl-Siegbert: „Der ambivalente Staatsmäzen“. In: Rehberg [u. a.], Abschied von Ikarus, S. 41– 49; Goeschen, Ulrike: „Kunstmodell und Normdiktat. Die Etablierung des Sozialistischen Realismus zwischen 1945 und 1953“. In: Rehberg [u. a.], Abschied von Ikarus, S. 125 – 137. Gillen, Eckert: „Der entmündigte Künstler“. In: Feist, Günter [u. a.] (Hrsg.): Kunstdokumentation SBZ/DDR: 1945 – 1990. Köln 1996, S. 12– 15. Vgl. Feist, Günter: „Allmacht und Ohnmacht. Historische Aspekte der Führungsrolle der SED“. In: Feist, Kunstdokumentation SBZ/DDR, S. 42– 61; Mann, Bärbel: Auftragskunst zwischen politischem Diktat und künstlerischer Freizügigkeit. In: Feist, Kunstdokumentation SBZ/DDR, S. 582– 603; Rehberg, Karl-Siegbert u. Kaiser, Paul: Enge und Vielfalt. Auftragskunst und Kunstförderung in der DDR. Analyse und Meinungen. Hamburg 1999.
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den Aufbau der Republik im ehemaligen Haus der Ministerien der DDR darstellt (heute Bundesfinanzministerium).¹¹ Das Werk wurde einem Künstler mit einer außergewöhnlichen Biografie übertragen, nämlich Max Lingner (1888 – 1959): 1916 – 1917 selbst an mehreren Fronten im Krieg, 1918 am Matrosenaufstand beteiligt, ab 1920 in Paris, wo er dank seines Freundes Henri Barbusse als Illustrator der Zeitschrift Monde arbeitete, dann bei La Vie ouvrière und L’Humanité. In die Kommunistische Partei Frankreichs eingetreten, wurde er in einem Internierungslager gefangen gehalten, aus dem er fliehen konnte, um sich dann der kommunistischen Résistance anzuschließen. 1949 kehrte er nach Deutschland zurück und war seitdem Professor für Malerei an der Kunsthochschule BerlinWeißensee. Er wäre der perfekte Interpret der Meuterei des Ersten Weltkrieges gewesen, der perfekte Illustrator für die Texte über den Ersten Weltkrieg von Henri Barbusse, die in Ostdeutschland eine große Verbreitung fanden.¹² Sein Werk wurde aber als „französisch“ eingestuft, d. h. als zu leicht, zu charmant, seine Zitate von Matisse, Maillol, Léger wurden als formalistisch und dekadent rezipiert. Bevorzugt wurden in den Ausstellungen der 1950er-Jahre die positiven Bilder von üppigen, lächelnden Figuren, ohne Erwähnung blieb dagegen ein heute sehr bekanntes Bild von Lingner, das er 1946 geschaffen hatte: Zwei Kriege – zwei Witwen. Dieses Bild wurde 1948, obwohl nur für kurze Zeit, in Halle neben dem berühmten Triptychon von Otto Dix (1891– 1969) und einer Plastik von Käthe Kollwitz (1867– 1945) ausgestellt, dann geriet es in Vergessenheit; erst nach dem Tod des Malers wurde das Bild 1968 wieder ausgestellt.¹³ Die „Weite und Vielfalt“ ab den 1970er-Jahren beeinflusste nicht nur die Wiederanerkennung von Künstlern, die in der ersten Phase marginalisiert worden waren, sondern auch die Rezeption mancher Kunstwerke, die im Ersten Weltkrieg oder direkt danach erschaffen wurden, und ermöglichte damit die Bearbeitung dieses Themas auch in der gegenwärtigen Kunst: Ab dann werden die Werke der Meister, die die furchtbare Erfahrung des Ersten Weltkrieges miterlebt und dargestellt haben, durchgehend gefeiert. Diese Wandlung ist sehr deutlich im Fall der Rezeption von Ernst Barlach (1870 – 1938): Zuerst wurde er mit scharfer Kritik
Über die didaktischen Ziele der Wandmalerei siehe Schönfeld, Manfred: Das „Dilemma der festen Wandmalerei“. Die Folgen der Formalismus-Debatte für die Wandbildbewegung in der SBZ/DDR 1945 – 55. In: Feist, Kunstdokumentation SBZ/DDR, S. 444– 465. Siehe den Beitrag von Olaf Müller in diesem Band. Vgl. Ruthe, Ingeborg: Paris-Träume in Pankow. Vor 50 Jahren starb der Maler Max Lingner. Eine Stiftung pflegt sein Haus und den Nachlass. In: Berliner Zeitung, 14. 3. 2009; für einen Überblick über die Rezeption des Künstlers: Josten, Gisela: Max Lingner 1888 – 1959. Gemälde, Zeichnungen, Pressegraphik. Berlin 1988; Geismeier, Willi: Max Lingner. Leipzig 1968; Deutsche Akademie der Künste (Hrsg.): Max Lingner zu seinem 65. Geburtstag. Berlin 1953.
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wahrgenommen, als Beispiel für „jene bürgerlichen Künstler, die den Sprung zur rechten Einsicht und zum richtigen Tun nicht schaffen, sondern in einem unverbindlichen Pazifismus verharren“, sein Werk wurde noch 1960 als nihilistisch, formalistisch, westlich, dekadent, „mystisch“, „geistlich infiziert“ eingestuft.¹⁴ Seit der zweiten Hälfte der 1960er-Jahren wurde Barlach hingegen ausdrücklich verehrt. Sein Atelier, sein Haus, seine Orte in Güstrow wurden – mit Unterstützung der Partei – ein unumgängliches touristisches Ziel, fast ein Pilgerort: Barlachs Arbeitsstätten wurden Nationale Gedenkstätte der DDR.¹⁵ Die bekanntesten Werke dieses Künstlers sind in der Tat in den 1920er-Jahren entstanden und sind Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg, wie die Holzgruppe im Magdeburger Dom, die 1929 zum Gedenken an die Gefallenen des Ersten Weltkrieges eingeweiht wurde. Auftraggeber für die hölzerne Gruppe in Magdeburg war der preußische Staat, seit der Säkularisierung 1810 Eigentümer des Domes, der eine „Kriegerehrung“ wollte. Statt eines „Krieger-Denkmals“ schuf Barlach, selber Landoffizier im ersten Weltkrieg, zuerst als begeisterter Freiwilliger, und ab 1916 als überzeugter Pazifist, ein „Denk-Zeichen“, eine offene Frage gegen den Krieg als solchen. Das Mahnmal ist aus drei großen geleimten Eichenblöcken zusammengesetzt. In der Mitte dominiert das Kreuz mit den Jahreszahlen von 1914 bis 1918. Es hält die sechs Figuren des Mahnmals als Teilnehmer des gemeinsamen Kriegsgeschehens zusammen. „Tote, Niedergebrochene und Standhaltende“ sagte Barlach selbst: Oben, in der Mitte, am Kopf verwundet, der Wissende, ins Leere blickend. Links der schon ältere deutsche Landser mit dumpf-verschlossenem Gesichtsausdruck, den Stahlhelm tief ins Gesicht gedrückt. Rechts der Typ des Naiven, des ahnungslosen jungen Kriegsfreiwilligen. Unten die Halbfiguren: Schmerz (unter einem Tuch mit zusammengepressten Fäusten, le pleurant), Tod (ein Skelett mit dem viel zu großen Stahlhelm, Sinnbild des Massensterbens), und ein Christus Schmerzmann mit der Gasmaske noch auf der Brust.¹⁶
Vgl. Jansen, Elmar: Barlach und die Barlach-Gesellschaft in Osten Deutschlands. Erinnerung an die Jahre 1952– 1968. In: Jahrbuch der Ernst-Barlach-Gesellschaft 2 (1993/94), S. 83 – 91; Doppelstein, Jürgen: „Als wäre irgendwo Musik hinter den Wolken“. Ernst Barlach in der DDR. In: Jahrbuch der Ernst-Barlach-Gesellschaft 2 (1993/94), S. 158 – 163. Noch im Jahr 1963 wird bemängelt: „[…] er erkannte nicht das entscheidende Entwicklungsgesetz seiner Epoche. […] das hängt zweifellos damit zusammen, daß er nicht in einer Großstadt oder in einem Industriegebiet lebte.“ In: Deutsche Akademie der Künste (Hrsg.): Ernst Barlach: zum 25. Todestag, Berlin 1963. Jansen, Elmar: Ernst-Barlach-Gedenkstätte der DDR Güstrow, Atelierhaus am Heidelberg. Berlin 1978; Klose, Dirk: Ernst Barlach in der DDR und hier. In: Materialien zur politischen Bildung 3 (1981), S. 86 – 90. Laudan, I.: Ernst Barlach: das Denkmal des Krieges in Dom zu Magdeburg, Wettin-Löbejün, 2016, S. 79.
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Die Skulptur wurde 1934 als „undeutsch“ und „rassenfremd“ etikettiert und sollte nach Berlin geschickt werden, wurde von Freunden Barlachs aber in Güstrow versteckt und ist seit 1955 wieder im Dom. Schlimmer erlebte es Barlachs Schwebende[r] Engel: Er wurde 1927 als Ehrenmal für die Kriegsopfer im Dom zu Güstrow aufgestellt. Die Originalstatue überstand die Nazizeit nicht, sie wurde 1937 aus dem Dom entfernt und später eingeschmolzen. Seit 1953, dank einem Guss, schwebt der pazifistische Engel wieder im Güstrower Dom, über einem Scheingrab mit den Jahreszahlen des Krieges.¹⁷ Ein weiterer bedeutender Künstler aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, dessen Werk in der der DDR intensiv rezipiert wurde, ist Wilhelm Lehmbruck (1881– 1919), der sich im Alter von 38 Jahren das Leben nahm und seine künstlerisch produktivste Phase während der Kriegsjahre hatte. Seine berühmte Statue Der Getroffene stammt aus den Jahren 1914/1915 und ist der erste Teil einer ganzen Serie von Zeichnungen, Gemälden und kleinen Skulpturen, die eine kontinuierliche Meditation des überzeugten Pazifisten Lehmbruck über die Themen Krieg und Tod ausdrücken. In den folgenden zwei Jahren entstanden zwei Meisterwerke der modernen Plastik: Der Gestürzte (1915 – 1916) und Der Sitzende (1916 – 1917). Beide waren als Entwürfe für ein Kriegsdenkmal in Duisburg gedacht und beide wurden nicht akzeptiert. Der Gestürzte wurde unter dem Titel Sterbender Krieger erstmals 1916 in Berlin in Lebensgröße ausgestellt: Niedergebeugt vor dem stehenden Besucher bietet die Figur mit einem Rest von Würde – den das Aufrichten des Rückens ausdrückt – dem Betrachter den Nacken zum Todesstoß dar. Der Betrachter sieht sich dadurch unmittelbar der menschlichen Zerbrechlichkeit gegenüber.¹⁸ Die Aufwertung Barlachs und Lehmbrucks, die ab den 1960er-Jahren einsetzte, die Wiederentdeckung ihres isolierten, fragilen und expressionistischen Werkes und die Mythisierung ihrer starken und kompromisslosen Künstlerpersönlichkeiten hatten einen erheblichen Einfluss auf das Entstehen einer außergewöhnlichen Bildhauerschule in der DDR. Der Einfluss Barlachs auf einen Bildhauer wie Jo Jastram (1928 – 2011), den stellvertretenden Vorsitzenden der Barlach-Gesellschaft und Redakteur des Barlach-Jahrbuchs, ist nicht zu übersehen. Fritz Cremer (1906 – 1993) hat Barlach seinen künstlerischen Vater genannt und ihn zum Mitstreiter im sozialistischen Kampf erklärt: „So haben unbewusst,
Feist, Peter H.: Barlachs Gefallenendenkmale in Güstrow und Magdeburg. In: Schulz, Ilona (Hrsg.): Ernst Barlach: Denkzeichen. Berlin 1988; Probst, Volker: „Wer den Krieg malen will, muß erst den Frost malen lernen“. Ernst Barlach und der Erste Weltkrieg. In: Bergel, Ursel (Hrsg.): Bildhauer sehen den Ersten Weltkrieg. Bremen 2014, S. 33 – 47. Bornscheuer, Marion: „O Gott ist denn immer noch Krieg?“ Wilhelm Lehmbruck und der Erste Weltkrieg. In: Bergel (Hrsg.), Bildhauer sehen den Ersten Weltkrieg, S. 127– 141.
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vielleicht sogar ungewollt, ganz sicher aber indirekt, er und seine Gestalten zur Menschwerdung beigetragen, und mitgelitten und mitgekämpft, für die große sozialistische Zeitenwende, die in den besten Jahren seines Schaffens 1917 begann.“¹⁹ Noch stärker war der Einfluss eines Bildhauers wie Lehmbruck, von dem sich nur wenige Werke auf dem Staatsgebiet der DDR befanden, was aus ihm eine geradezu mythische Gestalt machte. Von zentraler Bedeutung für die Rezeption Lehmbrucks war eine Ausstellung, die 1967/1968 unter dem Titel Bildhauer im 20. Jahrhundert in Dresden zu sehen war. In den 1970er-Jahren wurden alle Werke Lehmbrucks, die sich in der DDR befanden, zusammengetragen und mehrmals gezeigt. 1981 wurde ihm in der Moritzburg in Halle zu seinem hundertsten Geburtstag eine monografische Ausstellung gewidmet. Der Einfluss Lehmbrucks auf das Kunstverständnis der Bildhauer in der DDR war erheblich und seine Skulpturen wurden bis ins Detail zitiert. Man denke nur an die Skulptur Opfer des Faschismus (1951) von Gustav Waidanz (1889 – 1970) auf dem Platz „Roter Garten“ in Zerbst, oder an das Denkmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus von Heinz Mamat (1930 – 2017), seit 1979 an der Puschkinpromenade in Cottbus.²⁰ Am deutlichsten hat der Bildhauer Wieland Förster (1930) diesen Einfluss 1987 beschrieben: Ihn, den Gestürzten früh gesehen und begriffen zu haben, hat die fortwirkende Kraft einer Kindheitsprägung […]. Vielleicht war es diese Skulptur, die mich lehrte, […] dass die Entstehung reinster Bildhauerei nicht an harte Materialien gebunden ist […] – Lehmbruck arbeitete in weichem Ton –, sondern an die Gesinnung, den Geist, […] dass die Begegnung mit der „Moderne“ […] den bloß abbildhaften Realismus vor der Entleerung zu retten imstande ist und dass Kunst schließlich noch immer aus dem Wunsch, der Sehnsucht nach Vollendung des Werkes entstehen kann.²¹
Das Bild, oder besser die bildliche Erinnerung des Ersten Weltkrieges, ist eng mit der Figur eines anderen von der DDR gefeierten Künstlers verbunden: Otto Dix, geboren am 2. Dezember 1891 in Untermhaus bei Gera, 1914 bis 1918 Soldat, greift zwischen den 1920er- und 1930er-Jahren mehrmals das Thema des Ersten Weltkrieges auf.Viele seiner Werke sind als „entartete Kunst“ zerstört worden, seit 1933
Josten, Gisela: Ernst Barlach 1890 – 1970. Berlin 1970, S. 22 Lepper, Barbara: Der „Gestürzte“ und der „Sitzende Jüngling“. Anmerkungen zu zwei KriegerDenkmälern Wilhelm Lehmbrucks. In: Wilhelm Lehmbruck (1881– 1919). Gotha 1987, S. 147– 151; Maut, Ingrid: Zur kunstwissenschaftlichen Rezeption des plastischen Werkes Wilhelm Lehmbrucks in der DDR. In: Wilhelm Lehmbruck (1881– 1919), S. 147– 151; Jacobi, Fritz: Lehmbruck und die Plastik in der DDR. In: Wilhelm Lehmbruck (1881– 1919), S. 152– 167. Jacobi, Lehmbruck und die Plastik, S. 159.
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durfte er nichts mehr ausstellen. In Gera, der Arbeiterstadt, ist Dix geboren worden, und die DDR zelebrierte ihn jährlich im Kunstmuseum für Kulturgeschichte, das sich in der Straße der Republik befand, und im Ausstellungszentrum in der Orangerie, die im Park Opfer des Faschismus lag. In den ersten Ausstellungskatalogen findet man noch kritische Meinungen über die kriegerischen Themen: „[…] es wird empfunden, dass seine Anklagen sich im Negativen verlieren, dass ihnen das positive Element fehlt“,²² weshalb die Kataloge mehr bunte Landschaften und fröhliche üppige Kinder aufzeigten. Mit den 1970er-Jahren wird das Thema des Krieges immer präsenter. 1975 wurden in Gera zum ersten Mal die 49 Feldpostkarten (1914– 1918) zusammen mit den Radierungen des Kriegszyklus (1923 – 1924) gezeigt, mit einem Vorwort von Henri Barbusse im Katalog: „Ein wahrhafter großer deutscher Künstler, unser brüderlicher Freund Otto Dix, schuf hier in grellen Blitzen die apokalyptische Hölle der Wirklichkeit.“²³ Aber der Name Dix ist hauptsächlich mit dem Triptychon Der Krieg verbunden. Das grandiose Bild wurde zwischen 1929 und 1932 fertiggestellt, in Berlin ausgestellt, und dann versteckt, 1946 zum ersten Mal in der ersten deutschen Ausstellung in Dresden wieder gezeigt, dann 1947 in Halle, und dann wieder in Dresden. Um das Bild dann schließlich definitiv in der Elbestadt zu behalten, erlaubte der Kulturminister Klaus Gysi 1968 den Museumsdirektoren der Stadt, einige Museumsobjekte antiquarisch zu verkaufen, um die Summe von einer halben Million Mark, – den Preis von Otto Dix‘ Werk –, zu erreichen. So wurden u. a. ein Bild von Lovis Corinth, mehrere Porzellanstücke, eine Reihe antiker Rüstungen und Waffen verkauft. Die DDR war aber nicht unglücklich, auf unnütze aristokratische Symbole zu verzichten, um ein Werk zu besitzen, das sie stilistisch und thematisch als für vorbildlich beurteilte „Das Triptychon kann nur in der DDR seine Heimatstadt haben, wo der Kampf um den Frieden das Grundziel jeder Politik ist.“ (1965)²⁴ Dix, der bis zu seinem Tod im Jahr 1969 in der Schweiz lebte, wurde zum Ehrenbürger der DDR ernannt, und seine Biografie wurde 1981 so resümiert: Sohn einer Geraer Arbeiterfamilie, kannte er das harte Leben der produktivtätigen Klasse im kaiserlichen Deutschland aus eigener Anschauung. Der imperialistische Erste Weltkrieg
60 Jahre Otto Dix. Maler, Zeichner, Graphiker. Gera 1951, S. 3. Ausstellungskatalog: Otto Dix. Feldpostkarten; Radierungen aus dem Kriegszyklus (Aus den Kunstsammlungen der Museen der Stadt Gera). Gera 1975. Das Vorwort von Barbusse war schon in dem Katalog der ersten monografischen Ausstellung von Dix (Galerie Nierendorf, Berlin 1926) erschienen. In Dalbajeva, Ingrid: Das Triptychon Der Krieg in der DDR. Der Ankauf für Dresden. In: Dalbajeva, Ingrid [u. a.] (Hrsg.): Otto Dix. Der Krieg – Das Dresden Triptychon. Dresden 2014, S. 259 – 269.
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formte ihn […]. Otto Dix war und blieb immer ein fanatischer Realist, sein Werk ist als ein wertvoller Bestandteil der sozialistischen Nationalkultur, zu pflegen und zu bewahren.²⁵
Dix‘ Triptychon ist von einer besonderen Energie getrieben, die sich vom linken in den rechten Flügel bewegt und nur in der Predella unterbrochen wird. Hier befinden sich die scheinbar toten Soldaten, die aber in Wirklichkeit unter den Leichen der auf dem Schlachtfeld Verstorbenen schlafen; der Blick des Betrachters, gefangen genommen von den in das mittlere Bild einlaufenden Soldaten, wird auf dem rechten Flügel von der Dix-Figur im Bild, die einen Verwundeten zum Betrachter zu bringen scheint, zurückgeworfen. Die künstlerische Spannung zwischen der hyperrealistischen, fast fotografischen Darstellung und der expressionistischen Farbwahl, die Masse im Vordergrund, die Leere im Mittelfeld, das Chaos und das Elend sind fundamentale Elemente für die neue Generation der DDR Maler: von Werner Tübke (1929 – 2004) bis Willi Sitte (1921– 2013), aber besonders für Bernhard Heisig. Heisig hat in Interviews oft wiederholt, dass seine Werke keine „Illustrationen historischer Vorgänge“ sind, er hat das Etikett des Kriegsmalers immer abgelehnt; für ihn ist der Krieg Stoff, um die verstrickte Situation zu zeigen, und nicht das Thema des Bildes. Thema ist die individuelle und kollektive Verantwortung der Geschichte gegenüber, das Thema ist das Beitragen und die Mitschuld, verbunden mit seiner persönlichen Vergangenheit in der Hitlerjugend und in der Festung Breslau, zusammen mit der Aktualität seines Sohnes in der NationalenVolksarmee der DDR; diese Themen beschäftigen ihn sein Leben lang. In seinen Bildern vermischen sich Objekte, Symbole, Geister und Alpträume, in einer Malerei, die ein Psychogramm ist, wie er selbst formuliert.²⁶ Der Maler zitiert oft in seinem Werk Otto Dix‘ Bilder wie Schützengräben (1923) oder Flandern (1936), aber er erkennt: […] die Krönung ist das gewaltige Triptychon Der Krieg, das zum wichtigsten Kunstbesitz der DDR zählt. 1934 schrieb der sächsische Ministerpräsident an den Rand der Personalakte Dix‘: „Lebt das Schwein immer noch!“ 1976 lebte Dix nicht mehr, aber sein Werk ist der Anlaufpunkt vieler Künstler der DDR und des Leipziger Malerkreises.²⁷
Kunstgalerie Gera (Hrsg.): Otto Dix 1891– 1969: Gemälde, Zeichnungen, Druckgraphik. Gera 1981, S. 4– 14. Mehrere Interviews des Malers sind auf der DVD „Bernhard Heisig: ein deutscher Maler“ zu sehen (Regie: Reiner E. Moritz). Halle 2009. Leipziger Volkszeitung (2. 12. 1976). In: Merkert, Jörn (Hrsg.): Bernhard Heisig, Retrospektive. München 1989, S. 399.
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Es ist also nicht überraschend, dass Heisig das Dix-Triptychon wortwörtlich in seine Bilder einfügt, wie z. B in Die Beharrlichkeit des Vergessens (1977, Berlin, Nationalgalerie) oder in Mechanismen des Vergessens (1981, Oldenburg, Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte).
Abb. 2: Bernhard Heisig, Mechanismen des Vergessens, Oldenburg, Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, 1981. Fotografie von Sven Adeleide.
Auch sein Lebenswerk Begegnung mit den Bildern (mehrmals übergearbeitet) ist hauptsächlich eine Begegnung mit Dix‘ Bildern, die hier nicht direkt zitiert werden, sondern mit Heisigs persönlichen Erfahrungen verschmelzen: in den Soldaten Dix projiziert Heisig sich selbst als Soldat in Breslau, gemischt mit seinem Sohn in der Uniform der Volksarmee, in einer Explosion von Dingen und Personen, von Erinnerungen und Schuldgefühlen. Die Auseinandersetzung Heisigs mit Dix und mit seiner Darstellung des Ersten Weltkrieges findet aber einen weiteren Höhepunkt in den Illustrationen des Romans Der Krieg von Ludwig Renn: Die ersten 14 Lithografien sind zwischen 1956 und 1958 fertiggestellt worden, während seiner ersten Lektüre des Buches; 1973 schließt der Verlag Philipp Reclam Junior in Leipzig einen Vertrag mit dem Maler für 15 bis 20 Illustrationen. Die 24 Lithografien für diese repräsentative Ausgabe des Buches, die 1979 erschien, sind zwischen 1976 und 1979 entstanden
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und auch in einer Mappe erhältlich.²⁸ Die intensive Beschäftigung mit dem Text wird von der ersten Lithografie widergespiegelt: Heisig versteckt sein Gesicht hinter den Händen, auf dem Schreibtisch das leere Blatt vor sich liegend. Der Künstler, der seine Selbstporträts als eine ständige, forschende Suche nach dem Sinn der Existenz konzipiert hat, zeigt sich hier vernichtet von der Aufgabe, den sinnlosen Krieg zu repräsentieren. Nüchtern hatte er gesagt, die Bilder seien als Begleitung des Buches gedacht, um „den Text nicht [zu] stören“ (1976),²⁹ und in der Tat zeigen sie Szenen des Kriegsalltages in einer fast monotonen Fassung, kein heroisches Geschehen ist da, keine Ekphrasis, kein Ziel. Gegenüber dem großen menschlichen Sterben verhält sich die Natur gleichgültig. Heisig konzentriert die Tragik in minimalen Gesten: die Figuren sind wie in einem Netz von Strichen gefangen, spitzen sich langsam zu, oder verschmelzen in der anonymen Masse, in einer Landschaft, die wie ein Alptraum erscheint. Die Distanz zu den farbigen, positiven, üppigen Figuren der DDR-Malerei der 1950er-Jahre hätte nicht größer sein können.
Fazit Der Erste Weltkrieg, dessen Bild in der ersten Phase der DDR verbannt zu sein scheint, kommt in der zweiten Phase wie durch das Haupttor wieder hinein und vereinigt zwei sehr unterschiedliche Ziele: das der staatlichen Auftraggeber, eine autonome und nationale kunsthistorische Tradition zu formen, ohne fremde Vorbilder importieren zu müssen, und das der Künstler, problematische Themen, wie die menschliche Zerbrechlichkeit, den Schmerz, den Tod, zu repräsentieren. Die Protagonisten der Kunst des Ersten Weltkrieges werden als neue Meister wahrgenommen, die zu ehren sind und deren Weg zu folgen ist, um aus der Sackgasse eines leeren, identitätslosen Realismus herauszukommen. Ihr Bild einer halluzinierten Welt, die nur durch inhumane Gesetze geregelt ist, und die Individualität eines jeden zerstört, ihr strenger Kampf für die Gerechtigkeit ist aber
Ludwig Renn: Krieg. Mit 24 Lithographien von Bernhard Heisig. Leipzig 1979. Die vollständige Folge der Lithografien wurde erst 1981 präsentiert: Schneider, Klaus-Peter: Zu Bernhard Heisigs Illustrationsfolge „Krieg“. In: Lang, Lothar: Bernhard Heisig. Gemälde und Druckgraphik. Burgk 1981, S. 13 – 15; Gillen, Eckhart: Die Beharrlichkeit des Vergessens. In: Ders. (Hrsg.): Bernhard Heisig, Die Wut der Bilder. Köln 2005, S. 33 – 51. Die Beschäftigung mit diesem Stoff erfolgt auch in den 1980er-Jahren: Vier Kreidelithografien entstehen im Jahr 1985, und ein Gemälde: Zu Ludwig Renn: Krieg (1982– 1983). Schumann, Henry: Ateliergespräche. Leipzig 1976, zit. in: Bernhard Heisig. Gemälde, Zeichnungen, Druckgrafik. Leipzig 1987.
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Abb. 3: Bernhard Heisig, I, Illustrationszyklus zu Ludwig Renn, Der Krieg, 1979.
auch der Auftakt einer Reflektion über das Verhältnis zwischen Kunst und Ideologie, die einige DDR-Künstler an den höchsten und intensivsten Punkt ihres Schaffens bringt: eine differenzierte und aktualisierte Rezeption.
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Abb. 4: Bernhard Heisig, XVII; Illustrationszyklus zu Ludwig Renn, Der Krieg, 1979.
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Teil V: Der Erste Weltkrieg in der DDR-Geschichtsschreibung
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Warum Kriege? Wozu Geschichte(n) von Kriegen? Der Erste Weltkrieg in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung der DDR In der Einleitung zu Höllensturz, dem ersten Band seines zweibändigen Werkes über Europa von 1914 bis 2017, beschreibt der britische Historiker Sir Ian Kershaw (geb. 1943) den Zweiten Weltkrieg als das „Epizentrum und […] bestimmende[s] Ereignis von Europas wechselvoller Geschichte im 20. Jahrhundert“.¹ Was hier ein erst kurz vor Kriegsende geborener Historiker aus Großbritannien äußert, dachten und fühlten zeitgenössische deutsche Historiker, die den Zweiten Weltkrieg als Heranwachsende oder junge Erwachsene selbst erlebt hatten – entweder als Gegner des Dritten Reiches im Exil oder als Wehrmachtssoldaten –, noch sehr viel deutlicher. Dies gilt für DDR-Historiker und ihre westdeutschen Kollegen gleichermaßen. So beschrieb der deutsche Kommunist und Rote-Armee-Veteran Stefan Doernberg (1924– 2010) den Zweiten Weltkrieg im Vorwort seiner von der „Deutschen Sektion der Kommission der Historiker der DDR und der UdSSR“ herausgegebenen Darstellung 1959 als den „ungerechtesten aller ungerechten Kriege“, als ein Produkt des deutschen Imperialismus und deutscher „Abenteuerpolitik“, der „zu einem verbrecherischen Vabanquespiel mit Millionen Menschenleben ausartete.“² Auch Fritz Klein (1924– 2011), ein direkter Zeitgenosse Doernbergs und später führender ostdeutscher Historiker des Ersten Weltkrieges, bezog sich auf seine persönlichen Erfahrungen, wenn er nach 1941 von der Ostfront sprach. In einem Brief von April 1988 an seinen älteren westdeutschen Kollegen Egmont Zechlin (1896 – 1992) brachte er die Sprache auf die Kontakte Zechlins zur Widerstandsgruppe Rote Kapelle (Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe) in den Jahren 1941/1942 und fuhr fort: Geschichte ist für Menschen unseres Berufs interessant, wann und wo immer sie sich abgespielt hat. Aber für Zeitgenossen jener schrecklichen Jahre – im Winter 1942 war ich […]
Anmerkung: Aus dem Englischen von Christine Brocks übersetzt. Kershaw, Ian: Höllensturz. Europa 1914 bis 1949. München 2016, S. 14 [Originalausgabe = London 2015]. Doernberg, Stefan: Vorwort zu: Der Zweite Weltkrieg 1939 – 1945. Wirklichkeit und Fälschung, hrsg. von der Deutschen Sektion der Historiker der DDR und der UdSSR, Ost-Berlin 1959, S. V. https://doi.org/10.1515/9783110710847-013
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Soldat an der Ostfront, hinter dem Terek, so etwa an der entferntesten Stelle, zu der die Hitlerarmee dort vorgedrungen war – verhält es sich mit der Geschichte dieser Zeit doch besonders. Man wird wohl sein Leben lang nicht aufhören, darüber nachzudenken, wie all das geschehen konnte, was damals geschehen ist, was man getan oder nicht getan hat, was man hätte tun sollen, tun können, was man gewußt geahnt, nicht gewußt oder verdrängt hat. Und vor allem: wie das eigene Leben danach zu beurteilen ist.³
Die beiden leitenden Mitarbeiter Kleins bei der 1968/1969 fertiggestellten dreibändigen Publikation Deutschland im Ersten Weltkrieg, die im Zentrum dieses Beitrags steht, waren ebenfalls zutiefst durch ihre Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg geprägt. Willibald Gutsche (1926 – 1992) kämpfte in den letzten Monaten des Krieges auf deutschem Boden gegen die einmarschierende Rote Armee, verbrachte 18 Monate in sowjetischer Kriegsgefangenschaft und besuchte nach seiner Entlassung im September 1946 den neuen, von der Zentralverwaltung für Volksbildung in der SBZ eingerichteten „Sonderlehrgang zur Ausbildung von Neulehrern“. Seiner Frau Birgitte zufolge hinterließen seine Erfahrungen in der Wehrmacht und die Dystrophie, an der er während der Kriegsgefangenschaft litt, „totale Ernüchterung und die Erkenntnis, dass Krieg das verabscheuungswürdigste Mittel der Politik ist“.⁴ Joachim Petzold (1933 – 1999) war zu jung, um noch zur Wehrmacht eingezogen zu werden, aber nach eigenem Bekunden war er mit einem „ausgeprägte[n] Nationalbewusstsein“ und in dem Glauben, „daß ich einmal Offizier werden würde“, in Weixdorf bei Dresden aufgewachsen. Sein „ungeheuerer Respekt vor dem Können deutscher Generäle und Admirale“ erfuhr 1945 einen herben Dämpfer. Aber erst als er sich 1951 zum Geschichtsstudium an der Berliner Humboldt-Universität einschrieb – zunächst als Parteiloser und von 1954 als Kandidat bzw. Mitglied der SED – begann er an dem in den Memoiren der Militärs immer wieder auftauchenden Standardsatz zu zweifeln, dass „die Verantwortung für die Niederlage ausschließlich bei Hitler, Göring, Himmler und Goebbels zu suchen sei“. Durch eine Seminararbeit über den deutschen Angriff auf die Sowjetunion 1941 (Deckname „Unternehmen Barbarossa“), für die er unveröffentlichtes Archivmaterial benutzte, fand er sich zurückversetzt in eine Zeit des Schreckens, die viele deutsche Männer, nur zehn oder zwölf Jahre älter als er, persönlich erlebt hatten. Ich entsann mich der Verbitterung jener Soldaten, die sich im Herbst 1941 hilflos dem russischen Winter ausgeliefert sahen, und der hektischen Sammlung warmer Bekleidung unter
Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (ABBAW), Nachlass Fritz Klein Jr., Nr. 1189, Klein an Zechlin, 9. 4. 1988. ABBAW, Nachlass Willibald Gutsche, Nr. 1, Kurze Biographie von Willibald Gutsche, unveröffentlichtes Manuskript von Birgitte Gutsche, S. 1.
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der Zivilbevölkerung, um sie vor Erfrierungen zu schützen. Für dieses Fiakso wurde alles mögliche verantwortlich gemacht, nur nicht der mit der Planung beauftragte Generalstab. Noch heute kann man lesen, Hitler hätte den Generalstabsoffizieren verboten, überhaupt an die Verlängerung des Feldzuges in den Winter zu denken. Las man den „Plan Barbarossa“ jedoch im Zusammenhang, so wurde deutlich, daß dergleichen von vornherein auch gar nicht ernsthaft ins Auge gefaßt wurde.⁵
Es mag als eine Selbstverständlichkeit erscheinen, dass der Großteil der in der DDR verfassten historischen Arbeiten über den Ersten Weltkrieg von Wissenschaftlern stammt, die sich nicht nur der marxistisch-leninistischen Interpretation der Geschichte Deutschlands und der Welt verpflichtet fühlten, sondern deren Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg auch ihre eigene Biografie bestimmten. Ihre Leserschaft gehörte außerdem einer Gesellschaft an, die erheblich mehr durch den Zweiten Weltkrieg und die unmittelbare Nachkriegszeit bis zur offiziellen Teilung Deutschlands zwischen 1949 und 1952 als durch den Ersten Weltkrieg geprägt war.⁶ Bei der Neuinterpretation der Geschichte von 1914/1918 während der Zeit des Kalten Krieges ging es daher nicht nur um die Aufdeckung neuer empirischer Erkenntnisse oder den Triumph der marxistisch-leninistischen über die „bürgerliche“ Geschichtstheorie. Vielmehr bedeutete die Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg auch das Durchdringen von sich überlagernden „layers of memory“, um zu „(non-existent as well as existent) first world war memory experiences“ vorzustoßen.⁷ Der vorliegende Beitrag stellt die Frage nach dem „Warum“ und dem „Wozu“ von historischer Forschung zum Ersten Weltkrieg in der DDR unter besonderer Berücksichtigung der Arbeiten von Klein, Gutsche und Petzold. Die Publikationen anderer DDR-Historiker werden dann herangezogen, wenn sie thematisch relevant sind. Außerdem soll untersucht werden, in wie weit die Auseinandersetzung dieser Historiker mit der Interpretation des Ersten Weltkrieges als eines imperialistischen Krieges, ihr Interesse nicht nur an einer sozialistischen, sondern auch an einer „bürgerlichen“ Opposition gegen die Fortsetzung des Krieges und, in Kleins Fall, sein Eintreten in den 1980er-Jahren für eine „Friedensgeschichte“ auch mit ihrer eigenen Vergangenheitsbewältigung, ihrer Erinnerungen und ihrer
Petzold, Joachim (unter Mitarbeit von Waltraud Petzold): Parteinahme wofür? DDR-Historiker im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft, hrsg. von Martin Sabrow. Potsdam 2000, S. 69. Kershaw, Höllensturz; Siehe auch Fulbrook, Mary: Dissonant Lives: Generations and Violence through the German Dictatorships. Oxford 2011. Cole, Tim: Scales of Memory, Layers of Memory: Recent Works on Memories of the Second World War and the Holocaust. In: Journal of Contemporary History, 37. Jg. (2002), H. 1, S. 129 – 138 (hier S. 135).
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Lebensgeschichte während dieses turbulenten und gewalttätigen 20. Jahrhunderts zu tun hatten.
Der Erste Weltkrieg als „imperialistischer Krieg“ Wie alle marxistischen Wissenschaftler verorteten auch die Historiker der DDR die Ursache des Ersten Weltkrieges nicht in der europäischen Diplomatiegeschichte, sondern in globalen wirtschaftlichen Beziehungen. Der militärische Konflikt sei nicht das Ergebnis eines objektiven Interessengegensatzes zwischen verschiedenen Nationen gewesen, sondern vielmehr die Widerspiegelung der vorherrschenden sozialen Ordnung und der Produktionsverhältnisse. Oder, wie Klein es in seinem Beitrag zu dem Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre verfassten mehrbändigen Standardwerk Lehrbuch der deutschen Geschichte zur Benutzung in ostdeutschen Universitäten ausdrückte: „Der drohende Krieg war kein Überfall eines Aggressors auf ein friedliches Deutschland, sondern ein ungerechter, imperialistischer Krieg um die Neuverteilung der Welt, auf den gerade der deutsche Imperialismus besonders intensiv hinsteuerte.“⁸ Zahlreiche DDR-Publikationen, einschließlich solcher, die für die Verbreitung im Westen vorgesehen waren,⁹ griffen diese Interpretation auf, die vor allem während der 1950er- und frühen 1960er-Jahre, aber auch noch danach, eine wichtige Rolle für die Legitimation des ostdeutschen Staates spielte.¹⁰ Danach habe das „imperialistische Bürgertum“ versucht, die deutschen Arbeiter für eine Politik des Raubes und der Ausbeutung der Kolonialvölkern zu gewinnen, zum Beispiel bei der Eroberung Afrikas in den 1880er-Jahren, bei der Schaffung von Interessenssphären in China und im Pazifik in den 1890er-Jahren und beim Genozid in Namibia (Deutsch-Südwestafrika) 1904/1908. Wegen seiner führenden Rolle bei der Verursachung von zwei Weltkriegen und der Versuche der Bundesrepublik unter Konrad Adenauer, einen dritten zu lancieren, habe das Bürgertum
Klein, Fritz: Deutschland 1897/98 bis 1917 (= Lehrbuch der deutschen Geschichte, Bd. 9). OstBerlin 1961, S. 188. Siehe z. B. Gutsche, Willibald: Der gewollte Krieg: Der deutsche Imperialismus und der 1. Weltkrieg, Köln 1984 [DDR-Originalausgabe = Sarajevo 1914: Vom Attentat zum Weltkrieg. OstBerlin 1984]. Vgl. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Legitimation eines neuen Staates. Parteiarbeiter an der historischen Front: Geschichtswissenschaft in der SBZ/DDR 1945 bis 1961. Berlin 1997.
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seinen historischen Anspruch auf die Führung der deutschen Nation ein für alle Mal verspielt.¹¹ In Bezug auf die Frage nach dem „Warum“ des Krieges herrschte jedoch weiterhin einige analytische Verwirrung. Wie konnte man die besondere Verantwortung des deutschen Imperialismus für den Kriegsausbruch im Vergleich mit den anderen Großmächten wie Großbritannien, Frankreich und dem zaristischen Russland begründen? Hier lässt sich ab etwa 1957 bei DDR-Historikern eine unterschwellige, doch deutliche nationale Abwehrhaltung erkennen, die sich vor allem gegen die Thesen des sowjetischen Geschichtswissenschaftlers Arkadi Samsonowitsch Jerussalimski (1901– 1965) richtete. Jerussalimski zufolge hätten der russisch-japanische Krieg von 1904/1905, die russische Revolution von 1905/ 1907 und die Entsehung der englisch-französisch-russischen Entente das Zarenreich zu einer defensiveren und den deutschen Imperialismus zu einer aggressiveren Haltung gezwungen. Jerussalimski hatte als junger Mann in den 1920er-Jahren in Heidelberg studiert. Am 8./9. Mai 1945 wurde er als akkreditierter sowjetischer Kriegsberichterstatter Zeuge der deutschen Kapitulation in Berlin-Karlshorst.¹² Zahlreiche seiner Veröffentlichungen zur Diplomatiegeschichte und zum „deutschen Imperialismus“ wurden ins Deutsche übersetzt, und die Deutsche Akademie der Wissenschaften (DAW) in Ost-Berlin ernannte Jerussalimski Mitte der 1950er-Jahre zum korrespondierenden Mitglied und Gastwissenschaftler. Klein, der ihn bei mehreren Gelegenheiten in Moskau und Berlin traf, beschrieb ihn in seinen Memoiren als einen „hervorragenden Kenner Deutschlands und der deutschen Geschichte“ und einen „undogmatisch arbeitenden, marxistischen Wissenschaftler, der immer bemüht war, die Thesen, die er vertrat, auf das Fundament sorgfältiger Forschungsarbeit zu stellen“.¹³ Auch Petzold erinnerte sich: „Klein und ich hatten gute Verbindungen zu Jerussalimski und seinen Schülern.Wir haben letztere nach dessen Tod noch in Moskau aufgesucht.“¹⁴
Wandel, Paul: Der deutsche Imperialismus und seine Kriege – das nationale Unglück Deutschlands. Ost-Berlin 1955. Siehe z. B. Jerussalimski, Arkadi S.: Die Außenpolitik und die Diplomatie des deutschen Imperialismus Ende des 19. Jahrhundert. Ost-Berlin 1954 [Russische Originalausgabe = Moskau 1948]; ders.: Die deutsche Frage und die internationale Sicherheit. Ost-Berlin 1954 [Russische Originalausgabe = Moskau 1953]; ders.: Der deutsche Imperialismus: Geschichte und Gegenwart. Ost-Berlin 1968 [Russische Originalausgabe = Moskau 1964]. Klein, Fritz: Drinnen und Draußen. Ein Historiker in der DDR: Erinnerungen. Frankfurt a. M. 2000, S. 176 f. Petzold, Parteinahme wofür?, S. 218.
