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German Pages [449] Year 2016
UMBRUCH MIT SCHLACHTENLÄRM
SIEBENBÜRGISCHES ARCHIV ARCHIV DES VEREINS FÜR SIEBENBÜRGISCHE LANDESKUNDE DRITTE FOLGE – IM AUFTRAG DES ARBEITSKREISES FÜR SIEBENBÜRGISCHE LANDESKUNDE HERAUSGEGEBEN VON HARALD ROTH UND ULRICH A. WIEN
BAND 44
UMBRUCH MIT SCHLACHTENLÄRM Siebenbürgen und der Erste Weltkrieg
Herausgegeben von Harald Heppner
2017
BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Das Siebenbürgische Archiv setzt in III. Folge die vier Bände der »Alten Folge« (1843–1850) und die 50 Bände der »Neuen Folge« (1853–1944) des »Archivs des Vereins für siebenbürgische Landeskunde« fort.
Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Postkarte „Dem Feinde Trotz!“ (um 1914/15). Bildrechte: Irmgard Sedler
© 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Carmen Kraus, Landsberg Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50516-5
I N H A LT Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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S I E B E N B ÜR G E N V O R D E M E R S T E N W E LT K R I E G Gerald V o l k m e r : Der Einfluss der Siebenbürgischen Frage auf die diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Rumänien 1914–1916 . . . . . . . . . . . . . . 9 Manfried R a u c h e n s t e i n e r : Siebenbürgen im strategischen Fokus des Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Zsolt K. L e n g y e l : Niedergang, Wiederherstellung, Neugestaltung, Zusammenbruch. Ungarische Reform- und Zukunftsentwürfe für Siebenbürgen am Vorabend und während des Ersten Weltkrieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Stephanie D a n n e b e r g : Das Verhältnis zwischen Sachsen und Rumänen in Siebenbürgen 1910–1916 . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Enikő D á c z : „Zwei Seelen fühl ich[,] ach [!] in meiner Brust“. Siebenbürgische Abgeordnete und Debatten im ungarischen Parlament 1914–1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 S I E B E N B ÜR G E N I M E R S T E N W E LT K R I E G Harald R o t h : Die Rolle der siebenbürgischen Städte im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich A. W i e n : Die Evangelische Landeskirche A. B. in den siebenbürgischen Landesteilen Ungarns während des Ersten Weltkriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingrid S c h i e l : Die siebenbürgisch-sächsischen Frauen zwischen den Fronten der Kriege 1914/18 und 1918/19 . . . . . . Irmgard und Werner S e d l e r : Zied (Veseud) – Ein Dorf im Ersten Weltkrieg 1914–1918. Fakten und Erinnerungen . . . . .
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157 197 222
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Inhalt
Frank M. S c h u s t e r : Zwischen Idylle, Abenteuer, Solidarität, Sorge und Furcht. Heltauer Flucht- und Besatzungserfahrungen 1916 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hansgeorg von K i l l y e n : Siebenbürgische Ärzte im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erika S c h n e i d e r und Eckbert S c h n e i d e r : Dr. med. Hermann Breckner (1892–1976) und seine Kriegsgefangenschaft in Sibirien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ionela Z a h a r i a : Die rumänischen Militärgeistlichen aus Siebenbürgen im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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290 312
S I E B E N B ÜR G E N N A C H D E M E R S T E N W E LT K R I E G Rudolf G r ä f : Klassenbewusstsein versus Nationalbewusstsein. Ein Banater Sozialdemokrat und das Banat der Jahre 1918/19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian K ü h r e r - W i e l a c h : „Maniu, schläfst du?“ Ethnoregionalistische Diskurse nach dem Ersten Weltkrieg an einem Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz Sz. H o r v á t h : Das Verhältnis der Siebenbürger Magyaren zu den Rumänen und Sachsen. Gefallenengedenken und Kriegserinnerung bei den Siebenbürger Ungarn 1918–1940 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernhard B ö t t c h e r : Die auf den Ersten Weltkrieg bezogenen Erinnerungskulturen bei den Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben in der Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . Markus L ö r z : Der Weltkriegszyklus im Kontext der Kriegsgrafik Ludwig Hesshaimers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rezumat (rum. Zusammenfassung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Összefoglaló (ung. Zusammenfassung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 Mitarbeiterverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437
V O RW O R T Die Geschichte des Ersten Weltkrieges allein aus der Perspektive Krieg führender Mächte (Zentralregierungen) schreiben zu wollen, ist – vom Standpunkt der Wissenschaften betrachtet – höchst fragwürdig, weil in einem solchen Fall viele Möglichkeiten der Erkenntnis ausgeklammert bleiben, die für das Verständnis einer Periode voller Umbrüche und Verwerfungen unverzichtbar sind. Daher ist es nicht nur logisch, sondern sogar zwingend, den militärischen die zivilen Facetten und den zentralmächtlichen Aspekten diejenigen der Peripherien gegenüberzustellen. Zu letzterer Kategorie zählen nicht nur alle Landesteile eines Staates, auf deren Rücken und Kosten Krieg geführt wird, sondern auch all jene Menschen, die sich Not und Kampf nicht ausgesucht haben. Zwei Faktoren des Ersten Weltkrieges haben Siebenbürgen namhaft geprägt: Zum einen war es der Umstand, dass im Land selbst Kampfhandlungen stattfanden, wodurch ein Vergleich mit Galizien, der Bukowina, dem Banat, der Vojvodina, dem Küstenland, Kärnten und Tirol möglich ist; zum anderen riefen die Ereignisse zu Ende des Jahres 1918 einen fundamentalen Szenenwechsel hervor, der nahezu alle Beteiligten überforderte. Es wäre kein Wunder, wenn sämtliche Quellen zum „Großen Krieg“ mit Siebenbürgen-Belang – aneinandergereiht – das Längenmaß von mehr als einem Kilometer Stellfläche überstiegen. Zu diesem Übermaß an auf unzählige Speicherorte verteilten historischen Zeugnissen textlicher, bildlicher und baulicher Natur kommt noch das „zentnerschwere“ Gewicht des kollektiven Gedächtnisses, bei dem die Polarität zwischen „Siegern“ und „Besiegten“ bis heute noch immer nicht gänzlich überwunden ist. Der Arbeitskreis für Siebenbürgische Landskunde hat seine Jahrestagung im Jahr 2014 unter das Motto „Erster Weltkrieg“ gestellt und am 5. und 6. September in Graz abgehalten. Der Inhalt des vorliegenden Sammelbandes deckt sich allerdings nicht mit dem Tagungsprogramm, denn der eine oder andere Text fiel für die Drucklegung aus, wogegen zusätzlich eingebrachte Forschungsergebnisse Lücken füllen. Das Opus unterscheidet sich von den meisten anderen, in den letzten Jahren flutartig erschienenen Publikationen zum Zeitalter des Ersten Weltkrieges, in dem es versucht, die Zeit vor dem Krieg, im Krieg und
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Vorwort
nach dem Krieg miteinander als thematischen Verbund zu begreifen, um den Kriegsjahren trotz aller Außergewöhnlichkeit der Begebenheiten den Übergangscharakter nicht zu nehmen. Der geschilderte Schauplatz ist mit Ausnahme zweier Texte Siebenbürgen und seine damalige Bevölkerung, doch schimmert zwischen den Zeilen noch ein zweiter „Schauplatz“ hervor, bei dem sich die Ungewissheit und die Zuversicht gegenüber der Zukunft gegenüberstehen. Dieser virtuelle „Schauplatz“ beschränkt sich allerdings nicht auf das ausgewählte territoriale Beispiel, sondern entspricht jeglicher historischen Entwicklung, die in Zeiten auffälligen Umbruchs derartige Ausblicke zulässt. Der erste Abschnitt (Siebenbürgen vor dem Ersten Weltkrieg) illustriert anhand mehrerer Beiträge anschaulich, wie das politische und mentale Räderwerk zwischen den in- und ausländischen Zeitgenossen immer mehr zu knirschen begann, weshalb es nicht erst des Attentats von Sarajevo bedurfte, dass irgendwann einmal „nichts mehr ging“, das heißt metaphorisch eine Art Stellungskrieg bereits geführt wurde, noch ehe in den Karpaten der erste echte Schuss gefallen war. Der Schwerpunkt des zweiten Abschnitts (Siebenbürgen im Ersten Weltkrieg) liegt darauf, anhand etlicher Facetten die Welt der (eher) „kleinen Leute“ zu verfolgen – der Soldaten, die eingezogen worden sind und unterschiedliche Schicksale zu erdulden hatten; der Frauen, die immer wieder entschlossen das Heft in die Hand zu nehmen hatten; der politischen Funktionäre, die im Grunde ratlos und überfordert waren; der Ärzte und Geistlichen, die halfen, so gut sie konnten. Der dritte Abschnitt (Siebenbürgen nach dem Ersten Weltkrieg) stellt die Frage in den Vordergrund, wie wenig Mittel der Orientierung nach 1918 verblieben waren und wie viel Zeit und Energie man benötigte, um sich in den ungewohnt neuen Verhältnissen zurechtzufinden. Der Dank gilt allen, die an dieser Veröffentlichung beteiligt sind – den Autorinnen und Autoren für ihre Mühewaltung an den Texten, dem Vorstand des Arbeitskreises für sein nimmermüdes Tun, das Wissen über den Karpatenraum immer von Neuem einer breiteren und zu interessierenden Öffentlichkeit zuzuführen, der die Drucklegung des Buches fördernden Dienststelle der Bundesrepublik, nicht zuletzt aber auch dem Verlag Böhlau für seine wie immer sorgfältige Betreuung. Graz, im Mai 2016
Harald Heppner
DER EINFLUSS D E R S I E B E N B ÜR G I S C H E N F R A G E A U F D I E D I P L O M AT I S C H E N B E Z I E H U N G E N Z W I S C H E N D E U T S C H L A N D , ÖS T E R R E I C H -U N G A R N U N D R U M ÄN I E N 1914–1916 Gerald V o l k m e r
Das Bündnis Rumäniens mit Deutschland und Österreich-Ungarn Mit der Ablösung Frankreichs durch Deutschland als halbhegemoniale Macht in Europa wuchs nach 1871 der Einfluss der konservativen Mächte Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland in Südosteuropa. Nachdem Rumänien auf dem Berliner Kongress die Souveränität erlangt hatte, lehnte es sich an die Habsburgermonarchie und vor allem an das Deutsche Reich an, mit denen es 1883 eine geheime Allianz einging, die sich vor allem gegen Russland und Bulgarien richtete. Diesem Bündnis trat 1888 Italien bei, das bereits seit 1882 über den Dreibund mit Berlin und Wien alliiert war1. In dieser Bündniskonstellation befand sich Rumänien auch im Sommer 1914. Damals wie auch in den drei Jahrzehnten zuvor krankte das Bündnissystem daran, dass sich Bukarest eine Allianz mit Berlin wünschte, nicht jedoch mit Wien. Bismarck hatte aber erstere von letzterer abhängig gemacht, so dass sich die schwierigen österreichisch-ungarischrumänischen Beziehungen auf das gesamte Bündnis auswirkten2. 1 Gheorghe N. C ă z a n , Şerban R ă d u l e s c u - Z o n e r : Rumänien und der Dreibund 1878–1914. Bukarest 1983 (Bibliotheca Historica Romaniae 65), S. 68–100. Zur Entstehung des Zweibundes ausführlich Jürgen A n g e l o w : Kalkül und Prestige. Der Zweibund am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Köln, Weimar, Wien 2000, S. 25–56. 2 Obwohl Bismarck eine Schlüsselstellung zukam, war er nicht bereit, ein deutschrumänisches Bündnis ohne die Beteiligung Österreich-Ungarns einzugehen: Charles J. D i e t e m a n : Austria-Hungary and the Development of Romanian Independence, 1878–1883. Ph. D. Seattle 1977, S. 162–163. Vgl. C ă z a n , R ă d u l e s c u - Z o n e r : Rumänien und der Dreibund, S. 190–191. Reuß an Bismarck, Bericht Nr. 258, Wien, 1.10.1883. In: Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871–1914. Sammlung der Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes. Hgg. Johannes L e p s i u s , Albrecht
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Gerald Volkmer
Neben handelspolitischen Spannungen, die sich zwischen 1886 und 1891 in einem erbittert geführten Zollkrieg entladen hatten, belastete vor allem die sogenannte „Siebenbürgische Frage“ immer nachhaltiger die Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien3. Als im Zuge des österreichisch-ungarischen Ausgleichs die Autonomie Siebenbürgens innerhalb des Habsburgerreiches aufgehoben und das Land integraler Bestandteil der ungarischen Reichshälfte wurde, begann sich die rumänische Nationalbewegung im östlichen Ungarn gegen die Magyarisierungsmaßnahmen der Budapester Regierung zu wehren4. Bereits Anfang der 1880er Jahre beschäftigte die Siebenbürgische Frage die Presse und die politische Klasse in Rumänien. Von der jeweiligen Opposition wurde sie als politische Waffe gegen die eigene Regierung entdeckt, indem man dem politischen Gegner vorwarf, er tue nichts, um die „Brüder jenseits der Berge“ gegen die Budapester Magyarisierungspolitik zu schützen. Die Bukarester Regierungen mussten den Spagat vollbringen, einerseits die Siebenbürger Rumänen mehr oder weniger offen zu unterstützen, andererseits auf den Bündnispartner in Wien und vor allem in Budapest Rücksicht zu nehmen5. Trotz dieser Differenzen war die österreichisch-ungarische Seite davon überzeugt, dass ein Bündnis mit Rumänien ihre Position gegenüber Russland stärke. Wien versprach sich durch eine Einbeziehung Rumäniens in den Einflussbereich der Mittelmächte auch eine wirksamere Bekämpfung sogenannter „irredentistischer“ Kreise auf dem Gebiete Rumäniens6. Die Achillesferse des Bündnisses blieb seine Geheimhaltung, auf der die rumänische Seite bestand. Sie fürchtete sich einerseits vor russischen Repressalien, andererseits rechnete sie mit massiven Protesten der frankophilen politischen Klasse und öffentlichen Meinung im eigeM e n d e l s s o h n - B a r t h o l d y , Friedrich T h i m m e . Bd. 3: Das Bismarck’sche Bündnissystem. Berlin 1927, Nr. 590. 3 Gerald V o l k m e r : Die Siebenbürgische Frage 1878–1900. Der Einfluss der rumänischen Nationalbewegung auf die diplomatischen Beziehungen zwischen ÖsterreichUngarn und Rumänien. Köln, Weimar, Wien 2004 (Studia Transylvanica 31), S. 59–124, 153–219, 255–342. 4 Keith H i t c h i n s : A Nation Affirmed. The Romanian National Movement in Transylvania, 1860–1914. Bucarest 1999, S. 111–168. 5 Diesen Spagat beherrschte vor allem der rumänische Ministerpräsident Ion C. Brătianu zwischen 1884 und 1888 meisterhaft. Vgl. V o l k m e r : Siebenbürgische Frage, S. 153–175. 6 Zu den „irredentistischen Bewegungen“ in Südosteuropa vor 1920 Marius T u r d a : Nation-States and Irredentism in the Balkans, 1890–1920. In: Statehood Before and Beyond Ethnicity. Minor States in Northern and Eastern Europe, 1600–2000. Hgg. Linas E r i k s o n a s , Leos M ü l l e r . Brussels 2005, S. 275–301. Vgl. V o l k m e r 2004, S. 106–121.
Der Einfluss der Siebenbürgischen Frage
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nen Lande. Deshalb wurde das Abkommen nur vom König und nicht vom Parlament ratifiziert. Außer einer Handvoll führender Politiker, die der König zum Gegenzeichnen des Vertragstextes benötigte, hatte niemand in Rumänien Kenntnis von diesem Bündnis7. Zunächst waren nur der 1883 amtierende nationalliberale Ministerpräsident und sein Außenminister eingeweiht. Bei der Verlängerung 1892 war der König gezwungen, die damalige konservative Regierungsspitze zu informieren. Damit hatte er in jeder der beiden großen Parteien Vertrauenspersonen, mit denen er die folgenden Vertragsverlängerungen vornehmen konnte. Bis zu den Balkankriegen 1912/13 existierte bei der obersten rumänischen Politikerschicht in der Tat ein Konsens darüber, dass das Bündnis mit den Dreibundmächten Rumänien vor Russland und Bulgarien schütze. Die rumänischen Regierungen sahen bis dahin im Dreibund die stärkste wirtschaftliche und militärische Kraft in Europa, wenngleich sie die Entstehung des französisch-russischen Bündnisses (nach 1891) und der Entente Cordiale zwischen Paris und London (1904) aufmerksam verfolgten8. Frankophile Kreise Rumäniens sahen im neuen französisch-russischen Bündnis ein zunehmendes französisches Engagement im östlichen Europa und damit eine Alternative zum Dreibund. Den Realpolitikern in Bukarest entging jedoch nicht die weiterhin reservierte Haltung Frankreichs gegenüber Rumänien. Einige fürchteten gar, Frankreich lasse Russland auf dem Balkan freie Hand, um einen Revanchekrieg gegen 7 Außer König Karl I. sollen auf der rumänischen Seite nur Ministerpräsident Ion C. Brătianu, Außenminister Dimitrie A. Sturdza, der rumänische Gesandte in Wien, Petre P. Carp sowie der erste Legationssekretär der rumänischen Gesandtschaft in Berlin, Alexander Beldiman, in den Inhalt des Vertrages eingeweiht gewesen sein: Bülow an Caprivi, Bukarest, 27. Februar 1891. In: Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871–1914. Sammlung der Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes. Hgg. Johannes L e p s i u s , Albrecht M e n d e l s s o h n - B a r t h o l d y , Friedrich T h i m m e . Bd. 7/I: Die Anfänge des Neuen Kurses. Der Russische Draht. Berlin 1927, Nr. 1464. Die Geheimhaltung machte eine Ratifizierung des Vertrages durch die Parlamente von vornherein unmöglich. Während in Deutschland und Österreich-Ungarn die Ratifizierung völkerrechtlicher Verträge mehr oder weniger ausschließlich ein Recht der Krone war, musste das rumänische Parlament laut Verfassung „Handels-, Schiffahrts- und andere Verträge derselben Natur“ selbst ratifizieren. Brătianu stellte sich auf den Standpunkt, der König könne den Bündnisvertrag allein ratifizieren, da militärische und politische Verträge in der Verfassung nicht eigens erwähnt waren. Gewissermaßen als Ersatz für die Ratifizierung durch das Parlament zeichnete Außenminister Sturdza den Vertrag gegen, obwohl er manche Zweifel an der Rechtsgültigkeit des Abkommens hegte. Vgl. Udo H a u p t : Die Rumänienpolitik Deutschlands und Österreich-Ungarns vom Rücktritt Bismarcks bis zum Ausbruch des ersten Balkankrieges (1890–1912). Diss. phil. Würzburg 1976, S. 14. 8 Nicolae C i a c h i r : Marile Puteri și România (1856–1947) [Die Großmächte und Rumänien (1856–1947)]. București 1996, S. 132–133.
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Deutschland führen zu können9. Die Hoffnungen auf der deutschen und österreichisch-ungarischen Seite, durch die Einbeziehung Italiens in das Bündnis Rumänien enger an den Dreibund heranzuführen, erfüllten sich nur rudimentär. Aufgrund seines geringen wirtschaftlichen und militärischen Gewichts genoss Italien in den Bukarester Regierungskreisen keine außergewöhnliche Wertschätzung, obwohl sich im 19. Jahrhundert mehrere Berührungspunkte zwischen der rumänischen und der italienischen Nationalbewegung ergeben hatten10. Vor allem die Balkankrise von 1908 führte zu einem neuerlichen Anschwellen irredentistischer Strömungen, sowohl in Italien als auch in Rumänien, die bis zum Ersten Weltkrieg stetig an Einfluss gewannen. Ähnlich wie in Italien erodierte in den Kreisen der rumänischen Eliten – hier vor dem Hintergrund der Siebenbürgischen Frage – die Akzeptanz des Bündnisses mit Berlin und Wien11. Diese Spannungen waren maßgeblich dafür verantwortlich, dass sich Rumänien nach dem Vorbild Italiens beim Ausbruch des Krieges im August 1914 als neutral erklärte. Dies geschah am 3. August in einer spektakulären Sitzung des Kronrates, in der alle maßgeblichen Akteure der rumänischen Politik
9 Sowohl der rumänische Außenminister Constantin Esarcu als auch sein Vorgänger Alexandru Lahovary befürchteten – bei allen zugegebenen Sympathien für Frankreich – eine Preisgabe Rumäniens für das linke Rheinufer. Auch der ehemalige nationalliberale Außenminister Sturdza verteidigte anlässlich des französischen Flottenbesuchs im russischen Kronstadt die Notwendigkeit einer festen Anbindung Rumäniens an die Mittelmächte in der rumänischen Presse: Bülow an Caprivi, Bericht Nr. 96, Sinaia, 11. August 1891. In: Die Große Politik, Bd. 7/I, Nr. 1473. 10 Gerald V o l k m e r : Italiens „Risorgimento“ und Rumäniens „Marea Unire“: Berührungspunkte zweier Nationalbewegungen im langen 19. Jahrhundert. In: 150 Jahre einiges Italien. Hgg. Massimo M i n e l l i , Rainer S c h l ö s s e r . München 2012 (Jenaer Beiträge zur Romanistik 1), S. 203–226. Vgl. Laura O n c e s c u : Relațiile României cu Italia în anii 1878–1914 [Die Beziehungen Rumäniens zu Italien in den Jahren 1878–1914]. Târgoviște 2011, S. 89–124. Vgl. Ştefan D e l u r e a n u : Italia și România spre unitatea națională. Un secol de istorie paralelă (1820–1920) [Italien und Rumänien auf dem Weg zur nationalen Einheit. Ein Jahrhundert der parallelen Geschichte (1820–1920). București 2010, S. 199–212. Nachdem mehrere irredentistische Zwischenfälle 1882–1883 das junge österreichisch-ungarisch-italienische Bundesverhältnis belastet hatten, ging die Regierung in Rom 1883/84 entschieden und erfolgreich gegen die irredentistischen Strömungen in Italien vor. Dennoch kam es auch in den darauffolgenden Jahren zu regelmäßigen Beschwerden der österreichisch-ungarischen Seite über irredentistische Manifestationen in Italien. Holger A f f l e r b a c h : Der Dreibund. Europäische Großmacht- und Allianzpolitik vor dem Ersten Weltkrieg. Wien, Köln, Weimar 2002 (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 92), S. 108–123, 135–137. 11 Zum Einfluss der Bosnischen Krise auf das Verhältnis zwischen Rumänien und dem Dreibund: C ă z a n , R ă d u l e s c u - Z o n e r : Rumänien und der Dreibund, S. 178–205.
Der Einfluss der Siebenbürgischen Frage
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zu Wort kamen12. Dabei wurde deutlich, dass anhand der Frage, ob Rumänien an der Seite der Mittelmächte in den Krieg eintreten sollte, durch beide großen politischen Lager Rumäniens ein Spalt verlief.
Außenpolitische Orientierungsmuster Rumäniens Das erste Lager sammelte sich in der Nationalliberalen Partei, die vor allem die Kleinbojaren und das Bürgertum vertrat. Seit 1909 stand an ihrer Spitze Ion I. C. Brătianu (1864–1927), der seit Januar 1914 auch als rumänischer Ministerpräsident amtierte. Wie sein Vater, der Rumänien 1878 maßgeblich in die Unabhängigkeit geführt hatte, bevorzugte er eine enge Anbindung an Frankreich, hielt jedoch an dem von seinem Vater aus pragmatischen Gründen geschlossenen Bündnisvertrag mit dem Dreibund fest, solange keine vergleichbare Allianz die Sicherheit Rumäniens garantieren konnte; u. a. aus diesem Grund plädierte er am 3. August 1914 für die Neutralität Rumäniens. Anhänger des Dreibundes innerhalb der Nationalliberalen Partei, wie der greise ehemalige Ministerpräsident Dimitrie A. Sturdza (1833–1914), waren nicht in der Sitzung des Kronrates vertreten13. Diese unterschiedlichen außenpolitischen Richtungen weisen darauf hin, dass die Nationalliberalen – ebenso wie die zweite große politische Kraft vor dem Ersten Weltkrieg, die Konservativen – keine Programmpartei im westlichen Sinne waren. Die Parteien hatten keine klaren Strukturen und keinen geregelten Instanzenzug, sondern stellten eher eine lockere Ansammlung verschiedener Führungszirkel dar, die in einzelnen Politikbereichen gegensätzliche Ansichten vertreten konnten. Die außenpolitische Haltung der beiden großen Parteien unterschied sich deshalb vor allem in der Frage, ob sie sich an der
12 Ausführlich zur Kronratssitzung Anastasie I o r d a c h e : Reorientarea politică a României și neutralitatea armată 1914–1916 [Die politische Umorientierung Rumäniens und die bewaffnete Neutralität 1914–1916]. București 1998, S. 100–109. 13 Lucian B o i a : „Germanofilii“. Elita intelectuală românească în anii Primului Război Mondial [Die „Deutschfreundlichen“. Die rumänische intellektuelle Elite in den Jahren des Ersten Weltkriegs]. București 32014, S. 41–42. Sturdza führte die Nationalliberale Partei von 1892 bis 1909 und war aufgrund seiner Erziehung und seines in Deutschland absolvierten Studiums grundsätzlich germanophil eingestellt. Aus parteipolitischen Gründen profilierte er sich nach der Übernahme des Parteivorsitzes als scharfer Gegner Österreich-Ungarns, um die Siebenbürgische Frage als Waffe gegen die konservative Regierung in Bukarest einsetzen zu können. Nach seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten 1895 wurde er sozusagen über Nacht zum treuesten Anhänger der Mittelmächte. V o l k m e r : Siebenbürgische Frage, S. 260–272, 319–330.
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Regierung oder in der Opposition befanden. Entscheidend war dabei, welche innerparteiliche Strömung gerade dominierte14. Nicht weniger heterogen präsentierten sich die Konservativen, die aus einer Gruppe von Großbojaren hervorgegangen waren. Eine frankophile Fraktion sammelte sich um Take Ionescu und Nicolae Filipescu. Ionescu hatte die Konservativen bereits 1908 verlassen und die Konservativ-Demokratische Partei gegründet. Filipescu führte den Entente-freundlichen Parteiflügel und gehörte nach 1914 zu den wirkmächtigsten Anwälten eines Kriegseintritts Rumäniens an der Seite der Entente15. Dieser konservativen Gruppierung stand die sogenannte „Junge Rechte“ gegenüber, die aus dem 1863 in Jassy (Iași) gegründeten literarisch-philosophischen Kreis „Junimea“ hervorgegangen war. Geführt von Petre P. Carp (1837–1919) und Titu Maiorescu (1840–1917) entwickelte sie sich zu jener politischen Fraktion in der Konservativen Partei, die Deutschland am nächsten stand. Obwohl sie in der Bevölkerung kaum Rückhalt besaß, konnte sie aufgrund ihrer in Deutschland ausgebildeten herausragenden Führungspersönlichkeiten einen nachhaltigen Einfluss auf das kulturelle und politische Leben Rumäniens ausüben. Dem Junimea-Kreis gehörten auch der alte Parteivorsitzende Theodor Rosetti (1837–1923) sowie Alexandru Marghiloman (1854–1925) an, der die Konservative Partei seit Juni 1914 leitete16. Obwohl beide überzeugte Anhänger Deutschlands waren, plädierten sie im Kronrat für eine neutrale Haltung Rumäniens, auch weil insbesondere Marghiloman die schwierige Aufgabe erfüllen musste, die auseinanderstrebenden Flügel seiner Partei zusammenzuhalten. Im Kronrat stimmten nur König Karl und Petre P. Carp mit dem Verweis auf den existierenden Bündnisvertrag und eine sich daraus ergebende moralische Verpflichtung für einen sofortigen Kriegseintritt an der Seite der Mittelmächte. Die in der Kronratssitzung nicht erörterte, aber in den Köpfen der Anwesenden omnipräsente Siebenbürgische Frage wurde nur von Petre P. Carp offen angesprochen, indem er bemerkte, dass die Lage der Siebenbürger Rumänen in Rumänien als besorgniserregend 14 Lothar M a i e r : Rumänien auf dem Weg zur Unabhängigkeitserklärung 1866–1877. Schein und Wirklichkeit liberaler Verfassung und staatlicher Souveränität. München 1989 (Südosteuropäische Arbeiten 88), S. 73–84. Vgl. Jochen S c h m i d t : Dakoromanismus vor 1918. Nationalbewegung und Parteienbildung in Rumänien. In: Südost-Forschungen 54 (1995), S. 161–200, hier 175–176, 198. 15 Teodor P a v e l : Mișcarea românilor pentru unitate națională și diplomația Puterilor Centrale (1894–1914) [Die Bewegung der Rumänen für nationale Einheit und die Diplomatie der Mittelmächte (1894–1914)]. Timișoara 1982, S. 118–126. Vgl. B o i a : Germanofilii, S. 40–41. 16 Zum Kreis „Junimea“ ausführlich Keith H i t c h i n s : România 1866–1947. Bucarest 1998, S. 68–78. Vgl. B o i a : Germanofilii, S. 42–43.
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wahrgenommen werde. Dann fragte er aber in die Runde: „Haben die Siebenbürger Rumänen etwa den Wunsch geäußert, eingegliedert zu werden?“17 Die Anhänger Deutschlands, allen voran der alte König, fürchteten im Falle eines Sieges der Entente ein übermächtiges Russland, das Rumänien wie vor 1848 bevormunden könnte. Sie waren von der wirtschaftlichen und militärischen Vormachtstellung Deutschlands auf dem Kontinent überzeugt und erwarteten deshalb den Sieg der Mittelmächte. Vorzeigbare militärische Erfolge Berlins und Wiens erhofften sie auch, weil nur auf diese Weise die insbesondere seit den Balkankriegen antiösterreich-ungarisch eingestellte Öffentlichkeit Rumäniens (insbesondere die Presse) für ein Zusammengehen mit den Mittelmächten zu gewinnen gewesen wäre. Auf diese Weise hätte auch ein zentrales Kriegsziel, die Rückeroberung Bessarabiens von Russland, erreicht werden können. Sie befürchteten, dass Rumänien im Falle einer dauerhaft neutralen Haltung bei zukünftigen Friedensverhandlungen leer ausgehen würde18. Mit Ausnahme des Königs und Petre P. Carps sprachen sich alle Mitglieder des Kronrates für die Neutralität aus. Ministerpräsident Brătianu kam es sehr gelegen, dass während der Kronratssitzung die Neutralitätserklärung Italiens verlesen wurde19. Die Anhänger einer vorläufigen Neutralität, die aber grundsätzlich einen Kriegseintritt an der Seite der Entente-Mächte bevorzugten, befürchteten für den Fall eines Sieges der Mittelmächte eine verstärkte Magyarisierung der Siebenbürger Rumänen und eine zu große Dominanz Deutschlands. Darüber hinaus fürchteten sie das Aufkommen revolutionärer Bewegungen, sollte gegen den Willen der öffentlichen Meinung ein Krieg im Bund mit den Mittelmächten riskiert werden. Sie bezweckten so lange abzuwarten, bis erkennbar sei, welches der beiden Weltkriegslager die besten Chancen auf den Sieg haben werde. Obwohl sie von der Stärke Deutschlands beeindruckt waren, erwarteten sie dennoch, dass sich die quantitative Übermacht der Entente langfristig durchsetzen werde. Dadurch erhofften sie sich – im Falle eines Auseinanderbrechens der Habsburgermonarchie – die Annexion sämtlicher mehrheitlich von Rumänen bewohnten Gebiete Ostungarns, einschließlich Siebenbürgens20. 17
I o r d a c h e : Reorientarea politică, S. 103. B o i a : Germanofilii, S. 42–45. Vgl. den Bericht Czernins an Berchtold vom 6. August 1914 in: Österreichisch-ungarisches Rotbuch. Diplomatische Aktenstücke betreffend die Beziehungen Österreich-Ungarns zu Rumänien in der Zeit vom 22. Juli 1914 bis 27. August 1916. Wien 1916, S. 4–5. 19 I o r d a c h e : Reorientarea politică, S. 106, 115. 20 B o i a : Germanofilii, S. 59–70. Vgl. Lucian B o i a : Primul Război Mondial. Controverse, paradoxuri, reinterpretări [Der Erste Weltkrieg. Kontroversen, Widersprüchlichkeiten, Neuinterpretationen]. București 2014, S. 67–72. 18
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Als Bukarest seinen Verbündeten die Entscheidung für den Neutralitätsstatus bekanntgab, argumentierte die rumänische Regierung, dass der geheime Bündnisvertrag Rumänien nicht zu einem Kriegseintritt zwinge, da Österreich-Ungarn nicht angegriffen worden sei, sondern vielmehr selbst Serbien den Krieg erklärt habe. Gegenüber dem österreichisch-ungarischen Gesandten in Bukarest, Ottokar Graf Czernin von und zu Chudenitz, betonte der rumänische Ministerpräsident, dass er bereits 1913, als Czernin seinen Posten angetreten hatte, diesem deutlich gemacht habe, dass Rumänien ohne Konzessionen der ungarischen Regierung gegenüber den Siebenbürger Rumänen den aus dem Bündnisvertrag resultierenden Verpflichtungen unmöglich nachkommen könne21. Seine Lage nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs fasste König Karl I. in einem Brief an Kaiser Wilhelm II. zusammen. Kurz nach der Neutralitätserklärung Rumäniens schrieb der rumänische König: „Augenblicklich ist die Stimmung derartig erregt, dass es schwierig ist, mein Land vom Nutzen und der Bedeutung unseres Eingreifens zu überzeugen. Es ist weniger die Siebenbürgische Frage als die österreichische Politik des letzten Jahres, die hier in missliebigster Weise ausgebeutet wird. Eine zum Theil hochbezahlte Presse beschuldigt Österreich, den Bucarester Vertrag zerstören zu wollen und die von uns errungenen Erfolge zu vernichten. Nebenbei werden die französischen Sympathien in’s Feld geführt, was aber weniger Einfluss hat. All diese Hindernisse wären schließlich zu überwinden wenn ich eine Regierung finden könnte, die sich bereit erklärt, meine Politik mit allen mir zu Gebot stehenden Mitteln durchzuführen. Ich werde jetzt alles daran setzen, um der unvernünftigen Strömung einen Damm entgegen zu setzen, dafür bedarf es aber Zeit und Geld. Es ist mir bereits gelungen, eine kleine Zahl von politischen Männern zu gewinnen, was aber nicht genügt, um die mächtig aufwallende öffentliche Meinung umzustimmen. Mein Soldatenherz jubelt bei jeder Nachricht über die grossartigen Siege, die unter Deiner weitsichtigen Leitung errungen wurden und die einzig in der Geschichte dastehen werden.“22 Nach dem Beschluss des Kronrates richteten sich insbesondere die Blicke der deutschfreundlichen Politiker, auch jener, die sich vorerst für die Neutralität ausgesprochen hatten, auf den europäischen Kriegsschauplatz. Sie hofften, durch schnelle militärische Erfolge der Mittelmächte einen Stimmungsumschwung in Rumänien herbeiführen 21
I o r d a c h e : Reorientarea politică, S. 111. König Karl I. an Kaiser Wilhelm II., Sinaia, 4.9.1914. In: Arhiva Națională Istorică Centrală București, Casa Regală [Zentrales Historisches Nationalarchiv Bukarest, Königshaus], Dosar 57/1914, fol. 1. 22
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zu können. Das Gegenteil trat jedoch ein. Mit dem Ende des deutschen Vormarsches im Westen nach der verlorenen Marne-Schlacht und dem Beginn des Stellungskrieges sowie nach den ersten Niederlagen der österreichisch-ungarischen Armee in Galizien und Serbien wurde deutlich, dass es keine schnelle Entscheidung des Krieges geben werde23. Fast zeitgleich verschlechterte sich der Gesundheitszustand des greisen rumänischen Königs, der unter den Vorhaltungen des österreichisch-ungarischen und des deutschen Gesandten sehr litt, er habe sein Geburtsland Deutschland und seinen persönlichen Freund, Kaiser Franz Joseph, im Stich gelassen. Nach 48-jähriger Herrschaft verstarb am 10. Oktober 1914 König Karl von Rumänien und damit der einflussreichste und mächtigste Akteur der rumänischen Politik, der für einen Kriegseintritt an der Seite Deutschlands geworben hatte24. Nach dem Tod des Königs erklärte sein Neffe und Nachfolger, Ferdinand, an der Neutralität Rumäniens festhalten zu wollen. Damit unterwarf er sich nicht nur dem Votum des Kronrates, sondern überließ die politische Initiative ganz seinem Ministerpräsidenten und der neuen Königin Maria, einer Enkelin der britischen Königin Viktoria. Die energische Maria versuchte auf ihren eher zurückhaltenden Mann politischen Einfluss auszuüben und durch regelmäßige Gespräche mit den französischen und britischen Gesandten in Bukarest einen Kriegseintritt Rumäniens an der Seite der Entente vorzubereiten25. Kurz vor dem Tod des alten Königs hatte Ministerpräsident Brătianu am 23. September 1914 eine geheime Vereinbarung mit Italien ausgehandelt, die vorsah, dass Italien und Rumänien, die sich in einer vergleichbaren bündnispolitischen Konstellation befanden, ihre zukünftigen Haltungen im Krieg eng miteinander abstimmen und gegebenenfalls den Neutralitätsstatus nur nach vorherigen Konsultationen mit der jeweils anderen Seite aufgeben sollten26. Darüber hinaus schloss Brătianu am 1. Oktober 1914 23
Ausführlich B o i a : Germanofilii, S. 69–77. I o r d a c h e : Reorientarea politică, S. 130–132. Vgl. C i a c h i r : Marile Puteri, S. 169–170. 25 Diana F o t e s c u : Regina Maria și războiul de întregire națională [Königin Maria und der nationale Einigungskrieg]. In: Romania during the World War I Era. Hg. Kurt W. T r e p t o w . Iași, Oxford, Portland 1999, S. 57–76. Vgl. Dumitru S u c i u : Monarhia și făurirea României Mari 1866–1918 [Die Monarchie und die Erschaffung Großrumäniens 1866–1918]. București 1997, S. 161–171. Vgl. Cornelius R. Z a c h : Rumänische Monarchie und politische Eliten. Anpassungs- und Kooperationsstrategien der Dynastie in Krisenzeiten. In: Die Hohenzollern in Rumänien 1866–1947. Eine monarchische Herrschaftsordnung im europäischen Kontext. Hgg. Edda B i n d e r - I i j i m a , HeinzDietrich L ö w e , Gerald V o l k m e r . Köln, Weimar, Wien 2010 (Studia Transylvanica 41), S. 41–54, hier 46–47. 26 Zum Abkommen mit Italien siehe I o r d a c h e : Reorientarea politică, S. 124–126. 24
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eine geheime Konvention mit Russland ab, in der das Zarenreich – im Gegenzug für die Neutralitätserklärung Rumäniens – dessen Anspruch auf Siebenbürgen anerkannte27.
Die außenpolitischen Akteure der Mittelmächte und die Siebenbürgische Frage Unmittelbar nachdem Deutschland von der Neutralitätserklärung Rumäniens in Kenntnis gesetzt worden war, machte der deutsche Gesandte in Bukarest, Julius von Waldthausen, deutlich, dass Berlin Rumänien weiterhin als Verbündeten betrachte und eine enge Zusammenarbeit erwarte28. Die Reichsregierung und die deutschen Diplomaten fürchteten nicht ohne Grund eine Hinwendung der beiden „lateinischen“ Verbündeten zur Entente und drängte den österreichisch-ungarischen Partner dazu, schnell und deutlich zu zeigen, auf welchen Feldern er Italien und Rumänien entgegenkommen könnte. Da die sogenannte Nationale Frage im Vordergrund stand, reichten die Forderungen von einer Zuerkennung von Autonomierechten für die italienischen und rumänischen Minderheiten in der Habsburgermonarchie bis hin zu Gebietsabtretungen um den Preis eines Kriegseintritts der beiden Staaten. Die diskutierten Gebietsabtretungen betrafen vor allem die österreichische Reichshälfte mit Südtirol (Trentino) und der südlichen Bukowina, während sich die Forderung nach Gewährung politischer Konzessionen an die Nationalbewegungen vor allem an die ungarische Reichshälfte richtete, in der drei Millionen Rumänen lebten29. Sollte in diesen Bereichen ein deutliches Entgegenkommen Wiens und Budapests zu erkennen sein, erwartete Berlin eine Erfüllung der Bündnispflichten durch Rom und Bukarest, wodurch die Hoffnung auf einen baldigen Sieg an der französischen wie an der russischen Front begründet erschien. Auch Generalfeldmarschall Paul von Beneckendorff und von Hindenburg, damals Oberbefehlshaber der deutschen Truppen an der Ostfront, forderte von den deutschen Diplomaten eine unverzügliche Intervention bei der ungarischen Regierung, die den siebenbürgischen Rumänen alle Rechte einräumen solle, die nötig seien, um den Kriegseintritt Rumäniens an der Seite der Mittelmächte zu ermöglichen30. 27
Zum Abkommen mit Russland vgl. ebenda, S. 120–123, 126–130. Ebenda, S. 112–115. 29 Insbesondere der k. u. k. Gesandte in Bukarest, Czernin, empfahl Wien die beiden territorialen Zugeständnisse an Italien und Rumänien. Gary W. S h a n a f e l t : Activism and Inertia: Ottokar Czernin’s Mission to Romania, 1913–1916. In: Austrian History Yearbook XIX–XX (1983–1984), S. 189–214, hier 206–207. 30 I o r d a c h e : Reorientarea politică, S. 149, 153. 28
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Die Einschätzungen der deutschen Reichsregierung deckten sich zu einem großen Teil mit jenen des österreichisch-ungarischen Außensowie des Kriegsministeriums. Die Entfremdung Rumäniens von Österreich-Ungarn aufgrund der Siebenbürgischen Frage und der österreichisch-ungarisch-bulgarischen Entente in den Balkankriegen hatte schon im März 1914 zur Überzeugung Kaiser Franz Josephs und dessen k. u. k. Regierung geführt, dass aufgrund der starken antiösterreichisch-ungarischen Stimmung Rumänien als Bündnispartner verloren sei31. Sowohl der k. u. k. Außenminister, Graf Leopold Berchtold von und zu Ungarschitz, als auch der k. u. k. Generalstabschef Franz Freiherr Conrad von Hötzendorf wie der k. u. k. Gesandte in Bukarest, Ottokar Graf Czernin32 sahen vor allem die ungarische Regierung in der Pflicht, durch die Gewährung von Autonomierechten an die Siebenbürger Rumänen Bukarest entgegenzukommen und damit den prodeutschen und proösterreichischen Kräften die Möglichkeit zu bieten, einen Kriegseintritt Rumäniens durchzusetzen. Bereits vor Kriegsausbruch setzte sich Czernin für das Gelingen der Verhandlungen zwischen der ungarischen Regierung und den Vertretern der rumänischen Nationalbewegung in Ungarn ein. Aus seiner Sicht sollten die Forderungen der Rumänen erfüllt werden, um das Verhältnis der Monarchie zu Rumänien zu entspannen, aber nicht in vollem Umfang, weil Czernin in diesem Fall eine Identifikation der Siebenbürger Rumänen mit dem ungarischen Staat befürchtete, so dass sie nicht mehr als Verbündete im Kampf des Thronfolgers Franz Ferdinand für eine föderale Umgestaltung der gesamten Habsburgermonarchie zur Verfügung gestanden hätten33. Obwohl Czernin aufgrund eines Interviews, das er der Budapester Zeitung „Az Est“ Ende Januar 1914 gegeben und in dem er viele Forderungen der Siebenbürger Rumänen als gerechtfertigt bezeichnet hatte, fast seinen Gesandtenposten wegen der in Budapest ausgelösten Proteste verloren hatte, gelang es ihm, mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Tisza nach der Ermordung Franz Ferdinands enge Beziehungen zu unterhalten34. Stephan Tisza Graf von Borosjenő und Szeged hatte nach Kriegsausbruch mit der Neutralitätserklärung Rumäniens gerechnet und 31
H a u p t : Rumänienpolitik, S. 353–355. Czernin war Mitglied des österreichischen Herrenhauses und gehörte zum sogenannten „Belvedere-Kreis“ um den Thronfolger Franz Ferdinand, der ihn im November 1913 gebeten hatte, die Leitung des Bukarester Gesandtschaftspostens zu übernehmen, der u. a. wegen der Balkankriege und der Siebenbürgischen Frage als besonders schwierig und bedeutsam für die Monarchie galt. S h a n a f e l t : Ottokar Czernin, S. 191–194. 33 Ebenda, S. 196–197. 34 Ebenda, S. 197–199, 202–203. 32
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betonte, dass es von der diplomatischen Kunst des Wiener Ballhausplatzes abhänge bzw. in der Macht des österreichisch-ungarischen Militärs liege, die rumänische Seite durch entsprechende Erfolge auf den Schlachtfeldern von einem Kriegseintritt an der Seite der Mittelmächte zu überzeugen. Da an der habsburgisch-russischen Frontlinie zunächst das Gegenteil eintrat, befürchtete der Ballhausplatz, Russland könnte die besetzte Bukowina Rumänien als Belohnung für den Kriegseintritt gegen die Donaumonarchie anbieten. Tisza legte vor diesem Hintergrund der österreichisch-ungarischen Diplomatie nahe, Rumänien die Vorteile eines rumänisch-bulgarisch-osmanischen Bündnisses gegen Russland deutlich zu machen. Auf die wiederholten Versuche der deutschen Regierung, der k. u. k. Diplomaten und der deutschfreundlichen rumänischen Politiker, Budapest von der Notwendigkeit eines Entgegenkommens gegenüber den Siebenbürger Rumänen zu überzeugen, reagierte Tisza zunehmend unwirsch. Stets betonte er, dass Autonomierechte für die Siebenbürger Rumänen die Haltung Bukarests nicht beeinflussen würden. Dies könnten nur die Chancen der einen oder anderen Kriegspartei tun, den Krieg zu gewinnen. Dementsprechend konterte Tisza die Forderungen der deutschen Armeespitze nach Konzessionen an die Siebenbürger Rumänen mit der Aufforderung, die deutschen Einheiten an der russischen Front zu verstärken35. Als im September 1914 der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Gottlieb von Jagow, seinem k. u. k. Amtskollegen, dem Grafen Berchtold, mitteilte, dass von deutscher Seite bald Heeresverstärkungen an der österreichisch-ungarisch-russischen Front eintreffen würden, verband er diese Ankündigung mit der dringenden Aufforderung, dass der Schlüssel für eine Beteiligung Rumäniens an der bevorstehenden Offensive gegen Russland bei Österreich-Ungarn liege. Angesichts der auf dem Spiel stehenden Existenz Deutschlands und der Habsburgermonarchie erschienen eventuelle Zugeständnisse an Rumänien als minimal, betonte der Chef des Auswärtigen Amtes. Nachdem Berchtold den Inhalt dieses Telegramms nach Budapest weitergeleitet hatte, antwortete Tisza, dass der Erfolg der neuen deutschen Truppen entscheidend für ein rumänisches Engagement sei; Ungarn sei aber bereit, bis zur Grenze der Kompromissfähigkeit zu gehen, wenn Rumänien seine Bedingungen für den Kriegseintritt offenlege. Die Idee eines möglichen Einmarschs rumänischer Truppen nach Siebenbürgen, um die Besetzung des Karpatenbogens durch die russische Armee zu
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I o r d a c h e : Reorientarea politică, S. 140–142.
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verhindern, lehnte Tisza kategorisch ab, da er in einem solchen Fall den „Raub“ dieser Provinz durch Rumänien befürchtete. Um seine Haltung zu bekräftigen, unterbreitete Tisza am 26. September 1914 dem Grafen Czernin ein Memorandum, in dem er den kontinuierlichen „magyarischen Charakter“ Ungarns betonte und dass den 1,1 Millionen Magyaren und Deutschen in Siebenbürgen zwar 1,5 Millionen Rumänen gegenüberstünden, erstere aber die weit überwiegende Mehrheit unter den gebildeten und wohlhabenden Schichten stellten. Dank der Schaffung guter Entwicklungsmöglichkeiten durch die ungarischen Regierungen hätten sich die Siebenbürger Rumänen in den vergangenen Jahrzehnten stetig in demografischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht verbessert36. Gegenüber den Vertretern der Siebenbürger Rumänen stellte Tisza ein gewisses Entgegenkommen Budapests bezüglich ihrer drei Hauptforderungen in Aussicht – bessere Entwicklungschancen für die konfessionellen Schulen, die Verwendung der rumänischen Sprache in der Staatsverwaltung und eine Reform des Wahlrechts, um Kandidaten der sogenannten „Nationalitäten“ eine angemessenere Vertretung im ungarischen Reichstag zu ermöglichen. Die vagen Versprechen Tiszas, die nach seiner Ansicht den magyarischen Charakter des Königreichs Ungarn nicht antasten durften, knüpfte er jedoch an die Forderung einer loyalen Haltung der Siebenbürger Rumänen gegenüber dem ungarischen Staat37. Mit dieser Sichtweise unvereinbar war der Vorschlag des deutschen Botschafters in Wien, Heinrich von Tschirschky, Tisza solle einen Siebenbürger Rumänen als Minister in das Budapester Kabinett berufen, um so ein entscheidendes Signal nach Bukarest zu senden. Dieser Vorstoß ging auf Aurel C. Popovici zurück, der nach dem sogenannten „Memorandums-Prozess“ des ungarischen Staates gegen die Vertreter der rumänischen Nationalbewegung in Ungarn 1894 nach Wien gezogen war. Dort wurde er Mitglied des sogenannten „Belvedere-Kreises“ um den Thronfolger Franz Ferdinand, der für eine Föderalisierung der Habsburgermonarchie (auch der ungarischen Reichshälfte) eintrat38. Dementsprechend bezeichnete Tisza in seiner Korrespondenz mit Heinrich von Tschirschky den erwähnten Popovici als „intriganten 36
Ebenda, S. 143–145. Ebenda, S. 142–143. 38 Zu diesem Kreis gehörte neben Popovici auch Alexandru Vaida Voevod, der nicht nur im Budapester Reichstag (1906–1918), sondern auch in Wien versuchte, die Interessen der Rumänischen Nationalpartei in Ungarn und Siebenbürgen zu vertreten. Zu den Beziehungen zwischen Popovici und Vaida Voevod zwischen 1914 und 1916 siehe Liviu M a i o r : Alexandru Vaida Voevod. Putere și defăimare. Studii [Macht und Verleumdung. Studien]. București 2010, S. 73–96. 37
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Journalisten“, der als Anhänger großösterreichischer Ideen Ungarn zerschlagen wolle39. Gegenüber von Tschirschky argumentierte Tisza, dass die ungarnfeindliche Stimmung in Rumänien nicht auf die Lage der Siebenbürger Rumänen zurückzuführen sei, denn die sei zum Zeitpunkt des Anschlusses Rumäniens an den Dreibund 1883 viel schlechter gewesen. Vielmehr liege dieser Stimmung die Hoffnung zugrunde, Siebenbürgen bald Rumänien anzuschließen40. Tiszas Verärgerung resultierte zu einem großen Teil aus den permanenten Bemühungen der deutschen Diplomaten und Politiker, eine Lösung der „Siebenbürgischen Frage“ zumindest in Teilen zu versuchen. Diese Vorhaben interpretierte Tisza als unzulässigen auswärtigen Druck in einer rein innenpolitischen Frage, weshalb er lediglich bereit war, unverbindliche Gespräche mit der deutschen Seite zu führen, die den Handlungsspielraum der ungarischen Regierung aber in keiner Weise einschränken durften. Vielmehr schrieb Tisza dem k. u. k. Gesandten in Bukarest, Czernin, dass er mehreren deutschen Staatsmännern und Diplomaten unmissverständlich klar gemacht habe, dass Rumänien nicht mit Konzessionen der Habsburgermonarchie rechnen könne, da Kaiser Franz Joseph entschlossen sei, keine Handbreit seines Territoriums abzutreten41. Unter dem Eindruck des italienischen Kriegseintritts am 23. Mai 1915 führte der deutsche Reichstagsabgeordnete Matthias Erzberger (insgeheim im Auftrag der Reichsregierung) am 3. Juni 1915 Gespräche in Wien, in denen er mehrere Reichsratsabgeordnete und vor allem den seit Januar 1915 amtierenden k. u. k. Außenminister, Stephan Baron Burián von Rajecz, von Gebietsabtretungen an Rumänien und der Erfüllung der Forderungen der Siebenbürger Rumänen überzeugen wollte42. Nachdem er einige österreichische Reichsratsabgeordnete dazu bewegen konnte, sich für diese Ziele einzusetzen, fuhr Erzberger nach Budapest weiter. Als er in einer Audienz Tisza zu Konzessionen gegenüber den Siebenbürger Rumänen aufforderte, reagierte Tisza gereizt, indem er gegenüber Erzberger erklärte, dass er jeden Deutschen, der sein Vaterland vor einer neuen Gefahr bewahren möchte, inständig bitte, die unselige Frage der Zugeständnisse an die Rumä39 Siehe den Briefwechsel v. 4. bzw. 6.10.1914 bei I o r d a c h e : Reorientarea politică, S. 146–147. 40 Schreiben Tiszas an von Tschirschky v. 5.11.1914: ebenda, S. 147–149. 41 Ebenda, S. 147–150. 42 România în timpul primului război mondial. Măturii documentare [Rumänien zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Zeitzeugendokumente]. Vol. 1: 1914–1916. Hgg. Dumitru P r e d a , Ştefan P ă s l a r u , Maria G e o r g e s c u , Marin C. S t ă n e s c u . București 1996, S. 46.