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Nach 1957 nahm Jerussalimskis weitreichender Einfluss auf die ostdeutschen Historiker des Ersten Weltkrieges jedoch ab. Dies war zum Teil verbunden mit der Kampagne der SED gegen Jürgen Kuczynski (1904 – 1997), den Veteranen der marxistischen Wirtschaftsgeschichte, wegen seiner Monografie Die deutsche Sozialdemokratie und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs: Chronik und Analyse (1957), die Paul Maurice in diesem Band eingehend diskutiert. Kuczynski vertrat hier die These, dass nicht nur die SPD-Führung, sondern auch die Mehrheit der einfachen Partei-Mitglieder den Krieg zunächst enthusiastisch begrüßt hatten. Dies wurde von der SED und einigen seiner akademischen Kollegen nachdrücklich und öffentlichkeitswirksam als „revisionistische Geschichtsschreibung“ zurückgewiesen, die den unheilvollen Stempel des „Renegaten“ Karl Kautsky trage. Erfolglos wandte Kuczynski ein, seine Interpretation halte sich enger an Lenins Lehren vom zerstörerischen Einfluss des Imperialismus und der Notwendigkeit einer disziplinierten Avantgardepartei als die seiner Gegner; sie entspreche sogar eher der These Jerussalimskis von der heimtückischen Gefahr für den Weltfrieden, die besonders vom deutschen Imperialismus ausgehe.¹⁵ Im Rahmen des De-Stalinisierungsprozesses innerhalb des gesamten Ostblocks und den wachsenden internationalen Spannungen über die Frage der westdeutschen Wiederbewaffnung und der militärischen Präsenz der Westmächte in Berlin sah sich die ostdeutsche Historikerzunft ab 1956 generell mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Die Möglichkeit eines Dritten Weltkrieges auf deutschem Boden war alarmierend. Darüber hinaus bestand aber auch weiterhin die Gefahr, der Kreml könne Washington und Bonn ein Abkommen anbieten, das den „nationalen“ Interessen der DDR als eines unabhängigen deutschen Teilstaates entgegenlaufe. Zwar hatte Nikita Chruschtschow global die Doktrin der „friedlichen Koexistenz“ zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Welt ausgerufen. Dies wurde unterstützt durch das ideologische Standardwerk der post-stalinistischen Sowjetunion Die Grundlagen der marxistisch-leninistischen Philosophie, das zuerst 1957 in Moskau erschien und 1960 ins Deutsche übersetzt wurde: Die Beseitigung der Ausbeuterklassen und die Herstellung der sozial-politischen und ideologischen Einheit der Gesellschaft bedeuten, daß sich die ganze Schärfe des Klassenkampfes auf die internationale Ebene verlagert, wo sich zwischen den sozialistischen und dem kapitalistischen System der Wettbewerb entfaltet […]. Unter den Bedingungen der friedlichen
Vgl. Stibbe, Matthew: Fighting the First World War in the Cold War. East and West German Historiography on the Origins of the First World War, 1945 – 1959. In: Hochscherf, Tobias [u. a.] (Hrsg.): Divided, But Not Disconnected: German Experiences of the Cold War. Oxford/New York 2010, S. 34– 48 (hier S. 39 – 43).
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Koexistenz der beiden Systeme hat der ökonomische Wettbewerb entscheidende Bedeutung […]. Neben dem ökonomischen Wettbewerb vollzieht sich ein harter politischer und ideologischer Kampf zwischen den Kräften des Sozialismus und Kapitalismus in der Welt.¹⁶
Doch unter den ostdeutschen Eliten, einschließlich der höheren Parteiränge und der Geschichtswissenschaftler, gab es zu diesem Zeitpunkt kaum Anzeichen für einen Willen zur „friedlichen“ Koexistenz. Stattdessen war eher die Rede von der fortdauernden militärischen Bedrohung durch den Westen. 1957 hatte die NATO beispielsweise angefangen, über eine mögliche Stationierung von Nuklearwaffen in Westdeutschland zu diskutieren. Der amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower plante, einen Teil der amerikanischen Bodentruppen aus der Bundesrepublik abzuziehen und sie durch westdeutsche Wehrpflichtige zu ersetzen. Es ging sogar das Gerücht um, die Bundesrepublik könne möglicherweise ihre eigene Bombe haben. DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl schlug gegenüber akkreditierten Diplomaten im Juli 1957 in Ost-Berlin die Schaffung eines gemeinsamen Bündnisses zwischen den beiden deutschen Staaten und ein Abkommen zur Einrichtung einer nuklearfreien Zone vor. Dies hätte zusätzlich den Vorzug der offiziellen Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik gehabt. Bundeskanzler Adenauer und Verteidigungsminister Franz Josef Strauß lehnten ab.¹⁷ In der Zwischenzeit verschärften sich die Spannungen um Berlin. 1958 (und noch einmal 1961) stellte Chruschtschow den westlichen Alliierten ein Ultimatum und forderte den Abzug ihrer Truppen aus den West-Berliner Sektoren. Die Westmächte kritisierten im Gegenzug den Bau der Mauer im August 1961 und pochten auf ihre militärische Rechte in der Stadt. Im Oktober 1961 standen sie am amerikanischen Check Point Charlie in einer Pattsituation sowjetischen Panzern gegenüber.Vor dem Hintergrund all dieser Ereignisse wurde es für DDR-Historiker zunehmend schwerer, ihre Westkontakte aufrecht zu erhalten, nicht zuletzt nach dem offenen Bruch zwischen ost- und westdeutschen Geschichtswissenschaftlern auf dem Trierer Historikertag im September 1958. Der Wille zum Dialog fand ein schnelles Ende, als die drei Ostdeutschen Ernst Engelberg (1909 – 2010), Max Steinmetz (1912– 1990) und Leo Stern (1901– 1982) die Veranstaltung unter Protest verließen, weil ihnen in ihrer Funktion als Vertreter der neuen Deutschen Histo-
Grundlagen der marxistisch-leninistischen Philosophie, hrsg. vom Institut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR unter Mitarbeit des Ministeriums für Hoch- und Fachschulwesen der UdSSR. 3., nach der 2. russ. Ausgabe durchgesehene Auflage, Ost-Berlin 1973 [1960], S. 365 f. Der Weg der deutschen Nation zur Sicherung des Friedens und der Wiedervereinigung Deutschlands. In: Neues Deutschland, 28. 7. 1957. Vgl. Hoffmann, Dierk: Otto Grotewohl (1894– 1964): Eine politische Biographie. München 2009, S. 600.
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rikergesellschaft (DHG), die sechs Monate zuvor als Gegenorganisation zum westdeutschen Verband der Historiker Deutschlands (VHD) gegründet worden war, das Wort entzogen wurde.¹⁸ In diesem Zusammenhang erhielt das „Wozu“ der ostdeutschen Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg und seinen Ursachen eine neue politische und fachliche Dimension. Dies war insbesondere in den Jahren zwischen 1958 und 1965 zu beobachten, reichte aber auch über diesen Zeitraum hinaus. Das Prinzip der „friedlichen Koexistenz“ musste der erneut und noch rigoroser als zuvor vertretenen „Zwei-Lager-Theorie“ weichen, nach der die Welt in zwei sich feindlich gegenüberstehende Blöcke aufgespaltet sei und man sich für den einen oder den anderen entscheiden müsse.¹⁹ Schon im April 1958 hatte das Präsidium der DHG eine Erklärung herausgegeben, welche die gleichzeitige Mitgliedschaft im VHD untersagte, während die Statuten der neuen Organisation „ihre Mitglieder zur Unterstützung des sozialistischen Aufbaus in der Deutschen Demokratischen Republik ebenso wie zur Mitarbeit an der demokratischen Wiedervereinigung im Sinne der Politik unserer Regierung“ aufrief.²⁰ Westkontakte sollten nun auf solche Historiker in der Bundesrepublik begrenzt werden, die „auch weiterhin […] Diskussionen mit marxistischen Historikern als eine wissenschaftliche und nationale Notwendigkeit empfinden“.²¹ Bundesdeutsche Historiker, denen man eine feindselige Haltung gegenüber der DDR oder dem Dialog mit Marxisten unterstellte, bezeichnete man abschätzig als „NATO-Historiker“.²² Manche von ihnen wurden sogar zur Zielscheibe geheimer Stasi-Operationen, wie beispielsweise 1959/1960 Gerhard Ritter (1888 – 1967).²³ Damit nicht genug, schrieb Werner Berthold (1923 – 2017), ein Schüler Engelbergs, 1960 seine Doktorarbeit über Ritter, in der er ihn als den führenden Vertreter einer vom Kaiserreich bis zum
Sabrow, Martin: Das Diktat des Konsenses: Geschichtswissenschaft in der DDR 1949 – 1969. München 2001, S. 274– 280; Kowalczuk, Legitimation, S. 275 f. Die „Zwei-Lager-Theorie“ stammte ursprünglich aus den von Andrej Schdanow während der Hochzeit des Stalinismus nach 1945 verfassten ideologischen Richtlinien der KPdSU. Unter Chruschtschow fiel sie (kurzfristig) in Ungnade. Siehe White, Duncan: Cold Warriors: Writers Who Waged the Literary Cold War. London 2019, S. 258 f. Sabrow, Das Diktat des Konsenses, S. 275. Sabrow, Das Diktat des Konsenses, S. 279. Siehe z. B. W. M. [= Walter Markov?]: Wütende NATO-Historiker. In: Neues Deutschland, 1. 8. 1962. Ritter wurde von seinem ehemaligen Studenten, jetzt Professor in Jena bzw. Leipzig, Max Steinmetz (GI [Geheimer Informator] „Bach“) ausspioniert. Siehe Stibbe, Matthew: Flüchtige Allianzen: Der Erste Weltkrieg als Erwartungshorizont und Explanandum. In: Maubach, Franka u. Morina, Christina (Hrsg.): Das 20. Jahrhundert erzählen: Zeiterfahrung und Zeiterforschung im geteilten Deutschland. Göttingen 2016, S. 32– 85 (hier S. 42 f.).
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„Bonner Regime“ reichenden „Geschichtsideologie des westdeutschen Imperialismus“ darstellte.²⁴ In Bezug auf die eigentliche Forschung zum Ersten Weltkrieg hatte die Intervention der SED in einigen Fällen sogar positive Auswirkungen, insbesondere in Form von Fördergeldern. So rief im Herbst 1958 der Erste Sekretär Walter Ulbricht in einer Rede auf der 2. Tagung des Zentralkomitees der SED die Historiker des Landes dazu auf, zwei „Arbeitsgruppen“ zu bilden, die umfangreiche Forschungsarbeiten zum Ersten und Zweiten Weltkrieg in Angriff nehmen sollten: Diese wissenschaftlichen Werke zu begründen ist umso notwendiger, als die reaktionären Geschichtsschreiber des deutschen Imperialismus in zahlreichen Arbeiten die Dolchstoßlegende zu wiederholen suchen und für die Niederlage im zweiten Weltkrieg allein Hitler verantwortlich zu machen. Aber die Niederlagen Deutschlands im ersten und auch im zweiten Weltkrieg waren gesetzmäßig und unvermeidlich. Deshalb ist es notwendig, vom Standpunkt des historischen Materialismus die beiden Weltkriege zu analysieren und die objektiven Ursachen der Niederlage sowohl des Kaiserreiches als auch Hitlerdeutschlands zu beweisen.²⁵
1959 wurden Fritz Klein und Günter Paulus (geb. 1927) als Direktoren der beiden Arbeitsgruppen ernannt, die, wie vereinbart wurde, am Institut für Geschichte der DAW untergebracht werden sollten, um ihnen besondere wissenschaftliche Respektabilität zu verleihen. In anderen Bereichen hatten die Eingriffe der SED in Akademie-Angelegenheiten während der späten 1950er- und frühen 1960er-Jahre allerdings ernsthaftere und langfristigere Konsequenzen, zumindest was die Bereitschaft ostdeutscher Wissenschaftler zur Selbstzensur anging. Zwei Begebenheiten sollen hier kurz genannt werden. Neben dem relativ bekannten und schon erwähnten Beispiel Jürgen Kuczynski gab es noch einen zweiten Fall, der zwar weniger Aufmerksamkeit erfuhr, aber mindestens ebenso, wenn nicht sogar noch signifikanter war. 1959 musste der 33-jährige Willibald Gutsche seine Doktorarbeit über die Novemberrevolution in seiner Heimatstadt Erfurt verteidigen. Er hatte im Fernstudium und als Spätstudierender an der Universität Jena graduiert und während des Studiums als Gymnasiallehrer gearbeitet. Die vor Publikum stattfindende Disputation verlief in einer Atmosphäre höchster Anspannung. Anwesend waren unter anderem Mitglieder der SED-Bezirksleitung, von denen einige entschlossen
Berthold, Werner: „… großhungern und gehorchen.“: Zur Entstehung und politischen Funktion der Geschichtsideologie des westdeutschen Imperialismus, untersucht am Beispiel von Gerhard Ritter und Friedrich Meinecke. Ost-Berlin 1960, S. 18. Siehe ABBAW, Nachlass Fritz Klein Jr., Nr. 575, „Zur Geschichte der Arbeitsgruppe Erster Weltkrieg“, 14. 2. 1966.
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waren, die Annahme von Gutsches Doktorarbeit zu verhindern. Der Hauptvorwurf gegen Gutsche war sein angeblicher „Revisionismus“, da er nicht den Thesen Ulbrichts Über den Charakter der Novemberrevolution folgte, die der Erste Parteisekretär auf der 2. Tagung des SED-Zentralkomitees im Herbst 1958 verkündet hatte.²⁶ Die Kampagne gegen Kuczynski endete in einem Patt: Der Historiker weigerte sich, einen Rückzieher zu machen, wurde aber gezwungen, weitere Forschungen zur Parteigeschichte einzustellen und sich für den Rest seiner beruflichen Karriere auf Wirtschafts- und Arbeitergeschichte zu konzentrieren. 1958 verlor er seinen Sitz in der Volkskammer, wurde aber nicht aus der SED ausgeschlossen.²⁷ Für Gutsche war es, zumindest in den ersten paar Jahren nach 1958/1959, insgesamt gravierender. Letzten Endes erhielt er den Doktortitel, aber erst nachdem er seine Dissertationsschrift gründlich überarbeitet und mit der vorherrschenden SEDInterpretation in Einklang gebracht hatte.²⁸ Er verlor seine Stelle als Gymnasiallehrer und wurde stattdessen zur DAW nach Berlin berufen, um dort in Kleins „Arbeitsgruppe Erster Weltkrieg“ zu arbeiten. Das bedeutete einen beträchtlichen Einkommensverlust für Gutsche, der nun noch dazu zwischen Erfurt und Berlin pendeln musste.²⁹ Andererseits konnte er auf diese Weise eine äußerst erfolgreiche Karriere innerhalb der geschichtswissenschaftlichen Forschung der DDR beginnen. Neben Klein wurde er zu einem der führenden Mitgestalter einer spezifisch ostdeutschen, marxistischen Interpretation des Ersten Weltkrieges. So schwer es aus heutiger Sicht auch nachzuvollziehen ist, fühlten sich Gutsche, Klein und Petzold durch ihre Erfahrungen Ende der 1950er-Jahre und durch den Einfluss Jerussalimskis auf zumindest die beiden letzteren in der Überzeugung bestärkt, dass sie, trotz allem, in der DDR relativ frei forschen konnten. Sie glaubten, dass die Entwicklung neuer Forschungsfragen und methodologischer Ansätze ihnen die Möglichkeit bot, sich letztlich aus der Zwangsjacke der Parteilehre zu befreien. Kleins Archivreisen nach Moskau und Leningrad Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre, auf denen er vor allem Material für seine Habilitationsschrift über die Ursachen des Ersten Weltkrieges sammelte, hatten ihm gezeigt, dass der Zugang zu Regierungsdokumenten hier bei weitem restrik-
Ulbricht, Walter: Über den Charakter der Novemberrevolution, nachgedr. in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 6 (1958), H. 4, S. 717– 729. Vgl. Kuczynski, Jürgen: Frost nach dem Tauwetter: Mein Historikerstreit. Berlin 1993. Eine veröffentlichte Version der Dissertation erschien 1963; siehe Gutsche, Willbald: Die revolutionäre Bewegung in Erfurt während des 1. imperialistischen Weltkrieges und der Novemberrevolution. Erfurt 1963. ABBAW, Nachlass Willibald Gutsche, Nr. 1, Kurze Biographie von Willibald Gutsche, unveröffentlichtes Manuskript von Birgitte Gutsche, S. 3. Vgl. Stibbe, Flüchtige Allianzen, S. 73.
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tiver gehandhabt wurde als in Potsdam, Merseburg und Dresden, ganz zu schweigen von Bonn, Wien und Budapest.³⁰ Petzold hatte 1957 zwar nicht an Jerussalimskis Seminar an der DAW teilnehmen können, aber durch gemeinsame Theaterbesuche in Berlin und Moskau dennoch einen freundschaftlichen Kontakt mit ihm aufgebaut. Er wusste von Jerussalimskis Schwierigkeiten, die dieser als Jude und selbstständig denkender Wissenschaftler mit sowjetischen ParteiHardlinern hatte: „[Er] hat wiederholt durchblicken lassen, wie glücklich wir uns schätzen konnten, in der DDR [statt in der UdSSR, M. S.] zu leben.“³¹ Noch Mitte der 1960er-Jahre waren sowohl Klein als auch Gutsche davon überzeugt, als Geschichtswissenschaftler in der DDR „gute Arbeitsbedingungen“ und „den notwendigen wissenschaftlichen Freiraum“ zu haben, was ihnen erlaube, nicht nur zur internationalen marxistischen Interpretation des Ersten Weltkrieges und seiner Folgen beizutragen, sondern diese aktiv mitzugestalten.³² Petzold kam nach Abschluss seiner Promotion über die Dolchstoßlegende 1961, die zwei Jahre später veröffentlicht wurde, zur gleichen Erkenntnis.³³
Die „Arbeitsgruppe Erster Weltkrieg“ und die Entstehung von Deutschland im Ersten Weltkrieg Gutsche und Petzold stießen neben Blandyna Meißner im September 1961 als erste einer ganzen Schar wissenschaftlicher Mitarbeiter (später oberwissenschaftliche Mitarbeiter, bzw. wissenschaftliche Arbeitsleiter) zur „Arbeitsgruppe Erster Weltkrieg“, für die Klein zu diesem Zeitpunkt schon zwei Jahre lang allein als dessen Direktor gearbeitet hatte.³⁴ Auch er war zuvor mit der Partei zusammengestoßen: 1957 hatte man ihn als Herausgeber der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) entlassen, wenn auch nicht wegen seiner eigenen Veröffentlichungen, sondern, wie er Eric Hobsbawm 1999 erzählte, „wegen meiner Verbindungen zu der ‚konterrevolutionären‘ Gruppe um Wolfgang Harich und
Klein, Drinnen und Draußen, S. 226. Vgl. Klein, Fritz: Der deutsche Imperialismus und die Entstehung des ersten Weltkrieges, Habil.-Schrift, Karl-Marx-Universität Leipzig 1968. Petzold, Parteinahme wofür?, S. 154. Petzold, Parteinahme wofür?, S. 231. Petzold, Joachim: Die Dolchstoßlegende: Eine Geschichtsfälschung im Dienste des deutschen Imperialismus und Militarismus. Ost-Berlin 1963. Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMOBArch), DY 30/IV A2/9.04/331, Exposé eines Berichtes über den Stand der Arbeit an der dreibändigen Geschichte Deutschlands im 1. Weltkrieg, 23. 11. 1965.
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Walter Janka“.³⁵ Die Stasi hatte ihn im Juli 1957 zu rekrutieren versucht, was er unter Hinweis auf seine kritische Haltung gegenüber den hohen Haftstrafen für die Harich-Gruppe mutig abgelehnt hatte.³⁶ Seine neue Funktion als Direktor der „Arbeitsgruppe Erster Weltkrieg“ mag anfangs die Anmutung eines vergifteten Kelchs gehabt haben, vor allem da es zunächst nicht klar war, ob und inwieweit er mit dem Institut für MarxismusLeninismus (IML) würde zusammen arbeiten müssen. Anders als die DAW unterstand jene Institution der unmittelbaren Kontrolle des SED-Zentralkomitees, die auch dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ernannte. 1962 gab es sogar den Vorschlag, die DAW-Projekte zu den beiden Weltkriegen mit der am IML projektierten achtbändigen Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung zusammenzulegen. Niemand geringeres als Ulbricht selbst leitete dieses Publikationsprojekt, das nicht eben dazu prädestiniert war, wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen oder neue methodische Herangehensweisen über das in den 1950erJahren bereits Bekannte hinaus weiterzuentwickeln.³⁷ Aufgrund seiner Erfahrungen mit der SED, die sich 1959/1960 stark in die Arbeit am neunten Band des Lehrbuchs der deutschen Geschichte eingemischt hatte, und der Enttäuschung über den Bruch mit dem VHD in Trier befürchtete Klein, die ostdeutsche Geschichtswissenschaft könne weit hinter die des Westens zurückfallen. Andererseits glaubte er an die Möglichkeit, es sei noch kurzfristig Abhilfe zu schaffen. Diese Zuversicht wuchs, als 1961 das Buch des Hamburger Historikers Fritz Fischer (1908 – 1999) Griff nach der Weltmacht erschien. Diese Publikation war für Klein ein Indiz dafür, dass sich die bundesrepublikanische Geschichtswissenschaft von ihren bisherigen „imperialistischen“ Auffassungen wegbewegte und eine größere Offenheit gegenüber marxistischen Positionen zeigte.³⁸ In einem ihrer ersten Berichte vom Juni 1962 kritisierte die „Arbeitsgruppe“ tatsächlich einige Aspekte der bisherigen ostdeutschen Geschichtsschreibung der Jahre 1900 – 1917 und äußerte ihr Interesse an der Weiterentwicklung einer neuen Forschungsagenda: Die bisherige Geschichtswissenschaft der DDR hat fast ausschließlich die gesellschaftlichen Kräfte der Nation, die zwischen dem Extrem der reaktionären Imperialisten und der Arbeiterbewegung liegen, vernachläßigt. Die Ausarbeitung eines nationalen Geschichtsbildes
ABBAW, Nachlass Fritz Klein Jr., Nr. 830, Klein an Hobsbawm, 30. 11. 1999. Stibbe, Flüchtige Allianzen, S. 60. ABBAW, Nachlass Fritz Klein Jr., Nr. 575, Klein an Hager, Dlubek und Engelberg, 11. 7. 1962. Stibbe, Matthew: The Fischer Controversy over German War Aims in the First World War and its Reception by East German Historians, 1961– 1989. In: The Historical Journal, 46. Jg. (2003), H. 3, S. 649 – 668 (hier S. 658). Vgl. Fischer, Fritz: Griff nach der Weltmacht: Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18. Düsseldorf 1961.
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erfordert jedoch gerade für die hier untersuchte Zeit, die mit so vielen Fäden noch ganz unmittelbar mit der Gegenwart verbunden ist, die Untersuchung und Analyse aller Klassen und Schichten der Nation. Es fehlen Arbeiten über die Mittelschichten und ihre politischen Vertretungen, sowohl im Bürgertum wie in der Bauernschaft. Es gibt bisher keine Arbeiten über […] die bürgerliche Friedensbewegung, die bürgerliche Jugendbewegung, die bürgerliche Frauenbewegung – Erscheinungen, die allsamt eine bedeutende Rolle im Leben der Nation gespielt haben und die auf ihre positive wie ihre negative Bedeutung für den Kampf der Nation um ein Leben im Frieden und sozialer Gerechtigkeit sorgfaltig untersucht werden müssen.³⁹
Selbst in Bezug auf den Imperialismus, so der Bericht weiter, „sind Lücken [vorhanden], die dringend geschlossen werden müssen“: Es ist nicht zu vertreten, daß die wichtigsten Themengebiete Außenpolitik und Militarisierung-Kriegsvorbereitung mit nur zwei selbstständigen Veröffentlichungen vertreten sind, von denen eine, das Buch von Albert Schreiner über die deutsche Außenpolitik von 1871 bis 1918, zur Zeit seiner Veröffentlichung 1952 eine bedeutsame Leistung, inzwischen wissenschaftlich überholt ist.⁴⁰
Und schließlich sei die Geschichtswissenschaft der DDR zu sehr auf nationale Paradigmen fixiert: Der Imperialismus jedoch […] ist ein Weltsystem, und der Imperialismus keines einzelnen Landes kann voll verstanden werden ohne den Vergleich und die Beziehung zu den imperialistischen Systemen der anderen Mächte. Und was für den Imperialismus gilt, gilt auch für die Arbeiterbewegung; auch sie muß immer unter dem Gesichtspunkt ihrer internationalen Verbindungen mit betrachtet werden. Mit Ausnahme einer Reihe von Artikeln über die Beziehungen zwischen der deutschen und der russischen Arbeiterbewegung ist auf diesem Gebiet jedoch bisher so gut wie nichts geschehen.⁴¹
Dieser einigermaßen eigenwillige Bericht mag einen Monat später durchaus den Vorschlag der ZK-Abteilung Wissenschaften provoziert haben, die DAW-Projektgruppen zum Ersten und Zweiten Weltkrieg schlichtweg mit der Arbeit des IML an der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung zusammenzulegen. Doch jemand muss seine Hand beschützend über Klein gehalten haben, denn dies blieb letztlich aus. Und so konnte die „Arbeitsgruppe Erster Weltkrieg“ im Sommer 1964 ihr erstes „wichtiges Zwischenergebnis“ vorstellen: einen Band mit Aufsätzen über die Politik der deutschen herrschenden Klassen im Ersten Weltkrieg mit Beiträgen SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/9.07/219, „Zu den Arbeiten der Historiker in der DDR über Themen aus dem Zeitraum 1900 bis 1917“, 22. 6. 1962. SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/9.07/219. SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/9.07/219.
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nicht nur von Klein, Gutsche und Petzold, sondern auch von Johanna Schellenberg, Karl-Heinz Schädlich, Baldur Kaulisch, Friedrich Katz, Heinz Lemke, Lothar Elsner, Hellmuth Weber und Günter Paulus, die positive Referenzen auf die Arbeiten Fischers und seiner Studenten in Hamburg enthielten.⁴² Obwohl in der Zwischenzeit die „Zwei-Lager-Theorie“ nach dem Bruch mit dem VHD 1958 deutlich an Bedeutung gewonnen hatte, brachen die Kontakte zwischen ost- und westdeutschen Historikern nicht vollständig ab. So besuchte Klein 1964 Fischer und seine Studenten zweimal in Hamburg, nachdem sich beide vorher geschrieben hatten und eine positive Rezension von Griff nach der Weltmacht in der ZfG erschienen war, die zur Einladung Kleins nach Hamburg führte. 1966 reisten auch Gutsche und Petzold in die Hansestadt.⁴³ Im Oktober 1964 erhielt Petzold von der ZK-Abteilung Wissenschaften die Erlaubnis, als inoffizieller Beobachter am Historikertag in West-Berlin teilzunehmen. In dieser Funktion konnte er später von den hitzigen Debatten zwischen einigen der damals größten Namen der akademischen Welt in der Bundesrepublik, Frankreich und Amerika über die Fischer-These berichten. Fischer trat als Hauptreferent auf, Gerhard Ritter und Egmont Zechlin als Korreferenten und Imanuel Geiss, Helmut Böhme,Werner Hahlweg, Erwin Hölzle, Dieter Mende, Jacques Droz und Fritz Stern als Diskussionsredner.⁴⁴ Und im September 1965 nahm Klein als Mitglied der offiziellen DDR-Delegation auf dem internationalen Historikerkongress in Wien mit Imanuel Geiss Kontakt auf, um „die Texte unserer Beiträge zur Diskussion über den Vortrag Gerhard Ritters gegen Fischers Griff nach der Weltmacht ab[zustimmen]“.⁴⁵ Mehr als dreißig Jahre später bezeichnete Klein in seinen Glückwünschen zu Fischers 90. Geburtstag die Begegnung der beiden Historiker in den 1960er-Jahren als einen „ganz besonderen Glücksfall“. Er sprach von den „vielen Anregungen“, die er und seine Forschungsgruppe daraus gezogen hatten: „Ein öffentlicher Höhepunkt war jene ,Fischer‘-Diskussion auf dem Internationalen Kongreß in Wien 1965, auf dem ich Gelegenheit hatte […], in Ihr Horn zu blasen […]“.⁴⁶ Und Fischer erwiderte
Klein, Fritz (Hrsg.): Politik im Krieg 1914– 1918: Studien zur Politik der herrschenden Klassen im Ersten Weltkrieg. Ost-Berlin 1964.Vgl. ABBAW, Nachlass Fritz Klein Jr., Nr. 575, „Zur Geschichte der Arbeitsgruppe Erster Weltkrieg“, 14. 2. 1966. Stibbe, The Fischer Controversy, S. 658 f. Siehe Petzold, Joachim: Aufzeichnungen über die Diskussion der Kriegsziele des deutschen Imperialismus im ersten Weltkrieg auf dem westdeutschen Historikerkongreß in Westberlin, 12. 10. 1964, nachgedr. in: Petzold, Parteinahme wofür?, S. 202– 211. Klein, Drinnen und Draußen, S. 246. ABBAW, Nachlass Fritz Klein Jr., Nr. 764, Klein an Fischer, 9. 3. 1998.
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das Kompliment in seinem Antwortschreiben: „Auch ich denke noch mit Bewegung, wie Sie in Wien an meiner Seite gestanden haben.“⁴⁷ Trotz dieser positiven Kontakte erfuhren aber weder die Hauptbeiträger Klein, Gutsche und Petzold noch ihre zahlreichen Assistenzautoren auf der anderen Seite der deutsch-deutschen Grenze die Würdigung, die sie sich versprachen und verdient gehabt hätten, als die drei Bände von Deutschland im Ersten Weltkrieg 1968/1969 erschienen. Die vielen „flüchtigen Allianzen“, die sie geknüpft hatten – nicht nur mit Fischer, sondern auch mit einigen von Fischers Kritikers wie Zechlin und mit jüngeren westdeutschen Wissenschaftlern wie Hans Mommsen (1930 – 2015) und Wolfgang Mommsen (1930 – 2004) – erwiesen sich als unzureichend, um die in der Bundesrepublik weiterhin bestehenden grundsätzlichen Vorurteile gegen die ostdeutsche Forschung zu überwinden. Selbst die Tatsache, dass der regimekritische Historiker Erwin Gülzow (1926 – 1992) als Co-Autor für die Teile über den „bürgerlichen Pazifismus“ herangezogen wurde, erregte kaum Interesse. Gülzow war im Dezember 1958 in einem politischen Prozess, der starke Parallelen zum Verfahren gegen die Harich-Janka Gruppe von 1957 aufwies, für seine „staatsfeindliche Tätigkeit“ zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden.⁴⁸ Der in Deutschland geborene amerikanische Wissenschaftler Georg Iggers (1926 – 2017), seit 1967 ein häufiger Gast in der DDR, erinnerte sich später: The three volumes […] were positively reviewed in major American, British, and French journals because of their solid research that was recognized as a valid contribution to the study of the First World War. However, the work was virtually ignored in West Germany, where it was generally viewed as East German propaganda.⁴⁹
Die drei Bände stellen zweifellos die wichtigste Arbeit zum Ersten Weltkrieg aus der Feder deutscher marxistischer Wissenschaftler während des Kalten Krieges dar. Chronologisch gegliedert zeichnete Klein als Hauptautor des ersten Bandes („Vorbereitung, Entfesselung und Verlauf des Krieges bis Ende 1914“), Gutsche für den zweiten („Januar 1915 bis Oktober 1917“) und Petzold für den dritten („November 1917 bis November 1918“). Jeder Band begann mit einem ausführlichen Überblick über die „bürgerliche“ und die marxistisch-leninistische Geschichts ABBAW, Nachlass Fritz Klein Jr., Nr. 764, Fischer an Klein, o. D. [vermutlich März 1998]. Petzold, Parteinahme wofür?, S. 229. Gülzow promovierte 1969 an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer – allerdings unveröffentlichten – Dissertation über den „Bund Neues Vaterland: Probleme der bürgerlich-pazifistischen Demokratie im Ersten Weltkrieg 1914– 1918“. Zu Gülzow siehe auch Jordan, Carlo: Kaderschmiede Humboldt-Universität zu Berlin: Aufbegehren, Säuberungen und Militarisierung 1945 – 1989. Berlin 2001, S. 110. Iggers, Wilma u. Iggers, Georg: Two Lives in Uncertain Times: Facing the Challenges of the 20th Century as Scholars and Citizens. New York/Oxford 2006, S. 147.
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schreibung der Periode. Der dritte Band zog dabei eine klare Grenze zwischen beiden: „Im Unterschied zur bürgerlichen Historiographie hat die marxistischleninistische Geschichtsschreibung in Deutschland die welthistorische Bedeutung der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution von vornherein erkannt und in den Mittelpunkt ihrer Analyse des letzten Kriegsjahres gestellt.“⁵⁰ Gleichzeitig präsentierten die Autoren ihre Veröffentlichung als einen spezifisch deutschen Beitrag zum Ersten Weltkrieg und seinen Ursachen. Dies drückte sich zum Beispiel erneut in einer gewissen nationalen Defensivität aus, die in der Behauptung anklang, das Kaiserreich und sein österreichisch-ungarischer Verbündeter seien 1914 nicht die einzigen Aggressoren gewesen: Auch in Rußland gab es eine mächtige Kriegspartei. Ihr Hauptziel war die Eroberung des Bosporus und der Dardanellen. Auch in Rußland herrschte in den letzten Jahren die Auffassung vor, daß die große kriegerische Auseinandersetzung zwischen Dreibund und TripleEntente auf die Dauer unvermeidlich sei, und zielstrebig arbeiteten maßgebende Kreise des zaristischen Imperialismus darauf hin, diese Auseinandersetzung zu einem für den Zarismus günstigen Moment mit herbeizuführen.⁵¹
Die Herausgeber versuchten auch in anderer Weise deutlich zu machen, dass es sich hier nicht um ein gemeinsames deutsch-sowjetisches Projekt handelte, sondern um eine genuin deutsche, wissenschaftlich fundierte Arbeit, bei der man „intensiv“ und „planmäßig“ vorgegangen war, um Deutschlands Beteiligung an diesem Krieg und seinen Ursachen von allen Seiten zu untersuchen. Klein, Gutsche und Petzold schlossen neben ihrer Arbeit an den drei Bänden auch ihre Habilitationsschriften ab.⁵² Zahlreiche andere Beiträger stellten ihre Doktorarbeiten fertig oder brachten diese weiter voran.⁵³ Und die zwei Spezialisten für Militärgeschichte innerhalb des Projekts, Helmut Otto (geb. 1927) und Karl
Fritz Klein/Willibald Gutsche/Joachim Petzold: Deutschland im Ersten Weltkrieg. 3 Bde, OstBerlin 1968 – 1969, Bd. 3, S. 1. Klein/Gutsche/Petzold, Deutschland im Ersten Weltkrieg, Bd. 1, S. 241. Siehe Klein, Der deutsche Imperialismus; Gutsche, Willibald: Die Beziehungen zwischen der Regierung Bethmann Hollweg und dem Monopolkapital in den ersten Monaten des ersten Weltkrieges, Habil.-Schrift, Humboldt-Universität zu Berlin 1967; Petzold, Joachim: Deutschland in der Schlußphase des ersten Weltkrieges, Habil.-Schrift, Humboldt-Universität zu Berlin 1968. Siehe z. B. Kaulisch, Baldur: Die Auseinandersetzung um den uneingeschränkten U-BootKrieg innerhalb der herrschenden Klassen Deutschlands während des ersten Weltkrieges (Herbst 1914 bis Frühjahr 1917), Diss. A, Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1970; Weber, Hellmuth: Monopole und Oberste Heeresleitung in den Jahren 1916 – 1918: Ein Beitrag zur Geschichte der Militärdiktatur während des ersten Weltkrieges, Diss. A, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1962.
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Abb. 1: Die drei Bände der DDR-Publikation Deutschland im Ersten Weltkrieg (1968 – 1969), herausgegeben im Akademie-Verlag.
Schmiedel (geb. 1927), konnten 1977 mit einer gemeinsamen Habilitationsschrift (Dissertation B) ihre akademische Karriere in der DDR fortsetzen.⁵⁴ Archivrecherche war für das Projekt ein wichtiger Aspekt für den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Bereits 1964 hatte Klein erklärt, dass die ostdeutsche Forschung, wenn sie ernst genommen werden wolle, den Westen nur durch Archivarbeit einholen könne. Die Produktivität der westdeutschen Historiker ist außerordentlich und wird in der nächsten Zeit noch wachsen. […] An dieser Produktivität müssen wir uns ein Beispiel nehmen und alle unsere Anstrengungen auf die Erhöhung des wissenschaftlichen Niveaus unserer Arbeiten […] richten. Für entscheidende Gebiete der neuesten deutschen Geschichte scheint es mir unerläßlich, daß Historiker von uns die Archivbestände des Auswärtigen Amtes, die in Bonn liegen, gründlich durcharbeiten. Wir bleiben einfach hoffnungslos auf dem ganzen Gebiet
Otto, Helmut u. Schmiedel, Karl: Zur Militärstrategie des deutschen Imperialismus vor und während des ersten imperialistischen Weltkrieges, Diss. B, Militärgeschichtliches Institut der DDR, Potsdam 1977.
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der Außenpolitik des deutschen Imperialismus hinter der westlichen Forschung zurück, wenn es uns nicht gelingt, diese Bestände zu verwerten.⁵⁵
Während der folgenden Jahre wies Klein die Mitarbeiter der „Arbeitsgruppe Erster Weltkrieg“ an, sich gründlich mit den offiziellen Akten des Deutschen Reiches vertraut zu machen, wobei der „eminent fleißige und ständig in Archiven arbeitende Willibald Gutsche“ mit gutem Beispiel voranging.⁵⁶ Die drei Bände zitierten Archive in der Bundesrepublik (Bonn, Koblenz, München und Stuttgart), der DDR (Potsdam, Merseburg und Dresden) und in den ehemaligen habsburgischen Ländern (vor allem Wien und Budapest). Bemerkenswerterweise gibt es in der Bibliografie keinen Hinweis auf Staatsarchive der UdSSR. Da Kleins Forschungsreisen Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre nach Moskau und Leningrad eher erfolglos blieben,⁵⁷ stammten die einzigen verwendeten sowjetischen Archivquellen aus dem Moskauer Zentralen Parteiarchiv des Instituts für Marxismus-Leninismus, und diese wurden auch nur für den zweiten und dritten Band herangezogen. Insgesamt interpretierten Klein, Gutsche und Petzold den Ersten Weltkrieg als einen imperialistischen Krieg, in dem „die Ausbeutungs- und Eroberungsinteressen einer Handvoll Monopolkapitalisten und Großgrundbesitzer“ diametral den „Wünschen und Zielen der Volksmassen“ gegenüberstanden. Dies entsprach im Großen und Ganzen der offiziellen Deutung der SED während der 1950er-Jahre in ihrer Auseinandersetzung mit den „revisionistischen“ Ansichten Kuczynskis.⁵⁸ Doch bei näherem Hinsehen waren die Argumente und Analysen der drei Historiker sehr viel nuancierter. So unterschieden sie – vor allem, aber nicht nur im zweiten Band – als zwei „Hauptströmungen“ des deutschen Imperialismus eine „liberalisierende“ und eine aggressivere alldeutsche Variante. Zwar verurteilten sie den „liberalisierenden“ Imperialismus, da er die gleichen Ziele und Visionen wie die „extrem-militärische[n] Kreise des deutschen Imperialismus“ vertreten habe, und stimmten in diesem Sinne mit der Argumentation Fritz Fischers in Griff nach der Weltmacht von 1961 überein.⁵⁹ Aber im Unterschied zu Fischer legten sie mehr Gewicht auf die „Auseinandersetzungen“ zwischen den beiden Flügeln des
SAPMO-BArch, DY 30/IV A2/9.04/334, Fritz Klein, Bericht über Reise nach Hamburg, 26. bis 29. August 1964, Berlin, 1. 9. 1964. Petzold, Parteinahme wofür?, S. 198. Klein, Drinnen und Draußen, S. 226 f. Klein/Gutsche/Petzold, Deutschland im Ersten Weltkrieg, Bd. 3, S. 589. Vgl. Haun, Horst: Kommunist und „Revisionist“: Die SED-Kampagne gegen Jürgen Kuczynski (1956 – 1959), Dresden 1999. Klein/Gutsche/Petzold, Deutschland im Ersten Weltkrieg, Bd. 2, S. 555.
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Imperialismus in Bezug auf strategische Fragen wie beispielsweise die Entscheidung zur Aufnahme des unbeschränkten U-Boot-Krieges im Januar 1917. Neben der Berücksichtigung von Kriegszielen und -strategien behandelten alle drei Bände außerdem auch ausführlich die Entwicklung der innenpolitischen Opposition gegen den Krieg von Seiten der Bevölkerung. Hier lag die Betonung zwar deutlich auf den Spartakisten; der erste Band schloss mit einer dramatischen Schilderung von Karl Liebknechts „Nein“ zu weiteren Kriegskrediten in der Reichstagssitzung vom 2. Dezember 1914: Für Millionen von Menschen im Deutschen Reich und in anderen Ländern war Liebknechts „Nein“ das erste helle Signal zum Sammeln im Kampf gegen Krieg. Der Trug von der Einmütigkeit des deutschen Volkes und der deutschen Arbeiterklasse unter dem Banner der aggressiven deutschen Imperialismus war zerrissen. Liebknechts öffentlicher Kampfruf gegen den Krieg und dessen Wurzeln, die im imperialistischen System lagen, wurde der erste, weithin sichtbare Schritt vorwärts auf dem langen, schweren Weg zur Wiederherstellung der Einheit der deutschen Arbeiterklasse auf dem Boden des revolutionären Marxismus.⁶⁰
Doch in den folgenden Passagen räumten die Autoren ein, dass die Opposition gegen den Militarismus in Wahrheit sehr viel weniger konturenscharf gewesen sei und nicht nur aus revolutionären Sozialisten, sondern auch aus „Bürgerlichen“ bestanden habe. Vor allem richteten sie ihr Interesse auf den im Oktober 1914 gegründeten „Bund Neues Deutschland“, einem „Sammelbecken konsequenter bürgerlicher Kriegsgegner während des ersten Weltkrieges in Deutschland“. Zu seinen Mitgliedern zählten prominente Frauenrechtlerinnen wie Elisabeth Rotten und Lilli Jannasch, sowie „aufrechte und ehrliche Antimilitaristen, Antichauvinisten und Antiannexionisten“ wie Otto Lehmann-Rußbüldt und Kurt von TepperLaski.⁶¹ Dies war ein entscheidender Schritt in Richtung einer Anerkennung neuer Formen des Internationalismus, die sich während des Krieges entwickelten und die neben Liebknechts „Nein“ einen wichtigen Teil des fortschrittlichen Erbes der DDR darstellten. Innerhalb der DAW dauerte es eine Weile, bis Deutschland im Ersten Weltkrieg eine prägende Wirkung auf die nächste Wissenschaftlergeneration entfalten konnte. Von Beginn an bis zur Veröffentlichung der drei Bände war das Projekt politischen Interventionen ausgesetzt gewesen. So hatte man 1965 Klein und seinen Kollegen Heinz Lemke von ihren Leitungsposten in der SED-Grundorganisation des Instituts für Geschichte enthoben, nachdem sie an einem ad-hocTreffen zum Thema „Methodologische Probleme der Weltkriegsforschung“ zwi-
Klein/Gutsche/Petzold, Deutschland im Ersten Weltkrieg, Bd. 1, S. 500. Klein/Gutsche/Petzold, Deutschland im Ersten Weltkrieg, Bd. 1, S. 487.