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nen in Ungarn nicht mehr anzusprechen. Seine Haltung begründete Tisza mit der Prognose, dass Konzessionen Rumänien nicht zu einem Kriegseintritt bewegen, sondern vielmehr die Siebenbürger Rumänen zu weitreichenderen Forderungen ermutigen würden. Nach Erzbergers Besuch schrieb Tisza an Burián: „Die Deutschen, mit ihrem üblichen schwierigen Charakter, verschlimmern erneut das rumänische Problem.“ Weiterhin betonte Tisza, er habe Erzberger nicht so lange warten lassen, wie es dieser verdient hätte. Darüber hinaus hoffte Tisza, dass sich die Deutschen ähnlicher Initiativen enthielten, wenn die Ungarn genügend Widerstand leisteten43. Diese Haltung nahm Tisza auch in seinen Mitte Juni 1915 in Berlin mit dem deutschen Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg geführten Gesprächen ein, der von der ungarischen Regierung die Schaffung eines für Siebenbürgen zuständigen Ministerpostens und die Gründung einer rumänischsprachigen Universität in Ungarn forderte. Nach seiner Unterredung mit dem Reichskanzler erklärte Tisza gegenüber dem österreichisch-ungarischen Außenminister Burián, dass er Bethmann Hollweg deutlich gemacht habe, dass Ungarn nicht zu Konzessionen in Siebenbürgen bereit sei, weder in territorialer Hinsicht noch bezüglich der Lage der Rumänen. Allerdings sollte darüber nachgedacht werden, Rumänien für dessen anzustrebende Kooperation die südlichen Teile der Bukowina anzubieten44.
Die Siebenbürgische Frage in den Verhandlungen zwischen Rumänien und den Mittelmächten Die deutsche Reichsregierung und das österreichisch-ungarische Außenministerium versuchten nicht nur die ungarische Regierung zu einem Politikwechsel zu bewegen, sondern intervenierten vor allem in Bukarest in entschiedener Weise. Bereits kurze Zeit nach dem Antritt seines Gesandtenpostens in Bukarest berichtete Czernin an Außenminister Berchtold, dass nach seiner Einschätzung die Allianz mit Rumänien nicht die Tinte auf dem Papier des Vertrages wert sei und dass Rumänien mit einem baldigen Krieg zwischen Russland und der Habsburgermonarchie rechne; es werde zunächst abwarten, wer von beiden die Oberhand erhalte, um dann an der Seite des absehbaren Siegers dem Verlierer den Todesstoß zu versetzen und so entweder
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I o r d a c h e : Reorientarea politică, S. 153–154. România în timpul primului război mondial, S. 46–47. Vgl. I o r d a c h e : Reorientarea politică, S. 153. 44
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Bessarabien oder Siebenbürgen gewinnen45. Das die habsburgischrumänischen Beziehungen am meisten belastende Problem war nicht nur nach Czernins Einschätzung die „Siebenbürgische Frage“. Solange keine spürbare Besserung der Lage der in Ungarn lebenden Rumänen eintrete, sei nicht an einen Rückgang der in Rumänien wachsenden irredentistischen Bewegung zu denken, betonte Czernin kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs46. Am 28. Juli 1914 telegrafierte Czernin an Berchtold das Ergebnis seiner Unterredung mit König Karl: „Im Falle, dass Russland gegen uns auftreten würde, sagte mir der König, dass wir leider auf die militärische Unterstützung Rumäniens schwerlich rechnen könnten. Der König, der bei dieser Erklärung so erregt war, wie ich Ihn noch nicht gesehen, versicherte, wenn Er Seinem Herzen folgen könnte, würde Seine Armee unbedingt an der Seite des Dreibundes fechten. Er könne aber nicht; seit einem Jahre habe sich so Vieles geändert, dass Er außerstande sei, den Vertrag zu halten. Er ersuchte mich jedoch, Euer Exzellenz zu melden, dass Er auch in dem russischen Konflikte strikte Neutralität bewahren werde und keine Macht der Welt Ihn jemals bewegen könne, die Waffen gegen die Monarchie zu ergreifen.“47 Nach Kriegsausbruch war auch der Chef des k. u. k. Generalstabes, Franz Freiherr Conrad von Hötzendorf, von der Dringlichkeit eines raschen rumänischen Kriegseintritts an der Seite der Mittelmächte überzeugt, weshalb er von Budapest Beiträge zur Entspannung des Verhältnisses zu den Siebenbürger Rumänen erwartete48. Die Reaktionen in Rumänien auf die ersten Niederlagen der österreichisch-ungarischen Armee nach dem Ausbruch des Krieges fasste Czernin in seinem Schreiben vom 19. September 1914 an Berchtold folgendermaßen zusammen: „Die Situation hat sich in den letzten Tagen insofern verschlechtert, als mit dem Zurückgehen unserer Armee der Wunsch, uns den ‚Todesstoß‘ zu geben, stärker geworden ist. Man fürchtet, den Moment zu verpassen und zu spät zu kommen, daher bei der ‚Aufteilung der Monarchie‘ nicht mehr mitspeisen zu können. Alles das wird natürlich mit russischen Millionen geschaffen 45 Siehe die Berichte Czernins an Berchtold v. 8.12.1913 und März 1914: S h a n a f e l t : Ottokar Czernin, S. 194–195. 46 Ebenda, S. 195–196. 47 Österreichisch-ungarisches Rotbuch, S. 2–3. 48 Am 17. September 1914 erreichte den Generalstabschef das Telegramm des k. u. k. Militärattachés in Bukarest, der ihm mitteilte, dass der rumänische Innenminister Vasile G. Mortun die Gewährung jener Rechte für die Rumänen in Siebenbürgen forderte, die sie bereits in der Bukowina innehätten. Dies müsse jedoch rasch geschehen, um den gewünschten Effekt in Rumänien rechtzeitig erzielen zu können: România în timpul primului război mondial, S. 107.
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und geschürt. Der Schrei ‚Wir wollen nach Siebenbürgen!‘ ist an der Tagesordnung. Bratiano wird immer kleinlauter und ängstlicher – der König ist die einzige noch funktionierende Bremse bei dieser Fahrt auf der schiefen Bahn.“49 Insbesondere nach den empfindlichen Niederlagen Österreich-Ungarns im Herbst und Winter 1914 betonte Czernin die Notwendigkeit, nicht nur Rumänien und Italien territoriale Konzessionen zu machen, um sie zu einem Eingreifen an der Seite des Dreibundes zu bewegen, sondern auch Russland gegenüber, das damals Ostgalizien besetzt hielt50. Da die rumänische Regierung seit dem Tod König Karls I. gebetsmühlenartig erklärte, sie könne mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung nicht an der Seite der Mittelmächte in den Krieg ziehen51, sahen diese nur noch in der Entlassung der liberalen Regierung durch König Ferdinand einen Ausweg aus der gegebenen Situation. Sowohl der deutsche, Hilmar Freiherr von dem Bussche-Haddenhausen52, als auch der österreichisch-ungarische Gesandte, Czernin, machten in ihren Audienzen beim rumänischen König deutlich, dass ihre Regierungen jedes Vertrauen in die Regierung Brătianu verloren hätten. Doch Berlin, Wien und Budapest mussten rasch erkennen, dass Ferdinand eine starke innenpolitische Stellung fehlte, die nötig gewesen wäre, um die nationalliberale Regierung Brătianus durch die deutschfreundlichen Konservativen unter Alexandru Marghiloman bzw. Petre P. Carp zu ersetzen53. Zumindest versuchte Berlin bei der rumänischen Seite zu verhindern, dass die 1914 nach Rumänien geflüchteten Vasile Lucaciu und Octavian Goga, Vertreter der rumänischen Nationalbewegung in Siebenbürgen, für das rumänische Parlament kandidieren54. Die rumänische Nationalbewegung in Siebenbürgen spaltete sich nach dem Ausbruch des Krieges 1914, vor allem nach 1916, in jene, die ihren 49
Österreichisch-ungarisches Rotbuch, S. 6–7. Diese Einschätzung teilte Czernin dem österreichisch-ungarischen Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf im Dezember 1914 mit. S h a n a f e l t : Ottokar Czernin, S. 212. 51 B o i a : Germanofilii, S. 61–63. 52 Von dem Bussche hatte Julius von Waldthausen im September 1914 als Gesandter des Deutschen Reichs in Bukarest ersetzt. S h a n a f e l t : Ottokar Czernin, S. 209. 53 B o i a : Germanofilii, S. 46–47. Czernin bezeichnete Ferdinand nach seiner Thronbesteigung als ein „Nichts“. S h a n a f e l t : Ottokar Czernin, S. 205–208, 210. Vgl. dazu Czernins Eindruck von Ferdinand in seinem Telegramm v. 23.9.1914 an Berchtold: Österreichisch-ungarisches Rotbuch, S. 8–9. Vgl. România în timpul primului război mondial, S. 126–127. 54 I o r d a c h e : Reorientarea politică, S. 154–158. Zu Octavian Goga siehe B o i a : Germanofilii, S. 59–60. 50
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prohabsburgischen Orientierungen treu blieben und die Monarchie auch im Kriegsfall unterstützen wollten, und jene, die unter keinen Umständen der verhassten Budapester Regierung beim Erreichen der Kriegsziele behilflich sein wollten. Allerdings wagten nur wenige den offenen Bruch mit Ungarn, wie ihn Lucaciu und Goga vollzogen hatten. Die Führungsspitze der Rumänischen Nationalpartei in Ungarn und Siebenbürgen blieb im Lande und gab eine Loyalitätserklärung gegenüber Österreich-Ungarn ab, sowohl im Sommer 1914 als auch im Februar 191755. Zu Beginn des Jahres 1916 wurde den Mittelmächten deutlich, dass sie im Werben der beiden Weltkriegsallianzen um Rumäniens Gunst gegenüber der Entente immer mehr in Rückstand gerieten. Die Mittelmächte boten das russische Bessarabien und – mit Einschränkungen – den südlichen, mehrheitlich von Rumänen bewohnten Teil der österreichischen Bukowina. Die Entente hingegen konnte Bukarest die gesamte österreichische Bukowina, Siebenbürgen und alle Landstriche Ostungarns, in denen auch Rumänen lebten, versprechen. Da dieses Angebot um ein Vielfaches attraktiver als jenes der Mittelmächte war und weil die Stimmung in der rumänischen Öffentlichkeit eindeutig gegen Deutschland und Österreich-Ungarn gerichtet war, entschied sich Brătianu für die Entente56. Für ihn war es entscheidend, den günstigsten Moment für den geplanten Kriegseintritt zu wählen. Dieser war nach Italiens Kriegserklärung an die Habsburgermonarchie vom 23. Mai 1915 prinzipiell gegeben, doch hing er insbesondere von der Entwicklung an der Ostfront ab. Der österreichisch-ungarische Außenminister Burián erfuhr zu diesem Zeitpunkt von der k. u. k. Gesandtschaft, dass Brătianu gegenüber dem deutschen und österreichisch-ungarischen Vertreter erklärt habe, dass eine Abtretung kleinerer Gebiete in der Bukowina und im Banat an Rumänien dessen Bereitschaft, weiterhin neutral zu bleiben, überaus erleichtern würde57. In einem Interview, das der rumänische Ministerpräsident am 1. Juni 1915 einer Genfer Zeitung gegeben hatte, machte er deutlich, dass eine neue Friedensordnung ein starkes Rumänien, das alle seine „Söhne“
55 Ausführlich zur Haltung der Siebenbürger Rumänien während des Ersten Weltkriegs: ebenda, S. 78–91. Vgl. zum Verhalten der rumänischen Soldaten in der österreichisch-ungarischen Armee während des Ersten Weltkriegs Liviu M a i o r : Romanians in the Habsburg Army. Forgotten Soldiers and Officers. Bucarest 2004, S. 168–199. 56 S h a n a f e l t : Ottokar Czernin, S. 204, 208. Vgl. Şerban R ă d u l e s c u - Z o n e r , Beatrice M a r i n e s c u : Bucureștii în anii primului război mondial 1914–1918 [Die Bukarester in den Jahren des Ersten Weltkriegs 1914–1918]. București 1993, S. 9–50. 57 România în timpul primului război mondial, S. 45.
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vereine, hervorbringen müsse, so dass es ein Garant für den Frieden im Osten sein werde58. Nach der ebenfalls im Mai 1915 gestarteten Offensive der Truppen der Mittelmächte in Galizien und Zentralpolen, die bis September 1915 sehr erfolgreich verlief, erhöhte die Reichsregierung den Druck auf die rumänische Regierung, an der Seite der Mittelmächte in den Krieg einzutreten, indem Berlin deutlich machte, Bulgarien anstelle Rumäniens bei der Verfolgung seiner Interessen unterstützen zu wollen59. Auch der österreichisch-ungarische Gesandte in Bukarest, Ottokar Graf Czernin, sah den Zeitpunkt als günstig an, Rumänien zu einem Bekenntnis zum Bündnis mit den Mittelmächten zu zwingen, um das Damoklesschwert einer vorläufigen Neutralität zu beseitigen. Deshalb forderte Czernin unverzügliche Konzessionen an die rumänische Seite, zu denen Außenminister Burián aber nicht bereit war. Letzterer vertrat die Meinung, dass die rumänischen Forderungen jeglicher ernsthafter Grundlage entbehrten, weshalb Wien Bukarest zeigen solle, dass es Rumänien weder fürchte noch brauche. Um seine Haltung zu untermauern, bot Burián in Absprache mit dem deutschen Reichskanzler am 22. Juni 1915, dem Tag der Rückeroberung Lembergs, der rumänischen Regierung die südlichen Teile der österreichischen Bukowina für den Fall an, dass Rumänien innerhalb eines Monats an der Seite der Monarchie in den Krieg eintrete. Am 27. Juni berichtete Czernin nach Wien, dass die rumänische Seite sich erst nach Ablauf des Monats unter Berücksichtigung der dann gegebenen militärischen Lage dazu äußern wolle. Am 21. Juli ließ Burián den rumänischen Ministerpräsidenten an den Ablauf der Frist am 26. Juli erinnern, die allerdings ohne Reaktion aus Bukarest verstrich60. Czernin konnte lediglich vermelden, dass Ministerpräsident Ion C. Brătianu die Gesandten Deutschlands und Österreich-Ungarns besonders freundlich und zuvorkommend behandelte und sie mit „Mein Freund“ statt „Herr Gesandter“ ansprach, was zu Czernins Verdruss auf von dem Bussche großen Eindruck gemacht habe. Zu konkreten, für Berlin und Wien vorteilhaften Ergebnissen – mit Ausnahme der rumänischen Bereitschaft, den Mittelmächten wieder Getreide und Erdöl zu verkaufen – führte diese Situation nicht, da Brătianu weiterhin betonte, dass er nicht gegen
58 Valeriu Florin D o b r i n e s c u : I. I. C. Brătianu, „The Outstanding Genius of Greater Romania“. In: Romania during the World War I Era, S. 39–48, hier 41–42. 59 I o r d a c h e : Reorientarea politică, S. 155. 60 România în timpul primului război mondial, S. 46–49.
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ein ganzes Land regieren könne, weshalb eine Kriegserklärung an die Entente-Mächte unmittelbar zu seinem Sturz führen werde61. Die verlustreichen Kämpfe an der Westfront, vor allem um Verdun, und die im Juni 1916 begonnene russische Offensive unterstützten jene Kreise in der rumänischen politischen Klasse wie auch in der Öffentlichkeit, die ein rasches Losschlagen gegen Österreich-Ungarn forderten. Dementsprechend berichtete Czernin an Außenminister Burián am 19. Juni, mit jedem Erfolg der russischen Truppen wachse in Rumänien die Überzeugung, Siebenbürgen bald erobern zu müssen. Folglich konnte das Ziel der Mittelmächte lediglich darin bestehen, durch militärische Erfolge die Neutralität Rumäniens zu verlängern. Die rumänischen Kriegsvorbereitungen waren jedoch nicht mehr zu übersehen, so dass sogar König Ferdinand gegenüber Czernin zugab, dass der Druck der Entente-Mächte auf sein Land so enorm geworden sei, dass er nicht dafür verantwortlich gemacht werden könne, wenn Rumänien gegen das Bündnis mit den Mittelmächten verstoßen sollte. Der König deutete auch unmissverständlich an, dass Brătianu die Auflösung der Habsburgermonarchie wünsche. Dementsprechend konnte Czernin in seinem Telegramm an Burián am 27. Juli 1916 berichten, Brătianu habe in seinem letzten Gespräch mit ihm erklärt, dass Rumänien nicht abseits stehen könne, wenn sich Österreich-Ungarn auflösen sollte. „Siebenbürgen könne nicht ungarisch bleiben“, betonte der rumänische Ministerpräsident. Dass er aber nicht mit dieser Eventualität rechne, glaubte Czernin seinem Gesprächspartner nicht. Er wies Brătianu darauf hin, dass im Falle eines rumänischen Überfalls auf Siebenbürgen dort deutsche Truppen aufmarschieren würden, während an der Donau Bulgarien einen Angriff auf Rumänien starten werde62. Nach der Unterzeichnung des Bündnisvertrages mit den EntenteMächten (Russland, Frankreich, Großbritannien und Italien) am 17. August und dem Kriegseintrittsbeschluss des Kronrates auf Schloss Cotroceni am 27. August 1916 übergab der rumänische Gesandte in Wien der österreichisch-ungarischen Regierung noch am selben Tag die Kriegserklärung63; damit hatte Rumäniens Schaukelpolitik zwischen den 61 S h a n a f e l t : Ottokar Czernin, S. 210. Vgl. România în timpul primului război mondial, S. 188–189. 62 I o r d a c h e : Reorientarea politică, S. 159–161. Vgl. Neculai M o g h i o r , Ion D ă n i l ă , Vasile P o p a : Ferdinand I văzut de contemporanii săi [Ferdinand I. gesehen von seinen Zeitgenossen]. București 2006, S. 85–89. Vgl. S h a n a f e l t : Ottokar Czernin, S. 211. 63 Dumitru P r e d a : România și Antanta. Avatarurile unei mici puteri într-un război de coaliție 1916–1917 [Rumänien und die Entente. Die Avatare einer kleinen Macht in einem Koalitionskrieg 1916–1917]. Iași 1998, S. 67–96. Vgl. Victor A t a n a s i u : România în anii 1914–1916 [Rumänien in den Jahren 1914–1916]. București 1997, S. 191–206.
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Machtblöcken ein Ende gefunden. Bukarest hatte außenpolitisch klar Position bezogen. Nach Ansicht des rumänischen Historikers Lucian Boia kam diese Entscheidung zustande, weil die mit Frankreich und Siebenbürgen verbundenen Mythen im Bewusstsein der im Königreich Rumänen lebenden Eliten stärker als der Deutschland- und Bessarabien-Mythos verankert waren. Verglichen mit dem von Russland zu gewinnenden Bessarabien stellte Siebenbürgen die größere, reichere und für die rumänische Kultur eindeutig bedeutendere Provinz dar (z. B. das antike Dakien oder die „Siebenbürgische Schule“ im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert). Mit der von der „Siebenbürgischen Schule“ angestoßenen Betonung der Latinität des rumänischen Volkes durch dessen Eliten erfolgte im 19. Jahrhundert deren rasche kulturelle und politische Orientierung am Vorbild Frankreich. Aus diesem Grund war nach 1914 eine zahlenmäßige Mehrheit der Eliten im Königreich Rumänien der Überzeugung, Rumänien müsse seinen „lateinischen Schwestern“ Frankreich und Italien im Kampf gegen die „Aggressoren“ Deutschland und Österreich-Ungarn beistehen64. Ihnen stand eine kleinere, aber sehr einflussreiche Gruppe deutschfreundlicher Politiker und Intellektuellen gegenüber, die in der Entscheidung der Regierung, den Mittelmächten den Krieg zu erklären, eine unverantwortliche Risikobereitschaft sahen, da Rumänien nun – mit Ausnahme der Grenze zu Russland – vollständig an feindliches Territorium grenzte65. Nach dem im Oktober 1916 gescheiterten Siebenbürgen-Feldzug und den Niederlagen der rumänischen Truppen an allen Fronten gegen die Armeen Deutschlands, Österreich-Ungarns und Bulgariens zogen sich die Reste des rumänischen Heeres vollständig aus der Walachei und der Dobrudscha in die Moldau zurück. Die nach Jassy geflohene rumänische Regierung war vollkommen auf die Unterstützung des russischen Nachbarn und die Reorganisation ihrer Truppen durch französische Offiziere angewiesen66. Obwohl sich Rumänien nach dem Zusammenbruch des Zarenreichs im Bukarester Frieden vom 7. Mai 1918 den Friedensvorstellungen Berlins und Wiens unterwerfen musste, führte der Erfolg der Westmächte im Herbst desselben Jahres dazu, dass sich Bukarest auf den Pariser Friedenskonferenzen an der Seite der Sieger wiederfand. Die Vollendung Großrumäniens besiegelte 1920 der Frieden von Trianon durch die Integration Siebenbürgens und des Banats in das rumänische Königreich, das sich trotz eines Minder64
B o i a : Germanofilii, S. 63–69. Vgl. B o i a : Primul Război Mondial, S. 69–70. Ebenda, S. 66–69. 66 Zu den militärgeschichtlichen Ereignissen in Rumänien 1916–1918: Mircea V u l c ă n e s c u : Războiul pentru întregirea neamului [Der Krieg zur Vereinigung des Volkes]. București 1999, S. 35–133. 65
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heitenanteils von 29 Prozent weiterhin als Nationalstaat definierte und dadurch in der Zwischenkriegszeit keine wirksamen Konzepte zur Lösung der Minderheitenproblematik entwickeln konnte. wBereits in den 1890er Jahren hatte sich die „Siebenbürgische Frage“ zum ausschlaggebenden Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien entwickelt. Vor allem deutsche Diplomaten wiesen die österreichisch-ungarische Seite kontinuierlich darauf hin, dass die ungelöste „Siebenbürgische Frage“ der Totengräber des Bündnisses mit Rumänien sein werde. Dass sie nicht schon vor 1916 zur Ursache eines Krieges geworden war, lag an der internationalen Mächtekonstellation. Nur das in Bukarest befürchtete Bündnis zwischen dem nach Konstantinopel strebenden Russland und einem potentiellen Großbulgarien ließen die rumänischen Politiker den Wunsch nach Verwirklichung des großrumänischen Traums zurückstellen und Sicherheit bei Deutschland und Österreich-Ungarn suchen.
S I E B E N B ÜR G E N I M S T R AT E G I S C H E N F O K U S DES KRIEGES Manfried R a u c h e n s t e i n e r Vielleicht ist es eine mehr gefühlte als tatsächliche Bedeutungslosigkeit, dass Rumäniens Rolle im Ersten Weltkrieg in Österreich und Deutschland eher an den Rand gerückt scheint. In einer Prioritätenreihung der wissenschaftlichen wie auch der romanhaften Weltkriegsliteratur liegen wohl Italien bzw. die Front in Belgien und Frankreich unangefochten an der Spitze, gefolgt von Serbien und Russland. Rumänien rangiert erst weit hinten in der literarischen „Beliebtheitsskala“. In Ungarn ist dies sicherlich anders, denn der Verlust Siebenbürgens fügt sich in ein spannungsreiches 20. Jahrhundert und verursacht immer noch Amputationsschmerzen. Dazu kommt, dass die militärischen Geschehnisse des rumänischen Kriegsschauplatzes im Zeitraum von 1916 bis 1918 durch die Nachkriegsgeschichte Ungarns zwar mehrfach überlagert werden, aber immer noch kausal mit dem Krieg und den aus dem Zerfall der Monarchie herrührenden Problemen in Verbindung gebracht werden. Ungarn ist – so banal das auch klingen mag – mit dem rumänischen Transylvanien denn auch sehr viel enger verbunden als andere ehemals kriegführende Staaten, und man kann wohl gar nicht umhin festzustellen, dass ein erheblicher Teil der ungarischen Geschichte in Siebenbürgen wurzelt, ob das nun die Hunyadi, der „alte“ Dürer, das Széklerland (Ţinutul Secuiesc, Székelyföld) oder das sogenannte Blutgericht von Arad sind. Der Blick in das rumänische Militärmuseum (Muzeul militar național) weckt in Ungarn wohl noch immer Emotionen, denn zwei auf dem Schießplatz von Hajmáskér 1919 erbeutete 30,5 cm-Mörser1 künden weithin sichtbar vom rumänischen Vorstoß nach Ungarn und der endgültigen Grenzziehung nach dem Ersten Weltkrieg. Unmittelbarkeit, Nähe und nationales Bewusstsein haben folglich in Ungarn wie in Rumänien einen anderen Bezugsrahmen geschaffen als in Österreich oder in Deutschland. Im europäischen Gedenkmarathon 2014 wurde der „rumänische“ Krieg denn auch bestenfalls nebenher 1
Es handelt sich um ein Geschütz des Musters 12/16 sowie ein zweites des Musters 16.
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behandelt, da es in Rumänien ja noch kein Hundert-Jahr-Gedenken geben konnte, doch ist davon auszugehen, dass ein solcher eine beträchtliche Steigerung erfahren wird; abermals werden primär Ungarn und Rumänien gefordert sein. Das sollte wohl auch Gelegenheit geben, sich mit den Denkmälern und Soldatengräbern zu beschäftigen, die, sofern das Siebenbürgen betrifft, den Krieg der Groß- und Urgroßväter gegenwärtig machen. Die Frage ist freilich, wo sich noch solche Denkmäler und Soldatenfriedhöfe befinden. Der Aussichtsturm von Hammersdorf bei Hermannstadt (Gușterița/Sibiu, Szenterzsébet/Nagyszeben) wird wohl seines ursprünglichen Charakters als Kriegerdenkmal entkleidet bleiben. Das Denkmal General David Praporescus in Câineni im Kreis Vâlcea wird vielleicht bekränzt werden. Von den ehemals rund 90 Soldatenfriedhöfen und Kriegergräbern des Ersten Weltkriegs auf dem Territorium Siebenbürgens werden aber wohl nur jene Beachtung und Pflege finden, auf denen rumänischen Soldaten begraben sind2. Man muss folglich kein Prophet sein, um voraussagen zu können, dass sich das nationale rumänische Gedenken einmal mehr auf General Henri Berthelot beziehen und dass das riesige Grabmal für die 5.073 (anderen Angaben zufolge 5.632) gefallenen Rumänen in Mărășești3 zu Gedenkveranstaltungen genutzt werden wird. Die zeitversetzte Bezugnahme auf die Geschehnisse des Ersten Weltkriegs steht somit recht gut im Einklang mit der Vor- und Frühgeschichte des Krieges, bei der die Rumänien betreffenden Geschehnisse ebenso wie jene, die Italien zum Gegenstand haben, an den Rand gerückt schienen. Es ist wohl auch klar, dass sich gerade im Zusammenhang mit der Kausalität des Kriegsbeginns der Fokus automatisch auf etwas anderes gerichtet hat als auf die Rolle Rumäniens. Ja, nicht einmal der Vergleich der italienischen mit der rumänischen Haltung am Ende der Julikrise 1914 läuft auf eine Art Gleichklang hinaus, obwohl sich die Neutralitätserklärungen der beiden Staaten und ihre Absicht, nicht in den so lange geplanten Krieg als Teil des beschworenen Bündnisses einzutreten, rein äußerlich nicht so sehr zu unterscheiden scheinen. Meist braucht es daher einen längeren Blick auf die unmittelbare Vorgeschichte des Krieges wie auf den Verlauf desselben, um den „rumänischen“ Krieg und damit auch Siebenbürgen besser einordnen zu können; beide sind Teil einer kaleidoskopartigen Kriegslandschaft. 2 Die Angaben wurden dankenswerterweise vom Österreichischen Schwarzen Kreuz, Kriegsgräberfürsorge, zusammengestellt. Der Autor ist dafür Oberst i. R. Alexander B a r t h o u sehr verpflichtet. 3 Helmut K u z m i c s , Sabine A. H a r i n g : Emotion, Habitus und Erster Weltkrieg. Soziologische Studien zum militärischen Untergang der Habsburger Monarchie. Göttingen 2013, S. 36.
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Zunächst liefen die Entwicklungen in Rumänien und ÖsterreichUngarn auf eine Art Parallelhandlung hinaus. Beide profitierten vom Zerfall des Osmanischen Reichs, und für beide wurde das Jahr 1878 zu einem Schlüsseldatum: Österreich-Ungarn war die erste Großmacht, die die Unabhängigkeit Rumäniens anerkannte. Der Minister des Äußern, Graf Gyula Andrássy, riet dem Fürsten Carol, den Titel Königliche Hoheit anzunehmen4. Fragen der Kontrolle des Unterlaufs der Donau und Einschränkungen des Viehexports aus Rumänien in die Habsburgermonarchie trübten allerdings das Verhältnis. Mit dem Beitritt Rumäniens zum Dreibund am 30. Oktober 1883 schien Rumänien an Stabilität gewonnen zu haben5. Dass es sich zum Abschluss eines Bündnisvertrags verstand, da es – wie man in der nationalkommunistischen Literatur in den 1970er und 1980er Jahren nachlesen konnte – in einem Gebiet lag, „wo die Interessen von zwei expansionistischen Großmächten, dem zaristischen Russland und der Habsburgermonarchie, sich durchkreuzten“, bedurfte einer recht eigenwilligen Interpretation. Richtig war: Rumänien wollte sich gegen Russland absichern, und unter den Großmächten schienen ÖsterreichUngarn und Deutschland am ehesten geeignet, Rückhalt zu geben; da mussten auch nationalistische Ambitionen zurücktreten. Dass sich die Erweiterung des Bündnisses auch für Österreich-Ungarn positiv auswirken würde, war zumindest zu hoffen. Nicht zuletzt sollten sich die latenten Spannungen in den von Rumänen bewohnten Gebieten der Habsburgermonarchie entschärfen lassen6. Siebenbürgen, das sich ohnedies erst langsam von einem Experimentierfeld für das Zusammenleben von drei Ethnien in ein stabileres Gebilde gewandelt hatte, schien damit definitiv in ein ruhigeres Fahrwasser gelangt zu sein. Tatsächlich war damit aber nur eine Art Moratorium geschaffen worden: Ungeachtet des Geheimpaktes von 1883 blieb das Verhältnis nasskalt, und die gewisse Ähnlichkeit mit dem Dreibundpartner Italien war gerade im österreichisch-ungarischen Fall nicht zu übersehen. Wenn wir uns fragen, wann das Konstrukt vollends ins Wanken kam, wird man, wie auch in anderen Fällen, den Finger auf das Jahr 1912 und 4 Gheorghe Nicolae C ă z a n , Şerban R ă d u l e s c u - Z o n e r : Rumänien und der Dreibund 1878–1914. București 1983 (Bibliotheca Historica Romaniae, Studien 65), S. 22. 5 Dazu die sehr ausgewogene Darstellung von Ekkehard V ö l k l : Rumänien. Vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Regensburg 1995, bes. S. 56–72. 6 Vgl. dazu den Beitrag von Keith H i t c h i n s : „Die Rumänen“, vor allem den Abschnitt über Siebenbürgen, in der von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Reihe: Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Hgg. Adam W a n d r u s z k a , Peter U r b a n i t s c h . Wien 1980, Bd. III: Die Völker des Reiches, 1. Teilbd., S. 585–625, hier bes. S. 596–602.
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den Ersten Balkankrieg legen müssen. Rumänien, das in diesem Krieg leer ausgegangen war, forderte von Bulgarien Silistria am Schwarzen Meer und etliche andere als „Kompensationen“ bezeichnete Gebiete und Vorteile. Serbien, das mit Bulgarien um die Aufteilung des den Türken abgenommenen Mazedonien stritt, machte ebenfalls Front gegen Bulgarien. Von Österreich-Ungarn wurde erwartet, dass es das verbündete Rumänien unterstützen werde, wogegen Deutschland zu einer solchen Unterstützung schon aus dynastischen Interessen bereit war, da König Carol I. von Rumänien ja ein Prinz von HohenzollernSigmaringen und mit dem deutschen Kaiser verwandt war. Am Ballhausplatz in Wien versuchte man jedoch zu lavieren und gleichzeitig gegen die immer stärkeren russischen Einflussnahmen auf dem Balkan aufzutreten. In Wien konnte man kein besonderes Interesse daran haben, durch ein Eingreifen gegen Bulgarien letztlich Serbien zu helfen. Außerdem tat man sich bei der Behandlung Rumäniens schwer, da die drei Millionen Rumänen im ungarischen Siebenbürgen sich seit dem Ausgleich von 1867 immer stärker nationalistisch gerierten und dabei von Bukarest mehr oder weniger offen unterstützt wurden. In Ungarn war zwar die Meinung anzutreffen, die Rumänen in Siebenbürgen hätten keinen Grund, sich zu beklagen, denn sie hätten seit Abschluss der Militärkonvention mit Rumänien erhebliche Besserstellungen erfahren. Doch das beeindruckte Rumänien in keiner Weise und brachte vor allem auch Bukarest nicht dazu, sich vorbehaltlos an Österreich-Ungarn und Deutschland anzuschließen. Also blieb Rumänien ein „unsicherer Kantonist“ und vermehrte die politische Landschaft des Balkans um einige besonders bunte Facetten. Einmal standen ethnische Fragen im Vordergrund, dann wieder wirtschaftliche und sicherheitspolitische Probleme. Beide Staaten zeigten zumindest intern eine gewisse Geringschätzung für den jeweils anderen. In Rumänien etwa schien man sich der Beurteilung des russischen Offizierskorps anzuschließen, wonach Österreich-Ungarn politisch aggressiv, militärisch aber auch impotent sei7. Ein wenig schien dies alles der Quadratur des Kreises zu ähneln. Der österreichisch-ungarische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand wollte alles tun, um das Verhältnis zu Russland zu verbessern, und Rumänien verfolgte ein ähnliches Ziel, hätte das aber gerne auf Kosten Österreich-Ungarns getan. Daran konnte auch der Wechsel auf dem Posten des Botschafters in Bukarest nichts ändern, obwohl der neue 7 Günther K r o n e n b i t t e r : Krieg im Frieden. Die Führung der k. u. k. Armee und die Großmachtpolitik Österreich-Ungarns 1906–1914. München 2003 (Studien zur Internationalen Geschichte 13), S. 395.
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Gesandte, Ottokar Graf Czernin, Annährung und freundschaftliche Beziehungen zu signalisieren trachtete. Er resignierte freilich bald und sah die Ergebnislosigkeit seiner Bemühungen ein. Weder die Normalisierung der Handelsbeziehungen noch fallweise die Bemühungen um die Verbesserung der Situation der Rumänen in der ungarischen Reichshälfte trugen zur Entspannung bei. Dabei wurde die Außenpolitik der Habsburgermonarchie von den Interessen der Budapester Regierung ins Schlepptau genommen, da jedes Mal dann, wenn die volle Anwendung des § 19 des Staatsgrundgesetzes über die Gleichheit der Völker des Reichs angemahnt wurde, aus Budapest stereotyp die Antwort kam, es würde ohnedies alles getan, und Andersdenkende und nationalistische Unruhestifter wären überall zu finden. Zeitgleich setzte Rumänien auf die russische Karte und begann sich aus dem Dreibund zu lösen, aber nicht in einer Weise, dass es zu einem Bruch gekommen wäre. Die Zeichen waren aber nicht schwer zu deuten. Obwohl der österreichische Gesandte in Bukarest in seinen Berichten keinen Zweifel ließ, dass sich Rumänien umorientierte, wurde der Geheimvertrag mit dem Dreibund im Jänner 1913 verlängert und erneuert8. Da Bukarest aber in der Folge keine wirkliche Unterstützung durch Wien bekam, wuchs in Rumänien eine massive antiösterreichische Stimmung, und als im Juli 1913 der Zweite Balkankrieg ausbrach, wurde in Rumänien genauso gegen Sofia wie gegen Wien demonstriert und „Hoch Serbien!“ gerufen. Ende des Jahres 1913 war das Verhältnis der Habsburgermonarchie zu Rumänien schon so schlecht geworden, dass, wie der Präsidialchef im Ministerium des Äußern in Wien, Graf Forgách, meinte, es „kaum [mehr] etwas zu verderben“ gebe9. Ungeachtet dessen schwebte dem österreichisch-ungarischen Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf auch noch im Februar 1914 ein Krieg gegen Russland vor, an dem sich Rumänien mit acht bis zehn Divisionen beteiligen sollte, somit die militärische Planung der politischen Entwicklung eindeutig nachhinkte. In Wirklichkeit verschlechterte sich das Verhältnis Österreich-Ungarns zu Rumänien gewissermaßen von Tag zu Tag, woran auch die Bemühungen der Deutschen Regierung nichts ändern konnten, die meinte, es müsse doch möglich sein, das Verhältnis zwischen den Verbündeten zu verbessern, wenn man nur auf die Rumänen zugehe. Der deutsche Generalstabschef Helmuth von Moltke schrieb an sein österreichisch-ungarisches Gegenüber, Conrad von Hötzendorf, am 13. März 1914: „Ich bedauere immer wieder, dass Österreich diesen zuverlässigen und wertvollen 8 9
V ö l k l : Rumänien, S. 73. Zitiert nach K r o n e n b i t t e r : Krieg im Frieden, S. 372.
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Bundesgenossen gegen ein zweifelhaftes und geschwächtes Bulgarien eingetauscht hat. Ich kann Euer Exzellenz versichern, dass von hier aus alles geschieht, um Rumänien am Dreibund festzuhalten.“10 In Wien zitierte man Dante und ließ alle Hoffnung fahren. Rumänien drohte aus dem Dreibund auszuscheren. Anfang Juni 1914, also nur ein paar Monate, nachdem er Rumänien im Fall eines Krieges gegen Russland noch eine größere Rolle zugesprochen hatte, legte Conrad von Hötzendorf Kaiser Franz Joseph die soeben fertig gestellten Planungen für einen Krieg gegen Rumänien vor. Sie waren seit Dezember 1913 ausgearbeitet worden, aber wohl nicht in Form eines regelrechten Kriegsfalls wie die Fälle Russland, Serbien, Italien oder 1913 auch Montenegro. Doch die Grundzüge sollten einmal festgelegt sein, nicht zuletzt, um auch dem Eisenbahnbüro des Generalstabs die Möglichkeit zu geben, die Instradierung von täglich 72 Zügen mit 1 ½ Divisionen zu planen11. Eine solcherart zu bildende sogenannte Sicherheitsbesatzung für Siebenbürgen sollte aus der 1. k. k. Landsturm Infanteriebrigade (Wien), der 40. k. k. Landsturm Infanteriebrigade (Brünn, Brno), der 103. Honvéd-Landsturm Infanteriebrigade und der 12. Marschbrigade (Hermannstadt, Sibiu, Nagyszeben) bestehen. Diese vier Brigaden (also schwache zwei Divisionen) sollten im Fall eines Krieges mit Russland automatisch nach Siebenbürgen verlegt und dem XII. Korpskommando (Hermannstadt) unterstellt werden. Dann wurden noch sehr brav Befestigungen, zumindest aber Sperren an den Hauptverkehrslinien eingeplant, vor allem bei Orschowa (Orșova, Orsova) sowie an den Passstraßen Szurduk, Rotenturm, Predeal und Gymes, doch sollten sie noch nicht gebaut bzw. aktiviert, sondern nur erkundet werden. Dieser Plan sah recht hübsch aus, vermochte aber die Tatsache nicht zu verbergen, dass es bestenfalls Behelfsmaßnahmen mit Behelfstruppen waren. In Wien verfolgte man erzürnt, wie sich Rumänien sichtbar Russland zuwandte und Zar Nikolaus II. bei seinem Besuch in Rumänien im Juni 1914 hofiert wurde. Hätte man in Wien gewusst, dass Russland bei jener Gelegenheit mehr oder weniger unverblümt versichert worden ist, dass Rumänien an keinem Krieg gegen das Zarenreich teilnehmen werde, hätte das wohl eine gewisse Klarheit geschaffen. So aber ließ sich nur an Indizien ablesen, wie sehr sich die Dinge veränderten. Es galt freilich immer noch, die deutsche Reichsregierung und den Großen 10 Gerhard P. G r o ß : Ein Nebenkriegsschauplatz. Die deutschen Operationen gegen Rumänien 1916. In: Der Erste Weltkrieg auf dem Balkan. Perspektiven der Forschung. Hg. Jürgen A n g e l o w . Berlin-Brandenburg 2011, S. 145. 11 Österreichisches Staatsarchiv Wien (StA), Kriegsarchiv (KA), Manuskripte zur Geschichte des Ersten Weltkriegs, Ru(mänien) 1916/1, Rudolf Kiszling, S. 2.
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Generalstab in Berlin von der geänderten Sachlage zu überzeugen. Das diesbezügliche Memorandum des Präsidialchefs im Ministerium des Äußern, Franz Freiherr von Matscheko, war bereits geschrieben, als der Doppelmord in Sarajewo geschah. Graf Alexander Hoyos nahm das Papier am 5. Juli zu seiner Berliner Mission mit, doch wieso sollte man der Beurteilung Matschekos zustimmen? Die deutsche Reichsregierung und General von Moltke sahen keinen Grund, sich die österreichisch-ungarische Argumentation zu eigen zu machen. Sie glaubten an die Unverbrüchlichkeit der Bündnisverpflichtungen und schienen lediglich daran interessiert, ihrer eigenen strategischen Planung zum Erfolg zu verhelfen. Doch genau dies war der springende Punkt: Würde der von Wien gewollte Krieg ein Bündniskrieg werden, und wenn ja: Wer würde mit wem gegen wen kämpfen? Der ungarische Ministerpräsident, Graf Tisza, sprach als erster die Frage der Bündnistreue an, als er am 7. Juli bei der Sitzung des gemeinsamen Ministerrats meinte, die Hinwendung Bulgariens und der Türkei zum Dreibund würde Rumänien zur Bündnistreue zwingen12. Das war ein eher gewagtes Argument, doch schien auch für den Minister des Äußern, Graf Berchtold, die Bündnistreue Rumäniens außer Frage zu stehen. Österreich-Ungarn konnte also ohne diesbezügliche Besorgnisse seinen – wie Kaiser Wilhelm es nannte – „Serbenhandel“ weiter treiben. Der ungarische Ministerpräsident hätte zwar gerne zunächst Bulgarien auf der Seite der Mittelmächte gewusst und befürchtete auch einen sofortigen Kriegseintritt Rumäniens auf Seiten der Entente, doch gab er sich schließlich mit den beruhigenden Erklärungen Conrads von Hötzendorf zufrieden. Am 19. Juli sollte es weitergehen: Wieder war es der gemeinsame Ministerrat, in dem die Haltung Rumäniens thematisiert und die Absendung des Ultimatums an Serbien beschlossen wurde. Beide Ministerpräsidenten, Karl Graf Stürgkh und Graf Tisza, sowie die drei gemeinsamen Minister setzten voraus, dass die serbische Antwort auf die österreichischen Forderungen nicht ausreichen werde und der Krieg die Folge sei. Es wurde nun auch nicht mehr von einem auf Serbien zu begrenzenden Krieg ausgegangen, sondern von einem „großen“ Krieg. In dem Zusammenhang brachte Graf Tisza Siebenbürgen konkret ins Spiel und fragte den abermals als Auskunftsperson beigezogenen Generalstabschef Conrad von Hötzendorf, ob „die im Fall einer allgemeinen Mobilisierung in Siebenbürgen verbleibenden 12 Protokolle des Gemeinsamen Ministerrates der Österreichisch-Ungarischen Monarchie (1914–1918). Hg. Miklós K o m j á t h y . Budapest 1966 (Publikationen des Ungarischen Staatsarchivs, Quellenpublikationen 10), S. 143. Ministerrat v. 7.7.1914.
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Sicherungsbesatzungen“ ausreichten, um „die innere Ruhe des Landes bei lokalem Aufruhr zu sichern“. Conrad beruhigte und meinte, „es handle sich um Landsturmformationen unter dem Kommando von Offizieren; das Oberkommando werde ein höherer General übernehmen. Zum Schutze des Landes gegen eine rumänische Armee würden die Truppen allerdings nicht genügen, sie könnten aber auch in diesem Falle den Vormarsch der Rumänen verzögern. Diese Truppen seien so ausgesucht, dass nur ein kleiner Prozentsatz von ungarländischen Rumänen darunter sei.“ Conrad deutete an, es würden 40.000 Mann insgesamt sein13. Mit der Auskunft waren merkwürdigerweise alle Teilnehmer des Ministerrats und auch Graf Tisza zufrieden. In Deutschland war man diesbezüglich wohl weniger optimistisch und legte Österreich-Ungarn dringend nahe, Rumänien dadurch zu gewinnen, dass man ihm das Gebiet um Radautz (Rădăuți, Radóc, Radowce) und Suceava (Sotschen, Szucsáva, Sučava) abtrat. Deutscherseits wurde schließlich Siebenbürgen als der Schlüssel zur Lösung aller anstehenden strategischen Fragen gesehen: Wenn Österreich-Ungarn durch die Abtretung Siebenbürgens die Rumänen zum Kriegseintritt auf Seiten der Mittelmächte bewegen könnte, dann würde – so auch die dem Stellvertretenden Chef der Militärkanzlei des österreichischen Kaisers bei einer Reise nach Berlin gegebene Auskunft – mit einem Schlag alles anders werden. Dann würden die Russen zurückgeworfen und folglich auch für Deutschland im Osten Truppen frei werden, die dann im Westen zur Verfügung stünden. Der deutsche Kaiser, berichtete Graf Berchtold am 20. September dem gemeinsamen Ministerrat, habe zu „weitestgehenden Konzessionen geraten“ und dafür plädiert, „dass man einen Einmarsch Rumäniens in Siebenbürgen nicht als Kriegserklärung auffassen dürfe, sondern vielmehr den Rumänen die Möglichkeit bieten sollte, den Schein der Bundestreue zu wahren und zu erklären, dass sie nur um Siebenbürgen vor Russland zu schützen eingerückt seien“14. Kein Wunder, dass Graf Tisza die Sache als Anmaßung empfand und vollends herunterspielte und wie auch der Minister des Äußern meinte, ein siebenbürgisches Angebot an Rumänien würde gar nichts bringen, da Rumänien das Land zwar nehmen, dann aber doch nicht gegen Russland Krieg führen werde. „Was die sehr eigentümliche Idee betreffe, man solle die Rumänen nach Siebenbürgen hineinlassen, damit sie die Russen hinauswerfen, so hieße dies den Bock zum Gärtner machen.“ Das Ganze sei eine Zumutung, und der österreichische 13 14
StA KA Manuskript: Kiszling, S. 4. Gemeinsamer Ministerrat, S. 178f. Ministerrat v. 20.9.1914.
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Ministerpräsident Graf Stürgkh assistierte, indem er einen plausiblen Zusammenhang herstellte: Gebietsabtretungen an Rumänien würden – so die dann einhellige Auffassung des Ministerrats – die Italiener ermuntern, ihre bereits angemeldeten Forderungen hinaufschnellen zu lassen. „Die Abtretung des Trentino […] wäre gar nichts gegenüber dem uns jetzt anempfohlenen Handel. […] Es sei viel besser, die Russen nach Transylvanien einmarschieren zu lassen.“ Der gemeinsame Finanzminister Biliński brachte es auf den Punkt: Deutsche Truppen in Galizien würden auf Rumänien sehr viel mehr Eindruck machen als Gebietsabtretungen. Aber was hätten die Rumänen militärisch schon groß zu bieten, fragte der Kriegsminister Baron Krobatin: „Zwei Armeekorps. Und die müsse man im Notfall halt auf sich nehmen“15 – eine geradezu erstaunlich leichtfertige Unterschätzung der rumänischen Mobilmachungsstärke. Wie selbstverständlich hatte die Frage Siebenbürgen und die Einschätzung der rumänischen Politik auch die Frage nach der Verlässlichkeit der österreichischen Rumänen zur Folge. Gerade der ungarische Ministerpräsident war sich alles andere denn sicher, dass sich die rumänischen Truppen innerhalb der k. u. k. Armee loyal gegenüber der Habsburgermonarchie verhalten würden. Tisza hatte schon vor dem Krieg mit nennenswerten Unruhen und Verweigerungen gerechnet. Am 24. Mai 1914 hatte er von Kriegsminister Krobatin verlangt, dass die Infanterieregimenter Nr. 31 (Hermannstadt) und 64 (Broos, Orăștie, Szászváros) durch ungarische oder deutsche ersetzt würden. Krobatin hatte wohl die nötigen Erhebungen hinsichtlich der Verlässlichkeit der Truppen pflegen lassen, Tisza aber geantwortet, dass an der Verlässlichkeit von Offizieren und Mannschaften der beiden Regimenter nicht zu zweifeln sei. Ein Problem seien nur die Reservemannschaften; vor allem der Bezirksschulinspektor von Radautz, Dorimedont Vlad, habe negativen Einfluss auf die Menschen seiner engeren Heimat; er sei die Seele der rumänischen Bewegung; eine Verlegung der Regimenter käme nicht infrage. An dieser Haltung sollte sich nichts ändern, denn das Königreich Rumänien schlug sich entgegen den Befürchtungen nicht auf die Seite der Russen. Rumänien hatte sich (was man in Wien nicht wusste) sogar in der Funktion eines ehrlichen Mittlers gesehen und eine diplomatische Aktion gestartet, um Serbien für den Fall eines österreichischen Ultimatums zum Nachgeben zu veranlassen. König Carol und der rumänischen Regierung schien dies der beste Weg zu sein, um aus einem Dilemma herauszufinden, das dadurch entstanden war, dass Deutsch15
Ebenda, S. 183.
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land deutlich machte, es würde sich verstärkt Bulgarien zuwenden und Rumänien bei einer feindlichen Haltung dadurch bloßstellen, dass es den geheimen Bündnisvertrag publiziere16. Die rumänische Regierung schickte den rumänischen Geschäftsträger in der Schweiz, Nicolae Cantacuzino, als Gesandten in besonderer Mission nach Belgrad und gab ihm den Auftrag, die serbische Regierung zu überreden, „in extremis“ die drohende Note aus Wien anzunehmen, um den Krieg zu vermeiden17. Als die Habsburgermonarchie Serbien am 28. Juli den Krieg erklärte, aber keine diplomatische Vertretung mehr in Belgrad hatte, geschah dies telegrafisch und im Umweg über Rumänien. Das Königreich seinerseits erklärte am 3. August seine Neutralität. Man hätte darüber streiten können, ob das ein Bruch des geheimen Bündnisvertrags war oder nicht, denn die Neutralitätserklärung erfolgte noch vor der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Russland. Mit derlei Spitzfindigkeiten hielt sich aber niemand auf, denn die normative Kraft des Faktischen verlangte anderes. König Carol versicherte dem österreichischen Gesandten Czernin, dass es sich um eine strikte Neutralität handeln werde, und Ministerpräsident Ion C. Brătianu ergänzte: Sollte Russland Rumäniens Neutralität verletzen, würde Rumänien unverzüglich auf Seiten der Mittelmächte in den Krieg eintreten18. Man konnte so etwas vielleicht als „wohlwollende Neutralität“ bezeichnen, doch der Radiohorchdienst des Evidenzbüros des k. u. k. Generalstabs begann nichtsdestoweniger damit, die Depeschen der Radiostation Bukarest abzuhören19. Das Verhalten Rumäniens erforderte jedoch mehr. Was bis 1913 vielleicht noch relativ einfach schien, nämlich die Planung des Einsatzes von k. u. k. Truppen im Fall eines Krieges gegen Serbien oder auch Russland, war im Sommer 1914 eindeutig überholt. Sollte Rumänien nicht nur neutral bleiben wollen, sondern sogar auf Seiten der Russen in den Krieg eintreten, bestand die Gefahr, dass rumänische Truppen den österreichisch-ungarischen Verbänden in die Flanke fielen. Kaiser Wilhelm bemühte sich abermals um Rumänien und ließ in Wien ausrichten, man solle den Rumänen doch für ein Eingreifen auf Seiten der Mittelmächte Bessarabien versprechen. Das mochte eine gewisse Attraktivität haben, doch konnte man einem solchen Vorschlag, verglichen mit Siebenbürgen und der Bukowina, in Bukarest sicherlich wenig abgewinnen. In Wien wusste man denn 16 Samuel R. W i l l i a m s o n : Austria-Hungary and the Origins of the First World War. London 1991, S. 209. 17 C ă z a n , R ă d u l e s c u - Z o n e r : Rumänien und der Dreibund, S. 291. 18 StA KA Manuskript Kiszling, S. 4. 19 Albert P e t h ö : Agenten für den Doppeladler. Österreich-Ungarns Geheimer Dienst im Weltkrieg. Graz, Stuttgart 1998, S. 157.
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auch nicht recht, wie man Rumänien begegnen sollte, und schwankte zwischen Schmeicheln und Drohen. Die Rumänen ihrerseits waren sich offenbar auch nicht ganz klar, wie sie sich verhalten und ihre Haltung deutlich machen sollten: Der serbischen Regierung wurde jedenfalls versichert, dass eine Revision des Bukarester Friedens undenkbar sei und dass Rumänien einen Angriff Bulgariens auf Serbien nicht zulassen werde. In Berlin wurde freilich das Gegenteil ausgerichtet20. Für den österreichischen Generalstabschef Conrad war die Haltung Rumäniens jedenfalls mit einer der Gründe, weshalb er den Aufmarsch in Galizien an die San-Dnjestr-Linie zurückverlegte. Der Vorteil lag offenbar auf der Hand: Mithilfe dieser „Rückverlegung“ war der Aufmarsch rascher zu bewerkstelligen, die Armeen konnten konzentriert bleiben, und die Russen sollten gezwungen sein, sich verlustreich einen Weg Richtung Westen zu bahnen. Conrad wusste freilich auch, dass ihm anfangs für den russischen Kriegsschauplatz eine komplette Armee fehlte, die am rechten Flügel der Ostfront einrücken sollte. Doch da diese 2. Armee zunächst in Serbien gebunden war, riskierte Conrad die mehr oder weniger totale Entblößung Siebenbürgens. Schließlich zog er auch die 1. und die 40. Landsturm Infanteriebrigade ab, und in Siebenbürgen verblieben nur mehr Ersatztruppen und Gendarmen. Eines erleichterte Conrad seinen Entschluss ganz sicher: Bei den rumänischen Truppen im Rahmen der k. u. k. Armee zeigten sich keine Anzeichen von Unzuverlässigkeit. Sie stammten zu einem geringen Teil aus der Bukowina und dem Banat, mehrheitlich jedoch aus Siebenbürgen. Ihre Ergänzungsbezirke waren Großwardein (Oradea, Nagyvárad), Ungarisch Weißkirchen (Biserica Albă, Fehértemplom), Karlsburg (Alba Iulia, Gyulafehérvár), Hermannstadt und Klausenburg (Cluj, Kolozsvár). Die Rumänen, die die größeren Teile der Mannschaften der k. u. k. Infanterieregimenter Nr. 31, 43, 50, 51, 63 und 64 stellten, gehörten zum VII. und zum XII. Korps. K.k. Landwehrregimenter mit einem überproportionalen Anteil an Rumänen gab es keine, wohl aber waren Rumänen mit einem hohen Anteil in den Honvéd-Infanterieregimentern 2, 4, 12, 21, 23 und 32 zu finden. Bei der Kavallerie des gemeinsamen Heeres wies lediglich das k. u. k. Dragonerregiment Nr. 9 einen 50-prozentigen Anteil an Rumänen auf. Das Honvéd-Husarenregiment Nr. 10 war fast zur Gänze rumänisch, ebenso die Honvéd-Feldkanonenregimenter 2 und vor allem 6. Rund sieben Prozent der Mannschaften des gemeinsamen Heeres waren Ru20 Holger A f f l e r b a c h : Der Dreibund. Europäische Großmacht- und Allianzpolitik vor dem Ersten Weltkrieg. Wien, Köln, Weimar 2002 (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs 92), S. 518.
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mänen, allerdings nicht einmal ein Prozent der Offiziere. Nimmt man die Zahl von 18 000 Berufsoffizieren zur Grundlage, die im gemeinsamen Heer vor Kriegsbeginn gedient hatten, errechnet sich daraus, dass es vor dem Krieg etwa 1.260 rumänischsprachige Berufsoffiziere in der k. u. k. Armee gab oder – die rumänischen Offiziere in der Honvéd und die Reserveoffiziere dazugerechnet – 4.200 Offiziere insgesamt, wovon die meisten aus Siebenbürgen stammten. Schließlich sollte auch der letzte Generalstabschef der österreichisch-ungarischen Armee, Generaloberst Arthur Arz von Straußenburg, gebürtiger Hermannstädter sein. Die Heereskörper mit einem hohen und zumindest höheren Anteil an Rumänen sollten vornehmlich in Galizien zum Einsatz kommen. Mobilisierung und Ausmarsch waren problemlos, denn es gab keine Anzeichen von Widersetzlichkeit, auch die befürchtete Fahnenflucht erreichte kaum nennenswerte Dimensionen. Einige Dutzend Wehrpflichtige, die nicht für Österreich, vor allem aber nicht für Ungarn kämpfen wollten, setzten sich allerdings ab, weshalb die Überwachungsmaßnahmen an den nach Rumänien führenden Pässen und Übergangsstellen verstärkt wurden. Gänzlich ließen sich die Entziehungen aber nicht unterbinden, und der österreichisch-ungarische Gesandte in Rumänien, Ottokar Graf Czernin, berichtete im September 1914 vom Eintreffen von Fahnenflüchtigen: „In Sinaia treffen seit einiger Zeit kleinere Partien von österreichisch-ungarischen Deserteuren ein. Gestern z. B. 20 Mann, zwei in Uniform, angeblich aus Kronstadt (Brașov)“, darunter drei Offiziere. Die meisten seien in Ungarn lebende Rumänen, doch wurden auch Angehörige des in Komorn […] garnisonierenden, also ungarisch-slowakischen Infanterieregiments Nr. 12 festgestellt21. Es konnte auch nicht ausbleiben, dass sich das Kriegsüberwachungsamt bemühte, auch abseits der Fronten und Ergänzungsbereiche Zeichen prorumänischer Aktivitäten festzustellen, denn etliche Lehrer, Anwälte und Angehörige der Intelligenz machten mit nationalistischen Äußerungen auf sich aufmerksam und hetzten bisweilen regelrecht, sodass es schließlich Ende 1914 in einem Bericht über die Verhältnisse in Siebenbürgen hieß: „Im Fall eines Einbruchs Rumäniens ist auf die Treue der Bevölkerung nicht zu rechnen.“22 Der Militärkommandant von Hermannstadt, Feldmarschallleutnant Ernst Mattanović, 21 StA KA, Kriegsüberwachungsamt (KÜA) 1914/5829, Telegramm Gesandter Czernin an den Minister des Äußern Berchtold, Sinaia 29.9.1914, zit. bei Manfried R a u c h e n s t e i n e r : Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918. Wien, Köln, Weimar 2013, S. 341f. 22 StA KA, Nachlass B/726, Robert N o w a k : Die Klammer des Reiches. Das Verhalten der elf Nationalitäten Österreich-Ungarns in der k. u. k. Wehrmacht 1914–1918. Manuskript (1964), 2 Bde, hier Bd. 1/I, S. 344.
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erteilte Ende November 1914 den Befehl, die militärische Disziplin „rücksichtslos“ aufrechtzuerhalten und vor allem bei den zahlreichen Krankenständen keine Heimpflege mehr zu gewähren, da sich gezeigt habe, dass sich die rekonvaleszenten Soldaten vermehrt nach Rumänien abzusetzen suchten. Im Folgemonat befahl Mattanović, gegen Drückeberger mit der vollen Strenge des Gesetzes vorzugehen und mittels Militärstreifen nach ihnen zu fahnden. Da dem Befehl kaum Erfolg beschieden war, wurde am 20. Dezember für Deserteure das Standrecht proklamiert. Das zeigte Wirkung. Ebenso – und vielleicht weit wirksamer – waren Maßnahmen, die eigentlich als selbstverständlich hätten gelten sollen, nämlich eine vermehrte Fürsorge, d. h. der Einsatz rumänisch sprechender Offiziere und das Herausstreichen besonderer Leistungen wie z. B. die Tapferkeit des vornehmlich aus Rumänen zusammengesetzten Infanterieregiments Nr. 31 bei den Kämpfen im Raum Przedbórz am 17. Dezember 1914. Die Rumänen in der Bukowina waren besonders loyal und forderten 1914 sogar König Carol I. auf, an der Seite Österreichs gegen den „wahren Feind des rumänischen Volkes“, die Russen, in den Krieg einzutreten23. Im Winter 1914/15 mehrte sich aber im k. u. k. Armeeoberkommando die Sorge, ein Misserfolg gegen Russland würde das bis dahin schwankende Rumänien ins Lager der Entente abdriften lassen. Schon im September war kurzfristig eine Armeegruppe unter dem Kommando von General Pflanzer-Baltin gebildet worden – die „Armeegruppe Siebenbürgen“. Sie wurde noch im Winter abgezogen und zur Wiedereroberung des Großteils der an die Russen verlorenen Bukowina eingesetzt. Trotz tiefwinterlicher Verhältnisse war es so möglich, die Russen am 18. Februar aus Kolomea (Kolomyja) und der Hauptstadt der Bukowina, Czernowitz (Cernăuți, Černivci), hinauszudrängen. Das Misstrauen gegenüber Rumänien wuchs jedoch von Tag zu Tag, weshalb nahe lag, dass sich das Evidenzbüro nicht mehr damit begnügen wollte, die Radiostation Bukarest abzuhören, sondern daranging, aktiv Nachrichten zu sammeln. Der Kundschaftsstelle Temeswar (Timișoara, Temesvár) gelang es, sich einen rumänischen Chiffrierschlüssel zu beschaffen, wodurch die Kryptographen in der Lage waren, in das rumänische Chiffrierwesen immer tiefer einzudringen24. Die Abhorchstellen wurden vermehrt, überwachten bald einen großen Teil der Radiostationen und entzifferten deren Funksprüche. Rumänien seinerseits hatte es einem Glücksfall zu verdanken, dass ihm ein österreichischer Schlüssel in die Hände fiel, als der österreichische 23 24
Ebenda, S. 345–347. P e t h ö : Agenten, S. 157.
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Gesandte in Bukarest, Ottokar Graf Czernin, im Oktober 1914 seine Tasche verlor, in der sich auch der Chiffre-Schlüssel für den Funkverkehr der Botschaft befand. Es versteht sich, dass die Unterlagen fotografiert wurden, ehe man sie dem Herrn Botschafter mit den üblichen Komplimenten zurückgab25. Noch schien man von Gefahr im Verzug weit entfernt zu sein; trotz der nachrichtendienstlichen Erfolge konnte man in Wien und Berlin bestenfalls argwöhnen, hatte aber zum wenigsten konkrete Kenntnisse davon, wie konsequent Rumänien auf einen Kriegseintritt auf Seiten der Entente hinarbeitete. In Rumänien hatte man ganz offensichtlich den Verdacht, abgehört und ausgespäht zu werden und begann sich damit zu behelfen, Übereinkommen mit den Entente-Mächten und Italien nur mehr handschriftlich auszufertigen26. Schon am 23. September 1914 unterzeichneten Rumänien und Italien einen Vertrag, der beide Staaten verpflichtete, sich wechselseitig zu konsultieren und die Neutralität nicht ohne achttägige Vorankündigung aufzugeben. Die Idee dazu lag gewissermaßen auf der Hand, doch dürfte es der rumänische Ministerpräsident Ion Brătianu gewesen sein, der die Initiative ergriffen hatte. Er nahm Gespräche mit dem italienischen Gesandten in Bukarest auf und ließ verlauten, beide Staaten, Italien und Rumänien, sollten gemeinsam an die Liquidierung Österreich-Ungarns gehen27. Zudem sicherten sich Rumänien und Italien die Wahrung der jeweiligen Interessen zu und verpflichteten sich ausdrücklich zur absoluten Geheimhaltung des Vertrages. Am 1. Oktober 1914 begann der Reigen der Abkommen zwischen Rumänien und der Entente mit einem rumänisch-russischen Übereinkommen, wonach Siebenbürgen zur Gänze und die Bukowina bei der von den Russen angedachten Aufteilung Österreich-Ungarns zum Teil an Rumänien fallen sollten. Briten und Franzosen wussten zwar von den Verhandlungen, wurden über deren Ergebnisse aber erst im Frühjahr 1915 informiert. Am 8. März 1915 schlossen Rumänen und Franzosen eine Militärkonvention, wonach Rumänien u. a. 40 Flugzeuge, 200.000 Stück Artilleriemunition und 50 Millionen Schuss Infanteriemunition bekommen sollte. Ergänzend dazu lieferte Frankreich Anfang 1916 weitere 400.000 Stück Artilleriemunition. Rumänien rüstete also auf. Doch die eindrucksvollen militärischen Erfolge der Mittelmächte in der Durchbruchschlacht von Tarnów-Gorlice und der Übergang zum Bewegungskrieg an der Ostfront hielten Rumänien davon ab, dem italienischen Beispiel zu folgen und sich schon im Frühjahr 1915 zum 25
Ebenda, S. 274. Costică P r o d a n , Dumitru P r e d a : The Romanian Army during the First World War. Bucharest 1998, S. 9. 27 R a u c h e n s t e i n e r : Der Erste Weltkrieg, S. 377. 26
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Angriff zu entschließen. Es wahrte weiterhin seine Neutralität, obwohl sich Italien redlich bemüht hatte, Rumänien zu einem gleichzeitigen Kriegseintritt zu bewegen. Rumänien wie Italien hatten ja von den Entente-Mächten großzügige Angebote bekommen: Im Fall Rumäniens versprachen Franzosen, Briten und Russen nicht nur Siebenbürgen und die Bukowina, sondern auch das von Rumänen bewohnte Gebiet Ungarns zwischen Siebenbürgen und der Theiß. Das war nun viel mehr als die abermals von Deutschland ins Spiel gebrachten Gebiete von Radautz und Suceava. Trotz des generösen Angebots zögerte Rumänien weiterhin, denn wieder waren es die Erfolge der Mittelmächte und Bulgariens bei der Niederwerfung Serbiens im Herbst 1915, die Rumänien stillhalten ließen. Der k. u. k. Minister des Äußern, Graf Burián, war sich freilich nicht darüber im Klaren, warum sich Rumänien zurückhielt, denn es hatte seinen Mobilmachungsstand mittlerweile auf eine halbe Million Soldaten gebracht. Ein Unterschied sei dort zu beobachten, meinte Burián, wo festzustellen war, dass sich in Italien eine sehr aktive Pro-KriegsBewegung zeige, während „in Rumänien die Massen teilnahmslos“ seien. „Die Mache sei hier offenbar. Die Agitation findet ihre Wurzeln in der Intelligenz“, meinte Graf Burián28. Allerdings sei es auch so gut wie auszuschließen, dass sich Rumänien auf Seiten der Mittelmächte in den Krieg ziehen lassen werde, denn was habe man Rumänien zu bieten? Nach einer Niederlage Russlands wäre vielleicht Bessarabien disponibel, doch was sei dies gegen Siebenbürgen und die Bukowina? Eines war freilich sicher: Im Frühjahr und Sommer 1915 hatten nicht die österreichischen Maßnahmen Rumänien gezwungen, sich weiterhin bedeckt zu halten, denn was dem Militärkommandanten von Hermannstadt, Feldmarschallleutnant Viktor Njegovan, an Grenzschutztruppen zur Verfügung stand (8.500 Mann), war, gemessen an den Dimensionen, die der Krieg schon längst erreicht hatte, verschwindend wenig, und es fiel wohl auch nicht nennenswert ins Gewicht, dass Ende Mai 1915 die „Siebenbürger Gendarmerie Truppendivision“ mit 9.600 Gendarmen unter dem Kommando von General Anton Goldbach gebildet und vornehmlich mit erbeuteten russischen Gewehren und Kanonen des Musters (18)75/96 bewaffnet wurde29. Doch Rumänien verharrte bei seiner Neutralität, führte seine Aufrüstung fort und wartete ganz offensichtlich auf einen noch günstigeren Zeitpunkt. In Wien glaubte man noch einen weiteren Grund für das rumänische Stillhalten gefunden zu haben: Rumänien hatte 1915 eine 28 29
Gemeinsamer Ministerrat, S. 196. Ministerrat v. 3.2.1915. StA KA Manuskript Kiszling, S. 8.
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überdurchschnittlich gute Getreideernte und sei auf den Ankauf der Überschussmengen durch Österreich-Ungarn angewiesen, hieß es im gemeinsamen Ministerrat. Dieses Argument wurde im Verlauf des Jahres mehrfach hervorgehoben, war für die Habsburgermonarchie aber letztlich auch existentiell, da die Ernte in Ungarn nicht so gut wie erwartet, in Österreich sogar ausgesprochen schlecht ausfiel. Der Wermutstropfen bestand freilich im Umstand, dass Deutschland die Hälfte der rumänischen Lieferungen beanspruchte und ihm diese nicht verweigert werden konnte, da Österreich-Ungarn mittlerweile nicht nur auf vielen Gebieten der Nehmende geworden war, sondern auch ganz banal deshalb nicht, weil für den Transport des rumänischen Getreides gar keine Waggons der k. u. k. Bahnen zur Verfügung standen, während Deutschland einen leeren Güterzug nach dem anderen schicken konnte. Zum Getreide kam das Erdöl, und auch da war Rumänien auf die Abnahme durch die Mittelmächte angewiesen. Somit erhielt eine an sich wirtschaftspolitische Frage zusätzliche strategische Aspekte. Und obwohl Siebenbürgen wieder einmal aus der Gefahrenzone gekommen zu sein schien, verlangte Graf Tisza am 13. Juli 1915, dass Kräfte aus der russischen Front herausgezogen werden sollten, nicht um nach Italien oder an die serbische Front verschoben zu werden, sondern um die schwachen österreichisch-ungarischen Kräfte in Siebenbürgen zu verstärken und Rumänien von einer Haltungsänderung abzubringen. Da sich das Armeeoberkommando strikt dagegen aussprach, sollte Kaiser Franz Joseph entscheiden. Der Monarch gab beiden ein bisschen Recht, worauf die 70. Honvéd Infanteriedivision nach Siebenbürgen verlegt wurde30. Anfang 1916 mehrten sich die Anzeichen dafür, dass die Entente Rumänien verstärkt zu umwerben begann, mehr noch: Die Entente zeigte sich zunehmend ungeduldig. Briten und Franzosen waren des Taktierens Bukarests offenbar leid und gaben zu verstehen: „Jetzt oder nie!“31 Die Erkenntnisse der österreichischen Funkspionage, wonach die Entente-freundlichen Kräfte in Rumänien mehr und mehr das Sagen hätten, führten zu einer Verdichtung der Radiohorchstationen und des Dechiffrierdiensts. Nun ließ sich nicht nur das Werben der Entente genauer verfolgen und die zunehmende Bereitschaft der Rumänen herauslesen, diesem Werben Folge zu leisten; auch das Ende Juni plötzlich abnehmende Interesse der Russen konnte verfolgt werden. Die Erfolge der Brusilov-Offensive führten im russischen 30 StA KA Militärkanzlei Seiner Majestät (MKSM) Sep. Fasz. 91, Nachlass Ferdinand Marterer, Tagebuch Bd. 3, 13.7.1915 und StA KA Manuskript Kiszling, S. 8. 31 P r o d a n , P r e d a : The Romanian Army, S. 9.
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Oberkommando zum Schluss, dass man „auch ohne das Bleigewicht der Rumänen fertig“ werde32. Das aber wollten die Rumänen keinesfalls: Bukarest sah offenbar, dass es nicht länger zögern und taktieren durfte. Am 14. Juli 1916 erfuhren die Radiohorcher des Evidenzbüros von einem ersten russischen Munitionstransport nach Rumänien33. Der drohende Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Front im Osten und der Druck der Alliierten taten offenbar ihre Wirkung. Österreich-Ungarn konnte dies nur registrieren und kommentieren. Der Generaladjutant des Armeeoberkommandanten, Feldzeugmeister Herbert Graf Herberstein, notierte in sein Tagebuch am 27. Juni 1916: „Die Haltung Rumäniens ist in letzter Zeit eine denkbarst schlechte und perfide geworden, da Russland ihnen [sic!] wie es heißt jetzt jedenfalls die Bukowina auf dem Präsentierteller anbieten wird.“34 Und tags darauf: „Am meisten bin ich über die Haltung der Rumänen empört, deren Politik das Gemeinste ist, was man sich nur vorstellen kann. Wie schön wäre es doch, wenn wir mit Russland auf gleich kommen könnten und wenn dann Bulgarien unter wohlwollender Neutralität unsererseits auf Rumänien losgehen würde, um für das, was dieser Nachbar ihm während des Balkankriegs angetan hat, Rache zu nehmen!“35 Wie dramatisch die Situation am Höhepunkt der Brusilov-Offensive und angesichts der zu erwartenden rumänischen Kriegserklärung war, ließ sich noch an einem anderen Detail ablesen: Kaiser Franz Joseph ging von seiner üblichen Art, Audienzen abzuhalten, ab und bestellte die beiden Ministerpräsidenten, den Minister des Äußern, den Kriegsminister und den Generalstabschef zu sich und ließ sich über zwei Stunden berichten, nachdem vorher Conrad schon 1 ¾ Stunden beim Monarchen gewesen war36. Was besprochen wurde, lässt sich nur ahnen, doch es kann wohl nur um die katastrophale Situation an der russischen Front, um Rumänien und die Übertragung der wichtigsten Kommandofunktionen an die Deutschen gegangen sein. Die Oberste Gemeinsame Kriegsleitung zeichnete sich ab. Für den k. u. k. Generalstabschef, Conrad von Hötzendorf, war es eine ausgemachte Sache, dass Rumänien angreifen werde, womit in seinen Augen der Moment gekommen war, da die Mittelmächte zusammenbrechen müssten. Nicht Serbien, nicht Russland oder Ita32
P e t h ö : Agenten, S. 158. Ebenda. 34 Steiermärkisches Landesarchiv, Nachlass Herberstein, FML d.R. Herbert Graf H e r b e r s t e i n : Kriegserinnerungen, S. 384, 27.6.1916. 35 Ebenda, S. 385, 28.6.1916. 36 Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien (HHStA), Cabinetts Akten, Tagebücher der Flügeladjutanten Kaiser Franz Josephs, Bd. 61, 30.6.1916. 33
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lien würden das Ende Österreich-Ungarns herbeiführen, sondern das vergleichsweise kleine und nur mehr verächtlich gesehene Rumänien. Conrad sah eine einzige Möglichkeit, dies zu verhindern, indem ein gemeinsam von Deutschen und Österreichern zu führender Stoß gegen den Südflügel der russischen Front zielte. Um dies zu erreichen, wollte Conrad alles tun und akzeptierte sogar den Vorschlag des deutschen Generalstabschefs Falkenhayn, ein türkisches Korps an die galizische Front zu verlegen. Folglich kamen zwei türkische Divisionen nach Galizien und sollten in die Gegend um Cholm verlegt werden, um dort die Front der Mittelmächte zu verstärken. Schließlich ersuchte Conrad den Minister des Äußern, er solle in Berlin nachdrücklich um Hilfe für die bedrohte Ostfront bitten, und zeigte erstmals Nachgiebigkeit in der Frage der obersten Befehlsführung. Österreich-Ungarn, Deutschland und Bulgarien schlossen für den Fall eines rumänischen Angriffs eine weitere Militärkonvention, der das Osmanische Reich am 3. August beitrat. Das Schwergewicht des rumänischen Angriffs wurde in Siebenbürgen angenommen, wogegen schwächere Angriffe in der Dobrudscha und an der Donau erwartet wurden37. Seit Juli 1916 war man im Armeeoberkommando trotz aller Verschleierungsversuche Bukarests sogar über die Details des Abkommens Rumäniens mit der Entente informiert. Dank der schon fast mühelosen Entzifferung der zwischen Petersburg und Rom ausgetauschten Radiodepeschen blieben kaum noch Unklarheiten38. Die Kenntnis dessen, welches Unheil sich da zusammenbraute, war eines; wie dem zu begegnen war, ein anderes. Der Generaladjutant des Armeeoberkommandanten notierte am 24. Juli: „Von den Fronten sind die Nachrichten nicht sehr befriedigend […] und wir müssen auch jeden Moment auf die Rumänische Kriegserklärung gefasst sein. Gut steht also die Sache momentan nicht, aber sie kann sich auch wieder zum Besseren wenden, und den Mut brauchen wir deswegen noch lange nicht sinken zu lassen.“39 Wie im Spätherbst 1914 wurde General Pflanzer-Baltin zum Kommandanten in Siebenbürgen ernannt und ging von zwei Möglichkeiten aus: erstens einer grenznahen Verteidigung oder aber zweitens der Rücknahme der österreichisch-ungarischen Verbände auf die MarosKokel-Linie, d. h. die Preisgabe von halb Siebenbürgen. Conrad war für Variante zwei, doch wurde Pflanzer kurz darauf in die Bukowina 37 38 39
G r o ß : Ein Nebenkriegsschauplatz, S. 149. KA Nachlass B/509, Karl S c h n e l l e r , Tagebuch, 18.7.1916. StLA Kriegserinnerungen H e r b e r s t e i n , S. 390.
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geschickt, und statt ihm übernahm Arthur Arz von Straußenburg das Kommando über die noch etwas hochtrabend benannte k. u. k. 1. Armee. Der Siebenbürger Arz wollte ganz sicher nicht halb Siebenbürgen aufgeben, sondern grenznah verteidigen und bestimmte fünf Verteidigungsabschnitte: Orschowa, Hatzeg (Hațeg, Hátszeg), Talmesch (Tӑlmaciu, Talmács), Kronstadt (Brașov, Brassó) und Niklasmarkt (Gheorgheni, Gyergyószentmiklós). Man erwartete, dass Rumänien mit etwa 300.000 Mann Siebenbürgen angreifen werde40. Das Königreich verfügte mittlerweile über ein Heer von 23 Infanterie- und zwei Kavalleriedivisionen, Russland wollte täglich 300 Tonnen Kriegsmaterial liefern, und dies zusammen sollte genügen, um dem rumänischen Generalstabschef, General Vasile Zottu, Operationsfreiheit zu geben. Am 39. Tag nach der Mobilmachung wollte er mit seinen Truppen bereits in Debrecen und im Osten Ungarns stehen41. Am 9. August wurde eine Radiodepesche abgefangen, die besagte, Rumänien werde am 14. August einen Vertrag mit den Entente-Mächten unterzeichnen. Somit konnte man sich ausrechnen, dass die Kampfhandlungen nach dem 20. August beginnen würden. Mit welchen Truppen sollte Rumänien aber bekämpft werden? Die Ersatzmannschaften, die zu den österreichisch-ungarischen Regimentern einrückten, wurden schlichtweg als „Drückeberger, Greise oder Kinder“ bezeichnet42. Der deutsche Generalstabschef von Falkenhayn wollte den kommenden Krieg mit Rumänien noch immer nicht wahrhaben und sah die von Österreich abgefangenen und dechiffrierten Funksprüche für falsch oder sogar als von den Österreichern gefälscht an. Am 19. August wusste das k. u. k. Armeeoberkommando, dass Rumänien zwei Tage zuvor nicht nur die Militärkonvention mit der Entente unterzeichnet, sondern auch mit der Mobilmachung begonnen hatte; Falkenhayn aber wiederholte seinen Fälschungsvorwurf43. Er sah sich darin bestärkt, als das von den Österreichern zunächst genannte Datum, der 14. August, verstrichen war, ohne dass die Rumänen angegriffen hatten. Allerdings war dabei von den Analysten wohl übersehen worden, dass sich die rumänischrussischen Funksprüche auf den julianischen Kalender bezogen, der 14. August nach gregorianischem Kalender aber der 27. des Monats war. An diesem Tag übergab der rumänische Gesandte in Wien die 40
StA KA Manuskript Kiszling, S. 12. R a u c h e n s t e i n e r : Der Erste Weltkrieg, S. 639. 42 StLA, Kriegserinnerungen H e r b e r s t e i n , S. 396. 43 Rudolf J e ř á b e k : Die Brussilowoffensive. Ein Wendepunkt der Koalitionskriegführung der Mittelmächte, phil. Diss. Universität Wien 2 Teilbde (1982), hier Bd. II, S. 455. Der Autor bezieht sich auf eine diesbezügliche Äußerung des Deutschen Bevollmächtigten Generals beim k. u. k. Armeeoberkommando, August von Cramon. 41
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Kriegserklärung. Am Abend des Tages überschritten rumänische Truppen die siebenbürgischen Pässe44. Rumänien wollte freilich nur gegen Österreich-Ungarn Krieg führen und hoffte, dass Russland massive militärische Hilfe leisten werde. Die Vertragschließenden verpflichteten sich, erst dann Frieden zu schließen, wenn Rumänien seine Kriegsziele erreicht habe; von Bulgarien oder gar von Deutschland war nicht die Rede. Doch in diesem Fall gab man sich in Bukarest einer Illusion hin, denn die Deutschen und die Bulgaren griffen rasch ein. Der neue Krieg bzw. der neue Feind wurde in Österreich-Ungarn von keiner kaiserlichen Proklamation, sondern nur von einem Tagesbefehl des Armeeoberkommandanten Erzherzog Friedrich begleitet: „Soldaten! Kriegskameraden! Ich habe Euch mitteilen lassen, dass in der Reihe unserer Gegner ein neuer Feind aufgetaucht ist: Das Königreich Rumänien. Euer ehrlicher Soldatensinn wird für diesen räuberischen Überfall das richtige Maß an Verachtung finden. Wir haben in den vergangenen Jahren so manche schwere Stunde überwunden. Wir werden auch den neuen Strauß in Ehren durchkämpfen, unserem Eidschwur zu den Fahnen des Allerhöchsten Kriegsherrn getreu. Gott mit Euch!“ Wie nicht weiter verwunderlich, spielten die Zeitungen der Monarchie den neuen Feind herunter. Was hätte man angesichts der Zensur auch anderes schreiben sollen? Doch es war wohl kein besonderes Eingreifen des Kriegsüberwachungsamtes notwendig, um eine Art geringschätzigen Gleichklang zu erzielen. So wie es etwa in der Zeitung „Az Est“ am 28. August hieß: „Siebenbürgen kann ruhig sein. Ungarn wird bis zum letzten Mann fechten, um diesen räuberischen Überfall auf unsere Grenzen zurückzuschlagen.“45 Im Ungarischen Ministerrat hieß das auf Rumänien gemünzte Adverb „meuchlings“46. Jenseits der Emotionalität und der Propaganda traf die Kriegserklärung Rumäniens insofern einen Lebensnerv Österreich-Ungarns, als dessen militärische Möglichkeiten endgültig überfordert schienen und, was als noch viel dramatischer zu werten war, dass der Kriegseintritt Rumäniens auch dieses Land als Nahrungs- und vor allem Getreidelieferanten ausfallen ließ. Tatsächlich kam es nur Wochen später in Österreich zu den ersten Hungerdemonstrationen, wogegen sich die militärische Situation weniger schlimm als befürchtet zu entwickeln schien. 44 Generaloberst Arthur A r z v o n S t r a u ß e n b u r g : Zur Geschichte des großen Krieges 1914–1918. Aufzeichnungen. Wien, Leipzig, München 1924, S. 108. 45 Wiener Zeitung v. 29. August 1916, S. 14. 46 HHStA Wien, Cabinetts Akten, Ungarische Ministerratsprotokolle, Karton 34, Ministerrat v. 18.9.1916.
Siebenbürgen im strategischen Fokus des Krieges
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Der Angriff Rumäniens traf Österreich-Ungarn durchaus vorbereitet, denn die rumänischen Truppen waren identifiziert und qualifiziert worden, waren numerisch haushoch überlegen, hatten jedoch keine Kriegserfahrung. Allerdings hatten die k. u. k. Truppen nur die Möglichkeit, den Vorstoß der Rumänen nach Siebenbürgen zu verzögern und lokale Abwehrerfolge zu erringen; die k. u. k. 1. Armee musste sich zurückziehen. Sofern dies nicht bereits zuvor geschehen war, floh ein großer Teil der Zivilbevölkerung mit den Truppen. Plötzlich sah sich auch Ungarn vor ein Problem gestellt, das bis dahin schon der österreichischen Reichshälfte enorm zu schaffen gemacht hatte, als es galt, Flüchtlinge unterzubringen. Bis zum letzten Augenblick war zugewartet worden, ob Rumänien tatsächlich angreifen werde und ob die zwei österreichisch-ungarischen Infanteriedivisionen und das Székler Jäger-Regiment, die nach und nach antransportiert worden waren, die Rumänen nicht doch aufzuhalten vermochten. Nun aber begann eine überstürzte Flucht aus dem Kriegsgebiet. Am 1. September wurden von der ungarischen Regierung vorerst drei Millionen Kronen bereitgestellt, um den Flüchtlingen zu helfen, doch meldete der Ministerrat in Budapest schon zwei Wochen später einen zusätzlichen Bedarf von 5 Millionen Kronen an. Die Flüchtlinge sollten möglichst weitab der Front in entfernteren Komitaten untergebracht werden47. Es galt, an die 200.000 Menschen aufzunehmen. Die Wende in Siebenbürgen kam erst mit dem Eintreffen deutscher Truppen. Deutschland, das sich vom rumänischen Versuch, den Krieg nur gegen die Habsburgermonarchie führen zu wollen, nicht beeindruckt zeigte und dem ehemaligen Verbündeten seinerseits den Krieg erklärte, schickte zunächst Bautrupps, die wie wild am Ausbau der nach Siebenbürgen führenden Eisenbahnen werkten. Die Deutsche Oberste Heeresleitung stellte eine neue 9. Armee auf, festigte das Bündnis mit Bulgarien und hatte aufgrund der Bildung des gemeinsamen Oberbefehls von Deutschen, Österreichern und Bulgaren die Möglichkeit, nicht nur Truppen zu entsenden, sondern auch den Oberbefehl in ihrem Sinn zu gestalten. Der nicht zuletzt wegen seiner Negation des rumänischen Problems mittlerweile abgelöste deutsche Generalstabschef Erich von Falkenhayn führte in Siebenbürgen, Generalfeldmarschall August von Mackensen hingegen im Süden. Nach einer von Deutschen, Bulgaren und Österreichern ab der zweiten Septemberhälfte gemeinsam geführten Gegenoffensive brach Rumänien Anfang Dezember zusammen. In Österreich gab es wieder Extraausgaben der Zeitungen, und in Ungarn noch mehr als in 47
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Österreich war Begeisterung zu spüren, dass ein Gegner, der einmal Verbündeter gewesen war, der so sehr taktiert hatte und schließlich, die Schwäche der Mittelmächte ausnützen wollend, auf den Plan getreten war, nun offenbar schon nach nicht einmal drei Monaten niedergeworfen werden konnte. Welche Emotionen die Niederwerfung Rumäniens auslöste, findet im Tagebuch Josef Redlichs beredtesten Ausdruck. Am Tag nach dem Einmarsch der Truppen Mackensens und Falkenhayns in Bukarest (am 6. Dezember) notierte Redlich in sein Tagebuch: „Ich bin sicher: Man wird noch in Jahrhunderten bewundern, was Mackensen, Falkenhayn und ihre Stabschefs unter Hindenburgs und Ludendorffs Leitung an geistiger und moralischer Kraft geleistet haben, sie und ihre Soldaten, die in einem Feldzug von kaum 25 Tagen Rumänien erobert haben. [Wie Redlich auf 25 Tage kam, ist wohl nicht recht klar. Zweieinhalb Monate wären richtiger gewesen.] Taten, gegen die man höchstens Cäsars Feldzüge oder Napoleons Taten zum Vergleich wird setzen können – und auch die bleiben dabei zurück!“48 Der Sieg über Rumänien schien die Völker der Habsburgermonarchie zu einen, denn weder Slawen noch Magyaren oder Deutsche hatten sehr viel Sympathie für einen so berechnenden Nachbarn gehabt. Allerdings wurde so gut wie ausschließlich das deutsche Verdienst hervorgehoben. Kein Wort von Conrad von Hötzendorf, Arthur Arz von Straußenburg, Erzherzog Carl Franz Joseph, Ludwig Goiginger oder anderen österreichisch-ungarischen Befehlshabern. Die einseitige Sicht reicht bis in die Gegenwart.
48 Schicksalsjahre Österreichs 1908–1919. Die Erinnerungen und Tagebücher Josef Redlichs 1869–1936. Bd. 2. Hgg. Fritz F e l l n e r , Doris A. C o r r a d i n i . Wien, Köln, Weimar 2011 (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs 105), S. 237, 7.12.1916.
NIEDERGANG, WIEDERHERSTELLUNG, N E U G E S TA LT U N G , Z U S A M M E N B R U C H Ungarische Reform- und Zukunftsentwürfe für Siebenbürgen am Vorabend und während des Ersten Weltkriegs Zsolt K. L e n g y e l
Einleitung „Schon vor dem Zusammenbruch habe ich häufig und an vielen Stellen verlauten lassen, dass Ungarns größte Krankheit Budapest ist.“1 Diese Äußerung einer der Führungsgestalten der seit der Jahrhundertwende aufsteigenden siebenbürgisch-ungarischen Regionalbewegung schloss 1920 eine sonderbare Konfliktgeschichte ab. Ihr Urheber, der Wissenschaftler und Politiker István Apáthy (1863–1922), war nach anderthalbjähriger Haft gerade aus Rumänien nach Ungarn abgeschoben worden. Er hatte also keinen Grund, in der Budapester Zeitschrift, die seinen Tatsachen- und Erlebnisbericht über die Wochen des ImperiumWechsels in Siebenbürgen mit dem zitierten Satz abdruckte, seine frühere Auffassung über das ungarische Staatszentrum schlechter zu reden, als sie gewesen war. In ähnlicher Tonlage hatte er bereits am Vorabend des Ersten Weltkriegs öffentlich – und gewiss rhetorisch überspitzt – behauptet, dass im Königreich Ungarn „anstelle der Nationalitätenfrage in Siebenbürgen immer mehr die ungarische Frage“ trete2. Dieses Problembewusstsein hatte zahlreiche Zeit- und Gesinnungsgenossen in der engeren und weiteren Umgebung des umtriebigen Klausenburger Universitätsprofessors, wohlgemerkt, schon in Friedenszeiten erfasst. Es schwoll dann allmählich an, als neben Budapest, dem vermeintlich einzigen Hauptgegner, eine Stadt noch in weiter Ferne, aber durch die steigende Nachhaltigkeit der rumänischen 1 István A p á t h y : Erdély az összeomlás után [Siebenbürgen nach dem Zusammenbruch]. In: Új Magyar Szemle 3 (1920), S. 147–176, hier 149. 2 István A p á t h y : Előszó [Vorwort]. In: Az Erdélyi Szövetség alakuló ülésének iratai. 1913. dec. 7 [Gründungsakten des Siebenbürgischen Verbandes. 7.12.1913]. Kolozsvár 1914, S. 3–4, hier 4.
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Nationalitätenbewegung wahrnehmbar als weiteres widerspenstiges Staatszentrum erschien: Bukarest. Die Suche nach dem richtigen, d. h. dem besseren und zukunftsträchtigen Weg für Siebenbürgen wurde in der zweiten Hälfte des österreichisch-ungarischen Dualismus von einem gekränkten ungarischen Machtbewusstsein angestoßen und verlief ab Weltkriegsbeginn zunehmend zwischen zwei Fronten: Ihr Endergebnis ist bekannter als ihr Verlauf in den vorangegangenen rund zwei Jahrzehnten. Dieses Thema wird seit rund drei Jahrzehnten wissenschaftlich erforscht. Monographien, Abhandlungen und Quellenstudien haben es unter verschiedenen Sachaspekten, teilweise zeitlich eingegrenzt, mehrheitlich auf Ungarisch in den Zusammenhang eines siebenbürgischen, hauptsächlich ungarischen Regionalismus gestellt, noch konkreter: in die Vorgeschichte des Transsilvanismus eingefügt, der nach 1920 die Tradition des unterschiedlich gearteten gebietsbezogenen Verselbständigungsanspruchs aus dem Alttranssilvanismus übernahm und unter grundsätzlich gewandelten äußeren Umständen fortsetzte. Aus den Studien3 wird ersichtlich, dass die Ereignisse des Ersten Weltkriegs in 3 Eine Auswahl in chronologischer Reihenfolge des Erscheinens: Béla P o m o g á t s : A transzilvánizmus. Az Erdélyi Helikon ideológiája [Der Transsilvanismus. Die Ideologie des Erdélyi Helikon]. Budapest 1983 (Irodalomtörténeti füzetek 107); Ignác R o m s i c s : Gróf Bethlen István politikai pályája 1901–1921 [Die politische Laufbahn von István Graf Bethlen 1901–1921]. Budapest 1987; Ignác R o m s i c s : Bethlen István. Politikai életrajz [István Bethlen. Politische Biographie]. Budapest 1991 (A magyarságkutatás könyvtára 8), 21999 (Milleniumi magyar történelem); Zsolt K. L e n g y e l : Auf der Suche nach dem Kompromiß. Ursprünge und Gestalten des frühen Transsilvanismus 1918–1928. München 1993 (Studia Hungarica 41); Nándor B á r d i : Az erdélyi magyar (és regionális) érdekek megjelenítése az 1910-es években. Az Erdélyi Szövetség programváltozatai [Die Thematisierung der siebenbürgisch-ungarischen (und regionalen) Interessen in den 1910er Jahren. Die Programmfassungen des Siebenbürgischen Verbands]. In: Magyar Kisebbség 8 (2003), Nr. 2–3, S. 93–114; Petra B a l a t o n : A Székely Akció története, 1902–1914. Állami szerepvállalás Székelyföld felzárkóztatására [Die Geschichte der Szekler Aktion, 1902–1914. Staatliches Engagement für die Förderung des Szeklerlandes]. Debrecen 2006 (http://www.cartofil.hu/phd_1psw.pdf, 5.5.2015); Zsolt K. L e n g y e l : A kompromisszum keresése. Tanulmányok a 20. századi transzszilvanizmus korai történetéhez [Auf der Suche nach dem Kompromiss. Studien zur frühen Geschichte des Transsilvanismus im 20. Jahrhundert]. Csíkszereda 2007 (Múltunk könyvek); Petra B a l a t o n : A székely társadalom önszerveződése: a székely társaságok. Törekvések Székelyföld felzárkóztatására a 20. század elején [Die Selbstorganisierung der Szekler Gesellschaft: die Szekler Verbände. Bestrebungen zur Förderung des Szeklerlandes zu Beginn des 20. Jahrhunderts]. I-II. In: Korunk 21 (2010), Nr. 1, S. 78–84, Nr. 2 S. 71–77; Nándor B á r d i : Otthon és haza. Tanulmányok a romániai magyar kisebbség történetéről [Heim und Heimat. Abhandlungen zur Geschichte der ungarischen Minderheit in Rumänien]. Csíkszereda 2013 (Magyar kisebbség könyvtára); Gábor E g r y : Regionalizmus, erdélyiség, szupremácia. Az Erdélyi Szövetség és Erdély jövője, 1913–1918 [Regionalismus, Siebenbürgertum, Suprematie. Der Siebenbürgische Verband und die
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Siebenbürgen nicht Ursache der regionalen Protest- und Reformbewegung, sondern Anlass für deren Radikalisierung waren. Nachfolgend werden, soweit im Rahmen einer Abhandlung möglich, alle derzeit zugänglichen wesentlichen Aspekte und Ergebnisse der Forschung für eine – streckenweise präzisierende – Ergänzung und Fortschreibung der eigenen bisherigen Untersuchungen herangezogen. Das Grundgerüst der unveröffentlichten Quellen entstammt dem in der Handschriftenabteilung der Budapester Ungarischen Nationalbibliothek aufbewahrten Schriftennachlass von Apáthy und wird hier in thematischer Auswahl erstmals in dieser Ausführlichkeit ausgewertet. Es bezieht sich auf den von 1913 bis 1918 tätigen Siebenbürgischen Verband (Erdélyi Szövetség), den die ältere und jüngere Forschung – im Einklang mit der älteren Fachliteratur4 – als „a precursor of later Transylvanism“ bezeichnet5, und das Ostungarische Oberregierungskommissariat (Kelet-Magyarországi Főkormánybiztosság), der letzten amtlichen Vertretung Altungarns in Siebenbürgen um die Jahreswende 1918/196.
Zukunft Siebenbürgens, 1913–1918]. In: Századok 147 (2013), S. 3–31; Zsolt K. L e n g y e l : Der regionale Gedanke im ungarischen Kulturleben Siebenbürgens vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Betrachtungen zur Entwicklungsgeschichte des Transsilvanismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Textfronten. Perspektiven auf den Ersten Weltkrieg im südlöstlichen Europa. Hg. Olivia S p i r i d o n . Stuttgart 2015, S. 141–169 (Schriftenreihe ds Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde 21). 4 Vgl. L e n g y e l : Auf der Suche, S. 33–61; R o m s i c s : Bethlen (1999), S. 30–104. 5 E g r y : Regionalizmus, S. 30. 6 Abkürzungen der verwendeten Archivbestände: MNL OL NM = Magyar Nemzeti Levéltár Országos Levéltára, Budapest. Miniszterelnökség. Nemzetiségi miniszter iratai 1918/1919 [Akten des Nationalitätenministers 1918/19]. MNL OL NT = Magyar Nemzeti Levéltár Országos Levéltára, Budapest. Nemzeti Tanács 1918/1919 [Nationalrat 1918/19]. MNL OL SL = Magyar Nemzeti Levéltár Országos Levéltára, Budapest. Sajtó levéltár 1920–1944 [Pressearchiv 1920–1944]. OSZK AIh Quart. Hung. = Országos Széchényi Könyvtár, Budapest. Kézirattár. Quart. Hung. Apáthy István hagyatéka [Nachlass von István A p á t h y ]. SzT PR = Szegedi Tudományegyetem. Könyvtár, kézirattár. Politikai röplapok 1918 [Politische Flugblätter 1918]. HRM PÁh = Haáz Rezső Kulturális Egyesület. Haáz Rezső Múzeum, Székelyudvarhely. Paál Árpád hagyaték [Nachlass von Árpád P a á l ].
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Die Krise des ungarischen Machtbewusstseins im dualistischen Siebenbürgen In der zweiten Hälfte des österreichisch-ungarischen Dualismus beherrschten vier Problemkreise die politische Öffentlichkeit des ungarischen Siebenbürgen: die Grundstücks- und Bevölkerungsverhältnisse in der Region, die wirtschaftliche Rückständigkeit vor allem des agrarischen Szeklerlandes, eine Reform des Wahlrechts und die Nationalitätenfrage7. Die besondere Brisanz dieser Auseinandersetzungen lag darin, dass alle vier Themen einen siebenbürgischen Verselbständigungsanspruch nährten, den seit der Jahrhundertwende ein institutionell dreifach gegliederter ungarischer Regionalismus im Spannungsfeld zwischen Budapester Staatszentrum und ostungarischer Region zu Tage brachte. Ideologisch entsprach er zwei Richtungen des Alttranssilvanismus. Im konservativen Lager setzten sich die Szekler Gesellschaft (Székely Társaság) und der Verband der Szekler Gesellschaften (Székely Társaságok Szövetsége) mit den in der Unterregion besonders gravierenden ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen der Krise der althergebrachten Weidewirtschaft, insbesondere der extensiven Viehzucht, auseinander. 1900 bzw. 1904 gegründet, forderten sie eine auf die Bedürfnisse Ost- und Mittelsiebenbürgens abgestimmte staatliche Eisenbahn- und Siedlungspolitik, welche die handelsspezifischen und demographischen Voraussetzungen für die Marktfähigkeit der örtlichen Wirtschaftsbetriebe verbessern sollte8. Der Verband war mit zwei Kultureinrichtungen in der Region vernetzt, dem Siebenbürgisch-Ungarischen Bildungsverein (Erdélyi Magyar Közművelődési Egyesület) und der Siebenbürgischen Literarischen Gesellschaft (Erdélyi Irodalmi Társaság), und stand seit 1908 unter dem Ehrenvorsitz des studierten Rechts- und Agrarwissenschaftlers, des mittelsiebenbürgischen Aristokraten István Graf Bethlen (1874–1946), der in den Komitaten Marosch-Torda (Mureș-Turda, Maros-Torda) und Klausenburg (Cluj, Kolozsvár) einen Grundbesitz von 5.500 Katastraljoch bewirtschaftete und seine Ansichten zur agrarischen Regionalförderung seit der Jahrhundertwende immer nachdrücklicher in die landespolitischen Debatten einbrachte9. Im Rahmen des Bildungsvereins wurde 1904 eine 7 B á r d i : Az erdélyi magyar (és regionális) érdekek, S. 93–101; L e n g y e l : Auf der Suche, S. 33–37; R o m s i c s : Bethlen (1999), S. 30–104. 8 Anhand einander ergänzender archivalischer Quellen unterschiedlicher Provenienz, siehe B a l a t o n : A székely társadalom; L e n g y e l : Auf der Suche, S. 40–41; R o m s i c s : Bethlen (1999), S. 34–104. Monographisch: B a l a t o n : A Székely Akció. 9 B á r d i : Otthon, S. 96; L e n g y e l : Auf der Suche, S. 41; R o m s i c s : Bethlen (1999), S. 34–43.