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schen ost- und westdeutschen Historiker (ohne Fischer oder Geiss) in Ost-Berlin am 9. Oktober 1964 teilgenommen hatten.⁶² Die gleiche parteiinterne Untersuchung ermittelte auch gegen Kleins Kollegen Paulus von der „Arbeitsgruppe Zweiter Weltkrieg“, und entließ und ersetzte ihn durch den Hardliner Gerhart Hass (1931– 2008).⁶³ Die Veröffentlichung des ersten und zweiten Bandes von Deutschland im Ersten Weltkrieg war, zumindest für Klein persönlich, überschattet vom vorübergehenden Ausschluss seines Sohnes Wolfgang von der HumboldtUniversität, da er sich im Wintersemester 1968/1969 pro-Dubček Gesprächen innerhalb der Leitung seiner FDJ-Gruppe beteiligt hatte.⁶⁴ Das Thema der linken Opposition gegen den Krieg 1914/1918 war in den späten 1960er-Jahren noch immer gefährlich. Ein Jahrzehnt nach Kuczynskis Zusammenstoß mit der SED 1957/1958 verurteilten offizielle Parteiveröffentlichungen Kautsky und andere „Zentristen“ weiterhin als „versteckte Opportunisten“, deren „sozialpazifistische Verdummungspolitik“ nur einen Zweck verfolgt habe, und zwar „die Abwanderung der Arbeiter in die Reihe der Spartakusgruppe zu verhindern“.⁶⁵ Eine differenziertere Interpretation der Strömungen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie begann sich erst Mitte bzw. Ende der 1980er-Jahre herauszukristallisieren.⁶⁶
Klassenkampf oder Friedensgeschichte? Der anhaltende Einfluss der „Zwei-Lager-Theorie“ auf die ostdeutsche Geschichtswissenschaft zum Ersten Weltkrieg und sogar auf Prestigeprojekte wie Deutschland im Ersten Weltkrieg muss vor dem Hintergrund der allgemeinen Entwicklung während des Kalten Krieges gesehen werden. In den späten 1960erund frühen 1970er-Jahren stießen die westdeutschen Regierungen KiesingerBrandt und Brandt-Scheel auf heftige Widerstände, und das sowohl innenpolitisch von Seiten der bundesrepublikanischen Konservativen, als auch von außen durch die DDR im Besonderen und die Warschauer Pakt Staaten im Allgemeinen,
Klein, Drinnen und Draußen, S. 241– 246; Sabrow, Das Diktat des Konsenses, S. 301– 325. Petzold, Parteinahme wofür?, S. 217– 225. Klein, Drinnen und Draußen, S. 252– 255. Institut für Marximus-Leninismus beim Zentralkomittee der SED, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Bd. 5: Periode von 1914 bis 1917. Ost-Berlin 1967, S. 112 f. Siehe z. B. Herrmann, Ursula: Sozialdemokratische Frauen in Deutschland im Kampf um den Frieden vor und während des ersten Weltkrieges. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 33 (1985), H. 3, S. 213 – 230.
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die hinter der „neuen Ostpolitik“ nach versteckten Motiven suchten.⁶⁷ Anfang der 1980er-Jahre schien sich das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten etwas beruhigt zu haben, wenn auch noch keine Rede von einer vollständigen „Normalisierung“ sein konnte. Die ostdeutsche Seite registrierte mit Erleichterung, dass die seit 1982 amtierende neue CDU/FDP-Regierung in Bonn die „Ostpolitik“ nicht grundsätzlich umkehren wollte. 1985 war es sogar möglich, dass der Direktor der „Forschungsgruppe BRD“ an der DAW Siegfried Thomas (1930 – 1985) in einem Beitrag zu dem von Fritz Klein herausgegebenen Band mit dem Titel Kriegsgefahren und Friedenschancen im 20. Jahrhundert schrieb: „Trotz prinzipieller ideologischer Meinungsverschiedenheiten mit dem Kommunismus […] hat Brandts politischer Realismus dazu beigetragen, dass die Bundesrepublik einen wichtigen Part in der europäischen Entspannungspolitik der 70er Jahre gespielt hat“.⁶⁸ Dies stellte eine grundlegende Abkehr von der Haltung des SED-Politbüros dar, wie sie ein Bericht über die 9. Tagung des ZK der SED vom 28. bis 29. Mai 1973 zusammenfasste, den Gutsche in einer Publikation von 1975 zustimmend zitierte: Nicht nur für Historiker ist es längst kein Geheimnis mehr, daß in der BRD eine Gesellschaftsstruktur weiterbesteht, die zwei furchtbare Weltkriege hervorgebracht hat. Die Herrschaft der kapitalistischen Konzerne und Monopole, die ständig zunehmende Zusammenballung ökonomischer Macht in den Händen des Finanzkapitals und die daraus erwachsende politische Macht sind die Quelle der Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen, sind eine dauernde Bedrohung der „Lebensqualität“ und nähren imperialistische Expansions- und Aggressionsbestrebungen nach außen.⁶⁹
Wie lässt sich diese Verschiebung von einer Geschichte des Krieges hin zu einer Geschichte des Friedens – oder zumindest einer Geschichte der „verpassten Gelegenheiten“ zum Frieden in der Vergangenheit erklären? Richard Bessel beantwortet diese Frage mit dem Hinweis auf einen „significant shift in popular opinion“ in Europa (und Nordamerika) aufgrund wachsender Ängste vor Krieg und Gewalt, die, wie er argumentiert, „occurred during the last three decades of the twentieth century“.⁷⁰ Man glaubte nun, der Staat müsse das Gemeinwohl schüt-
Siehe z. B. Kröger, Herbert: „Neue“ Ostpolitik in Bonn?. Ost-Berlin 1967; Barth, Herbert: Bonner Ostpolitik gegen Frieden und Sicherheit: Zur Ostpolitik des westdeutschen Imperialismus von Adenauer und Erhard bis zu Strauß/Kiesinger. Ost-Berlin 1969. Thomas, Siegfried: Zur Genesis der Entspannungspolitik Willy Brandts. In: Klein, Fritz (Hrsg.), Kriegsgefahren und Friedenschancen im 20. Jahrhundert. Ost-Berlin 1985, S. 70 – 77 (hier S. 75). Gutsche, Willibald: Zur Imperialismus-Apologie in der BRD: „Neue“ Imperialismusdeutungen in der BRD-Historiographie zur deutschen Geschichte 1898 bis 1917. Ost-Berlin 1975, S. 65, Hervorhebungen im Original. Bessel, Richard: Violence: A Modern Obsession. London 2015, S. 188.
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zen und auf eine gewaltfreie Welt hinarbeiten, anstatt seine Macht auf Kosten der eigenen Bevölkerung und der anderer Staaten auszubauen. Die „Dämonie der Macht“, von Gerhard Ritter einst als treibende Kraft der Staatsbildung und Schlüssel zum Verständnis internationaler Beziehungen in der Neuzeit gefeiert, sollte ein für alle Mal ausradiert werden.⁷¹ Mit anderen Worten, der Staat müsse „not only [itself] but also the population as a whole“ schützen.⁷² Ein wichtiger symbolischer Moment innerhalb dieses Prozesses, wenigstens soweit es die deutsch-deutschen Beziehungen betraf, kam 1981. Am 13. Dezember rief General Wojciech Jaruzelski in Polen das Kriegsrecht aus, angeblich um einer allgemein befürchteten sowjetischen Invasion zuvorzukommen. Am selben Tag trafen sich der Erste Sekretär der SED Erich Honecker und Bundeskanzler Helmut Schmidt im Dom der mecklenburgischen Stadt Güstrow. Dort wurden sie, nebeneinander stehend, unterhalb der Skulptur von Ernst Barlach „Der Schwebende“ (1927) fotografiert, die auf die trauernde Käthe Kollwitz und mit ihr auf alle deutschen Mütter verweist, die während des Ersten Weltkrieges so viele Söhne verloren.⁷³ Für unseren Zusammenhang ist es nicht relevant, ob Honecker diesem Treffen aus reinem Zynismus zustimmte – schließlich hatte er den Kreml hinter den Kulissen immer wieder dazu gedrängt, militärische Schritte gegen die Solidarność-Bewegung in Polen zu unternehmen, auch auf die Gefahr hin, damit einen großflächigen Krieg in Europa auszulösen.⁷⁴ Relevant dagegen ist, dass die Begegnung der beiden Regierungschefs ein Signal an die deutsche Bevölkerung auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs aussendete: Niemals wieder sollte ein Krieg von deutschem Boden ausgehen. Für viele in der DDR, wenn auch vielleicht in geringerem Maße für die eher international ausgerichteten Bürger der Bundesrepublik, war dieser Moment wichtiger als die Szene bei der Gedenkfeier zum 70. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges 1984, bei der Bundeskanzler Helmut Kohl und Staatspräsident François Mitterrand Hand in Hand über den Gräbern von Verdun standen.⁷⁵ Es ist selbstverständlich außerordentlich schwierig, das Ausmaß eines Meinungsumschwungs in Bezug auf Krieg und Gewalt in der DDR abzuschätzen. Gleiches gilt für die Frage, ob die Historiker diesen Umschwung einleiteten oder ob sie vielmehr von diesem mitgezogen wurden. Bessel mag Recht haben, wenn er
Ritter, Gerhard: Die Dämonie der Macht: Betrachtungen über Geschichte und Wesen des Machtproblems im politischen Denken der Neuzeit. 6. Auflage, München 1948 [1947/1940]. Bessel, Violence, S. 201. MacGregor, Neil: Deutschland: Erinnerungen einer Nation. München 2017, S. 582 f. [Englische Originalausgabe = London 2014]. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel: Die Revolution von 1989 in der DDR. München 2009, S. 25 f. Bessel, Violence, S. 146.
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erklärt, dass „the story of the modern obsession with violence is in large measure a western story“.⁷⁶ 2009 beschrieb Richard Overy die Zwischenkriegsjahre in Großbritannien als „The Morbid Age“;⁷⁷doch eine neue, aktualisierte Form von Morbidität suchte auch große Teile der westeuropäischen und nordamerikanischen Kultur in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre heim. Der westdeutsche Schriftsteller und Dichter Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929) beschrieb dies 1978 in seinem Essay Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang: Die Apokalypse gehört zu unserem ideologischen Handgepäck. Sie ist ein Aphrodisiakum. Sie ist ein Angsttraum. Sie ist eine Ware wie jede andere. Sie ist eine, meinetwegen, Metapher für den Zusammenbruch des Kapitalismus, der bekanntlich seit über hundert Jahren unmittelbar bevorsteht. Sie tritt uns in allen möglichen Gestalten und Verkleidungen entgegen, als warnender Zeigefinger und als wissenschaftliche Prognose, als kollektive Fiktion und als sektiererischer Weckruf, als Produkt der Unterhaltungsindustrie, als Aberglauben, als Trivialmythos, als Vexierbild, als Kick, als Jux, als Projektion […]. Sie ist allgegenwärtig, aber nicht „wirklich“: eine zweite Realität, ein Bild, das wir uns machen, eine unaufhörliche Produktion unserer Phantasie, die Katastrophe im Kopf.⁷⁸
In der DDR waren solch apokalyptischen Themen tabu und konnten nicht direkt angesprochen werden, ohne mit der Zensur als ein Beispiel für „bürgerliche“ Dekadenz oder Nabelschau in Konflikt zu geraten. Künftige Kriege glaubte man nur durch die objektive, ideologisch klare marxistische Weltanschauung und die Sicherheit garantierende dauerhafte deutsch-sowjetischen Freundschaft verhindern zu können. In dieser Hinsicht verstanden sich selbst (loyale) Regimekritiker wie Kuczynski als Optimisten.⁷⁹ Dennoch bin ich der Ansicht, dass die Welt der Geschichtswissenschaft zum Ersten Weltkrieg eine vergleichsweise sichere Umgebung für die Beschäftigung mit der Angst vor Krieg und Gewalt bot und dass seit Mitte der 1970er-Jahre in der DDR ein unterschwelliger Paradigmenwechsel in Bezug auf die Frage des „Wozu“ der Forschung zum Ersten Weltkrieg stattfand. Ein Beispiel dafür ist Gutsches Beitrag von 1976 zu den illustrierten historischen heften, einer Reihe die zwischen 1976 und 1990 von der Akademie der
Bessel, Violence, S. 18. Overy, Richard: The Morbid Age: Britain and the Crisis of Civilization, 1919 – 1939. London 2009. Enzensberger, Hans Magnus: Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang. Kursbuch, Jg, 52 (1978), S. 1– 18. Zitiert nach King, Alasdair: Hans Magnus Enzensberger: Writing, Media, Democracy. Bern 2007, S. 222. Kuczynski, Jürgen: Dialog mit meinem Urenkel: Neunzehn Briefe und ein Tagebuch. OstBerlin/Weimar 1983. Vgl. Stibbe, Matthew: A Hopeless Case of Optimism? Jürgen Kuczynski and the End of the GDR. In: McDermott, Kevin and Stibbe, Matthew (Hrsg.): The 1989 Revolutions in Central and Eastern Europe: From Communism to Pluralism. Manchester 2013, S. 213 – 234.
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Wissenschaften der DDR, so der neue Name der DAW, herausgegeben wurde.⁸⁰ Jedes Heft stammte aus der Feder eines führenden wissenschaftlichen Experten, doch die Reihe richtete sich nicht nur an akademische Kreise, sondern an ein breiteres Publikum, einschließlich Schüler weiterführender Schulen und Institutionen wie der Nationalen Volksarmee. Die Titelseite von Gutsches reich illustriertem Heft zeigte das dystopische Bild eines Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, der eine behelfsmäßige Gasmaske trägt („Soldat mit provisorischer Gasmaske“).
Abb. 2: Vorderseite der von Willibald Gutsche verfassten dritten Nummer der illustrierten historischen hefte (1976).
Gutsche, Willibald: 1. August 1914, illustrierte historische hefte, H. 3, Ost-Berlin 1976.
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Das gesamte Heft war gespickt mit Statistiken, die die schrecklichen menschlichen und wirtschaftlichen Kosten des Krieges demonstrierten, so auch die folgenden zwei Tabellen in Großdruck:⁸¹
Abb. 3: Tabellen auf S. 42 der von Willibald Gutsche verfassten dritten Nummer der illustrierten historischen hefte (1976).
Es enthielt zwar die üblichen Verweise auf Lenin, Liebknecht, den „internationale[n] Klassenkampf gegen den Krieg“ und den „Burgfrieden der Opportunisten“, doch endete es interessanterweise mit Auszügen aus dem „Soldatenlied“ des anarchistischen Dichters Erich Mühsam, dessen Botschaft von einer internationalen Brüderschaft sogar die Gräben des Kalten Krieges überwand: Soldaten! Ruft’s von Front zu Front: Es ruhe das Gewehr! Wer für die Reichen bluten konnt’, Kann für die Seinen mehr. Ihr drüben! Auf zur gleichen Pflicht! Vergeßt den Freund im Feinde nicht!
Gutsche, 1. August 1914, S 42.
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In Flammen ruft der Horiziont nach Hause jedes Heer.⁸²
Ein zweites Beispiel ist das Buch des Militärhistorikers Olaf Groehler (1935 – 1995) von 1978 über die Entwicklung und Herstellung von Giftgas, das Deutschland zwischen 1914 und 1945 als Waffe einsetzte, mit dem passenden apokalyptischen Titel Der lautlose Tod. ⁸³ Das Schlusskapitel ist bezeichnend für Groehlers Interesse am Zweiten Weltkrieg und seine pro-sowjetischen Weltsicht: Von entscheidender Bedeutung für die Verhinderung des Gaskrieges waren nicht moralische Skrupel der Führungsspitze des deutschen Imperialismus oder die Scheu der faschistischer Generalstäbler und Truppenführer vor der Anwendung dieser Mittel, sondern bis 1941 vor allem pragmatische Nützlichkeitserwägungen und später in erster Linie die Auswirkungen des sich gegen Hitlerdeutschland entwickelnden Kräfteverhältnisses an der deutsch-sowjetischen Front, im Luftkrieg und in der chemischen Industrie.⁸⁴
Für die Leser der späten 1970er-Jahre waren die grausamen Fotos des Buches sicherlich ein ebenso großer Schock wie die detaillierten Beschreibungen des qualvollen Todeskampfes und der lebensverändernden Verwundungen der Soldaten des Ersten Weltkrieges, die an der Westfront chemischen Angriffen ausgesetzt waren. Unter den vielen Augenzeugenberichten, die Groehler für seine Publikation in Auszügen auswählte, war die Schilderung eines französischen Oberleutnants, dessen Infantrie-Division Ende Juni 1916 bei Verdun in einen Giftgasangriff geriet: Dieser Gasangriff dauerte sechs Stunden, sechs Stunden warteten wir schweigend, bedrückt und resigniert unter unserer Maske und fragten uns angstvoll, ob diese uns noch lang genug schützen würde […]. Die Unglücklichen, die aus Leichtsinn oder Kopflosigkeit ihre Masken schlecht aufgesetzt hatten, starben unter unsagbaren Qualen. Ich habe Gesichter gesehen, voller Flecken, mit rötlichem Schaum vor dem mit Krämpfen verzerrten Mund […] und schreckliche Reizhustenanfälle mit angehört […], die das Blut auf die farblosen Lippen treten ließen.⁸⁵
Es ist auffallend, dass sowohl Gutsche als auch Groehler für ihre Veröffentlichungen dystopische Abbildungen des Ersten Weltkrieges benutzten, um – möglicherweise unbewusst – innere Ängste und Gefühle des Schreckens von einer Gutsche, 1. August 1914, S. 11, 19, 43. Groehler, Olaf: Der lautlose Tod: Einsatz und Entwicklung deutscher Giftgase von 1914 bis 1945. Ost-Berlin 1978. Groehler, Der lautlose Tod, S. 314. Groehler, Der lautlose Tod, S. 53.
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Abb. 4: Vorderseite des Buches vom DDR-Historiker Olaf Groehler: Der lautlose Tod (1978), herausgegeben im Verlag der Nation.
vergangenen Zukunft auf die Gegenwart zu übertragen. Diese Ängste standen in direktem Zusammenhang mit erneuten Spannungen des Kalten Krieges, nicht zuletzt mit der Stationierung sowjetischer SS-20 Raketen in Osteuropa und dem NATO-Doppelbeschluss von 1978/1979. Doch Gutsche und Groehler konnten ihre Ängste aus einer subjektiv als sicher empfundenen Position heraus äußern, da sie gleichzeitig an den ostdeutschen Staat als Hüter des Friedens und Garanten der Sicherheit aller seiner Bürger glaubten. Obwohl mit ein paar Jahren Abstand voneinander geboren – Gutsche 1926 und Groehler 1935 – gehörten beide im weiteren Sinne zu den „1929ern“, deren frühe Lebenserfahrungen Mary Fulbrook zufolge durch die Gewalt und Zerstörung des Zweiten Weltkrieges geprägt wurden, während sie als Jugendliche und Erwachsene im Wesentlichen „Produkte“ der DDR waren.⁸⁶ Für diese Generation waren Frieden, und seit den 1950er-Jahren auch wirtschaftliche Sicherheit, wenn schon nicht ihr Geburtsrecht, dann doch geschaffen und bewahrt durch die fortdauernde Existenz der sozialistischen
Fulbrook, Dissonant Lives, S. 251– 253.
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Ordnung, einer Ordnung, die von außen aufoktroyiert war „by the occupying powers and their delegated domestic forces“.⁸⁷ Der 1924 geborene Klein – in diesem Sinne „Produkt“ seiner grauenerregenden Erfahrungen an der Ostfront, als sich der deutsche Vormarsch 1942 auf seinem Höhepunkt befand – wählte eine andere Herangehensweise. Er glaubte Ende der 1970er-Jahre, marxistische Historiker müssten sich von ihrer langjährigen Trägheit der Nachkriegsjahre befreien und selbst die Initiative zur Förderung des Friedens ergreifen. Mit anderen Worten: Es war für ihn nicht mehr ausreichend, nur als Diener eines wohlwollenden Staates zu agieren, der (angeblich) die Abwesenheit des Krieges garantierte. Vielmehr müsse sich dieser Staat, um seinen Gründungsidealen treu zu bleiben, den sich verändernden „Kriegsgefahren“ und „Friedenschancen“ anpassen. Denn schließlich machte die moderne Militärtechnik der 1970er- und 1980er-Jahre die gegenseitige Vernichtung wenn schon nicht unausweichlich, so doch wenigstens möglich.⁸⁸ Nachdem Klein Jürgen Kuczynskis teilweise autobiografisches Buch Dialog mit meinem Urenkel gelesen hatte, teilte er diesem 1984 in einem Brief mit, was er als die Aufgabe heutiger marxistischer Wissenschaftler sehe: Man solle zukünftigen Generationen nicht die Botschaft vermitteln, dass die Kritik an geringfügigen Unzulänglichkeiten des Sozialismus in der heutigen DDR dessen zweifellos vielversprechende, zivilisierte und blühende Zukunft sichern und fördern könne. Angesichts der gegenwärtigen Gefahr der totalen nuklearen Vernichtung, die möglicherweise die Zukunft der gesamten Menschheit, kapitalistisch und sozialistisch gleichermaßen, mit einem Schlage einfach auslösche, sei ein solcher Optimismus fehl am Platze und nicht schonungslos genug. Worauf es dagegen ankomme, so Klein, war „daß man sich bemühen muß, sie [die Versäumnisse unserer heutigen Geschichts- und Geisteswissenschaften, M. S.] zu verstehen und sich nicht irremachen zu lassen an dem grundlegend Guten unserer Gesellschaft“.⁸⁹ Paradoxerweise können diese Überlegungen Kleins Entscheidung, IM für die Stasi zu werden, nachdem er deren Annäherungsversuche in den späten 1950erund frühen 1960er-Jahren stets abgelehnt hatte, bis zu einem gewissen Grad erklären.⁹⁰ Zehn Jahre lang, von 1979 bis 1989, arbeitete er für die MfS-Abteilung Spionageabwehr (Abteilung HA II/3) und sammelte Informationen über mutmaßliche amerikanische Spione, denen er auf seinen Forschungsreisen innerhalb der DDR oder im Ausland begegnete. Im Mai 1989 gab er seinen letzten Bericht
Fulbrook, Dissonant Lives, S. 294. Vgl. Schild, Georg: 1983: Das gefährlichste Jahr des kalten Krieges. Paderborn 2013. ABBAW, Nachlass Fritz Klein jr., Nr. 903, Klein an Kuczynski, 3. 5. 1984. Stibbe, Flüchtige Allianzen, S. 65 f.
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ab.⁹¹ Diesen Schritt, so schrieb er in seinen Memoiren, bereute er später, obwohl er seine Entscheidung im Kontext der in der späten 1970er-Jahren sich verschlechternden Ost-West-Beziehungen machte, „weil ich es für richtig fand“.⁹² Gleichzeitig beschäftigte er sich in seinem Beruf als Akademiker eingehend mit der Möglichkeit eines Umdenkens über den Zweck und die Aufgabe, d. h. das „Wozu“, der Weltkriegsforschung und der Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts im Allgemeinen. Er wollte demonstrieren, dass ostdeutsche Historiker in Bezug auf den Staat, die Bevölkerung und wichtige Zukunftsangelegenheiten mitreden konnten. Für ihn warfen die Jahre zwischen 1914 und 1918 und die Zeit unmittelbar danach nicht nur Fragen über die Ursachen des Krieges und die Rolle des Imperialismus auf. Sie konnten auch etwas über die „Friedenschancen“ in der Vergangenheit und in der Gegenwart sagen.⁹³ Klein hatte die Gelegenheit, diesen von ihm vollzogenen Paradigmenwechsel am 2. Mai 1984 vor der erweiterten Präsidiumstagung der Historikergesellschaft der DDR in einem Referat vorzustellen, das später in der ZfG als Aufsatz erschien.⁹⁴ Es ist lohnenswert, diesen Text mit einem 1960 in derselben Zeitschrift veröffentlichten Beitrag von Rolf Rudolph (1930 – 1963) zu vergleichen, der zu diesem Zeitpunkt Herausgeber der ZfG war. Rudolph erklärte hier in der für die Zeit typischen Rhetorik, dass es die „nationale Verantwortung der Historiker in der DDR“ sei, „bei allen guten Deutschen die Einsicht zu vertiefen, daß die nationale Frage des deutschen Volkes eine Klassenfrage ist, die nur unter der Führung der Arbeiterklasse mit der marxistisch-leninistischen Partei an der Spitze gelöst werden kann“.⁹⁵ 1984 führte Klein dagegen aus, dass die „Verhinderung der nuklearen Katastrophe“ nun „absolute Priorität“ haben müsse. Es sei Zeit einzusehen, dass die nationale Frage der Friedensfrage weichen müsse und dass diese nun die Rahmenbedingungen „für verantwortungsbewußtes Handeln aller gesellschaftlichen Kräfte in allen Ländern der Erde“ bestimme.⁹⁶ Klassenpolitik sei zwar noch immer relevant, müsse aber neu ausgerichtet werden, um den engen „Zusammenhang zwischen dem Kampf für den Frieden und dem Kampf für
Vgl. Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Berlin, MfS AIM 16234/91, Bde. I–II. Klein, Drinnen und Draußen, S. 358 f. Klein (Hrsg.), Kriegsgefahren und Friedenschancen, S. 5 (Vorbemerkung). Klein, Fritz: Aufgaben der Historiker im Friedenskampf. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 32 (1984), H. 12, S. 1092– 1101. Rudolph, Rolf: Die nationale Verantwortung der Historiker in der DDR. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 10 (1962), 2, S. 253 – 285 (hier S. 255). Klein, Aufgaben, S. 1101.
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den Fortschritt“ zur Geltung zu bringen. Als Beispiel nannte Klein den Friedensvertrag, der den Ersten Weltkrieg beendete: So war der Vertrag von Versailles gewiß ein imperialistischer Frieden, unterlegenen imperialistischen Konkurrenten aufgenötigt zum Zwecke der Durchsetzung imperialistischer Ziele. In dem Maße aber, wie die Friedensordnung von Versailles durch einen immer aggressiveren Revisionismus bedroht wurde und die vom faschistischen Deutschland ausgehende Gefahr eines neuen, verheerenden Weltkrieges wuchs, wurde die Verteidigung des Status quo zur Aufgabe aller an der Aufrechterhaltung des Friedens interessierten Kräfte.⁹⁷
Gleiches gelte für die Analyse des Völkerbundes: Er wird [in der marxistischen Historiografie, M. S.] allzu häufig noch zu ausschließlich und kurzschlüssig unterm Gesichtspunkt seiner Rolle als Machtinstrument imperialistischer Siegermächte gesehen. […] Der Völkerbund war das in der Tat. Aber es war doch mehr. Er verdient Aufmerksamkeit auch als der erste Versuch einer internationalen Staatenorganisation, die das erklärte Ziel verfolgte, für den internationalen Frieden zu wirken, die große, gute Hoffnungen in dieser Richtung unter den Völkern weckte. […] Wäre dem nicht so, könnte man nicht verstehen, warum die Sowjetunion seit dem Ende der zwanziger Jahre – bemerkenswerterweise beginnend mit aufsehenerregenden, weitreichenden Abrüstungsvorschlägen – im Völkerbund aktiv mitgearbeitet hat.⁹⁸
Mit diesen Aussagen nahm Klein nicht nur die politische Neuausrichtung der Staatengemeinschaft in Richtung einer nuklearen Abrüstung vor weg, die Ende der 1980er-Jahre die Ost-West-Beziehungen fundamental veränderte. In Bezug auf die Geschichtswissenschaft lenkte er den Fokus von den Debatten über die (imperialistischen) Ursachen des Ersten Weltkrieges und den Kontinuitäten der deutschen Kriegsziele vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg auf ein Thema, das ihm wichtiger erschien, vor allem aus seiner Perspektive als ehemaliger Soldat, der 1942 an der Ostfront gestanden hatte: „die Beziehungen zwischen Friedensschlüssen und jeweils folgenden Kriegen“.⁹⁹ Dies machte ihn 1984 gewissermaßen zu einem Außenseiter und Pionier, den man aber in den letzten zwei Jahren des Honecker-Regimes, wie sich Jost Dülffer später erinnerte, „hinter vorgehaltener Hand“ den „Gorbatschow der DDR-Historie“ nannte.¹⁰⁰ Zweifellos haben die Ereignisse von 1989/1990 gezeigt, dass Klein mit seiner Behauptung, die nationale Frage sei gänzlich durch die Friedensfrage ersetzt worden, falsch lag. Doch sein Plädoyer für einen neuen „Methodenpluralismus“
Klein, Aufgaben, S. 1099. Klein, Aufgaben, S. 1100. Klein, Aufgaben, S. 1099. Dülffer, Jost: Zeit im Spiegel. In: Süddeutsche Zeitung, 6. 2. 2017.
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in der historischen Forschung des wiedervereinigten Deutschlands war in der Tat aufrichtig.¹⁰¹ Wie auch eine Reihe anderer marxistischer Intellektueller der DDR, die Axel Fair-Schulz „loyal subversives“ genannt hat,¹⁰² konnte Klein seine gesamte Karriere hindurch gute Gründe dafür vorbringen, den Marxismus als etwas Lebendiges zu begreifen, als eine Sammlung von Ideen, die in Einklang mit den sich wandelnden objektiven Bedingungen und neuen Formen des politischen Bewusstseins gebracht werden müssten. Behutsam widersprach er im Juni 1990 Georg Iggers’ Behauptung, es sei möglich gewesen, trotz der herrschenden Ideologie und den Kontrollmechanismen der Partei „ordentliche Wissenschaft“ in der DDR zu betreiben und nicht aufgrund dieser.¹⁰³ Klein wollte damit nicht die Herangehensweise der SED an die Geschichtswissenschaft verteidigen, und erst recht nicht deren repressive Politik gegen unbequeme Wahrheiten. Vielmehr vertrat er, wie er Iggers gegenüber erklärte: […] die These, daß es zu einfach wäre, herrschende Lüge und unterdrückte Wahrheit gegenüberzustellen. In der herrschenden Ideologie, zumindest sahen das doch ehrliche Marxisten so, gab es doch auch Ansätze, wenigstens Möglichkeiten, Richtiges und Wichtiges, politisch Vernünftiges und wissenschaftlich Relevantes aus ihr abzuleiten. Man hoffte doch, das Richtige und Produktive im marxistischen Ansatz entwickeln und schließlich gegen den herrschenden Dogmatismus wenden zu können – wie man 1985 erhoffte, die Gorbatschowsche Version eines demokratischen Sozialismus und eines aufgeklärten Marxismus werde sich durchsetzen.¹⁰⁴
Im Januar 1990 trat Klein der PDS, der Nachfolgepartei der SED, bei. Zu dieser Zeit glaubte er weiterhin fest daran, dass ebenso wie in dem Deutschland der Jahre 1914– 1918 und der Zeit unmittelbar danach „auch in der DDR Menschen lebten und leben, die imstande waren und sind, ihren Kopf zu gebrauchen und Grundforderungen der Moral nicht zu vergessen“.¹⁰⁵ Die friedliche Revolution der Ost-
Klein, Drinnen und Draußen, S. 350.Vgl. Klein, Fritz: Aufarbeitung deutscher Vergangenheit – gemeinsame Aufgabe von Ost und West. In: Kleßmann, Christoph [u. a.] (Hrsg.): Deutsche Vergangenheiten – eine gemeinsame Herausforderung: Der schwierige Umgang mit der doppelten Nachkriegsgeschichte. Berlin 1999, S. 54– 61. Fair-Schulz, Axel: Loyal Subversion: East Germany and its Bildungsbürgerlich Marxist Intellectuals. Berlin 2009. Iggers hatte an Klein geschrieben wegen seines – damals noch in Vorbereitung – Sammelbandes mit Artikeln von DDR-Historikern. Vgl. Iggers, Georg (Hrsg.): Marxist Historiography in Transformation: New Orientations in Recent East German History. New York/Oxford 1991. Deutsche Ausgabe: Ein anderer historischer Blick: Beispiele ostdeutscher Sozialgeschichte. Frankfurt a. M. 1991. ABBAW, Nachlass Fritz Klein Jr., Nr. 840, Klein an Iggers, 26. 6. 1990. ABBAW, Nachlass Fritz Klein Jr., Nr. 840, Klein an Iggers, 26. 6. 1990.
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deutschen von Oktober bis Dezember 1989 war für ihn ein weiterer Beweis für diese Überzeugung.
Schlussbemerkungen Zwischen den 1950er- und den 1980er-Jahren dominierte unter DDR-Historikern ein allgemeiner Konsens über das „Warum“ des Ersten Weltkriegs, d. h. über seine Ursachen. Noch im Januar 1989 erklärte der Direktor des Potsdamer Militärgeschichtlichen Instituts der DDR Reinhard Brühl (1924– 2018) in einem Vortrag auf dem VIII. Historikerkongress der DDR, die „Erkenntnis“, dass beide Weltkriege „im Schoß der imperialistischen Ordnung“ entstanden, sei das Leitprinzip der „neue[n] sozialistische[n] Gesellschaftsordnung“, die in der DDR ab 1949 aufgebaut worden sei. Er fuhr fort: Wir stehen damit in den Traditionen marxistischer deutscher Geschichtsbetrachtung, wie sie in Schriften von Karl Liebknecht und Franz Mehring, Ernst Thälmann und Ernst Schneller, Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht zu beiden Weltkriegen praktiziert wurde.¹⁰⁶
Die Frage über das „Wozu“ der historischen Forschung zum Ersten Weltkrieg wurde allerdings weniger einmütig beantwortet. Zwar konnte Brühl noch etwas von dem Geist der späten 1950er-Jahre heraufbeschwören, indem er erklärte, die „Aufdeckung der Wahrheit über den ersten bzw. zweiten Weltkrieg“ sei weiterhin ein Schlüsselinstrument in der „Mobilisierung der Werktätigen zum Kampf gegen den Krieg bzw. gegen neuerliche Kriegsvorbereitungen und deren Urheber“.¹⁰⁷ Doch in Wahrheit kamen ostdeutsche Wissenschaftler zu keinem Zeitpunkt zu einer einheitlichen Meinung darüber, warum die Forschung zum Ersten Weltkrieg wichtig sei. In den 1950er-Jahren verlief die Front zwischen denen, die mithilfe der Weltkriegsforschung die dem westlichen Liberalismus überlegene Objektivität der marxistischen Weltsicht demonstrieren wollten und solchen, die darin vor allem ein Mittel zur Unterstreichung der Legitimität der SED-Herrschaft und ihrer Haltung in der „deutschen Frage“ sahen. In den 1960er-Jahren verlagerte sich der Streit. Die eine Seite verstand den Ersten Weltkrieg als Teil einer gemeinsamen deutschen Vergangenheit und wünschte sich einen Dialog mit westlichen Kollegen über methodologische und andere Fragen, während die andere Seite die
Brühl, Reinhard: Die Entfesselung des ersten und zweiten Weltkrieges durch den Imperialismus. Nachgedr. in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 37 (1989), H. 6, S. 517– 524 (hier S. 517 f.) Brühl, Die Entfesselung, S. 518.
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möglichen Folgen eines solchen unkontrollierten Dialogs fürchtete. In den 1970erund 1980er-Jahren verkomplizierten sich die Dinge. Konkurrierende Zukunftsvorstellungen und unterschiedliche Auffassungen darüber, ob diese Zukunft eher von der Entwicklung des DDR-Sozialismus oder von Strategien zur Sicherung des Weltfriedens abhing, liefen nun quer zu vorherigen Frontlinien. Dies galt auch für rivalisierende Ansichten über die Zukunft des Marxismus und der kommunistischen Herrschaft an sich. Trotz alledem vermied es die ostdeutsche Geschichtswissenschaft zum Ersten Weltkrieg zumindest, einem das menschliche Element in den Entscheidungsprozessen der Vor- und Nachkriegszeit verleugnenden technologischen Determinismus anheimzufallen. Der Krieg, der 1914 begann, war ebenso wie die Verlängerung der Kämpfe bis 1918 und das Scheitern der Friedenssicherung 1919/1920 weder unvermeidlich noch zwangsläufig. In diesem Sinne hatten ostdeutsche Historiker mehr mit ihren westlichen Gegnern – selbst den erbittertsten – gemein, als ihnen vielleicht bewusst war. Oder, wie Gerhard Ritter es 1960 am Ende des zweiten Bandes seines Werks über Das Problem des „Militarismus“ in Deutschland formuliert hat: Es genügt uns nicht mehr, den Ausbruch des Ersten Weltkrieges einfach als unabwendbares Fatum, als naturnotwendiges Ergebnis machtpolitischer Spannungsverhältnisse und nationaler Interessengegensätze im Zeitalter des Imperialismus zu begreifen. Inmitten der großen Schicksalsmächte, welche die Menschheit in ihrem Bann und Zwang halten, bleibt doch immer noch […] eine Sphäre der Entscheidungsfreiheit für den verantwortlichen Staatsmann, für die politische Vernunft. Wir müßten an der Zukunft der Menschheit verzweifeln, wenn es nicht so wäre.¹⁰⁸
Ritter, Gerhard: Staatskunst und Kriegshandwerk: Das Problem des „Militarismus“ in Deutschland. Bd. 2: Die Hauptmächte Europas und das wilhelminische Reich (1890 – 1914). München 1960, S. 343.
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„Parteilichkeit und Objektivität in der Geschichte“ Die Rezeption der Thesen Jürgen Kuczynskis über den „Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie“ (1957) Mit seinem im Jahr 1957 veröffentlichten Buch Der Ausbruch des ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie: Chronik und Analyse ¹ stellte Jürgen Kuczynski Thesen zur Geschichte und Theorie der deutschen Arbeiterbewegung auf, die die ostdeutsche Historiografie so noch nicht behandelt hatte. Für Kurt Hager, den Leiter der Abteilung Wissenschaft im Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), stellte Kuczynskis Buch „den Gipfelpunkt seiner revisionistischen Auffassungen“ dar.² Der aus einer assimiliert-jüdischen und linksliberalen großbürgerlichen Familie stammende Sozialwissenschaftler Jürgen Kuczynski (1904 – 1997) zählte zu den bedeutendsten marxistischen Intellektuellen und Akademikern der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR).³ Seine intellektuelle Tätigkeit war vorherrschend politisch-marxistisch geprägt. Als Autor und Koautor verfasste Kuczynski annähernd hundert Werke. Stets verband er darin historische Wissenschaft aufs Engste mit marxistischer Philosophie und politischem Engagement. Zu seinen wichtigsten wissenschaftlichen Publikationen zählen beispielsweise die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus,⁴ die Studien zur Geschichte der Gesellschaftswissenschaften ⁵ und die Geschichte des Alltags des deutschen Volkes. ⁶
Kuczynski, Jürgen: Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie: Chronik und Analyse. Berlin 1957. Information an das Sekretariat des Zentralkomitees der SED Abteilung Wissenschaft, 25. 9. 1957. In: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin (im Folgenden als SAPMO-BArch bezeichnet), NY 4182/1364, Bl. 10. Vgl. Sabrow, Martin: Das Diktat des Konsenses. Geschichtswissenschaft in der DDR 1949 – 1969. München 2001, S. 349. Sein Vater, Robert René Kuczynski, war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein einflussreicher Statistiker und Bankier; Vgl. Müller-Enbergs [u. a.] (Hrsg.): Wer war wer in der DDR? Ein biographisches Lexikon. Berlin 2001, S. 484. Kuczynski, Jürgen: Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, 40 Bde. Berlin 1960 – 1972. Kuczynski, Jürgen: Studien zu einer Geschichte der Gesellschaftswissenschaften, 10 Bde. Berlin 1975 – 1978. https://doi.org/10.1515/9783110710847-014
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Sein Lebenslauf wurde allerdings von mehreren Karrierebrüchen geprägt: In den Jahren 1950 – 1952 wurde Kuczynski zur Zeit des Slánský-Prozesses und wegen der Noel-Field-Spionage-Affäre beschuldigt,⁷ Kontakte zu „West-Agenten“ und „Zionist-Trotzkisten“ gehabt zu haben.⁸ Man zog ihm gegenüber doch keine großen weiteren Konsequenzen: 1955 gründete und leitete er zugleich die Abteilung Wirtschaftsgeschichte im Institut für Geschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften, die einige Jahren später ein zugeschnittenes Institut für Wirtschaftsgeschichte wurde.⁹ Er selbst hat deshalb seine Stellung in der DDR-Historiografie treffend als die eines „linientreuen Dissidenten“ beschrieben – so der Titel des 1992 veröffentlichten zweiten Bandes seiner Memoirenreihe.¹⁰ Er habe die DDR häufig kritisiert, jedoch niemals gänzlich infrage gestellt. Ganz im Gegenteil: Laut des Historikers Matthew Stibbe dazu, war Kuczynski ein überzeugter und parteitreuer Kommunist, der selten in der offiziellen Linie blieb.¹¹ Er hat das 20. Jahrhundert als Mitglied der „Kommunistischen Partei“ durchlebt. Am symbolischen Datum des 14. Juli 1930 trat er der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) bei. Er behielt seine politisch-marxistische Ausrichtung aufrecht und nach dem Ende der DDR wurde er Mitglied der im Dezember 1989 als Nachfolgepartei der SED gegründeten Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS). Obwohl die „Kommunistische Partei“ ein Instrument der Massenunterstützung war, an dem er festhielt, erlaubte sie ihm, sein ganzes Leben lang ein individuelles und originelles Denken aufzubauen. Kuczynskis besondere Beziehung zur Auto-
Kuczynski, Jürgen: Geschichte des Alltags des deutschen Volkes 1600 – 1945, 10 Bde. Berlin 1981– 1982. Als Noel Field in den 1930er-Jahren im US-Außenministerium arbeitete, agierte er als sowjetischer Spion. Während des Zweiten Weltkrieges arbeitete er in Frankreich und in der Schweiz zur Unterstützung der kommunistischen Juden und antifaschistischen Flüchtlinge. Während dieser Zeit hatte er auch Kontakte zum amerikanischen Nachrichtendienst OSS. Im Jahr 1949 wurde er in Prag verhaftet und in Ungarn inhaftiert. Sein Name wurde als Vorwand für stalinistische Schauprozesse gegen kommunistische Funktionäre in der Tschechoslowakei, Ostdeutschland und Ungarn und als Anklagemotiv im Slánský-Prozess (1952) verwendet. Wilhelm Koenen an Hermann Matern, 13. 1. 1953. In: SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/4/123, Bl. 239 – 41; Vgl. Stibbe, Matthew: Jürgen Kuczynski and the Search for a (Non-Existent) Western Spy Ring in the East German Communist Party in 1953. In: Contemporary European History 20 – 1 (2011), S. 61– 79. DAW, ab 1972 Akademie der Wissenschaften der DDR; Vgl. Górny, Maciej: „Die Wahrheit ist auf unserer Seite“. Nation, Marxismus und Geschichte im Ostblock. Köln 2011, S. 67. Kuczynski, Jürgen: „Ein Linientreuer Dissident“. Memoiren 1945 – 1989. Berlin 1992. „In his post-1945 memoirs he described himself as a linientreuer Dissident – a dissident who loyally toed the party line – although in truth he was the exact opposite of this: a staunch communist and party loyalist who rarely followed the prevailing political line.“; Stibbe, Jürgen Kuczynski and the Search for a (Non-Existent) Western Spy Ring, S. 67.