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erste Vorlage zur teilweise erfolgten Wiederherstellung der siebenbürgischen Selbstverwaltung erörtert10. Der Vorsitzende der literarischen Gesellschaft, Endre Dózsa (1857–1944), verwendete auf dieser ideellen Wellenlänge 1910 den Begriff „Transsilvanismus“11. Damit bezeichnete er die Bestrebung, „den verlorenen Gemeingeist Siebenbürgens wiederzuerlangen“, der „sich noch mit den abgeworfenen Krümeln des Budapester Lebens ernährt, obwohl das öffentliche Leben der schnell entwickelten jungen Hauptstadt die Gedankenwelt der Nation nicht getreu abbildet“12. Demgegenüber komme es darauf an, „eine Gedankenwelt“ zu schaffen, „in der in einer größeren Einheit sämtliche kleinere Individuen die gleiche Richtung einschlagen und sich mehr und mehr vereinigen“13, mithin „auf der Grundlage der Traditionen des Transsylvanismus jene gefühlsmäßigen Momente suchen, die aus den miteinander kommunizierenden Ethnien die einheitliche, einvernehmliche, gleichgerichtete, ein Ziel verfolgende einige ungarische Nation zu bilden in der Lage sind“14. Angesprochen waren hier ausdrücklich auch die sächsischen und rumänischen Schriftstellerkollegen in Siebenbürgen, unter der Voraussetzung, dass sie die Führungsrolle der „ungarischen Sprache in der Kultur dieser Heimat“ anerkennen15. Im Umfeld der Siebenbürgischen Literarischen Gesellschaft vollzog sich gegen Ende des ersten Jahrzehnts die zweite regionalistische Institutionalisierung, die nach zeitgenössischen Maßstäben in der Publizistik der Zeitschriften „Erdélyi Lapok“ (Siebenbürgische Blätter) und „Kalotaszeg“ (Țara Călatei) teilweise progressiv gestimmt war und auch die Notwendigkeit literarischer Dezentralisierung betonte16. Die beiden ideologischen Richtungen kennzeichnete neben der Verflechtung sozialökonomischer und kultureller Vorgaben der Entwurf eines doppelpoligen Krisenfeldes, in dem zum einen Budapest, zum anderen 10
B á r d i : Otthon, S. 96. Endre D ó z s a : Transsylvanismus. Elnöki megnyitó [Transsilvanismus. Grußwort des Vorsitzenden]. In: Erdélyi Lapok 3 (1910), Nr. 2, S. 32–33; 4, S. 89–91; vgl. im gleichen Sinn d e r s .: Céljaink – útaink [Unsere Ziele – unsere Wege. In: Erdélyi Lapok 3 (1910), S. 601–602; d e r s .: Az erdélyi társadalom feladatai. Elnöki megnyitó [Die Aufgaben der siebenbürgischen Gesellschaft. Einführung des Vorsitzenden]. In: Erdélyi Lapok 3 (1910), S. 665–666. 12 D ó z s a : Transsylvanismus, S. 89. 13 Ebenda, S. 91. 14 Ebenda. 15 Ebenda. 16 Zsolt K. L e n g y e l : Kós Károly és a Kalotaszeg 1912. A 20. századi transzszilvanizmus kezdeteihez [Károly Kós und die Zeitschrift Kalotaszeg 1912. Zu den Anfängen des Transsilvanismus im 20. Jahrhundert]. In: d e r s .: A kompromisszum keresése, S. 33–71; d e r s .: Der regionale Gedanke. 11
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die Nationalitäten – in erster Linie die Rumänen – die gedeihliche ungarische Entwicklung in Siebenbürgen zu behindern schienen. Der Alttranssilvanismus übertrug, wie aus obigen Zeilen des Vorsitzenden Dózsa beispielhaft ersichtlich, das im zeitgenössischen Ungarn gängige politische Nationsbild vom „Hungarus“ auf die Region, wo er die Einbeziehung des rumänischen und sächsischen Volkselements in das Gefüge der Zusammenarbeit von der Anerkennung des ungarischen Führungsanspruchs abhängig machte. Der wirtschaftliche Raumgewinn der Rumänen in Siebenbürgen galt aus dieser Sicht als Gefahr für den ungarischen Staat, die Budapest nicht wahrnehme. In dieser Bedrohungsempfindung lagen die Wurzeln eines innerungarischen Antagonismus, den das politische Zentrum mit beherzten und wirkungsvollen Maßnahmen gegen den Bedeutungsschwund des ungarischen Elements in der Region auflösen sollte17. Den dritten und wohl stabilsten institutionellen Pfeiler des ungarischen Regionalismus setzten etwa zeitgleich siebenbürgische Oppositionspolitiker aus der Schule der ungarischen Unabhängigkeitstradition 1848/49er Prägung: Von Beginn an lag ihnen viel daran, die beiden ideologischen Richtungen miteinander zu vernetzen. Auch sie empfanden die rumänische Nationalbewegung als eine Bedrohung für die Staatseinheit, beklagten aber gleichzeitig, dass die ungarische Gesellschaft Siebenbürgens aus der Modernisierung des Landes ausgespart bleibe. Daher forderten sie staatliche Eingriffe vor allem in die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen Ostungarns, die den Niedergang des Szeklerlandes aufhalten sollten. Die soziale Lage dieser agrarischen Unterregion Siebenbürgens hatte sich seit der Jahrhundertwende infolge der merkantilistischen Industrie- und Handelspolitik der dualistischen Regierungen Ungarns zunehmend verschlechtert und eine Auswanderungswelle sowohl nach Übersee als auch nach Altrumänien ausgelöst. Während gegen Ende des ersten Jahrzehnts die Szekler Gesellschaften in die Krise gerieten, setzte Graf Bethlen dazu an, eine vereinigte „Pressure Group“ auf regionaler Basis herauszubilden18. Bethlen war seit 1907 mit der Nationalbewegung der Siebenbürger Rumänen, seit 1910 verstärkt mit deren Grundbesitzerwerbungen, allgemein mit volkswirtschaftlichen Fragen aus der Sicht des am Dogma der ungarischen Suprematie orientierten Regionalpolitikers befasst. Seit 1901 Reichstagsabgeordneter der Freisinnigen Partei (Szabadelvű 17
L e n g y e l : Kós, S. 38–62. B á r d i : Otthon, S. 96–97; L e n g y e l : Auf der Suche, S. 33–47; R o m s i c s : Bethlen (1999), S. 30–74. 18
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Párt), ab 1906 der Unabhängigkeits- und 48er Partei (Függetlenségi és Negyvennyolcas Párt), ab 1913 der Verfassungspartei (Alkotmánypárt), wurde er Führungspersönlichkeit der konservativen Richtung des Alttranssilvanismus. Dreh- und Angelpunkt seiner siebenbürgischen Konzeption war die soziale, wirtschaftliche und demographische Stärkung der ungarischen Bevölkerung in der Region19. In der politischen Elite Ungarns war es der Agrarpolitiker Bethlen, der seit der Jahrhundertwende die Nachteile öffentlich thematisierte, die Siebenbürgen, insbesondere das Szeklerland, infolge der Budapester Industrialisierungspolitik erlitt20. Dazu hatte er die seit mehreren Jahren zunehmende Umverteilung des Grundbesitzes in Siebenbürgen zugunsten des rumänischen Bürgertums und Bauerntums nachgewiesen. Zu Beginn der 1910er Jahre sammelte und publizierte er die neueren Daten des Grundstücksverkehrs in Siebenbürgen. Laut seinen Ergebnissen waren von 1907 bis 1911 6,6 Prozent der über 100 Katastraljoch großen landwirtschaftlich nutzbaren Ländereien aus ungarischem in rumänischen Besitz übergegangen. Zu diesen rund 100.000 Katastraljoch kamen 70.000 Katastraljoch Waldungen hinzu21. Nach einer anderen zeitgenössischen Erhebung hatte sich im historischen Siebenbürgen von 1898 bis 1912 der ungarische Anteil am Grundbesitz insgesamt um 8,2 Prozent verringert22. Die Auswertung der damaligen offiziellen Statistik der Grundbesitzer- und Pächteranteile in Siebenbürgen ergibt, dass von 1900 bis 1910 die Zahl der ungarischen Kleingrundbesitzer und Kleinpächter von 50 bis 100 Katastraljoch um 24,8 Prozent, diejenige der Nationalitäten aber um 47,8 Prozent anstieg. Bei den Mittel- und Großgrundbesitzern bzw. Pächtern über 100 Katastraljoch wurde im gleichen Zeitraum eine ungarische Abnahme von 5,8 Prozent bei einer nichtungarischen Zunahme von stattlichen 32,9 Prozent verzeichnet23. Bethlen empfahl als Gegenmaßnahme einerseits den Schutz des siebenbürgisch-ungarischen Mittel- und Großgrundbesitzes vor Verkäufen in fremde Hände, andererseits groß angelegte Ansiedlungen 19 L e n g y e l : Auf der Suche, S. 34–57. Aus der neuesten Forschung Balázs A b l o n c z y : Bethlen István erdélyisége [Das Siebenbürgertum von István Bethlen]. In: Rubicon 24 (2013), Nr. 12, S. 56–58. 20 István B e t h l e n : Programbeszéd az agrárpolitikai teendőkről [Programmatische Rede über die agrarpolitischen Aufgaben. 1901]. In: István B e t h l e n : Válogatott politikai írások és beszédek [Ausgewählte politische Schriften und Reden]. Hg. Ignác R o m s i c s . Budapest 2000 (Milleniumi magyar történelem), S. 93–98. 21 R o m s i c s : Bethlen (1999), S. 67. 22 B á r d i : Otthon, S. 95. 23 R o m s i c s : Bethlen (1999), S. 457.
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ungarischer Bauern in gemischtnationalen Gebieten Siebenbürgens. Er war der Ansicht, dass gegen das grenzenlos freie Wirtschaften, das Handel und Industrie einseitig bevorzuge, ein mit agrarischem Sozialprotektionismus gepaarter staatlicher Interventionismus vonnöten sei24. Neben diesem wirtschaftsspezifischen Korrektiv wollte er das politische System des bürgerlichen Liberalismus konservieren, also nicht verändern. Er hing einem historischen Elitismus an, der in seiner nationalitätenpolitischen Konzeption und, damit eng verwoben, in seiner Auffassung über das Wahlrecht ausgeprägt zutage trat. In einer Rede im Budapester Abgeordnetenhaus warnte Bethlen die ungarische Regierung schon 1907 vor der Gefahr, dass die rumänische Nationalbewegung mit der Forderung nach Autonomie letztlich den Anschluss Siebenbürgens an das Königreich Rumänien bezwecke, eine Bestrebung, in der sie sich durch eine unbeschränkte Ausweitung des allgemeinen Wahlrechts nur gestärkt sehen würde25. So war es möglich, dass der liberale Bethlen am Vorabend des Weltkriegs eine harte nationalitätenpolitische Linie vertrat26. Er befürwortete das nur vermögenden bzw. gebildeten Schichten, etwa sechs bis sieben Prozent der männlichen Bevölkerung im Gesetz XIV/1913 zugestandene Wahlrecht27. Ab der Jahrhundertwende wurden mit der erstarkenden gesellschaftlichen Rolle des städtischen Bürgertums und des Bauerntums Stimmen für eine Ausweitung des Wahlrechts laut, die Bethlen ablehnte, weil er befürchtete, dass sie die herkömmliche Struktur der ungarischen Gesellschaft mit der Aristokratie und dem besitzenden Adel in den einflussreichen Stellungen aus den Angeln heben werde. Im Falle einer Ausweitung des Wahlrechts auf untere Bildungsschichten rechnete er für Siebenbürgen mit einer Majorisierung
24 István B e t h l e n : A magyar birtokpolitika feladatai Erdélyben [Die Aufgaben der ungarischen Grundstückspolitik in Siebenbürgen. 1913]. In: B e t h l e n : Válogatott politikai írások, S. 46–82. 25 István B e t h l e n : Interpelláció a román irredenta-mozgalmak ügyében [Interpellation in der Angelegenheit der rumänischen Irredenta-Bewegungen. 1907]. In: B e t h l e n : Válogatott politikai írások, S. 9–27, hier 26. 26 István B e t h l e n : Beszéd a nemzetiségi kérdésről a Magyar Társadalomtudományi Egyesület ankétján [Rede über die Nationalitätenfrage auf der Versammlung des Ungarischen Gesellschaftswissenschaftlichen Vereins. 1913]. In: B e t h l e n : Válogatott politikai írások, S. 83–89. 27 Ferenc P ö l ö s k e i : A magyar parlamentarizmus a századfordulón. Politikusok és intézmények [Ungarischer Parlamentarismus um die Jahrhundertwende. Politiker und Institutionen]. Budapest 2001 (História könyvtár. Monográfiák 15), S. 164–177, 203; Ignác R o m s i c s : Utószó [Nachwort]. In: B e t h l e n : Válogatott politikai írások, S. 433–458, hier 441.
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der ungarischen, aber auch der sächsischen Bevölkerung durch die Rumänen28. Bethlen befürwortete regionalspezifische Nationalisierungsprogramme, etwa 1909 den Gesetzentwurf über die staatlich zu lenkende Neubesiedlung mehrheitlich rumänisch bewohnter Landstriche im mittleren Siebenbürgen, der jedoch wegen des Sturzes der zwischen 1905 und 1910 von den Unabhängigen geführten Koalitionsregierung nicht verabschiedet wurde29. Das Ruder der Landespolitik übernahm István Tisza (1861–1918), Führungsgestalt des ungarischen Liberalismus, der staatliche Eingriffe in Wirtschaftsstrukturen mit seinem ideologischen Weltbild nicht zu vereinbaren vermochte. Stattdessen suchte er 1902 und 1912 den Weg einer Verständigung mit den Rumänen Siebenbürgens. Nach dem Machtantritt der von Tisza 1910 gegründeten liberalen Nationalen Arbeitspartei (Nemzeti Munkapárt) setzte sich die Regierungspolitik in der 1867er Prägung durch, die im System des Dualismus die wirtschaftlichen Vorteile einer auch zum Preis der Vernachlässigung der Landwirtschaft vorrangigen Förderung von Industrie und Handel suchte. In der Ablehnung einer Wahlrechtsreform zeigte sich ebenfalls der Liberalismus von Tisza, nämlich in seiner auch bei Bethlen greifbaren elitären Art, die die Zuerkennung des Wahlrechts nur für bestimmte Bildungsgruppen als gerechtfertigt ansah. Insofern nahm der Ministerpräsident, darin aber von Bethlen abweichend, nicht oder nicht vordringlich eine nationale, sondern im Wesentlichen eine soziale Benachteiligung in Kauf, die auch die ungarische Unterschicht betraf. Tisza war anders als Bethlen zur Anerkennung der Rumänischen Nationalpartei als Verhandlungspartnerin und dabei zu unterrichts-, kultur- und konfessionspolitischen Zugeständnissen bereit. Mit der Ablehnung einer rumänischen und überhaupt der Territorialautonomie für Siebenbürgen30 schwenkte er wiederum auf die Linie Bethlens ein. Er hielt an dem im Nationalitätengesetz XLIV/1868 verankerten Dogma der einheitlichen ungarischen politischen Nation bei Gewährung von individuellen Freiheitsrechten 28 István B e t h l e n : Beszéd a választójog túlzott kiterjesztése ellen a konzervatív politikusok vigadói naggyűlésén [Rede gegen die übertriebene Ausweitung des Wahlrechts auf der Großversammlung der konservativen Politiker in der Redoute. 1910]. In: B e t h l e n : Válogatott politikai írások, S. 109–111; d e r s .: A választójog reformja és Erdély [Die Reform des Wahlrechts und Siebenbürgen. 1913]. In: ebenda, S. 28–45. 29 R o m s i c s : Bethlen (1999), S. 44–57. 30 Die in den 1910er Jahren von rumänischer Seite wiederholt thematisiert wurde, z. B. von Octavian G o g a : O legendă distrusă. Autonomia Transilvaniei [Eine zerstörte Legende. Die Autonomie Siebenbürgens]. In: d e r s .: Strigăte în pustiu. Cuvinte din Ardeal intr’o țară neutrală. București 1915, S. 65–69.
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fest und verfocht somit auf der Wellenlänge der Opposition um Bethlen die Idee einer verbürgerlichten Hungarus-Nation in einem unitarischen Nationalstaat Ungarn. Als Politiker mit 1867er Programm war er aber außenpolitisch auf Rumänien im Dreibund angewiesen, ein Umstand, der seine Kompromissbereitschaft bei der innenpolitischen Behandlung der rumänischen Frage mit erklärt31. Trotz einer Reihe von Gemeinsamkeiten in ihren programmatischen Festlegungen nahmen die beiden großen Interessengruppen der ungarischen Innenpolitik in einer entscheidenden Frage gegensätzliche Standpunkte ein: Während die 1848/49er Gruppierung die Nationalitäten an weiterer Stärkung hindern wollte, beabsichtigte die 1867er Richtung die nichtungarischen Bevölkerungsgruppen mit dem ungarischen Staatsgedanken anzufreunden und sie zumindest für ein harmonisches Nebeneinanderleben zu gewinnen. An diesem Punkt setzten die innenpolitischen Gegner Tiszas ihre Kritik mit der Warnung vor der gemutmaßten Destabilisierung durch die rumänische Irredenta-Bewegung an. Bethlen und seine Gesinnungsfreunde hielten einen beidseitig tragfähigen Ausgleich mit der rumänischen Führung in Siebenbürgen auf der Grundlage der Staatseinheit für unmöglich. Deshalb arbeiteten sie auf die Stärkung der Autorität des ungarischen Staates und die Eindämmung des politischen und wirtschaftlichen Einflusses der rumänischen Nationalität hin.
Die Gründung des Siebenbürgischen Verbandes als Dachorganisation der regionalen Opposition 1913/14 Die regierungsamtlichen Versuche zur Annäherung an rumänische Nationalitätenpolitiker und die Bemühungen Budapests um die Aufrechterhaltung des Dreibundes, dem das Königreich Rumänien 1883 beigetreten war, gaben den entscheidenden Anstoß zur Formierung einer innenpolitischen Front auf regionaler Grundlage und unter Einschluss der außerparlamentarischen Opposition der BürgerlichRadikalen und der Sozialdemokraten. Begünstigt wurde diese Ent31 Gábor I l l é s : Tisza István politikai koncepciója a nemzetiségi kérdést illetően a világháború előestéjén [Die nationalitätenpolitische Konzeption von István Tisza am Vorabend des Ersten Weltkriegs]. In: Tisza István és emlékezete. Tanulmányok Tisza István születésének 150. évfordulójára [István Tisza und sein Gedenken. Zum 150. Jahrestag der Geburt von István Tisza]. Hgg. Zoltán M a r u z s a , László P a l l a i . Debrecen 2011, S. 139–150; P ö l ö s k e i : A magyar parlamentarizmus, S. 127–163; Gábor V e r m e s : Tisza István. Budapest 1994 (Századvég biográfiák), S. 201–233, 338–362; Gerald V o l k m e r : Die Siebenbürgische Frage 1878–1900. Der Einfluß der rumänischen Nationalbewegung auf die diplomatischen Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien. Köln u. a. 2004 (Studia Transylvanica 31), S. 347.
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wicklung durch die innenpolitische Krise der Unabhängigkeitspartei, die ihren Höhepunkt mit der Niederlage der Koalition bei den Parlamentswahlen 1910 und der Regierungsbildung durch die neue liberale Nationale Arbeitspartei erreichte32. In jenem Frühjahr zeigten sich in Kronstadt (Brașov, Brassó) die Umrisse eines „siebenbürgischen Blocks“. Es häuften sich die öffentlichen Versammlungen, auf denen neben Bethlen ein weiterer siebenbürgischer Hochadliger, Miklós Graf Bánffy (1873–1950), 1906–1909 Obergespan der Stadt und des Komitats Klausenburg mit einem der liberalen Ideologie eng angelehnten Programm, seit 1901 Parlamentsabgeordneter, seit 1907 Mitglied der Siebenbürgischen Literarischen Gesellschaft, 1912/13 Chefredakteur von deren Zeitschrift „Erdélyi Lapok“, ab 1912 Hauptintendant des Nationaltheaters und der Staatsoper in Budapest, Verwandter und Freund Bethlens, späterer Autor der im Jahrzehnt von 1904 bis 1914 spielenden Romantrilogie „Siebenbürgische Geschichte“33, den Ton angab und die Fragen der Erdgasförderung sowie des Eisenbahnbaus in der Region bevorzugt behandelten34. Das Problem des Wahlrechts kam ebenfalls wiederholt zur Sprache. Bánffy war – von Bethlen abweichend – offen für eine weitgehende Aufhebung der Zulassungsbeschränkungen. Die annehmbare Reichweite der Reform beurteilte er aber ebenso im staatspolitischen Sinn: „Wir stellen nur eine Bedingung“, sagte er auf einer 32
P ö l ö s k e i : A magyar parlamentarizmus, S. 178–184. György G a a l : Gróf Bánffy Miklós: főúri életpálya a politika és művészetek jegyében [Miklós Graf Bánffy: Lebensweg eines Magnaten zwischen Politik und Kunst]. In: Erdélyi Múzeum 74 (2012), Nr. 2, 114–134; István N e m e s k ü r t y : A beteljesült jóslat [Die wahr gewordene Prophezeiung]. In: Miklós B á n f f y : Erdélyi történet. Regénytrilógia. Megszámláltattál … És híjjával találtattál … Darabokra szaggattatol. Budapest 1993, S. 825–842, hier 832–836. Der in ungarischer Erstauflage 1934, 1937 und 1940 erschienene, seit Kurzem in vollständiger deutscher Übersetzung vorliegende dreibändige Roman (Miklós B á n f f y : Die Schrift in Flammen. Verschwundene Schätze. In Stücke gerissen. Aus dem Ungarischen von Andreas O p l a t k a . Wien 2012, 2013, 2015) spielt in der gesellschaftlichen und kulturellen Welt der ungarischen Mittel- und Oberschicht Siebenbürgens am langen Vorabend des Ersten Weltkriegs. Bánffy scheint in den 1930er Jahren die Figur des positiven Helden zumindest in einigen Eigenschaften nach dem Grafen Bethlen, seinem einstigen Mitstreiter in der siebenbürgisch-ungarischen Regionalbewegung entworfen zu haben. Jedenfalls behandelte er eine Reihe von Situationen und Handlungen nach authentischen Vorlagen. Diese und weitere faktologische Zusammenhänge des Epochenromans sind schon von der älteren Forschung vermerkt (R o m s i c s : Gróf Bethlen (1987), S. 275) und jüngst in einer Studie gewürdigt worden: Gábor E g r y : Erdélyi Szövetség, Magyar Népközösség, Erdélyi Párt. Bánffy Miklós trilógiájának víziójához – a történész szemével [Siebenbürgischer Verband, Ungarische Volksgemeinschaft, Siebenbürgische Partei. Zur Vision der Trilogie von Miklós Bánffy – mit den Augen des Historikers]. In: Pro Minoritate, Herbst 2014, S. 93–109. 34 E g r y : Regionalizmus, S. 4, 6–7. 33
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Großversammlung in Neumarkt (Târgu Mureș, Marosvásárhely) im März 1910, nämlich „dass der Charakter des ungarischen Königreiches nicht gefährdet, er nicht in den Sand gesetzt werde“35. Während die oppositionellen Fürsprecher einer ungarischen Interessenvertretung in Siebenbürgen ihren Verdacht nicht loswurden, dass die rumänische Nationalbewegung mit ihren Autonomieforderungen den späteren Anschluss der Region an das Königreich Rumänien herbeizuführen beabsichtige, war der Ministerpräsident insbesondere bestrebt, den 1890 mit den Siebenbürger Sachsen erreichten Ausgleich36 nach seinen ersten Versuchen 1903–1905 nun auch mit den Rumänen zu erzielen. Als Tisza Ende 1913 erneut in Verhandlungen mit der siebenbürgisch-rumänischen Führung trat37, war für hochrangige Vertreter der Unabhängigkeits- und 48er Partei die Zeit gekommen, die Gründung einer eigenen Dachorganisation einzufädeln38. Am 7. Dezember 1913 trat in Klausenburg der Siebenbürgische Verband ins Leben. In seiner überparteilichen Personalstruktur kam ein Übergewicht der Unabhängigkeitspolitiker zum Tragen; zahlreich vertreten waren in seinen Reihen die Intelligenz, die Beamtenschaft und Grundbesitzer aus der weltlichen Mittel- und Oberschicht sowie der christliche, vor allem katholische Klerus. Von 114 Mitgliedern des Leitungsrates (Vezető Tanács) waren 16 Grafen, Barone oder Ritter aus dem Stand der Aristokratie. Die Liste der Wohnorte führte Klausenburg mit 23 Personen an, gefolgt von Neumarkt mit 12 Mitgliedern39. Maßgebliche Führungspersönlichkeit des Siebenbürgischen Verbandes war der eingangs zitierte István Apáthy, Naturwissenschaftler von internationalem Ruf. Der gebürtige Budapester lebte seit 1890, dem Jahr seiner Berufung zum Professor für Zoologie an der Universität, in Klausenburg, wo er 1909 ein bald europaweit bekanntes Institut für Tierkunde gründete und leitete. Mitglied des Siebenbürgischen Museum-Vereins (Erdélyi Múzeum Egyesület), seit 1898 in korrespondierendem Status auch der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, 35 Nach dem ausführlichen Bericht des Klausenburger Blattes Hétfői Híradó v. 25.4.1910, der auch die Rede Bánffys dokumentierte, zitiert von N e m e s k ü r t y : A beteljesült jóslat, S. 834–835, hier 835. 36 V o l k m e r : Die Siebenbürgische Frage, S. 250. 37 L e n g y e l : Auf der Suche, 34; V e r m e s : Tisza, S. 306–312. 38 E g r y : Regionalizmus, S. 6–7; R o m s i c s : Bethlen (1999), S. 82–85. 39 Mitgliederverzeichnis des SV [o. O., o. D., 1914–1917]. OSZK AIh Quart. Hung. 2456. Gedruckt: Az Erdélyi Szövetségnek 1914. június 7-én Marosvásárhelyt megállapított szervezete, munkaterve és megválasztott vezető tanácsa [Organisation, Arbeitsplan und gewählter Leitungsrat des Siebenbürgischen Verbandes. Festgestellt am 7. Juni 1914 in Neumarkt. Im Folgenden: ESz]. Kolozsvár 1917, S. 27–30.
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in verschiedenen Ämtern des Dekanats und Rektorats seiner Universität, führte er seit 1906 die Ortsgruppe der Unabhängigkeits- und 48er Partei an und war im wissenschaftlichen und kulturpolitischen Leben weit über die Grenzen der Region vernetzt40. Nach der Spaltung seiner Partei, in der er um Ausgleich zwischen den Fraktionen bemüht gewesen war, folgte er 1916 dem radikaleren Flügel um den Vorsitzenden Mihály Graf Károlyi (1875–1955)41, dem er im dritten Jahr des Weltkriegs, noch als enger Vertrauter42, zwei Grundprinzipien öffentlich ans Herz legte: 1. die Nationalitätenfrage sei über die Gewährung von Freiheitsrechten und ein allgemeines Diskriminierungsverbot zu lösen, so dass 2. die Nationalitäten nicht als Entitäten anerkannt zu werden brauchen, ihre eventuellen Beschwerden aber individuell zu erfassen und zu erledigen seien43. Diese Auffassung hatte die Leitung der Unabhängigkeitspartei schon im ersten Kriegsjahr dem Monarchen übermittelt44. Apáthy lehnte Kompromisse mit der rumänischen Nationalität, wie Tisza sie eingegangen war, ebenso entschieden ab wie eine Zusammenarbeit mit der Arbeitspartei. Doch anders als Bethlen und der konservative Flügel in seinem regionalpolitischen Lager, die in der Angelegenheit des Wahlrechts Tisza nahe standen, vertrat er die in seiner Zeit fortschrittliche Forderung nach Einführung des Wahlrechts für Männer über 24 Jahren ohne Zensusbestimmungen. Zugleich war er mit Bethlen in der Zurückweisung einer gruppenrechtlichen Behandlung des Nationalitätenproblems einig. Bei Apáthy war diese Festlegung mit dem Ansatz zu einer allgemeinen Demokratisierung verbunden, die mit der Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit auch den 40 Jüngere biographische und wissenschaftsgeschichtliche Würdigungen seiner Laufbahn bei Zoltán M a r i s k a : In memoriam Apáthy István. In: Mikes International 6 (2006), Nr. 1, S. 52–65; Bálint M a r k ó : Apáthy István. In: Hivatás és tudomány. Az Erdélyi Múzeum-Egyesület kiemelkedő személyiségei. Hg. Gyöngy K o v á c s K i s s . Kolozsvár 2009, S. 9–36; Nándor N a g y : Apáthy Istvánról és a Kolozsvári Állattani Intézetről [Über István Apáthy und das Klausenburger Institut für Tierkunde]. In: Collegium Biologicum 2 (1998), S. 91–96. 41 József G a l á n t a i : Hungary in the First World War. Budapest 1989, S. 182–186; Tibor H a j d u : Károlyi Mihály. Politikai életrajz [Mihály Károlyi. Politische Biographie]. Budapest 1978, 173–248; Adalbert T o t h , János V e l i k y : Ungarn. In: Lexikon zur Geschichte der Parteien in Europa. Hg. Frank W e n d e . Stuttgart 1981, S. 731–773, hier 761–762. 42 E g r y : Regionalizmus, S. 8. 43 Offener Brief Apáthys an Károlyi. Újság [Klausenburg], 30.7.1916. In: Károlyi Mihály levelezése [Briefwechsel von Mihály Károlyi]. I: 1905–1920. Hg. György L i t v á n . Budapest 1978, S. 135–137. 44 Adresse des Vorstandsrates der Unabhängigkeitspartei an den Monarchen. Budapest, November 1914. In: Károlyi Mihály levelezése, S. 742–744.
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andersnationalen Bürgern des Königreichs Ungarn die notwendige und hinreichende Reform bringe45. Aus diesem Standpunkt heraus warben 1913 zwei Sachverständige im Mitarbeiterstab Apáthys für eine Sicherung und Weiterentwicklung kultureller, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Positionen in Siebenbürgen, mit der weitreichende Sprachrechte der Nationalitäten im Schul- und Rechtswesen sowie in der Verwaltung vereinbar seien46. Diese individualrechtliche Lösungsoption befürwortete im Rahmen einer demokratischen Ordnung zeitgleich auch der bürgerlich-radikale Theoretiker der Nationalitätenfrage, der Soziologe Oszkár Jászi (1875–1957)47. Mit der Ende 1913 aufgesetzten Arbeitsfassung seines Programms setzte sich der Siebenbürgische Verband das allgemeine Hauptziel der mit system- und gesellschaftspolitischen Reformen unterbauten Aufrechterhaltung der ungarischen Suprematie48. „Alles für den Schutz Siebenbürgens“, gab Árpád Baron Kemény (1867–1941), Apáthys Mitstreiter, 1906–1910 Obergespan des Komitats Unter-Weißenburg (Alba de Jos, Alsó-Fehér)49 die Losung aus, aber „nicht wegen Siebenbürgen, sondern für den einheitlichen ungarischen Nationalstaat“50. Diese feine Unterscheidung stellte klar, dass die neue Organisation keine Machtverteilung in die Region bezweckte, d. h. an den zentralstaatlichen Maßgaben nicht zu rütteln beabsichtigte. Vielmehr wollte er „im Rahmen des einheitlichen ungarischen Staates“ Lösungsvorschläge im Hinblick auf die volkswirtschaftlichen, verwaltungs-, bildungs- und gesellschaftspolitischen Probleme im Einklang mit den „speziellen siebenbürgischen Verhältnissen“ erarbeiten. Die im November 1913 abgehaltene Arbeitssitzung vor der Gründungsversammlung vermischte system- und nationalpolitische Themen, um entsprechend den Vorarbeiten Apáthys und dessen Mitarbeitern die Auffassung zu 45
Vgl. B á r d i : Otthon, S. 97; E g r y : Regionalizmus, S. 16. Béla K e n é z : Javaslatok a nemzetiségi kérdés megoldására [Vorschläge zur Lösung der Nationalitätenfrage]. Budapest 1913. Vgl. István Z á g o n i : A választójog Erdélyben. Kenéz Béla nyilatkozatával [Das Wahlrecht in Siebenbürgen. Mit einer Stellungnahme von Béla Kenéz]. Kolozsvár 1913. 47 Oszkár J á s z i : A nemzeti államok kialakulása és a nemzetiségi kérdés [Die Herausbildung der Nationalstaaten und die Nationalitätenfrage]. Budapest 1912, S. 496–534. In der unvollständigen Neuausgabe: Oszkár J á s z i : A nemzeti államok kialakulása és a nemzetiségi kérdés. Válogatás. Hg. György L i t v á n . Budapest 1986 (Közös dolgaink), S. 244–280. 48 István A p á t h y , Béla K e n é z , Béla P ó s t a , Miklós T h o r m a : Az Erdélyi Szövetség programjának tervezete [Programmentwurf des Siebenbürgischen Verbandes]. Kolozsvár 1914. 49 L e n g y e l : Auf der Suche, S. 45. 50 Az Erdélyi Szövetség alakuló ülésének iratai, S. 65. 46
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untermauern, nach der nicht die Gewährung von Gruppenrechten, sondern die Demokratisierung des Gemeinwesens die Nationalitätenfrage löse; dazu gehöre auch ein erweitertes Wahlrecht. Dieses Demokratieverständnis sollte „allen siebenbürgischen Kräften“ über „nationale und konfessionelle Unterschiede“ hinweg dienen51. Von diesem Entwurf eines „nationalen Demokratismus“52 bis zur offiziellen Verabschiedung des Verbandsprogramms verstrichen allerdings sieben Monate. Währenddessen verschob sich, wohl im Interesse einer stärkeren Einbindung des konservativen Flügels um Bethlen, das Schwergewicht von systempolitischen hin zu nationalpolitischen Vorgaben. Infolge dieser Feinjustierung der Konzeption entfiel die Kritik gegenüber der regierenden Arbeitspartei, und die Forderungen nach sozialen und politischen Reformen wurden verallgemeinert53. Die erst 1917 publizierten Gründungsakten des Siebenbürgischen Verbandes beinhalten die Satzung, den Arbeitsplan und das Mitgliederverzeichnis seines Leitungsrates in den am 7. Juni 1914 in Neumarkt angenommenen Fassungen54. Artikel 1 der Satzung bezeichnete den Verband als „freie Vereinigung derjenigen, die – für die Stärkung und Weiterentwicklung des einheitlichen ungarischen Nationalstaates – bereit sind, den Interessen Siebenbürgens zu dienen“. Artikel 2 schrieb vor, im „Rahmen des einheitlichen ungarischen Nationalstaates mit den Mitteln der politischen Organisierung und Mobilisierung zur Lösung jener allgemeinen politischen, volkswirtschaftlichen, verwaltungs-, bildungs- und gesellschaftspolitischen Aufgaben beizutragen, deren Lösung die besonderen Verhältnisse Siebenbürgens erfordern“. Artikel 4 erklärte, dass der Siebenbürgische Verband den konfessionellen, sprachlichen, sozialen, beruflichen und politischen Stand seiner Mitglieder „nicht betrachte“, soweit diese Zugehörigkeiten der „Vertretung der Interessen Siebenbürgens“ sowie den „Vereinbarungen“ des Verbandes nicht entgegenstünden55. Die Satzung nahm für die Verbandsorganisation eine Dreiteilung nach Vollversammlung, Leitungsrat und Zweigstellen vor. Dem Leitungsrat kam die Rolle des kollektiven Direktoriums zu, das der Vollversammlung halbjährlich über die Umsetzung des von der Vollversammlung verabschiedeten Programms zu berichten hatte. Ein 51
Ebenda, S. 16. R o m s i c s : Bethlen (1999), S. 82. 53 Vgl. B á r d i : Otthon, S. 98–100; E g r y : Regionalizmus, S. 9. 54 ESz. Wiederabdruck des Arbeitsplanes: Az Erdélyi Szövetség munkaterve [Der Arbeitsplan des Siebenbürgischen Verbandes]. In: Magyar Kisebbség 8 (2003), Nr. 2–3, S. 106–114. 55 ESz, S. 5. 52
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Vorsitzender, drei geschäftsführende Vorsitzende in Klausenburg, Neumarkt und Kronstadt – den Städten, in denen der Leitungsrat abwechselnd tagen sollte –, und fünf stellvertretende Vorsitzende bildeten den neunköpfigen Vorstandsrat. In jedem Wahlkreis sollte ein lokaler Ausschuss gebildet werden, der im Falle verschiedener Parteigliederungen im jeweiligen Wahlkreis auf „zwischenparteilicher Grundlage“ zusammenzustellen und in dem jede Partei entsprechend ihrer „zahlenmäßigen Stärke“ zu vertreten war56. Artikel 11.d der Satzung bestimmte, dass der Leitungsrat „die Erfordernisse der militärischen, verwaltungspolitischen, volkswirtschaftlichen, bildungspolitischen und gesellschaftlichen Stärkung Siebenbürgens ständig zu erfassen“ habe57. Der in vier Abschnitte eingeteilte Arbeitsplan bot streckenweise eine eklektische Mischung von Vorstellungen oppositioneller und regierender Eliten des zeitgenössischen Ungarn dar. Unter „Allgemeine politische Aspekte“ brachte er die „allererste“ allgemeine Forderung nach militärischem Schutz Siebenbürgens vor, der nach dem Aufstieg Rumäniens zum Machtfaktor in den Balkankriegen 1912/1358 notwendiger denn je schien. Anschließend stellte er klar, dass die Ausweitung des Wahlrechts der Erhöhung der ungarischen Wahlberechtigten zu dienen, die Neueinteilung der Wahlkreise also zur Beseitigung der Nachteile zu führen habe, welche die „Demokratie, besonders aber die rechtmäßigen Interessen des Ungartums“ erlitten hätten. In Zusammenhang mit einer Reform des Wahlrechts lag die Betonung weniger auf der Demokratisierung als auf der Beseitigung der ungarischen nationalen Beschwerden. So äußerten die Programmverantwortlichen ihren Unmut über die „künstliche Herausbildung von Wahlkreisen mit rumänischer Mehrheit, somit die Kontingentierung für Abgeordnete rumänischer Nationalität“, weil sie darin die Bevorteilung von „intellektueller und wirtschaftlicher Rückständigkeit“ erblickten. Es war aus ihrer Sicht folgerichtig, dass sie in den siebenbürgischen Wahlkreisen mit ungarischer Mehrheit zur Feststellung der Zahl der Wahlberechtigten die Berücksichtigung des „intellektuellen und wirtschaftlichen Entwicklungsstandes“ für angebracht hielten59, womit sie ein Schlüsselelement aus der Wahlrechtsprogrammatik der Arbeitspartei Tiszas 56
ESz, S. 6–8. ESz, S. 7. 58 Katrin B o e c k h : Von den Balkankriegen zum Ersten Weltkrieg. Kleinstaatenpolitik und ethnische Selbstbestimmung am Balkan. München 1996 (Südosteuropäische Arbeiten 97); V o l k m e r : Die Siebenbürgische Frage, S. 347–348. 59 ESz, S. 11–12. 57
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aufgriffen60. Ebenfalls in der Auffassung des ungarischen Liberalismus kehrte das politische Kapitel des Arbeitsplanes den Grundsatz hervor, dass die Frage der Nationalitäten im Sinne des Nationalitätengesetzes XLIV/1868 individualrechtlich und nicht gruppenrechtlich zu lösen sei, weil in Ungarn die staatsbürgerlichen Rechte einzig aus der „Zugehörigkeit zum einheitlichen ungarischen Nationalstaat“ abgeleitet, mithin die Menschenrechte allen Bürgern individuell, „nicht aufgrund der Nationalität“ gewährt würden. Die aktuelle politische Auslegung dieses Prinzips nahmen die Verfasser jedoch im Gegensatz zu Tisza vor, indem sie „jedweden Pakt mit den Nationalitäten“ ablehnten, weil der ungarische Staat nicht Nationalitäten, sondern allenfalls „individuelle Beschwerden“ und „individuelle Wünsche“ anerkenne und, wenn sie gerechtfertigt seien, ihnen stattgebe bzw. sie erfülle61. Nicht erläutert wurde, warum der Arbeitsplan die ins Königreich Rumänien ausgewanderten Magyaren aber als Gruppe betrachtete, die aus ihrer misslichen Lage am besten durch eine gesteuerte Heimkehr befreit werden sollte62. Im zweiten Kapitel zu den „Aspekten der Verwaltung“ floss der Gedanke der ungarischen Vorherrschaft in ein partei- und schichtenübergreifendes Einheitsdogma ein, das die öffentliche Administration dazu verpflichte, für „Reiche und Arme“ unabhängig von „Vermögen, Klasse, Konfession und Nationalität“ Sorge zu tragen und dabei die „Union Siebenbürgens mit dem Mutterstaat in den Seelen und den Institutionen gleichermaßen zu vollbringen“. In diesem Punkt verband sich der systempolitische Reformgedanke von „Verfassungsmäßigkeit und Parlamentarismus“ besonders eindrucksvoll mit dem an den „Interessen der Massen“ ausgerichteten Führungsanspruch der „ungarischen Nationalidee“63. Der volkswirtschaftliche Abschnitt des Arbeitsplanes umriss die Siebenbürgen „von Natur aus“64 zustehende Rolle als Industriezentrum Ungarns. Der Um- oder Ausbau des Grundstück-, Banken- und Eisenbahnwesens in der Region verlangte hier ebenso nach einer gezielteren und umsichtigeren Interessenvertretung wie im abschließenden Kapitel über die Bildungspolitik die Behandlung der Staatssprache als 60 A magyar polgári pártok programjai (1867–1918) [Die Programme der ungarischen bürgerlichen Parteien 1867–1918]. Hg. Gyula M é r e i . Budapest 1971, S. 60–61; Iván B e r t é n y i jr.: A gyűlölt Tisza István [Der gehasste István Tisza]. In: Tisza István emlékezete, S. 21–42, hier 34–38. 61 ESz, S. 13. 62 ESz, S. 14. 63 ESz, S. 16. 64 ESz, S. 17.
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für die Bevölkerung „wichtigstes heilbringendes Mittel“65. Die Lex Apponyi XXVII/1907 zur Regelung der Rechtslage der Gemeinde- und Konfessionsschulen, die neben der fachlichen Erneuerung des Elementarschulwesens auch das zahlreiche Erlernen des Ungarischen in Wort und Schrift zu fördern hatte, sollte, so der Arbeitsplan mit klarem sinngemäßem Hinweis auf das schon zeitgenössisch umstrittene Gesetz66, uneingeschränkt, notfalls sogar verschärft umgesetzt werden, damit im staatlichen, kommunalen und konfessionellen Volksschulwesen die Verbreitung der ungarischen Sprache sichergestellt und dort, wo Elementarschulen hierfür ungeeignet waren, durch neu gegründete staatliche Schulen gewährleistet werde. Die Handlungskompetenzen und Kontrollbefugnisse der Regierung betonten die Gründerväter des Verbands auch in Bezug auf die höhere und konfessionelle Schulbildung, die Lehrerbildungsanstalten, die Museen und Bibliotheken sowie die Hochschullehre, für deren Verbesserung der Staat mit der Beseitigung der Mängel, dem Ausbau der Klausenburger Universität und der Gründung einer Technischen Hochschule in Siebenbürgen zu sorgen habe67. Forderungen nach Verstaatlichung des Wohlfahrtswesens und Sanierung der Industrie bis hin zum Gewässersystem, schließlich nach militärischer Befestigung der östlichen und südlichen Staatsgrenzen setzten zentralstaatliche Maßgaben ebenfalls voraus68. Mit diesem Aufgabenkatalog und der Mehrheit seiner Führungspersönlichkeiten der Unabhängigkeitspartei zugeneigt, nahm der Siebenbürgische Verband ein oppositionelles Grundmerkmal an, das er auch mit dem Vorschlag kundtat, in den Städten die Aufhebung des Virilismus „zu erwägen“69. Er zog die siebenbürgische Problematik in die eigene Verantwortlichkeit, aber seine oppositionelle Haltung 65
ESz, S. 9. Aus dem Gesetz über die Rechtsverhältnisse der nichtstaatlichen Volksschulen („Apponyisches Schulgesetz“) im Vergleich zu 1868. In: Quellen zur Geschichte der Siebenbürger Sachsen 1191–1975. Hg. Richard W a g n e r . Köln, Wien 21981 (Schriften zur Landeskunde Siebenbürgens 1), S. 247–256. Vgl. Joachim v o n P u t t k a m e r : Schulalltag und nationale Integration in Ungarn. Slowaken, Rumänen und Siebenbürger Sachsen in Auseinandersetzung mit der ungarischen Staatsidee 1867–1914. München 2003 (Südosteuropäische Arbeiten 115); László S z a r k a : Modernizáció és magyarosítás. A Lex Apponyi oktatás- és nemzetiségpolitikai olvasatai [Modernisierung und Magyarisierung. Die Unterrichts- und nationalitätenpolitischen Lesarten des Lex Apponyi]. In: Korunk 18 (2007), Nr. 12, S. 25–35. 67 ESz, S. 19–23. 68 ESz, S. 11, 14. 69 ESz, S. 12. Virilisten waren Personen mit den höchsten Steuerabgaben, die dafür mit politischen Sonderrechten ausgestattet wurden (Monika K o z á r i : A dualista rendszer [Das dualistische System] (1867–1918). Budapest 2005 (Modern magyar politikai rendszerek), S. 212. 66
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war stärker ausgeprägt als seine Territorialität70. Er war nicht auf eine Dezentralisierung des politischen Systems, sondern vielmehr darauf bedacht, sich von der Arbeitspartei, seiner Hauptgegnerin im politischen Zentrum Ungarns, gehörig abzusetzen. Folgerichtig bedachten alle Fraktionen der Unabhängigkeitspolitiker, so Parteiführer Graf Károlyi71, aber auch der bürgerlich-radikale Oszkár Jászi72 die neu gegründete siebenbürgische Interessenvertretung mit lobenden Worten, obwohl deren Gründungsakten im Gegensatz zu den Diskussionen in der zeitgenössischen ungarischen Innenpolitik73 auf gemeinrechtliche Fragen der Staatsverbindung mit Habsburg keinen Bezug nahmen. Stattdessen schenkte der Verband neben dem Schutz Siebenbürgens der Reform des Wahlrechtsgesetzes und der Wahlkreiseinteilungen zunächst ausladende, dann allerdings bis wenige Wochen vor Kriegsbeginn nachlassende Aufmerksamkeit. In seiner ersten Entwicklungsphase lavierte er zwischen den Postulaten der systemischen Modernisierung und der nationalisierenden Machtsicherung, wobei er der Nationalpolitik spürbar zunehmenden Vorrang einräumte. Hieraus erklärt sich, dass in seinem Arbeitsprogramm die parteipolitischen Vorzüge einander abwechselten.
Die Wiederbelebung des Siebenbürgischen Verbandes nach dem rumänischen Einfall in Siebenbürgen 1916 Der Weltkrieg brach die gerade begonnene Aktivität des Siebenbürgischen Verbandes jäh ab. Rund drei weitere Jahre gingen ins Land, bis die Männer um Bethlen einen Neubeginn wagten. Den Anlass dazu bot ihnen der erfolgreiche Gegenangriff nach dem rumänischen Einfall in Siebenbürgen im Sommer 1916, der rasch über die Karpaten vordrang und bis Jahresende große Teile der Walachei einschließlich der Hauptstadt Bukarest unter die Besatzung der Mittelmächte brachte. Die Unterzeichnung des Waffenstillstands mit den Mittelmächten in Fokschan (Focșani, Foksány) am 9. Dezember 1917 sowie die Friedensschlüsse von Buftea am 5. März 1918 bzw. von Bukarest am 7. Mai 1918 markierten Rumäniens Weg in die zeitweilige Niederlage74. 70
Vgl. im gleichen Sinne R o m s i c s : Bethlen (1999), S. 85. E g r y : Regionalizmus, S. 9. 72 Jászi O s z k á r : Erdély megmentése [Die Rettung Siebenbürgens]. In: Huszadik Század 28 (1913), Nr. 12, S. 660–663. 73 Vgl. P ö l ö s k e i : A magyar parlamentarizmus, S. 127–140. 74 Elke B o r n e m a n n : Der Frieden von Bukarest. Frankfurt/M. u. a. 1978 (Europäische Hochschulschriften 64); István E ö r d ö g h : Erdély román megszállása (1916–1920). Olasz és vatikáni levéltári források alapján [Die rumänische Besetzung Siebenbürgens 1916–1920. Aufgrund italienischer und vatikanischer Archivquellen]. Szeged 2000, 71
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Ab Frühjahr 1917 ging auch Bethlen zur Offensive über, wobei ihm eine innenpolitische Gegebenheit zunutze kam. In den ersten Kriegsjahren hatte sich die Fehde zwischen der liberalen Regierungspartei und der siebenbürgischen Opposition entspannt und schien nach der abgewehrten militärischen Bedrohung aus dem Südosten überwindbar zu sein, womit sich die beiden Seiten regionalpolitisch aufeinander zu bewegten. Bethlen weitete sein siebenbürgisches Programm, das er am 3. März 1917 im Budapester Reichstag vorstellte, auf Fragen der Modernisierung aus und befürwortete die Unterordnung der Parteiinteressen auch nach der Spaltung der Unabhängigen in ein linkes und ein rechtes Lager. In seiner parlamentarischen Rede initiierte er die Aufstellung eines Regierungskommissariats für Siebenbürgen zur Wiederherstellung der von Kriegsschäden durchzogenen Region sowie Grenzberichtigungen zugunsten Ungarns, um Wohngebiete für auszusiedelnde Rumänen und anzusiedelnde Magyaren (in erster Linie für Kriegsveteranen und Csángó aus der Moldau) zu schaffen75. Die Tisza-Regierung hatte schon im September 1916 in Klausenburg ein Kommissariat mit der Aufgabe eingesetzt, die vor den rumänischen Truppen geflohene ungarische Bevölkerung zur Rückkehr zu ermuntern und die Wirtschaft zu sanieren; Bethlen war dem Amt als Soldat beigeordnet, doch nahmen die zunehmenden Angriffe der Opposition auf die Regierung im Zusammenhang mit dem Wahlrechtsproblem zu und verursachten tiefe Risse in dem für die Genesung Siebenbürgens gewünschten nationalen Einheitsblock tiefe Risse. Im Frühjahr 1917 versuchte Bethlen mit verschärften Forderungen für eine territoriale Vergrößerung Nachkriegssiebenbürgens die Grundlagen der Zusammenarbeit mit dem Staatszentrum zu festigen, worauf ihm Tisza die Leitung eines Ministeriums für siebenbürgische Angelegenheiten anbot. Wegen des zu erwartenden Widerstands seiner innenpolitischen Weggefährten lehnte Bethlen das Angebot jedoch ab und führte damit den Rücktritt Tiszas im Mai 1917 mit herbei76. Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass ausgerechnet in jenen Tagen der Fahnenabzug der Broschüre „Die siebenbürgische Frage“ fertiggestellt wurde, der im Schriftennachlass von István Apáthy mit S. 14–17; G a l á n t a i : Hungary, S. 186–188; Lisa M a y e r h o f e r : Zwischen Freund und Feind – Deutsche Besatzung in Rumänien 1916–1918. München 2010; Manfried R a u c h e n s t e i n e r : The First World War and the End of the Habsburg Monarchy 1914–1918. Wien u. a. 2014, S. 667–669. 75 Dieser Plan wurde durch den Bukarester Friedensvertrag v. 7. Mai 1918 nur geringfügig militärisch umgesetzt. R o m s i c s : Bethlen (1999), S. 89–92. 76 G a l á n t a i : Hungary, S. 240–247; R o m s i c s : Bethlen (1999), S. 86–89; R a u c h e n s t e i n e r : The First World War, S. 738–741; V e r m e s : Tisza, S. 363–378.