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rität der Kommunistischen Partei war bezeichnend für die grundlegende Bedeutung, die sie im Leben vieler Intellektueller des 20. Jahrhunderts hatte. Das Besondere an Kuczynski war jedoch, dass er sich im Gegensatz zu den meisten kritischen Intellektuellen nicht von der Partei oder dem System distanziert hatte.¹² Diese Treue zu dem Kommunismus, auf den er seine eigenen marxistischen Ideale projizierte, erlaubte es ihm, die Partei als moralische und politische Autorität zu betrachten, ohne sie als intellektuelle Autorität anzuerkennen. Mit seiner Geschichte des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges in Deutschland wollte er anhand eines konkreten Themas sein Verständnis von Geschichte und Parteilichkeit einem breiten Publikum zur undogmatischen Diskussion anbieten und es aus dem engen Kreis von Historikern und Funktionären herauslösen. Auf diese Weise hoffte Kuczynski die Frage klären zu können, warum der Kampf der „Massen“ gegen Militarismus und Krieg im Jahr 1914 erfolglos geblieben war.¹³ Dieser Versuch stellte aber das von der SED beanspruchte Monopol auf Interpretation deutscher Geschichte erneut infrage und damit auch den von ihr erhobenen Führungsanspruch.
Zur Theorie der Geschichte und der Geschichtsschreibung in der DDR Nach Stalins Tod am 5. März 1953 begann eine teilweise Befreiung der kommunistischen Gesellschaften und eine neue Ära mit dem Tauwetter. Nach dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956, auf dem der Parteivorsitzende Nikita Chruschtschow die Zeit des Stalinismus für beendet erklärte, schrieb Kuczynski mehrere Artikel im Geiste der zeitlichen Entstalinisierung. Die Ereignisse der Jahre 1953 – 1956 bedeuteten für ihn eine starke Umwandlung der wissenschaftlichen Denkweise und er nahm in diesen Artikeln öffentliche Stellungen, die sich nicht mit der orthodoxen Parteilinie der SED deckten.¹⁴ Allerdings waren die frühen 1950er-Jahre von einer Sowjetisierung und Ideologisierung der Geschichtswissenschaft in der DDR geprägt. Auf dem Parteitag von 1950 forderte die SED die Entwicklung „eines geschlossenen marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes Z. B. der Chemiker Robert Havemann, der 1932 der KPD beitrat und 1943 von der Gestapo inhaftiert wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er Professor an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin und Mitglied der Volkskammer der DDR. Als zu kritisch gegenüber dem sozialistischen System angesehen, wurde er 1964 aus der SED ausgeschlossen und 1976 bis zu seinem Tod 1982 unter Hausarrest gestellt. Vgl. Kuczynski, Der Ausbruch, Vorbemerkung, S. X. Vgl. Górny, „Die Wahrheit ist auf unserer Seite“, S. 68.
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[…], das in allen Schulen und Universitäten fest verankert“ werden sollte.¹⁵ Im November desselben Jahres erklärte der Generalsekretär der SED Walter Ulbricht dem ideologischen Pluralismus in der Geschichtswissenschaft den Kampf. Diese Umstrukturierung wurde durch die Beschlüsse der 7. Tagung des SED-Zentralkomitees im Oktober 1951 vertieft, die die Beseitigung der „sog., akademischen Freiheit“ zum Ziel hatten.¹⁶ Laut Fred Oelßner, Mitglied des Politbüros des ZK der SED, musste „die deutsche Geschichte […] auf wissenschaftlicher, d. h. auf marxistischer Grundlage neu geschrieben werden“, um das Nationalbewusstsein der Bevölkerung zu wecken.¹⁷ Im Jahr 1956 stellte Kuczynski im Artikel Parteilichkeit und Objektivität in Geschichte und Geschichtsschreibung die These auf, dass auch einige „westlich-bürgerliche Autoren“ ein Modell für die marxistischen Wissenschaftler sein könnten.¹⁸ Dieser Aufsatz war ein Appell an die Verantwortung der Historiker, nicht „im Interesse einer einheitlichen Ideologie der Arbeiterklasse“ zu handeln, sondern sich „im Interesse der Objektivität der Wirklichkeit und dem Fortschritt verpflichtet zu fühlen, um so als Katalysator der gesellschaftlichen Entwicklung zu wirken“.¹⁹ Damit setzte er sich zugleich für eine Entideologisierung ein und prägte eine neue Vorstellung des Begriffs Parteilichkeit, die er als die eigentlich marxistische definiert:²⁰ „Die Entwicklung der Wissenschaft erfordert […] eine ganz bestimmte Parteilichkeit, Parteilichkeit für den Fortschritt, Parteilichkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts für den Kapitalismus, für das Bürgertum, Parteilichkeit heute für den Sozialismus, für die Arbeiterklasse, das heißt Parteilichkeit für die Wirklichkeit, das heißt im wahrsten Sinne des Wortes: Objektivität.“²¹ Das Kriterium marxistischer Parteilichkeit sei für Kuczynski ihre Objektivität, „das heißt, die Wirklichkeit selbst ist Parteilichkeit! Parteilichkeit für das Neue gegenüber dem Alten“.²² Die Gleichsetzung der Parteilichkeit mit der Wirklichkeit und deren historische Veränderung, sei für ihn „zunächst nichts
Sabrow, Das Diktat, S. 39. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Legitimation eines neuen Staates. Parteiarbeiter an der historischen Front Geschichtswissenschaft in der SBZ/DDR 1945 bis 1961. Berlin 2000, S. 167. Oelßner, Fred: Die ideologischen Aufgaben der Partei. Referat auf der 7. Tagung des ZK der SED am 18. 10. 1951. In: Neues Deutschland vom 31. 10. 1951. Vgl. Kuczynski, Jürgen: Parteilichkeit und Objektivität in Geschichte und Geschichtsschreibung. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 4 (1956), H. 6, S. 873 – 888. Kuczynski, Parteilichkeit, S. 888. Vgl. Rumpler, Helmut: Parteilichkeit und Objektivität als Theorieproblem der Historie in der DDR. In: Fischer, Alexander u. Heydemann, Günther (Hrsg.): Geschichtswissenschaft in der DDR. Band I: Historische Entwicklung, Theoriediskussion und Geschichtsdidaktik. Berlin 1988, S. 333 – 362. Kuczynski, Parteilichkeit, S. 875. Kuczynski, Parteilichkeit, S. 875.
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anderes als ein Postulat, das als Voraussetzung jeder wissenschaftlichen Erforschung der Gesellschaft gelten muss“.²³ Diese Parteilichkeit wird nicht nur als Methode für die Erneuerung der marxistischen wissenschaftlichen Forschung betrachtet, sondern dient auch als Rechtfertigung für seine eigene Parteimitgliedschaft. Sie besaß auch für Kuczynski grundsätzlich eine hohe Bedeutung, weil ohne diese sein Engagement im Exil und all seine wissenschaftlichen Arbeiten ihren Sinn verloren hätten. Tatsächlich, ab 1933, als die KPD verboten wurde, engagierte er sich im Untergrund und er musste 1936 aufgrund seines kommunistischen Engagements und seiner jüdischen Herkunft vor dem NS-Regime nach Großbritannien fliehen. In London war er in den emigrierten und britischen intellektuellen und antifaschistischen Milieus tätig: Er koordinierte den Freien Deutschen Kulturbund und übernahm zugleich die Politische Leitung der KPD-Gruppe in Großbritannien.²⁴ Er kehrte 1945 in einer amerikanischen Uniform nach Deutschland zurück²⁵ – was vermutlich ein Grund dafür war, dass ihm den Zugang zum Finanzministerium in der Sowjetischen Besatzungszone verwehrt wurde. Kuczynski lehrte ab 1946 an der Berliner Universität Wirtschaftsgeschichte und im Jahr 1949 wurde er zum Direktoren des von ihm neugegründeten Deutschen Wirtschaftsinstituts ernannt, das später in das Institut für Politik und Wirtschaft umbenannt wurde. Er wurde daneben Präsident der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft und Mitglied der neugegründeten SED.²⁶ Kuczynski forderte vor allem die Anwendung der Methodik der Quellenkritik für die Historiografie. In seinem Bestreben, ostdeutsche Historiker zur Quellenarbeit zu ermutigen und ihnen Hinweise für attraktive Historiografie zu geben, nahm er sich das Beispiel westdeutscher Historiker vor. ²⁷ Im Jahr 1956 schrieb er eine positive Rezension eines Buches des Mediävisten Paul Kirn in der neu-gegründeten Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. ²⁸ Solche Ideen wurden ein Jahr später in seinem in der Zeitschrift Einheit veröffentlichten Artikel „Meinungsstreit,
Kuczynski, Parteilichkeit, S. 875. Vgl. Maurice, Paul: La culture est une arme dans la lutte contre le fascisme. In: Trajectoires, 10 (2016) [http://journals.openedition.org/trajectoires/2131]. „One of the members of the field teams will be Dr. Jurgen Peter Kuczynski, a civilian employed by Hd USSTAF for duty with the US Bombing Research Mission, APO 413.“; Headquarters US Bombing Research, Mission APO 413, 12. 10. 1944. In: The National Archive, Kew (im Folgenden als TNA bezeichnet), KV2/1876/379c. Vgl. Górny, „Die Wahrheit ist auf unserer Seite“, S. 67. Vgl. Kuczynski, Parteilichkeit, S. 883. Kuczynski, Jürgen: Paul Kirn: Das Bild des Menschen in der Geschichtsschreibung von Polybios bis Pranke. Göttingen 1955. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 4 (1956), H. 6, S. 1267– 1271.
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Dogmatismus und ‚liberale Kritik‘“ vertieft.²⁹ Der Artikel war ein Plädoyer für Meinungsstreit als Handlungsmittel gegen Dogmatismus in der wissenschaftlichen Forschung: „Man kann die Jugend so erziehen, daß sie nie das Denken lernt – eine Aufgabe, der sich Dogmatiker gestellt haben.“³⁰ Sein Text Der Mensch, der Geschichte macht, der zum 100. Geburtstag des russischen sozialistischen Theoretikers Georgi W. Plechanow erschien, handelt schließlich von der Rolle des Individuums in der Geschichte.³¹ Diese kritische Aufarbeitung der DDR-Geschichtswissenschaft war aber für den überzeugten Marxisten vor allem ein Mittel, sie zu rechtfertigen und zu modernisieren. ³²
Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie: ein Bruch in der DDR-Geschichtsschreibung? Kuczynski führte diese Fragen nach der Rolle von Parteilichkeit und Objektivität in der Geschichte in seinem im Jahr 1957 erschienenen Buch Der Ausbruch des ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie. Chronik und Analyse aus. Das Manuskript traf bereits am 17. Januar 1957 beim Akademie-Verlag ein und am 8. März erhielt Jürgen Kuczynski die erste Druckfahne.³³ Ende Juni erschien der Band als Schrift des Instituts für Geschichte an der Deutschen Akademie der Wissenschaften (DAW) in einer überdurchschnittlich hohen Auflage von 3.000 Exemplaren, denn üblicherweise erschienen Publikationen des Akademie-Verlages in einer Höhe von ca. 1.500 Stück. Das Manuskript war aufgrund einer Sonderregelung, von der der Verlag profitierte – als Verlag der DAW –, durch die
Kuczynski, Jürgen: Meinungsstreit, Dogmatismus und „Liberale Kritik“. In: Einheit, Zeitschrift für Theorie und Praxis des Wissenschaftlichen Sozialismus 5 (1957), S. 602– 611. Kuczynski, Meinungsstreit, S. 602– 611. Kuczynski, Jürgen: Der Mensch, der Geschichte macht (Zum 100. Geburtstag von G. W. Plechanow am 11. Dezember 1956). In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 5 (1957), H. 1, S. 1– 17; Georgi W. Plechanow (1856 – 1918) war ein marxistischer Theoretiker, Begründer der russischen Sozialdemokratie und Lehrer Lenins, von dem sich Lenin politisch abwendete und durch seine Anhänger vertreiben ließ. Trotzdem galt er in der UdSSR weiterhin als theoretische Autorität. Kuczynski bezieht sich dafür oft auf Lenin, z. B.: „Er hatte überhaupt eine überaus positive Haltung zur Kritik, zur öffentlichen Kritik. […], der sagte: ‚Wir dürfen unsere Fehler nicht verheimlichen, weil der Feind das ausnützen könnte‘“. In: Kuczynski, Jürgen: Dialog mit meinem Urenkel. Neunzehn Brief und ein Tagebuch. Berlin/Weimar 1983, S. 23. Brief des Akademie-Verlages an Kuczynski, 9. 3. 1957. In: Kuczynski-Nachlass in der Zentralund Landesbibliothek Berlin (im Folgenden als KNL-ZLB bezeichnet), Kuc2/2/AK93.
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Zensur gerutscht, was auch erklärt, warum die Veröffentlichung so schnell erfolgte.³⁴ Die Anzahl der Exemplare sollte Kuczynski erlauben, die Diskussion aus dem Kreis der Historiker zu führen und einen Teil der ostdeutschen Gesellschaft zu erreichen. Mit Hilfe damaliger Betrachtungen Lenins wollte er eine erste Analyse des Ersten Weltkrieges durchführen und unter Beachtung der „großen Lehren der Klassiker des Marxismus-Leninismus“ seinen Beitrag gegen „Opportunismus und Revisionismus leisten“.³⁵ Ihm kam es darauf an, die „Haltung der Volksmassen, besonders der Arbeiterklasse und ganz speziell ihrer Führung“³⁶ am Vorabend des Ersten Weltkrieges, wirklichkeitsnah zu untersuchen und in einem historischen Kontext zu deuten. Kuczynski hat das Buch in zwei Abschnitte gegliedert. Der erste Teil nimmt eine „erschreckende Chronik der Ereignisse“ vom Attentat von Sarajevo am 28. Juni 1914 bis in die ersten Septembertage 1914 vor. Der zweite Teil bietet in einer analytischen Form eine „Einschätzung der Ereignisse“ und der Situation im Juli und August 1914.³⁷ Das Werk basiert auf einem reichhaltigen Quellenfundus und hat daher einen dokumentarischen Inhalt. Für einen marxistischen Autor blieben zuerst die Werke Lenins und weitere „Klassiker“ des Marxismus-Leninismus sowie Arbeiten von Parteifunktionären die hauptsächlichen Quellen. Verwendet wurden auch Schriften der deutschen Sozialdemokratie, vor allem Artikel ihrer Presseorgane, so hat der Vorwärts, das Zentralorgan der „größten und angesehensten Arbeiterpartei des internationalen Proletariats“,³⁸ einen besonderen Stellenwert. Daneben befinden sich schließlich Dokumente regierungsoffizieller Herkunft aus den Ämtern des Deutschen Kaiserreiches. Ein Anhang beinhaltet zusätzlich dreizehn Dokumente zum Ausbruch des Weltkrieges, die mit den Resolutionen der Arbeiter-Internationale gegen den
Über das Erscheinungsdatum des Buches werden unterschiedliche Hinweise gemacht. In einem Brief des Akademie-Verlages vom 8. Februar 1958 an das Zentralkomitee der SED wird der 21. Juni 1957 als Datum der Ablieferung des Buches mit 3.000 Exemplaren bezeichnet: Schreiben des Akademie Verlages vom 8. 2. 1958 an die Genossin Pflug, Zentralkomitee der SED, Betrifft: Herausgabe und Werbung für das Werk „Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie: Chronik und Analyse“. In: SAPMO-BArch DY 30/IV 2/904/147, Bl. 65. Laut der ZK-Information sollte das Buch aber im Herbst erscheinen: Information an das Sekretariat des Zentralkomitees Abt. Wissenschaft vom 25. 9. 1957 über die Auffassung des Genossen Jürgen Kuczynski und sein neues Buch „Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie: Chronik und Analyse“. In: SAPMO-BArch DY 30/IV/2/904/147, Bl. 57. Vgl. Haun, Horst: Kommunist und „Revisionist“. Die SED-Kampagne gegen Jürgen Kuczynski (1956 – 1959). Dresden 1999, S. 62. Kuczynski, Der Ausbruch, S. XI. Kuczynski, Der Ausbruch, S. X. Kuczynski, Der Ausbruch, Inhaltverzeichnis, S. 1 und S.117. Kuczynski, Der Ausbruch, S. 21.
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Krieg (1867 bis 1912) anfangen und mit der Resolution der russischen Delegation auf dem Haager Friedenskongress 1922 schließen.³⁹ Zu Beginn des Buches steht die programmatisch-ideologische Grundhaltung, die den Ersten Weltkrieg als imperialistischen Raubkrieg charakterisiert. Aber die zentrale These Kuczynskis lautete auch schon am Anfang, dass sowohl die deutsche Arbeiterklasse als auch die SPD, ihre vertretende Partei, 1914 versagt hätten.⁴⁰ Die politische Führung der Zweiten Internationale wusste schon 1912, dass der baldige Krieg zu einer Brutalität unbekannten Ausmaßes führen werde: „Die Führung des Weltproletariats war sich völlig klar über das, was sich gesetzmäßig und nach dem Willen des internationalen Monopolkapitals vorbereitete: ein militärischer Konflikt gigantischen Ausmaßes, ein Weltkrieg, ein Weltbrand.“⁴¹ Die SPD und die Arbeiterklasse hätten sich von dem Friedenswillen der deutschen Imperialisten überzeugen lassen. Dieses Versagen legte Kuczynski nicht nur der SPD-Führung und der „reformistisch-opportunistischen“ Strömung in der Sozialdemokratie zur Last, sondern auch den Arbeitermassen selbst, die eine entscheidende Verantwortung für den Kriegsausbruch von 1914 trügen, da auch ihre Haltung in der Kriegskrise im Juli und August von „Opportunismus“ geprägt gewesen sei.⁴² Laut Kuczynski, habe niemand in dem linken Flügel vor dem Kriegsanfang im August 1914 die Notwendigkeit anerkannt, sich von den „Opportunisten“ zu trennen.⁴³ Es wurde Karl Liebknecht in der DDR-Historiografie nie angelastet, für die Kriegskredite am 4. August 1914 gestimmt zu haben. Um ihn freizusprechen, wurden die Argumente der Parteidisziplin und seiner späteren Selbstkritik hervorgebracht. Mit Emphase erklärte Kuczynski in seiner Verteidigung Liebknechts, dass eine Selbstkritik übertrieben sei, weil jede Partei Fehler machen kann, nicht nur damals, sondern auch zu seiner Zeit.⁴⁴ Diese Infragestellung der Unfehlbarkeit der Partei, der er dennoch treu geblieben war, war eine direkte Konsequenz seines wissenschaftlichen Anspruches auf den Meinungsstreit. Er geht weiter mit einer Kritik Lenins selbst, der erst nach dem Kriegsanfang die Notwendigkeit anerkannt habe, sich von den „Opportunisten“ zu trennen. Dies war für Kuczynski ein Mittel, den linke Flügel der SPD freizusprechen, weil seine Mitglieder dem Beispiel Lenins noch nicht hatten folgen können.⁴⁵
Vgl. Kuczynski, Der Ausbruch, S. 171. Vgl. Kuczynski, Der Ausbruch, S. 5 und Anhang, Dokument 1, S. 174– 186. Kuczynski, Der Ausbruch, S. 5. Vgl. Jäger,Wolfgang: Historische Forschung und politische Kultur in Deutschland. Die Debatte 1914– 1980 über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Göttingen 1984, S. 125 – 126. Vgl. Kuczynski, Der Ausbruch, S. 168 – 170. Vgl. Kuczynski, Der Ausbruch, S. 162. Vgl. Kuczynski, Der Ausbruch, S. 124– 126.
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Am Endpunkt dieser „erschreckenden Ereignisse“, die die Tage von Ende Juli bis zur Kriegserklärung Anfang August 1914 betrachten, konstatierte Kuczynski ein „Delirium in allen Schichten und Klassen der Bevölkerung Deutschlands“,⁴⁶ denn „begeistert macht man alles mit […] Junker und Prolet, Großbürger und Kleinbürger: ein Volk, besoffen gemacht, und die Herren des als Schenke aufgemachten Schlachthauses tun fröhlich mit.“⁴⁷ Dieses „Delirium“, diese Kriegsbegeisterung fand Kuczynski nicht allein nur in Deutschland. Er entdeckte diese nationale Stimmung in allen kriegführenden Ländern: Auch eine übergroße Mehrheit der russischen Arbeiter sah er – trotz Lenins politischer Aktivität und der „heldenhaften Arbeit der Bolschewiki“⁴⁸ in ihrer Richtung – der Begeisterung der Vaterlandsverteidigung verfallen. Dazu gibt Kuczynski, als Wirtschaftshistoriker und Statistiker, Erklärungen: Die Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter in den Jahren vor 1914 habe die Entstehung einer Arbeiteraristokratie ermöglicht, die in der wilhelminischen Gesellschaft eingegliedert war.⁴⁹ Für Kuczynski sind nicht nur die nichtrevolutionären Akteure der Arbeiterbewegung für den „Opportunismus“ verantwortlich, sondern auch die Arbeiter selbst, vor allem ihr reichster Anteil.⁵⁰ Er beschuldigte in erster Linie die Arbeitermassen für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, was also die „opportunistischen“ Führer der SPD entschuldige und verteidige. Die Sozialdemokratie hatte also nicht aufgegeben, als sie 1914 in das Lager der „imperialistischen“ Kriegstreibe umsprang, sondern die Volksmassen hätten sich von den Kriegstreibern bezaubern lassen.
Meinungsstreit und Hexenjagd: die Gleichschaltung der DDR-Historiografie In der SED gab es damals einen Konsens über die „historische“ Rolle des deutschen Proletariats und über seine Beiträge zum gesellschaftlichen Fortschritt, die
„Diese Tage von Ende Juli bis zum 5. August sind eine mit Grauen erfüllende Mischung von Weltereignissen einzigartiger Auswirkung und Delirium in allen Schichten und Klassen der Bevölkerung Deutschlands, von Tragik und Kitsch, ehrlicher Verfehlung und gemeiner Heuchelei“, Kuczynski, Der Ausbruch, S. 87. Kuczynski, Der Ausbruch, S. 89. Kuczynski, Der Ausbruch, S. 145. Vgl. Haun, Kommunist und „Revisionist“, S. 79 – 81. Vgl. Keßler, Mario: Exilerfahrung in Wissenschaft und Politik. Remigrierte Historiker in der frühen DDR. Köln 2001, S. 134.
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die Entstehung eines deutschen sozialistischen Staates erlaubt hatten.⁵¹ Aus ihrer Sicht sei der August 1914 ein Verrat der SPD gegenüber den Interessen der Arbeiterklasse gewesen, während die revolutionäre Linke unter der Führung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg die echten Patrioten gewesen seien, weil sie die nationalen Interessen verteidigt hatten, im Gegensatz zu den „Nationalisten“, die Deutschland in den Krieg geführt hatten.⁵² Wegen seiner relativ nuancierten gegensätzlichen Thesen wurde diese Publikation heftig kritisiert. Die von der SED kontrollierten Diskussionen über dieses Buch bewegten sich auf drei Ebenen:⁵³ Zuerst wurde sich in allen wissenschaftlichen, und vor allem historischen Instituten der DDR zwischen 1957 und 1958 mit Kuczynskis Werk kritisch auseinandergesetzt, was bedeutete, dass alle Historiker und Studenten von den Thesen Kuczynskis Abstand nehmen sollten. Doch die aggressive Strategie der SED war nicht sofort wirksam. Laut der SED hatte die Mehrheit der DDR-Historiker Ende 1957 Kuczynskis „gefährliche“ Konzeptionen erkannt und verurteilt, allerdings erst nach langen und komplizierten „Überzeugungskampagnen“.⁵⁴ Daran waren neben allen Geschichtsfunktionären aus dem SED-Apparat die meisten Historiker der DDR beteiligt, nur die wenigsten verweigerten sich, denn Walter Ulbricht und Kurt Hager hatten sich auf der 30. Tagung des Zentralkomitees der SED scharf gegen den „Revisionismus“ ausgesprochen.⁵⁵ Drei junge Wissenschaftler, die Historiker Günter Benser und Xaver Streb sowie der Wirtschaftswissenschaftler Gerhard Winkler, schrieben:⁵⁶ „Kuczynski muss zu falschen Schlussfolgerungen gelangen, da bereits sein Ausgangspunkt falsch ist, da seiner Konzeption feh-
Vgl. Lokatis, Siegfried: Der rote Faden. Kommunistische Parteigeschichte und Zensur unter Walter Ulbricht. Köln 2003, S. 13. Vgl. Stibbe, Matthew: Fighting the First World War in the Cold War. East and West German Historiography on the Origins of the First World War, 1945 – 1959. In: Hochscherf, Tobias [u. a.]: Divided, But Not Disconnected. German Experiences of the Cold War. New York 2010, S. 37. Vgl. Bartel, Walter: Die Linken in der deutschen Sozialdemokratie im Kampf gegen Militarismus und Krieg. Berlin 1958. Vgl. Kowalczuk, Legitimation eines neuen Staates, S. 307. Mehrere Parteiversammlungen wurden am Institut für Geschichte der DAW mit Jürgen Kuczynski vorgenommen. In den ersten Monaten war es ihm durch überzeugende Rede in den Diskussionen gelungen, die Teilnehmer davon zu überzeugen, sich nicht an den von ihm als „ungerechtfertigt“ bezeichneten Angriffen zu beteiligen; Vgl. ZK-Abt. Wissenschaften, Information Puber über die Mitgliederversammlung der Parteiorganisation des Instituts für Deutsche Geschichte der DAW am 4. 6. 1957, 6. 6. 1957. In: SAPMO-BArch, DY, IV 2/904/397, Bl. 365 – 367. Vgl. Herzberg, Guntolf: Philosophie an der Humboldt-Universität 1945 – 1990. In: Tenorth, Heinz-Elmar, (Hrsg.): Geschichte der Universität Unter den Linden 1810 – 2010. Bd. 6: Selbstbehauptung einer Vision. Berlin 2010, S. 156. Benser, Günter/Streb, Xaver/Winkler, Gerhard: Partei und Massen bei Ausbruch des ersten Weltkrieges. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 6 (1958), S. 169 – 189.
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lerhafte Auffassungen über die Rolle der Partei der Arbeiterklasse und ihrer Beziehungen zu den Massen zugrunde liegen.“⁵⁷ Kuczynski wurde auch innerhalb seines engen Kreises kritisiert: Zwei seiner ehemaligen Doktorandinnen, Elisabeth Giersiepen und Waltraud Robbe, mussten seine Theorien in einem von ihnen in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft veröffentlichten Artikel ablehnen. Seine Studentinnen hielten ihm seine „Entfernung vom Marxismus“ vor,⁵⁸ formulierten diese Kritik allerdings zaghaft und wurden dafür von der SED kritisiert. Parallel fanden Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit in verschiedenen Tageszeitungen und Zeitschriften statt. Am Höhepunkt der Krise, am 13. Februar 1958, griff Albert Schreiner, seit 1956 Leiter der Abteilung „1918 – 1945“ des Instituts für Geschichte an der Deutschen Akademie der Wissenschaft,⁵⁹ Kuczynski im SED-Organ Neues Deutschland über die Frage der Kriegsbegeisterung an: Und die Behauptung bleibt eine Lüge, auch wenn sie von Kuczynski, einem Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands im Jahre 1957 in einem nichtmarxistischen Werk wiederholt wird. […] Die Parteinahme Kuczynskis im revisionistischen Sinn drückt sich, wie gesagt; auch in seinen arroganten Urteilen über die namhaftesten Vertreter der Linken in der alten Sozialdemokratie und in den anerkennenden Worten für den Renegaten Kautsky und andere Vertreter dieses Schlages aus.⁶⁰
Albert Schreiner war ein sehr einflussreicher Historiker in der DDR, der an der Ausbildung der ersten Generation von Historikern beteiligt war.⁶¹ Der Fall Kuczynski könnte in diesem Sinne ein gutes Beispiel für einen politisch-historischen Skandal in der DDR sein. In der Tat scheinen die verschiedenen Etappen der Definition des Konzepts Skandal des Historikers Frank Bösch zu entsprechen – der sich der Analyse von Karl Otto Hondrich anschloss:⁶² In Anlehnung an sozialwissenschaftliche Studien erscheinen vor allem drei Komponenten ausschlaggebend, um im analytischen Sinne von einem Skandal zu sprechen: (1) Ein praktizierter oder angenommener Normbruch einer Person, einer Gruppe von Menschen oder
Benser [u. a.], Partei und Massen, S. 185. Giersiepen, Elisabeth u. Robbe, Waltraud: Zur Rolle der Volksmassen und der Persönlichkeit in der Geschichte. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 5 (1957), S. 795 – 803. Vgl. Sabrow, Das Diktat, S. 66. Schreiner, Albert: Kritisches zu einem Buch von Jürgen Kuczynski. In: Neues Deutschland vom 13. 2. 1958, S. 4. Müller-Enbergs [u. a.], Wer War Wer, S. 767; Vgl. Keßler, Mario: Albert Schreiner. Kommunist mit Lebensbrüchen. Berlin 2014. Vgl. Hondrich, Karl Otto: Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals. Frankfurt a. M. 2002, S. 40 u. 59.
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Institution; (2) dessen Veröffentlichung; (3) und eine breite öffentliche Empörung über den zugeschriebenen Normbruch.⁶³
Dennoch lassen sich die öffentlichen Debatten kaum im „habermasianischen Sinne“ definieren, denn in einer nicht-demokratischen Gesellschaft lässt sich die Öffentlichkeit kaum als Kommunikationsraum definieren.⁶⁴ Tatsächlich geht es für Martin Sabrow in der DDR vor allem um „inszenierte Skandale wie die sogenannte ‚Noel-Field-Affäre‘ und die ‚Slánský-Verschwörung‘“, die „die Stalinisierung der ostmitteleuropäischen Satellitenstaaten in den frühen fünfziger Jahren“⁶⁵ prägten. Aber, dieser Kuczynski-Skandal ermöglicht trotzdem, „die Chance, die Normen einer Zeit genauer zu analysieren“.⁶⁶ Der Skandal wird hier als Wertekonflikt verstanden, der Verhaltensregeln und Interpretationen schaffen, festigen oder verändern kann. Aufgrund dieser Kritik und Bezichtigung des „Revisionismus“ im Neuen Deutschland wurde die Auslieferung des Buches eingestellt, was für Kuczynski einen hohen Geldverlust bedeutete. Die Kritik an Kuczynski konzentrierte sich aber in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, die seit 1958 einen neuen Chefredakteur hatte, was eine neue Etappe in der Kampagne gegen Kuczynski veranlasste: Dieter Fricke war nicht so liberal wie sein Vorgänger, der Historiker Fritz Klein.⁶⁷ Die folgenden Hefte der Zeitschrift waren voll negativer Rezensionen des letzten Werks Kuczynskis, nicht nur in Bezug auf seinen Inhalt,⁶⁸ – der Historiker und Politischer Ökonom Werner Berthold verglich Kuczynski mit „Reaktionären wie Gerhard Ritter“⁶⁹ – sondern auch in Bezug auf seine methodische Geschichtsauffassung.⁷⁰ Schließlich wurde Kuczynski auch von der politischen Bösch, Frank: Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880 – 1914. München 2009, S. 8 – 9. Vgl. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1990, S. 275 – 292. Sabrow, Martin: Politischer Skandal und moderne Diktatur. In: Sabrow, Martin (Hrsg.): Skandal und Diktatur: Formen öffentlicher Empörung im NS-Staat und in der DDR. Göttingen 2004, S. 7– 33, S. 14. Bösch, Öffentliche Geheimnisse, S. 5. Vgl. Górny, „Die Wahrheit ist auf unserer Seite“, S. 69. Schleifstein, Josef: Die deutsche Sozialdemokratie bei Ausbruch des ersten Weltkrieges. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 6 (1958), S. 190 – 216. Berthold, Werner: Bemerkungen zu den von J. Kuczynski und anderen Historikern aufgeworfenen Problem des „Geschichtemachens“. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 6 (1958), S. 304– 312, hier S. 312. Winkler, Ernst u. Fliegner, Heinz: Zur Methode in J. Kuczynskis Buch „Der Ausbruch des ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie“. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 6 (1958), S. 578 – 589.
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Führung der SED bei mehreren Parteimitgliederversammlungen am Institut für Geschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften angegriffen. Die Diskussionskultur am Institut erlaubte es Kuczynski anfangs, sich mit seiner Diskussionsrede vor „ungerechtfertigten“ Angriffen zu schützen.⁷¹ Um diesen Widerstand zu brechen, haben sich aber die Angriffe auf Kuczynski verschärft und es wurde erwogen, ihn aus der SED auszuschließen.⁷² Die Parteileitung des Instituts stand mehr und mehr unter dem Druck der Abteilung Wissenschaft des Zentralkomitees der SED und sollte sich wegen massiver Angriffe von den Ansichten Kuczynskis distanzieren. Kuczynski spielte darauf an, als er sagte: „Mein Freund Heinz Scheel, grundständig und ehrlich, ein prächtiger Parteisekretär des Instituts, sagte mir mit Recht, er könne nichts für mich tun, da er sonst die ganze Parteileitung des Instituts gefährde.“⁷³ Die Kritiker stießen sich vor allem an der „Diffamierung der Massen“ und Worte einer grundsätzlichen Kritik kamen auch von Kuczynskis gutem Freund aus der KPD während dessen Exiljahre in London, Alfred Meusel.⁷⁴ Als politischer und wissenschaftlicher Experte gab er den Kritikern Kuczynskis in dieser einseitigen Auseinandersetzung Recht und stellte fest, dass Kuczynski in seinem Buch über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges die ganze Schuld den Massen, nicht aber den politischen Führern gegeben habe.⁷⁵ Ende Mai 1958 räumte Alfred Meusel während einer Fraktionssitzung der Abgeordneten des Kulturbundes seinem Freund gegenüber ein: „Weißt Du, Jürgen, ich werde so von der Abteilung (des ZK,Wissenschaften – J. K.) gepresst, dass ich nun auch gegen Dich schreiben muss.“⁷⁶ Auch einige überzeugte kommunistischen Wissenschaftler waren mit Kuczynski im Prinzip einverstanden, sie hatten aber weder ein Mittel noch eine Möglichkeit der Macht der SED zu widerstehen, was er vermutlich verstand, denn „die persönlichen Beziehungen zwischen Kuczynski und Meusel blieben […] intakt“.⁷⁷ Nach monatelangem Druck brach Kuczynski ein
Information über die Mitgliederversammlung der Parteiorganisation des Instituts für Deutsche Geschichte der DAW am 4. 6. 1957, Zentralkomitee der SED Abteilung Wissenschaft, 6. 6. 1957. In: SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/904/397, Bl. 365 – 367. „Ein Stellvertreter des Leiters der Abteilung Wissenschaften drohte mir mit der Streichung aus der Partei, d. h., ich hätte überhaupt nie in die Partei gehört.“; Kuczynski, Ein linientreuer Dissident, S. 114. Kuczynski, Ein linientreuer Dissident, S. 114. Müller-Enbergs [u. a.], Wer War Wer, S. 574; Vgl. Keßler, Mario: Alfred Meusel. Soziologe und Historiker zwischen Bürgertum und Marxismus (1896 – 1960). Berlin 2016, S. 58. Vgl. Meusel, Alfred: Der Ausbruch des ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie. Kritische Betrachtungen zu dem Buch von J. Kuczynski. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 6 (1958), S. 1049 – 1068. Kuczynski, Ein linientreuer Dissident, S. 125. Keßler, Alfred Meusel, S. 117.
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und musste am 12. März 1958 auf der III. Hochschulkonferenz Selbstkritik üben:⁷⁸ „Man hatte mich in zwei Punkten überzeugt. Erstens auf Grund der Analyse von Lenin, dass es vor allem die Führung der Sozialdemokratie war, die die Arbeiter über den wahren Charakter des Krieges getäuscht hatte, und zweitens, dass ich den Kampf der Linken ungenügend herausgearbeitet habe.“⁷⁹ Im Neuen Deutschland, das seine Selbstkritik am gleichen Tag veröffentlichte, schrieb Kuczynski, dass „die Hilfe der Partei bei der Überwindung dieses Fehlers in [s] einer Lehr- und Forschungsarbeit ihre Früchte tragen wird“.⁸⁰ Nach dieser Selbstkritik, die die offizielle Doxa anerkannte, kam die Antwort der SED mit relativer Milde: Anfang 1959 erhielt Kuczynski von seiner Partei eine „Verwarnung“, was er, als Altkommunist und Bekämpfer des Faschismus als völlig inakzeptabel empfand.⁸¹ Obwohl er offiziell Selbstkritik übte, hielt Kuczynski in der Zeit nach der Auseinandersetzung daran fest, dass sein Standpunkt der richtige gewesen sei. Er schrieb im Juni 1958 an die Parteileitung des Instituts für Geschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften, dass er nicht annehmen könne, dass er „revisionistisch geschrieben und unseren Klassenstandpunkt verlassen habe“ und behauptete sogar, dass sich seine Thesen vielleicht in zehn Jahren bestätigen würden.⁸² Die tatsächlichen Inhalte dieser Debatte über den historischen Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie spielten schließlich nur eine untergeordnete Rolle in der Debatte. Es ging im Prinzip darum, ob sich ein alleingültiges Geschichtsbild behaupten oder, ob dieses von einzelnen Wissenschaftlern geändert werden könne. Die Kontroverse um Jürgen Kuczynskis Buch illustriert die Frage nach der Geschichte als Objekt der Auseinandersetzung oder als Objekt der Produktion eines Identitätsdiskurses. Es ist ein historiografischer Knotenpunkt, in den Jürgen Kuczynski sich einzufügen versuchte, indem er die Frage nach der Artikulation zwischen zwei Geschichtsauffassungen stellte: Der Problemgeschichte und der Erinnerungsgeschichte. Diese Kuczynski-Kontroverse – ähnlich wie bei der Fischer-Kontroverse
Protokoll des 3. Verhandlungstags der III. Hochschulkonferenz, Konferenzen und Beratungen der SED, 2. 3.1958. In: SAPMO BArch, DY 30/IV 2/101/389, Bl. 10 – 13. Kuczynski, Ein linientreuer Dissident, S. 111. Kuczynski, Jürgen: Forschung mit Kampf verbinden. In: Neues Deutschland vom 12. 3. 1958, S. 4. „Am 12. Januar 1959, erhielt ich eine Verwarnung. Nach fast 33 Jahren Arbeit für die Sowjetunion und (seit 1930) für die Partei diese Schande! […]. Wie ich erwartet hatte, bin ich zutiefst getroffen und kann mich nicht dareinfinden, ein Parteisträfling zu sein – ob mit Recht oder Unrecht“; Kuczynski, Ein linientreuer Dissident, S. 129. Jürgen Kuczynski an die Parteileitung des Instituts für Geschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften, Zentralkomitee der SED Abteilung Wissenschaft, 30.6.1958. In: SAPMOBArch DY 30/IV 2/904/147/Bl. 205.