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dessen handschriftlichen Randnotizen und Korrekturen erhalten geblieben ist77. Der mit „Budapest, 17. Juni 1917“ datierte, namentlich nicht gezeichnete Text entstand aus der Überzeugung heraus, dass die staatsrechtliche Aufteilung des Karpatenbeckens nicht nur für die ungarische Nation, sondern für das „gesamte gegenwärtige Mitteleuropa“ die „Endgefahr“ bedeutete. Der Verfasser sah die Existenz Ungarns und der Doppelmonarchie gleichermaßen in Gefahr und befand, dass die „grundsätzliche und auch zukünftig volle Sicherheit bietende Lösung der Frage nur von der ethnischen Dominanz des siebenbürgischen Ungartums und des mit gleichgerichteten Interessen unbedingt staatsloyalen Deutschtums“ abhänge78. Unerlässlich schien dazu eine „präventive Heimatwehr“, die über ein regierungsamtliches Kommissariat einerseits die rumänische Auswanderung nach Altrumänien, andererseits die ungarische Binnenmigration nach Siebenbürgen fördern solle79. Die Wünsche legte die Denkschrift in fünf Sachgruppen dar: 1. Unter volkswirtschaftlichem Aspekt führte sie neben der rumänischen Aus- und ungarischen Einwanderung die nationale Grundbesitzpolitik und die gezielte Industrieförderung an; 2. zum Unterrichtswesen und Konfessionsleben erklärte sie die Notwendigkeit der Verstaatlichung der griechisch-orthodoxen Schulen und Lehrerbildungsanstalten sowie die amtliche Überwachung der rumänischen staatlichen Mittelschulen; 3. der politischen Staatsverwaltung stellte sie die Neuordnung der Komitate anheim, damit das „Ungartum und das Sachsentum gemeinsam in möglichst vielen Komitaten die zahlenmäßige Mehrheit beziehungsweise ein starkes zahlenmäßiges Gewicht erreichen“80; 4. von der rechtlichen Administration erwartete sie die Verschärfung des Strafrechts zur angemessenen Behandlung staatsfeindlicher Tätigkeiten; 5. für das Sozialwesen empfahl sie staatliche Maßnahmen zur Unterstützung des natürlichen Bevölkerungswachstums. Zur allgemeinen Abrundung mahnte das Memorandum die „planmäßige Organisation“ des militärischen und zivilen Grenzschutzes 77 Az erdélyi kérdés [Die siebenbürgische Frage]. Budapest, 14.6.1917. OSZK AIh Quart. Hung. 2456. Eine publizierte Fassung ist in der Fachliteratur nicht bekannt (vgl. B á r d i : Az erdélyi magyar (és regionális) érdekek, S. 98, E g r y : Regionalizmus, S. 17). Der Umbruch des Typoskripts ist in der Ungarischen Nationalbibliothek auch unter der Signatur 112.352 zugänglich. 78 Az erdélyi kérdés, S. 1. 79 Ebenda, S. 2. 80 Ebenda, S. 5.
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von Siebenbürgen an, um dann die Forderung zu stellen, die den Wunsch nach einem erhöhten Grad siebenbürgisch-ungarischen Mitspracherechts in der Landespolitik im Sinne der vorhin angeführten Parlamentsrede Bethlens andeutete: die „anteilige Vertretung der siebenbürgischen Gebiete“ im ungarischen Reichstag. Abschließend stellte das Elaborat klar, dass ein für Siebenbürgen noch aufzustellendes „eigenes [rekonstruktionales] Ministerium“ für diese Anliegen und Forderungen die Gesetzesvorschläge und Durchführungsbestimmungen im Reichstag einzubringen, mit den Fachressorts zu verhandeln und dann umzusetzen habe. Ohne Anhörung dieses Ministeriums sollten weder Ernennungen vorgenommen noch „Bestimmungen, die in irgendeiner Hinsicht Siebenbürgen oder die in diesem Programm niedergelegten Prinzipien berühren“, verabschiedet werden81. Die Denkschrift „Die siebenbürgische Frage“ dokumentiert den im Frühsommer 1917 erhöhten Stellenwert der regionalen Aspekte in der ungarischen Innenpolitik. Das Lager der Unabhängigkeitspolitiker erstarkte wieder und schob, von informellen überparteilichen Absprachen flankiert, den Siebenbürgischen Verband aus der Opposition nach und nach in das Zentrum des politischen Lebens vor82. Der im Juni zum Innenminister der Regierung des Parteilosen Móric Esterházy (1881–1960)83 ernannte Gábor Ugron (1880–1960), von 1906 bis 1910 Obergespan des Komitats Marosch-Torda, griff die frühen Pläne des Verbandes auf, und das Landwirtschaftsministerium stellte die staatliche Überwachung des Immobilien- und Grundstücksmarktes in Aussicht84. Auf einer wichtigen Nebenlinie der Diskussionen in und um Siebenbürgen nahm in der zweiten Jahreshälfte der Einfluss der Gegner einer liberalen Wahlrechtsauffassung zu. Die Klausenburger Wahlrechtsliga (Választójogi Liga) trat für ein allgemeines, gleiches und geheimes Wahlrecht ein, „unabhängig von Nationalität und Geschlecht“, und wollte „die Revision der tausendjährigen Verfassung Ungarns“ entsprechend dem Grundsatz durchsetzen, dass es „eine Heimat nur dort gibt, wo es auch das Recht“ gebe85. Diesem Beschluss vom 5. August 1917 fügte der Verwaltungsausschuss der Wahlrechtsliga die Erläute81
Ebenda, S. 6. Vgl. E g r y : Regionalizmus, S. 16–17. 83 József B ö l ö n y : Magyarország kormányai 1848–1992 [Ungarns Regierungen 1848–1992]. Hg. László H u b a i . Budapest 51992, S. 88; G a l á n t a i : Hungary, S. 248–251. 84 L e n g y e l : Auf der Suche, S. 44; R o m s i c s : Bethlen (1999), S. 93–97. 85 A kolozsvári Választójogi Liga álláspontja [Der Standpunkt der Klausenburger Wahlrechtsliga]. Klausenburg, 5. August 1917. OSZK AIh Quart. Hung. 2456/4. Zitate im gedruckten Begleitschreiben. 82
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rung bei, dass an die Gewährung des Wahlrechts geknüpfte, besondere Bedingungen wie höhere Schulbildung oder die Anerkennung der nationalen Suprematie nur der Machterhaltung bestimmter Parteien dienten. Etwaige Verstöße gegen die territoriale Integrität sollten auf dem Rechtsweg erfasst und geahndet werden, nicht durch Beschränkung des Wahlrechts, das „kein Geschenk und kein Privileg, sondern das angeborene natürliche Recht eines jeden Menschen“ und unabdingbare Voraussetzung für die „demokratische Neugeburt Ungarns“ sei86. Für den 30. September 1917 wurde die Sitzung zur Neugründung des Siebenbürgischen Verbandes in Klausenburg zugleich als „Wahlrechtssitzung“ anberaumt87. Im Vorfeld plädierte Árpád Paál (1880–1944), von 1903 bis 1908 Beisitzer des Waisenstuhls, danach bis 1918 Obernotar des Komitats Oderhellen (Odorheiu Secuiesc, Székelyudvarhely), für die gesellschaftspolitische Stärkung des Szeklerlandes88. Das Mitglied des Vorstandsrates des Siebenbürgischen Verbandes hatte in der frühen Szekler-Bewegung für die „nähere Anbindung des szeklerischen Verkehrswesens an die großen ungarischen Zentren“ eine Lanze gebrochen89. Nun bat er für sein landespolitisches Ziel auch deswegen um herausragende Aufmerksamkeit, weil Ungarn seine wirtschaftlichen Beziehungen mit dem Königreich Rumänien über diese Unterregion regeln müsse. Deren Stellenwert werde zugleich im Problemkreis der Wahlrechtsreform erhöht. Das Wahlgesetz von 1874 habe das Wahlrecht der Szekler „geradezu ausgemerzt“; 1913 hätten nur halb so viele wählen können wie 1874, und das Wahlgesetz 1913 habe diesen Anteil nur unwesentlich und ungleichmäßig wieder erhöht, so dass der Anteil der wahlberechtigten Szekler von 1874 bis 1913 um rund 37 bis 38 Prozent zurückgegangen sei, schrieb der Rechts- und Staatswissenschaftler in einem Brief an den Verbandsvorstand. Paál führte ergänzend aus, dass es ungerechtfertigt sei, den rumänischen Anteil von 54 Prozent in Siebenbürgen gegen die „ehrliche Ausweitung des Wahlrechts“ anzuführen; dies sei unter „siebenbürgischem Aspekt weder gerechtfertigt noch zielführend“; aus „der Sicht der Szekler sei dies geradezu schädlich“90. Der hier greifbare Gedanke einer aus natio86
A kolozsvári Választójogi Liga álláspontja. Árpád Paál an Vorstand SV. Oderhellen. 27.9.1917. OSZK AIh Quart. Hung. 2456/144, S. 1. 88 L e n g y e l : Kós, S. 44. 89 Árpád P a á l : Udvarhelyvármegye közlekedésügye és az országos forgalom [Das Verkehrswesen des Komitats Udvarhely und der Landesverkehr. 1908]. HRM PÁh Ms. VI. 7651/6, S. 1. 90 Árpád Paál an Vorstand SV. Oderhellen, 27.9.1917. OSZK AIh Quart. Hung. 2456/144. 87
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nalpolitischen Gründen geradewegs unerlässlichen Wahlrechtsreform sollte die Einstellung der unabhängigkeitspolitischen Kreise bis zum Ende des Weltkriegs kennzeichnen91. Bei der Wiederbelebung des Siebenbürgischen Verbandes spielte Apáthy eine ebenso maßgebliche Rolle wie bei der Gründung drei Jahre zuvor, und wieder war nach zeitweiligem zwischenparteilichen Gezänk ein Kompromiss mit dem konservativen Flügel um Bethlen vonnöten92. Beide Richtungen sorgten dafür, dass sich der Verband aufgrund seiner personellen Zusammensetzung und geographischen Verbreitung nun tatsächlich zu einer partei- und komitatsübergreifenden Organisation zu entwickeln begann und dem Einfluss der Oberschicht weitestgehend zugänglich war. Es wurden neben dem Klausenburger Apáthy ein Neumarkter und ein Kronstädter zu geschäftsführenden Vorsitzenden neben sechs Stellvertretern in den Vorstandsrat bestellt, in dem die Aristokraten Bethlen und Kemény sowie Ugron, die beiden letzteren aus der Unabhängigkeitspartei, die Führung als Vorsitzende übernahmen. Der institutionelle Ausbau des Verbandes wurde im Herbst 1917 durch Filialgründungen in den Wirkungsbereichen der drei Geschäftsführungen in Klausenburg, Neumarkt und Kronstadt sowie auf der Ebene der Komitate und der Wahlkreise vorangetrieben. Eine Reihe von Obergespanen Siebenbürgens sowie hohe Verwaltungsbeamte traten im Frühjahr 1918 dem Leitungsrat bei und verstärkten den Einsatz für die neue zentrale Forderung, die Einrichtung eines siebenbürgischen Regierungskommissariats93. Die Neugründung vollzog sich unter Teilnahme landespolitischer Prominenz. Kultus- und Unterrichtsminister Albert Apponyi (1846– 1933), der Minister ohne Portefeuille und für wirtschaftliche Angelegenheiten Béla Földes (1848–1945) und ein Vertreter des Landwirtschafts- und des Innenministers wohnten der Sitzung vom 30. September 1917 bei, die zunächst über die obige Zusammensetzung der Verbandsleitung beschloss. Unter der Sitzungsleitung von Apáthy wurde sodann das Arbeitsprogramm vor dem Hintergrund der Kriegserfahrungen ausführlich erörtert. Die einzelnen Wortmeldungen flossen auf Bethlens Vorschlag in einen umfangreichen Beschluss ein, nach dessen erstem Punkt Ungarn die Wiederherstellung der Souveränität Rumäniens anzuerkennen und beim Friedensschluss auf dessen Re91 Beispielhaft bezog der „Vorbereitungsausschuss“ einer für den 9. Februar 1918 anberaumten fachpolitischen Sitzung Stellung für die „breite Ausweitung des parlamentarischen Wahlrechts“, wenn sie „die Suprematie der ungarischen Nation und die Führungsrolle der ungarischen Intelligenz“ nicht beeinträchtige (SzT PR Ms. 251/4801-43). 92 Näheres bei L e n g y e l : Auf der Suche, S. 44–45. 93 B á r d i : Otthon, S. 103–104; E g r y : Regionalizmus, S. 19–23; L e n g y e l : Auf der Suche, S. 45–46.
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gierungsform und staatliche Ordnung keinen Einfluss zu nehmen habe. Hingegen sollten Bestrebungen unterbunden werden, zwischen Rumänien und der Monarchie engere Beziehungen einzurichten, weil diese „dem Interesse der ungarischen Nation“ zuwiderliefen94. Der Beschluss spiegelte Bethlens realpolitisches Umdenken bezüglich der Annexionsmöglichkeiten rumänischer Gebiete wider. Die nächsten beiden Punkte waren ebenfalls sicherheitspolitischmilitärischer Natur. Mit der Korrektur der ungarisch-rumänischen Grenze sollte eine militärische Schutzzone jenseits der Karpaten herausgebildet und zugleich diesseits der Karpaten der zivile Grenzschutz durch Ansiedlung staatsloyaler ungarischer Bürger in den südlichen Komitaten begründet werden. Hohen Stellenwert besaß für den militärischen Schutz wie auch für die wirtschaftliche Entwicklung der Region das Eisenbahnnetz, das nach dem Weltkrieg umgehend instandgesetzt werden sollte95. Beim Thema der Grundstückspolitik stellte der SV den nationalen Gesichtspunkt über den sozialen, weil der „Boden nicht nur Einzelnen, sondern auch der Nation“ zu gehören schien96; so wünschte er ein Verbot von Parzellierungen und Bodenveräußerungen. Zu guter Letzt verwies der Beschluss auf die Verantwortung der Strafverfolgungsbehörden bei der angemessenen Behandlung staatsfeindlicher Handlungen97. Zustimmend wurden auf der Sitzung noch Vorschläge zur Verstaatlichung des Nationaltheaters in Klausenburg und zur Gründung von Theatern in Kronstadt, Neumarkt und Hermannstadt (Sibiu, Nagyszeben), ebenso zur Ausweitung des staatlichen Einflusses auf die griechisch-orthodoxen und griechisch-katholischen Lehrerbildungsanstalten bzw. notfalls deren Verstaatlichung aufgenommen. Als wünschenswert beurteilt wurde die Gründung eines griechisch-orthodoxen Bistums ungarischer Sprache für 42.000 ungarische Muttersprachler und annähernd 200.000 Personen griechisch-orthodoxen Glaubens, die des Ungarischen mächtig, aber „in den Rahmen der mehr oder weniger ungarnfeindlichen serbischen beziehungsweise rumänischen Kirchenorganisation gezwungen“ seien98. Eine weitere Wortmeldung bezog sich auf die handels- und sozialpolitische Restaurierung Siebenbürgens 94 István Apáthy – Árpád Kemény – Gyula Jelen: Sitzungsprotokoll des Leitungsrates des SV. Klausenburg, 30.9.1917. Korrigiertes Zweitexemplar. OSZK AIh Quart. Hung. 2456, S. 4. 95 Ebenda, S. 4–5. 96 Ebenda, S. 5. 97 Ebenda, S. 5–6. 98 Ebenda, S. 13.
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nach dem rumänischen Einmarsch, die Beseitigung der Schäden und Linderung der Not der Zivilbevölkerung, dies alles durch „Dezentralisierung der Hilfsaktionen“99, also die Übertragung entsprechender Kompetenzen auf die Obergespane, um das Regierungskommissariat zu entlasten. Minister Apponyi versprach die wohlwollende Prüfung aller Vorschläge, insbesondere jener zur Bildung eines militärischen und zivilen Grenzschutzgebietes100. Wenige Wochen später kündigte Innenminister Ugron in einem Schreiben an Apáthy Maßnahmen der Staatsverwaltung in den Grenzgebieten gegen „Bestrebungen, welche die Staatsidee gefährden,“ an101. Dafür müsse die Vorgehensweise zentralisiert werden, allerdings nur provisorisch, nämlich so lange, wie sich die Verwaltung in den Grenzgebieten, vor allem im Komitat Drei Stühle (Trei Scaune, Háromszék), von den Kriegsschäden erhole. Die Mitteilung des Innenministers an den Geschäftsführer des Verbandes schloss mit der Frage, ob die betreffende Beamtenschaft ernannt oder gewählt werden sollte102. Der Adressat befürwortete in seiner postwendenden Antwort die Praxis der Ernennung, um diejenigen, die bis dahin hauptsächlich aus dem Lager der liberalen Arbeitspartei kamen, durch Personen aus dem ganzen Land ablösen zu können, die „unter nationalem Gesichtspunkt am ehesten verlässlich“ seien103. Die Personalfragen standen auch in weiteren schriftlichen Vorlagen über die ersehnte Institutionalisierung der politischen Interessenvertretung Siebenbürgens im Vordergrund. Im Führungszirkel des Siebenbürgischen Verbandes herrschte im Herbst 1917 Einvernehmen darüber, dass dem „Regierungskommissariat für die Rekonstruktion Siebenbürgens“ eine Reihe von Handlungskompetenzen aus den Budapester Fachministerien übereignet werden sollten. Als Leiter des Kommissariats wurde Graf Bethlen, einer der Vorsitzenden des Verbands, ins Gespräch gebracht, dem ein aus Siebenbürgern zusammenzustellender Mitarbeiterstab beigegeben werden sollte. Dazu brachte ein Mitglied des Leitungsrates das folgende entscheidende Argument in den Vorstand ein: „Die spezielle Lage, die speziellen Interessen Siebenbürgens können nur von Personen leidenschaftlich elaboriert werden, die Leute und Land Siebenbürgens, die Vergan-
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Ebenda, S. 12. Ebenda, S. 15. 101 Ugron an Apáthy. Budapest, 24.10.1917. OSZK AIh Quart. Hung. 2456, S. 1. 102 Ebenda, S. 1–3. 103 Apáthy an Ugron. Klausenburg, 30.10.1917. OSZK AIh Quart. Hung. 2456/186, S. 2. 100
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genheit und Gegenwart Siebenbürgens von Geburt an, dank ihrer Herkunft kennen.“104 Bei der Sitzung der Verbandsführung vom 21. November 1917 wurde der Vorstand beauftragt, den Plan eines Siebenbürgischen Königlichen Kommissariats für die „richtige Leitung des politischen, volkswirtschaftlichen und kulturellen Lebens Siebenbürgens“ auszuarbeiten105. Überlegungen zur politischen Institutionalisierung der siebenbürgischen Interessenvertretung wurden schon Wochen zuvor angestellt. Ende September hatte der Vorstand ein Schreiben aus dem Budapester Oberkommissariat für Industrie erhalten, das bei der anstehenden Planung eines „Ministeriums [oder Landesbehörde] für Rekonstruktion“, anders ausgedrückt: für den „Neuaufbau Siebenbürgens“, die Fragen des Handels sowie der Erdgasförderung im Umfeld Klausenburgs, bei denen die Interessen der Deutschen Bank und des ungarischen Finanzinvestors Manfred Weisz aufeinanderprallten, in den Mittelpunkt zu stellen empfahl106. Laut Protokoll waren sich die Teilnehmer der Vorstandssitzung vom 21. November einig, dass bei der „Neugestaltung Siebenbürgens“107 das Eisenbahnnetz besondere Aufmerksamkeit verdiene; Apáthy kündigte dazu ein der Regierung vorzulegendes Memorandum an. Ein weiterer Tagesordnungspunkt war die Ansiedlungspolitik, die laut Beschluss mit einem Aufruf an kirchliche und weltliche Einrichtungen dazu anregen sollte, Verzeichnisse von vertrauenswürdigen Personen – etwa in den ungarischen Gemeinschaften im rumänischen Königreich – zusammenzustellen, die bereit seien, sich in Siebenbürgen niederzulassen. Verhandelt wurden noch die Fragen der Beseitigung von Kriegsschäden im Szeklerland, der Bau von Erdgasleitungen in Klausenburg und Neumarkt, die Planung einer Fakultät für Agrarwissenschaft an der Klausenburger Universität, die Belebung des Fremdenverkehrs sowie die Regelung der katholischen Autonomie im Sinne des Gesetzartikels XX/1848108. Im Herbst 1917 kristallisierten sich die Grundstücks- und Siedlungspolitik als zentrale Agenda des Siebenbürgischen Verbandes heraus. 104 Arthur P. Vákár, Mitglied des Leitungsrates des SV, an Vorstand des SV. Neumarkt, 10.11.1917. OSZK AIh Quart. Hung. 2456, S. 2. 105 István Bethlen – Samu Barabás: Sitzungsprotokoll des Leitungsrates des SV. Klausenburg, 21.11.1917. OSZK AIh Quart. Hung. 2456/259, S. 2. 106 Gyula Hegyi, Oberkommissariat für Industrie, an Unbekannt [István Apáthy oder István Graf Bethlen] im Vorstand des SV. Budapest, 25.9.1917. OSZK AIh Quart. Hung. 2456. 107 István Bethlen – Samu Barabás: Sitzungsprotokoll des Leitungsrates des SV. Klausenburg, 21.11.1917. OSZK AIh Quart. Hung. 2456/259, S. 2. 108 István Bethlen – Samu Barabás: Sitzungsprotokoll des Leitungsrates des SV. Klausenburg, 21.11.1917. OSZK AIh Quart. Hung. 2456/259, S. 3–6.
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Der stellvertretende Vorsitzende Emil Baron Petrichevich-Horváth (1881–1945), Obergespan des Komitats Groß-Kokelburg (Târnava Mare, Nagy-Küküllő), zugleich Regierungskommissar für siebenbürgische Schulangelegenheiten und Virilist in Klausenburg109, legte dazu im Dezember 1917 ein Memorandum vor, dessen tieferes Motiv im Gefahrenbewusstsein lag, das seit der Jahrhundertwende infolge der zunehmenden Grundstückskäufe der Nationalitäten stetig angewachsen war. Neuerdings kamen die Sorgen wegen der verheerenden Folgen des rumänischen Einfalls sowie der „Bestrebung des siebenbürgischen Deutschtums, in den üppigsten Flußtälern Siebenbürgens die Rußland-Deutschen von der Wolga anzusiedeln,“ hinzu110. Die Denkschrift hielt im Allgemeinen Maßnahmen zur Sicherung bzw. Zurückgewinnung von Bodenbesitz für unumgänglich, die sich zugleich als sozialpolitische Mittel zur Eindämmung und Verringerung der Auswanderungen aus dem Königreich Ungarn eigneten, deren Größenordnung der Verfasser für das Jahr 1912 auf rund 120.000 bezifferte, wovon rund die Hälfte Magyaren gewesen seien111. Die neue rechtliche Regelung des Grundstücksmarktes sei zu begrüßen, könne aber nur bedingt Abhilfe schaffen, da sie nur die unerwünschten Geschäfte unterbinde, ohne die aktive Grundstückspolitik in „nationaler Richtung“ zu fördern112. Für letztere müssten, so PetrichevichHorváth, in den rein ungarischen Gebieten Siebenbürgens die „gebundenen Domänen“ parzelliert und zwischen Kleingrund- sowie Klein-Mittelgrundbesitzern mit Grundstücken von 10 bis 15 bzw. 200 bis 600 Katastraljoch aufgeteilt werden. Aus diesen Einkaufspreisen könnten nach Abzug der anfallenden Ausgaben in Siebenbürgen und möglichst auch in Oberungarn Boden und Wald gekauft werden. Der Verfasser erwartete unter Berücksichtigung der zeitgenössischen Statistik Einnahmen von mindestens 10 Milliarden Kronen nach rund 16 Millionen Katastraljoch Grundbesitz der angeführten Sorten, die – wohlgemerkt – nicht verstaatlicht, sondern „ausgetauscht“ werden sollten113. Enteignungen lehnte Petrichevich-Horváth auch im Grenzgebiet ab, in denen Parzellierungen von staatlichem Grundbesitz nun 109 Szilárd F e r e n c z i : Adatok a kolozsvári virilizmus történetéből (1872–1917) [Beiträge zur Geschichte des Virilismus in Klausenburg]. In: Erdélyi Múzeum 72 (2010), Nr. 1–2, S. 17–29, hier 23. 110 Emil [ P e t r i c h e v i c h ] - H o r v á t h : Memorandum az erdélyi birtokpolitika némely kérdéseinek megoldásáról [Memorandum über die Lösung einiger Fragen der siebenbürgischen Grundstückspolitik]. Hermannstadt, 12.12.1917. OSZK AIh Quart. Hung. 2456/34-1918, S. 1. 111 Ebenda, S. 2. 112 Ebenda, S. 1. 113 Ebenda, S. 2.
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doch zugelassen werden sollten, um Schutzzonen herauszubilden. Ein neu errichtetes Grenzschutzgebiet, das sich mit den modernen Formen einer militärisch-ordnungspolitischen Heimwehr vereinbaren ließe, würde jedenfalls „die Garantien für die Integrität des Staates erheblich“ verbessern114. Aus diesem Blickwinkel seien die Gesetzartikel XVII-XVIII und XIX/1890 zu überprüfen, weil sie das Vermögen der Szekler Grenzregimenter für Bildungszwecke bestimmten, obwohl die in Stipendienfonds angelegte immense Summe von rund einer halben Milliarde Kronen für die Lösung der gesamten siebenbürgischen Grundstücksproblematik reichen würde. Eine Änderung der Rechtslage werde Mittel für die Landesverteidigung, in erster Linie für die Finanzierung von Grenzschutzmaßnahmen, freimachen, die tunlichst während des Weltkrieges, jedenfalls „vor dem endgültigen Friedensschluss“ zu ergreifen seien115. „Siebenbürgen braucht eine neue Grundentlastung“, lautete die abschließende These, die Petrichevich-Horváth über die sozial betroffenen Schichten hinaus ausdrücklich auf jene Grundbesitzer bezog, die sich wirtschaftlich noch einigermaßen zu halten in der Lage waren116. Der Leitungsrat des Siebenbürgischen Verbandes griff bei seiner Sitzung vom 28. Januar 1918 den Grundgedanken von PetrichevichHorváth auf. Er betraute einen sechsköpfigen Arbeitsausschuss mit der Aufgabe, ein Memorandum zusammenzustellen, das der Regierung anhand militärischer, sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Argumente den Zusammenhang von Grundstücks- und Grenzschutzpolitik näherzubringen hatte. Die Versammlung beriet auch die Frage einer neuen Einteilung der siebenbürgischen Wahlkreise und sprach die Empfehlung aus, dass deren Grenzen nicht mit jenen der Komitate zusammenfallen sollten, um Majorisierungen durch die rumänische Nationalität zu vermeiden. Außerdem wurde die laut Hinweis auf dem Titelblatt vom Sekretär der Industrie- und Handelskammer in Neumarkt verfasste, auf der Sitzung vom 21. November 1917 angekündigte „wirtschaftspolitische Abhandlung“ über die Eisenbahnpolitik in Siebenbürgen117 zur Übersendung an die Regierung freigegeben, und 114
Ebenda, S. 4. Ebenda, S. 5. 116 Ebenda. 117 Lajos R á c z : Erdély vasut-politikája. Gazdaságpolitikai tanulmány [Eisenbahnpolitik in Siebenbürgen. Wirtschaftspolitische Abhandlung]. Marosvásárhely 1917 (siehe Anm. 108). Die Frage der siebenbürgischen Eisenbahnen blieb auch im folgenden Jahr im Mittelpunkt der verbandsinternen Erörterungen (vgl. z. B. folgende Denkschrift aus dem Kreischgebiet: Tekintetes Erdélyi Szövetség! [Gnädiger Siebenbürgischer Verband!]. Schomlenmarkt [Şimleu Silvaniei, Szilágysomlyó], 1. März 1918. OSZK AIh Quart. Hung. 2456/209). 115
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Gábor Ugron, der drei Tage zuvor aus dem Amt des Innenministers geschieden war118, in höchsten Tönen für seine politischen Leistungen gelobt – in der Hoffnung auf seine Rückkehr in die Landesführung als königlicher Kommissar für Siebenbürgen119. Die Beilage des Sitzungsprotokolls enthält die stenographierten Reden einiger hochrangiger Verbandsmitglieder (so auch die von Petrichevich-Horváth), die Ugron nun jenes Amt wünschten, in dem er die „Arbeit der Rekonstruktion Siebenbürgens“ leiten könne – ein Vorhaben, das, so bedauerten alle, in einem „recht langsamen Tempo vorankommt“120. Mit Ugron im Ministeramt habe ein „siebenbürgischer Mensch die inneren Angelegenheiten Ungarns betreut“, der den „siebenbürgischen Gedanken“ nachvollzogen habe121. Umso eher werde er als königlicher Kommissar für Siebenbürgen in einer Eigenschaft gebraucht, in der er seine ganze Kraft und ortskundige Kompetenz „ausschließlich für Siebenbürgen aufwenden, siebenbürgischen Anliegen widmen“ könne122. Die „viel gelittene Bevölkerung“ Siebenbürgens erhoffe sich von diesem neuen Regierungsamt die Behandlung der „noch unberührten großen Fragen der großen Arbeit der Rekonstruktion“123. Die in der Rede von Petrichevich-Horváth auf der Wellenlänge der früheren Eingaben angeschnittenen Probleme wurden vom Vorsitzenden Bethlen in dem nach Budapest zu übermittelnden Beschluss des Leitungsrates aufgelistet124. In der ersten Jahreshälfte 1918 erhöhte der Siebenbürgische Verband den Grad seiner Aktivität, wobei er seine angestammten Themen auf seinen Sitzungen mehr oder minder tiefgreifend weiter verhandelte. Im Februar stellte er Überlegungen über bildungs- und sozialpolitische Anreize für eine Rückkehr der nach dem rumänischen Einmarsch 1916 geflohenen Szekler Bevölkerung an125. Gleichzeitig begann er die Vorbereitungen zur Erstellung eines Finanzierungsplans für die „Rekonstruktion Siebenbürgens“ sowie eines Forderungskatalogs für den zu erwartenden Friedensvertrag mit Rumänien126. 118
B ö l ö n y : Magyarország, S. 466. Samu B a r a b á s : Sitzungsprotokoll des Leitungsrates des SV (mit Beilage). Klausenburg, 28.1.1918. OSZK AIh Quart. Hung. 2456/207, 1918, S. 2. 120 Ebenda, 2456/62-1918, Beilage (Emil [Petrichevich]-Horváth), S. 3. 121 Ebenda, Beilage (Balázs B í r ó ), S. 1. 122 Ebenda, Beilage (Emil [Petrichevich]-Horváth), S. 3. 123 Ebenda, S. 4. 124 Ebenda, S. 4. 125 Tagebuch der Sitzung des Leitungsrates des SV. Klausenburg, 26.2.1918. OSZK AIh Quart. Hung. 2456. 126 Samu B a r a b á s : Protokoll der Sitzung des Leitungsrates des SV. Klausenburg, 26.2.1918. OSZK AIh Quart. Hung. 2456. 119
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Ugron, der letztere Sitzung Ende Februar geleitet hatte, wurde kaum zwei Wochen später, am 6. März 1918 ins Amt des königlichen Kommissars für Siebenbürgen eingesetzt, das bis zum 11. September 1918 bestand127. Diese personelle Aufwertung schob die lokalen Aktivitäten des Siebenbürgischen Verbandes an: Im April 1918 gab die Filiale im Komitat Siladj (Sălaj, Zilah), im Juni jene im Komitat Klein-Kokelburg (Târnava Mică, Kis-Küküllő) ihre Gründung bekannt (Erstere war mit dem örtlichen Unabhängigkeitskreis identisch). Diese ideologische Bindung hinderte sie nicht daran, einerseits die Dynastie zu loben, andererseits festzustellen, dass sie selbst nicht für parteipolitische, sondern für die „Ganzheit des nationalen Daseins“ eintreten wolle128; näher besehen ging es diesem Ortsverband auch um die „Rekonstruierung Siebenbürgens in Kultur, Verkehr, Verwaltung“129. Die andere Gründungsversammlung in Klein-Kokelburg erklärte nach mehrwöchigen Vorbereitungen130 ebenfalls ihre parteipolitische Ungebundenheit und begnügte sich damit, die Teilnehmer auf das Programm des Verbandes einzuschwören, bevor sie beschloss, Auszüge daraus an die „führende Intelligenz“ im Komitat zu versenden131. Die Reformentwürfe des Siebenbürgischen Verbandes waren seit dessen Neugründung bis in die letzten Kriegstage hinein von der Auffassung bestimmt, wonach Budapest in Angelegenheiten der Region zwar die letzte Entscheidungsinstanz zu sein, die Behandlung der siebenbürgischen Problematik aber tunlichst in die Hände Ortskundiger zu legen habe, sei es innerhalb der Staatsführung oder in nachgeordneten Regierungsbehörden wie dem siebenbürgischen Kommissariat132. Die Befürworter dieser Vorgehensweise setzten sich im Vergleich zu den Anfangsjahren des Verbandes merklich stärker vom Zentrum der Landespolitik ab, ohne eine territorial umgrenzte Machtableitung zu bezwecken. Auf das Anliegen, Siebenbürger für Siebenbürgen in die Budapester Schaltstellen der ungarischen Politik zu hieven, deutete die Anregung eines der Virilisten Klausenburgs hin, die volkswirt127
B ö l ö n y : Magyarország, S. 465–466. Zoltán B ö l ö n i : Sitzungsprotokoll der Gründungsversammlung des Ausschusses des SV. Zilah, 1.4.1918. OSZK AIh Quart. Hung. 2456/127, S. 4. 129 Ebenda, S. 2. 130 Vgl. Elemér Gyárfás an Apáthy. Budapest, 28.4.1918. OSZK AIh Quart. Hung. 2456/230. 131 Elemér Gyárfás u. a. an Vorstand SV. Sankt Martin [Târnăveni, Dicsőszentmárton], 18.6.1918. OSZK AIh Quart. Hung. 2456/168. Das beigelegte Rundschreiben an die „führende Intelligenz“ im Komitat enthält Auszüge aus dem Programm des Verbandes: Elemér G y á r f á s u. a.: Felhívás [Aufruf]. Sankt Martin, 4.6.1918. OSZK AIh Quart. Hung. 2456/ad 168, S. 1. 132 L e n g y e l : Auf der Suche, S. 46–47. 128
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schaftlichen Interessen Siebenbürgens im Landesparlament Ungarns stärker zu vertreten133. Ähnliches trifft auch für die Empfehlung eines ins Budapester Kultusministerium entsandten Zeitungsredakteurs aus Desch (Dej, Dés) zu, für die gedeihliche Entfaltung des „siebenbürgischen Presselebens“ eine „zentrale [Budapester] Presseorganisation“ aus Redaktionsmitgliedern aller in Siebenbürgen erscheinenden „ungarischen und anderssprachigen patriotischen“ Blättern einzurichten134. Von den Sachforderungen des Siebenbürgischen Verbandes vermochte das Staatszentrum strenggenommen nur zwei zu erfüllen, eine davon auch nur ansatzweise. Kultus- und Unterrichtsminister Apponyi gab die Ausarbeitung des Plans einer Kulturzone für den mit Rumänien benachbarten Grenzstreifen in Auftrag, der die meisten rumänischen Konfessionsschulen mit staatlichen Lehranstalten ersetzen sollte; im Juni 1918 wurde dort 477 Pädagogen in 311 rumänischen kirchlichen Schulen die staatliche Förderung gestrichen135. Zum anderen unterband im Oktober 1917 eine Ministerialverordnung der letzten Regierung Altungarns unter Sándor Wekerle (1848–1921) aus der 1848er Verfassungspartei (1848-as Alkotmánypárt)136 entlang der östlich-südöstlichen Grenzen den freien Verkauf und Ankauf von Grundstücken sowie deren Verpachtung für länger als zehn Jahre und setzte gleichzeitig das Ankaufsvorrecht des Staates fest. Die entsprechende Ausführungs- und Kontrollfunktion erhielt ein Siebenbürgischer Ausschuss für Immobilienmarkt, der unter der Leitung von István Graf Bethlen die Ankäufe für den Staat einleitete und innerhalb eines Jahres die Genehmigung für eine anderweitige Veräußerung von rund 10.000 Katastraljoch verweigerte137.
133 Ödön Hirsch an Apáthy. Klausenburg, 20.9.1918. OSZK AIh Quart. Hung. 2457/205. Zum Spirituosenfabrikanten und Virilisten Hirsch siehe F e r e n c z i : Adatok, S. 23. 134 Lajos Rónai-Aross, Chefredakteur des „Dési Hírlap“, delegiert ins Budapester Kultusministerium, Entwurf eines Rundschreibens an Redaktionen und Verlage. Budapest, 3.3.1918. OSZK AIh Quart. Hung. 2456/210. 135 B á r d i : Otthon, S. 103. 136 B ö l ö n y : Magyarország, S. 475; G a l á n t a i : Hungary, S. 284–288; Géza v o n G e y r : Sándor Wekerle 1848–1921. Die politische Biographie eines ungarischen Staatsmannes der Donaumonarchie. München 1993. 137 B á r d i : Otthon, 103–104; R o m s i c s : Bethlen (1999), S. 97; R o m s i c s : Utószó, S. 438.
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Eine parallele Initiative im kultur- und gesellschaftspolitischen Bereich: die Wochenschrift „Új Erdély“ 1918 Die Traditionslinie des literarischen Dezentralisierungswunsches setzte sich während des Weltkrieges in siebenbürgisch-ungarischen Periodika mehr oder minder ungebrochen fort138. Nach den erwähnten „Erdélyi Lapok“ und „Kalotaszeg“, die 1912 und 1913 eingegangen waren139, folgte ihr ab 1913 das Wochen-, später Zweiwochenblatt „Szemle“ (Rundschau), das sich 1915 mit Hinweis auf seinen Erscheinungsort in „Kolozsvári Szemle“ (Klausenburger Rundschau), 1916 in „Erdélyi Szemle“ (Siebenbürgische Rundschau) umbenannte, jedoch erst ab Frühjahr 1919 regelmäßig auf den Markt kam. Zuvor mit der Budapester Zentralisierung kritisch befasst, stand die „Erdélyi Szemle“ in diesem fünften Jahrgang bereits vor der Herausforderung, dem ungarischen Literaturbetrieb in Großwardein (Oradea, Nagyvárad), Arad, Temeschwar (Timișoara, Temesvár), Neumarkt und Klausenburg den Selbstbehauptungswillen im Schatten des aufsteigenden neuen politischen Zentrums Bukarest einzuflößen – eine Unternehmung, deren ideen- und literaturgeschichtliche Bedeutung erst ab 1920 greifbar wird140. Vielsagend war dagegen schon vor der Unterzeichnung des ungarischen Friedensvertrages von Trianon am 4. Juni 1920141 die im ausgehenden Kriegsjahr letzte Klausenburger Zeitschriftengründung. Sie schuf für die junge Generation ein überparteiliches Diskussionsforum mit Vorlieben für kultur- und gesellschaftspolitische Problemstellungen bürgerlich-radikalen Zuschnitts. Die Wochenschrift „Új Erdély“ (Neues Siebenbürgen) erschien in der Redaktion des heimkehrenden Frontsoldaten und in der späteren Geschichte des Transsilvanismus einflussreichen Publizisten, Dichters und Sachbuchautors Jenő Szent138
Vgl. neuerdings auch B á r d i : Otthon, S. 96. L e n g y e l : Der regionale Gedanke. 140 László S[ütő] N a g y : Az irodalmi decentralizáció jelentősége [Die Bedeutung der literarischen Dezentralisierung]. In: Erdélyi Szemle 5 (1919), S. 234–245; László S[ütő] N a g y : Irodalmi aktivitást [Für literarische Aktivität]. In: Erdélyi Szemle 6 (1920), S. 378; Domokos G y a l l a y : Irodalmi szervezkedés [Literarische Organisierung]. In: Erdélyi Szemle 6 (1920), Nr. 26, S. 1 (27. Juni); Gyula W a l t e r : Erdély és az irodalom decentralizációja [Siebenbürgen und die Dezentralisierung der Literatur]. In: Erdélyi Szemle 4 (1918), S. 9–10; Gyula W a l t e r : Teendőink Erdély irodalmi megszervezése körül [Unsere Aufgaben für die Organisierung der Literatur in Siebenbürgen]. In: Erdélyi Szemle 6 (1920), S. 381–382. Vgl. L e n g y e l : Auf der Suche, S. 157–191; P o m o g á t s : A transzilvánizmus, S. 10–79. 141 Ignác R o m s i c s : Der Friedensvertrag von Trianon. Herne 2005 (Studien zur Geschichte Ungarns 6). 139
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imrei (1891–1959)142 von Januar bis Mai 1918. Zu ihren Autoren gehörten auch Dichter und Prosaisten, die im siebenbürgisch-ungarischen Kulturleben erst nach 1920 von sich reden machen werden143. Das Blatt widmete sich dem übergreifenden Thema der „Rekonstruktion Siebenbürgens“144. Die wichtigsten Teilaspekte dieses Ansinnens wählte es wie der Siebenbürgische Verband aus, mit dem es auch in den meisten Bewertungen übereinstimmte – sei es in der Betonung von industrie-, siedlungs- und eisenbahnpolitischen Vorstößen145 oder der unbedingten ungarischen Suprematie in der Region, wofür aber „nicht die Unterdrückung des anderen, sondern einzig und allein die Hebung und der Schutz unserer selbst“ angeraten sei. Charakteristisch war, wie sich der Autor als einer der ersten in der Artikelreihe über „Die Kultur Siebenbürgens“ dieses Vorhaben vorstellte: „Wir sollten bessere und mehr Kräfte bereitstellen. Lasst uns mehr wirtschaftliche Kräfte ansiedeln, zahlreichere Magyaren, bessere Schulen, bessere Kunst, bessere moralische Ordnung.“146 Die linksgerichtete weltanschauliche Offenheit der Redaktion zeigte sich u. a. im Abdruck einer unmittelbaren Kritik an dieser Auffassung, mit der sich die Erörterung der kulturellen Verhältnisse Siebenbürgens fortsetzte. Es war der Leitartikel der nächsten Nummer, die den Ausweg aus dem bestehenden Herrschaftssystem Ungarns im Zeichen des „europäischen Geistes“ suchte und damit an die vorrangige Pflicht erinnerte, soziale Ungleichheiten zu beseitigen147. Auch weitere Artikel stellten europäische und nationale Kultur als Gegensatzpaar dar148, worauf die umgehende Erwiderung am Beispiel der ungarischen Gesellschaft Siebenbürgens 142 Zsolt S z a b ó : Intézményteremtő törekvések Erdélyben a 20. század első felében: Szentimrei Jenő irodalomszervező tevékenysége [Bestrebungen in Siebenbürgen zur Schaffung von Institutionen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: die literaturorganisatorische Tätigkeit von Jenő Szentimrei]. Kolozsvár/Sztána 2006 (Sztánai füzetek 4). 143 Zur Zeitschrift bisher ausführlicher L e n g y e l : Auf der Suche, S. 54–57. Ihr Repertorium bei Huba M ó z e s : Az Új Erdély (repertórium). In: d e r s . : Sajtó, kritika, irodalom. Kísérlet [Presse, Kritik, Literatur. Ein Versuch]. Bukarest 1983, S. 29–37. Zur kulturellen Kontinuitätslinie über 1920 hinweg siehe L e n g y e l : Der regionale Gedanke. 144 Szerkesztői üzenetek [Redaktionelle Nachrichten]. In: Új Erdély 1 (1918), Nr. 4, S. 63–64, hier 64 (9. Februar). 145 Vilmos N e m é n y i : Néhány erdélyi gazdasági kérdésről [Zu einigen wirtschaftlichen Fragen in Siebenbürgen]. In: Új Erdély 1 (1918), Nr. 7, S. 109–112 (2. März). 146 Aladár B o d o r : Erdélyi kultúrák [Siebenbürgische Kulturen]. In: Új Erdély 1 (1918), Nr. 3, S. 34–35, hier 35 (2. Februar). 147 Sándor T u r n o w s k y : Kultúrák egysége [Die Einheit der Kulturen]. In: Új Erdély 1 (1918), Nr. 4, S. 49–50, hier 50 (9. Februar). 148 György K ö r ö s y : Nacionalizmus és demokrácia [Nationalismus und Demokratie]. In: Új Erdély 1 (1918), Nr. 5, S. 65–67 (16. Februar); Ervin Szabó: Egy levél [Ein Brief]. In: Új Erdély 1 (1918), Nr. 6, S. 81 (23. Februar).
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die Förderwürdigkeit der „nationalen Persönlichkeit“ hervorkehrte149. Ein Mittelweg schwebte jenem Autor vor, der über einen „gesunden Internationalismus“ bei „Aufrechterhaltung der nationalen Kulturen“ sinnierte150. Blenden wir das Ergebnis des vorigen Abschnitts dieser Abhandlung ein, wird deutlich, dass sich das „Új Erdély“ vom Siebenbürgischen Verband weltanschaulich weniger abgrenzte, als vielmehr Elemente des konservativen und progressiven Alttranssilvanismus vermischte. Anders als in der ersten umfassenden Untersuchung seines zugänglichen Inhalts vor über zwei Jahrzehnten gemeint151, erreichte diese Zeitschrift im Wesentlichen einen Gleichklang mit dem Verband im Bestreben, die Angelegenheiten Siebenbürgens in die Hände von Siebenbürgern zu legen. So gab es auch nationalbetonten Ansichten aus dem Lager der Unabhängigkeitspolitiker Raum, etwa jenen von István Apáthy, der im März 1918, der sich, als das vom Verband begrüßte siebenbürgische Regierungskommissariat seine Pforten öffnete, in der oben skizzierten Artikelreihe zu Wort meldete: Er formulierte die These von der ungarisch-deutsch-rumänisch geprägten Individualität Siebenbürgens. Angesichts der zunehmenden Gefahr einer neuerlichen rumänischen Invasion hegte er offenkundig die Absicht, die Sonderstellung der Siebenbürger Rumänen innerhalb ihrer Nation hervorzukehren, um die Argumentation für eine politische Vereinigung von Rumänen diesseits und jenseits der Karpaten zumindest abzuschwächen152. Es war ein untrügliches Zeichen seiner beispiellosen Eigenwilligkeit, dass „Új Erdély“ den mehrteiligen Gedankenaustausch über die siebenbürgische Kultur ausgerechnet mit dem Beitrag eines siebenbürgisch-rumänischen Publizisten eröffnete. Emil Isac (1886–1954), der 149 Aladár B o d o r : Szabó Ervin leveléhez [Zum Brief von Ervin Szabó]. In: Új Erdély 1 (1918), Nr. 7, S. 97–98, hier 98 (2. März). 150 Glosszák az „Új Erdély“ programjához (Az „új“ Erdély) [Glossen zum Programm des „Új Erdély“ (Das „neue“ Siebenbürgen)]. In: Új Erdély 1 (1918), Nr. 12, S. 177–179, hier 177 (6. April). 151 L e n g y e l : Auf der Suche, S. 56. 152 István A p á t h y : Erdélyi közműveltség [Siebenbürgische Gemeinbildung]. In: Új Erdély 1 (1918), Nr. 8, S. 113–115 (9. März). Leider liegt das „Új Erdély“ als bibliothekarische Rarität wohl in keiner öffentlichen oder Privatsammlung lückenlos vor. Die Zusammenfassung des Apáthy-Artikels bei E g r y : Regionalizmus, S. 16. Apáthy kam im unvollendeten Jahrgang noch einmal in hervorgehobener Stellung vor, vgl. Vilmos K ö r ö s y : A nők választójogának hatása a faj egészségére [Die Wirkung des Frauenwahlrechts auf die Volksgesundheit]. In: Új Erdély 1 (1918), Nr. 11, S. 165–167 (30. März) behandelte einen zu diesem Thema gehaltenen Vortrag des Geschäftsführers des Siebenbürgischen Verbandes (Hinweis bei M ó z e s : Sajtó, S. 34).
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seinerseits erst nach der Gründung Großrumäniens in eine öffentliche Rolle hineinwachsen wird153, schob die Schuld an den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und nationalen Konflikten in der Region „den großen, alten Herrschaften“ zu und fügte in der Tradition der rumänischen Autonomiebestrebungen zweideutig hinzu, dass Siebenbürgen den Ausweg schon selbst finden werde, „weil es für sich bleibe“ und „ein Land sein werde, wie die übrigen“ Länder154. Redakteur Szentimrei pflichtete dem zumindest in Bezug auf die Eigenartigkeit des politischen und kulturellen Raumes bei, als er im März 1918 in einer Zwischenbilanz der Diskussionsreihe folgende Meinung riskierte: „Siebenbürgen war nicht, sondern wird sein“. Allerdings sei noch „die gründliche Revision der alten Ordnung notwendig“, um den Weg einzuschlagen, „auf dem der arbeitende Magyare den arbeitenden Nationalitäten begegnen“ könne155. Die Akteure der Dezentralisierungsbewegung trugen in „Új Erdély“ Entwürfe eines grob nachvollziehbaren Zukunftsbildes vor. In 229 Beiträgen, die insgesamt 288 Druckseiten ausfüllten156, vermischten sich die Ablehnung der seit der Jahrtausendwende vielfach nationalistischen Tonlage in der ungarischen Öffentlichkeit, der Glaube an die Vielfarbigkeit der siebenbürgischen Kultur, die Unzufriedenheit über die vorherrschenden Herrschaftsstrukturen und die Vernachlässigung Siebenbürgens durch die Budapester Wirtschaftspolitik sowie, bei alledem, die mehr oder minder offene Beharrung auf der ungarischen Führungsrolle in der allgemeinen und speziellen Modernisierung des Gemeinwesens zu einer einzigen Sammlung von Argumenten für eine perspektivische Verselbständigung der Region innerhalb des ungarischen Staates, die durch die Ableitung von Machtbefugnissen aus dem Budapester Zentrum ausgelöst worden wäre. Das Stichwort „Siebenbürgertum“157 kehrte sinngemäß mehrfach wieder und vermittelte das Zukunftsbild der Lockerung von Abhängigkeiten, das insbesondere „kleinen Staaten“ zukomme, darin die Option auf eine Institution, die „Siebenbürgens Interessenvertretung in der sich 153 Ion B r a d : Emil Isac. Un tribun al ideilor noi [Emil Isac. Ein Wortführer der neuen Ideen]. Cluj 1972. 154 Emil I s a c : Az erdélyi kultúra [Die siebenbürgische Kultur]. In: Új Erdély 1 (1918), Nr. 3, S. 33–34, hier 34 (2. Februar). Neuausgabe des Artikels in: Emil Isac és a magyar irodalom [Emil Isac und die ungarische Literatur]. Hg. Huba M ó z e s . Bukarest 1986, S. 18–19. 155 Jenő S z e n t i m r e i : Az elfogultság ellen [Gegen die Voreingenommenheit]. In: Új Erdély 1 (1918), Nr. 10, S. 145–148, hier 148 (23. März). 156 M ó z e s : Sajtó, S. 37. Analyse weiterer Beiträge L e n g y e l : Auf der Suche, S. 54–57. 157 (kg.): Glosszák, S. 178.
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hierher abzweigenden Regierung des Mutterstaates wahrnimmt“158. „Új Erdély“ legte der ungarischen Regierung im April 1918 eine innerstaatliche Kompetenzaufteilung nahe, dies im Namen des „geistig unabhängigen Landesteils, dessen sämtlichen Begabungen und Erträge den Stempel des neuen Siebenbürgen tragen“ sollten159. Hinter der im gleichen Heft verkündeten Losung „Siebenbürgen für Siebenbürgen“ stand die Erwartung, dass die Städte und das Bürgertum sowie der Beamtenstand, der „eine unter gesteigerter staatlicher Aufsicht stehende Finanzpolitik“ betreibe, den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Neuaufbau „für das Ungartum und die Größe des zukünftigen Siebenbürgen“ anführen würden160. Gesellen wir im vorliegenden Untersuchungsbild den Siebenbürgischen Verband hinzu, ist es durchaus berechtigt, den siebenbürgischen „Abspaltungsvorgang“ innerhalb der ungarischen politischen und kulturellen Elite nicht erst nach Weltkriegsende beginnen zu lassen161 – allerdings unter gleichzeitiger Betonung des Umstandes, dass seine Wortführer während und gegen Ende des Weltkrieges nicht das Gefüge des Staates aufbrechen, sondern jenes der Beziehungen zwischen dessen Zentrum und der Region neu ordnen wollten162. Insofern wurde kürzlich mit gutem Grund darauf hingewiesen, dass in den beiden grundlegenden Beziehungssystemen des Siebenbürgischen Verbandes, nämlich jenem gegenüber dem ungarischen Staat und der rumänischen Nationalität in Siebenbürgen, bis 1918 jeweils eine „Vergrößerung des Abstandes“ zu beobachten sei163. Es ist aber ebenso richtig hervorzuheben, dass der Verband die Regelung der mannigfaltigen Probleme Siebenbürgens ursprünglich durch bloße regierungsamtliche Eingriffe des Staates vorgeschlagen habe164. Der Wunsch nach maßgeblicher Mitsprache von Siebenbürgern bei der Planung und Durchführung solcher interventionistischen Maßnahmen, gar nach Gründung eines entsprechenden Kommissariats, war in dem 158
Ebenda, S. 178–179. Új Erdély 1 (1918), Nr. 13 (13. April): programmatisches Stichwort auf der Innenumschlagseite. 160 Károly M ó z e s : Az erdélyi városok jövője [Die Zukunft der siebenbürgischen Städte]. In: Új Erdély 1 (1918), Nr. 13, S. 193–196, hier 194–195 (13. April). 161 Wie von B á r d i : Otthon, S. 22, vorgeschlagen. 162 L e n g y e l : Auf der Suche, S. 47–61; d e r s . : A meghiúsult kompromisszum. A transzszilvanizmus eredete és alakjai az 1920-as években [Der misslungene Kompromiss. Ursprünge und Gestalten des Transsilvanismus in den 1920er Jahren]. In: d e r s . : A kompromisszum keresése, S. 217–263, hier 220–222. 163 E g r y : Regionalizmus, S. 30. 164 B á r d i : Otthon, S. 95. 159
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1914er Programm des Siebenbürgischen Verbandes nicht enthalten165; er tauchte in seinen Akten, wie der vorige Abschnitt ausführt, erst ab Frühjahr 1917 auf.
Konzeptioneller und institutioneller Abgesang auf die ungarische Staatsmacht in Siebenbürgen 1918/19: Der Plan einer „Östlichen Schweiz“ und das Ostungarische Oberregierungskommissariat Zukunftspläne von regierungsnahen oder gemäßigten wie radikalen oppositionellen Kräften in der ungarischen Innenpolitik gingen in der letzten Phase des Weltkrieges auch im Falle einer Loslösung des Stephansreiches von der Habsburgermonarchie ausnahmslos vom Fortbestand Großungarns aus. Seit dem entsprechenden Vorstoß der Sozialdemokratischen Partei Ungarns (Magyarországi Szociáldemokrata Párt) bei der Konferenz der sozialistischen Parteien der kriegführenden Länder im Mai 1917 galt für die ungarische Politik die Gewährung von Selbstverwaltungsrechten kultureller Reichweite als zumindest hinnehmbares Mittel zur friedlichen Regelung des Nationalitätenproblems166. Allgemeine Verweisgrundlage wurden dafür die am 8. Januar 1918 verkündeten 14 Punkte des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson (1856–1924), vor allem die Sätze des schon in der Stunde seiner Abfassung umstrittenen 10. Punktes zur föderalen Umgestaltung der Habsburgermonarchie und zur Gewährung von „freest opportunity of autonomous development“ für alle von deren Völkerschaften167. An diese lehnte sich Oszkár Jászi an, als er im Frühjahr 1918 für Siebenbürgen den Sprachgrenzen angepasste kantonale Autonomien entwarf und auf der übergeordneten Ebene des Gesamtreiches die Perspektive der „Vereinigten Donaustaaten“, des Staatenbundes Österreichs, Ungarns, Polens, Böhmens und des südslawischen (kroatischserbischen) Illyriens eröffnete; eine innere Föderalisierung Ungarns lehnte er nicht grundsätzlich ab, beurteilte aber ihre geographischen, wirtschaftlichen, rechtlichen und geistigen Voraussetzungen eher 165 Vgl. ESz. E g r y : Regionalizmus, S. 13, sieht im Gründungsjahr 1914 einen zu frühen Beginn des Einsatzes für einen gegenüber Budapest „deutlich weniger untergeordneten“ Status Siebenbürgens. 166 János K e n d e : A Magyarországi Szociáldemokrata Párt nemzetiségi politikája [Die Nationalitätenpolitik der Ungarnländischen Sozialdemokratischen Partei] 1903–1919. Budapest 1973 (Értekezések a történeti tudományok köréből 68), S. 86–89; V e r m e s : Tisza, S. 441–442. 167 Hier zitiert nach L e n g y e l : Auf der Suche, S. 63. Vgl. R a u c h e n s t e i n e r : The First World War, S. 866–868.
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kritisch168. Auf ein konföderatives Lösungsmuster kamen laut Bericht des englischen Gesandten in Bern vom 11. Februar 1918 auch die Unterhändler Präsident Wilsons und Kaiser Karls am Rande des Hinweises zu sprechen, wonach der Monarch die Bildung einer Donauföderation aus sieben autonomen Staaten, mit österreichisch-deutscher, ungarischer, tschechoslowakischer, polnisch-galizischer, jugoslawischer, siebenbürgischer und italienischer Beteiligung erwäge. Nachdem Präsident Wilson in einer Rede vom gleichen Tag seinen Friedensplan im Sinne einer Beibehaltung des ostmitteleuropäischen Vielvölkergebildes nachdrücklich bestätigt hatte, erstellten seine Berater bis zum 25. Mai 1918 den Plan „Austria-Hungary Federalized within Existing Boundaries“, in dem sie Ungarn, Österreich, Jugo-Slawien, Böhmen, Polen-Ukraine und Siebenbürgen als Teilstaaten des erneuerten alten Reiches anführten169. Jászi brachte sein Werk „Die Zukunft der Monarchie. Der Zusammenbruch des Dualismus und die Vereinigten Donaustaaten“ im Frühjahr 1918 zu Papier, publizierte es aber erst im Oktober des gleichen Jahres, noch bevor er in die Károlyi-Regierung eintrat170. Etwa zeitgleich, am 4. Oktober 1918 baten die Mittelmächte durch den österreichisch-ungarischen Außenminister István Graf Burián (1852–1922) die Vereinigten Staaten von Amerika um Waffenstillstand und die Zugrundelegung der 14 Punkte bei den anstehenden Friedens168 Oszkár J á s z i : A Monarchia jövője. A dualizmus bukása és a Dunai Egyesült Államok [Die Zukunft der Monarchie. Der Zusammenbruch des Dualismus und die Vereinigten Donaustaaten]. Budapest 1918, S. 37–39, 52, 59–71, 111 [Nachdruck: Budapest 1988]. Zweite ungarische Ausgabe mit unverändertem Inhalt, aber den Zeitläufen angepasstem Titel: Magyarország jövője és a Dunai Egyesült Államok [Die Zukunft Ungarns und die Vereinigten Donaustaaten]. Budapest 1918. Deutschsprachige Ausgabe siehe d e r s . : Der Zusammenbruch des Dualismus und die Zukunft der Donaustaaten. Wien 1918. Die Forschungsfrage, ab wann und wie eindeutig Jászi auf das Postulat der Föderalisierung Ungarns eingeschwenkt sei (vgl. László S z a r k a : A helvét modell alternatívája és kudarca 1918 őszén. Adatok, szempontok a Károlyi-kormány nemzetiségi politikájának történetéhez [Alternative und Scheitern des helvetischen Modells im Herbst 1918. Daten und Aspekte zur Geschichte der Nationalitätenpolitik der KárolyiRegierung]. In: Kisebbségkutatás 17 (2008), S. 233–247, hier 236–237), kann an dieser Stelle nicht eingehend erörtert werden. 169 L e n g y e l : Auf der Suche, S. 63–65. 170 Das Vorwort der zweiten Auflage ist – wie jenes der ersten – vom Oktober 1918 datiert. Die zweite Auflage erschien im Oktober, nachdem die erste umgehend vergriffen war, wie der Autor eingangs bemerkte, siehe Oszkár J á s z i : Előszó a második kiadáshoz [Vorwort zur zweiten Auflage]. In: d e r s .: Magyarország jövője, S. 2. Zur Entstehungsgeschichte des Werkes József G a l á n t a i : Egy különös könyv reprint kiadásához [Zur Reprint-Ausgabe eines sonderbaren Buches]. In: J á s z i : A Monarchia jövője [1988], S. 121–133.
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verhandlungen171. Am 13. Oktober 1918 leitete der außerordentliche Kongress der ungarischen Sozialdemokraten aus dem Programm des amerikanischen Präsidenten ein Selbstbestimmungsrecht ab, das die nichtungarischen Bevölkerungsgruppen innerhalb des ungeteilten Ungarn als politisches (nicht auch als nationales) Freiheitsrecht ausüben sollten172. Diese von den Gewerkschaften mitgetragene Auslegung erhielt vom Wiener Hof wohl unverhoffte Unterstützung, nachdem bekannt geworden war, dass das Völkermanifest Kaiser Karls IV. vom 16. Oktober 1918 die bundesstaatliche Umgestaltung der Habsburgermonarchie mit der Aufrechterhaltung der Integrität der „Länder der heiligen ungarischen Krone“ verknüpfte und „jedem nationalen Einzelstaate seine Selbständigkeit“ beizubehalten versprach173. Allerdings ließ Wilson am 18. Oktober 1918 auf die Burián-Note hin Wien und Budapest schriftlich mitteilen, dass der 10. Punkt seines Friedensplans vom Januar wegen der zwischenzeitlich anerkannten Berechtigung der tschechoslowakischen und jugoslawischen Bestrebungen auf Staatsbildung nicht mehr gültig sei174. Mit dieser militärisch und diplomatisch herbeigeführten und abgestützten Kehrtwende amerikanischer Südosteuropapolitik entzog Washington den habsburgischen und ungarischen Föderalisierungsplänen seine Unterstützung und erklärte Anfang November 1918 im Hinblick auf den rumänisch-ungarischen Konflikt um Siebenbürgen öffentlich, dass die „Regierung der Vereinigten Staaten nicht versäumen“ werde, „zu geeigneter Zeit ihren Einfluß geltend zu machen, daß die berechtigten politischen und territorialen Rechte des rumänischen Volkes gegen jeden Angriff vom Auslande gesichert werden“175. Vor dieser Rücknahme des 10. Wilsonschen Punktes erklärte der in der Nacht vom 23. auf den 24. Oktober 1918 aus Mitgliedern der Unabhängigkeits-, der Sozialdemokratischen und der BürgerlichRadikalen Partei gebildete Ungarische Nationalrat in Budapest in seinem von Jászi formulierten 12-Punkte-Plan vom 26. Oktober 1918 mit ausdrücklichem Verweis auf Wilsons Programm, dass innerhalb des von Habsburg losgelösten, aber in seiner territorialen Integrität unver171
G a l á n t a i : Hungary, S. 313. K e n d e : A Magyarországi Szociáldemokrata Párt, S. 98–121. 173 Die endgültige Fassung abgedruckt in Helmut R u m p l e r : Das Völkermanifest Kaiser Karls vom 16. Oktober 1918. Letzter Versuch zur Rettung der Habsburgermonarchie. Wien 1966 (Österreich-Archiv. Schriftenreihe des Instituts für Österreichkunde), S. 88–91, hier 90. 174 Wortlaut zitiert von G a l á n t a i : Hungary, S. 314–315. 175 Zitiert nach: Wilson für die politischen und territorialen Rechte der Rumänen. In: Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt 45. Jg., Nr. 13702 v. 9.11.1918, S. 1. 172
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änderten Ungarn „die kulturelle und administrative Selbstverwaltung der Nationalitäten weitestgehend auszubauen“ sei und rief „alle Völker des Landes“ dazu auf, „in der alten Schicksalsgemeinschaft“ zu verbleiben176. Károlyi hatte bereits am 8. September 1918 die Wilsonschen Punkte als annehmbares „Friedensprogramm“ in einem offenen Brief an sein Wahlvolk angeführt177 und beteuerte Mitte November bereits als amtierender Regierungschef (auch in einem französischsprachigen Schreiben an Wilson selbst), dass die neue demokratische Führung Ungarns ihre Politik an den 14 Punkten ausrichten werde178. Károlyi blieb nach seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten am 31. Oktober 1918, ab dem 16. November als Regierungschef der vom Nationalrat ausgerufenen Volksrepublik Ungarn und ab 11. Januar 1919 in seiner Eigenschaft als provisorischer Staatspräsident bis zu seinem Sturz am 21. März 1919 dem demokratischen Integritätsgedanken treu179. In der Unabhängigkeitspartei vertrat Apáthy gegen Weltkriegsende einen nationalpolitisch radikaleren, systempolitisch aber liberaleren Standpunkt. Mitte Oktober drängte er in einem Brief Károlyi dazu, nur die Realunion mit Habsburg aufzulösen und eine „reine Personalunion“ einzurichten180. Er stellte sich Ungarn (wie die meisten Klausenburger Vertreter der Unabhängigkeitspartei) weiterhin als Königreich vor. Die Abdankung des Königs nahm er zur Kenntnis, hielt aber am Recht der königlichen Ernennung der Regierung fest, um die Rechtskontinuität der ungarischen Staatlichkeit zu wahren181. Aus der Bedrohungslage folgerte er wie eh und je, dass in den parteipolitischen Kämpfen in allererster Linie das nationale Ziel des staatlichen Zusammenhalts verfolgt werden müsse. Aus diesem Grund befürwortete er Ende Oktober 1918 die Bildung einer Mehrparteienregierung, die in 176 Zitiert vom Präsidenten des Nationalrats, Mihály K á r o l y i : Egy egész világ ellen [Gegen eine ganze Welt]. Budapest 1965, S. 352–354, hier 353. Hinweis auf zeitgenössischen Abdruck bei Peter H a s l i n g e r : Arad, November 1918. Oszkár Jászi und die Rumänen in Ungarn 1900 bis 1918. Wien [u. a.] 1993 (Zur Kunde Südosteuropas II/19), S. 114. 177 Offener Brief aus der Zeitung „Magyarország“, abgedruckt in K á r o l y i : Egy egész világ ellen, 422. 178 Károlyi an Wilson. Budapest, 14.11.1918. In: Károlyi Mihály levelezése, S. 267–269. 179 Vgl. z. B. aus der letzten Phase Mihály K á r o l y i : Az ország integritásának védelméről. Beszéd a székely katonákhoz Szatmáron. 1919. március 2 [Über den Schutz der Integrität des Staates. Rede an die Szekler Soldaten in Sathmar]. In: d e r s . : Az új Magyarországért. Válogatott írások és beszédek 1908–1919. Hg. György L i t v á n . Budapest 1968, S. 292–294. Vgl. H a j d u : Károlyi, S. 249–340; V e r m e s : Tisza, S. 481–485. 180 Apáthy an Károlyi. Klausenburg, 14.10.1918. In: Károlyi Mihály levelezése, S. 243– 247, hier 244. Handschriftliche Fassung des Briefes: OSZK AIh Quart. Hung. 2455/III. 181 A p á t h y : Erdély, S. 148, 151, 153, 161–162.
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der Lage sei, im Rahmen und Namen einer österreichisch-ungarischen Personalunion den bewaffneten Kampf gegen den einströmenden Feind aufzunehmen182. Der schon zitierte Brief an Károlyi war wohl die letzte schriftliche Äußerung Apáthys als geschäftsführender Vorsitzender des Siebenbürgischen Verbandes. Für Ende September 1918 plante er eine Sitzung in Klausenburg, die auch Überlegungen zur Konditionierung des Friedensschlusses mit Rumänien anstellen sollte, doch fiel sie wegen des Zusammenbruchs der Balkan-Front aus183 (Anfang Oktober muss sie laut einer örtlichen Pressemeldung nachgeholt worden sein). Dabei gestand die Verbandsleitung, die wohl zum letzten Mal zusammentrat, den Rumänen in Siebenbürgen allenfalls eine kirchliche, kulturelle, wirtschaftliche und administrative Selbstverwaltung zu184, und auf dieses größtmögliche Zugeständnis schwor Apáthy am 14. Oktober 1918 schriftlich den angehenden Ministerpräsidenten Károlyi im Namen der Verbandsführung ein. Mit seiner letzten Amtshandlung lehnte er die „Herausbildung von Nationalitätengebieten“, eine „Aufteilung Ungarns auf autonome Gebiete“, mithin eine Föderalisierung Ungarns zu einem Staatenbund ab, war aber bereit, neben der Gewährung weitreichender Selbstverwaltungsrechte an die Nationalitäten auch über deren Einbeziehung in die Regierungsarbeit als „eventuelles Maximum“ zu verhandeln, ihnen also jeweils einen „eigenen Minister“ zuzugestehen, sofern sie mehr als 10 Prozent der Landesbevölkerung ausmachten. Für unannehmbar hielt er jedoch die Gebietsautonomie des gesamten Siebenbürgen, da er nach wie vor fest annahm, dass sie als erste Stufe für die Abspaltung der Region missbraucht werde185. All dies erhellt, dass Apáthy in diesen Tagen in der – für die ungarische politische Elite über weltanschauliche Grenzen hinweg so charakteristische, von Jászi begründeten186 – Vorstellung gefangen war, dass eine Demokratisierung die Nationalitäten zum Verbleib im Königreich Ungarn ermuntern könnte. Im Oktober 1918 gab auch István Tisza seinen Einsatz für den Fortbestand der Doppelmonarchie auf. Er hielt den Dualismus für nicht 182
Ebenda, S. 151–153. B á r d i : Otthon, S. 104; E g r y : Regionalizmus, S. 19–23; G a l á n t a i : Hungary, S. 311–315. 184 Az Erdélyi Szövetség munkaterve [Der Arbeitsplan des Siebenbürgischen Verbandes]. In: Erdélyi Szemle 4 (1918), S. 45. 185 Apáthy an Károlyi. Klausenburg, 14.10.1918. In: Károlyi Mihály levelezése, S. 243–247, hier 244–246. 186 J á s z i : A nemzeti államok kialakulása, S. 494; d e r s . : A Monarchia jövője, S. 59–71. Vgl. V e r m e s : Tisza, S. 441–442. 183
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mehr rettbar und lehnte folglich den Föderalisierungsplan Karls IV. ab, behielt aber die Wilsonschen 14 Punkte als oberste Richtschnur im Auge, die er nunmehr für die territoriale Integrität Ungarns auslegte. Sein innenpolitisches Hauptziel war die Bildung einer koalitionären Mehrparteienregierung, während er außenpolitisch bestrebt war, gegenüber den Siegermächten den ungarischen Standpunkt bezüglich des Nationalitätenproblems, der demokratischen Umgestaltung und des verbliebenen Kriegszieles Ungarns, der Selbstverteidigung, zu vermitteln; der Ausweitung des Wahlrechts verweigerte er weiterhin seine Zustimmung187. Demgegenüber versuchte das linke Lager mit der ansprechenden Behandlung des Wahlrechtsproblems eine günstige Beurteilung durch die Siegermächte zu erreichen. Die Entente erwartete aber von Ungarn nicht die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, sondern eine breite Legitimierung der Regierungsarbeit, die Károlyi schuldig blieb, da er nicht durch Wahl, sondern durch Revolution an die Macht gekommen war. Jedenfalls nahmen Károlyi und Tisza den verhängnisvollen Ernst der nationalitätenpolitischen Lage gleichermaßen nicht in notwendigem Maße wahr. Der Unterschied zwischen ihrer Politik gegenüber der Entente hätte an einem Punkt aber nicht größer sein können: Károlyi unterband den bewaffneten Widerstand gegen die vom Südosten und Osten her vordringenden feindlichen Truppen, zu dem Tisza ihn in einer seiner letzten Reden im Parlament aufrief188. Nachdem Tisza am 31. Oktober 1918 einem Attentat zum Opfer gefallen war189, hatte die Überlegung, die Unversehrtheit Ungarns notfalls mit Waffen zu verteidigen, nur mehr einen bedeutenden Verfechter – Apáthy, der sich im Umfeld der linken Koalitionsregierung immer mehr von Károlyi entfernte. Er hielt ihm vor, sich durch die Abrüstung der Möglichkeit einer angemessenen Reaktion auf die fortlaufende Verletzung der Waffenstillstandsvereinbarung von Belgrad zu berauben190. Bethlen, der in der Führung des Siebenbürgischen Verbandes eine im Vergleich zu Apáthy radikalere Haltung eingenommen hatte, zog sich in diesen Herbstwochen des Jahres 1918 aus der vordersten Reihe der Tagespolitik einstweilen zurück und ging auf die Befürworter
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V e r m e s : Tisza, S. 433–486. Zoltán M a r u z s a : Tisza István külpolitikai koncepciója az első világháború éveiben [Die außenpolitische Konzeption von István Tisza in den Jahren des Ersten Weltkriegs]. In: Tisza István és emlékezete, S. 217–250; P ö l ö s k e i : A magyar parlamentarizmus, S. 203. 189 Ernő R a f f a y : Tisza István meggyilkoltatása [Der Auftragsmord an István Tisza]. In: Tisza István és emlékezete, S. 251–260; V e r m e s : Tisza, S. 484–486. 190 A p á t h y : Erdély, S. 160–161. 188
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von Jászis Konzeption einer kantonalen Umgestaltung Ungarns zu191. Bei einer politischen Kundgebung im Februar 1919 rief er zur Einsicht auf, dass die „in der Vergangenheit verfolgte Nationalpolitik in der gleichen Form unter den gewandelten Umständen nicht zu verfolgen“ sei, wiewohl zugleich eingeräumt werden müsse, dass „ein Staat ohne Nationalgefühl nicht aufrechterhalten werden kann“192. Die volksrepublikanische Regierung bestückte das im zitierten Schreiben Apáthys an Károlyi beschlussartig vorgelegte letzte Maximum des Siebenbürgischen Verbandes mit dem Zusatzangebot, in einem kantonisierten Ungarn die Verwaltung der rumänischen Mehrheitsgebiete Siebenbürgens bis zur endgültigen Entscheidung der Friedenskonferenz in den Kompetenzbereich des Zentralen Rumänischen Nationalrates zu überführen. Oszkár Jászi, der von Anfang November 1918 bis Mitte Januar 1919 den ebenso umständlichen wie aussagekräftigen Titel eines „mit der Vorbereitung des Selbstbestimmungsrechts für die in Ungarn lebenden Nationen beauftragter Minister ohne Geschäftsbereich“ trug193, stellte diesen zeitgleich in der Budapester Presse veröffentlichten Plan einer provisorischen Lösung unmittelbar vor den entscheidenden Verhandlungen in Arad am 13. und 14. November 1918 mit den Vertretern des rumänischen Nationalrates zusammen. Kurz zuvor hatten aus dem Führungszirkel des ehemaligen Siebenbürgischen Verbandes Graf Bethlen und Apáthy bei einer persönlichen Unterredung mit dem Ministerpräsidenten und dem Nationalitätenminister in Budapest dieser letztlich einheitsstaatlichen Lösungsoption zugestimmt194. Die Forschung hat bislang, soweit feststellbar, von den zahlreichen Empfehlungen und Gutachten, die dem nationalitätenpolitischen Ressortleiter in jenen Tagen zugingen195, eine bestimmte Eingabe übersehen. Eine vom ehemaligen ungarischen Innenminister, Mitvorsitzenden des Siebenbürgischen Verbandes und Regierungskommissars für Siebenbürgen, Gábor Ugron, angeführte ungarische Gruppierung aus Siebenbürgen bat Jászi bei einem persönlichen Treffen im November 1918, in dem „vornhinein für ausgeschlossen gehaltenen Fall“ einer Aufhebung der „territorialen Integrität des ungarischen Staates“ für „das Selbstbestimmungsrecht und die freie Entfaltung der ungari191
R o m s i c s : Utószó, S. 439; R o m s i c s : Bethlen (1991), S. 102–108. István B e t h l e n : A Nemzeti Egyesülés Pártja alakulásának szükségességéről [Über die Notwendigkeit der Gründung der Partei der Nationalen Vereinigung. 1919]. In: B e t h l e n : Válogatott politikai írások, S. 112–115, hier 114. 193 B ö l ö n y : Magyarország, S. 352. 194 L e n g y e l : Auf der Suche, S. 88–89. 195 Vgl. S z a r k a : A helvét modell, S. 244. 192
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schen Nation in allen jenen Gebieten“ einzutreten, „wo sie [die ungarische Nation] mit der rumänischen Brudernation zusammen lebt, aufgrund der Wilsonschen Prinzipien, im Rahmen von kantonalen Strukturen“196. Eine derart oder ähnlich weitgehende Verringerung des ungarischen Machtanspruchs ist in diesem Zeitraum nur noch für das sozialdemokratische wissenschaftlich dokumentiert197. Jászi hielt an der Gebietseinheit Ungarns fest. Sein neuer Vorschlag war aber gegenüber den Nationalitäten großzügiger als sein donaustaatlicher Föderalisierungsplan vom Frühjahr 1918. Bei den Verhandlungen in Arad, denen Bethlen und Apáthy beiwohnten, wurde er trotzdem zurückgewiesen. Er unterbot die rumänischen Erwartungen, weil er bei allen neuen beziehungsweise zusätzlichen Bewegungsräumen die rumänische Anerkennung der ungarischen Staatshoheit in Siebenbürgen einforderte198. Die ablehnende Haltung der Gegenseite, die schon am ersten Verhandlungstag offenkundig geworden war, veranlasste Jászi, am folgenden Tag mit einem letzten 12-Punkte-Angebot den Grad der Zugeständnisse zu erhöhen. Siebenbürgens Umgestaltung zu einem eigenen Staat lehnte er jetzt unverändert ebenso ab wie dessen Anschluss an das Königreich Rumänien199. Doch für Distrikte und Städte mit rumänischer Bevölkerungsmehrheit willigte er nicht mehr nur in die rumänische Verwaltungshoheit ein. Zum besonderen Nachdruck kündigte er auf der Wellenlänge des oben zitierten Rates Apáthys an Károlyi an, Bevollmächtigte dieser rumänischen regiona196 Undatierter Bericht über den Besuch einer „szeklerischen Abordnung bei Minister Jászi“: A székelyek küldöttsége Jászi miniszternél [Budapest, November 1918]. MNL OL NM K 40, 1918-XVIII-308, S. 1. 197 K e n d e : A Magyarországi Szociáldemokrata Párt, S. 99–100. 198 H a s l i n g e r : Arad, S. 122–135; L e n g y e l : Auf der Suche, S. 89–90; R a f f a y : Erdély, S. 76–114; S z a r k a : A helvét modell, S. 238–242; László S z a r k a : Keleti Svájc – illúzió vagy utópia? A Károlyi-kormány Nemzetiségi Minisztériumának működése. [Anhang:] A Jászi-féle Nemzetiségi Minisztérium „Keleti Svájc“-tervezetének fennmaradt vázlata [Östliche Schweiz – Illusion oder Utopie? Die Tätigkeit des Nationalitätenministeriums der Károlyi-Regierung. Die überlieferte „Östliche Schweiz“-Skizze des Nationalitätenministeriums von Jászi]. In: d e r s . : Duna-táji dilemmák. Nemzeti kisebbségek – kisebbségi politika a 20. századi Kelet-Közép-Európában. Budapest 1998 (Láthatár), S. 113–125, 281–284, 344–348. Deutschsprachige Übersicht bei László S z a r k a : Nationale Regionen in Ungarn und die Kantons- und Autonomiepläne von Oszkár Jászi im Winter 1918–1919. In: Region und Umbruch 1918. Zur Geschichte alternativer Ordnungsversuche. Hgg. Harald H e p p n e r , Eduard S t a u d i n g e r . Frankfurt/M. u. a. 2001, S. 97–108. Edition einschlägiger archivalischer und Pressequellen zu den Arader Verhandlungen in László S z a r k a : Iratok az 1918. novemberi aradi magyar-román tárgyalások történetéhez [Akten zur Geschichte der ungarisch-rumänischen Verhandlungen in Arad im November 1918]. In: Regio 5 (1994), Nr. 3, S. 140–166. 199 S z a r k a : A helvét modell, S. 241.
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len Regierungsdistrikte in die Budapester Regierung aufnehmen zu wollen, wo sie die auswärtigen, wirtschaftlichen, finanziellen sowie ernährungs- und verkehrstechnischen Angelegenheiten der rumänischen Regierungsdistrikte regeln sollten, wobei neue Gesetze in ihrem Zuständigkeitsbereich nur mit ihrer Zustimmung hätten erlassen werden können200. Jászi muss spätestens an diesem Tag gemerkt haben, dass die rumänische Seite mit dem militärischen Eingreifen Altrumäniens rechnete, und fügte deshalb in sein erneuertes, ebenfalls als Provisorium vorgelegtes Angebot vom 14. November die Bedingung ein, dass die rumänische Regionalverwaltung „das rumänische Militär des rumänischen Königreiches unter keinen Umständen in Anspruch nimmt“201. Zeitgleich mit den Arader Verhandlungen am 13. November wurde mit der Unterzeichnung des französisch-ungarischen Waffenstillstandsabkommens in Belgrad das Vorrücken fremder Truppen auf ungarischem Staatsgebiet vereinbart – allerdings nur bis zur festgelegten Demarkationslinie von Bistritz (Bistrița, Beszterce) nach Neumarkt, dann entlang des Flusses Mieresch (Mureș, Maros) weiter über Diemrich (Deva, Déva) nach Arad und Szeged202. Am 30. November 1918 gingen die Budapester Verhandlungen Jászis mit Vertretern des Slowakischen Nationalrats nach einem Drehbuch, das inhaltlich jenem von Arad ähnelte, also für die ungarische Seite vollends ergebnislos zu Ende203. Dennoch verfolgte Budapest den Plan einer Kantonisierung Ungarns weiter. Als öffentliche Antwort auf das Manifest der rumänischen Eigenstaatlichkeit vom 6. November 1918 und das Ultimatum, 200 11-Punkte-Angebot Jászis vom zweiten Verhandlungstag: S z a r k a : Iratok, S. 163– 164. Vgl. Apáthys Schreiben an Károlyi hier bei Anm. 185. 201 S z a r k a : Iratok, S. 164. Das Budapester Kriegsministerium erhielt am 12.11.1918 die ersten, ab dem folgenden Tag die nächsten Meldungen über das Eindringen rumänischer Truppen über die Ost- und Südkarpaten auf das Gebiet Siebenbürgens. Ende November erreichten die Besatzungstruppen die Marosch-Linie, Ende Dezember Klausenburg (E ö r d ö g h : Erdély, S. 23–32; Olivér F r á t e r : Erdély román megszállása 1918–1919 [Die rumänische Besetzung Siebenbürgens 1918–1919]. Tóthfalu 1999, S. 23–88; R a f f a y : Erdély, S. 115–167), Mitte Januar 1919 die Westgrenze des historischen Siebenbürgen (siehe die Kartenskizze „Demarcation lines between Hungary and neighboring countries“. In: Minority Hungarian Communities in the twentieth Century. Hgg. Nándor B á r d i u. a. Boulder/Colorado 2011 (East European Monographs 774), S. 813). 202 Mária O r m o s : From Padua to the Trianon 1918–1920. Budapest 1990, S. 63–76. Siehe die Kartenskizze „Demarcation lines between Hungary and neighboring countries“. 203 S z a r k a : A helvét modell, S. 242–244. Die von Jászi vorgelegte Kartenskizze eines „Slowakischen Imperiums“ (Tót Impérium) in László S z a r k a : Szlovák nemzeti fejlődés – magyar nemzetiségi politika 1867–1918 [Slowakische nationale Entwicklung – ungarische Nationalitätenpolitik 1867–1918]. Budapest 1995 (Mercurius könyvek), S. 260.
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mit dem der Zentrale Rumänische Nationalrat am 9. November 1918 die Regierung zur Übergabe der politischen, militärischen und administrativen Macht in 26 Komitaten im historischen Siebenbürgen und in westlich angrenzenden ungarländischen Gebieten aufgefordert hatte204, rief Ministerpräsident Károlyi im Namen seiner Regierung Anfang Dezember zur Bewahrung der Gebietseinheit auf und erklärte, „allen mit uns lebenden Nationen volle Verwaltung und kulturelle Autonomie“ im Rahmen einer „aus dem alten Ungarn gestalteten freien, demokratischen östlichen Schweiz“ gewähren zu wollen205. Die Karlsburger Beschlüsse der rumänischen Nationalversammlung vom 1. Dezember 1918 über den Anschluss Siebenbürgens an das Königreich Rumänien, die ihm der Budapester Bevollmächtigte des rumänischen Nationalrats überreicht hatte, wies er aufgrund der Bestimmung des Belgrader Waffenstillstandsabkommens über die Aufrechterhaltung der ungarischen Verwaltung in Siebenbürgen zurück206. Die neuere Forschung hat die Kenntnisse über das letzte Kapitel der ungarischen Selbstrettungsversuche unter gehöriger Einbindung Siebenbürgens präzisiert. Demnach wurden im Budapester Nationalitätenministerium im November 1918 mehrere Varianten des Plans einer „Östlichen Schweiz“ aufgesetzt. Die allererste dürfte Jászi bei den Arader Verhandlungen zumindest skizzenartig mitgeführt haben, die zweite muss vor dem 25. November 1918 entstanden sein und gilt heute als die letzte überlieferte, gleichsam regierungsamtlich offizielle Fassung207. Ihr wohnte der von Jászi Monate zuvor eingeführte Grundgedanke einer „demokratischen Föderalisierung“ inne, wonach bei Gewährung des allgemeinen Wahlrechts dezentrale oder wenigstens dekonzentrierte Regierungs- und Verwaltungsstrukturen innerhalb des nicht mehr mit Habsburg verbundenen, auf autonome Kantone und – im Falle größerer zusammenhängender ethnischer Blöcke – auch nichtungarische „Imperien“ aufgegliederten Ungarn entstanden wären208. 204 Wortlaut des in den Akten der nationalrätlichen ungarischen Regierung überlieferten Exemplars: F r á t e r : Erdély, S. 15; S z a r k a : Iratok, 143–144. Vgl. H a s l i n g e r : Arad, S. 119; Mircea P o p a , Gheorghe Ş o r a : Studiu introductiv [Einführung]. In: Vasile G o l d i ș : Scrieri social-politice și literare. Hgg. Mircea P o p a , Gheorghe Ş o r a . Timișoara 1976, S. 9–72, hier 68; S z a r k a : A helvét modell, S. 238. 205 Károlyi Mihály felhívása a magyar néphez [Mihály Károlyis Aufruf an das ungarische Volk]. Budapest, 4.12.1918 [Budapesti Hírlap, 5.12.1918]. In: Károlyi Mihály levelezése, S. 305–307, hier 306. 206 L e n g y e l : Auf der Suche, S. 91. 207 S z a r k a : A helvét modell, S. 245. 208 J á s z i : A monarchia jövője, S. 59–71. Vgl. S z a r k a : A helvét modell, S. 237, 247.
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Diese hehre Umgestaltung setzte den beruhigenden Abschluss einer der langwierigsten innenpolitischen Auseinandersetzungen voraus, dem die Kriegs- und Revolutionswirren entgegenstanden. Das noch während des Weltkrieges erlassene Wahlgesetz XVII/1918 war trotz einer theoretischen Erhöhung des Anteils der Wahlberechtigten auf rund 13 Prozent nur eine Novellierung der vorigen Rechtsvorschrift aus dem Jahre 1913. Das Volksgesetz der Regierung Károlyi I / 23. November 1918 bezog zwar auch die Frauen über 24 Jahren ein, womit der Bevölkerungsanteil im Prinzip auf rund 50 Prozent anstieg, doch konnte wegen der beiden Revolutionen im Oktober 1918 und im März 1919 keiner dieser Reformbeschlüsse in Kraft treten209. Auf Papier blieb auch der letzte, in Textform erhaltene Plan einer Helvetisierung Ungarns. Bemerkenswert ist, wie er die regierungsamtlichen Überlegungen konkretisierte. Von insgesamt 14 Kantonen des neuen Gesamtungarn wären fünf im breit aufgefassten Siebenbürgen210 einzurichten gewesen – je einer mit ungarischer, rumänischer und sächsischer, einer mit rumänisch-sächsischer sowie einer mit deutsch-ungarisch-serbischer-bunjewatzischer Mehrheit. Jeder wesentliche Punkt des Plans ging von der allein richtungsweisenden Stellung des ungarischen Staatszentrums aus, so aufgrund der Ernennung der Obergespane für die Kantone sowie der Schulleitungen durch die Regierung, der Verwaltungsbeamten durch die Regierung oder durch die Obergespane, ferner der maßgeblichen Rolle der ungarischen Sprache in Wirtschaft, Handel sowie Bank- und Heerwesen211. Dieser Vision schob Budapest mit der Verabschiedung des rusinischen, deutschen und slowakischen „Volksgesetzes“ vom X / 25. Dezember 1918, VI / 29. Januar 1919 und XIX/12. März 1919 einen gesetzlichen Rahmen 209 H a j d u : Károlyi, 249–342; K o z á r i : A dualista rendszer, S. 265; P ö l ö s k e i : A magyar parlamentarizmus, S. 203; V e r m e s : Tisza, S. 462–463. 210 Gemeint ist hier jenes vom rumänischen Nationalrat im Ultimatum v. 9.11.1918 (vgl. hier bei Anm. 204) beanspruchte Gebiet, das 1920 von Ungarn Rumänien zugeschlagen wurde (vgl. die Kartenskizze „Population and territory of Hungary transferred to neighboring countries under Treaty of Trianon 1920“. In: Minority Hungarian Communities in the twentieth Century, S. 814; R o m s i c s : Der Friedensvertrag). 211 Wortlaut abgedruckt bei S z a r k a : A Jászi-féle Nemzetiségi Minisztérium, S. 281– 284. Vgl. S z a r k a : A helvét modell, S. 245. Kartographische Darstellung der für Gesamtungarn erdachten Kantone: The „Switzerland of the East“. Proposal by Oszkár Jászi, minister without portfolio (1918). In: Minority Hungarian Communities in the twentieth Century, S. 811. Der Aspekt der Förderung des Ungarischen im ökonomischen Leben erinnert an eine Denkschrift entsprechender Thematik, die ein halbes Jahr zuvor der Leitung des Siebenbürgischen Verbands zugesandt worden war (Klausenburger Handels- und Industriekammer an Vorstand SV. Klausenburg, 28.5.1918. OSZK AIh Quart. Hung. 2456/1783-1918).
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für die Gewährung von Autonomierechten, bei den Rusinen und Slowaken in territorialem Sinne, im Endergebnis für die bundesstaatliche Umgestaltung Großungarns auf ethnischer Grundlage nach212. Obwohl Anfang Dezember 1918 die Pläne einer „Östlichen Schweiz“ von ihren Schöpfern zu den Akten gelegt wurden213, schlugen sich ihre Thesen wenige Tage später bei der Gründung des wichtigsten Vermittlungsorgans der Idee eines allenfalls dezentralisiert bundesstaatlichen, eher sogar zentralisiert einheitsstaatlichen Ungarn nieder. Damit wurde eine Forderung des Siebenbürgischen Verbandes aus dem Jahre 1917 ein zweites und letztes Mal in einer Weise umgesetzt, die sich während des politischen Umbruchs im Oktober 1918 abgezeichnet hatte. Während der ungarischen Asternrevolution war aus ungarischen Kreisen Siebenbürgens erneut der Wunsch zu vernehmen, ein Regierungskommissariat für die Region unter Leitung eines ortskundigen Beamten aufzustellen214. Dieser Gedanke reifte im Rahmen der engen Zusammenarbeit zwischen dem Nationalrat in Budapest und seinem in Klausenburg seit dem 1. November tätigen Siebenbürgischen Ausschuss weiter. Auch das Verhandlungspaket Jászis enthielt das Angebot eines „Regierungskommissariats“ zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung, das aus Beauftragten der ungarischen Regierung sowie des rumänischen Nationalrats zusammengesetzt worden wäre215. Nach dem Misserfolg in Arad setzte die Regierung dazu an, das Kommissariat ohne rumänische Beteiligung aufzubauen. Zur Verfügung stand ihm dabei der Siebenbürgische Ausschuss des Ungarischen Nationalrats, der sich aus Mitgliedern der Unabhängigkeits- und 48er Partei, der Sozialdemokratischen sowie der Bürgerlich-Radikalen Landespartei zusammensetzte und in allen ostungarischen Komitaten wirkte216. An seiner Spitze trat István Apáthy sowohl für das politische 212
S z a r k a : A helvét modell, S. 245–247. Ebenda, S. 245. 214 László S[ütő] N a g y : Külön erdélyi kormányszervet! Nem lett államtitkár Somló Bódog [Ein eigenes Regierungsamt für Siebenbürgen! Bódog Somló wurde nicht Staatssekretär]. In: Erdélyi Szemle 4 (1918), S. 95. 215 Punkt 8 des Jászischen Angebots v. 14.11.1918 in S z a r k a : Iratok, S. 164. 216 István S u l y o k : Kronológia. 1918.X.31.–1929.XII.31 [Chronologie 31.10.1918– 31.12.1929]. In: Erdélyi magyar évkönyv. I. Hgg. István S u l y o k , László F r i t z . Kolozsvár 1930, S. 235–262, hier 235. Eine Auswahl aus seinen frühen Flugblättern: István Apáthy – Jenő Janovics – Sándor Vincze: Katonák, tisztek, legénység! [Soldaten, Offiziere, Mannschaften! Klausenburg, 31.10.1918]. SzT PR Ms. 251/4880-8 [auch in rumänischer und deutscher Übersetzung]; Erdélyi Magyar Nemzeti Tanács – Sfátul Poporului Roman din Ardeal – Der Nationalrat: Magyar Testvérek! Fratilor Romani! Sachsen Brüder! Klausenburg, 3.11.1918. Ebenda, Ms. 251/4880-10; István Apáthy – Jenő Janovics – Sándor Vincze: A szabad magyar köztársaság minden emberéhez! [An alle Menschen der freien 213
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(die Einführung des „allgemeinen, gleichen und geheimen, auch auf Frauen ausgeweiteten Wahlrechts“) als auch für nationale Ziele (die „territoriale Integrität, politische Einheit des Vaterlandes“) ein217. Über exekutive Teilvollmachten verfügte er aber erst, nachdem ihn die Regierung am 7. Dezember 1918 zum Leiter der neuen Regierungsstelle, des Oberregierungskommissariats für Ostungarn (Kelet-Magyarországi Főkormánybiztosság) ernannt hatte218. Zu einem seiner Stellvertreter wurde der Direktor des Klausenburger Nationaltheaters, Jenő Janovics (1872–1945), bestellt219. Das neue Regierungsamt schlug in der ideellen Nachfolge des von März bis September 1918 bestandenen Regierungskommissariats für Siebenbürgen einen situationsbedingt verschärften nationalpolitischen Ton an. Der Siebenbürgische Verband hatte sich in der letzten Phase seiner Betätigung mit dem Rückhalt jenes Ungarn radikalisiert, von dem es sich zugleich entfernen wollte220. Dieser Widerspruch löste sich jetzt in der Annäherung des Oberregierungskommissariats an das Staatszentrum auf. Der Name des Amtes spiegelte die Grundrichtung seines Programms wider: Es verstand sich nicht als ein siebenbürgisches Amt, sondern als eines, das die Regelung von Agenden der Landesöffentlichkeit siebenbürgischen Erfordernissen anpasst. Es sollte nicht einer gewissen Verselbständigung der sektoralen Administration, d. h. einer Dezentralisierung, Vorschub leisten, und seine Vollmachten erhielt es für eine Dekonzentrierung von weiterhin aus dem Staatszentrum zu steuernden Verwaltungstätigkeiten. Gegliedert war es in 18 Abteilungen mit folgenden Geschäftsbereichen: Präsidiale, Waffenstillstand und Verwaltungsorganisation, Grundstückspolitik, Jugend und Erziehung, Industrie und Handel, Recht, Militär, öffentliche Sicherheit, Volksernährung und Landwirtschaft, Verwaltung, Verkehr, Bildung, Volksfürsorge, Finanzen, Szekler, Beziehungen zur rumänischen Nation, Presse und Propaganda und Registratur. Sein allgemeiner Auftrag bestand neben der „Interessenvertretung der
ungarischen Republik! Klausenburg, November 1918]. Ebenda, Ms. 251/4880-12 [auch in rumänischer und deutscher Übersetzung]. 217 István A p á t h y : Szózat Erdély fiaihoz [Aufruf an die Söhne Siebenbürgens]. [O. O., o. J., Klausenburg 1918]. OSZK AIh Quart. Hung. 2455/II. 218 [Innenminister Tivadar Batthyány] an Apáthy. Budapest, 7.12.1918. OSZK AIh Quart. Hung. 2455/I/1; S u l y o k : Kronológia, S. 236. 219 Jenő J a n o v i c s : [Handschriftlich unterzeichnetes Protokoll seines Verhörs auf der rumänischen Militärkommandantur in Klausenburg]. Klausenburg, 27.2.1919. OSZK AIh Quart. Hung. 2455/I/22. 220 Wie E g r y : Regionalizmus, S. 30, richtig bemerkt.
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Magyaren in Ostungarn“221 darin, die Willensbildung und Meinungsäußerung für die weitere Existenz Großungarns bei den Bewohnern jener Komitate zu fördern, die in Karlsburg (Alba Iulia, Gyulafehérvár) für rumänisches Hoheitsgebiet erklärt worden waren222. Die Budapester Regierung beharrte auch nach den Arader Verhandlungen auf der Einhaltung des Belgrader Waffenstillstandsabkommens und bediente sich dabei des Arguments Jászis, wonach territorialpolitische Beschlüsse der späteren Friedenskonferenz vorbehalten sein müssten223. Deshalb wurde Apáthy als Amtsleiter aufgrund der gültigen Gesetze Ungarns insbesondere für Verhandlungen mit den Besatzungskräften über die Umsetzung des Belgrader Waffenstillstandsabkommens bevollmächtigt224; er strebte aber einem über Jászis Maßstäbe hinausgehenden neuen nationalpolitischen Ziel zu. Anfang November, vor den Verhandlungen in Arad, hatte er dem Nationalitätenminister in der Konzeption einer demokratischen Föderalisierung als Privatmann notgedrungen beigepflichtet. Wir greifen aber zu kurz, wenn wir die Bewertung seiner politischen Laufbahn an diesem Punkt abschließen225, denn als bevollmächtigter Vertreter der Zentralregierung schickte er sich ab Anfang Dezember 1918 an, das regionale Interesse auch in ungarischer Hinsicht dem zentralstaatlichen unterzuordnen. Dieser funktionale Schwerpunkt erhellt aus den Gründungsdokumenten des Oberregierungskommissariats, dessen Satzung den örtlichen Nationalrat auf den ausdrücklichen Wunsch von Apáthy hin nicht etwa als Siebenbürgisch-Ungarischen Nationalrat, sondern als „Ostungarischen Ausschuss“ oder (nach der seit Ende Oktober geläufigen Formel) als „Siebenbürgischen Ausschuss“ des Budapester Ungarischen Nationalrats bezeichnete226; die letztere Formel 221 [Innenminister Tivadar Batthyány] an Apáthy. Budapest, 7.12.1918. OSZK AIh Quart. Hung. 2455/I/1. 222 A Kelet-Magyarországi Főkormánybiztosság szervezeti és ügykezelési szabályai [Satzung und Geschäftsordnung des Ostungarischen Oberregierungskommissariats]. Klausenburg, Dezember 1918. OSZK AIh Quart. Hung. 2455/I/7; J a n o v i c s [Handschriftlich unterzeichnetes Protokoll], S. 3. Zum qualitativen Unterschied zwischen Dezentralisierung und Dekonzentration Dirk G e r d e s : Verwaltung. In: Grundbegriffe der politikwissenschaftlichen Fachsprache. Hgg. Paul N o a c k , Theo S t a m m e n . München 1976, S. 322–324; d e r s . : Politische Dezentralisierung. In: Pipers Wörterbuch zur Politik. I: Politikwissenschaft. Theorien – Methoden – Begriffe. Hgg. Dieter N o h l e n , Rainer Olaf S c h u l t z e . München, Zürich 31989 (Serie Piper 1151), S. 732. 223 B á r d i : Otthon, S. 41; O r m o s : From Padua to the Trianon, S. 114–135. 224 A p á t h y : Erdély, S. 165–166. 225 Wie zuletzt E g r y : Regionalizmus, S. 30. 226 A Kelet-Magyarországi Főkormánybiztosság szervezeti és ügykezelési szabályai, S. 5, 7.
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wurde üblicherweise in der Korrespondenz und den Flugblättern des Klausenburger Nationalrats verwendet227. Apáthy hatte schon vor der Übernahme dieses Amtes auf den Namen „Siebenbürgischer Ausschuss des Ungarischen Nationalrats“ bestanden, weil er in der Bezeichnung „Siebenbürgisch-Ungarischer Nationalrat“ einen separatistischen Zug entdecken zu müssen meinte228. Das Budapester Innenministerium legitimierte den Auftrag des Oberregierungskommissars gemäß einer Vereinbarung mit der Budapester französischen Militärkommandantur über den Verbleib ungarischer militärischer und bürgerlicher Ämter in Klausenburg, welche die am Weihnachtstag 1918 erfolgte rumänische Besetzung der Stadt im Sinne des Belgrader Waffenstillstandsabkommens zunächst nur als strategischen Punkt gestattete229. In diesem Sinne einigte sich Apáthy am 31. Dezember 1918 mit dem Kommandanten der Entente-Truppen in Rumänien, General Henri Mathias Berthelot (1866–1931)230, und der örtlichen rumänischen Militärführung darauf, die ungarische Staatshoheit administrativ in strategisch wichtigen Landstrichen (so auch in Klausenburg) und militärisch westlich eines 15 Kilometer breiten neutralen Streifens entlang der Linie Frauenbach (Baia Mare, Nagybánya)–Klausenburg–Diemrich auch militärisch aufrechtzuerhalten231. Innerhalb seines Amtes und gegenüber der Budapester Regierung setzte Apáthy seine Bemühungen um die zwischenparteiliche Meinungsbildung für ein republikanisches und territorial einheitliches Ungarn fort, die ihm einige ideologische Verrenkungen abverlangten. Während er Ministerpräsident Károlyi vor der bolschewistischen Gefahr warnte, stützte er sich, zur anderen Konfliktpartei hingewandt, auf die Linke, um vorab den Beweis liefern zu können, dass eine Anglie227 Apáthy an Ungarischer Nationalrat in Budapest. Klausenburg, 20.12.1918. MNL OL NT K 440, 6. cs. D/IV-1886; Apáthy – Janovics – Vincze: Katonák, tisztek, legénység!; Apáthy – Janovics – Vincze: A szabad magyar köztársaság minden emberéhez! Vgl. S u l y o k : Kronológia, S. 235. 228 A p á t h y : Erdély, S. 153–154. 229 Mihály K á r o l y i an Siebenbürgisches [!] Oberregierungskommissariat. Budapest, 21.12.1918. In: Károlyi Mihály levelezése, S. 332. 230 O r m o s : From Padua to the Trianon, S. 39. 231 Aide-mémoire, concernant le contrôle des clauses de l’armistice. OSZK AIh Quart. Hung. 2455/I/18. Erläuterungen dazu vom Initiator des Berthelot-Apáthy-Abkommens: Apáthy an Károlyi. Klausenburg, 3.1.1919. OSZK AIh Quart. Hung. 2455/VI/2, S. 1–2. Dieser maschinengeschriebene und mit „gez.“ unterzeichnete Brief fehlt im ersten Band der publizierten Korrespondenz des Ministerpräsidenten (vgl. Károlyi Mihály levelezése); vermutlich hat er Károlyi nicht erreicht. Apáthy druckte den Text später leicht gekürzt ab (A p á t h y : Erdély, S. 173–175). Zu der im Apáthy-Berthelot-Abkommen verabredeten neutralen Zone mit karthographischer Darstellung O r m o s : From Padua to the Trianon, S. 107, 114–135.