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in der Bundesrepublik Deutschlands – war ein „wissenschaftlicher Disput und öffentlicher Meinungsstreit“ und „gleichzeitig ein politischer Konflikt um die Stellung der Intellektuellen der Nation“.⁸³ In der DDR warf Kuczynskis Tabubruch über das Infragestellen und Eindringen von Zweifeln an der Unfehlbarkeit der arbeitenden Massen auch die Frage nach seinem Verhältnis zur Geschichtsauffassung der Grundlagen der ostdeutschen Nation auf. Doch während sich die Historiker in der Bundesrepublik Deutschland in der Fischer-Kontroverse von Gerhard Ritters traditioneller These einer grundsätzlich im Juli und August 1914 defensiven Politik der deutschen Regierung befreien konnten, wirkte sich Kuczynskis Buch nicht in gleicher Weise auf die Geschichtsschreibung in der DDR aus. Die Kuczynski-Kontroverse bot den orthodoxen Formen der Geschichtsschreibung eine Gelegenheit, sich erneut zu behaupten. Im Jahr 1962 erschien, unter der Leitung von Walter Ulbricht in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, das Nationaldokument, das doktrinär „die geschichtliche Aufgabe der Deutschen Demokratischen Republik und die Zukunft Deutschlands“ definierte.⁸⁴
Schlussbemerkungen Jürgen Kuczynski verteidigte eine Öffnung der DDR-Geschichtswissenschaft „gegenüber bürgerlich-humanen Auffassungen und forderte eine breitere Aneignung des Erbes der Vergangenheit, wozu er auch Gegner der Arbeiterklasse zählte“.⁸⁵ Er hatte die Hoffnung, einen kleinen Fortschritt für die wissenschaftliche Forschung in der DDR zu erreichen. Im Jahr 1958 war klar, dass Kuczynski das Opfer einer Hetzjagd war. Aus Sicht der Partei stand er in Verbindung mit dem inzwischen verhafteten Wolfgang Harich und dessen Gruppe der „Revisionisten“, die gegen Ulbricht tätig wären.⁸⁶ Ziel der SED war es, Kuczynskis Anspruch auf eine selbstständige Meinung zu unterbinden. Kuczynski forderte seine Schüler und Freunde auf, unbedingt gegen ihn Stellung zu beziehen, damit ihm keine fraktionelle Tätigkeit unterstellt werden könne.⁸⁷ Er erhielt Unterstützung von mar-
Jarausch, Konrad H: Der nationale Tabubruch. Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik in der Fischer Kontroverse. In: Sabrow, Martin/Jessen, Ralph/ Große Kracht, Klaus (Hrsg.): Zeitgeschichte als Streitgeschichte: Große Kontroversen seit 1945, München 2003, S. 20 – 40, S. 30. Nationales Dokument: Die geschichtliche Aufgabe der Deutschen Demokratischen Republik und die Zukunft Deutschlands. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 10 (1962), H. 4, S. 758 – 786. Vgl. Keßler Alfred Meusel, S. 115. Keßler Alfred Meusel, S. 115. Vgl. Kuczynski, Jürgen: Frost nach dem Tauwetter. Mein Historikerstreit. Berlin 1993.
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xistischen Wissenschaftlern aus dem Ostblock: Die sowjetischen Historiker ignorierten ganz einfach die in der DDR geführte Hetze – Jahre später erwähnte Kuczynski den sowjetischen Professor Arkadi Samsonowitsch Jerussalimski⁸⁸ als „einen guten und treuen Freund in ideologischer Not!“⁸⁹ Das Ende der Diskussion um Kuczynski bezeichnet Martin Sabrow treffend als „Erschöpfungs-Waffenstillstand“.⁹⁰ Die Auseinandersetzungen und Hetze hatten aber für Kuczynski und seine wissenschaftliche Karriere in der DDR erheblichen Folgen: Für die Volkskammerwahl im Herbst 1958 stellte ihn der Kulturbund nicht mehr als Kandidaten auf und er wurde aus der Historikerkommission DDR-UdSSR ausgeschlossen.⁹¹ Er durfte aber weiterhin seinen Lehrstuhl an der Humboldt-Universität behalten und im Redaktionskollegium der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft mitwirken, wenngleich er keinen Artikel mehr veröffentlichen durfte. Er blieb auch Mitglied des am 18. März 1958 gegründeten Historiker-Verbandes der DDR, was das Ergebnis eines von ihm vorgeschlagenen Kompromisses war.⁹² Zum Schweigen in der Öffentlichkeit verdammt, durfte Kuczynski an der 1959 vom Historiker Fritz Klein geleiteten Arbeitsgemeinschaft „Erster Weltkrieg“ an der Deutschen Akademie der Wissenschaft nicht teilnehmen. Dafür konzentrierte er sich auf sein umfassendes Werk: die vierzigbändige Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus. ⁹³ Kuczynskis Buch über den Ausbruch des ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie ist in der Historiografie des Ersten Weltkrieges weitgehend vergessen worden. Im Westen galt es als klassisches ideologisch-marxistisches Werk. In Frankreich zum Beispiel wies Pierre Ayçoberry in seiner Rezension in den Annales darauf hin, dass „die ‚Chronologie‘ es zwar ermöglicht hat, bestimmte Haltungen von Führern oder Aktivisten zu erhellen, die ‚Interpretation‘ aber nichts Neues bietet“. Aber der Autor hoffte auf neue Perspektiven in einer möglichen zweiten Auflage des Buches.⁹⁴ Wenn das Buch als Teil der Geschichts-
„Pr. Dr. A. S. Jerussalimski, Institut für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Moskau“. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 4 (1956), H. 4, S. 869. Kuczynski, Dialog, S. 120. Sabrow, Das Diktat, S. 363. Brief der Kommission vom 22. 4. 1958, Zentralkomitee der SED Abteilung Wissenschaft. In: SAPMO-BArch DY 30/IV 2/904/125 Bl. 377. „Mein Vorschlag: Ich bliebe weiter Leiter der Wirtschaftshistoriker an der Akademie, würde jedoch aufhören, Artikel zu schreiben, um mich ganz auf meine geplante vierzigbändige Geschichte der Lage der Arbeiter zu konzentrieren“. In: Kuczynski, Ein linientreuer Dissident, S. 115. Vgl. Kuczynski, Geschichte der Lage der Arbeiter. Ayçoberry, Pierre: Jurgen Kuczynski, Der Ausbruch des ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie. In: Annales 13 (1958), H. 3, S. 619 – 621.
„Parteilichkeit und Objektivität in der Geschichte“
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schreibung des Ersten Weltkrieges anerkannt werden sollte, dann von Fritz Klein, der ihn 2003 in seinem Artikel Die Weltkriegsforschung in der DDR in der Enzyklopädie des Ersten Weltkrieges zitiert. Kuczynskis Buch setze „einige neue Akzente gegenüber früherer marxistisch-leninistischer Orthodoxie“.⁹⁵ Das Buch wurde schließlich mehr zum Gegenstand der DDR-Historiografie als der Historiografie des Ersten Weltkrieges.
Klein, Fritz: Die Weltkriegsforschung der DDR. In: Hirschfeld, Gerhard [u. a.] (Hrsg.): Enzyklopädie. Erster Weltkrieg. Paderborn 2003, S. 316 – 319.
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Fremdarbeiterpolitik des Imperialismus. Die Migrationsforschung zum Ersten Weltkrieg in der DDR „Die Sklavenarbeit sogenannter Fremdarbeiter, die vom deutschen Imperialismus im zweiten Weltkrieg aufs schrecklichste gesteigert wurde, war keine Erfindung der Hitlerfaschisten. Ihre Vorgänger, die Deutschland beherrschenden Imperialisten und Militaristen im ersten Weltkrieg, machten bereits den Anfang mit diesen verbrecherischen Praktiken.“ Fritz Klein, 1961¹
Während sich die Migrationsforschung in der Bundesrepublik erst in den 1980erJahren verstärkt mit dem Thema Ausländerbeschäftigung auseinandersetzte, entstanden in der DDR bereits seit den 1950er-Jahren wichtige Werke zu diesem Thema. Insbesondere zum Kaiserreich und zum Ersten Weltkrieg entstanden zentrale Arbeiten, die auch in der Bundesrepublik noch Jahrzehnte später rezipiert wurden, weil sie – obwohl ideologisch aufgeladen – noch immer wichtige Forschungsergebnisse lieferten.² Im Folgenden soll die DDR-Forschung zur deutschen Arbeitskräfte- und Ausländerpolitik während des Ersten Weltkrieges näher betrachtet werden. Es soll geklärt werden, mit welchen Themen und Thesen sich diese Forschung beschäftigte, welchen Motiven sie folgte, zu welchen Ergebnissen sie kam, wie diese Ergebnisse rezipiert wurden und welche Bedeutung sie auch heute noch haben. Um die folgenden Ausführungen besser verstehen zu können, ist es notwendig, zunächst kurz auf die Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland von 1890 bis 1990 einzugehen. Im nächsten Schritt werden anschließend die Interpretation dieses historischen Phänomens in der DDR und in der Bundesrepublik sowie die gegenseitige Rezeption der Forschungsergebnisse
Anmerkung: Für wertvolle Hinweise und Korrekturen danke ich Jens Thiel, Jochen Oltmer, Katja Rottmann und Jürgen Kessel. Klein, Fritz: Deutschland von 1897/98 bis 1917. Deutschland in der Periode des Imperialismus bis zur Grossen Sozialistischen Oktoberrevolution. Berlin 1961, S. 342. Siehe insbesondere Nichtweiss, Johann: Die ausländischen Saisonarbeiter in der Landwirtschaft der östlichen und mittleren Gebiete des Deutschen Reiches. Ein Beitrag zur Geschichte der preußisch-deutschen Politik von 1890 – 1914. Berlin 1959; Elsner, Lothar: Die ausländischen Arbeiter in der Landwirtschaft der östlichen und mittleren Gebiete des Deutschen Reiches während des Ersten Weltkrieges. Ein Beitrag zur Geschichte der preußisch-deutschen Politik. Diss. Rostock 1961. https://doi.org/10.1515/9783110710847-015
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analysiert. Schließlich wird die Relevanz der DDR-Publikationen für die heutige Forschung herausgearbeitet.
Die Entwicklung der Ausländerbeschäftigung in Deutschland 1890 bis 1990 Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das bisherige Auswanderungsland Deutschland zu einem der weltweit größten Einwanderungsländer. Jedes Jahr kam bis zu 1,2 Mio. ausländische Arbeitskräfte ins Land, um in der Landwirtschaft, im Bergbau und in der Industrie zu arbeiten. Deutschland wurde noch vor dem Ersten Weltkrieg zum zweitgrößten „Arbeitseinfuhrland der Erde“³ hinter den USA. Bei dem Großteil der in Deutschland beschäftigten Ausländerinnen und Ausländer handelte es sich um saisonale Arbeitskräfte. Insbesondere die überwiegend in der Landwirtschaft tätigen polnischen Arbeitskräfte wurden verpflichtet, jedes Jahr im Herbst wieder in ihre Heimat zurückzukehren.⁴ Mit Beginn des Ersten Weltkrieges nahm der Strom der Zuwanderer zunächst stark ab. Allerdings befanden sich zu Kriegsbeginn bereits zahlreiche ausländische Arbeitskräfte im Deutschen Reich, die nun nicht ausreisen durften. So wurden ca. 300.000 Polen aus dem Russischen Reich für die gesamte Dauer des Krieges an ihren Arbeitsplätzen festgehalten, was sie faktisch zu Zwangsarbeitern machte. Darüber hinaus warb das Deutsche Reich während des Krieges in den besetzten russischen Territorien weitere Arbeitskräfte an, denen für die Dauer des Krieges die Rückkehr in die Heimat versagt wurde. Außerdem spielte die Beschäftigung von Kriegsgefangenen eine immer wichtigere Rolle. Schließlich führten die deutschen Besatzungsbehörden im Herbst 1916 in Belgien, Polen und Litauen sogar Zwangsrekrutierungen und Deportationen durch, die – zumindest im belgischen Fall – für weltweite Proteste sorgten. Während der Weimarer Republik ging die Ausländerbeschäftigung in Deutschland infolge der Demobilisierung und aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage zurück, um im Rahmen der Aufrüstung im Dritten Reich wieder zuzunehmen. Im Zweiten Weltkrieg entstand das nationalsozialistische Zwangsarbeitersystem, dass sowohl in Bezug auf seinen Umfang als auch auf seine
Ferenczi, Imre: Kontinentale Wanderungen und die Annäherung der Völker. Ein geschichtlicher Überblick. Jena 1930. Bade, Klaus J.: „Preußengänger“ und „Abwehrpolitik“. Ausländerbeschäftigung, Ausländerpolitik und Ausländerkontrolle auf dem Arbeitsmarkt in Preußen vor dem Ersten Weltkrieg. In: Archiv für Sozialgeschichte 24 (1984), S. 91– 162.
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Brutalität und Diskriminierung der ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter ganz neue Dimensionen erreichte. In der Bundesrepublik kam es im Zuge des sogenannten Wirtschaftswunders ab 1955 zur Anwerbung und Beschäftigung der sogenannten Gastarbeiter. Auch in der DDR wurden sogenannte Vertragsarbeiter aus „sozialistischen Bruderstaaten“ beschäftigt.⁵
Die Entwicklung der historischen Migrationsforschung der DDR 1979 hieß es in einem Überblick über die DDR-Literatur über Fremdarbeiterpolitik des Imperialismus: „Vor etwa 25 Jahren begannen in der DDR […] Historiker […], jene Probleme zu erforschen, die mit der Beschäftigung ausländischer Arbeiter in imperialistischen Ländern […] verbunden sind.“⁶Ausgangspunkte waren ein Aufsatz von Jürgen Kuczynski aus dem Jahr 1954⁷sowie die Habilitation von Johannes Nichtweiss aus dem Jahr 1959. Kuczynski zitierte in seinem Aufsatz Lenin, der darauf hingewiesen habe, dass es ein Kennzeichen des Imperialismus sei, Arbeiter aus rückständigen Ländern auszubeuten, indem man ihnen niedrige Löhne zahle und sie in einem Zustand der Rechtlosigkeit beschäftige. Diese Ausbeutung habe in Deutschland die rasche Herausbildung einer Arbeiter-Aristokratie ermöglicht.⁸ Nichtweiss griff diese Gedanken auf und vertiefte sie. Zur gleichen Zeit erschienen auch erste umfangreiche Monografien zum Ersten Weltkrieg in der DDR, die sich schwerpunktmäßig mit der Arbeiterbewegung auseinandersetzten. Die Geschichte der Arbeiterbewegung besaß insgesamt einen hohen Stellenwert in der Forschungslandschaft der DDR. Der radikale Flügel der Arbeiterbewegung galt nicht nur als entschiedenste Kraft gegen Ausbeutung, Imperialismus und Krieg, sondern auch als Wegbereiterin der KPD. Gleichzeitig wurde darauf verwiesen, dass die SPD den Kriegskrediten zugestimmt
Herbert, Ulrich: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge. München 2001; Oltmer, Jochen: Migration vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 86, 3. aktualisierte und erweiterte Auflage. Berlin 2016. Elsner, Lothar u. Lehmann, Joachim: DDR-Literatur über Fremdarbeiterpolitik des Imperialismus. In: Fremdarbeiterpolitik des Imperialismus 5 (1979), S. 5 – 33, hier S. 5. Kuczynski, Jürgen: Ökonomische Basis und Zusammensetzung der Arbeiteraristokratie im Wandel eines Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 2 (1964), S. 666 – 686. Kuczynski, Ökonomische Basis, S. 676 f.; Lenin, Wladimir Iljitsch: Sämtliche Werke, Bd. XXI, Wien [u. a.] 1931, S. 394 f.
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und die Kriegführung bis zum bitteren Ende mitgetragen hatte. Während der Novemberrevolution hätten sich die gemäßigten Sozialdemokraten auch noch den reaktionären Kräften angedient, um den Aufstand der revolutionären Kräfte der Arbeiterbewegung blutig niederzuschlagen. Es war daher für die Forschung in der DDR nicht nur historisch, sondern vor allem ideologisch relevant, sich mit der Arbeiterbewegung in der Zeit des Ersten Weltkrieges auseinanderzusetzen, denn anhand dieser Phase der Geschichte ließ sich der aktuelle Führungsanspruch der Kommunisten historisch untermauern.⁹ In diesem Kontext war auch die Ausländerbeschäftigung während des Ersten Weltkrieges von Interesse. Die historische Forschung der DDR zur Ausländerbeschäftigung folgte einem ähnlichen Ziel: Ihr ging es darum, anhand der Ausländerbeschäftigung den Ausbeutungscharakter des Imperialismus herauszustellen. Auch hierfür schien der Erste Weltkrieg ein sehr lohnender Untersuchungsgegenstand zu sein. Schon 1959 war Johannes Nichtweiss in seiner Habilitation der Auffassung, dass die „Ausbeutung ausländischer Arbeiter durch den deutschen Imperialismus“ während des Ersten Weltkrieges noch besser herauszuarbeiten sei, als im von ihm untersuchten Zeitraum 1890 bis 1914.¹⁰ Der Rostocker Historiker Lothar Elsner, ein Schüler von Nichtweiss, griff diese These in seiner 1961 erschienen Dissertation Die ausländischen Arbeiter in der Landwirtschaft der östlichen und mittleren Gebiete des Deutschen Reiches während des 1. Weltkriegesauf und untermauerte sie bis zum Ende der DDR in immer neuen Publikationen. Hervorzuheben sind hier neben der 1975 vorgelegten überarbeiteten Version seiner Dissertation¹¹vor allem der zusammen mit Joachim Lehmann 1988 im Verlag Dietz publizierte Überblicksband Ausländische Arbeiter unter dem deutschen Imperialismus: 1900 – 1985 ¹² sowie zahlreiche Aufsätze,¹³ unter ande-
Klein, Fritz: Die Weltkriegsforschung der DDR. In: Gerhard Hirschfeld [u. a.] (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Studienausgabe, 2. Aufl., Paderborn 2014, S. 316 – 319, hier S. 316. Nichtweiss, Die ausländischen Saisonarbeiter, S. 245. Elsner, Lothar: Die polnischen Arbeiter in der deutschen Landwirtschaft während des ersten Weltkrieges. Rostock 1975. Elsner, Lothar u. Lehmann, Joachim: Ausländische Arbeiter unter dem deutschen Imperialismus, 1900 – 1985. Berlin 1988. Sie z. B. Elsner, Lothar: Zu den Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und ÖsterreichUngarn über die Saisonarbeiterfrage während des Ersten Weltkrieges. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock 18 (1969) 1, S. 101– 108; ders.: Zur Lage und zum Kampf der polnischen Arbeiter in der deutschen Landwirtschaft während des ersten Weltkrieges. In: Klein, Fritz: (Hrsg.): Politik im Krieg. Studien zur Politik der deutschen herrschenden Klassen im ersten Weltkrieg. Berlin 1964, S. 167– 188.
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rem in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG).¹⁴ Auch wenn Elsners Publikationen bis zum Ende der DDR immer eine ideologische Färbung aufwiesen, gelang es ihm, in westlichen Sammelbänden¹⁵ vertreten zu sein, da vergleichbare Forschung im Westen kaum existierte. Der Aufsatz Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeitspolitik in Deutschland während des Ersten Weltkriegs ¹⁶wurde noch bis vor wenigen Jahren als maßgeblicher Forschungsstand zum Thema zitiert und wurde erst in letzter Zeit durch neuere Publikationen abgelöst.¹⁷ Aufbauend auf seinen Forschungen zur Ausländerbeschäftigung in Deutschland während des Ersten Weltkrieges machte Elsner Karriere im Wissenschaftsbetrieb der DDR. Nach seiner Habilitation im Jahr 1967 (u. a. bei Jürgen Kuczynski), in der er sich mit der Gastarbeiterbeschäftigung in Westdeutschland beschäftigte,¹⁸wurde er 1969 Professor für Allgemeine Geschichte und Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung an der Universität Rostock. Elsner gehörte nicht zu den prominentesten ostdeutschen Historikern, war aber sicherlich der bedeutendste Vertreter der DDR-Forschung zur Ausländerbeschäftigung, zumal Johannes Nichtweiss sich bereits 1958 das Leben genommen hatte,¹⁹ weswegen seine vielzitierte Habilitation 1959 posthum erschien. Lothar Elsner absolvierte für einen DDR-Bürger eine erstaunliche Zahl und Auswahl an Auslandsaufenthalten. Vortrags- und Studienreisen führten ihn nach Finnland, Jugoslawien, Polen,
Elsner, Lothar: Sicherung der Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte. Ein Kriegsziel des deutschen Imperialismus im Ersten Weltkrieg. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 24 (1976), H. 5, S. 530 – 546; Elsner, Lothar: Belgische Zwangsarbeiter in Deutschland während des ersten Weltkrieges. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 24 (1976) H. 11, S. 1256 – 1267. Elsner, Lothar: Foreign Workers and Forced Labour in Germany during the First World War. In: Hoerder, Dirk (Hrsg.): Labour Migration in the Atlantic Economies. The European and North American Working Class during the Period of Industrialization. Westport (CT) 1985, S. 189 – 222. Elsner, Lothar: Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeitspolitik in Deutschland während des Ersten Weltkriegs. In: Bade, Klaus J. (Hrsg.): Auswanderer – Wanderarbeiter – Gastarbeiter. Bevölkerung, Arbeitsmarkt und Wanderung in Deutschland seit Mitte des 19. Jahrhunderts, Bd. 2. Ostfildern 1984, S. 527– 557. Siehe Westerhoff, Christian: Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg. Deutsche Arbeitskräftepolitik im besetzten Polen und Litauen 1914– 1918. Paderborn 2012; Thiel, Jens: „Menschenbassin Belgien“. Anwerbung, Deportation und Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg. Essen 2007; Rawe, Kai: „… wir werden sie schon zur Arbeit bringen!“ Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeit im Ruhrkohlenbergbau während des Ersten Weltkrieges. Essen 2005. Elsner, Lothar: Die Fremdarbeiterpolitik des staatsmonopolistischen Herrschaftssystems in Westdeutschland. Zur Lage und zum Kampf der ausländischen Arbeiter in der Bundesrepublik, 1955 – 1965. Rostock 1967. Mertens, Lothar: Lexikon der DDR-Historiker. Biographien und Bibliographien zu den Geschichtswissenschaftlern aus der Deutschen Demokratischen Republik. München 2006, S. 455 – 456.
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Ungarn, Österreich, in die USA, nach Belgien, West-Berlin und in die Bundesrepublik. Darüber hinaus hatte er Gastprofessuren in Riga, Basra und Managua inne.²⁰ Elsner war jedoch nicht der einzige Forscher, der sich in der DDR mit der Ausländerbeschäftigung während des Ersten Weltkrieges beschäftigte. So untersuchte Wolfgang Schumann bereits 1956 in der ZfG die Reaktionen deutscher und polnischer Arbeiter in Oberschlesien auf die Oktoberrevolution 1917.²¹Ebenfalls 1956 wurde ein Aufsatz des polnischen Historikers Leon Grosfeld über die Proklamation des polnischen Staates durch die Mittelmächte am 5. November 1916 ins Deutsche übersetzt, der sich auch mit der Zwangsrekrutierung polnischer Arbeiter befasst und in der Folgezeit häufig zitiert wurde.²²Auch die (Ost‐)Berliner Historiker Werner Baseler²³und Heinz Lemke²⁴setzten sich in Monografien zur deutschen Besatzungspolitik in Polen und Litauen während des Ersten Weltkrieges mit der Rekrutierung von Arbeitskräften auseinander. 1962 beschäftigte sich Joachim Tessarz (Halle) in seiner Dissertation mit den Folgen der Ausländerbeschäftigung während des Ersten Weltkrieges für die Außenpolitik der Weimarer Republik.²⁵Werner Lamprecht analysierte im gleichen Jahr die Lage der polnischen Arbeiter im Bezirk Stralsund und ihr Verhalten während der Novemberrevolution,²⁶ während Willibald Gutsche 1964 die Deportation belgischer Arbeitskräfte nach Deutschland in den Blick nahm.²⁷
Mertens, Lexikon der DDR-Historiker, S. 197– 199. Schumann, Wolfgang: Die Lage der deutschen und polnischen Arbeiter in Oberschlesien und ihr Kampf gegen den deutschen Imperialismus in den Jahren 1917 und 1918 (vor der Novemberrevolution). In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 4 (1956) H. 3, S. 466 – 500. Grosfeld, Leon: Die Proklamation des Königreichs Polen am 5. 11. 1916. In: Neue polnische Geschichtswissenschaft. Aufsätze und Studien (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Beiheft 3), Berlin 1956, S. 135 – 176. Basler, Werner: Deutschlands Annexionspolitik in Polen und im Baltikum 1914– 1918. Berlin 1962. Lemke, Heinz: Allianz und Rivalität. Die Mittelmächte und Polen im ersten Weltkrieg (bis zur Februarrevolution). Berlin 1977. Tessarz, Joachim: Die Rolle der ausländischen landwirtschaftlichen Arbeiter in der Agrar- und Ostexpansionspolitik des deutschen Imperialismus in der Periode der Weimarer Republik (1919 – 1932). Diss. Halle-Wittenberg 1962. Lamprecht, Werner: Zur Lage der russisch-polnischen Arbeiter in der Landwirtschaft des Regierungsbezirkes Stralsund während des 1.Weltkrieges (1914– 1918). In: Greifswald-Stralsunder Jahrbuch 2 (1962), S. 127– 133. Gutsche, Willibald: Zu einigen Fragen der staatsmonopolistischen Verflechtung in den ersten Kriegsjahren am Beispiel der Ausplünderung der belgischen Industrie und der Zwangsdeportationen von Belgiern. In: Klein, Fritz (Hrsg.): Politik im Krieg. Studien zur Politik der deutschen herrschenden Klassen im ersten Weltkrieg. Berlin 1964, S. 67– 89, insb. S. 82– 88.
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Das Zentrum der DDR-Forschung zur Ausländerbeschäftigung bildete seit 1974 jedoch die Forschungsgruppe „Fremdarbeiterpolitik des Imperialismus“ an der Universität Rostock. Das Ziel dieser Forschungsgruppe war es, den Austausch der an unterschiedlichen Einrichtungen der DDR arbeitenden Wissenschaftler zur Ausländerbeschäftigung in Deutschland vom Kaiserreich bis in die Gegenwart zu fördern. Hierzu fanden regelmäßig Kolloquien statt. Die dort vorgestellten Forschungsergebnisse wurden in einer eigenen Schriftenreihe mit dem Titel „Fremdarbeiterpolitik des Imperialismus“ herausgegeben. Bis 1988 erschienen unter der Leitung von Lothar Elsner insgesamt zwanzig Bände.Von 1989 an wurde die Reihe unter dem Titel Migrationsforschung fortgeführt, bis sie 1991 eingestellt wurde.
Die Ausländerbeschäftigung während des Ersten Weltkrieges im Kontext der „Fremdarbeiterpolitik des Imperialismus“ Von großer Bedeutung für die DDR-Forschung zur Ausländerbeschäftigung war die Einordnung des Ersten Weltkrieges in die Kontinuität der vermeintlich ausbeuterischen „Fremdarbeiterpolitik des Imperialismus“ vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. Johannes Nichtweiss meinte 1959 anhand der Untersuchung der deutschen Arbeitskräftepolitik vor 1914 nachweisen zu können, dass die hitlerfaschistische Versklavungs- und Ausrottungspolitik gegenüber dem polnischen Volk und anderen slawischen Völkern nur die konsequente Fortsetzung der Politik preußisch-deutscher Regierungen der Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg war, als der Imperialismus in Deutschland zum herrschenden System geworden war.²⁸
Die Freiheitsberaubung der ausländischen Arbeitskräfte während des Ersten Weltkrieges galt auch für Lothar Elsner und Joachim Lehmann als Teil der „normalen Fremdarbeiterpolitik des Imperialismus“, die während des Zweiten Weltkrieges in eine „bislang nicht überbotene barbarischen Sklavenarbeit“²⁹ überging. So wurden sämtliche Formen der deutschen Arbeitskräftepolitik vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik nicht nur bei Nichtweiss, sondern in allen folgenden Arbeiten, die bis zur Wende zum Thema erschienenen, undifferenziert
Nichtweiss, Die ausländischen Saisonarbeiter, S. 245. Elsner/Lehmann, DDR-Literatur, S. 15.
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und simplifizierend als „Zwangsarbeitssystem des Imperialismus“ zusammengefasst.³⁰ In Anlehnung an Nichtweiss machte Lothar Elsner jedoch gleichzeitig immer wieder geltend, dass „das brutale und menschenfeindliche Wesen des ostelbischen Junkertums“ während des Ersten Weltkrieges „noch deutlicher“ zutage getreten sei als in den Jahren vor 1914. In der Einleitung seiner Dissertation heißt es hierzu: Der Erste Weltkrieg, der imperialistische Krieg, wurde vom deutschen Junkertum und Finanzkapital nicht nur begonnen, um anderen imperialistischen Staaten ihre bis dahin in Gestalt von Kolonien und Rohstoffquellen gemachte Beute abzujagen, sondern zugleich, um aus der innenpolitischen Krise der letzten Vorkriegsjahre herauszukommen und die Arbeiterfrage gewaltsam zu lösen. Die Bestrebungen der ostelbischen Junker, die seit dem Übergang des Kapitalismus in sein imperialistisches Stadium nach Deutschland in Massen einwandernden ausländischen Saisonarbeiter maximal auszubeuten, fanden einen Höhepunkt im Ersten Weltkrieg.³¹
Außerdem wurde seiner Ansicht nach „ökonomischer Zwang“ durch „außerökonomischen Zwang“ ersetzt – das heißt, Zwangsarbeit trat an die Stelle von ausbeuterischen Knebelverträgen für ausländische Arbeitskräfte. Hierbei handelte es sich Elsner zufolge jedoch nur um einen graduellen Unterschied, der eine längerfristige Politik des preußischen „Junkertums“ zugrunde lag. So betonte Elsner, daß 1914 kein wesentlich neuer Abschnitt in der Politik des Junkertums und seines Staates gegenüber den ausländischen Arbeitern begann; die schon vor 1914 gegenüber dieser Arbeiterkategorie betriebene reaktionäre Politik wurde jetzt nur mit anderen, nämlich gewaltsameren, fortgesetzt. Die Zwangsüberführung Hunderttausender belgischer und polnischer Arbeiter nach Deutschland in den Jahren 1916/1917 sowie die Ausplünderung der Bevölkerung der vom deutschen Imperialismus während des Krieges besetzten Gebiete entsprachen den schon lange vor dem Kriege vom ostelbischen Junkertum in der Wanderarbeiterfrage verfolgten Bestrebungen.³²
Der Erste Weltkrieg galt also einerseits als ein Höhepunkt der Ausbeutung ausländischer Arbeiter. Andererseits wurden die Jahre 1914 bis 1918 in eine Kontinuitätslinie bis zur Gegenwart gestellt, wie das folgende Zitat von Lothar Elsner zeigt: Siehe z. B. Eichholtz, Dietrich: Das Zwangsarbeitersystem des faschistischen deutschen Imperialismus in der Kontinuität imperialistischer Fremdarbeiterpolitik. In: Fremdarbeiterpolitik des Imperialismus 1 (1974), S. 77– 96. Elsner, Die ausländischen Arbeiter, S. 1 f. Elsner, Die ausländischen Arbeiter, S. 2.
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Die Ausbeutung großer Massen ausländischer Arbeiter ist eine Erscheinung, die nicht nur für den deutschen Imperialismus typisch war. […] Der westdeutsche Imperialismus [setzt jedoch] Traditionen fort, die, vor 1914 geschaffen, im 1.Weltkrieg einen Höhepunkt fanden und schließlich im Hitlerfaschismus zu so grausamer Fortführung gelangten.³³
Ganz deutlich wird hier die Absicht, eine Verbindungslinie zur Gastarbeiterbeschäftigung in der Bundesrepublik herzustellen und diese dadurch zu diskreditieren. Die DDR-Forschung zur Ausländerbeschäftigung hatte also eine dezidiert politisch-ideologische Funktion. Die Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte in der DDR wurde hingegen nicht weiter untersucht, auch wenn die „Vertragsarbeiter“ aus den sozialistischen „Bruderstaaten“ durchaus zahlreichen Diskriminierungen ausgesetzt waren.³⁴ Aus ideologischen Gründen kam eine Analyse der Lebens- und Arbeitsbedingungen dieser ausländischen Arbeitskräfte nicht in Betracht, da es gemäß dem Staatsverständnis der DDR in einem sozialistischen Staat keine Ausbeutung geben konnte. Dementsprechend wurde die Ausländerbeschäftigung in der DDR nicht in den langfristigen Kontinuitätslinien deutscher Ausländerpolitik verortet.³⁵
Die historische Migrationsforschung der Bundesrepublik In der Bundesrepublik hingegen gab es zunächst kaum eine Auseinandersetzung mit dem Thema Ausländerbeschäftigung im Ersten Weltkrieg. Lange Zeit bildete ein Aufsatz von Friedrich Zunkel aus dem Jahr 1970 die einzige intensive Beschäftigung mit dem Thema.³⁶ Erst in den 1980er-Jahren entstanden im Rahmen
Elsner, Die ausländischen Arbeiter, S. 4. Bade, Klaus J. u. Oltmer, Jochen: Deutschland. In: Klaus J. Bade [u. a.] (Hrsg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, S. 141– 170, hier S. 161– 163; GrunerDomić, Sandra: Vietnamesische, mosambikanische und kubanische Arbeitswanderer in der DDR seit den 1970er Jahren. In: Bade [u. a.] (Hrsg.): Enzyklopädie Migration, S. 1078 – 1081. Oltmer, Migration, S. 121. Zunkel, Friedrich: Die ausländischen Arbeiter in der deutschen Kriegswirtschaftspolitik des Ersten Weltkrieges. In: Ritter, Gerhard A. (Hrsg.): Entstehung und Wandel der modernen Gesellschaft. Festschrift für Hans Rosenberg zum 65. Geburtstag. Berlin 1970, S. 280 – 311. Zwar hatte sich Gerhard Ritter bereits 1964 mit der Deportation belgischer Arbeitskräfte befasst; er griff hierbei aber nicht auf Archivmaterial zurück und verwies selbst darauf, es „bedürfe einer neuen aktenmäßigen Untersuchung, die von deutscher Seite m. W. noch ganz fehlt“. Ritter, Gerhard: Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des „Militarismus“ in Deutschland, Bd. 3: Die
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der aufkommenden Migrations- und Arbeitsmarktforschung weitere Studien. Diese Studien befassten sich jedoch vor allem mit dem Zweiten Weltkrieg und der Zeit vor 1914. So kam Wolfram Pyta 1983 zu dem Schluss, dass sich bisher eigentlich nur die historische Forschung in der DDR intensiv mit der Lage der ausländischen Arbeiter während des Ersten Weltkrieges auseinandergesetzt habe.³⁷ Grund für das Ausbleiben einer Auseinandersetzung mit dem Thema war nicht nur das erst langsam aufkommende Interesse an der Ausländerbeschäftigung, sondern auch die Quellenlage. Während die Bestände des preußischen Kriegsministeriums bei einem Luftangriff 1945 größtenteils zerstört worden waren, befanden sich die Akten der anderen preußischen Ministerien sowie der Reichsämter in Archiven der DDR. Westliche Forscher hatten somit auf zentrale Quellenbestände nur begrenzt Zugriff.³⁸ Dies führte dazu, dass die DDR-Forschung häufig zitiert wurde, auch wenn westliche Historiker andere Positionen vertraten als ihre ostdeutschen Kollegen. So stellte Lothar Elsner zufrieden fest, dass die sogenannte bürgerliche Forschung nicht umhinkonnte, die DDR-Forschung zu rezipieren. Er kritisierte jedoch gleichzeitig, dass sich die westdeutschen Historiker weigerten, „die These von der Kontinuität imperialer deutscher Fremdarbeiterpolitik zu akzeptieren“.³⁹
Streitpunkte zwischen West und Ost Im Gegensatz zur Forschung in der DDR betrachteten westdeutsche Historiker den Kriegsbeginn 1914 als deutliche Zäsur der deutschen Ausländerpolitik. Friedrich Zunkel und Ulrich Herbert⁴⁰ unterteilten die Ausländerbeschäftigung während
Tragödie der Staatskunst. Bethmann Hollweg als Kriegskanzler (1914– 1917). München 1964, S. 665. Die zu dieser Zeit vorliegenden Werke von DDR-Historikern scheint er entweder nicht gekannt oder nicht für erwähnenswert gehalten zu haben. Pyta, Wolfram: Polnische und belgische Arbeiter in Preußen während des 1. Weltkrieges. In: Geschichte in Köln. Studentische Zeitschrift am historischen Seminar 14 (1983), S. 62– 120, hier S. 62. Einer der wenigen westlichen Historiker, der intensiv die Bestände des Deutschen Zentralarchivs I in Potsdam und des Deutschen Zentralarchivs II in Merseburg nutze, war Klaus J. Bade. Es gelang ihm auch, in größerem Umfang Kopien zu bekommen. Eine Arbeit mit in der DDR befindlichen Archivalien war also möglich, es mussten hierbei jedoch einige Hürden überwunden werden. Elsner, Lothar: Johannes Nichtweiss, 1914 bis 1958. In: Heitzer, Heinz [u. a.] (Hrsg.): Wegbereiter der DDR-Geschichtswissenschaft. Biographien. Berlin 1989, S. 169 – 181, hier S. 178 f. Herbert, Ulrich: Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland 1880 bis 1980. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter. Berlin 1986.
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des Ersten Weltkrieges in drei Phasen: In einer ersten Phase von Herbst 1914 bis Sommer 1916 habe sich die diskriminierende, aber freie Ausländerbeschäftigung der Vorkriegszeit für die Arbeitskräfte aus dem Russischen Reich in Zwangsarbeit verwandelt. Hierzu habe insbesondere das für die Dauer des Krieges geltende Rückkehrverbot in deren Heimat beigetragen. Im Herbst 1916 kam es dann laut Zunkel und Herbert zu einer wesentlichen Verschärfung des Zwangs. Vor dem Hintergrund enttäuschender Zahlen bei der freien Anwerbung im besetzten Belgien, Polen und im Baltikum seien die deutschen Behörden in dieser bis zum Frühjahr 1917 andauernden Phase der Ausländerbeschäftigung zu Zwangsrekrutierungen in den besetzten Gebieten und zur Deportation belgischer Arbeitskräfte nach Deutschland übergegangen. Nachdem sich dieses Vorgehen jedoch in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht als Misserfolg herausgestellt hatte, seien die Behörden im Frühjahr/ Sommer 1917 wieder zur freien Anwerbung zurückgekehrt. Um die Anwerbung weiterer Arbeiter zu fördern und die Stimmung der ausländischen Arbeitskräfte zu verbessern, habe es zudem Ansätze gegeben, die Arbeitsbedingungen zu erleichtern. Insbesondere die vermehrte Gewährung von Heimaturlaub zeige, so Zunkel und Herbert, dass es während des Ersten Weltkrieges sehr wohl noch Abstufungen beim Zwangscharakter der Ausländerbeschäftigung gegeben habe. Dieses Drei-Phasen-Modell lehnte Elsner entschieden ab. Er unterstellte den westdeutschen Historikern, dass sie durch die schematische Einteilung in Phasen der Freiwilligkeit und des Zwangs den generellen Zwangscharakter der Rekrutierung und Beschäftigung ausländischer Arbeiter während des Ersten Weltkrieges kleinreden wollten.⁴¹ Obwohl insbesondere Ulrich Herbert die Ausländerpolitik im Ersten Weltkrieg 1984 als „Probelauf“ für das nationalsozialistische Zwangsarbeitssystem bezeichnete und von einem „Lernprozess“ der beteiligten Institutionen sprach, lehnte er die von DDR-Migrationsforschern postulierte Existenz einer direkten Kontinuität oder gar einer Gleichartigkeit der Ausländerbeschäftigung im Ersten und Zweiten Weltkrieg entschieden ab.⁴² Bei diesem Befund ist auch die gesamtdeutsche und internationale Forschung nach 1989 im Wesentlichen geblieben, wenngleich heute weniger von „Probelauf“ und „Lernprozess“ die Rede ist,
Elsner/Lehmann, DDR-Literatur, S. 7; Elsner, Lothar: Die polnischen Arbeiter in der deutschen Landwirtschaft während des ersten Weltkrieges. Rostock 1975, S. 74. Herbert, Ulrich: Zwangsarbeit als Lernprozeß. Zur Beschäftigung ausländischer Arbeiter in der westdeutschen Industrie im Ersten Weltkrieg. In: Archiv für Sozialgeschichte 24 (1984), S. 285 – 304.
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sondern von einer noch weniger direkten Kontinuität in Form eines „Erfahrungshorizonts“ und der Schaffung eines Präzedenzfalles.⁴³
Relevanz für die heutige Forschung Die von der DDR-Forschung postulierte Interpretation der deutschen Ausländerbeschäftigung während des Ersten Weltkrieges als Teil des generellen „Zwangsarbeitssystems des Imperialismus“ war bereits zeitgenössisch eher politischideologischen Prämissen geschuldet als historiografisch haltbar. Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus und der Marginalisierung einer Geschichtswissenschaft marxistisch-leninistischer Provenienz ist sie Teil der HistoriografieGeschichte geworden. Auf Grund ihrer Pionierleistungen und ihrer Rezeption auch in der Bundesrepublik ist eine vertiefte Auseinandersetzung mit ihr aber dennoch unumgänglich. So kritisiert Jens Thiel, die einschlägige DDR-Forschung verharmlose durch die Nivellierung der Unterschiede zwischen freiwilliger Anwerbung und Arbeitszwang die eigentliche Zwangsarbeit. Er hält ihr aber gleichzeitig zugute, die bis dahin übliche Verengung der Perspektive auf die spektakuläre Deportation belgischer Arbeiter im Herbst/Winter 1916 überwunden und den Blick auf die gesamte Ausländerbeschäftigung während des Krieges erweitert zu haben.⁴⁴ Dies gilt insbesondere für die Arbeitskräfte aus dem Russischen Reich, die quantitativ einen viel größeren Anteil der Zwangsarbeiter ausmachten als die deportierten Belgier.⁴⁵ Neben der Einordnung in die marxistisch-leninistische Imperialismus-Theorie weisen die Studien der DDR-Migrationsforschung weitere Probleme auf, welche die Nutzung dieser Werke für die heutige Forschung erschweren. So verwenden die meisten Publikationen schematische Zuschreibungen von Tätern und Opfern, die den immer gleichen Schwarz-Weiß-Narrativen folgen und sich somit als wenig anschlussfähig für die heutige Forschung erweisen: Schuld an der Diskriminierung und Ausbeutung der ausländischen Arbeitskräfte waren nach Lesart der DDR-Historiker simplifizierend die Imperialisten bzw. die herrschenden
Westerhoff, Zwangsarbeit, S. 344 f.; Thiel, Jens: Kriegswirtschaftliche Interventionen. Die Etablierung von Zwangsarbeitsregimen im Ersten Weltkrieg. In: Oltmer, Jochen (Hrsg.): Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert. Berlin 2016, S. 385 – 416, hier S. 412– 416. Thiel, Jens: „Menschenbassin Belgien“. Anwerbung, Deportation und Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg. Essen 2007, S. 14. Westerhoff, Zwangsarbeit, S. 35 – 52.