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derung Siebenbürgens an das altrumänische Reich von Großbojaren eine soziale Unterdrückung nach sich ziehen werde232. Der Hauch eines weltanschaulichen Eklektizismus lag auch in der Luft jener Kundgebung vom 22. Dezember 1918, die das Oberregierungskommissariat nach einer Vollversammlung in der Industriekammer auf dem historischen Marktplatz von Klausenburg vor mehreren Tausend aus verschiedenen Komitaten angereisten Teilnehmern für den Verbleib im ungarischen Staatsverband durchführte233. Dem Ersuchen Apáthys, Demonstranten in weiteren Städten und Komitaten anzuwerben, vermochte der Budapester Nationalrat angeblich aus Zeitgründen nicht zu entsprechen234. Die rumänischen Behörden hingegen störten die Vorbereitungen gezielt235. Der Untertitel eines Leitartikels „Die rumänischen Sozialisten für das Ungartum“ über dieses Ereignis vergegenwärtigt in knappster Form das weltanschaulich-nationale Bündnis, das ungarische Augenzeugen in voreiliger Auslegung des Auftritts zweier rumänischer Sozialdemokraten allzu gerne Form anzunehmen sahen. Auch Apáthy hielt eine Rede, in der er die militärisch heranrückende fremde Macht in der Manier eines ungarischen Unabhängigkeitspolitikers vor allem national identifizierte und darauf verwies, dass auf dem Gebiet, das die rumänische Nationalversammlung vom 1. Dezember 1918 für sich beanspruchte, „neben beinahe vier Millionen nichtrumänischen Einwohnern nur 2.948.186 Rumänen“ lebten. Der Pressebericht zitierte ihn noch mit folgenden Zeilen: „Wir wollen nicht unter einer fremden Herrschaft leben, wir wollten Österreich mit seiner höheren ökonomischen und geistigen Bildung nicht, wir wollten keine habsburgische Herrschaft, und heute sollen wir die Herrschaft eines wirtschaftlich rückständigeren, bildungsmäßig hinter uns gebliebenen Staates und damit wieder das Joch eines fremden Regenten anerkennen. Vier Millionen Nichtrumänen in 26 Komitaten protestieren und werden dagegen immer protestieren.“236 232
J a n o v i c s [Handschriftlich unterzeichnetes Protokoll], S. 4. Ebenda, S. 3–4. Die zeitgenössischen Angaben zur Teilnehmerzahl variieren zwischen 40.000 und 120.000 (F r á t e r : Erdély, S. 67; Zsolt K. L e n g y e l : „Keleti Svájc“ és Erdély 1918–1919. A nagyromán állameszme magyar alternatíváinak történetéhez [„Östliche Schweiz“ und Siebenbürgen 1918–1919. Zur Geschichte der ungarischen Alternativen der großrumänischen Staatsidee]. In: d e r s .: A kompromisszum keresése, S. 73–96, hier 80. 234 Apáthy an Ungarischen Nationalrat in Budapest. Klausenburg, 20.12.1918. Ungarischer Nationalrat an Apáthy. [Budapest] Dezember 1918. MNL OL NT K 440, 6. cs. D/IV-1886. 235 F r á t e r : Erdély, S. 66–71; R a f f a y : Erdély, S. 181–183. 236 A kolozsvári nagygyűlés. A román szocialisták a magyarság mellett [Die Klausenburger Großversammlung. Die rumänischen Sozialisten für das Ungartum]. In: Aradi 233
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Das Oberkommissariat vollbrachte mit der Organisation der Klausenburger Kundgebung seine einzige öffentlichkeitswirksame Tat. Vorher und danach sicherte Apáthy der rumänischen Besatzungsverwaltung zu, den Kampf gegen den Bolschewismus ungarischen und rumänischen Ursprungs zu unterstützen237. Die administrativen Übergriffe der rumänischen Zivil- und Militärverwaltung und der in Hermannstadt am 2. Dezember 1918 gebildeten rumänischen Provinzregierung, des Leitenden Regierungsrats (Consiliul Dirigent)238, hielten aber trotz der Bestätigung des Amtes als ungarische Regierungsbehörde durch die französische und – zunächst auch – durch die rumänische Militärkommandantur an. Hierauf verwies der Amtsleiter in seinem letzten offiziellen Bericht an den ungarischen Ministerpräsidenten, in dem er noch seine Hoffnung ausdrückte, dass nach der Unterzeichnung der oben erwähnten Militärkonvention vom 31. Dezember 1918 die „unbefugten Eingriffe der rumänischen Nationalräte in die ungarische Verwaltung“ aufhören würden239, doch traf das Gegenteil ein. Das Oberkommissariat konnte während der sechs Wochen seiner formalen Existenz seinen Aufgaben kaum nachgehen. Ende Dezember 1918 zog es einige seiner Abteilungen zusammen, und weitere zwei Wochen später beendete es seine Tätigkeit240. Den Grund dazu lieferten die rumänischen Besatzungsbehörden mit der Verhaftung seines Hírlap 2 (1918), Nr. 330, S. 1 (24. Dezember). Auf 3.900.000 Nichtrumänen und 2.939.000 Rumänen in 26 Komitaten berief sich auch J á s z i während der Arader Verhandlungen (Jászi erdélyi kantontervezetének leírása [Beschreibung des siebenbürgischen Kantonplans von Jászi]. In: S z a r k a : Iratok, S. 148–149, hier 149). Auf diese demographischen Anteile verwies später auch J a n o v i c s [Handschriftlich unterzeichnetes Protokoll], S. 3–4. Weitere Zitate aus den Reden v. 22.12.1918 bei F r á t e r : Erdély, S. 66–68; R a f f a y : Erdély, S. 181–183. 237 Aide-mémoire, concernant le contrôle des clauses de l’armistice, S. 2. Vgl. Apáthy an Károlyi. Klausenburg, 3.1.1919. OSZK AIh Quart. Hung. 2455/VI/2, S. 2. 238 Gheorghe I a n c u : The Ruling Council. The Integration of Transylvania into Romania 1918–1920. Cluj-Napoca 1995. 239 Apáthy an Károlyi. Klausenburg, 3.1.1919. OSZK AIh Quart. Hung. 2455/VI/2, S. 2–3. Von der formal korrekten Kommunikation zwischen Apáthy und Berthelot sowie dessen Untergebenen berichtete bei seinem Verhör auch der stellvertretende Oberregierungskommissar J a n o v i c s [Handschriftlich unterzeichnetes Protokoll], S. 4. In seinen Erinnerungen bezeichnete sich der ehemalige Oberregierungskommissar als „Militärgesandter im wahrsten Sinne“, als „parlementaire“, und betonte, dass dieser Status nach seiner Amtseinführung von der französischen und rumänischen Militärkommandantur anerkannt worden sei (A p á t h y : Erdély, S. 147). 240 Zur vereinfachten Abteilungsstruktur vgl. Apáthys handschriftliche Vermerke im überlieferten Text der Satzung (A Kelet-Magyarországi Főkormánybiztosság szervezeti és ügykezelési szabályai). Zeitgenössische Berichte über die Tätigkeit des Oberregierungskommissariats bei J a n o v i c s [Handschriftlich unterzeichnetes Protokoll]; Apáthy an Károlyi. Klausenburg, 3.1.1919. OSZK AIh Quart. Hung. 2455/VI/2; A p á t h y : Erdély,
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Leiters am 15. Januar 1919 wegen „bolschewistischer Agitation“241. Im Juli 1919 befand das Hermannstädter Militärgericht den letzten offiziellen ungarischen Regierungsvertreter in Klausenburg in allen zwischenzeitlich konstruierten fünf Anklagepunkten für schuldig und verurteilte ihn zu fünf Jahren Kerkerhaft. Nachdem dieses Urteil in zweiter Instanz vom Bukarester Obersten Militärgericht gänzlich aufgehoben worden war, kam Apáthy im Januar 1920 aus der Internierung frei, die er übrigens unter recht menschlichen Umständen über sich ergehen lassen musste. Im August 1920 übersiedelte er nach Ungarn, wo es ihm vor seinem Tod zwei Jahre später möglich war, am Aufbau der aus Klausenburg nach Szeged übersiedelten Universität mitzuwirken242.
„Warum misslang die Gründung der Donauföderation?“ Gleichzeitig mit der Schließung des Klausenburger Oberregierungskommissariats wurde die ungarische Staatsmacht aus dem historischen Siebenbürgen hinausgedrängt243. Der Gedanke eines kantonal umgestalteten Ungarn geriet anschließend jenseits des Königsteigs nicht sofort in Vergessenheit. Diejenigen, die ihn eine Zeitlang in ähnlicher S. 166–176. Aus der Fachliteratur anhand mittelbarer Archivquellen: F r á t e r : Erdély, S. 73–88; R a f f a y : Erdély, S. 168–254. 241 J a n o v i c s [Handschriftlich unterzeichnetes Protokoll], S. 4. 242 Zum letzten Lebensabschnitt Apáthys in Siebenbürgen: Apáthy fogságával kapcsolatos levelek [Korrespondenz über die Haft Apáthys. 1920]. OSZK AIh Quart. Hung. 2455/V, VI; Zoltán M a r i s k a : Apáthy István politikai szereplése és pere [Die politische Rolle und der Prozess gegen István Apáthy]. In: Korunk 17 (2006), Nr. 3, S. 77–89; Zoltán M a r i s k a : Kolozsvári végjáték – szegedi kezdés [Klausenburger Endspiel – Szegeder Anfang]. In: Felvilágosodás – magyar századforduló. A VII. Hungarológiai Kongresszus Filozófiai Szekcióinak előadásai. Hg. Péter E g y e d . Kolozsvár 2012, S. 191–219, hier 198–201; Gábor V i n c z e : Kilencven éve történt. Erdély megszállása és a kolozsvári Ferenc József Tudományegyetem felszámolása [Es geschah vor neunzig Jahren. Die Besetzung Siebenbürgens und die Auflösung der Klausenburger Franz-Joseph-Wissenschaftsuniversität]. In: Székelyföld 13 (2009), Nr. 2, S. 65–103. 243 O r m o s : From Padua to the Trianon, S. 107, 114–135, mit Kartenskizze „The dissolution of multi-ethnic Hungary“. Aus der neueren Fachliteratur F r á t e r : Erdély; László S z a r k a : The Break-up of Historical Hungary. In: Minority Hungarian Communities in the twentieth Century, S. 29–42. Die Akten des Oberregierungskommissariats und des Siebenbürgischen Ausschusses des Ungarischen Nationalrats wurden im März 1919 von der rumänischen Militärstaatsanwaltschaft beschlagnahmt. Apáthy führte bei seiner Übersiedlung nach Ungarn im August 1920 nur einige Stücke mit sich (A p á t h y : Erdély, S. 147). Die beschlagnahmten Quellen sind seither, wie auch der hier verwendeten Fachliteratur zu entnehmen ist, nicht wieder aufgetaucht. Deswegen können derzeit nicht alle Einzelheiten der militärischen und zivilen Machtübernahme in Siebenbürgen von Oktober 1918 bis Januar 1919 aufgedeckt und bewertet werden. Gut erforscht sind diese Vorgänge im Szeklerland (B á r d i : Otthon, S. 37–86).
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oder abgewandelter Form, in Verbindung mit weiteren konzeptionellen Alternativen zur großrumänischen Staatsidee weiterpflegten, verfügten aber nicht – wie zuvor Apáthy als oberster Beamter der örtlichen Zivilverwaltung – über ein parlamentarisches Mandat der ungarischen Regierung244. In der Bilanz bis zur Jahreswende 1918/19 fügen sich die Erörterungen einer „Östlichen Schweiz“ in einen großungarischen Selbstrettungsversuch ein, der weltanschaulich linksgerichtet war und mit dem demokratischen Prinzip nicht nur auf politische Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit abzielte, sondern mindestens mit gleicher Intensität das nationale Selbstbestimmungsrecht der Noch-Mehrheitsnation anmahnte245. Die Budapester Regierung verfolgte während des Übergangs aus dem dynastischen Bündnis mit Habsburg in den eigenen Nationalstaat die Strategie der allgemeinen Demokratisierung, mit der sie neben dem Pazifismus auch den nationalitätenpolitischen Reformwillen des neuen Ungarn bekunden wollte, um die Siegermächte des Weltkrieges für die Beibehaltung der territorialen Integrität Ungarns zu gewinnen. Hätte sie auch eine andere Vorgehensweise wählen können? Die Rumänische Nationalpartei stehe „auf der Grundlage der Integrität des ungarischen Staates“ und verfolge „überhaupt keine separatistischen Bestrebungen“, will ein örtlicher Vertrauensmann Jászis und Károlyis bei Sondierungsgesprächen mit Vasile Goldiș (1862–1934) – der drei Wochen später in Budapest den Zentralen Rumänischen Nationalrat mit gründen und Mitte November dessen Aufruf zur Bildung eines rumänischen Nationalstaates mitsamt nachgeschobenem Ultimatum an die Budapester Regierung redigieren wird246 – Anfang Oktober 1918 erfahren haben, worüber er Károlyi umgehend schriftlichen Bericht erstattete247. Die ungarischen Regierungskreise müssen in jenen Tagen von einem einseitig ausgeprägten Realitätssinn geleitet worden sein, wurde doch auch Apáthy erst durch persönliche Mitteilungen rumänischer Lokalpolitiker während der Klausenburger Revolutionswirren im November 1918 erstmals gewahr, dass die Nationalitätenführung auf eine Abspaltung hinarbeitete. Bei den entscheidenden zweiseitigen Gesprächen habe sich das rumänische Hauptziel jedoch erst am zweiten Tag in aller Klarheit gezeigt, 244
L e n g y e l : Auf der Suche, S. 87–125; d e r s . : „Keleti Svájc“. Im späteren Verlauf wird sich dieser Grundzug verstärken. L e n g y e l : „Keleti Svájc“, S. 81–92. 246 P o p a , Ş o r a : Studiu, S. 68. 247 Tibor Zima an Mihály Károlyi. Arad, 4.10.1918. In: Károlyi Mihály levelezése, S. 243. 245
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als das Führungsmitglied des rumänischen Nationalrats, der spätere Vorsitzende der siebenbürgischen Rumänischen Nationalpartei und Ministerpräsident Großrumäniens, Iuliu Maniu (1873–1953), in einem von der ungarischen Regierung bereitgestellten Sonderzug aus Wien in der Stadt eingetroffen sei und umgehend das Wort übernommen habe, erinnerte sich Apáthy zwei Jahre später an den Wendepunkt der Verhandlungen in Arad248. Wieder ein Jahr später bestätigte Jászi diese Einzelheit249. Er räumte 1921 aber ein, dass über sein Angebot eines provisorischen „kantonalen Systems freier nationaler Autonomien“ in jenen Tagen die Zeit bereits hinweggegangen sei, da man „wissen konnte, dass das Rumänentum auf der Grundlage der Gebietseinheit des alten ungarischen Staates für keinerlei Kompromisse zu gewinnen war“250. Dennoch hielt er es auch im Nachhinein für richtig, als Nationalitätenminister auf die volle Umsetzung der „Wilsonschen Prinzipien“ gepocht zu haben, somit dem Aufruf von annähernd 100 ungarischen Wissenschaftlern, Literaten, Künstlern und Publizisten vom 3. November 1918 für die Gründung eines „freien Staatenbundes“ gefolgt zu sein251. Diese Aussage liefert den Schlüssel zum Verständnis der hier behandelten Abläufe vor Jahresende 1918. Sie belegt den unverändert großstaatlich föderativen Blick Budapests und, in nachgeordneter Stellung, des ungarischen Klausenburg – dies in einer Phase, in der 248 A p á t h y : Erdély, S. 157, 159. Die Radikalisierung der rumänischen Seite bezeugt auch folgende Quelle: Jegyzőkönyvtöredék az aradi tárgyalás második napjáról – 1918. november 14 (gépelt másolat) [Fragmentarisches Protokoll über den zweiten Tag der ungarisch-rumänischen Verhandlungen in Arad – 14.11.1918 (maschinengeschriebene Zweitschrift)]. MNL OL SL K 610, 80. cs. 1xc. Ediert von S z a r k a : Iratok, S. 149–161, mit bestätigtem Hinweis auf Manius Eintreffen am zweiten Verhandlungstag (S. 142). 249 Oszkár J á s z i : Visszaemlékezés a Román Nemzeti Komitéval folytatott aradi tárgyalásaimra [Rückblick auf meine Arader Verhandlungen mit dem Rumänischen Nationalrat]. In: Napkelet 2 (1921), S. 1345–1356, hier 1350–1351. Neue Ausgabe in: Jászi Oszkár publicisztikája. Válogatás [Die Publizistik von Oszkár Jászi. Auswahl]. Hgg. György L i t v á n , János F. V a r g a . Budapest 1982, S. 311–328. Die rumänische Verhandlungstaktik im Herbst 1918 wird in der Forschung vor allem in ungarischen Arbeiten kritisch untersucht. Vorgetäuschte Ausgleichswilligkeit bei längst beschlossener und stabiler Intransigenz stellen heraus: F r á t e r : Erdély, S. 15–17; R a f f a y : Erdély, S. 57–75. Differenzierter urteilt mit gutem Grund François B o c h o l i e r : Iuliu Maniu nemzedéke és az impériumváltás [Die Generation von Iuliu Maniu und der Imperiumswechsel]. In: Folyamatok a változásban. A hatalomváltások társadalmi hatásai Közép-Európában a XX. században. Hgg. Balázs A b l o n c z y , Csilla F e d i n e c . Budapest 2005, S. 99–116, hier 106–108. 250 J á s z i : Visszaemlékezés, S. 1352–1353. 251 Abdruck des Aufrufs ebenda, S. 1354–1356. Die zitierten Begriffe Jászis ebenda, S. 1354.
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die siebenbürgisch-rumänische Gegenseite Großungarn sicher schon verlassen hatte, aber wohl noch nicht in Großrumänien angekommen war. Die von Apáthy und Jászi rückblickend behauptete rumänische Unentschlossenheit wurde Mitte November von der ihrerseits provisorischen Option abgelöst, als Maniu nach dem Zeugnis Apáthys am zweiten Tag der Arader Verhandlungen Jászi gegenüber eröffnete, dass „sie [die Rumänen Siebenbürgens] aus den für sich verlangten 26 Komitaten einen unabhängigen rumänischen Staat bilden wollen, der dann selbst entscheiden werde, welche Beziehungen er mit seinen Nachbarn eingehen solle“252. Für die Authentizität dieser Überlieferung spricht, dass in den Reihen der rumänischen Sozialdemokraten unmittelbar vor der Nationalversammlung am 1. Dezember 1918 die Möglichkeit erwogen wurde, die Vereinigung Siebenbürgens mit dem rumänischen Altreich an Bedingungen zu knüpfen oder sogar eine Republik Siebenbürgens, des Banats und der rumänisch bewohnten Gebiete Ungarns anzusteuern, um eine Machtübernahme der altrumänischen Oligarchie zu verhindern253. In Karlsburg wurde als Punkt III der Anschlusserklärung die Kompromissformel eingesetzt, wonach die Nationalversammlung in den von ihr beanspruchten Gebieten „die provisorische Autonomie bis zum Zusammentritt der auf Grund des allgemeinen Wahlrechts gewählten Konstituante“ vorbehalte254. In diese Kerbe schlugen drei Wochen später zwei rumänische Sozialdemokraten, die sich auf der Klausenburger Kundgebung vom 22. Dezember 1918 gegen die Annahme der Karlsburger Beschlüsse beziehungsweise für die Gründung eines unabhängigen Siebenbürgen nach „Schweizer Muster“ aussprachen255. Einen gleichlautenden Beschluss fasste die Budapester Sitzung der rumänischen Fraktion der ungarischen sozialdemokratischen Partei am 31. Dezember 1918256. Umso schillernder liest sich der Essay „Warum misslang die Gründung der Donauföderation?“, in dem Oszkár Jászi auf die selbst gestellte Frage wohl ein letztes Mal, diesmal im nordamerikanischen Exil und aus der zeitlichen Entfernung von 35 Jahren zurückkam257. Im Kern seiner Antwort verbarg sich die Klage über ungleiche Kräfteverhältnisse, unter denen das republikanische Ungarn unmittelbar nach 252
A p á t h y : Erdély, S. 159. K e n d e : A Magyarországi Szociáldemokrata Párt, S. 98–121. 254 Die Karlsburger Beschlüsse der rumänischen Nationalversammlung vom 18.11.1918. In: Quellen zur Geschichte der Siebenbürger Sachsen, S. 264–266, hier 265. 255 A kolozsvári nagygyűlés. 256 K e n d e : A Magyarországi Szociáldemokrata Párt, S. 117–118. 257 Oszkár J á s z i : Miért nem sikerült a dunavölgyi federációt megalkotni? [Warum misslang die Gründung der Donauföderation?] In: Új Látóhatár 4 (1953), S. 13–19, 91–97. 253
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Austritt aus dem Staatsbündnis mit Habsburg weder militärische noch diplomatische noch rechtliche Mittel für seinen integralen Fortbestand einzusetzen in der Lage war. Die tiefere Ursache dieser für Budapest verhängnisvollen Schwäche habe in der politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und geistigen Disharmonie zwischen den Streitparteien gelegen, fügte der Professor für Soziologie am Oberlin College hinzu und veranschaulichte seine Meinung mit einem von Constantin Frantz (1817–1891), dem deutschen Philosophen und Vordenker föderalistischer Konzepte, zitierten Satz: „Der Löwe und die Maus können sich nicht konföderieren.“258 Nach beinahe zwei Generationen war Jászis Sicht auf die Geschehnisse im Herbst und Winter 1918/19 von einem unverändert steifen Etatismus bestimmt, der einst wie jetzt, wenige Jahre vor seinem Tod, ungarische Bündnisse nur in eigenstaatlicher Beteiligung zuließ. Am Ende des Ersten Weltkriegs war der Weg der Budapester Regierung und ihres amtlichen Anhangs in Siebenbürgen zur Einsicht der Undurchführbarkeit von Föderationen versperrt, ihr Blick für eine niedrigere Stufe von Einigungen getrübt. Diese Unzulänglichkeit hatte der sachlich zutreffende, aber nur hochanständige Verweis auf spätere, völkerrechtlich bindende Beschlüsse der Friedenskonferenz auszugleichen. Währenddessen ging die rumänische Seite im Zeichen ihres klaren und vor allem umsetzbaren Rollenbildes vor, indem sie die militärdiplomatische Lage nach dem Zusammenbruch der Mittelmächte dazu nutzte, Entscheidungen für Großrumänien umgehend und bei Bedarf nur im Schutz ihrer Waffen, nicht erst am künftigen grünen Tisch herbeizuführen und abzusichern. Eindringlicher hätte einer der theoretischen Leitsätze des ungarischen Nationalitätenministers kaum widerlegt werden können. Jászi hatte nämlich in seinem im Frühjahr 1918 verfassten Werk über die „Zukunft der Monarchie“ die Rumänen in Siebenbürgen nicht zu jenen Völkern der Monarchie gezählt, die für eine eigene Staatsbildung reif seien259, und den Text ein halbes Jahr darauf, im Angesicht des sich formierenden rumänischen Nationalrats, mit unverändertem Inhalt, ohne auch nur eine aktualisierende Bemerkung in zwei Auflagen veröffentlicht. Als wohl größte Naivität der Fürsprecher einer „Östlichen Schweiz“, die sich in einen übergeordneten Staatenbund eingliedert, erweist sich 258 Constantin F r a n t z : Deutschland und der Föderalismus. Leipzig 1917, Nachdruck Paderborn 2014, S. 49; J á s z i : Miért nem sikerült a dunavölgyi federációt megalkotni, S. 15. Zu Jászi im Exil György L i t v á n : Jászi Oszkár. Budapest 2003 (Millenniumi magyar történelem. Életrajzok), S. 131–163, 213–235, 275–296. 259 J á s z i : A monarchia jövője, S. 14–16, 37–39.
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die Annahme, dass das republikanische Ungarn während der Ablösung des dynastischen Modells durch das nationalstaatliche Organisationsprinzip, die es mit vorantrieb und bestritt, selbst eine Ausnahme bilden – ein übernationaler Staat bleiben könne. Jászi und seine Mitstreiter widersetzten sich dem Zerfall Großungarns, als ihnen nur mehr der Versuch übrig geblieben war, allenfalls der Entstehung Großrumäniens entgegenzutreten. So übergingen sie Optionen – blasse, aber noch wahrnehmbare Zeichen – siebenbürgischer Regelungsmöglichkeiten neben der ungarischen Staatlichkeit, die der Transsilvanismus erst in seiner nächsten Entwicklungsphase, dann allerdings erneut zu spät, aufgreifen wird.
D A S V E R H ÄLT N I S Z W I S C H E N S A C H S E N U N D R U M ÄN E N I N S I E B E N B ÜR G E N 1910–1916 Stephanie D a n n e b e r g
Einleitung Das Verhältnis zwischen Siebenbürger Sachsen und Siebenbürger Rumänen von 1910 bis zur Kriegserklärung Rumäniens an ÖsterreichUngarn am 27. August 1916 ist die Geschichte einer zunehmenden Verschlechterung der Beziehungen zwischen zwei Bevölkerungsgruppen. Hierbei handelt es sich um die Verschärfung von national-politischen Gegensätzen, die damals vor allem über den beliebten Kommunikationsweg der sächsischen und der rumänischen Presse ausgetragen wurden, bis hin zu zunehmenden Auseinandersetzungen politischer und gesellschaftlicher Natur auf lokaler Ebene. 1905 gab die Rumänische Nationalpartei die Strategie der politischen Passivität, die sie bei den ungarischen Reichstagswahlen angewendet hatte, auf und kehrte zum Teil zum parlamentarischen Leben zurück. Die sächsische „Kronstädter Zeitung“ erörterte diese Strategie im Jahr 1900 wie folgt: „Darum wiederholen wir immer: weg mit der rumänischen Passivität, im Interesse der nicht magyarischen Völker, aber auch im allereigensten Interesse der rumänischen Brudernation.“1 Dieser Schritt führte jedoch keineswegs zu einer rumänisch-sächsischen Annäherung, denn 1901 erschienen auch Beiträge, die die Unmöglichkeit eines rumänisch-sächsischen Bündnisses darstellten, sei es innerhalb oder außerhalb des Parlaments: „Verschiedenheit der Sprache, des Glaubens und der Sitten sorgen schon genügend dafür, dass man sich nicht näher trete, als von Rasse wegen beiden Teilen gesund ist.“2 Die Interessenkonflikte beider Bevölkerungsgruppen blieben nicht nur unüberwindbar, sondern verstärkten sich zunehmend. An dieser Stelle seien die von beiden Seiten ins Feld geführten Leitsprüche „Sächsische Leistung versus rumänische Überzahl“ kurz erwähnt. Der siebenbürgisch-sächsische Nationalismus argumentierte 1 2
Die Politik der Rumänen. In: Kronstädter Zeitung, Nr. 302 v. 31.12.1900. Sachsen und Rumänen I. In: Kronstädter Zeitung, Nr. 175 v. 1.8.1901.
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u. a. mit den sächsischen „Leistungen“ in allen denkbaren Bereichen (kulturell, politisch und wirtschaftlich) sowie mit der „Lehrmeisterfunktion“ gegenüber den anderen Bevölkerungsgruppen Siebenbürgens. Allerdings hatten die Sachsen im politischen Leben einiges stark eingebüßt: Zum einem hatte das Nationalitätengesetz XLIV/1868 die Gleichberechtigung aller Bevölkerungsgruppen im Königreich proklamiert, sodass die Siebenbürger Sachsen den verschiedenen Nationalitäten der Monarchie gleichgestellt wurden, zum anderen wurde 1876 ihr Selbstverwaltungsgebiet, der Königsboden, aufgehoben; wirtschaftlich sahen sich die Sachsen mit dem kräftigen Erstarken der Magyaren und Rumänen insbesondere im städtischen Handwerk konfrontiert. Den sächsischen Leistungen stand die numerische Kraft der Rumänen gegenüber, die sich zumindest auf dem Königsboden als leistungsfähiger entpuppten, da ihnen nach Ansicht der Sachsen sächsische „Lehrmeister“ den Weg gezeigt hatten. Der Nationalismus der Rumänen beruhte zum großen Teil auf ihrer Überzahl: Wenn sie schon über 50 Prozent der Bevölkerung Ungarns ausmachten, erhoben die Rumänen auch proportionale Ansprüche, u. a. auf ein gerechteres Wahlrecht. Nun erfuhren sächsische „Leistung“ einerseits und rumänische „Überzahl“ andererseits glorreiche Stunden in den Jahren 1906/07 bei der Diskussion um die Einführung des allgemeinen Wahlrechts in Transleithanien. Vor dem Ersten Weltkrieg, der Siebenbürger Rumänen und Sachsen vor neue Herausforderungen stellte, wurden sowohl die Frage des allgemeinen Wahlrechts als auch die seit 1905 wiederholten Beitrittspakte der sächsischen Abgeordneten mit der ungarischen Regierungspartei maßgebend für das nationalpolitische Verhältnis zwischen Rumänen und Sachsen.
Die Verschärfung der nationalpolitischen Gegensätze zwischen Siebenbürger Sachsen und Rumänen bis zum Ersten Weltkrieg, 1910–1914 Ab dem Jahr 1910 verstärkte sich die Polemik um das Allgemeine Wahlrecht, da dieses im Programm der Rumänischen Nationalpartei im April desselben Jahres offiziell eingeführt wurde, während die ablehnende Haltung der Sachsen zur Demokratisierung des Wahlrechts freilich bestehen blieb. Die politische Überlegenheit der Sachsen im Königreich sollte zwar nicht nur den Rumänen gegenüber beibehalten werden, doch wirkte die numerische Kraft der Rumänen beunruhigend, so das „Siebenbürgisch-Deutsche Tageblatt“ im Januar 1910: „Der
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Romäne ist ein glühender Anhänger des Allgemeinen und gleichen Wahlrechts, weil er mit dessen Hilfe seine große Volkszahl besser zur Geltung kommen lassen will, während es dem Sachsen wiederum darum zu tun ist, daß sein hochkultiviertes Volkstum nicht von der Masse fremdnationaler Elemente verschlungen werde.“3 Auf die Sachsen wirkten sowohl die Frage des Allgemeinen Wahlrechts als auch die ersten Annäherungsversuche des Vorsitzenden der „Nationalen Arbeitspartei“, István Tisza, an die Rumänische Nationalpartei beunruhigend. Anlässlich der Gründung der neuen Regierungspartei „Nationale Arbeitspartei“ hielt Tisza im März 1910 eine bemerkenswerte Rede über die Nationalitäten. Einerseits sprach er von der „Einheit der politischen ungarischen Nation“, der man „nicht das Geringste nachgeben dürfe“, andererseits sagte er: „dann müssen wir aber guten Herzens die Tatsache akzeptieren, dass die ungarische politische Nation aus unseren Mitbürgern entstanden ist, die verschiedenen Volksrassen, Nationalitäten angehören. […] Doch wenn dies für jedermann gilt, für unsere romänischen Bürger gilt es doppelt.“4 Diese Rede rief einen Sturm der Entrüstung selbst unter den Anhängern Tiszas hervor und brachte die Sachsen dazu, ihre politische Bedeutung in Budapest zu überdenken. Dennoch war den Sachsen auch bewusst: Solange die Rumänen von der Wahl fast ausgeschlossen blieben, waren auch sie nicht bereit, Tiszas Appell an eine Versöhnung zu beachten. Die Antwort der rumänischen Zeitung „Tribuna“ (Arad) auf die „Zugeständnisse“ Tiszas war in dieser Hinsicht eindeutig: „Seine Rede hat die Rumänen nicht mitreißen können. […] Sie hat zu keinem Ergebnis geführt“5, denn einerseits vermittelte Tiszas Rede eine bessere Zukunftsmusik gegenüber den Nationalitäten, anderseits bekräftigte er den nationalen Charakter des ungarischen Staates. Zum einen plädierte er für eine Anerkennung des Rechtes der Nationalitäten auf Sprache, Religion und Kultur, betonte aber gleichzeitig die Unmöglichkeit einer Lockerung der bisher getriebenen ungarischen Politik. Die Rede István Tiszas stellt dennoch einen Meilenstein dar, da das Vorhandensein einer Nationalitätenfrage im Königreich Ungarn zum ersten Mal anerkannt wurde. Mit der „Sächsischen Volkspartei“ konnte sich István Tisza einigen, indem er deren politischen Führern die Autonomie ihrer Kirche sowie 3 Die Krone und das allgemeine Wahlrecht. In: Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt Nr. 10949 v. 8.1.1910. 4 Graf Tisza über die Nationalitäten. In: Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt Nr. 10996 v. 5.3.1910. 5 Discursul lui Tisza. In: Tribuna Nr. 42 (24 februarie / 9 martie 1910): „discursul său n’a putut seduce pe nimeni … față de noi, n’a isbutit“.
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deren schulischer Belange zusicherte. Die Sachsen schlossen somit 1910 einen Beitrittspakt mit Tiszas Regierungspartei, wie sie es bereits 1906 mit der Koalitionsregierung getan hatten. Dabei verurteilten die Rumänen den sächsischen bedingungslosen Beitrittspakt aufs Schärfste und taten ihn als „Betteln“ der sächsischen Abgeordneten ab6. 1910 wurde die Sächsische Volkspartei anlässlich der Reichstagswahlen stark erschüttert, als die Galionsfigur der Partei, Karl Wolff, in Hermannstadt (Sibiu, Nagyszeben) hinausgewählt wurde. Wie bedeutend Hermannstadt war, zeigt folgendes Zitat: „Was das Rom des alten römischen Reiches für Italien war, das bedeutet Hermannstadt für das Sachsenland.“7 Karl Wolff verlor „kampflos“ gegen einen anderen Sachsen – Rudolf Brandsch, knapp 30 Jahre alt und Führer der Gegenbewegung der Hermannstädter „Bürgerabende“. Rudolf Brandschs Wunsch nach einer Demokratisierung der Gesellschaft war nicht ausschließlich auf die Banater Schwaben und andere Nationalitäten ausgerichtet, sondern auch auf die nichtrepräsentierten sächsischen Unterschichten. In diesem Zusammenhang wies die „Kronstädter Zeitung“ auf die Notwendigkeit der Demokratisierung der Gesellschaft hin, da die Einführung des Allgemeinen und Geheimen Wahlrechts auch den sächsischen Unterschichten zugutekommen würde8. Vor allem sprach sich Brandsch gegen die alleinige Vertretung des Volkes durch den kleinen Elitekreis des sächsischen Zentralausschusses aus. Er gewann zwar 1910 ein Abgeordnetenmandat, wurde aber dennoch im Parlament isoliert, weil er den sächsisch-magyarischen Beitrittspakt gefährden konnte und als Freund der Rumänen galt. Brandsch hatte Kontakt zu den rumänischen Anhängern der „Werkstatt“, des Geheimkabinetts des Thronfolgers Franz Ferdinand, der dem Magyarentum ablehnend gegenüberstand. Eine Annäherung von politischen Kräften „am Rande“ war verständlicherweise in Budapest weniger gefürchtet als ein mögliches Bündnis zwischen Rumänischer Nationalpartei und Sächsischer Volkspartei. Brandsch hatte das höchste Prinzip und Gebot der alternden politischen Elite der Sachsen „Einheit und Einmütigkeit“ ins Wanken gebracht, und dies in Zeiten wachsender Gefahren: Das waren das Allgemeine Wahlrecht, der mit ihm verbundene Verlust der politischen Überlegenheit der Sachsen im Parlament sowie die an Leistung und Bedeutung gewinnenden Rumänen im Königreich. 6 Carl G ö l l n e r , Hans B a r t h : Die Siebenbürger Sachsen in den Jahren 1848–1918. Köln, Wien 1988, S. 215. 7 Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt Nr. 12280 v. 3.6.1914. 8 Arbeitsheimstätten. In: Kronstädter Zeitung Nr. 266 v. 16.11.1912.
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Diese Gefahren übertrugen sich von der politischen auf die gesellschaftliche Ebene. In zahlreichen Vereinen traten eine gewisse Abschottung nach außen und gleichzeitig das Bedürfnis der Stärkung nach innen zutage. Die sächsische Volksgemeinschaft sollte erhalten und gekräftigt werden, weshalb die Turnvereine in den Vorkriegsjahren verstärkt eine Wiederbelebung erfuhren, und die Gründungen deutscher Logen von Guttemplerorden (stets gefolgt von Gründungen rumänischer Logen), von Schutzvereinen und Jugendwehren mehrten sich. Diese Vereine hatten alle gemeinsam „auf die Gesundheit, die Rettung des einzelnen als Glied des Volkes, auf die Sitten, auf die körperliche Betätigung“ zu achten9. Für den Vorstand des Reener Turnvereins Czikeli bedeuteten „die Ideale des Turnens“, wie er 1913 sagte, „weit mehr als nur die Pflege bestimmter Körperübungen, zugleich die Ideale einer gesunden, männlich-ethischen Lebensführung in sich fassend, stets die treibenden Kräfte in der gesunden Entwicklung deutschen Lebens gewesen sind und heute noch sind“. Dabei bezog er sich auf „den Anteil des deutschen Turnens an der gewaltigen Erhebung von 1813“10. Die Abschottung nach außen galt nur den mitwohnenden Bevölkerungsgruppen Siebenbürgens, denn die Nähe zum „Mutterland Deutschland“ nahm in den sächsischen Vereinen deutlichere Töne an: Obwohl Bischof Teutsch 1910, von den Sachsen sprechend, meinte, dass sie „niemals die Hoffnung auf irgend eine staatliche Verbindung“ suchten, und dass bloß „die Geistes- und Kulturgemeinschaft mit dem deutschen Volk bisweilen schwärmerische Formen angenommen hatte“11. Die sächsischen Vereinstage – wie jene des Jahres 1910 in Schäßburg (Sighișoara Szegesvár), wo der Gustav-Adolf-Verein dem siebenbürgischen Landeskundeverein die Show stahl – schienen auch Ausdruck dieser Entwicklung zu werden. Die Völkerschlacht bei Leipzig wurde im Oktober 1913 unter den sächsischen Vereinen, in den sächsischen Schulen oder in der sächsischen Presse mit großem Pomp und Prunk gefeiert12, denn das große Ereignis sollte die Begeisterung der Siebenbürger Rumänen anlässlich
9 Fahnenweihe unserer Jugendwehr. In: Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt Nr. 12144 v. 15.12.1913. 10 Siebenbürgisch-sächsischer Turntag in Sächsisch-Regen. In: Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt Nr. 12283 v. 6.6.1914. 11 Die Siebenbürger Sachsen als Volksindividualität (nach einem Aufsatz des Bischofs F. T e u t s c h im Märzheft der Zeitschrift „Das Deutschtum im Ausland“). In: Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt Nr. 11024 v. 8.4.1910. 12 Die große Schlacht bei Leipzig am 18. Oktober 1913. In: Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt Nr. 12082 v. 3.10.1913.
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der Abwicklung der Balkankriege (Friedensvertrag von Bukarest vom 10. August 1913) möglichst übertönen.
Das Jahr 1913 und die Zuspitzung der Gegensätze Die Entwicklungen, die viele der sächsischen Vereine in den Vorkriegsjahren erlebten (nach außen abgrenzen und nach innen festigen), waren vor allem ein Hinweis auf einen sich ethnisierenden Alltag. Das Jahr 1913 schien in manchen Städten und Dörfern sowie in bestimmten Gesellschaften eine Entwicklung der anderen Art anzubahnen, und das Verhältnis zwischen Sachsen und Rumänen schien da und dort zu kippen. In Hermannstadt, wo man mit Vorsicht von einem relativ friedlichen Nebeneinander sprechen konnte, kam es zu spürbaren Differenzen. Die seit Jahren organisierten Spenden-Veranstaltungen des Hermannstädter Christbescherungsvereins („ohne Unterschied der Konfession und der Nationalität“), seit der Gründung stets von allen Hermannstädter Gesellenvereinen unterstützt, fanden 1913 erstmals ohne den rumänischen Gesellenverein statt. In Petersberg bei Kronstadt, wo traditionell seit Gründungszeiten sowohl Siebenbürger Rumänen als auch Sachsen dem dortigen Gewerbeverein angehörten, sah die Vereinsleitung im Jahr 1913 ihre Mitgliederzahl drastisch fallen, als alle rumänischen Mitglieder im „beiderseitigen Interesse“ aus dem Verein ausschieden. Die Liste charakteristischer lokaler Beispiele ist lang: Es hatte sich dabei zwar nicht um Feindseligkeit gehandelt, doch trat der Ausdruck ethnischer Abgrenzung vor allem von sächsischer, aber auch von rumänischer Seite zutage. Die belastende Stimmung fand immer den Weg in die Presse, wenn z. B. das „SiebenbürgischDeutsche Tageblatt“ im Oktober 1913 Folgendes mitteilte: „Die Kronstädter ‚Gazeta Transilvaniei‘, die sich früher durch Besonnenheit und Loyalität ausgezeichnet hat, scheint sich seit einiger Zeit immer mehr und mehr zu einem Ablagerungsplatz von allerlei Ausdrücken unfreundlicher, ja geradezu gehässiger Gesinnung gegen uns Sachsen auszuwachsen.“13 Unter den lokal verankerten Ereignissen, die das zwar zeitlich begrenzte, dennoch jähe sächsisch-rumänische Gegeneinander aufheizten, stand die Polemik um die öffentliche Aufstellung der Büste des rumänischen Publizisten und Historikers George Barițiu in Hermannstadt. Mit ihr verbunden war die Affäre der Dotation zugunsten der Hermannstädter rumänischen Schulen, denn diese beiden Brennpunkte wurden in der rumänischen und sächsischen Presse wochenlang 13 Aus romänischen Blättern. In: Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt Nr. 12101 v. 25.10.1913.
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kontrovers und polemisch diskutiert. So behauptete der „Telegraful Român“ Ende 1913, die Rumänen hätten für die Aufstellung der Büste Barițius „von den Sachsen“ keinen Platz im Stadtpark bekommen; der Stadtmagistrat von Hermannstadt wolle die städtische Subvention der rumänischen Schulen nicht erhöhen, und die Hermannstädter Polizei „fahnde auf die romänische Trikolore“14. Das Blatt behauptete auch, dass „gewisse feindliche Tendenzen der Sachsen aus der neueren Zeit“ bewiesen hätten, dass die Sachsen „die Grenzen des Kampfes für ihre eigenen Interessen“ verlassen hätten und nun anfingen, „eine Politik der Gewalt gegenüber den Romänen zu treiben“, worauf das „Siebenbürgisch-Deutsche Tageblatt“ prompt antwortete: „Wenn nun das Blatt aus seinen unwahren Behauptungen die Folgerung zieht, die Romänen würden in Zukunft mit rücksichtslosem Kampfprinzip auftreten, so kann uns das als Drohung kalt lassen, […] und so sollten auch die romänischen Kreise eher darauf hinwirken, daß das jetzige gütliche Einvernehmen nicht gestört werde.“15 Für eine Analyse des Verhältnisses zwischen Sachsen und Rumänen sind weitere Fragen von Bedeutung, etwa ob das Jahr 1913 bloß eine Eskalation der sich seit 1910 zuspitzenden Gegensätze zwischen Sachsen und Rumänen darstellte, ob die Rumänen tatsächlich durch den Ausgang der Balkankriege eine Portion Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein errungen hatten oder ob die Sachsen gekränkt waren, weil Tisza 1913 erneut Ausgleichsverhandlungen mit den Rumänen aufnahm. Tisza bekannte sich Ende 1913 nämlich zur Möglichkeit, „Staats- und Volkstreue miteinander zu vereinbaren“, und stellte fest, „daß zwischen der rumänischen und ungarischen Nation eine Interessenharmonie besteht“16. In der Tat: Je höher das Ansehen der Rumänen auf der politischen Bühne bzw. anlässlich Tiszas Versöhnungstaktik wurde, desto schwieriger und distanzierter wurde die Verbindung zu den Sachsen. Die Angst um den Verlust der politischen Bedeutung im Königreich drückte Friedrich Teutsch wie folgt aus: „So wird immer das Verhältnis zu den Rumänen als ein sehr schwieriges Problem auch die nächste Zeit erfüllen, besonders wenn der jetzige wirtschaftliche Kampf mit ihnen durch den politischen erweitert wird, der im selben Augenblick heftiger werden wird, wo sie, ausgesöhnt mit den Verhältnissen oder nicht, entschlossen in das politische Leben 14 Wünschen die Sachsen einen magyarisch-romänischen Ausgleich? In: Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt Nr. 12080 v. 1.10.1913. 15 Ebenda. 16 Friedrich T e u t s c h : Die Siebenbürger Sachsen in Vergangenheit und Gegenwart. Leipzig 1916 (Schriften zur Erforschung des Deutschtums im Ausland 1), S. 305.
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einzugreifen beginnen. Das wird kaum ohne neue politische Verluste der Sachsen abgehen.“17 Zwischen Sachsen und Rumänen gestaltete sich die erste Hälfte des Jahres 1914 als eine Verlängerung des Jahres 1913, in einem Klima des Misstrauens und der Skepsis. Hinzu kam die Agitation der rumänischen Kulturliga in Bukarest, die die sächsische Presse hart verurteilte. Dabei unterschätzte jene die Rolle Rumäniens für den Dreibund, denn es wäre „naiv zu glauben, die Monarchie und der Dreibund seien unbedingt und unter allen Umständen auf Rumänien angewiesen“18. Rumänien stand schon längst im Fokus der europäischen Bündnisse, und Siebenbürgen war dabei, eine zentrale Rolle zu erringen: Man wartete dies- und jenseits der Karpaten auf den Ausgang der Verhandlungen Tiszas mit den Siebenbürger Rumänen. Die gesamte ungarische politische Klasse verurteilte diese Gespräche, und so verlangte etwa der Abgeordnete Graf Albert Apponyi eine gleichmäßig gerechte Behandlung der gesamten Bevölkerung ohne Bevorzugung. Aufgrund Tiszas Versöhnungspolitik gegenüber den Rumänen entstanden allerlei Gerüchte: Apponyi verkündete im Namen der Opposition im ungarischen Parlament über den Zeitpunkt der Verhandlungen, dass die Aktion Tiszas eben durch außenpolitische Rücksichten auf Rumänien veranlasst worden sein müsste19. Auch behauptete die Opposition, dass der Thronfolger Franz Ferdinand gegen eine Vereinbarung der Rumänen mit der Regierung Tisza sei20. Zahlreiche weitere Gerüchte fanden im März und April 1914 den Weg in die Presse, wie jenes eines bevorstehenden Krieges, „Svonuri despre a răscoală a Românilor din Ardeal“, der Siebenbürger Rumänen im Klausenburger Komitat21. 17
Ebenda, S. 309. Törichte Hetzereien. In: Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt Nr. 12230 v. 1.4.1914. 19 Aus dem Reichstage. Abgeordneter Graf Albert Apponyi. In: Pester Lloyd Nr. 13 v. 15.1.1914: „Vergebens leugnet man, daß diese Frage mit der auswärtigen Lage und mit den österreichischen Bestrebungen in Verbindung stünde. Die zeitliche Koinzidenz stelle die Tatsachen so hin, daß diese Frage mit dem Anwachsen der Macht Rumäniens und mit den in Österreich herrschenden Tendenzen eng zusammenhängt und daß ein Druck ausgeübt wird, dem die ungarische Regierung nicht aus dem Wege gehen kann.“ 20 Vom Tage. Die „Reichspost“ über die Rumänenfrage. In: Pester Lloyd Nr. 13 v. 15.1. 1914: „Um die Verständigung mit den Rumänen der jetzigen ungarischen Regierung zu erschweren, streut man in den Kreisen der Opposition die Behauptung aus, dieses Werk könne nicht zustande kommen, da der Erzherzog Thronfolger Franz Ferdinand, zu dem die Rumänen mit großer Verehrung und mit Vertrauen aufschauen, gegen eine Vereinbarung der Rumänen mit der Regierung Tiszas sei und an diesem Widerstande sicherlich die Bemühungen des Grafen Tisza scheitern würden.“ 21 Svonuri despre o răscoală a Românilor din Ardeal [Gerüchte über einen Krieg der Siebenbürger Rumänen]. In: Românul 64 (20 martie/2 aprilie 1914). 18
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Letztendlich scheiterten die Verhandlungen Tiszas mit der Rumänischen Nationalpartei im Februar 1914 an der Nichtdemokratisierung des Wahlgesetzes und der Wahlkreiseinteilung in Ungarn; ohne eine gerechtere politische Vertretung der Rumänen im Königreich konnte aber kein Modus Vivendi erfolgen22. Auf Seiten der Sachsen erkannte man den Grund für das Scheitern der Einigung und lobte dabei die Sachlichkeit der rumänischen politischen Elite. Auch die Sachsen standen in keinem guten Einvernehmen mit Tisza, der ihnen im Parlament mit Konsequenzen drohte, falls sie eine allgemeine Bewegung der Deutschen Ungarns unterstützen würden.
Sachsen und Rumänen im Ersten Kriegsjahr 1914: Von euphorischen Loyalitätskundgebungen und Katharsis Das Attentat auf das Thronfolgerpaar in Sarajewo am 28. Juni 1914 füllte erwartungsgemäß die Titelseiten der siebenbürgisch-rumänischen Presse. Die Bestürzung unter den Rumänen war groß, da sie mit dem Hinscheiden Franz Ferdinands ihren Hoffnungs- und Zukunftsträger verloren hatten. Das „Siebenbürgisch-Deutsche Tageblatt“ betitelte seine Ausgabe vom 1. Juli 1914 dagegen mit „Wahl oder Ernennung der Komitatsbeamten“. Auch in der Ausgabe vom 2. Juli errang das Attentat auf Franz Ferdinand keine Titelseite, und erneut füllten die Konsequenzen der damaligen Verwaltungsreform für Siebenbürgen die erste Seite. Das Attentat wurde in dem sächsischen Blatt lediglich in einer Sondernummer sowie in mehreren kleineren und sekundären Artikeln behandelt („Der Tod des Thronfolgers und die Börse“, „Zum Hinscheiden des Thronfolgerpaares Franz Ferdinands“, „Die Straßenunruhen in Sarajevo“). Eigentlich hatten die Sachsen bzw. die Sächsische Volkspartei keine Kontakte zum Thronfolger und zur „Werkstatt“ gepflegt (im Gegensatz zu den Rumänen). Die wenigen Sachsen, die dem Thronfolger näherstanden und gleichzeitig auch für einen Anschluss der Sachsen an die anderen Deutschen des ungarischen Königreichs plädierten, waren u. a. die Abgeordneten Wilhelm Copony und Rudolf Brandsch, die 1914 von István Tisza aufgefordert wurden, ihre Mandate niederzulegen und zukünftig „die Hände von den Schwaben wegzulassen“23, und darauffolgend gebeten wurden, die Sächsische Volkspartei zu verlassen24. 22
Românul 30 (7/20 februarie 1914). Kronstädter Zeitung: Festausgabe zum hundertjährigen Bestehen, Sonntag, den 24.5.1936. Starnberg 1990, S. 97. 24 Der Austritt der sächsischen Abgeordneten Wilhelm Copony und Rudolf Brandsch aus der Nationalen Arbeitspartei. In: Kronstädter Zeitung Nr. 72 v. 30.3.1914. 23
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Am 28. Juli 1914 erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg und wenige Tage später folgten die gegenseitigen Kriegserklärungen der Mittelmächte und der Entente. Angesichts des Enthusiasmus, der Euphorie, gar des „frenetischen Beifalls“ ließ sich das „SiebenbürgischDeutsche Tageblatt“ auf einen ernsthafteren Ton ein, und zwar in der Nummer vom 1. August 1914: „Österreich-Ungarn und Deutschland auf der einen Seite, Russland und Frankreich andererseits stellen sich zum Kriege bereit.[…] Es handelt sich ja um Millionen von Menschenleben, die auf dem Feld der Schlacht gegeneinander abgewogen werden […].“25 Ansonsten war lediglich die Rede vom „gerechten“ oder gar „heiligen“ Krieg, der überall in Ungarn patriotischen Enthusiasmus im begeisterten Volk hervorrief. Ob es sich in der siebenbürgischen Presse allgemein um Propaganda oder um reale Begeisterung der Bevölkerung für den Krieg handelte, ob man sich wahrlich mit Freude von seiner Familie und den Vertrauten verabschiedete, um sich ins Ungewisse zu stürzen, darüber lässt sich streiten. Der brave Sachse oder Rumäne folgte dem Mobilisierungsbefehl und stellte sich zur Verteidigung Österreich-Ungarns bereit. Tisza „verweist mit Stolz auf die Begeisterung der Nation ohne Unterschied der Nationalität. […] Die ganze Nation folgt dem Rufe des Königs“, schrieb das rumänische Blatt „Telegraful Român“, wobei der Rumäne – so das Organ – „nicht mehr auf die vergangenen Jahre der Unterdrückung, sondern nun hoffnungsvoll in die Zukunft“ blicke26. Auf einmal wurden die Rumänen, die man in der Budapester Presse der vergangenen Monate wieder zu „Walachen“ herabgesetzt hatte, in höchsten Tönen gelobt: „Freude, Genugtuung und Anerkennung über die Haltung der einberufenen rumänischen Reservisten“, äußerte István Tisza Anfang August 191427. Im August und September 1914 erreichten zahlreiche rumänische Kundgebungen und Hirtenbriefe Budapest, so zum Beispiel in Diemrich (Deva, Déva), wo die Angehörigen der dortigen rumänischen Oberschicht eine Erklärung über ihre „unerschütterliche Königstreue und Vaterlandsliebe“ zahlreich unterschrieben28. Der Bischof von Caransebeș (Karansebesch, 25 Vorbereitungen zum Weltkrieg. In: Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt Nr. 12330 v. 1.8.1914. 26 Die Kriegserklärung an Serbien. In: Telegraful Român, zitiert im SiebenbürgischDeutschen Tageblatt Nr. 12327 v. 29.7.1914; Soldatul român. In: Românul Nr. 154 (15/28 iulie 1914): „Ne uităm toate năcazurile, toate umilirile, și toate durerile îndurate de veacuri. Mergem senin și hotărâți, înainte, într’un răsboi, pe care nu l’am provocat, și asupra căruia nu am fost întrebați. […] Iertăm trecutul, și aducem aceste jertfe, fără cel mai mic gând ascuns, în nădejdea unui viitor mai omenesc!“ 27 Tisza și Românii. In: Românul Nr. 160 (22 iulie/4 august 1914). 28 Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt Nr. 12331 v. 3.8.1914.