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Kreise des kapitalistischen Deutschland,⁴⁶ insbesondere das sogenannte Monopolkapital, die Monopolindustrie oder einfach die „Monopolisten“ und ihre Verbündeten, die Großagrarier bzw. Großgrundbesitzer. Auch die großen Werke der DDR-Geschichtswissenschaft zum Ersten Weltkrieg vertraten diese Interpretation.⁴⁷ Immerhin aber räumten Autoren wie Elsner ein, dass sich die deutschen Arbeiter an der Diskriminierung der ausländischen Arbeiter beteiligt hatten, wenn sie sich davon einen Vorteil versprachen. Auf diese Weise hätten sie sich von der herrschenden Klasse instrumentalisieren lassen; daran hätten „rechte“ SPD- und Gewerkschaftsführer maßgeblichen Anteil gehabt.⁴⁸ Lediglich die revolutionäre Linke in Deutschland und in den von Deutschland besetzten Ländern, die Krieg und Imperialismus ablehnte, habe sich vorbehaltslos mit ihren unterdrückten Klassenbrüdern solidarisiert und Protest, Widerstand und Streiks organisiert.⁴⁹ Die Machtübernahme der Bolschewiki in Russland im Herbst 1917 galt den ostdeutschen Forschern in diesem Zusammenhang folgerichtig auch als Ausgangspunkt für revolutionäre Aktivitäten an zahlreichen weiteren Orten,⁵⁰auch wenn Unruhen z. B. im besetzten Polen im Zweifelsfall ganz andere Hintergründe hatten. Doch damit nicht genug; die Oktoberrevolution eröffnete nach Ansicht der historischen Forschung der DDR mit Blick auf die Arbeitsmigration ein ganz neues Kapitel der Weltgeschichte: In Sowjetrußland war ein Staat entstanden, der durch die Beseitigung des Kapitalismus die Wurzeln für die Wanderarbeit vernichtete. Zum ersten Male in der Weltgeschichte existierte ein gesellschaftliches System, das allen Werktätigen Arbeit und Brot sicherte und sie nicht zwang, in fremden Ländern billig ihre Arbeit zu verkaufen.⁵¹
Lothar Elsner wagte, ausgehend vom Ersten Weltkrieg, im Sinne des historischen Materialismus 1961 sogar einen Blick in die Zukunft:
Elsner, Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeitspolitik, S. 527– 529. Klein, Fritz [u. a.] (Hrsg.): Deutschland im Ersten Weltkrieg, Bd. 2, Berlin 1968, S. 157– 160, 494– 496; Gutsche, Willibald [u. a.]: Von Sarajevo nach Versailles. Deutschland im ersten Weltkrieg. Berlin 1974, S. 192 f.; Klein, Fritz: Deutschland von 1897/98 bis 1917, S. 342. Siehe z. B. Elsner, Lothar: Zur Haltung der rechten SPD- und Gewerkschaftsführer in der Einwanderungsfrage während des 1. Weltkrieges. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock 25 (1976) 9, S. 687– 691. Siehe z. B. Grosfeld, Die Proklamation, S. 173 f.; Lemke, Allianz und Rivalität, S. 362. Siehe z. B. Elsner, Die ausländischen Arbeiter, S. 197– 250. Elsner, Die ausländischen Arbeiter, S. 322.
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Der Versuch, das System der Ausbeutung durch Krieg und die Ausplünderung fremder Völker zu erhalten, konnte den Lauf der Geschichte nicht hemmen; mit der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution begann eine Entwicklung, die nach der Zerschlagung des Hitlerfaschismus den Nachkommen der polnischen Schnitter im eigenen Lande Arbeit und Brot gab und die mit der Beseitigung der Herrschaft der Junker und Militaristen in Westdeutschland die Grundlagen für die Ausplünderung ausländischer Arbeiter vernichten wird. Auch der süditalienische Arbeiter, der heute noch gezwungen ist, seine Arbeitskraft in Westdeutschland, Frankreich oder in der Schweiz zu verkaufen, wird durch den Sieg des Sozialismus im Weltmaßstab nicht mehr Quelle des Extraprofits sein, sondern die Früchte seiner Arbeit in seiner Heimat selbst ernten.⁵²
Fazit Die DDR-Forschung zur Ausländerbeschäftigung während des Ersten Weltkrieges weist deutliche Züge einer marxistisch-leninistischen Geschichtsschreibung auf; Verweise auf Marx und insbesondere Lenin fehlen selten als begründungsverstärkende Argumente. Ohne Verweise auf die Überväter des Sozialismus war eine Publikation sicherlich nicht realisierbar, aber abseits der obligatorischen Fußnoten hätten durchaus Spielräume bei der Einordnung und Interpretation historischer Sachverhalte bestanden.⁵³ Insbesondere Lothar Elsner vertrat jedoch eine orthodox marxistisch-leninistische Linie und zeigte sich als Kalter Krieger. Auch andere Autoren argumentierten ähnlich; insbesondere Johannes Nichtweiss arbeitete aber mit einem breiteren methodischen Ansatz, der für westliche Migrationsforscher anschlussfähiger war.⁵⁴ Das Ziel der DDR-Historiker war es, die Ausbeutung der ausländischen Arbeiter durch den deutschen Imperialismus nachzuweisen. Die vermeintliche Kontinuität vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik sollte aufgezeigt werden. Die Interpretationen der historischen Migrationsforschung der DDR bieten somit kaum Anknüpfungspunkte für die heutige Forschung. Die Quellenauswertung der
Elsner, Die ausländischen Arbeiter, S. 329. Als Beispiel seien hier die unterschiedlichen Positionen zur Fischer-Kontroverse und zur Interpretation des Ersten Weltkriegs in der Bundesrepublik bei Fritz Klein und Willibald Gutsche genannt. Stibbe, Matthew: Flüchtige Allianzen. Der Erste Weltkrieg als Erwartungshorizont und Explanandum. In: Franka Maubach u. Christina Morina (Hrsg.): Das 20. Jahrhundert erzählen. Zeiterfahrung und Zeiterforschung im geteilten Deutschland. Göttingen 2006, S. 32– 85. Insbesondere Klaus J. Bade fand bei Nichtweiss zahlreiche Anknüpfungspunkte für seine Forschungen zur Migration im Kaiserreich. Siehe z. B. Bade, Klaus J.: Transnationale Migration und Arbeitsmarkt 1879 – 1929. Studien zur deutschen Sozialgeschichte zwischen großer Deflation und Weltwirtschaftskrise, Bd. 1: 1879 – 1914, Habilitationsschrift, Erlangen 1979.
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ostdeutschen Forscher war hingegen so umfassend, dass die empirisch gesättigten, archivgestützten Teile einschlägiger Texte noch heute den aktuellen Forschungsstand abbilden. Dies ist insofern erstaunlich, als der Zugriff auf die Archive, die westlichen Historikern bis 1989 weitgehend versperrt waren, seit 32 Jahren möglich ist, zeigt aber auch, dass zumindest auf dieser Ebene durchaus gründlich gearbeitet worden ist. Der Erste Weltkrieg nahm in der DDR-Forschung zur Ausländerbeschäftigung eine ambivalente Rolle ein. Einerseits hieß es, die Ausbeutung ausländischer Arbeiter sei nach Kriegsbeginn 1914 nochmals gesteigert worden. Andererseits habe es sich nur um eine graduelle Steigerung der bereits geltenden Ausbeutung gehandelt.⁵⁵Gleichzeitig war der Erste Weltkrieg der Schauplatz der großen Oktoberrevolution, dem Startschuss für den weltweiten Siegeszug des Sozialismus. Interessanterweise beschränkte sich die DDR-Forschung zur Ausländerbeschäftigung jedoch nicht auf diese Episode, sondern nahm den Ersten Weltkrieg insgesamt in den Blick und war damit der westdeutschen Forschung voraus, die das Thema erst recht spät entdeckte.
Lehmann, Joachim: Kontinuität und Wandel. Zur Entwicklung des institutionellen Regulierungsmechanismus für die Ausländerbeschäftigung im imperialistischen Deutschland. In: Fremdarbeiterpolitik des Imperialismus 19 (1988), S. 17.
Teil VI: Der Erste Weltkrieg in der DDR-Schule
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Kampf um die Erinnerung in Frankfurt (Oder). Der Erste Weltkrieg und die Karl-Liebknecht-Schule In dem autobiografischen Roman von Eugen Ruge In den Zeiten des abnehmenden Lichts erinnert sich Markus, der 1977 geborene und in der DDR noch sozialisierte Urenkel, an seinen Urgroßvater Wilhelm. Wilhelm, KPD-Mitglied der ersten Stunde, antifaschistischer Kämpfer und vor dem Zweiten Weltkrieg in geheimer Mission für die Komintern tätig, kehrte 1952 nach Jahren des Exils in Mexiko in die DDR zurück, wo er mit dieser Musterbiografie eine Vorbildfunktion einnahm. Markus dagegen nimmt seine Urgroßeltern nur noch als „komische Leute“ wahr: Irgendwann, es war lange her, hatten sie gegen Hitler gekämpft, illegal, Nazizeit – hatten sie in der Schule gehabt,Wilhelm war sogar einmal in seiner Klasse gewesen und hatte von Karl Liebknecht erzählt, wie sie zusammen auf dem Balkon gesessen und die DDR gegründet hatten oder so ähnlich, verstanden hatte es keiner, aber gewundert hatten sie sich doch, was für einen berühmten Urgroßvater er hatte.¹
Karl Liebknecht als Begründer der DDR: So konfus historisch gesehen diese Erinnerung ist, besser als daran lässt sich wohl kaum der Mythos des Kriegsgegners und Begründers der KPD, Karl Liebknecht, und seine wichtige Rolle für das politische System der DDR schildern! Die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg im Januar 1919 wirkte für die radikale Linke der Weimarer Republik und die Staatsgründer der DDR in hohem Maße „identitätsstiftend“, wurde dadurch doch der „kommunistische Politikentwurf“ in seiner Eigenständigkeit und seiner Vorrangstellung gegenüber der Sozialdemokratie politisch und moralisch legitimiert.² In der Gründung der SED kam dies 1946 zum Ausdruck. Zu Beginn der DDR wurde die Stellung der Theoretikerin Rosa Luxemburg von der allgemeinen Parteilinie immer wieder angezweifelt, wie schon in der Weimarer Republik, weil sie die Rolle der Massen überbewertet und die der Partei als Avantgarde unterbewertet habe. Demgegenüber war Karl Liebknecht, der Kämpfer, der Propagandist, innerhalb Ruge, Eugen: In Zeiten des abnehmenden Lichts. Roman einer Familie. 7. Aufl. Hamburg 2011, S. 271. Vgl. Sabrow, Martin: Volkstribun und Hassfigur. Karl Liebknecht im deutschen Gedächtnis. In: Mythos der Revolution. Karl Liebknecht, das Berliner Schloss und der 9. November 1918. München 2018, S. 105 – 129, die beiden Zitate S. 112 und 114. https://doi.org/10.1515/9783110710847-016
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der Partei unbestritten. Die Novemberrevolution 1918/1919 mit Liebknechts Proklamation der freien sozialistischen Republik wurde als symbolischer Gründungsakt der DDR begriffen und Liebknecht selbst symbolisch als Vater des ostdeutschen Staates gesehen.³ Sinnfällig wurde seine staatstragende Funktion durch die Anbringung des Berliner Schlossportals, über dem er zur Proklamierung der sozialistischen Republik erschienen war,⁴ am Gebäude des Staatsrats der DDR. Sie schlug sich darüber hinaus in zahlreichen Denkmälern, Gedenkstätten und Namensgebungen zu seinen Ehren nieder. Am Beispiel einer weiterführenden Schule in Frankfurt an der Oder sollen in dem vorliegenden Beitrag die Etappen einer solchen Namensgebung verfolgt sowie gesellschaftliche und politische Konfliktlinien, die sich in den zugehörigen Debatten abzeichneten, freigelegt werden. Dabei zeigt sich zugleich, welche Bedeutung Karl Liebknechts Haltung während des Ersten Weltkrieges zugeschrieben wurde. Die Sozialisationsinstanz Schule war von zentraler Bedeutung für das Funktionieren des politischen Systems der DDR.Welche Rolle dabei der Erste Weltkrieg in den Curricula und Schulbüchern spielte, zeigt Rainer Bendick in seinem Beitrag in diesem Band kenntnisreich. Im Zentrum des vorliegenden Beitrags stehen daher nicht Stundenpläne und Schulbücher, zumal diese in der gesamten DDR gleich waren, sondern die Namensgebung einer höheren Schule. Die 1. Oberschule in der Stadt Frankfurt (Oder) erhielt 1949 den Namen „Karl Liebknecht“, noch heute trägt das Städtische Gymnasium I in Frankfurt diesen Zusatz. Da der Name „Karl Liebknecht“ für das politische System der DDR stand wie kein zweiter, waren die Entscheidungen für die Namensgebung immer auch umstritten. Der Ausgang des Ersten Weltkrieges mit der Weichenstellung für eine bürgerliche Republik und ein kapitalistisches System war für die Geschichtswissenschaft und Geschichtspolitik der DDR das Entscheidende, im Unterschied zur westdeutschen Geschichtsschreibung, in deren Mittelpunkt die Kriegsschuldfrage stand. Auch wurde in der DDR die Darstellung des Ersten Weltkrieges gezielt propagandistisch eingesetzt, um die eigene Kriegsbereitschaft gegen den noch
Ausführlich dazu: Maurice, Paul: Rosa Luxemburg et Karl Liebknecht, un mythe paradoxal en RDA. In: [sens [public]. Revue électronique internationale, 2006; https://sens-public.org/IMG/ pdf/SensPublic_PMaurice_un_mythe_paradoxal_en_RDA.pdf (19. 5. 2020). Darauf bezieht sich Urenkel Markus. Liebknecht hat die sozialistische Republik zwei Mal am 9. November kurz hintereinander verkündet: vor dem Schloss, auf einem Autodach stehend, und über Schlossportal IV gegenüber dem Lustgarten, wahrscheinlich aber von einem großen Fenster mit Balustrade und nicht vom Balkon im zweiten Stock aus (Juhnke, Dominik: Szenen eines Aufruhrs. Der 9. November 1918 am Berliner Schloss. In: Mythos der Revolution, S. 25 – 102, hier S. 78 – 88).
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bestehenden westlichen Imperialismus zu legitimieren. In diesem Zusammenhang kam dem Kriegsgegner Karl Liebknecht eine zentrale Bedeutung zu. Die Rahmendaten sind bekannt:⁵ Im Dezember 1914 stimmte Karl Liebknecht als einziges Mitglied des Reichstags gegen die Kriegskredite, nachdem er sich der auf Initiative Rosa Luxemburgs kurz zuvor gegründeten „Gruppe Internationale“ (seit 1916 Spartakusgruppe) angeschlossen hatte. 1915 wurde er als Armierungssoldat eingezogen, wodurch ihm jegliche außerparlamentarische politische Tätigkeit unmöglich gemacht werden sollte; 1916 wurde er aus der SPD-Reichstagsfraktion ausgeschlossen; ebenfalls 1916 wurde er angeklagt und verbüßte bis 1918 eine Zuchthausstrafe wegen Hochverrats. Er proklamierte am 9. November 1918 die freie sozialistische Republik am Berliner Stadtschloss und opponierte gegen die zwei Stunden früher von Philipp Scheidemann ausgerufene deutsche (bürgerliche) Republik. Am 11. November 1918 begründete er den Spartakusbund mit, aus dem die KPD hervorging. Nach dem Januaraufstand 1919 wurden er und Rosa Luxemburg von rechten Freikorpssoldaten in Berlin ermordet. Die Offiziere, die daran beteiligt waren, wurden entweder gar nicht oder nur milde von einem Kriegsgericht bestraft. Gemeinsam mit Rosa Luxemburg wurde Karl Liebknecht als Kriegsgegner und Opfer rechter Gewalt zum politischen und moralischen Vorbild in der DDR; der SED diente sein Kampf gegen die Sozialdemokratie, die die friedlichen Ziele der Arbeiterschaft verraten habe, auch als Rechtfertigung der eigenen bedingungslosen Vormachtstellung. Warum ausgerechnet Karl Liebknecht? In Bezug auf den Ersten Weltkrieg war seine Haltung eindeutig und klar. Während in der Geschichtsschreibung der DDR anderen, später führenden Persönlichkeiten der kommunistischen Bewegung im Hinblick auf den Ersten Weltkrieg nur pauschal eine Antikriegshaltung attestiert wurde, ohne auf ihre Kriegserlebnisse, Erfahrungen und Verstrickungen in die Kämpfe einzugehen,⁶ konnte Liebknecht als grundsätzlich am Kriegsgeschehen Unbeteiligter präsentiert werden. In den beliebten und weit verbreiteten Illustrierten Historischen Heften, die das Zentralinstitut für Geschichte seit 1976 herausgab, und in Schulbüchern findet sich immer wieder ein Foto, das ihn als Armierungssoldat zeigt. Er ist darauf in der Mitte einer Gruppe weiterer Armierungssoldaten und einer Aufsichtsperson zu sehen: Karl Liebknecht, die
Zur Biografie vgl. Weber, Hermann: Liebknecht, Karl. In: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), S. 505 f; zum Januaraufstand vgl.Winkler, Heinrich August: Weimar 1918 – 1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie. München 1993, S. 56 – 60. Vgl. dazu in diesem Band die Beiträge von Nicolas Offenstadt, Emmanuel Droit und Norman Laporte.
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Hände an einer Schubkarre.⁷ Es bedeutet: Karl Liebknecht war im Krieg, aber wider Willen (als Reichstagsabgeordneter), und die Hände hat er sich nur „schmutzig gemacht“ bei der Arbeit mit der Schubkarre, nicht mit der Waffe. Zugleich wurde der Rechtsanwalt Liebknecht auf diese Weise auch näher an die arbeitende Bevölkerung herangeholt. Das Bild Liebknechts scheint das einzige zu sein, das aus dem Kreis der kommunistischen Vorkämpfer aus der Zeit des Ersten Weltkrieges veröffentlicht bzw. im Unterrichtswesen eingesetzt worden ist.
Abb. 1: Karl Liebknecht (vierter von links) als Armierungssoldat in Frankreich, 1915. Quelle: Bundesarchiv (SAPMO), BildY 10-KL-3 – 14996.
Warum Frankfurt (Oder)? Weil sich hier am Beispiel einer weiterführenden Schule, die 1911 als sogenanntes Realgymnasium gegründet worden war, seit 1949 bis in die jüngste Gegenwart hinein verfolgen lässt, wie der Umgang mit der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg war und welche Rolle die Namensgebung „Karl Liebknecht“ spielte. Die Schule als Sozialisationsagentur, an der sich verschiedene Akteure – Lehrer, Schüler, Eltern – treffen, erscheint besonders geeignet, Vgl. Gutschke, Willibald: 1. August 1914 (Illustrierte Historische Hefte 3, hrsg. vom Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR). Berlin 1976, S. 37; vgl. auch das Schulbuch: Geschichte. Lehrbuch für Klasse 8. Berlin 1983, S. 213. Die zweite Auflage dieses Schulbuchs zeigt nur noch einen Ausschnitt mit Karl Liebknecht und dem Wachsoldaten (ebd., 1988, Ausgabe 1989, S. 210).
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konkurrierende Erinnerungen und den Kampf um die Deutungshoheit im Zusammenspiel mit bildungs- und kulturpolitischen Vorgaben zu untersuchen.⁸ Dies wird im Folgenden in drei Etappen bzw. an drei Beispielen geschehen: anlässlich der Verleihung des Namens „Karl Liebknecht“ an die Oberschule im Jahre 1949; gelegentlich des 30-jährigen Jubiläums dieser Namensverleihung 1979; sowie am Beispiel der Debatten um die Namensgebung nach der Wende, in den Jahren 1992/1996 und zuletzt 2012.
Ein Name wird Programm Das 1911 gegründete Realgymnasium – das Schulgebäude befindet sich gut sichtbar in Frankfurt (Oder), wenn man von der deutsch-polnischen Grenze kommend die Rosa-Luxemburg-Straße hoch in Richtung Autobahn nach Berlin fährt – erhielt 1946 zunächst den Namen 1. Oberschule, 1949 dann den Zusatz „Karl Liebknecht“.⁹ Dass ab 1949/1950 „die Namen der Schulen zu einem Element der Verankerung einer sozialistischen Identität“ wurden,¹⁰ war nicht ungewöhnlich, sondern ein in der gesamten DDR flankierend zur Staatsgründung zu beobachtender Prozess. Diese Umbenennung und die Art ihrer Durchsetzung waren umstritten. Aus den Protokollen und Akten des Rates der Stadt lässt sich folgendes rekonstruieren:¹¹ Auf der vierten pädagogischen Landeskonferenz im Juni 1949 wurde die (Um‐)Benennung der Schulen beschlossen und in den Lehrerkollegien diskutiert. Das Schulamt wies am 26. September die Abteilung Volksbildung des Rates der Stadt an, die Liste mit den vorgesehenen Namen dem Vgl. zu diesem Ansatz, mit dem Untersuchungsfeld Ost-Berlin, Droit, Emmanuel: Vorwärts zum neuen Menschen? Die sozialistische Erziehung in der DDR (1949 – 1989). Köln 2014. Heidemann, Jens: Warum das Wiecke Karl Liebknecht heißt. Zur Geschichte des Schulnamens unserer Anstalt. In: Lernen im Denkmal. 100 Jahre Schulgebäude in der Wieckestraße 1911– 2011, hrsg. vom Verein der Freunde und Förderer des Städtischen Gymnasiums I zu Frankfurt (Oder). Frankfurt (Oder) 2011, S. 90 f. – Es konnte nicht zuverlässig in Erfahrung gebracht werden, ob die im Eingang des alten Schulgebäudes seit 1927 befindlichen Gedenktafeln mit den Namen der im Ersten Weltkrieg gefallenen Schüler durch einen Bombenangriff zerstört worden sind oder ob sie bewusst ca. 1945/1946 zerstört wurden, weil sie als kriegsverherrlichend galten. Zu den Gedenktafeln vgl. die Festschrift: 25 Jahre Oberschule Frankfurt (Oder) 1911– 1936, o. O., o. J., Stadtarchiv (StA) Frankfurt (Oder). Sicher ist, dass sie nicht mehr existieren. Droit, Vorwärts zum neuen Menschen?, S. 112. Sitzungen des Rates der Stadt, Ratsprotokolle 25. 8. 1949 – 15. 6. 1950, StA Frankfurt (Oder), Sign. RP 9/2; Unterlagen der Stadtverordnetenversammlung, 1947– 1949, StA Frankfurt (Oder), Sign. RP 28. Die Akten sind nur zum Teil durchgehend paginiert, auf Blattangaben wird daher im Folgenden verzichtet. Vgl. auch die Zusammenfassung bei Heidemann, Warum das Wiecke Karl Liebknecht heißt, S. 90 f.
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Rat der Stadt vorzulegen, was am 5. Oktober geschah. Das Volksbildungsamt hob dabei mit Blick auf die vorangegangenen Debatten in den Lehrerkollegien hervor, dass „die Namen der Schule keine bestimmende Angelegenheit etwa des Schulrates sind, sondern in demokratischer Abstimmung die Mehrheit sich für den betreffenden Namen entschieden hat“.¹² Der Rat der Stadt stimmte daraufhin am 6. Oktober 1949 zu und veröffentlichte am 15. Oktober 1949 die neuen Namen umgehend und ohne die Stadtverordneten zu befragen in den Amtlichen Nachrichten. Dagegen erhoben die Stadtverordneten auf ihrer 32. öffentlichen Sitzung am 18. November 1949 Protest; die Frage, ob ein Verstoß gegen die demokratische Gemeindeverfassung vorliege, wurde erhoben und die Angelegenheit an den Geschäftsordnungsausschuss überwiesen, der in der 33. Sitzung der Stadtverordneten am 15. Dezember 1949 zu dem Vorwurf Stellung nahm und die abschließende zustimmende Abstimmung einleitete. Auf allen drei Ebenen (Lehrerkollegium, Rat der Stadt, Stadtverordneten) gab es Gegenstimmen und Alternativvorschläge zu den vorgegebenen Namen: Vorgesehen war von amtlicher Seite die Benennung der 1. Grundschule in Rosa-Luxemburg-Schule, der 1. Oberschule in Karl-Liebknecht-Oberschule, der 2. Grundschule in Maxim-Gorki-Schule und der 2. Oberschule in Karl-Marx-Oberschule, neben u. a. August Bebel und Ernst Thälmann (für die Berufsschule). Laut der Befragung einer Lehrerin, die seit 1948 an der 1. Oberschule tätig war, wurde im Kollegium sehr „konträr diskutiert“. Vor allem Naturwissenschaftler hätten sich nicht vertreten gefühlt und Albert Einstein oder Max Planck vorgeschlagen. Es sei dann mit knapper Mehrheit der Name Karl Liebknecht akzeptiert worden.¹³ Der Rat der Stadt nahm die neuen Namen am 6. Oktober 1949 lediglich mit 2 Stimmen Mehrheit, d. h. mit 7 gegen 5 Stimmen an.¹⁴ Auf der 33. Sitzung der Stadtverordneten am 15. Dezember 1949 schließlich waren 25 Abgeordnete dafür, immerhin 18 Abgeordnete votierten dagegen.¹⁵ Als Alternativen wurden hier neben Max Planck von Seiten der Liberaldemokraten (LDP) und der Christdemokraten (CDU) auch renommierte Gelehrte und Dichter vorgeschlagen, die einen Bezug zur Region oder direkt zu Frankfurt (Oder) hatten: die Gebrüder Alexander und Wilhelm von Humboldt, die an der alten Viadrina studiert hatten, der in Frankfurt geborene Heinrich von Kleist sowie der sozialkritische Schriftsteller Gerhart Hauptmann,
Vorlage des Volksbildungsamtes an den Rat der Stadt vom 5. Oktober 1949, StA Frankfurt (Oder), RP 9/2. Heidemann, Warum das Wiecke Karl Liebknecht heißt, S. 91. Protokoll der 113. Sitzung des Rates der Stadt vom 6. Oktober 1949, StA Frankfurt (Oder), RP 9/ 2. Protokoll der 33. öffentlichen Sitzung der Stadtverordneten, S. 14 f., StA Frankfurt (Oder), RP 28.
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der mehrere Jahre in dem nahegelegenen Erkner verbracht hatte.¹⁶ Die Debatten auf den unterschiedlichen Ebenen zeigen dreierlei: Zum einen verweisen sie auf kommunalpolitische Spielräume gegenüber einer zentralistisch und parteipolitisch vorgegebenen Richtung sowie den Willen der Stadtverordneten, den ihnen zugestandenen demokratischen Freiraum einzuklagen. Auch auf der Schulebene – hier werden als beteiligte Akteure nur die Lehrer sichtbar – gab es abweichende Meinungen. Dieses fügt sich ein in das Bild, das Emmanuel Droit am Beispiel der Ost-Berliner Oberschulen gezeichnet hat.¹⁷ Anders als in Primarschulen mit einem hohen Anteil von Neulehrern griffen die Oberschulen auf ältere, in der Weimarer Republik oder im Kaiserreich sozialisierte Lehrer zurück. Sie verfügten gegenüber der SED über mehr „Eigensinn“ als die neuangeworbenen Lehrer der Grundschulen. Erst ab Mitte der 1950er-Jahre wurde auch der Lehrkörper der Oberschulen homogener und politisiert. Schließlich zeigt das Beispiel, dass der Name Karl Liebknechts (und auch der Rosa Luxemburgs) 1949 noch von geringer allgemeiner gesellschaftlicher Integrations- und Symbolkraft war.
Der Mythos ist gefestigt 1979, als das dreißigjährige Jubiläum der Oberschule gefeiert wurde, hatte sich dies grundlegend geändert. Frankfurt, die ehemalige preußische Beamten- und Garnisonsstadt, war seit 1952 Hauptstadt des gleichnamigen Bezirks; seit 1959 bildete die vormals agrarisch und kleingewerblich strukturierte Stadt einen der industriellen Schwerpunkte des Oderraums. Das hier angesiedelte Halbleiterwerk, analog zum Eisenhüttenkombinat Ost in Eisenhüttenstadt und zum Petrolchemischen Kombinat in Schwedt, beschäftigte 5.000 Arbeitskräfte (1978).¹⁸ Die Einwohnerzahl war von 52.800 (1950) zunächst moderat auf 62.000 (1970) gestiegen; ein deutlicher Sprung in die Höhe fand bis 1979 statt, als Frankfurt 79.000 Einwohner zählte.¹⁹ Der Anstieg von rund 17.000 Einwohnern in knapp Erörtert im „Antifaschistischen Ausschuss“ und zitiert auf der 32. und 33. öffentlichen Sitzung der Stadtverordneten, S. 5 und S. 14 des jeweiligen Protokolls, StA Frankfurt (Oder), RP 28. Vgl. Droit, Vorwärts zum neuen Menschen?, S. 52– 56, hier bes. S. 55 f. Aldenhoff-Hübinger, Rita: Die Ausstrahlung der „Halbleiterpflaume“. Folgen einer Betriebsgründung in Frankfurt (Oder). In: Fortschritt, Norm und Eigensinn. Erkundungen im Alltag der DDR, hrsg. vom Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR. Berlin 1999, S. 39 – 51, hier S. 48. Aldenhoff-Hübinger, Die Ausstrahlung der „Halbleiterpflaume“, S. 48; Statistischer Jahresbericht 1971, Bezirk Frankfurt, hrsg. von der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik, Bezirksstelle Frankfurt, als Manuskript gedruckt, [Frankfurt (Oder) 1971], S. 8; Statistisches Jahrbuch 1980, Bezirk Frankfurt, hrsg. von der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik, Bezirksstelle Frankfurt, als Manuskript gedruckt, [Frankfurt (Oder) 1980], S. 13.
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einem Jahrzehnt war der Erweiterung des Halbleiterwerks geschuldet sowie dem auf dem VIII. Parteitag der SED angestoßenen Wohnungsbauprogramm. Seit 1971 veränderten die zahlreichen Neubaublocks mit Plattenbauten entscheidend das Gesicht dieser Stadt. Frankfurt war längst zur Arbeiter- und sozialistischen Musterstadt geworden. Vor diesem Hintergrund sind die Feierlichkeiten zum dreißigjährigen Bestehen oder besser Namensjubiläum der Oberschule, inzwischen Erweiterte Oberschule (EOS), zu sehen. Wichtig ist zunächst, dass die Schule als weiterführende Schule ja schon seit 1911 bestand; die Verleihung des Namens „Karl Liebknecht“ 1949 hatte einen Neuanfang und Einschnitt markiert, der durch das im großen Rahmen gefeierte Jubiläum „aus Anlass der Wiederkehr der Namensverleihung an die EOS“²⁰ abermals unterstrichen werden sollte. Den Höhepunkt der Feier mit Empfang und Kulturprogramm in der Frankfurter Konzerthalle und anschließenden Diskussionsgruppen in der Schule bildete die Enthüllung einer Büste des Namenspatrons, die von Theo Balden geschaffen worden war. Der renommierte Bildhauer (1904– 1995) hatte 1933/1934 im kommunistischen Widerstand gekämpft und war nach einer kurzzeitigen Inhaftierung nach Großbritannien emigriert. 1947 kehrte er nach Deutschland zurück, wo er sich, beeinflusst von den avantgardistischen Werken Henry Moores, zu einem der profiliertesten bildenden Künstler und neben Fritz Cremer und Wieland Förster zum bedeutendsten Bildhauer der DDR entwickelte. Zu seinen offiziellen Aufträgen gehörten vor allem Arbeiten zu Karl Liebknecht, wie die von 1968 für die Stadt Luckau geschaffene Statue, für den Ort also, in dem Karl Liebknecht zwischen 1916 bis 1918 inhaftiert gewesen war. Möglicherweise ist die Bronze-Plastik, die in Frankfurt eingeweiht wurde, aus Vorstudien zu diesem Denkmal hervorgegangen; es war üblich, dass die Kulturabteilungen der Städte solche Objekte erwarben, um sie bei einem passenden Anlass einzusetzen. Bei der Enthüllung der Büste war Theo Balden persönlich anwesend. Die Plastik ist heute im Eingangsbereich des Gymnasiums zu sehen.²¹ 1979 wurden der Name Karl Liebknecht und die künstlerische Arbeit Theo Baldens für das politische System der
„Dreißig Jahre danach … Über die Festveranstaltung aus Anlass der Wiederkehr der Namensverleihung an die EOS. 23. Juni 1979“, so der Titel der offiziellen Dokumentation der Feier durch einen damaligen Lehrer (Mappen zur Geschichte der EOS Frankfurt (Oder), StA Frankfurt (Oder), Bestand II, 4811). Vgl. dazu Aldenhoff-Hübinger, Rita: Ein Kunstwerk ohne Namen. Theo Baldens LiebknechtKopf. In: Märkische Oderzeitung, Frankfurt (Oder), vom 21. 11. 2016. Die Einweihung fand 1979 in einem anderen Schulgebäude statt, das die EOS 1979 bezogen hatte; erst 1992/1993 kehrte die Schule in das Gebäude des ehemaligen Realgymnasiums zurück (vgl. Lunow, Norbert: 100 Jahre Schulgebäude in der Wieckestraße – 100 Jahre höhere Bildung in Frankfurt (Oder). In: Lernen im Denkmal, S. 21 f.).
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DDR vereinnahmt; die Traditionslinie, in die sich die DDR stellte, wurde verlängert durch die Auswahl eines Künstlers, der eine antifaschistische Musterbiografie hatte. Im Lichte beider Persönlichkeiten konnten sich die verantwortlichen Kulturabteilungen und Schulbehörden als die legitimen Erben der kommunistischen und antifaschistischen Vergangenheit in Szene setzen.
Der Mythos wankt Es verwundert daher nicht, dass nach dem Zusammenbruch des politischen Systems 1989 Zweifel daran aufkamen, ob der Name als Zusatz noch beibehalten werden könne.²² Im Zusammenhang mit der Neugründung der Schule als Gymnasium kam es im April 1993 zu Befragungen der Eltern und der Lehrer- und Schülergremien. Demnach sprach sich die Mehrheit der Eltern für eine neue Namensgebung aus. Favorisiert wurde ein der Stadt Frankfurt (Oder) im 19. Jahrhundert verbundener Pädagoge und liberal-demokratischer Politiker, Carl Wilhelm Wiecke (1801– 1880). Er war 1848 Abgeordneter in der deutschen Nationalversammlung (Paulskirche) und leitete zwischen 1832 und 1869 die Frankfurter Oberschule. Sein Name stand für die bürgerlich-liberale Tradition und war fest mit der Stadt Frankfurt (Oder) verbunden. Erstaunlich ist, dass sich das Gedenken an ihn im kollektiven Gedächtnis, und zwar quer durch alle Schichten, erhalten hatte: Carl Wilhelm Wiecke als lokaler Erinnerungsort. Dazu hat neben der Grabstätte mit Gedenkstein auf dem Alten Friedhof anscheinend auch beigetragen, dass die Seitenstraße, an der das Schulgebäude seit 1911 lag, seinen Namen trug, und zwar ununterbrochen, auch zwischen 1949 und 1989.²³ Demgegenüber wollten 20 % der Eltern den Namen „Karl Liebknecht“ beibehalten, ebenso die knappe Mehrheit der Lehrerschaft. Am 4. Mai 1993 wurde in der Schulkonferenz über die beiden Namen abgestimmt. Beide erhielten jeweils sechs Stimmen, eine Stimme wurde für „Städtisches Gymnasium I“ abgegeben. Erst eine Stichwahl brachte mit acht Stimmen für „Liebknecht“ und fünf Stimmen für „Wiecke“ die Entscheidung. Nach der Bekanntgabe erhob sich jedoch ein solch erheblicher Protest,²⁴ dass sich die Schulkonferenz am 21. Juni 1993 veranlasst sah, den Be-
Die folgenden Angaben nach: Heidemann, Warum das Wiecke Karl Liebknecht heißt, S. 91 f. Lediglich ein Abschnitt der Wieckestraße (zwischen heutiger Sophien- und Rosa-LuxemburgStraße) wurde in Erich-Weinert-Straße umbenannt. Zum Protest vgl. Heidemann, Warum das Wiecke Karl Liebknecht heißt, S. 92. Bis heute ist weiterhin häufig die Rede „vom Wiecke“, wenn das Karl-Liebknecht-Gymnasium gemeint ist. Anschauliche Beispiele von 2010/2011 nennt Heidemann, Warum das Wiecke Karl Liebknecht heißt, S. 89.
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Rita Aldenhoff-Hübinger
schluss zwar nicht aufzuheben, aber das Inkrafttreten auszusetzen, um Raum für erneute Diskussion zu geben. Am 13. Dezember 1994 setzte die neu gewählte Schulkonferenz den Beschluss vom Mai 1993 mit einer klaren Mehrheit dann schließlich doch in Kraft. Der Hauptausschuss der Stadtverordnetenversammlung stimmte am 26. August 1996 dem Antrag der Schulkonferenz auf die Namensgebung „Städtisches Gymnasium I Karl-Liebknecht-Gymnasium“ mit einer Stimme Enthaltung zu. Anlässlich der Vorbereitungen zur Festschrift Lernen im Denkmal. 100 Jahre Schulgebäude in der Wieckestraße 1911 – 2011 ²⁵ wurde die Frage nach der Namensgebung erneut aufgeworfen.²⁶ Die Schulkonferenz stellte sich abermals der Herausforderung und entschied sich dieses Mal mit deutlicher Zweidrittelmehrheit für eine Streichung des Namenszusatzes „Karl Liebknecht“. Im Vorfeld der Stadtverordnetenversammlung, die über den Antrag im Juni 2012 zu entscheiden hatte, wurden die Pro- und Contra-Argumente in einer öffentlichen Debatte ausgetauscht, deren Dynamik und Schärfe nach Aussage Beteiligter in Frankfurt (Oder) bislang unbekannt gewesen sei. Bei einigen wurde die Debatte als breiter Demokratisierungsprozess und Interesse an öffentlichen Belangen gewertet, bei anderen hingegen als schiere Lust am Kampf oder an einer Generalabrechnung mit dem politischen System der DDR gesehen. Doch an sachlichen Argumenten fehlte es nicht. Die Gegner des Namenszusatzes „Karl-Liebknecht“ führten ins Feld, dass Karl Liebknecht die Räterepublik befürwortet und zu ihrer Durchsetzung zu Gewalt gegen die demokratisch legitimierten Organe aufgerufen habe; zudem habe er durch die Begründung der KPD die Arbeiterbewegung gespalten und damit den Aufstieg des Nationalsozialismus erleichtert; sein Name sei eng mit dem politischen System der DDR verbunden gewesen, so seien in seinem Namen Schulverweise ausgesprochen und die Schule sei militarisiert worden; schließlich müsse der demokratisch getroffenen Entscheidung der Schulkonferenz, also der Betroffenen, Rechnung getragen werden, solle nicht der Gedanke der Mitbestimmung in Misskredit geraten.²⁷ Die Befürworter sahen in Karl Lieb Lernen im Denkmal. 100 Jahre Schulgebäude in der Wieckestraße 1911– 2011, hrsg. vom Verein der Freunde und Förderer des Städtischen Gymnasiums I zu Frankfurt (Oder). Frankfurt (Oder) 2011. Vgl. zum Folgenden die Berichte von Adesiyan, Frauke: Gymnasium heißt weiter Liebknecht. Stadtverordnete entscheiden knapp gegen den Willen der Schulkonferenz. In: Märkische Oderzeitung, Frankfurt (Oder), vom 15. 6. 2012, sowie Fritsche, Andreas: Das Karl-Liebknecht-Gymnasium bleibt. Stadtverordnete von Frankfurt (Oder) lehnten Umbenennung überraschend ab. In: Neues Deutschland. Sozialistische Tageszeitung, Berlin, vom 16. 6. 2012. Seiring, Wilfried: Eine Schule will mitwirken. Von Wilfried Seiring, ehemaliger Schüler des Liebknecht-Gymnasiums, zum Namensstreit. In: Märkische Oderzeitung, Frankfurt (Oder), vom 29. 5. 2012. Der Verfasser hatte die Schule zwischen 1950 und 1954 besucht und war nach 1989 als
Der Erste Weltkrieg und die Karl-Liebknecht-Schule
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knecht vorrangig den Kriegsgegner und das Opfer rechten Terrors. Sein Name habe kurz nach dem Krieg einen anderen Klang gehabt als im weiteren Verlauf der 1950er-Jahre.²⁸ Auch könne Liebknecht – so das Argument der Partei „Die Linke“ – nicht verantwortlich gemacht werden für in seinem Namen begangenes Unrecht.²⁹ Ein Schüler aus dem Abiturjahrgang 2007 mobilisierte ehemalige Mitschüler gegen die Umbenennung mit dem Argument, auch auf einem GoetheGymnasium hätten zu DDR-Zeiten Schulverweise unter nichtigem Vorwand ausgesprochen werden können.³⁰ Am 14. Juni 2012 sprach sich die Stadtverordnetenversammlung mit einer Mehrheit von zwei Stimmen gegen den Antrag der Schulkonferenz auf Streichung des Namens „Karl Liebknecht“ aus. Als Zeichen großer Verunsicherung nach 1989 ist auch der Kampf um die Erinnerung an anderen Orten in Ostdeutschland zu werten. In dem beschaulichen Ostseebad Graal-Müritz wurde 1993 die Rosa-Luxemburg-Straße, die zum Strand führt, in „Seestraße“ umgetauft. Seit 1998 steht am Rand der Seestraße eine Büste von Rosa Luxemburg auf einem Sockel, geschaffen von dem Bildhauer Axel Peters (geb. 1944) im Auftrag der Gemeindevertretung. Seit März 2016 wird zusätzlich, auf Initiative des örtlichen „Freundeskreises Rosa Luxemburg“, diese Büste ergänzt von einer Gedenktafel, die eingehend Luxemburgs Geschichte erläutert.³¹ Eine Informations- und Gedenktafel befindet sich auch heute am Sockel der KarlLiebknecht-Büste im Städtischen Gymnasium I. Sie wurde im Herbst 2018 angebracht und informiert sowohl über Karl Liebknecht, den Bewidmeten, als auch Theo Balden, den Künstler. Sie regt so Schülerinnen und Schüler zum Nachdenken und zur Diskussion an. Zu Recht, lässt sich doch an beiden Biografien die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts in ihrer Vielschichtigkeit vortrefflich studieren.
Oberschulrat in leitenden Funktionen im brandenburgischen und Berliner Schul- und Bildungswesen tätig. So der Einwand eines Schülers, der 1951 sein Abitur an der Schule abgelegt hatte (zitiert von Seiring, Eine Schule will mitwirken). Vgl. den Bericht von Fritsche, Das Karl-Liebknecht-Gymnasium bleibt. Vgl. das Interview „Würdigen, nicht idealisieren“. In: Märkische Oderzeitung, Frankfurt (Oder), vom 13. 6. 2012. Eigene Recherchen vor Ort (2. April 2016).
Rainer Bendick
Didaktische Lehren aus dem Ersten Weltkrieg? Die Darstellungen des Ersten Weltkrieges in der DDR. Geschichtsbücher im Spiegel der republikanischen und pazifistischen Reformbestrebungen der 1920er-Jahre Schulgeschichtsbücher werden im Vergleich zur wissenschaftlichen Historiografie in Deutschland oft als ein genre mineur betrachtet, das für die Spezialisten, Didaktiker oder Lehrer interessant sei. Bei Schulgeschichtsbüchern steht schließlich nicht das historische Erkenntnisinteresse im Vordergrund, sondern die jeweils national unterschiedliche Sinnstiftung durch Geschichte und die Prozedere ihrer Vermittlung. Aber gerade diese Funktion macht den besonderen Quellenwert von Schulbüchern aus: Sie reflektieren immer die Werte und Normen des Staates, in dem sie als Lehr- und Lernmittel eingesetzt werden. Sie tradieren die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der Vergangenheit, die für eine Gesellschaft wesentlich sind. Dabei geht es nicht nur um Inhalte, also historische Ereignisse und ihre Deutungen, sondern auch um die Art und Weise, wie diese aufbereitet und vermittelt werden, nämlich die didaktischen Szenarien. Sie überliefern Annäherungen an die Vergangenheit, Arbeitsformen und damit gesellschaftlich anerkannte Verhaltensweisen, mithin einen bestimmten Habitus. Die besondere Signifikanz von Schulgeschichtsbüchern wird noch dadurch unterstrichen, dass sie nicht der Logik und der Dynamik wissenschaftlicher Forschung und Diskussion folgen. Vielmehr gehorchen sie Lehrplänen, die ihrerseits von staatlichen Instanzen redigiert werden und somit die Essenz dessen freigeben, wie – amtlich beglaubigt und gesellschaftlich anerkannt – Vergangenheit zu Geschichte werden soll. Der Blick, den Schulgeschichtsbücher auf die Vergangenheit vermitteln – die thematisierten Ereignisse und ihre Deutungen einerseits, die Aufgabenstellungen, die daraus resultierenden Arbeitsformen, Verhaltensweisen und Problemlösungsstrategien andererseits – soll die heranwachsende Generation befähigen, die Probleme der Gegenwart zu erkennen und die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Darum sind Schulgeschichtsbücher immer in ihrer Gegenwart verhaftet.¹ Sie überliefern die Wünsche und Hoffnungen, die gesellschaftlichen
Vgl. Bendick, Rainer: Geschichte im Präsens. Darstellungen des Ersten Weltkrieges in deutschen und französischen Schulgeschichtsbüchern der Zwischenkriegszeit. In: Mentz, Olivier u. https://doi.org/10.1515/9783110710847-017
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Rainer Bendick
Projekte und politischen Absichten der Generation der Erwachsenen, die diese als Antworten auf die Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft betrachten. Geschichtsschulbücher spiegeln mithin immer die Zwecke der Erwachsenen. Mit Blick auf die Schulbuchhistoriografie der DDR stellt sich ein besonderes Problem der Einordnung und Perspektive, das für die DDR-Geschichte als Ganzes gilt: Sie werde, so die Formulierung von Martin Sabrow, „auf dem Resonanzboden einer gesamtdeutschen Öffentlichkeit verhandelt, die den Handlungsbedingungen der Ostdeutschen mehrheitlich gar nicht ausgesetzt war“.² Der daraus resultierende heftige Streit um die Erinnerung prägt auch den Umgang mit den Schulgeschichtsbüchern der DDR. Rolf Schörken lieferte dafür 1992 ein prägnantes Beispiel. Seine Analyse des Einheitslehrbuchs der polytechnischen Oberschule führte ihn zu der Feststellung, dieses Lehrwerk stelle an den Leser „einige psychologische Anforderungen nicht, weil die Bücher besonders anspruchsvoll wären, vielmehr, weil man ein übers andere Mal seinen Augen nicht traut“. Die Bücher seien geprägt vom „alten ideologischen Repertoire des Marxismus-Leninismus“. Für Schörken blieb „als Resümee nur die Einsicht, dass die DDR ihren Geschichtsunterricht genauso herabgewirtschaftet hat wie den Staat und die Wirtschaft. Nichts von alledem, was in diesen Büchern steht, ist weiterzuverwenden.“³ Das ist ein scharfes, aber im Kern wohl ein berechtigtes Urteil, denn die didaktischen Szenarien der DDR-Bücher entsprachen in keiner Weise den Standards des Geschichtsunterrichts einer liberalen und freiheitlichen Demokratie. Unverzichtbare Prinzipien wie das Überwältigungsverbot, wie Multiperspektivität oder Kontroversität erfüllten die DDR-Bücher nicht, und wollten sie auch gar nicht erfüllen, denn die Bücher der DDR verstanden sich als Teil einer parteiischen Geschichtsschreibung – und das hatte in der Logik des historischen Materialismus eine positive Bedeutung. Insofern beschreiben Urteile wie das von Schörken wohl die Notwendigkeit des Bruchs, den das vereinte Deutschland gegenüber dem Geschichtsunterricht der DDR und seinen Lehrwerken vollziehen musste. Jedoch verstellen diese Urteile mit Blick auf die Einordnung der Schulbuchhistoriografie der DDR mehr, als sie erhellen. Man kann den DDR-Schulbüchern nämlich kaum gerecht werden, wenn man sie vom Ende ihres Staates her betrachtet, vom Scheitern der DDR, und zu-
Bühler, Marie-Luise (Hrsg.): Deutsch-französische Beziehungen im europäischen Kontext. Ein vergleichendes Mosaik aus Schule und Hochschule. Berlin 2017, S. 61– 103. Sabrow, Martin: Die DDR erinnern. In: Sabrow, Martin (Hrsg.): Erinnerungsorte der DDR. München 2009, S. 11– 27, hier S. 16. Schörken, Rolf: Didaktische Mechanismen im DDR-Lehrbuchwerk „Geschichte 5 – 10“. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 43 (1992) 2, S. 93 – 110, hier S. 93, 110.
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dem aus der Perspektive des Systemkonkurrenten Bundesrepublik und der dort sich nur mühsam und erst allmählich entwickelt habenden didaktischen Standards. Darum wird hier mit Blick auf die Darstellungen des Ersten Weltkrieges ein anderer „Resonanzboden“ gewählt. Die DDR soll in ihrem Anspruch als Alternative ernst genommen werden, und zwar als der deutsche Staat, der die angeblich „richtigen“ Konsequenzen aus dem Verlauf der deutschen Geschichte gezogen habe. Dafür bieten sich die Darstellungen des Ersten Weltkrieges besonders an, denn nach der Revolution von 1918 gab es intensive Bemühungen, mit Blick auf den gerade beendeten Großen Krieg einen neuen Geschichtsunterricht an den deutschen Schulen zu verankern. Darum wird im Folgenden nicht die Perspektive der Bundesrepublik angelegt, sondern die didaktischen Szenarien der DDR-Bücher werden betrachtet aus der Perspektive der Reformversuche, die deutsche Republikaner 1918/1919 unternahmen, um Bellizismus und Hass aus den Geschichtsbüchern verschwinden zu lassen mit dem Ziel, einen neuen Geschichtsunterricht durchzusetzen. In einem ersten Teil werden diese Reformprojekte kurz vorgestellt und dann knapp die Entwicklung der Lehrplanvorgaben der DDR skizziert. Darauf folgt eine Analyse der Bücher selbst, insbesondere der Darstellungen der Kriegsursachen und des Kriegsgeschehens anhand von Materialien, die als Ikonen der DDRSchulgeschichtsbücher gelten können. Hier wird es insbesondere um die didaktischen Szenarien gehen und um ihre Funktion in der Gegenwart des Kalten Kriegs. Die Kontextualisierung der Darstellungen des Ersten Weltkrieges erfolgt mithin auf zwei Ebenen: diachron in der Perspektive der Reformbemühungen für Frieden und Republik der 1920er Jahre und synchron in der Gegenwart des Kalten Krieges und des Systemkonflikts mit der Bundesrepublik. Dieser Ansatz berührt mithin auch die Frage, inwiefern die DDR ein „Isolat“, eine „Fußnote“ in der deutschen Geschichte gewesen sei.⁴
Der „Resonanzboden“: die Unterrichtskonzepte der Revolution von 1918 – Geschichtsunterricht für Frieden und Republik Im Zuge der Revolution 1918 wurden energische Reformversuche im Erziehungsund Bildungsbereich unternommen, die die Unterrichtsinhalte und -methoden
Vgl. Bahners, Patrick u. Cammann, Alexander (Hrsg.): Bundesrepublik und DDR. Die Debatte um Hans-Ulrich Wehlers „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“. München 2009, S. 73 – 91.
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grundsätzlich verändern sollten.⁵ Der Geschichtsunterricht stand dabei im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Der preußische Kultusminister Adolf Hoffmann (USPD) verfügte am 15. November: Wo bisher der Geschichtsunterricht mit anderen Lehrfächern dazu missbraucht wurde, Volksverhetzung zu betreiben, hat solches in Zukunft unbedingt zu unterbleiben, vielmehr einer fachgemäßen kulturhistorischen Belehrung Platz zu machen. Alle tendenziösen und falschen Belehrungen über den Weltkrieg und dessen Ursachen sind zu vermeiden.⁶
Der Erlass ist in zweierlei Hinsicht bezeichnend: Er betont einerseits die Bedeutung des Weltkrieges für den Geschichtsunterricht und dabei ausdrücklich die Frage nach den Kriegsursachen. Andererseits benennt er den Ansatz, der Besserung verheißen soll: Kulturgeschichte. Sie sollte Militarismus und Bellizismus überwinden und einen klaren Blick auf die Kriegsursachen erlauben. Dabei dachte Hoffmann nicht an eine Kulturgeschichte, wie sie Jacob Burckhardt vertrat, sondern an eine Geschichte der materiellen Lebensbedingungen der Menschen, und zwar nicht der Angehörigen der Oberschicht, sondern der breiten Volksmassen. Die Revolutionsregierungen in anderen deutschen Ländern ergriffen ähnliche Maßnahmen zur Reform des Geschichtsunterrichts, dem paradigmatische Bedeutung für die Schaffung einer friedlichen und gerechten Welt zugeschrieben wurde, wie z. B. in Thüringen. An die Stelle der Diplomatie- und Kriegsgeschichte der Vergangenheit, die „in den Köpfen der Jugend eine falsche Vorstellung vom Wesen der Menschheitsgeschichte“ geschaffen habe, sollte die Geschichte der menschlichen Arbeit treten. Sie erlaube es, „die großen Richtlinien aufzudecken, die die menschliche Kultur kennzeichnen“ und lasse die „Geschichte der Menschheit als eine Aufwärts-Bewegung erkennen“. An die Stelle der „Völkerverhetzung“ sollte im Unterricht die Darstellung des „gesetzmäßig aufeinanderfolgende[n] Verlauf[s] der Kulturzeitalter“ treten.⁷ Der Geschichtsunterricht war mithin ein wesentliches Instrument eines auf Frieden und Fortschritt ausgerichteten Zukunftsprojektes. Gewiss handelte es sich hier um eine materialistische Geschichtsauffassung, die aber nicht dogmatisch verengt daherkam. Die Be Vgl. Bendick, Rainer: Kriegserwartung und Kriegserfahrung. Der Erste Weltkrieg in deutschen und französischen Schulgeschichtsbüchern (1900 – 1939/45). Paffenweiler 1999, S. 247– 300. Geschichtsunterricht, Schulbibliotheken, Revolution, Gegenrevolution und Religionsunterricht für Dissidenten usw., 15. November 1918. In: Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen 60.1918, S. 708 – 709, hier S. 708. Geschichtsunterricht. Ministerialerlaß vom 26. Mai 1919, zit. nach: Gernert, Dörte (Hrsg.): Schulvorschriften für den Geschichtsunterricht im 19./20. Jahrhundert. Dokumente aus Preußen, Bayern, Sachsen, Thüringen und Hamburg bis 1945. Köln/Weimar/Wien 1994, S. 234.
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grifflichkeit der Kulturzeitalter knüpfte eher an Karl Lamprecht als an Karl Marx an. Die Reform des Geschichtsunterrichts fand sogar Eingang in die Reichsverfassung. Der Artikel 148 bestimmte, dass der Unterricht an allen deutschen Schulen „im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung“ erteilt werden müsse. Volkstum hat hier nicht die Bedeutung von „völkisch“, sondern von „volkstümlich“ in sozialgeschichtlichem Sinn. Das wird im ursprünglichen Entwurf der Reichsverfassung deutlich. Er forderte: „In allen Schulen ist persönliche und staatsbürgerliche Tüchtigkeit und sittliche Bildung auf deutschvolkstümlicher Grundlage zu erstreben.“⁸ Damit wurde eine alte sozialdemokratische Forderung aufgegriffen. Im Mai 1914 hatte der spätere Kultusminister Konrad Haenisch beklagt, dass im Schulunterricht das „Volkstümliche“ nicht zur Geltung komme. An seiner Stelle herrsche „öder Byzantinismus, öde Hohenzollernverherrlichung, Chauvinismus, Nationalismus der schlimmsten und verwerflichsten Art“. Als fortschrittsorientierten Gegenentwurf verlangte er die Einführung der Jugend „in die Geschichte der menschlichen Arbeit, der menschlichen Entdeckungen, der Erfindungen“.⁹ Die Forderung nach „deutsch-volkstümlicher Grundlage“ der Erziehung war also mit antimonarchistischer und völkerverbindender Absicht erhoben worden. Nach der Revolution sollte sie nun realisiert werden und künftig das Volk, sein Schaffen und Leiden, in den Mittelpunkt des Geschichtsunterrichts stellen. In diesem Sinn wirkten die im „Bund entschiedener Schulreformer“ zusammengeschlossenen Pädagogen. Eine Deutungshoheit konnten sie in der Weimarer Republik aber nie erlangen.¹⁰ Indessen bündelte „Volkstum“ in der endgültigen Formulierung des Artikels 148 unter dem Signum „deutsch“ auch Einstellungen, Verhaltensweisen und Traditionen, die eine gemeinsame Stoßrichtung gegen den Versailler Vertrag und die Republik verband.¹¹ Dennoch: Für die demokratische Linke formulierte der Artikel 148 den inhaltlichen Kern einer neuen Erziehung, deren methodische Ausrichtung Absatz 3 thematisierte mit der Forderung nach „Arbeitsunterricht“.
Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Anlagen zu den Stenographischen Berichten, Drucksache Nr. 391, Antrag Nr. 98, Art. 31,6. Zu den Einzelheiten: Bendick, Kriegserwartung und Kriegserfahrung, S. 269 – 284. Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 22. Legislaturperiode 1913/18, 2. Session 1914/15, 71. Sitzung vom 4. Mai 1914, Stenographische Berichte, Bd. 5, S. 6051. Vgl. Bernhard, Armin u. Eierdanz, Jürgen (Hrsg.): Der Bund der entschiedenen Schulreformer. Eine verdrängte Tradition demokratischer Pädagogik und Bildungspolitik. Frankfurt a. M. 1991. Vgl. Bendick, Rainer: L’esprit républicain tenu en échec. L’instruction civique dans la République de Weimar entre l’expérience de la Grande Guerre et le refus du traité de Versailles. In: Le Cartable de Clio, N° 5, 2005, S. 281– 290.
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Der Unterricht sollte nicht mehr auf den dozierenden, allwissenden Lehrer ausgerichtet sein.Vielmehr galt es die Schüler zu befähigen, selbst mit Materialien zu arbeiten und so Erkenntnisse zu gewinnen. Ein Buch, das diesen Ansatz umsetzte – die von Siegfried Kawerau 1921 herausgegeben Synoptischen Tabellen für den Geschichtsunterricht – blieb so gut wie ohne Wirkung, obwohl das preußische Kultusministerium und Reichspräsident Ebert nachdrücklich seine Einführung unterstützten. Der Geschichtsunterricht der Weimarer Republik entwickelte sich in eine ganz andere Richtung, trotz aller Versuche, die etwa vom „Bund entschiedener Schulreformer“ unternommen wurden. Getrieben von den Feinden der republikanischen Ordnung und der als unerträglich empfundenen Bedingungen des Versailles Vertrags ergingen sich die Geschichtsbücher in nationalen Schuldzuweisungen, in dem Sinne, dass das deutsche Volk als Opfer böswilliger Feinde erschien. Die verschüttete Tradition der 1918/1919 konzipierten Reformen soll der „Resonanzboden“ sein, auf dem die Darstellungen des Ersten Weltkrieges der DDR-Geschichtsbücher analysiert werden. Diese diachrone Kontextualisierung eröffnet eine Perspektive, die die Darstellungen der DDR-Bücher nicht isoliert betrachtet, sie nicht primär auf die Transmission kommunistischer Ideologie reduziert, sondern in die Tradition der Bemühungen rückt, Nationalismus und Bellizismus zu überwinden. Das wird schließlich der Betroffenheit der Zeitgenossen nach 1945 und ihren Projekten gerecht. Der Erste Weltkrieg war bis in die 1960er-Jahre eine nahe Vergangenheit, die unterrichtet wurde mit dem Anspruch „nie wieder Krieg“. Als Paul Oestreich, der bis zur Auflösung des „Bundes entschiedener Schulreformer“ 1933 dessen Vorsitzender war, im Herbst 1948 die Ehrendoktorwürde der Universität Greifswald erhielt, wurde diese Tradition beschworen. Sie sollte nun wieder aufgegriffen werden: Es kam die Nacht über Deutschland, in der Bestrebungen, die der Befreiung des Menschen dienten, mit Brutalität verhindert wurden. Seit 1945 erst ist eine neue Lage geschaffen, keine Klarheit, keine Freude aber doch eine Möglichkeit. Und Paul Oestreich lässt wieder seine Sätze hinausgehen, setzt da ein, wo er damals verstummen musste.¹²
Dieser „Resonanzboden“ der Reformprojekte der Weimarer Republik ermöglicht es, die didaktischen Szenarien, die die DDR-Bücher entwickelten, als solche zu betrachten und in ihrem historischen Zusammenhang zu analysieren, ohne dass ihr innovatives Potential sofort von Vorannahmen über ihre politische Funktionalität diskreditiert wird. Menschheitspädagogik. Paul Oestereich zum Dank. Herausgegeben von seinem Freundeskreis. Rudolstadt 1948, S. 12– 13.
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Der Rahmen: die Schulbuchproduktion und die Lehrplanvorgaben in der DDR In der DDR gab es keine verschiedenen, miteinander konkurrierenden Schulgeschichtsbücher, sondern ein Einheitslehrbuch, das, mit einer Ausnahme 1983, nur nach Lehrplanreformen umfassend verändert wurde. Die Lehrplanentwicklung für das Fach Geschichte war bis zur Einführung der zehnklassigen allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule als Einheitsschule für alle Jugendlichen im Jahr 1959 durch häufige Überarbeitungen gekennzeichnet. Danach kam es nur noch zu drei großen Lehrplanrevisionen 1965, 1969 und 1988, auf die jeweils eine Überarbeitung der Bücher folgte. Dazu kommt die Überarbeitung aus dem Jahre 1983.¹³ Somit können insgesamt fünf verschiedene Generationen von Schulgeschichtsbüchern seit den 1960er-Jahren unterschieden werden.¹⁴ Zwar waren schon mit der Lehrplanrevision von 1951 der Marxismus-Leninismus und das materialistische Geschichtsbild zur definitiven Grundlage des Geschichtsunterrichts geworden, mit der Einführung der polytechnischen Oberschule 1959 erhielt der Geschichtsunterricht aber eine institutionelle Kontinuität, die bis zum Untergang der DDR unverändert blieb. Daher beschränkt sich die vorliegende Untersuchung auf die Geschichtsbücher dieser Periode ab 1959, die sich im Selbstverständnis der DDR dadurch auszeichnete, dass sich die DDR auf dem Weg zur entwickelten sozialistischen Gesellschaft befinde.¹⁵ Mithin spiegeln diese Bücher besonders den sozialistischen Charakter der DDR. Der Erste Weltkrieg wurde am Ende der Klasse 8 behandelt, ab 1965 aber nur bis zum Herbst 1917. Klasse 9 begann mit der Oktoberrevolution. Die Lehrplanrevision von 1988 verschob die Oktoberrevolution und das Kriegsende wieder in
Vgl. zu den Einzelheiten: Mätzing, Heike Christina: Geschichte im Zeichen des historischen Materialismus. Untersuchungen zu Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht in der DDR. Studien zur internationalen Schulbuchforschung, Bd. 69. Hannover 1999, S. 269 – 274. Die Lehrbücher der fünf Lehrbuchgenerationen wurden von einem Autorenkollektiv verfasst, das eine Person leitete. Die einzelnen Lehrbücher werden hier, um den Anmerkungsapparat nicht zu überlasten, im Folgenden nur mit Kurztitel zitiert. Lehrbuch 1962 = Lehrbuch der Geschichte der 8. Klasse der Oberschule (Leiter des Autorenkollektivs: Erich Pape), Ost-Berlin 1962. – Lehrbuch 1965 = Lehrbuch für die Geschichte 8. Klasse (Leiter des Autorenkollektivs: Horst Bartel), Ost-Berlin 1965. – Lehrbuch 1969 = Geschichte. Lehrbuch für Klasse 8 (Leiter des Autorenkollektivs: Horst Bartel), Ost-Berlin 1969. – Lehrbuch 1983 = Geschichte. Lehrbuch für Klasse 8 (Leiter des Autorenkollektivs: Wolfgang Büttner), Ost-Berlin 1983. – Lehrbuch 1988 = Geschichte. Lehrbuch für Klasse 8 (Leiter des Autorenkollektivs: Wolfgang Büttner), Ost-Berlin 1988. Heitzer, Heinz u. Schmerbach, Günther: Illustrierte Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik, Ost-Berlin 1985, S. 187 ff.
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Klasse 8. Quantitativ machten die Seiten zum Ersten Weltkrieg immer etwa ein Zehntel des Umfangs der Bücher aller fünf Schulbuchgenerationen aus. Qualitativ hatte der Krieg jedoch eine erheblich größere Bedeutung. Er erschien nämlich als das notwendige Resultat des Kapitalismus, dessen Entwicklung Gegenstand der vorhergehenden Kapitel war. In den sozialistischen Ländern sei er zwar gebrochen, betonte die „Einführung“ in das Lehrbuch, um dann mahnend zu aktualisieren: „Aber auch heute ist der Kapitalismus noch eine Kraft, die die Menschheit mit Krieg und Vernichtung bedroht. Die Bändigung dieser Gesellschaftsordnung, die den Frieden und das Glück von uns allen bedroht, erfordert den Kampf der Werktätigen der ganzen Welt.“¹⁶ Der Erste Weltkrieg rechtfertigte in dieser Lesart die Existenz der DDR als eines sozialistischen Staates und lieferte die Argumente für die Auseinandersetzung mit den kapitalistischen Gegnern im Kalten Krieg.¹⁷ Diese Linie gaben die Lehrpläne vor. Sie betonten den imperialistischen Charakter des Ersten Weltkriegs, der zwangsläufig aus den Widersprüchen des Kapitalismus habe entstehen müssen und dem sich nur die revolutionäre Arbeiterklasse entgegengestellt hätte. Dabei erschien die Aggression der imperialistischen Mächte 1914 wie eine Präfigurierung des Verhaltens der imperialistischen Staaten, insbesondere der Bundesrepublik, im aktuellen Kalten Krieg, während die DDR als sozialistischer Staat den Frieden verteidige. In diesem Zusammenhang sollten die Schüler „sichere und anwendbare Kenntnisse über die militärische, ökonomische, politische und ideologische Vorbereitung des ersten Weltkriegs durch den deutschen Imperialismus […] und über den antiimperialistischen und antimilitaristischen Kampf der revolutionären deutschen Arbeiterklasse erwerben.“¹⁸ Im Zentrum der didaktischen Szenarien stand die Anwendbarkeit des erworbenen Wissens auf aktuelle politische Zusammenhänge: „Das den Schülern vermittelte Imperialismusbild muss so eindringlich werden, daß die Schüler es auf den westdeutschen Imperialismus anwenden und daß sie zur leidenschaftlichen Parteinahme und zum Kampf gegen das imperialistische System aktiviert werden.“ Der Erste Weltkrieg diente mithin der Warnung vor den kriegerischen Absichten der Imperialisten in Vergangenheit und Gegenwart und
Lehrbuch 1969, S. 9; ähnlich: Lehrbuch 1983, S. 7; Lehrbuch 1988, S. 5. Vgl. Bendick, Rainer: La Première Guerre mondiale à travers l’opposition des deux Etats allemands (1949 – 1989). Continuité et modification des images de l’ennemi dans la Guerre Froide. In: Trema. Revue trimestrielle éditée par l’IUFM de Montpellier, 2008, Nr. 29, S. 21– 31. Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik. Ministerium für Volksbildung (Hrsg.): Lehrplan Geschichte. Klasse 8, Berlin 1968, 3. Aufl., S. 40.
Didaktische Lehren aus dem Ersten Weltkrieg?
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zugleich der Mobilisierung für den Militärapparat der DDR.¹⁹ Das antimilitaristische Wirken Karl Liebknechts und der Kampf der deutschen Arbeiterklasse seien „zu nutzen, um die Schüler zur Wehrbereitschaft zu erziehen, sie zu überzeugen, daß dem militanten aggressiven Imperialismus die Bereitschaft der antiimperialistischen Kräfte zur bewaffneten Verteidigung entgegengesetzt werden muß, um ihn in die Schranken zu weisen.“²⁰ Ausdrücklich verlangte der Lehrplan: „Dabei sind alle Möglichkeiten aktueller Bezüge zur Kennzeichnung des Imperialismus der Gegenwart zu nutzen.“²¹ Die verschiedenen Lehrplangenerationen lieferten nur Varianten dieser Vorgaben. Der Erste Weltkrieg war ein Konflikt unter kapitalistischen Mächten, die eigentlichen Gegner waren aber die Imperialisten auf der einen und die revolutionäre Arbeiterbewegung auf der anderen Seiten. Insofern betrieben die Lehrpläne eine konsequente Entnationalisierung des Weltkriegs, die aber mit der Schaffung neuer, im Kontext des Kalten Krieges stets aktualisierbarer Feindbilder einherging.
Die Schulgeschichtsbücher der DDR: drei Ikonen zum Ersten Weltkrieg und die Unterrichtskonzepte der Revolution von 1918 Die Erklärungen der Kriegsursachen und die Darstellungen des Kriegsgeschehens, die das Einheitsbuch für die polytechnischen Oberschulen gab, weichen in allen Punkten von den Darstellungsmustern ab, die in der Weimarer Republik, in der Bundesrepublik oder in Frankreich dominierten. Schon darum markiert es einen deutlichen Bruch in der deutschen Schulbuchhistoriografie und die Frage drängt sich auf, ob es an die verschütteten Konzepte anknüpfte, die 1918/1919 entwickelt worden waren, um den Geschichtsunterricht zu erneuern. Nutzte es also die „Möglichkeit“, die bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Paul Oestreich beschworen wurde? Drei Abbildungen tauchen in den verschiedenen Ausgaben des Einheitsbuchs für die polytechnischen Oberschulen immer wieder auf. Sie können darum als Ikonen der DDR-Schulgeschichtsbücher gelten. Sie stellen den Kriegseintritt der
Vgl. Droit, Emmanuel: La RDA et le patriotisme à l’école: Discours, dispositif institutionnel et réception sociale (1949 – 1989). In: Alexandre, Philippe u. Schillinger, Jean (Hrsg.): Patriotes et patriotisme en Allemagne du XVIe siècle à nos jours. Nancy 2015, S. 447– 467. Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik. Ministerium für Volksbildung (Hrsg.): Lehrplan Geschichte. Klasse 8, Berlin 1968, 3.Aufl., S. 41. Lehrplan Geschichte. Klasse 8, S. 44.
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europäischen Gesellschaften, die Folgen des Krieges für die Menschen sowie dessen angebliche Profiteure dar. Inwiefern realisierten diese Didaktisierungen die Forderungen, die von Reformern 1918/1919 erhoben wurden?
Die erste Ikone: eine Karte zur Darstellung des Kriegseintritts der europäischen Gesellschaften Die verschiedenen Generationen des Einheitsbuchs bieten keine Darstellung der Julikrise, der Begriff taucht nicht einmal auf. Sie enthalten keine Übersicht der diplomatischen Notenwechsel und verzichten auf jede nationale Schuldzuweisung. Stattdessen werden die Ursachen des Weltkrieges in der ökonomischen Entwicklung des Kapitalismus gesehen. Unter der Überschrift „Die Entfesselung des Weltkriegs durch die Imperialisten“ stellt gleich der erste Satz klar: „Die ungleiche Entwicklung der kapitalistischen Staaten hatte seit der Jahrhundertwende die Gegensätze zwischen ihnen verschärft.“²² Dieser erste Satz blieb über 20 Jahre unverändert. Erst die Überarbeitung von 1983 differenzierte die Aussage, ohne ihren Kern zu verwandeln: Durch den Übergang zur Vorherrschaft der Monopole, zum imperialistischen Stadium des Kapitalismus, und durch die ungleichmäßige Entwicklung der kapitalistischen Staaten hatten sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Gegensätze zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn (Mittelmächte) einerseits und Großbritannien, Frankreich und Russland (Entente) andererseits zunehmend verschärft.²³
Dem deutschen Imperialismus kam eine besondere Rolle zu. Er sei „besonders kriegslüstern“,²⁴ „besonders aggressiv“²⁵ oder „besonders raubgierig und aggressiv“,²⁶ weil die deutschen Imperialisten bei der Verteilung der Welt zu spät gekommen seien und nun das Attentat von Sarajevo nutzten, um ihre Ziele mit Gewalt durchzusetzen. Die Verantwortung der Imperialisten, auch der deutschen, bedeutete keine Verurteilung einer Nation, sondern der Imperialisten aller Länder und damit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die den Krieg hervorgebracht habe. Das Kapitel über die „Kriegsziele der Imperialisten“ leitete der Satz ein: „Die Impe-
Lehrbuch 1965, S. 253. Lehrbuch 1983, S. 201. Lehrbuch 1965, S. 253. Lehrbuch 1969, S. 178. Lehrbuch 1983, S. 201.
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rialisten aller Länder heuchelten vor ihren Völkern, sie müssten das eigene Land vor den Angreifern verteidigen. In Wirklichkeit wollten sie alle durch den Krieg ihre imperialistischen Ziele erreichen.“²⁷ Die Ausgabe 1969 ersetzte das „sie“ im zweiten Satz durch „die herrschenden Klassen.“²⁸ Die Formulierung wurde 1983 wörtlich übernommen²⁹ und in der Ausgabe 1988 so verändert, dass nun auch die Führungen der sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien belastet wurden: Der Verzicht der opportunistischen Parteiführer auf einen entscheidenden Kampf gegen den imperialistischen Krieg, wie er am deutschen Beispiel gezeigt wurde, erleichterte es den imperialistischen Regierungen, ihre Völker in den Krieg zu stürzen. Dabei versuchte jede Regierung den Eindruck zu erwecken, sie sei zum Kriege genötigt worden, so dass es das Vaterland zu verteidigen gelte.³⁰
Die Darstellung machte „die Völker“ nicht zu Opfern eines Feindes jenseits der Grenzen, sondern zu Opfern der Profiteure der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und dann, 1988, explizit auch zu Opfern der Führungen der sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien. Neben der besonders 1988 deutlich werdenden Politisierung, die eher an Agitprop-Pamphlete erinnert als an ein Lehrbuch, charakterisieren die fast völlige Ausblendung internationaler und machtpolitischer Spannungen bzw. deren Reduzierung auf die bloße Umsetzung ökonomischer Interessengegensätze den Erklärungsansatz des Einheitslehrbuchs. Zugleich bedeuten die konsequente Entnationalisierung der Darstellung und der völlige Verzicht auf nationale Feindbilder im Vergleich zu den Darstellungen der Weimarer Republik (und auch der frühen Bundesrepublik) einen radikalen Bruch mit den apologetischen Deutungsmustern der Zwischenkriegszeit. Die „Völker“ erscheinen nicht als kriegsbegeisterte Massen, sondern als engagierte Gegner des Kriegs. Lapidar stellte das Einheitsbuch fest: „Die Völker wollten keinen Krieg“ und fuhr fort: „Auch in Deutschland protestierten viele Arbeiter und Teile der übrigen werktätigen Bevölkerung Ende Juli 1914 auf großen Kundgebungen gegen die verbrecherischen Pläne der Imperialisten.“³¹ 1969 waren es „klassenbewusste Arbeiter“,³² die die Demonstrationen anführten. 1983 erfuhren diese Aussagen eine Relativierung, indem unter Hinweis auf die Kriegspropaganda betont wurde, dass die Volksmassen auch ein unverzichtbarer
Lehrbuch 1965, S. 254. Lehrbuch 1969, S. 179. Lehrbuch 1983, S. 204. Lehrbuch 1988, S. 207 (Hervorhebung im Original). Lehrbuch 1965, S. 256. Lehrbuch 1969, S. 183.
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Teil der Kriegführung waren: „Auf die Volksmassen angewiesen, suchten die herrschenden Klassen der imperialistischen Länder die Bevölkerung durch die Entwicklung und Verbreitung einer chauvinistischen Kriegsideologie ihrer volksfeindlichen Kriegspolitik zu unterwerfen.“³³ Bürgerliche Philosophen und Gelehrte, rechte Sozialdemokraten und Gewerkschafter hätten den „imperialistischen Eroberungskrieg als Krieg zur Verteidigung der deutschen Kultur“ gerechtfertigt: „Die Volksmassen vermochten dieses raffinierte und dicht gesponnene Lügennetz, das sie umgab, zunächst nur schwer zu durchschauen.“ In dieser Darstellung von 1983 changieren die Volksmassen zwischen der Rolle der Opfer der imperialistischen Verführung und der Mitverantwortlichen am Krieg. „Angesicht der Flut der Kriegshetze“ hätten Aufrufe wie der von Albert Einstein gegen den Krieg „nur geringen Widerhall“ gefunden. Als Verführte werden die „Volksmassen“ hier indirekt zu Mitverantwortlichen am Krieg. Allerdings waren diese differenzierenden Aussagen 1988 wieder verschwunden. Sie sind daher Ausdruck der besonderen Konjunktur der Überarbeitung von 1983. Wir kommen darauf zurück. An ihre Stelle trat 1988 die oben zitierte Formulierung, die die Völker nicht zu handelnden Akteuren machte, sondern zu Objekten eines doppelten Verrats der „imperialistischen Regierungen“ und der „opportunistischen Parteiführungen“.³⁴ In allen Ausgaben fand sich eine Karte, die die Antikriegsdemonstrationen im Deutschen Reich verzeichnete (Abb.1).³⁵ Ab 1983 umfasste der Kartenausschnitt ganz Europa und zeigte die Demonstrationen in Großbritannien, Frankreich, Russland und Deutschland (Abb. 2).³⁶ Derartiges Material findet sich in keinem Geschichtsbuch der Weimarer Republik, der alten und neuen Bundesrepublik oder Frankreichs. Die dauerhafte Verankerung in allen Schulbuchgenerationen und die zentrale Funktion für das didaktische Szenario des Kapitels macht die Karte zu einer der Ikonen der DDRSchulbuchdarstellungen des Ersten Weltkriegs: Sie verkörpert die DDR-spezifische Deutung des Kriegseintritts der europäischen Gesellschaften. Die Karte initiiert einen Perspektivenwechsel: Nicht die Kanzleien und die Geheimdiplomatie, sondern die Straßen und die Menschen der industriellen Ballungsgebiete stehen im Mittelpunkt und deren Fähigkeit, solidarisch zu handeln. So wird der Eintritt der europäischen Gesellschaften in den Krieg nicht auf eine rauschhafte nationale Begeisterung reduziert, die dann irgendwann später auf den Schlachtfeldern enttäuscht wurde. Diesem Szenario folgen die Bücher der
Lehrbuch 1983, S. 206. Lehrbuch 1988, S. 207. Lehrbuch 1962, S. 235; Lehrbuch 1965, S. 257; Lehrbuch 1969, S. 184. Lehrbuch 1983, S. 209; Lehrbuch 1988, S. 206.
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Abb. 1: Karte der Antikriegsdemonstrationen in Deutschland vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Quelle: Lehrbuch der Geschichte der 8. Klasse der Oberschule (Leiter des Autorenkollektivs: Erich Pape), Ost-Berlin 1962, S. 235 Abb. 116.
Bundesrepublik, die eine Logik der Ernüchterung rekonstruieren und so vor den unvorhersehbaren Folgen und der stets desaströsen Realität militärischer Konflikte warnen wollen.³⁷ Die Antikriegsdemonstrationen Ende Juli 1914 erfahren in diesen Darstellungen so gut wie keine Würdigung. Aber immerhin fanden Ende Juli in 160 Städten insgesamt 288 Versammlungen gegen den Krieg statt. Am 28. Juli, dem Tag der österreichischen Kriegserklärung an Serbien, nahmen allein in Groß-Berlin mehr als 100.000 Menschen an Antikriegsdemonstrationen teil.³⁸
Vgl. Bendick, Rainer: Mehr als nur Kompetenzen. Der Erste Weltkrieg als Chance für einen transnationalen Geschichtsunterricht. In: Quentmeier, Manfred [u. a.] (Hrsg.): Krieg und Frieden 1914– 2014. Beiträge für den Geschichts- und Politikunterricht. Schwalbach 2014, S. 119 – 145, hier S. 121– 123. Vgl. Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd: Deutschland im Ersten Weltkrieg. Frankfurt a. M. 2013, S. 54– 56.
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Abb. 2: Karte der Antikriegsdemonstrationen in Europa vor Ausbruch der Ersten Weltkriegs. Quelle: Geschichte. Lehrbuch für Klasse 8 (Leiter des Autorenkollektivs: Wolfgang Büttner), Ost-Berlin 1983, S. 209.
Diese europaweite Bewegung wird von der Karte dokumentiert, die zahlreiche Möglichkeiten zum Einsatz im Unterricht bietet. Sie zeigt, dass gewöhnliche Menschen, sobald sie solidarisch auftreten, Akteure gegen einen drohenden Krieg sein können. Insofern setzt sie eine zentrale Forderung der Reformer aus der Weimarer Zeit um: Die Aktionen der Volksmassen stehen im Mittelpunkt mit dem erzieherischen Ziel zu zeigen, dass der Einzelne sehr wohl etwas gegen Krieg unternehmen kann. Zugleich stellt sich die Frage, warum die Menschen sich dann doch, wenige Tage später, am Krieg beteiligten. Somit gibt die Karte auch den Impuls, um nach den Motiven politischer Entscheidungen gewöhnlicher Menschen zu fragen, um ihr Verhalten zu rekonstruieren und zu verstehen. Allerdings wird diese Deutung der Intention der Karte im Kontext des DDRGeschichtsbuchs ganz und gar nicht gerecht. Die Karte dient nur in der Perspektive einer liberalen Didaktik als Impuls für couragiertes und solidarisches Engagement des Einzelnen und für kritische Fragen nach Motiven und Prozessen seiner politischen Entscheidungen. Stattdessen soll die Karte die Sozialdemokratie diskreditieren. Sie wurde in allen Generationen des Geschichtsbuchs begleitet von Berichten über den Umfang der Antikriegsdemonstrationen und den Aufruf des Parteivorstands der SPD vom 25. Juli, der mit dem Worten schloss: „Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Krieg! Hoch die internationale Völkerver-
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brüderung!“³⁹ Dem stand ein Auszug aus dem Protokoll des preußischen Staatsministeriums vom 30. Juli gegenüber, in dem Bethmann Hollweg über Gespräche mit dem SPD-Parteivorstand berichtete, in deren Verlauf ihm von Sozialdemokraten versichert worden sei, es werde keine Streiks oder Sabotageakte gegen den Krieg geben,⁴⁰ sowie ein Faksimile der Titelseite des Vorwärts vom 4. August („Die Sozialdemokratie und der Krieg“) mit der Erklärung der Reichstagsfraktion der SPD über ihre Zustimmung zu den Kriegskrediten. Mit Ausnahme der Ausgabe von 1965 wurde aber nur der Aufmacher des Artikels gebracht, ohne dessen eigentliche Argumentation wiederzugeben. Diese Quellen konfrontierten alle Ausgaben des Einheitsbuchs mit dem Manifest der Bolschewiki vom September 1914, das „die Umwandlung des gegenwärtigen imperialistischen Kriegs in den Bürgerkrieg“ forderte, damit sich das Proletariat „von der chauvinistischen Bourgeoisie losreißen“ könne, um „entschlossene Schritte zu tun auf dem Weg zur wirklichen Freiheit der Völker“.⁴¹ Ab 1969 trat noch Karl Liebknechts Rede zur Ablehnung der Kriegskredite vom Dezember 1914 hinzu.⁴² In allen Ausgaben setzten die Arbeitsaufträge die Materialien in Beziehung zur den Vorkriegskongressen der II. Internationalen: „Vergleiche die Äußerungen der deutschen sozialdemokratischen Parteiführer und die der Bolschewiki nach Ausbruch des Krieges mit den Beschlüssen von Stuttgart und Basel“.⁴³ Die Ausgabe von 1969 fügte die Frage hinzu: „Was beweist diese Karte?“⁴⁴ und spitzte den Aspekt auf die Führung der SPD zu: „Vergleiche diese Meldung des Vorwärts [vom 4. August] mit dem Aufruf vom 25. Juli 1914. Erkläre den Widerspruch!“.⁴⁵ Die Ausgabe von 1983 schärfte die Didaktisierung weiter aus: 1. Wiederhole den Inhalt der Antikriegsbeschlüsse der II. Internationalen! Was beweisen die Antikriegsdemonstrationen in Europa vor Ausbruch des ersten Weltkriegs? 2. Vergleiche den Aufruf [vom 25. Juli] mit der Erklärung des Reichskanzlers [vom 30. Juli]!⁴⁶
Lehrbuch 1962, S. 236; Lehrbuch 1965, S. 257; Lehrbuch 1969, S. 183; Lehrbuch 1983, S. 210; Lehrbuch 1988, S. 206 – 207. Lehrbuch 1962, S. 238; Lehrbuch 1965, S. 258; Lehrbuch 1969, S. 184; Lehrbuch 1983, S. 210; Lehrbuch 1988, S. 207. Lehrbuch 1962, S. 239; Lehrbuch 1965, S. 260; Lehrbuch 1969, S. 186; Lehrbuch 1983, S. 212; Lehrbuch 1988, S. 210. Lehrbuch 1969, S. 187; Lehrbuch 1983, S. 213; Lehrbuch 1988, S. 210. Lehrbuch 1962, S. 238 – 239; Lehrbuch 1965, S. 260; Lehrbuch 1969, S. 186; Lehrbuch 1983, S. 210; Lehrbuch 1988, S. 209. Lehrbuch 1969, S. 184. Lehrbuch 1969, S. 185. Lehrbuch 1983, S. 210.
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1988 wurden die Schüler aufgefordert: „Verschaffe dir anhand der Karte einen Überblick über die Antikriegsbewegung.“⁴⁷ Darauf folgten dann die Aufgabenstellungen der anderen Ausgaben. In der Logik dieses didaktischen Szenarios, das seit 1960 im Kern unverändert blieb, ist die Karte ein Schlüsseldokument, weil es die Loyalität der Massen zu den Beschlüssen der II. Internationalen inszeniert. Der Vergleich mit den verschiedenen Textquellen wird durch die Arbeitsaufträge so gesteuert, dass die Führung der Sozialdemokratie als Verräter an eben diesen Beschlüssen erscheint. Sie wird damit zum Feind der Menschen, deren Interessen sie zu vertreten vorgibt. Sie bricht den Schwung der Massen, den die Karte augenfällig dokumentiert, während die Bolschewiki und Karl Liebknecht fest und treu zu ihren Idealen und dem Engagement der Massen stehen. Die Entscheidungsprozesse der Massen werden hier nicht weiter befragt, sondern nur – wie in der Logik einer Verschwörungstheorie – auf den „Verrat“ der SPD-Führung reduziert. Das didaktische Szenario befähigt die lernenden Jugendlichen nicht, Entscheidungsprozesse historisch zu rekonstruieren und nach Handlungsoptionen zu fragen. Dazu hätte die Chronologie und Mechanik der Mobilmachungen der Großmächte und die zumindest partielle Identifikation der deutschen Arbeiter mit dem Deutschen Reich als ihrem Vaterland thematisiert werden müssen. Fritz Klein sprach diese Defizite 1986 in einem Gutachten zu dem Manuskript des 1988 schließlich eingeführten Buchs an. Die Politik der Parteiführung der SPD habe im Juli 1914 „bei vielen Sozialdemokraten natürlich Zustimmung“ gefunden. Die These vom Verrat allein könne die Entwicklung nicht erklären. Wäre es so gewesen, fragte Klein, „woher stammte dann die Kriegsbegeisterung vom August und vor allem, warum folgten die sozialdemokratischen Arbeiter mehrheitlich den ganzen Krieg hindurch und in der Novemberrevolution den rechten Führern?“⁴⁸ Kleins Bedenken fanden keine Berücksichtigung. Der Einfluss des Ministeriums für Volksbildung, das über Zulassung und Einführung der Bücher entschied, auf die Repräsentanten der DDR-Geschichtswissenschaft wird auch bei der Überarbeitung 1983 deutlich. Im Rahmen der Diskussion um Tradition und Erbe hatte sich herausgestellt, dass das Lehrbuch für Klasse 8 nicht mehr dem Erkenntnisstand der Geschichtswissenschaft der DDR entsprach, insbesondere galt das für die Rolle des Bürgertums im 19. Jahrhundert und das Verhältnis der Arbeiterschaft zum Deutschen Reich. Die von Willibald Gutsche vorgenommene Differenzierung über die Verführung der Massen „durch
Lehrbuch 1988, S. 206. Zit. nach Mätzing, Geschichte im Zeichen des historischen Materialismus, S. 370 – 371.
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die Entwicklung und Verbreitung einer chauvinistischen Kriegsideologie“⁴⁹ sollte aus dem Manuskript gestrichen werden, weil derartige Ansätze im Lehrplan nicht vorgesehen waren. Dagegen protestierte Gutsche energisch. Bei einer Streichung, „bliebe von dem, was auf Grund neuerer Erkenntnisse der marxistischen Geschichtsforschung ohnehin in kärglichem Umfang eingearbeitet wurde, fast überhaupt nichts mehr übrig.“⁵⁰ Zwar konnte Gutsche sich 1983 durchsetzen, in der Ausgabe von 1988, die den neuen Lehrplan von 1988 umsetzte, waren diese Punkte aber wieder verschwunden und die Darstellung machte – wie oben gezeigt – im Agitprop-Stil die „imperialistischen Regierungen“ und die „opportunistischen Parteiführer“ zu Verrätern. Die Möglichkeiten eines emanzipatorischen Geschichtsunterrichts, die die Karte der Antikriegsdemonstrationen bietet – eine differenzierte Einordnung und Analyse der Ereignisse, eine kritische Reflexion über Handlungsoptionen und -motive – wurden durch die Zwänge der Ideologisierung auf das Niveau einer Verschwörungstheorie gebracht.
Die zweite Ikone: die Lithografie Das Eiserne Kreuz von Heinrich Zille Das Weltkriegskapitel des Einheitsgeschichtsbuchs beschrieb das Kriegsgeschehen an den Fronten als einen Leidensweg. Soldaten wie Zivilisten waren davon betroffen. Das Buch präsentierte einen Auszug aus dem Tagebuch eines Soldaten über die Schrecken des Einsatzes, es beschrieb die Folgen des Gaskrieges, berichtete vom Vorgehen gegen Zivilisten wie im belgischen Löwen, über die Folgen der Blockade der deutschen Häfen und des deutschen U-Bootkrieges gegen feindliche Handelsschiffe. Abbildungen von zerschossenen Landschaften illustrierten ab 1969 das Kapitel. Krieg erschien hier als grausame Vernichtung menschlichen Lebens. Die Verantwortlichen und die Akteure waren aber nicht die Soldaten. Als handelnde Akteure traten Generale oder Armeen auf, aber nicht Soldaten. Stets waren die „Imperialisten“ verantwortlich. „Die Imperialisten“ kümmerten sich nicht um die internationalen Abkommen, die die Regeln der Kriegführung bestimmten. Die „deutschen Imperialisten“ waren „besonders grausam“, denn französische, belgische, polnische und russische Zivilisten „wurden erschossen“, die „englischen Imperialisten“ wollten Deutschland „aushungern“.⁵¹ Immer waren es die „Imperialisten“, von denen Elend, Tod und Ver-
Lehrbuch 1983, S. 206. Zit. nach Mätzing, Geschichte im Zeichen des historischen Materialismus, S. 376. Lehrbuch 1965, S. 265; Lehrbuch 1969, S. 189; Lehrbuch 1983, S. 215 – 216.
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nichtung ausgingen. Statt den Soldaten der Massenheere wurde die Verantwortung so der physisch wenig greifbaren Gruppe der „Imperialisten“ zugeschrieben, was zum Ausgangspunkt der im Lehrplan geforderten Aktualisierungen wurde. Der Krieg beschränkte sich nicht auf die Darstellung der militärischen Aktionen. Die Ausführungen über die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Heimat, über die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen, über die wirtschaftliche Entwicklung und die Aktionen gegen den Krieg nahmen in den Ausgaben bis 1983 stets mehr Raum ein als die Ausführungen über das militärische Geschehen. Tab. 1: Quantitatives Verhältnis der Ausführungen zum militärischen Geschehen und zur gesellschaftlichen Entwicklung in den Darstellungen des ErstenWeltkrieges Ausgabe Anzahl der Seiten zum militärischen Geschehen
Anzahl der Seiten zur gesellschaftlichen Entwicklung
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Die quantitative Verteilung zeigt, dass der Krieg als ein Ereignis erfasst wurde, das in erster Linie die Zivilgesellschaft betraf. Diese Perspektive vollzog einen Bruch gegenüber traditionellen Darstellungsgewohnheiten, die Krieg weitgehend auf militärische Aspekte reduzierte. Insofern steht das Einheitsschulbuch in der Tradition der Forderungen, die verlangten „das Volkstümliche“, das Leben und Leiden der einfachen Menschen, ihre Arbeit und Existenzbedingungen zu thematisieren. Das scheint die zweite Ikone des Einheitslehrbuchs vor der Hand zu bestätigen. Seit 1969 wurde in allen Ausgaben die 1916 entstandene Lithografie Das eiserne Kreuz von Heinrich Zille reproduziert (Abb. 3).⁵² Sie zeigt eine Mutter und ihre vier kleinen Kinder, die fassungslos auf den Orden starren, der neben der geöffneten Nachricht vom Tod des Ehemanns und Vaters auf dem Tisch liegt. Militärische Tapferkeit verliert hier ihren Sinn. Militärische Ehrerbietungen, Dienstränge und Orden wirken vor dem Hintergrund des menschlichen Verlustes geradezu zynisch. Die Lithografie drückt die Trauer und Verzweiflung aus, die der massenhafte Verlust von Vätern und Söhnen, von
Lehrbuch 1969, S. 191; Lehrbuch 1983, S. 217; Lehrbuch 1988, S. 221.
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Abb. 3: Die Lithografie Das eiserne Kreuz von Heinrich Zille im Lehrbuch aus dem Jahr 1988. Quelle: Geschichte. Lehrbuch für Klasse 8 (Leiter des Autorenkollektivs: Wolfgang Büttner), Ost-Berlin 1988, S. 221.
Brüdern und Ehemännern auslöste, und sie beschreibt zugleich militärische Tugenden als Ursachen des Elends. Jedoch geht das didaktische Szenario des Buches nicht in dieser Deutung auf. Das Kapitel, in dem die Lithografie erscheint, hat ein Lenin-Zitat als Titel: „Der Krieg als Militärzuchthaus für die Arbeiter und als Paradies für Ausbeuter“.⁵³ In der Ausgabe von 1988 heißt es knapper „Kriegselend und Kriegsprofite“.⁵⁴ Ab 1983 begleitet die Frage „Was wollte Zille mit diesem Bild ausdrücken?“⁵⁵ die Lithografie. Natürlich drückt das Bild zunächst die Trauer um den Vater und Ehemann aus und lässt das Desaster erahnen, das sein Tod für die Familie bedeutete. Ausdrücklich erklärt der Text: „Wie in allen kriegführenden Ländern, so trugen auch in Deutschland die Werktätigen die Last des Krieges. Fast jede Familie beweinte bald gefallene oder schwer verwundete Angehörige.“⁵⁶ Die Ausgabe 1988 emotionalisierte die Aussage:
Lehrbuch 1969, S. 190; Lehrbuch 1983, S. 217 (Hervorhebung im Original). Lehrbuch 1988, S. 219. Lehrbuch 1983, S. 217; Lehrbuch 1988, S. 221. Lehrbuch 1969, S. 190; Lehrbuch 1983, S. 217.
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Millionen Männer – Arbeiter, Bauern, Handwerker, Angestellte – wurden auf die Schlachtfelder geführt. Zurück blieben ihre Frauen, Mütter, Schwestern. Sie mussten nun allein für die Kinder sorgen, das Geschäft führen, hinter dem Pflug gehen, an die Werkbänke treten […]. Bei alledem lebten sie in der Ungewissheit über das Schicksal ihrer Angehörigen. Brachte der Brief von der Front das ersehnte Lebenszeichen? Enthielt er die Todesanzeige?⁵⁷
Diese Zeilen verurteilen nicht den Krieg als solchen, sondern im Kontext des Kapitels den imperialistischen Krieg. Denn es sind die „Imperialisten“, auf die die Verantwortung zurückfällt. Die Motive des militärischen Engagements des Einzelnen können in dieser Logik nur mit Zwang und Unterdrückung oder Verführung erklärt werden, die die „Imperialisten“ aus Profitgründen ausübten. Von ihnen wurden die Männer „auf die Schlachtfelder geführt“. Der Einzelne selbst hat in dieser Logik keine Entscheidung über und Verantwortung für sein Tun. Er ist nicht verantwortlich handelndes Subjekt, sondern Objekt der Manipulation durch die Imperialisten.
Die dritte Ikone: die Krupp-Karikatur von Herbert Sandberg – Vaterlandsverteidigung als Geschäft der Imperialisten Diese Deutung setzt die dritte Ikone in Szene: eine Karikatur, die zwei Kanonen mit dem Namenszug „Krupp“ zeigt, die auf einander feuern und von Soldaten in unterschiedlichen Uniformen bedient werden (Abb.4). Im Vordergrund liegen gefallene Soldaten. Ein Zitat von Alfred Krupp steht zwischen den beiden Geschützen: „Ich habe das Recht, unabhängig von der politischen Lage des eigenen Landes Geschütze zu liefern, und zwar an jeden Besteller der Welt, möge er morgen auch zu den Feinden Preußens gehören.“ Der Arbeitsauftrag verlangt von den Schülern: „Setze Dich anhand dieser Karikatur mit dem Begriff der Vaterlandverteidigung auseinander!“⁵⁸ Die Karikatur stammt von Herbert Sandberg (1908 – 1991). Sie war 1956 in dem Band Eine schöne Wirtschaft erschienen, der die „Wiederkehr“ und die „tatsächliche Machtentfaltung“ der traditionellen deutschen Konzerne in der Bun-
Lehrbuch 1988, S. 220 – 221. Lehrbuch 1962, S. 253 (noch ohne Arbeitsauftrag nur mit dem Untertitel „Krupp verkauft Waffen an Freund und Feind); Lehrbuch 1969, S. 193; Lehrbuch 1983, S. 219 (Hervorhebung im Original).
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Abb. 4: Die Karikatur von Herbert Sandberg im Lehrbuch aus dem Jahr 1983. Quelle: Geschichte. Lehrbuch für Klasse 8 (Leiter des Autorenkollektivs: Wolfgang Büttner), Ost-Berlin 1983, S. 219.
desrepublik nachweisen wollte:⁵⁹ „In Bonn regieren die Monopolisten in einer Art und Weise weiter, als hätten sie Deutschland niemals 1945 in den Abgrund gestoßen. Die große Chance von 1945 – die Enteignung der gemeingefährlichen Konzern- und Junkerfiguren – wurde nur im deutschen Osten genutzt.“⁶⁰ Gegenüber dieser Demaskierung des sogenannten Wirtschaftswunders im Westen gewann die Wirtschafts- und Sozialordnung der DDR ein positives Profil. Die einzelnen, mit Karikaturen versehenen Kapitel waren Industriellen wie Thyssen, Hoesch oder Stinnes gewidmet und eben auch Krupp, dem „Symbol des angriffslustigen deutschen Imperialismus“. Die Entflechtung des Konzerns sei nach 1945 so gestaltet worden, dass Krupp nunmehr für die NATO Rüstungsgüter herstelle und seinen „Nachkriegsmarkt“ gewaltig vergrößert habe „von Indien bis Bolivien, von Ägypten bis Kanada, von Argentinien bis Griechenland“.⁶¹ Dieser Annahme sollte die Karikatur historische Tiefe geben, indem das Zitat des Firmengründers Alfred Krupp prominent in die Zeichnung eingebracht wurde. Es steht in dem Kontext des Jahres 1866, als der preußische Kriegsminister Roon darauf hinwies, dass Geschützlieferungen von Krupp an Österreich nicht opportun seien.⁶² Die Aufnahme dieser aktuellen Karikatur aus einer Publikation, die die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik als Fortsetzung der Herrschaft der Schlotbarone denunzieren wollte, in das Schulbuchkapitel zum Ersten Weltkrieg ist Ausdruck eines doppelten Anachronismus: Das Krupp-Zitat aus dem 19. Jahr
Maumann, Georg u. Sandberg, Herbert: Eine schöne Wirtschaft. Berlin 1956, S. 10 Maumann/Sandberg, Eine schöne Wirtschaft, S. 27 Maumann/Sandberg, Eine schöne Wirtschaft, S. 46. Gall, Lothar: Krupp. Der Aufstieg eines Industrieimperiums. Berlin 2000, S. 147– 148.
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hundert, das als solches nicht kenntlich gemacht worden war, sollte nun dazu dienen, die Rüstungsunternehmer im Ersten Weltkrieg zu diskreditieren, und zugleich die Bundesrepublik treffen. Der Arbeitsauftrag im Schulbuch, der auf die Vaterlandsverteidigung abhebt, wirkt wie ein Echo des Kapitelanfangs, der erklärte, dass die Imperialisten den Krieg aus Profitstreben ausgelöst und die Völker mit der Idee der Vaterlandsverteidigung geblendet hätten. Vielleicht wurde die Karikatur darum in der Ausgabe von 1988 an den Anfang des Weltkriegskapitels platziert.⁶³ In der Logik der didaktischen Inszenierung ermöglichte sie den Schülern, das Werk der Imperialisten in Vergangenheit und Gegenwart zu demaskieren. Die Karikatur war schließlich keine Einladung zur Diskussion, sondern eine Illustration der „richtigen“ Sichtweise auf die Ereignisse. Gewiss greift sie ein zentrales Anliegen der Reformer von 1918/1919 auf, nämlich die Profiteure des Krieges zu benennen, deren ökonomische Interessen zu hinterfragen und die Vorstellung von „Vaterlandsverteidigung“ zu problematisieren. Allerdings geschieht das nur im geschlossen Rahmen eines doktrinären Marxismus-Leninismus im Kontext der ideologischen Konfrontation des Kalten Krieges. Damit wird die pazifistische Absicht ausgehöhlt, denn es geht letztlich um die Mobilisierung gegen die imperialistischen Profiteure des Krieges, die nun in der Bundesrepublik eine neue Heimstätte gefunden hätten und das Werk ihrer Vorläufer von 1914/1918 fortzusetzen drohen würden. Insofern diente die Karikatur der Mobilisierung zum Kampf gegen die Imperialisten in der Gegenwart und denunzierte die Position der Pazifisten im Weltkrieg als wirklichkeitsfremd. Ausdrücklich hieß es in der Ausgabe des Einheitslehrbuchs von 1983: Sie [die Pazifisten] lehnten jeden Krieg, auch den gerechten, ab und wandten sich gegen den revolutionären Sturz der Regierung. […] Ihre ehrlichen Bemühungen blieben erfolglos, weil die meisten von ihnen noch nicht erkannten, daß ihr zutiefst menschliches Anliegen nur verwirklicht werden konnte, wenn sie sich mit der revolutionären Arbeiterbewegung verbündeten.⁶⁴
Der Kampf gegen den imperialistischen Krieg 1914/1918 (mit dem aktualisierenden Blick auf die Gegenwart des Kalten Kriegs) und die Warnung vor pazifistischen Überzeugungen waren zwei Seiten der gleichen Medaille.⁶⁵ Mit den Zielen der Reformer von 1918/1919 hatte diese Perspektivierung nichts mehr zu tun. Deutlich wird aber die tragende Funktion, die der Erste Weltkrieg für das Lehrbuch 1988, S. 200. Lehrbuch 1983, S. 221. Vgl. Droit, Emmanuel: Frieden. In: Sabrow, Martin (Hrsg.): Erinnerungsorte der DDR. München 2009, S.152– 160.
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Selbstverständnis der DDR hatte: Im Kampf gegen den Imperialismus der Bundesrepublik verwirklichte die DDR diejenigen Ziele, für die klassenbewusste Arbeiter einst gekämpft hatten. In dem didaktischen Szenario gingen die Schilderung der Leiden, die der Krieg verursachte, die Stigmatisierung der Verantwortlichen und die Mobilisierung für den Kampf gegen die Imperialisten der Gegenwart Hand in Hand. Insofern war die Darstellung des Ersten Weltkrieges kein Anti-Kriegsunterricht, sondern in der Ablehnung des imperialistischen Krieges eine Variante der Rechtfertigung des Militärpotentials der DDR.
Welche Bedeutung? Ganz offensichtlich griff das Einheitsbuch der polytechnischen Oberschule Vorstellungen auf, die 1918/1919 entwickelt worden waren: Die Proteste gegen den Krieg, die Trauer der Hinterbliebenen, die ökonomischen Interessen betonten die Fragwürdigkeit des militärischen Engagements im Weltkrieg. Dennoch geht die Schulbuchhistoriografie der DDR nicht in dieser diachronen Perspektive auf, denn sie eignete sich zwar Forderungen der Revolutionszeit 1918/1919 an, verzerrte sie aber nach den Bedürfnissen ihrer Ideologie und verkehrte sie damit in ihr Gegenteil. Schließlich ging es nicht um die Ablehnung des Krieges an sich, sondern um die Ablehnung des Krieges der Imperialisten, was in der Situation des Kalten Krieges der militanten Mobilisierung gegen die aktuellen Imperialisten im Westen diente. Verstörend daran ist, dass der Geschichtsunterricht der DDR Materialien darbot, die für sich genommen die fortschrittlichen Tendenzen der Reformbemühungen nach 1918/1919 aufgriffen und die nationalapologetischen Tendenzen konsequent beendeten. Die Materialien wurden aber in didaktische Szenarien eingebunden, die deren Erklärwert auf das Niveau von Verschwörungstheorien herunterbrachen und sie einer radikalen, anwendungsbereiten Aktualisierung dienstbar machten. Hier tut sich eine völlig unerwartete, nicht weniger verstörende Perspektive auf. Die Lehrpläne der DDR für den Geschichtsunterricht betonten stets, dass die Schüler „sichere und anwendbare Kenntnisse“⁶⁶ erwerben sollten. Wissen sei „solide, dauerhaft und anwendungsbereit anzueignen“.⁶⁷ In dieser Perspektive Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik. Ministerium für Volksbildung (Hrsg.): Lehrplan Geschichte. Klasse 8. Berlin 1968, 3. Aufl., S. 40. Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik. Ministerium für Volksbildung (Hrsg.): Lehrplan der zehnklassigen allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule. Geschichte. Klasse 5 bis 10. Berlin 1988, S. 9.
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hatte historisches Wissen nur dann Wert, wenn es konkrete Anwendung in der Gegenwart finden konnte. Gerade gegen diese Instrumentalisierung und Verengung des Geschichtsunterrichts richteten sich stets die westdeutsche Geschichtswissenschaft und Didaktik. Ganz nach diesem Muster betonte Hans-Ulrich Wehler 1987, die Geschichtswissenschaft könne „kein direkt zweckrational verwertbares, technisch zuverlässiges Handlungswissen anbieten“, wohl aber „breites, tiefgestaffeltes Orientierungswissen“. Es mache sachkundig, schaffe Problembewusstsein, biete aber „nicht die Lösung gegenwärtiger Probleme“.⁶⁸ Der Umsetzung des historischen Lernens in konkrete „Praxis“ begegnete die westdeutsche Didaktik, nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit dem Marxismus, stets sehr skeptisch.⁶⁹ Aber gerade diese Forderung nach unmittelbar verwendbarem Wissen ist nach dem sogenannten PISA-Schock mit der Output-Orientierung in die deutschen Lehrpläne für den Geschichtsunterricht eingezogen. In Niedersachsen warnte das Kerncurriculum für die gymnasiale Oberstufe aus dem Jahr 2011, „dass Wissen träges, an spezifische Lernkontexte gebundenes Wissen bleibt, wenn es nicht aktuell und in verschiedenen Kontexten genutzt werden kann“.⁷⁰ Wissen wird hier wertlos, wenn es nicht aktuell nutzbar ist. Demgegenüber wirkt der Geschichtsunterricht der DDR wie eine Mahnung, wohin Geschichtsunterricht führen kann, der in erster Linie anwendungsorientiert – oder neudeutsch: output-orientiert – sein will.
Wehler, Hans-Ulrich: Aus der Geschichte lernen?. In: Ders.: Aus der Geschichte lernen? Essays. München 1988, S. 11– 18, hier S. 12– 13. Rohlfes, Joachim: Geschichte und ihre Didaktik. Göttingen 1986, S. 189. Riesenberger, Dieter: Geschichte und Geschichtsunterricht in der DDR. Aspekte und Tendenzen. Göttingen 1973, S. 44– 45. Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.): Kerncurriculum für das Gymnasium – gymnasiale Oberstufe, die Gesamtschule – gymnasiale Oberstufe, das Berufliche Gymnasium, das Abendgymnasium, das Kolleg. Geschichte. Hannover 2011, S. 5 – 6.
Autorenliste Prof. Dr. Rita Aldenhoff-Hübinger, Professorin für vergleichende europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder Dr. Diane Barbe, Filmwissenschaftlerin und Associate Fellow am Centre Marc Bloch in Berlin Dr. Rainer Bendick, Historiker und Bildungsreferent im Bezirksverband Braunschweig des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge Prof. Dr. Emmanuel Droit, Professor für Europäische Zeitgeschichte am Sciences Po Strasbourg/ Universität Strasbourg und Forscher am interdisziplinären Forschungsinstitut in Cultural Studies (LinCS) Dr. Francesca Fabbri, Kunsthistorikerin, Beauftragte der Universität Erfurt am Institut für Religionswissenschaft Dr. Elise Julien, Associate Professor für Zeitgeschichte am Sciences Po Lille und Forscherin am Institut de Recherches Historiques du Septentrion Dr. Norman LaPorte, Dozent am Department of Arts, Humanities and Human Sciences, Newman University, Birmingham M.A Paul Maurice, Historiker und Forscher am Institut Français des Relations Internationales (IFRI) Prof. Dr. Olaf Müller, Literaturwissenschaftler, Institut für Romanische Philologie, Philipps-Universität Marburg M.A Julian Nordhues, Historiker und Politikwissenschaftler, im öffentlichen Dienst tätig Dr. habil. Nicolas Offenstadt, Associate Professor an der Universität Paris 1 und Forscher am Institut d’histoire moderne et contemporaine M.A Marcus Schönewald, Doktorand an der Professur für Zeitgeschichte und Kultur Osteuropas, Universität Bremen Prof. Dr. Matthew Stibbe, Professor für Europäische Zeitgeschichte, Department of Arts, Social Sciences and Arts, Sheffield Hallam University Dr. Jan Vermeiren, Associate Professor in Modern German History, School of History, University of East Anglia, United Kingdom Dr. Christian Westerhoff, Historiker und Leiter der Bibliothek für Zeitgeschichte in der Württembergischen Landesbibliothek https://doi.org/10.1515/9783110710847-018
Personenverzeichnis Abusch, Alexander 199, 202, 211, 213 Adena, Adolf 42 Adenauer, Konrad 276, 279 Antkowiak, Alfred 224 f. Aragon, Louis 232 Arlt, Wolfgang 88 Artelt, Karl 18, 139 Ayçoberry, Pierre 322 Baberowski, Jörg 109 Balden, Theo 256, 350, 353 Barbusse, Henri 188, 209, 211, 223, 227 – 232, 260, 264 Barlach, Ernst 24, 260 – 262 Baseler, Werner 330 Bebel, August 43, 83, 118, 348 Becher, Johannes R. 11, 194, 208, 241 Becker, Hans 120, 129 Beiersdorf, Franz 139 f. Benjamin, Walter 27 Benser, Günter 316 Bernstein, Eduard 58 Berthold, Werner 280, 318 Bertin, Werner 241, 244, 251 Bessel, Richard 293 f. Bethmann Hollweg, Theodor von 369 Bock, Sigrid 218 f. Böhme, Helmut 286 Bösch, Frank 317 Boucabeille, Paul 61 – 63 Brandt, Susanne 240, 250 Brandt, Willy 292 f. Brauser, Wilhelm 60 – 62 Brecht, Bertolt 8, 194, 243 Bredel, Willi 79 f., 84, 87, 91, 95 f., 212 Brühl, Reinhard 304 Buat, Edmond 61 Buhot, Émile 247 Burckhardt, Jacob 358 Busch, Ernst 189 Chowanetz, Rudolf 210 Chruschtschow, Nikita 278 f., 309 https://doi.org/10.1515/9783110710847-019
Clausewitz, Carl von 158 Clemenceau, Georges 61 Conrad, Joseph 233 Corinth, Lovis 264 Correns, Carl 25 Correns, Erich 25 Cremer, Fritz 262, 350 Crozier, Joseph 65 Cwojdrak, Günter 200 Czollek, Roswitha 17 Dahlem, Franz 5 Daix, Pierre 232 Daudistel, Albert 123 f. Dawidowitsch, D. S. 94 f. Desfontaines, Henri 247 Dieckmann, Johannes 5 Dietrich, Reinhard 147, 155, 257 Dix, Otto 24, 260, 263 – 266 Doernberg, Stefan 273 Dohm, Bernhard 87 Dorgelès, Roland 236 Dorst, Klaus 8 Droz, Jacques 286 Drucker, Salo 46 Dubček, Alexander 292 Dugès, André 247 Dülffer, Jost 302 Duncker, Hermann 5, 34, 39, 44 f., 63 Duncker, Käte 50 Eberlein, Hugo 34, 64 Ebert, Friedrich 141, 360 Eckardt, Wolfgang 122, 143 f., 147 f., 150 – 155, 157, 159, 162, 164, 257 f. Egelhofer, Rudolf 140 Ehm, Wilhelm 139, 147 Eichler, Paul 19, 139 f., 143, 146 Einicke, Ludwig 90 f. Einstein, Albert 348, 366 Eisenhower, Dwight D. 279 Eisenstein, Sergei 249 Eisler, Hans 199
382
Personenverzeichnis
el-Krim Abd 106, 112 Elsner, Lothar 286, 328 – 332, 334 f., 337 f. Éluard, Paul 232 Engelberg, Ernst 279 f. Engelmann, Roger 101 Enzensberger, Hans Magnus 295 Erxleben, Charlotte 88
Günther, Egon 24, 200, 240 – 245, 247 – 250, 253 f. Gusko, Erich 244 Gutsche, Willibald 8, 10, 15 – 17, 274 f., 281 – 283, 286 – 288, 290, 293, 295, 298 f., 330, 370 f. Gysi, Klaus 264
Fair-Schulz, Axel 303 Ferhoff, Ewald 106, 111 Fetting, Hugo 125 Feuchtwanger, Lion 199 Fischer, Fritz 10, 16, 284, 286 f., 290, 292, 320 Flohr, Dieter 137, 147 Florin, Wilhelm 66, 87 Fontane, Theodor 198 Forster, E. M. 233 Förster, Wieland 263, 350 Frank, Leonhard 208 f., 211 – 213, 216 Franke, Konrad 194 f. Freitag, Walter 73 Frey, Alexander Moritz 216 f. Fricke, Dieter 318 Frölich, Paul 36 Fuchs, Eduard 60 Fühmann, Franz 199 Fulbrook, Mary 299 Fürnberg, Louis 199
Haase, Horst 215 Haenisch, Konrad 359 Hager, Kurt 88, 95, 307, 316 Hahlweg, Werner 286 Harich, Wolfgang 283, 321 Harnack, Arvid 273 Hašek, Jaroslav 196 Hass, Gerhart 292 Hauptmann, Gerhart 348 Hein, Christoph 22 Heisig, Bernhard 259, 265 – 267 Henke, Alfred 82 Henze, Siegfried 13 f. Herbert, Ulrich 199, 334 f. Hermlin, Stephan 195, 232, 234 Herrnstadt, Rudolf 100 Heuss, Theodor 193 Heym, Stefan 194, 199 Hitler, Adolf 191, 218, 343 Hobsbawm, Eric 283 Hoelz, Max 12 f. Hoffmann, Ernst 3 Hoffmann, Heinz 132, 138 f. Hoffmann, Theodor 140, 147 Hölzle, Erwin 286 Homer 199 Hondrich, Karl Otto 317 Honecker, Erich 6, 9, 95, 105, 150, 158, 259, 294, 302 Horn, Daniel 129 Hortzschansky, Günter 79, 95 f. Humboldt, Alexander von 348 Humboldt, Wilhelm von 348
Gascar, Pierre 233 Geiss, Imanuel 286, 292 Geschke, Ottomar 172 Geyer, Michael 5 Giersiepen, Elisabeth 317 Gneisenau, von August Neidhardt 158 Gollbach, Michael 188 Golßenau, Arnold Friedrich Vieth von 187, 201 Gorki, Maxim 348 Graves, Robert 188 Greiner-Mai, Herbert 218 Groehler, Olaf 298 f. Gropius, Walter 257 f. Grosfeld, Leon 330 Grotewohl, Otto 279 Gülzow, Erwin 287
Iggers, Georg
287, 303
Jacob, Mathilde 63 Jaene, Hans Dieter 77 Jahn, Günther 146
Personenverzeichnis
Janka, Walter 284 Jannasch, Lilli 291 Jaruzelski, Wojciech 294 Jastram, Jo 155, 262 Jerussalimski, Arkadi Samsonowitsch 282 f., 322 Jung, André 61 Jung, Ilse 248 Jünger, Ernst 223
277 f.,
Kant, Hermann 189 Katz, Friedrich 286 Kaulisch, Baldur 17, 286 Kautsky, Karl 141, 278, 292 Kawerau, Siegfried 360 Keller, Gottfried 198 Kershaw, Ian 2, 273 Kiesinger, Kurt Georg 292 Kirn, Paul 311 Klein, Fritz 10, 15 – 17, 83, 97, 273, 275 – 277, 281 – 293, 300 – 303, 318, 322 f., 325, 370 Klein, Wolfgang 292 Kleist, Heinrich von 348 Klemperer, Victor 230 f. Klüß, Joachim 42 Knief, Johann 93 Köbis, Albin 21, 102, 117 – 124, 126 f., 129, 131, 133 – 137, 139 – 147, 149 f., 158 f., 162 – 164, 257 f. Koeppen, Wolfgang 233 Kohl, Helmut 294 Köhler, Henning 61, 76 Köhler, Willi 212 Kollwitz, Käthe 260, 294 Kölm, Lothar 17 Köppen, Edlef 216 f. Korn, Karl 46, 48 Krupp, Alfred 374 f. Kuczynski, Jürgen 9, 27, 92, 278, 281 f., 290, 292, 295, 300, 307 – 322, 327, 329 Kurz, Rudi 12 Laffitte, Jean 232 Lamprecht, Karl 359 Lamprecht, Werner 330 Lamszus, Wilhelm 210, 217
383
Lang, Lothar 131 Latzko, Andreas 208 – 211, 217 Lauter, Gerhard 101 Léger, Fernand 260 Lehmann, Joachim 328, 331 Lehmann-Rußbüldt, Otto 291 Lehmbruck, Wilhelm 262 f. Lemke, Heinz 286, 291, 330 Lenin, Wladimir Iljitsch 21, 91, 117, 120, 141, 278, 297, 313 f., 320, 327, 338, 373 Lensch, Paul 33, 35 Liebknecht, Karl 10, 21, 24, 35, 37 – 39, 64, 66 f., 69 f., 74 f., 81, 83 f., 118, 130 f., 135, 140 f., 208, 212 f., 215, 227, 230, 239, 256, 291, 297, 304, 314, 316, 343 – 348, 350 – 353, 363, 369 f. Liebknechts, Karl 208, 212 Lindau, Rudolf 80 f., 85 – 97 Lingbeek, Piet 77 Lingner, Max 260 Lippmann, Heinz 105 Losey, Joseph 252 Luxemburg, Rosa 10, 15, 21, 31, 33 – 36, 39, 58, 64, 66 f., 69 f., 74 f., 81, 83 f., 93, 135, 141, 240, 256, 316, 343, 345, 347 f., 353 Maetzig, Kurt 84, 96, 207 Maillol, Aristide 260 Mamat, Heinz 263 Mann, Thomas 198, 236 Marchlewski, Julian 34 f. Martin du Gard, Roger 234 – 236 Marx, Karl 338, 348, 359 Maslowski, Paul 87, 95 Matern, Hermann 25 f., 88 Matisse, Henri 260 Mätzig, Kurt 141 Mau, Robert 142 Mayer, Hans 198 f. Mehring, Franz 31, 33 – 36, 39, 46, 49, 57, 66 f., 304 Meißner, Blandyna 283 Mende, Dieter 286 Meusel, Alfred 319 Meyer, Ernst 34 f., 39, 60, 93 Mielke, Erich 113
384
Personenverzeichnis
Minster, Carl 53 f. Mittenzwei, Werner 189 Mitterrand, François 294 Mommsen, Hans 287 Mommsen, Wolfgang 287 Montant, Jean-Claude 61 Moore, Henry 350 Mühsam, Erich 297 Müller, Hans-Harald 188 Müller, Horst F. 232, 236 Müller-Enbergs, Helmut 101 Naumann, Horst 79 Nichtweiss, Johannes 327 – 329, 331 f., 338 Norden, Albert 3, 11, 212 Noske, Gustav 9, 141 Ochel, Ewald 54 Oelßner, Fred 69, 87, 310 Oestreich, Paul 360, 363 Okonski, Karol 50 Ollenhauer, Erich 73 Olsen, Jon Berndt 148 Ossietzky, Carl von 193, 219 Otto, Helmut 288 Otto, Wilfriede 101 Overy, Richard 295 Panow, Alexander 146 Paterna, Erich 88 Paul, Heinz 247 Paulhan, Jean 235 Paulus, Günter 281, 286, 292 Peter, Wilhelm 106 f. Peters, Axel 353 Petzold, Joachim 15 f., 96, 274 f., 277, 282 f., 286 – 288, 290 Pfemfert, Franz 208 Pieck, Arthur 44, 52 f., 63 Pieck, Elly 52 Pieck, Wilhelm 2, 5 – 7, 31, 33 f., 37 – 48, 50 – 54, 56 – 78, 80, 83 – 85, 87, 90, 118, 129, 141, 304 Piontek, Klaus 251 Planck, Max 348 Plechanow, Georgi W. 312 Plievier, Theodor 123 f., 203, 230
Poincaré, Raymond 61 Poirier, Leon 250 Pyta, Wolfram 334 Rabbich, Heinrich 105 Rasch, Franz 126 Rascher, Max 209, 211 Rasenberger, Kurt 169 f. Reed, John 191 Regener, Leo 112 Regulski, Christoph 129 Reich-Ranicki, Marcel 195, 197 Reichpietsch, Max 21, 102, 117 – 124, 126 – 128, 130 f., 133, 135 – 137, 139 – 147, 149 f., 158 f., 162, 164, 257 f. Reichpietsch, Willy 146 f. Reimer, Luise 46 Rein, Heinz 197, 199 Reinhardt, Hedwig 46 Reisch, Günter 13, 141, 239 Reisinger, Adolf 217 Remarque, Erich Maria 188, 193, 195, 197, 204, 213, 218 f., 223 – 225 Renn, Ludwig 7, 10, 187 – 192, 194 – 205, 208, 213 f., 218, 223, 226 f., 266 Richer, Manfred 141 Rieper, Jacob 82 Rietzschel, Thomas 210 Ritter, Gerhard 280, 286, 294, 305, 318, 321 Robbe, Waltraud 317 Roon, Albrecht von 375 Rooy, Silvio van 77 Rosentreter, Robert 127, 137 Rossi, Francesco 252 Rotten, Elisabeth 291 Rudolph, Rolf 301 Ruge, Eugen 343 Rühle, Jürgen 197, 204 f. Ryder, Alexandre 247 Sabrow, Martin 6, 318, 322, 356 Sachse, Willy 128, 136 Samsonow, Konstantin 146 Sandberg, Herbert 374 Sartre, Jean-Paul 234 Schädlich, Karl-Heinz 286
Personenverzeichnis
Scharoun, Hans 171 f. Scharrer, Adam 203, 213 – 216 Scheel, Heinz 319 Scheel, Walter 292 Schellenberg, Johanna 286 Schickele, René 209 Schiefelbein, Hubert 152 Schiemann, Helmut 241 Schirdewan, Karl 74, 100 Schlumberger, Jean 235 Schmidt, Helmut 294 Schmiedel, Karl 289 Schneller, Ernst 12, 304 Scholem, Werner 65 Schönbeck, Hilde 62 Schönbeck, Willi 54, 60 f. Schörken, Rolf 356 Schreiner, Albert 285, 317 Schröder, Jürgen 97 Schröder, Karl 37 Schulz, Heinrich 41, 48 Schulze-Boysen, Harro 273 Schumann, Wolfgang 330 Schütte, Wolfgang U. 217 Sclutius, Karl Hugo 218 Seghers, Anna 189, 194 f., 199 Seydewitz, Max 104 Sitte, Willi 189, 265 Sorge, Richard 25 Stalin, Josef Wissarionowitsch 66, 309 Steffens, Walter 140 Steinbring, Hilde 60 f. Steinmetz, Max 279 Stenbock-Fermor, Alexander Graf 201 Stern, Fritz 286 Stern, Leo 279 Stibbe, Matthew 308 Stil, André 232 Stoecker, Walter 121 f. Strauß, Franz Joseph 279 Streb, Xaver 316 Streubel, Johannes 140 Strittmatter, Erwin 195 Stücklen, Daniel 37 Swierczewski, Karol 112 Tepper-Laski, Kurt von
291
385
Tessarz, Joachim 330 Tessenow, Heinz 180 Thälmann, Ernst 7, 13 f., 66, 74, 79 – 91, 94 – 96, 135, 150, 207, 239, 304, 348 Thälmann, Rosa 84, 88 Thiel, Jens 336 Thomas, Siegfried 293 Tisch, Harry 146 f., 155 Toller, Ernst 123 – 125 Toper, Pawel 207 Treitschke, Heinrich von 190 Triebel, Gustav 54, 62 Tübke, Werner 265 Ulbricht, Walter 2 f., 5, 8, 16, 71, 81, 83 – 85, 87, 92 – 94, 96 f., 100, 113 f., 117 f., 142, 154, 156 – 158, 165, 258, 281, 284, 304, 310, 316, 321 Ullrich, Helmut 210 Vailland, Roger 233 Véray, Laurent 250, 252 Victor, Walter 199 Vogelsang, Hans 140, 143 Waidanz, Gustav 263 Weber, Hellmuth 286 Weber, Willi 128 Wegmann, Paul 60 Wehler, Hans-Ulrich 378 Weitz, Eric 4 Werfel, Franz 221 Westphal, Horst 127, 137 Wiecke, Carl Wilhelm 351 Wilhelm von Preußen 31, 78 Wilson, Woodrow 235 Winkler, Gerhard 316 Winter, Elly 37, 41 Winzer, Otto 172 Wirsching, Andreas 32, 58 Wolf, Friedrich 11, 27, 123, 125 f. Wolf, Markus 104 Wollweber, Elisabeth 102 Wollweber, Ernst 5 – 7, 99 – 103, 105 – 108, 110, 113 Wünsche, Wolfgang 8
386
Personenverzeichnis
Zaisser, Elisabeth 106, 108, 112 Zaisser, Renate 106, 108 Zaisser, Wilhelm 5, 7, 13, 99 – 101, 104 – 113 Zechlin, Egmont 273, 286 f. Zetkin, Clara 34 f., 66 f., 74, 141 Zietz, Luise 120 Zille, Heinrich 371 – 373
Zimmerling, Max 95 Zimmermann, Fritz 83 Zunkel, Friedrich 333 – 335 Zweig, Arnold 24, 142, 194 f., 198 f., 203, 208 f., 213 f., 218, 223, 232, 241 – 243, 249, 253 f.