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Karánsebes), Miron Cristea, wandte sich an die Gläubigen, indem er, den Krieg gegen Serbien für gerecht erklärend, sie zur Treue und Loyalität für Thron und Vaterland aufforderte. In den siebenbürgischen Städten bemühte man sich um ein zivilgesellschaftliches Miteinander „ohne Unterschied von Nationalität und Konfession“, als hätte sie der Krieg untergraben. Ende Juli 1914 unterschrieben u. a. der Bischof Friedrich Teutsch, die Bankdirektoren Karl Wolff und Partenie Cosma, der griechisch-orthodoxe Metropolit Johann Metianu, der Anwalt Johann von Preda, sowie auch der römisch-katholische Stadtpfarrer Hohenlohe und der Ministerialrat Stefan von Kedves gemeinsam folgenden Aufruf: „Im Gefolge des Krieges, ja schon im Gefolge der Vorbereitungen zum Krieg, der unserer Monarchie aufgezwungen worden ist, schreiten mannigfache Sorgen und große Not einher. […] Die Unterzeichnenden richten an sämtliche Mitbürger nicht nur unserer Stadt die herzliche Bitte, […] Mittel zu spenden.“29 Gemeinsam unterschriebene Aufrufe zu Hilfsaktionen zugunsten der Soldaten und deren Familien wurden bereits Ende Juli in allen Zeitungen der wichtigsten siebenbürgischen Städte veröffentlicht. Der Hermannstädter Stadtpfarrer Schullerus verfasste einen Appell an die Vertreter aller Hilfs- und Wohltätigkeitsvereine der Stadt, worauf ein Treffen und ein gemeinsames Vorgehen der sächsischen und rumänischen, auch der magyarischen und jüdischen Frauenvereine erfolgte, später auch in Kronstadt30. Sogar sächsische und rumänische Banken sowie Kreditinstitute wandten sich gemeinsam an ihre Kundschaft, um in ihnen Vertrauen zu wecken und zu verhindern, dass aufgrund des Krieges Panik in der Bevölkerung ausbreche und Bankkonten leergeräumt würden. Ende Oktober 1914 berichtete die Redaktion der rumänischen „Revista economică“ über die Angst zahlreicher rumänischer Familien Ungarns vor Krankheiten, Epidemien und Hungersnot. Unter den Daheimgebliebenen traf der Krieg die Rumänen schwerer als die Sachsen. Die Zeitschrift ermahnte die Rumänen am Beispiel der Sachsen zur Selbstorganisation: „Unsere sächsischen Mitbewohner, so gut organisiert in jeder Hinsicht. Und wir sehen ihre Wirtschaftsvereine erfolgreich arbeiten, mit Zweigen in jedem Dorf.“31 Zwischen Sachsen und Rumänen herrschte in der zweiten Hälfte des Jahres 1914 nicht nur ein Klima des gegenseitigen Respekts und 29 Arad, 5 august 1914. Pentru cei de-acasă! [An den Daheimgebliebenen!]. In: Românul 162 (24 iulie/6 august 1914). 30 Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt Nr. 12336 v. 8.8.1914. 31 „Cum să ne ajutăm?“ [Wie können wir uns helfen?]. In: Revista economică Nr. 44 v. 31.10.1914.
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der Anerkennung, des Bedürfnisses nach einem gemeinsamen Vorgehen, sondern auch Einvernehmen, was den sicheren Sieg des Krieges anbelangte. Als hätte der Krieg das sächsisch-rumänische Misstrauen und die Diskordanz, ja sogar die Nationalitätenfrage weggewischt, als würde der Krieg eine Erfahrung der Katharsis mit sich bringen. Von Stolz erfüllt gab die „Kronstädter Zeitung“ einen Artikel des offiziellen Blattes der Rumänischen Nationalpartei, „Românul“, vom August 1914 wieder, der wie folgt lautete: „In diesem chaotischen Gären zeigt sich ein einziger fester Punkt, ein Granitfelsen mitten in wogendem Meere: … Deutschland. […] der ‚Furor Teutonicus‘ ist erwacht.“
Sachsen und Rumänen Siebenbürgens angesichts der schwankenden Neutralität Rumäniens gegenüber dem Dreibund, 1915–1916 Die Begeisterung für den Krieg verflog, nachdem die Meldungen über die ersten Gefallenen eingetroffen waren. Ebenso verhielt es sich mit dem guten Einvernehmen, denn für manche habe es ein solches gar nie gegeben. So schrieb Harald Roth über Kronstadt (Brașov, Brassó): „Viele der Obervorstädter Rumänen hatten – tendenziell anders als viele Rumänen Siebenbürgens – von Anbeginn einen Loyalitätenkonflikt, nicht wenige entzogen sich der Einberufung durch Flucht über die Karpaten.“32 Die in der Presse beschworene Begeisterung und die Loyalitätskundgebungen machten bereits 1915 Unsicherheit und Misstrauen Platz. König Carol hatte bei Kriegsbeginn die wohlwollende Neutralität Rumäniens gegenüber den Mittelmächten zwar versichert, aber was wäre, wenn rumänische Truppen die Karpaten überquerten? Was, wenn die Siebenbürger Rumänen, die in ganz Siebenbürgen und im Banat verstreut waren, sich plötzlich gegen Ungarn erhöben? Was, wenn das Stammesgefühl stärker würde als das Staatsgefühl? In den „Kirchlichen Blättern“ vom Februar 1915 relativierte man diese Befürchtungen: „die ungarländischen und Bukowinaer Rumänen – abgesehen von vereinzelten auch dort auftretenden Hetzern – betonen auf das entschiedenste ihre unentwegte Treue zum Herrscherhause und ihrem Vaterlande. […] Trotz der durch die Lage gebotenen militärischen Vorbereitungen sind wir der festen Überzeugung, daß es gar nicht zu einer Mobilisierung im eigentlichen Sinne des Wortes kommen, sondern dass Romänien bis zum Ende des Weltkriegs seine
32 Harald R o t h : Kronstadt in Siebenbürgen. Eine kleine Stadtgeschichte. Köln, Weimar, Wien 2010, S. 200.
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Neutralität nicht verlassen wird.“33 Wie wohlwollend allerdings die Sachsen sich gegenüber den Siebenbürger Rumänen verhielten, kommt in einer anderen Nummer der „Kirchlichen Blätter“ (Juni 1915) klar zum Ausdruck. Als „wichtigste Vorarbeit für den Frieden“ nannte der zukünftige Bischof Friedrich Müller die „Innerkolonisation“, „um die Verdrängung durch die Romänen wirklich allgemein zum Stillstand zu bringen“34. 1915 verstärkten sich die Spannungen zwischen den Mittelmächten und Rumänien. Das Deutsche Reich übte weiterhin Druck aus, wobei der Kriegseintritt Rumäniens an der Seite der Mittelmächte eher erwartet wurde als dessen Neutralität. Zur Erfüllung dieser Erwartung verhandelte der Sonderbeauftragte Berlins, Matthias Erzberger, in Budapest und Wien mit den Vertretern der Rumänischen Nationalpartei, die bis dato zur Einstellung ihrer Tätigkeit gezwungen worden waren. Die Leitung der Partei hielt weiterhin am Autonomieprogramm und am Allgemeinen Wahlrecht fest und konnte nur über eine föderative Umgestaltung der Monarchie verhandeln, wovon István Tisza natürlich nichts wissen wollte. Rumänien unterzeichnete am 17. August 1916 einen Bündnisvertrag mit der Entente, der ihm die Vereinigung mit Siebenbürgen, dem Banat und der Bukowina zusicherte, worauf die rumänische Armee in der Nacht vom 27. auf den 28. August die Karpatenpässe überquerte. Obwohl der rumänische Angriff ganz Ungarn erschütterte und Siebenbürgen in Panik versetzte, zweifelte man weniger am Zurückschlagen der rumänischen Truppen als am Verhalten der Siebenbürger Rumänen. Die Rumänische Nationalpartei befand sich in einer schwierigen Lage und schwankte zwischen Verurteilung des Angriffs auf Siebenbürgen und Stillschweigen. Mit der rumänischen Intelligenz, so der Obergespan des Komitats Hermannstadt, „können wir im großen und ganzen zufrieden sein“.
Ausblick Einen Einblick in das Geschehen des sächsisch-rumänischen Verhältnisses nach August 1916 liefern die zwei folgenden Texte von Tibor J. Rejöd und Wilhelm Morres. Beide Texte reflektieren das gespaltene Verhältnis, das von einem Neben-, manchmal Mit- und – in schwierigen Stunden – vom Gegeneinander geprägt war. Interessant dabei ist die unterschiedliche Darstellung der Verhältnisse, je nachdem ob 33 Aus dem Bukarester ev. Gemeindeblatt vom 24.1. In: Kirchliche Blätter Nr. 6 v. 6.2.1915. 34 Vorarbeit für den Frieden. In: Kirchliche Blätter Nr. 28 v. 3.7.1915.
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es sich um das „friedlichere“ Hermannstadt oder um Ortschaften des Kronstädter Komitats handelte, in dem die sächsisch-rumänischen Beziehungen von Misstrauen bis zu Feindseligkeit geprägt waren. Das blutige Schwert über unserer Stadt Tibor J. Rejöd35 (Hermannstadt) 15. September „Wir waren bei einem Begräbnis im evangelischen Friedhof. Die Mutter des Bürgermeisters wurde zu Grabe getragen. Traurig klangen die Töne des kleinen Harmoniums, die Kapelle füllte sich mit Teilnehmenden; Dr. Schullerus sprach ein Gebet; seine Stimme zitterte. Gegen Abend erhielten wir die Nachricht, daß die griech.-orientalischen Geistlichen sich aus der Stadt entfernen. Die Regierung berief sie nach Großwardein. Wir bedauern es allgemein. Die verhängnisvollen Tage brachten uns in ein freundschaftliches Verhältnis mit den Herren Dr. Preda, Tritean und dem griechisch-orientalischen Pfarrer Stoia, in dem wir eines der besten Mitglieder der Bürgerwehr verloren.“ 28. September „Es gibt viele Nationalitäten bei uns, aber unser Vaterland ist eins. Die Schlacht bei Hermannstadt ist das Symbol bessern Einverständnisses der Nationalitäten und einer friedlichen Zukunft. Das hier vergossene kernmagyarische Blut ist das Pfand der Zukunft!“ Aus „Kronstadt und Großrumänien“ Wilhelm Morres36 Neustadt „Die Romänen des Ortes sahen diesen wilden Auswandererstrom mit größter Ruhe vorbeibrausen, und was noch zu retten war, das retteten sie für sich. Solche aber, die ihr Häuschen am Ende des Dorfes mit verloren hatten, besetzten ohne weiteres die verlassenen behäbigen Sachsenhöfe. […] Sehr bezeichnend für die Romänen ist, daß z. B. in Rosenau der verlassene sächsische Pfarrhof sofort vom dortigen romänischen Pfarrer ‚belegt‘ wurde.“ 35 Tiborr J. R e j ö d : Das blutige Schwert über unserer Stadt. Tagebuchaufzeichnungen vom 28. August bis 1. Oktober 1916. Hermannstadt 1916, S. 33 u. 48. 36 Wilhelm M o r r e s : Kronstadt und Großrumänien. In: Aus der Rumänenzeit. Ein Gedenkbuch an sturmbewegte Tage. Zugunsten der siebenbürgisch-sächsischen Kriegswitwen und -waisen. Hg. Emil S i g e r u s . Hermannstadt 1917, S. 85–88.
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Kronstadt „Der Rumäne ist da, und Kronstadt ist ihm verfallen! … durch einen Boten wird der Bürgermeister heraus beordert; die Stadt soll übergeben werden … Bald erscheint der Bürgermeisterstellvertreter an der Spitze einer Abordnung vor der Blumenau und erwartet dort den einziehenden Feind. Der Oberst Darvari hält vor ihm, hoch zu Roß, und vernimmt kopfnickend die deutsche Ansprache, die um Schutz bittet für Leben und Eigentum der wehrlosen und friedfertigen Bürgerschaft. Auf die Wiederholung der Ansprache in rumänischer Sprache von dem Kronstädter Arzt Dr. Baiulescu erwidert der Oberst, sie kämen nicht als Barbaren, sondern als Krieger und wollen die Stadt und ihre Bevölkerung jeder Nationalität und Konfession nach Möglichkeit vor Unfall und Schaden bewahren; […] sodann fordert er die Stellung von Geiseln, in erster Linie magyarische und nur sofern die Zahl nicht voll würde, auch sächsische Männer […]. Vor dem Finanzgebäude sieht man eine größere rumänische Wache bei einem ausgebreiteten Lager von Spitalseinrichtung stehen, die unser Militär leider nicht mehr verladen konnte. Bald sammelt sich rumänisches Vorstadtvolk und es dauert nicht lange, so gibt das rumänische Militär die Sachen frei, das Volk greift behend zu und rasch entwickeln sich ganze Karawanen, die alles irgendwie Brauchbare verschleppen. Das ist das Signal zu all den Beutezügen, die das Raubgesindel hinfort mit und ohne Hilfe des rumänischen Militärs auf verlassene Wohnungen unternimmt.“
„Z W E I S E E L E N F ÜH L I C H [,] A C H [!] I N M E I N E R B R U S T …“1 Siebenbürgische Abgeordnete und Debatten im ungarischen Parlament 1914–1918 Enikő D á c z
Einleitung Das ungarische Abgeordnetenhaus zu Beginn des 20. Jahrhunderts kann schwer in die Typologie von Armin Burkhardt eingeordnet werden, der zwischen demokratischem Diskussions-, Alibi-, Arbeits- bzw. Kampf-, Schein-, Akklamations-, Interim- und demokratischem Parteien- oder Schaufenster-Parlament unterscheidet2. Die ideologischen Grundgegensätze in der Budapester Politik führten zur Einschränkung der Kompromissfähigkeit der Akteure, was teilweise heftige (bis hin zu aggressiven) Diskussionen im Plenum nach sich zog, so dass man über ein Arbeits- und Kampfabgeordnetenhaus sprechen könnte. Zugleich wurden die Entscheidungen in Ausschüssen getroffen, was die Bezeichnung Parteien- und Schaufenster-Parlament passend erscheinen ließe. Unabhängig davon, welcher dieser Termini gewählt wird, weisen die geeigneten Alternativen auf die Repräsentationsbzw. Legitimitätskrise des Systems hin, die sich am auffälligsten in der andauernden Obstruktion der Opposition manifestierte. Diese blockierte die parlamentarische Arbeit immer wieder und, als sie 1905 die Wahlen gewann und 1906 in der Koalitionsregierung an die Macht kam, konnte sie den zuvor selbst generierten Radikalismus nicht mehr entschärfen: Das „Hohe Haus“ blieb als öffentliche Bühne der ungarischen Politik, auf der die Reden notwendigerweise symbolische und legitimierende Kraft erlangten, dennoch von maßgebender Bedeutung. 1 Képviselőházi napló 1910 [Tagebuch des Abgeordnetenhauses]. XL. 1918. június 25 – július 19 [25.6.–19.7.1918]. Budapest 1918, unter http://www3.arcanum.hu/onap/a110616. htm?v=pdf&a=pdfdata&id=KN-1910_40&pg=0&l=hun, S. 171 (27.4.2014). Original auf Deutsch. 2 Vgl. dazu Armin B u r k h a r d t : Das Parlament und seine Sprache. Studien zu Theorie und Geschichte parlamentarischer Kommunikation. Tübingen 2003 (Germanistische Linguistik 241), S. 4–9.
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So lässt sich Richard Thomas’ Aussage über das deutsche Parlament 1925 auch auf das ungarische vor dem Ersten Weltkrieg übertragen: „öffentliche Diskussionen im Plenum bedeuten zwar nichts mehr für dieses [Kabinett], wohl aber für die Meinungsbildung außer ihm, indem sie von Journalisten und andern Politikern gelesen und bewusst oder unbewusst erwogen werden“3. Im Gegensatz zum österreichischen Parlament, das nach dem Kriegsausbruch wegen des Misstrauens gegenüber den Nationalitäten nicht zusammengerufen wurde, setzte das ungarische seine Arbeit fort4. Für ein paar Monate schien die neue Situation sogar die Konflikte zwischen den Parteien und Nationalitäten aufzuheben, denn die Rumänische Nationalpartei gab nach eigenen Angaben „ihre Tätigkeit auf“5. Der anfängliche Enthusiasmus konnte jedoch nicht zur langfristigen Lösung der alten Konflikte beitragen. In dieser Situation rückte Siebenbürgen als multiethnischer Raum, in dem die Rumänen die Mehrheit hatten und konkurrierende nationale Diskurse bzw. Ansprüche parallel existierten, immer wieder ins Zentrum heftiger parlamentarischer Debatten – besonders nach der rumänischen Kriegserklärung und dem Vorstoß der Rumänen im Jahr 1916, als sich die Konfliktlinien weiter verhärteten. Die neue Situation erforderte auch neue parlamentarische Strategien, die abhängig von den politischen Zielen divergierende Signale an die eigene Wählerschaft und die Regierung abgaben. Ausgehend von der These, dass politische Sprache Symptom politischer Entwicklungen ist6, stellen sich in diesem Kontext die Fragen, wie sich die rumänischen bzw. sächsischen Vertreter symbolisch und sprachlich zu Krisenzeiten legitimierten, wie sich die Ereignisse an der Front auf Positionen sowie Redeweisen der siebenbürgischen Abgeordneten auswirkten, wie die allgemeinen siebenbürgischen Interessen von den entsandten Abgeordneten im Plenum repräsentiert wurden, und wie die siebenbürgischen ungarischen, rumänischen bzw. sächsischen Parlamentarier zueinander standen. Die Antworten lassen sich aufgrund ausgewählter parlamentarischer Reden finden. Bevor diese behandelt werden, ist in einem ersten Schritt zu klären, wer Siebenbürgen beim 3
Ebenda, S. 204. Manfried R a u c h e n s t e i n e r : Die Entfesselung des Krieges: In: d e r s . : Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburger Monarchie. „Gott sei Dank, das ist der große Krieg!“ Wien, Köln, Weimar 2013, S. 121–202, hier 154. 5 Siehe die Rede des Abgeordneten Tivadar Mihali am 7.12.1917, vgl. Sándor B a l á z s : Román képviselet a dualista Magyarország parlamentjében. Beszédek [Rumänische Repräsentation im Parlament des dualistischen Ungarn. Reden] (1910–1918). Kolozsvár 2010, S. 259. 6 B u r k h a r d t : Das Parlament und seine Sprache, S. 4. 4
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Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Parlament repräsentierte bzw. welchen Status diese Abgeordneten im politischen Leben hatten.
Das Hohe Haus und die siebenbürgischen Deputierten Die europaweiten parlamentarischen Entwicklungen der Vorkriegszeit (1870–1914) erreichten auch Ungarn, so dass der Typus des „Gentleman-Politikers“ verschwand und der zweite Weber’sche Idealtyp des Berufspolitikers, im Gegensatz zum vormodernen Modell des Ehrenamtes, dominierend wurde7. Die Einführung fester Gehälter für Deputierte erfolgte in Budapest früher als in den meisten europäischen Ländern (1900–1918). Das Entgelt lag vor 1893 auf dem Niveau der belgischen und kam nach der Erhöhung in diesem Jahr den höchsten französischen Abgeordnetengehältern am nächsten8. Aufgrund ihrer Einkommen konnten die ungarischen Deputierten zum oberen Teil der Mittelschicht gezählt werden, wobei dieses Gehalt für die überwiegende Mehrheit nicht die wichtigste Einnahmequelle war9. Ein erster Höhepunkt der Professionalisierung des ungarischen Abgeordnetenhauses wurde laut András Cieger um 1900 erreicht10. „Vorrangig qualifizierten für den Parlamentsbetrieb eine juristische Ausbildung, gehobene Verwaltungspraxis oder journalistische Begabung.“11 Ciegers These für das 19. Jahrhundert, wonach das Bewusstsein, einer gut ausgebildeten Expertenklasse anzugehören, die Abgeordneten über Parteigrenzen hinweg verband und die vertrauensvolle Umgangsform des Duzens ein Zeichen der Zusammengehörigkeit der Parlamentarier war, scheint am Anfang des 20. Jahrhunderts angesichts der skandalösen Szenen, die auch der Gewalt nicht entbehrten, kaum haltbar zu sein. Ende 1904 kam es noch zu bloßen Sachschäden, indem Möbelstücke des Plenarsaals zerstört wurden, doch schoss am 7. Juni 1912 der Abgeordnete Gyula Kovács mehrfach auf István Tisza, ohne diesen zu treffen.
7 Adéla G j u r i č o v á , Andreas S c h u l z : Über die Köpfe der Menschen hinweg? Lebenswelten von Abgeordneten in der Moderne. In: Lebenswelten von Abgeordneten in Europa 1860–1990. Hgg. Adéla G j u r i č o v á u. a. Düsseldorf 2014, S. 9–28, hier 11. 8 András G e r ő : Elsöprő kisebbség [Die überwältigende Minderheit]. Budapest 1988, S. 162. 9 József Alajos G é c z i : Dualizmus kori képviselői fizetések [Abgeordnetengehälter im Dualismus] 1867–1918, unter http://www.parlament.hu/biz38/mob/kepv/dualizmus. htm, am 2.8.2014. 10 András C i e g e r : Politics as a Profession in Nineteenth-Century Hungary? In: Lebenswelten, S. 103–116. 11 G j u r i č o v á , S c h u l z : Über die Köpfe der Menschen hinweg?, S. 13.
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Prinzipiell galten in Ungarn für alle Staatsbürger dieselben Bestimmungen und Kriterien des Wahlrechts, wie sie die Gesetze XXXII von 1874, XV/1899, XIV/1913 und XVII/1918 festlegten. Eine Ausnahme bildete Siebenbürgen, wo es Gemeinden gab, in denen indirekt gewählt wurde12 und wo das Wahlrecht allgemein enger war. Der dort höhere Vermögenszensus, der auch für Gebildete galt, benachteiligte eindeutig die Nationalitäten. Ebenso unterschied sich der Steuerzensus für Städte und Dörfer beträchtlich, was nach Révész darauf zurückzuführen ist, dass die städtische Intelligenz meist für die Regierungspartei stimmte13. Um die Jahrhundertwende waren in Ungarn 6,1 Prozent der Gesamtbevölkerung wahlberechtigt, im europäischen Vergleich stand das Land damit ganz hinten, da in Österreich 27 Prozent, in Deutschland 22 Prozent, in England 16 Prozent, während in Italien, wo es einen knappen Zensus gab, auch 8 Prozent erreicht wurden14. Innerhalb des Landes war der Anteil der siebenbürgischen Wähler knapp die Hälfte des Durchschnitts und erreichte nur 3,2 Prozent. 22,5 Prozent der deutschen, 20,9 Prozent der ungarischen und bloß 6,4 Prozent der rumänischen erwachsenen Männer durften in Ungarn ihre Stimmen abgeben15. Dem praktizierten Prinzip der Machterhaltung widersprach auf den ersten Blick die Tatsache, dass in mehreren Wahlkreisen die rumänischen Wähler die Mehrheit hatten16. Dies lässt sich damit erklären, dass die ungarischen Komitate überwiegend die Opposition wählten, 12 Sándor R é v é s z : Parlament und Parlamentarismus. In: Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Hgg. Helmut R u m p l e r , Peter U r b a n i t s c h . Wien 2000 (Bd. VII/1), S. 1007–1060, hier 1021–1022. Die Gemeinden, die neben dem wahlberechtigten Adel mindestens 100 Haushalte ohne Wahlberechtigte hatten, durften zwei, die kleineren einen direkten Wähler bestimmen. Die Wähler mussten aufgrund des GA XXII/1886 folgende Kriterien erfüllen: ungarische Staatsangehörigkeit; männlich (Ausnahme bildeten die erwähnten Gemeinden in Siebenbürgen, wo auch Frauen Stimmrecht hatten); vollendetes 20. Lebensjahr; konfessionell römisch-katholisch, lutherisch, kalvinistisch, orthodox, griechisch-uniert, unitarisch in Siebenbürgen (Juden hatten kein Stimmrecht); unbescholten, nicht unter väterlicher, vormundschaftlicher oder dienstherrlicher Gewalt stehend. Die speziellen Bedingungen des Wahlrechts waren: Vermögens- bzw. Steuerzensus, Bildungszensus, frühere Rechte. Die Kriterien des passiven Wahlrechts waren: aktives Wahlrecht, vollendetes 24. Lebensjahr, Beherrschung der ungarischen Sprache (außer in Kroatien). Die Eingebürgerten erhielten das passive Wahlrecht erst zehn Jahre nach dem Staatsbürgereid. 13 Ebenda, S. 1024. 14 G e r ő : Elsöprő kisebbség, S. 59. 15 Attila S c h ö n b a u m : Pária elit? Nemzetiségi képviselők a Magyar Országgyűlésben (1900–1918) [Die ausgestoßene Elite? Abgeordnete der Nationalitäten im ungarischen Parlament (1900–1918)]. In: Képviselők Magyarországon I [Abgeordnete in Ungarn I]. Hg. Gabriella I l o n s z k i . Budapest 2005, S. 75–104, hier 87. 16 Vierzehn: darunter Szilágy, Arad, Temes, Marmaros usw., vgl. G e r ő : Elsöprő kisebbség, S. 59.
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während in den anderen die Regierung stets bessere Chancen hatte und die große Mehrheit der Stimmen bekam. So gab es sehr unterschiedliche Wahlbezirke – einige hatten 50–60.000 Bewohner, andere 4–5.000, (z. B. im Szeklerland). Im überwiegend rumänischen Hunyad gab es sogar solche mit unter 1.000 Wählern17. Mit Révész kann man aufgrund des Wahlgesetzes die Schlussfolgerung ziehen, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts das ungarische Abgeordnetenhaus zu den rückständigsten in Mittel- und Westeuropa zählte18. Wahlmissbräuche, auf die in diesem Rahmen nicht eingegangen werden kann, die aber u. a. durch literarische Werke bis heute der Öffentlichkeit bekannt sind19, gehörten zu ständigen Begleiterscheinungen der ungarischen Politik. Der Parlamentarier blieb trotz des Geschilderten auch während des Weltkriegs ein „wichtiger Mann“, der für seine Wähler und deren Anliegen eintreten konnte. Unter dieser Funktion wird nicht allein die Tätigkeit im Dienste des ganzen Wahlkreises, die Erledigung der Angelegenheiten einzelner Ortschaften, sondern auch die Unterstützung einzelner Wähler verstanden20. Dies zeigt u. a. der Fall des Abgeordneten von Agnetheln (Agnita, Szentágota), Dr. Guido Gündisch, der 1917 gezwungen war, sich im Plenum zu verteidigen, als ihn der Ministerpräsident István Tisza beschuldigte, beim Verteidigungsministerium interveniert zu haben. Gündisch gab an, dass sein Vater Georg Gündisch, selbst Parlamentarier (und derzeit krank), im Interesse seiner Wähler interveniert habe. Da dieser erst seit Kurzem politisch tätig sei, habe er nicht daran gedacht, dass sich daraus Probleme ergeben könnten, so Gündisch21. Die letzten Wahlen vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatten 1910 stattgefunden, und das „historische“ Siebenbürgen schickte 75 Abgeordnete ins Parlament. 13 waren Sachsen, und drei Rumänen erhielten das Mandat mit nationalem Programm. Um die beiden anderen rumänischen Abgeordneten, die dieselben Interessen und Gruppen vertraten, auch betrachten zu können, ist das größere Siebenbürgen (mit Partium und einem Teil des Banats) vor Augen zu halten. Auf 17
R é v é s z : Parlament und Parlamentarismus, S. 1026. Ebenda. 19 Die bekanntesten Werke in dieser Hinsicht sind Kálmán M i k s z á t h : A tisztelt ház [Das hohe Haus]. Budapest 2010; Miklós B á n f f y : Erdélyi történet I-III [Siebenbürger Trilogie]. Budapest 2010. 20 Zsuzsanna B o r o s , Dániel S z a b ó : Parlamentarizmus Magyarországon (1867– 1944). Parlament, pártok, választások [Parlamentarismus in Ungarn (1867–1944). Parlament, Parteien, Wahlen]. 2. erw. Aufl. Budapest 2008, S. 99. 21 Képviselőházi napló 1910. XXXIII. 1916 november 27–február 1 [27.11.1916– 1.2.1917], Budapest 1917, unter http://www3.arcanum.hu/onap/a110616.htm?v=pdf&a=pdfdata &id=KN-1910_33&pg=0&l=hun, (21.5.2014.), S. 367. 18
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diese Weise können auch die Reden des besonders aktiven Ştefan C. Pop, der die Wahlen in Arad gewann, einbezogen werden. 1910 wählte man in diesem größeren Gebiet 137 Parlamentarier, davon waren 119 Ungarn, 13 Sachsen und 5 Rumänen; letztere hatten alle schon 1906, als 15 rumänische Vertreter ins Parlament eingezogen waren, ein Mandat erhalten. Als sächsische und rumänische Abgeordnete werden hier diejenigen bezeichnet, die mit einem Nationalitätenprogramm gewählt wurden, wobei es „schon immer“ rumänische Parlamentarier in der Regierungspartei gegeben hatte und die Übergänge oft fließend waren. So kam Nicolae Şerban 1892 als unabhängiger Abgeordneter ins Parlament und erhielt hernach als Kandidat der Regierungspartei mehrfach ein Mandat; im untersuchten Zeitraum vertrat er jedoch die Rumänische Nationale Partei22. Ovidiu-Emil Iudean untersuchte die Gruppe der rumänischen Deputierten, die am Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. zur Regierungspartei gehörten23; 1910–1918 gab es neun davon. Wie aber der Fall von Iosif Siegescu (in Orawitz/Oravița gewählt) zeigt, überschrieb in diesen Fällen die proungarische Position die nationalen Bestrebungen. Dies widerspiegelt sich u. a. auch in Siegescus Rede vom 28. Februar 1917, als er die Frage der Internierungen zu verharmlosen versuchte und die nach Rumänien Geflüchteten verurteilte (in dieser Hinsicht schloss er sich Aurel Vlad an). Er plädierte dafür, dass sich die Rumänen nach dem Krieg in ungarischen Parteien engagieren sollten. Nach dieser pathetischen Loyalitätserklärung, in der auf die 14 Tage frühere Deklaration rumänischer religiöser und politischer Führer verwiesen wurde, stempelte Siegescu die bekannten siebenbürgischen Politiker Octavian Goga und Vasile Lucaciu, die inzwischen nach Rumänien gegangen waren, als Verräter ab und folgte damit dem gängigen ungarischen Diskurs24. Lutz Korodi, den in Berlin lebenden sächsischen Journalisten, Lehrer, Politiker bzw. früheren Abgeordneten im ungarischen Parlament, der sich aktiv für die alldeutsche Bewegung engagierte, zählte der Redner ebenso zu dieser Kategorie. 22 Sturm-féle Országgyűlési Almanach [Almanach des Abgeordnetenhauses von Sturm], unter http://www.ogyk.hu/e-konyvt/mpgy/alm/al910_15/412.htm (20.8.2014). 23 Ovidiu-Emil I u d e a n : Deputați guvernamentali români în parlamentul de la Budapesta (sfârșitul secolului al XIX-lea – începutul secolului XX) [Die rumänischen Abgeordneten im Budapester Parlament (Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts)]. Diss. Cluj 2012. 24 Képviselőházi napló 1910. XXXIV. 1917. február 5–márczius 2 [5.2.– 2.3.1917]. Budapest 1918, unter http://www3.arcanum.hu/onap/a110616.htm?v=pdf&a=pdfdata&id=KN1910_34&pg=0&l=hun, S. 477-482 (21.8.2014).
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Während die rumänischen Abgeordneten mit Nationalitätenprogramm erst ab 1905 wieder aktiv ins parlamentarische Leben eingetreten waren, blickten die Sachsen auf eine langjährige Kooperation mit der Regierung zurück. Sie waren nach mehrjähriger Pause 1903 wieder in die Regierungspartei eingetreten. Nach langwierigen Debatten über die geeignete politische Strategie im Umgang mit der ungarischen Regierung und über die sogenannte Schwabenfrage führten diese 1914 zur Spaltung des sächsischen Klubs, so dass Traugott Copony und Rudolf Brandsch aus dem sächsischen Klub austraten25. Versucht man die siebenbürgischen Abgeordneten mit den anderen zu vergleichen, fällt auf, dass mit Ausnahme von fünf Ungarn alle einen höheren Abschluss hatten, bei zehn ungarischen Parlamentariern aus Siebenbürgen fehlen diese Angaben26. Die Juristen waren unter den Ungarn mit knapp 70 Prozent stärker vertreten als unter den Sachsen und Rumänen, wobei sie in allen drei Fällen über 40 Prozent ausmachten. Im Falle der Letzteren ist jedoch die Prozentangabe irreführend, da es sich bloß um fünf Personen handelt. Lehrer und Geisteswissenschaftler waren in allen drei Gruppen schwach vertreten. Es ist zu betonen, dass der 1910 gewählte Rudolf Brandsch (ab 1913) der erste sächsische Berufspolitiker war27. Unterschiede zeigen sich auch bezüglich des Alters der Deputierten. Unter den sächsischen Abgeordneten war die ältere Generation stärker als unter den anderen Parlamentariern vertreten28. 1910 waren 28,1 Prozent der Abgeordneten im ungarischen Parlament unter 40 Jahre alt, 56,7 Prozent unter 60 und 15,2 Prozent über 6129. Die ungarischen Parlamentarier aus Siebenbürgen unterschieden sich 25 Die natürliche Fluktuation führte zu mehrfachem Wechsel im sächsischen Klub. Georg Gündisch wurde 1913 in Großau zum Abgeordneten gewählt und erhielt kurz vor dem Ausbruch des Krieges im Sommer 1914 in Agnetheln ein Mandat. Nach dem Tod von Karl Schmidt wurde 1917 Fritz Connert gewählt und, da Gustav Gratz zum Chef der handelspolitischen Sektion im gemeinsamen Außenministerium ernannt worden war, übernahm Albrich Hermann dessen Sitz im Parlament. Von Juni bis September 1917 trat Gratz in seiner Funktion als Finanzminister im Abgeordnetenhaus auf. 26 Gabriella I l o n s z k i : Képviselő és képviselet Magyarországon a 19. és 20. században [Abgeordneter und Repräsentation in Ungarn im 19. und 20. Jahrhundert]. Budapest 2009, Datenbank auf der CD-Beilage. 27 Siehe dazu Karl K e ß l e r : Rudolf Brandsch. München 1969, S. 23. 28 Gabriella I l o n s z k i : Belated Professionalization of Parliamentary Elites: Hungary 1848–1999. In: Parliamentary Representatives in Europe 1848–2000. Legislative Recruitment and Careers in Eleven European Countries. Hgg. Heinrich B e s t , Maurizio C o t t a . Oxford 2000, S. 196–225, hier 227. Für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg siehe: Sächsische Abgeordnete im ungarischen Parlament zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Minderheitenfragen in Ungarn und in den Nachbarländern im 20. und 21. Jahrhundert. Baden-Baden 2013, S. 101–119, hier 107. 29 G e r ő : Elsöprő kisebbség, S. 137.
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nicht von den übrigen ungarischen Deputierten, was teilweise daran lag, dass viele von ihnen aus anderen Regionen des Landes kamen, da sie hier wegen des kurz skizzierten Wahlgesetzes einfacher gewählt werden konnten.
Der parlamentarische Kommunikationsraum als Ort siebenbürgischer Debatten Die unter Kriegszuständen wesentlich seltener abgehaltenen parlamentarischen Sitzungen kreisten erwartungsgemäß überwiegend um die Fragen der Kriegsführung, doch wurde die Arbeit auch dadurch beeinträchtigt, dass viele Abgeordnete einrückten. Der Sachse Ernst Dahinten war als einer unter den ersten 76 Parlamentariern an die Front gegangen und war der erste unter ihnen, der am 6. September 1914 in der Schlacht bei Kupinovo starb30. Was die parlamentarische Tätigkeit der siebenbürgischen Deputierten angeht, kamen während des Krieges sieben der dreizehn sächsischen Vertreter im Plenum zu Wort, deren aktivste Guido Gündisch und Gustav Gratz waren. Von den fünf Rumänen mit Nationalitätenprogramm ergriffen vier das Wort, am häufigsten Ștefan C. Pop. Sie trugen mit wenigen Ausnahmen die Meinung der eigenen Gruppe vor. Aus der unüberschaubaren Menge der Reden der zahlreichen ungarischen Vertreter Siebenbürgens ragen diejenigen von István Graf Bethlen durch ihren synthetisierenden Charakter heraus und können als repräsentative Beispiele für die Haltung dieser Gruppe betrachtet werden. In den ersten Kriegsjahren äußerten sich die sächsischen Vertreter ausschließlich zu wirtschaftlichen Fragen und im Zeichen des staatlichen Optimismus. Der Sieg der Monarchie wurde als selbstverständlich angenommen, und Deutschland fungierte immer wieder als positives Beispiel und Referenzpunkt. Die Rumänen ergriffen in dieser Periode (im Plenum) nur einmal das Wort. Tivadar Mihalis Rede vom 7. Dezember 1915 fasste die zentralen Anliegen der rumänischen Abgeordneten zusammen: Nach der Loyalitätsbekundung wurde die problematische Beziehung zwischen der Rumänischen Nationalpartei, der Regierung und der rumänischen Bevölkerung angesprochen. Das von den Rumänen favorisierte Wahlrecht konnte von den siebenbürgischen Abgeordneten, mit Ausnahme von Rudolf Brandsch und Traugott Copony, nicht befürwortet werden, da seine Implementierung, mit den Worten 30 Képviselőházi napló 1910. XXVI. 1914. július 22. – 1915. május 6 [22.7.1914– 6.5.1915]. Budapest 1915, unter http://www3.arcanum.hu/onap/a110616.htm?v=pdf&a=pdfdata &id=KN-1910_26&pg=0&l=hun, S. 196 (28.4.2014).
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von Karl Schmidt metaphorisch ausgedrückt, das Wahlrecht „mit dem Dampfpflug beackert“31 hätte. Über einen Kriegsdiskurs der siebenbürgischen Abgeordneten lässt sich erst ab 1916 sprechen, was selbstverständlich mit den Entwicklungen an der Front, d. h. dem rumänischen Angriff, der Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung und der wirtschaftlichen Lage zusammenhängt. Auffällig ist, dass sich die Reden von Gustav Gratz, der mehrfach zu Wort kam, nicht von denen seiner ungarischen Kollegen unterschieden. Es bedarf diesbezüglich der Bemerkung, dass er kein gebürtiger Sachse war, seine Schulen aber in Klausenburg (Cluj, Kolozsvár) und Bistritz (Bistrița, Beszterce) besucht hatte und mit dem sächsischen Nationalprogramm ins Parlament gewählt worden war. Er bekleidete 1917 hohe Posten und blieb auch nach dem Weltkrieg in der ungarischen Politik aktiv. Seine Rede vom 15. Juni 1916 war im Einklang mit dem herrschenden Kriegsdiskurs in der ungarischen Öffentlichkeit und vom obligaten Optimismus geprägt32. Metaphorische Formulierungen und rhetorische Übertreibungen, wie „siegreiche Armee“ und Metaphern wie „bestürmte Burg“ prägten seine Ausführungen, wobei sie die Wirklichkeit nicht verneinten und die hungernde Bevölkerung als zentrales Problem des Landes erscheinen ließen33. Die Ereignisse vom 27. August 1916 veränderten die Situation der rumänischen Abgeordneten grundsätzlich, so dass sie ab diesem Zeitpunkt gänzlich in die Defensive gezwungen wurden und öfter das Wort ergriffen. Besonders relevant ist in dieser Hinsicht die Rede von Ştefan C. Pop am 3. September 1916, der kurz nach dem rumänischen Kriegseintritt, die doppelte Natur der Plenarkommunikation ausnützend, die Loyalitätserklärung horizontal an das Parlament und vertikal an die Öffentlichkeit adressierte. Der emotionale Ton prägte die Stellungnahme der Rumänen, die „mit tiefer Betroffenheit die Nachricht erhielten, die wir immer für unmöglich gehalten hatten, dass Rumänien gegen die Monarchie kämpfen würde, in der unter dem Schutz der glorreichen Habsburg-Dynastie mehrere Millionen Rumänen in Treue leben und sich erfreulich entwickeln“34. Die symbolische Wir-Geste er31 Képviselőházi napló 1910. XXXVIII. 1917. deczember 10–1918. február 25 [10.12.1917– 25.2.1918]. Budapest 1918, unter http://www3.arcanum.hu/onap/a110616.htm?v=pdf&a =pdfdata&id=KN-1910_38&pg=0&l=hun, S. 386 (24.5.2014). 32 Képviselőházi napló 1910. XXX. 1916. június 7–július 15 [7.6.–15.7.1916]. Budapest 1916, unter http://www3.arcanum.hu/onap/a110616.htm?v=pdf&a=pdfdata&id=KN1910_30&pg=0&l=hun, S. 86 (21.5.2014). 33 Ebenda, S. 348. 34 B a l á z s : Román képviselet, S. 260. Original: „Mély megdöbbenéssel vettük a hírt, mert mindig lehetetlennek tartottuk azt, hogy Románia azon Monarchia ellen harcol-
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reichte ihr Ziel nicht nur im Haus, sondern auch beim „mitgedachten“ Publikum, da sie von der Budapester ungarischen Presse enthusiastisch aufgenommen und gelobt wurde35. Anlässlich des Todes von Kaiser Franz Joseph I. wiederholte Pop ein ähnliches Treuebekenntnis. Für die Behandlung der siebenbürgischen Frage im ungarischen Parlament ist Karl Schmidts Interpellation an den Verteidigungsminister am 24. Februar 1917 ein zentraler Moment, da sie eine Debatte auslöste, an der sich die siebenbürgischen Abgeordneten intensiv beteiligten. Drei Schlüsselreden von Deputierten unterschiedlicher Nationalität sind im Folgenden exemplarisch zu präsentieren, um einige der eingangs formulierten Forschungsfragen beantworten zu können. Schmidt kritisierte die Vorgehensweise der Regierung bei den Kriegsereignissen in Siebenbürgen und stellte die Schäden der rumänischen Invasion dar; andere siebenbürgische Abgeordnete (Gustav Gratz oder József Szterényi) hatten das Problem zuvor auch schon thematisiert. Die Kritik an den militärischen Kräften und an den Evakuierungen in Siebenbürgen war im Plenum also kein Novum, genauso wenig wie Schmidts plastische Schilderung der Flucht und Verzweiflung der Bevölkerung oder die geradezu apokalyptischen Bilder der Evakuierung von Keresztényfalu. Neu war jedoch der Ton, in dem ein sächsischer Abgeordneter über „unsere Rumänen“ sprach36 und darauf beharrte, dass sehr viele von ihnen zu Tätern wurden. Der Redner wusste über Gerüchte zu berichten, wonach sich die Rumänen in den Dörfern schon vor dem Einbruch geeinigt hätten, wer welches Haus von den Ungarn und Sachsen übernehmen werde. Weiterhin unterstrich er die große Enttäuschung innerhalb der siebenbürgischen Bevölkerung über die bis zuletzt beruhigenden offiziellen Aussagen und verurteilte die siebenbürgischen Beamten. Trotz der Betonung, dass er selbst nicht ein Feind der Rumänen sei, skizzierte Schmidt die ungarnfeindliche Einstellung der „meisten“ eingehend. Er tadelte insbesondere die rumänische Intelligenz und schilderte Vorfälle aus Kronstadt, wo sie im Falle von ungarischen Siegen die Fahnen nicht gehisst hätten (mit der Begründung, sie seien neutral). Mit Einzelbeispielen wurde das Ausmaß des Raubens in den Dörfern veranschaulicht: Ein rumänischer Pope sei sogar so weit gegangen, das Haus des sächsischen Pfarrers zu übernehmen, so der Abgeordnete. jon, amelyben a dicsőséges Habsburg-dinasztia védelme alatt több milliónyi román él hűségben és örvendetes fejlődésben.“ 35 Az „Újság“, „Pester Lloyd“; siehe dazu B a l á z s : Román képviselet, S. 284. 36 Képviselőházi napló 1910. XXXVIII. 1917. deczember 10 – 1918. február 25 [10.12. 1917–25.2.1918], S. 388 (24.5.2014).
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Auf rhetorischer Ebene betonte der Redner das inklusive „Wir“, zu dem auch die Rumänen gehörten („meine rumänischen Brüder“, „unsere Rumänen“), plädierte aber zugleich für die Exklusion der ins Nachbarland Geflüchteten und forderte die Erschwerung ihrer Rückkehr, damit sie darauf verzichteten. Ihre Güter empfahl er zu verstaatlichen und unter den Geschädigten aufzuteilen. Zuletzt zog er die Lehre, man müsse den Rumänen Freiheiten gewähren und zugleich die Schuldigen sehr hart bestrafen37. Diese Stellungnahme, die im Unterschied zu den üblichen sächsischen Reden fordernd war, wirkte sich auf die Beziehungen zwischen den rumänischen und sächsischen Eliten aus. Sogar der ungarnfreundliche Siegescu bemerkte: „Der Herr Abgeordnete kann davon überzeugt sein – mindestens laut meiner Einschätzung –, dass er mit dieser Rede dem sächsischen Volk keinen Dienst erwiesen hat.“38 Im von ihm gewohnten Ton nannte der rumänische Deputierte zuletzt Schmidts Stellungnahme ein „familieninternes Missverständnis“ und appellierte an die gegenseitige Liebe. Um die Gemüter zu beruhigen, sprach Rudolf Schuller am 14. März 1917 im Plenum und distanzierte sich im Namen seiner Kollegen von Schmidt, was die anwesenden sächsischen Deputierten mit Zwischenrufen bestärkten. Der sächsische Klub habe abwarten wollen, bis genug Zeit vergangen sei, um die komplexe Problematik der siebenbürgischen Frage überblicken zu können39. Im Unterschied zu Schmidt wollten die anderen sächsischen Abgeordneten die Haltung der rumänischen Mitbürger nicht beurteilen, so Schuller. Der versöhnliche Ton lässt sich auf die Zustände zurückführen, die die Vereinigung Siebenbürgens mit Rumänien als reales Szenario nicht mehr ausschlossen, und ist ein Zeichen einsetzenden politischen Umdenkens der sächsischen Eliten. In seinen Erinnerungen schilderte Schuller den genauen Hintergrund dieser Stellungnahme, der zugleich die symbolische Relevanz der parlamentarischen Kommunikation in Krisensituationen veranschaulicht. Er hatte Wilhelm Melzer, den Obmann des Klubs, gebeten, die Rede halten zu dürfen, um damit die Spannungen zu den Rumänen zu glätten40. Wie gut sein Versuch gelungen war, formulierte er später aus 37
Ebenda. Képviselőházi napló, 1910. XXXIV. 1917. február 5 – márczius 2 [5.2.–2.3.1917], S. Original: „A képviselő ur legyen meggyőződve – legalább ez az én meggyőződésem – hogy ezzel a beszéddelő a szász népnek nem tett szolgálatot.“ 39 Képviselőházi napló 1910. XXXV. 1917. márczius 3 – április 12 [3.3.– 12.4.1917]. Budapest 1917, unter http://www3.arcanum.hu/onap/a110616.htm?v=pdf&a=pdfdata &id=KN-1910_35&pg=0&l=hun, S. 86 (24.5.2014). 40 Rudolf S c h u l l e r : Politische Erinnerungen. Hermannstadt 1940, S. 54. 38
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der Distanz von knapp zwei Jahrzehnten folgendermaßen: „Bei Ausbruch der Revolution ist in Kreisen der rumänischen Legionäre darauf gedrungen worden, unter Berufung auf die Rede jenes sächsischen Abgeordnetenkollegen, den Sachsen das heimzuzahlen. Pop-Cicio hat mit seiner Autorität die Aufwallung mit Worten niedergeschlagen: Schweigt, Schuller hat die Sache repariert.“41 In ungarischen Kreisen wurde Schmidts Stellungnahme selbstverständlich sehr positiv aufgenommen. Auch István Graf Bethlen, der zu den wiederkehrenden Referenzpunkten der rumänischen und sächsischen Parlamentarier gehörte, bezog sich am 3. März 1917 mehrfach darauf. Diese wohl umfassendste Rede zum Thema wies die zentralen Topoi des siebenbürgischen Narrativs auf und kann als Ansammlung ungarisch-siebenbürgischer Argumente betrachtet werden42. Die gut strukturierte Stellungnahme widmete sich drei zentralen Aufgaben der Regierung während des Krieges: der Einigung und Organisation der Kräfte und Energien im Land (der parlamentarischen und parteipolitischen Situation), den Vorkehrungen für den Frieden (der Nationalitätenfrage) sowie der Vorbereitung auf die Aufgaben zur wirtschaftlichen Situation, die nach dem Krieg zu lösen waren. Als Mitglied der Rücksiedlungskommission kritisierte Bethlen im Einklang mit Schmidt die Autoritäten, die den Rückzug im Chaos versinken ließen, und stellte, ohne nähere Angaben zu machen, fest, dass die Feinde viel Schaden angerichtet hätten. Er forderte im Unterschied zu seinen Vorrednern für den Notfall einen Evakuierungsplan und im Sinne Schmidts die Bestrafung der geflüchteten und zurückgekehrten Rumänen. Zugleich wies er darauf hin, dass die Verantwortung für die Ereignisse in Siebenbürgen der ganzen politischen Elite zuzuschreiben sei und Generalisierungen schädlich wirkten43. Er brachte Beispiele aus dem Szeklerland, wo auch solche Menschen bestraft würden, die man zuvor gezwungen hatte, für die Rumänen zu arbeiten. Bethlen zog die Konsequenz, „dass uns der siebenbürgische Krieg das Beispiel dafür liefert, welche Gefahren es in sich birgt, wenn eine Regierung für längere Zeit die Interessen eines Landesteils nicht in Betracht zieht oder diese gar ignoriert“44. Dennoch klang der obligatorische Optimismus heraus: „Die Zukunft von Siebenbürgen kann gerettet werden.“45 41
Ebenda, S. 55. Képviselőházi napló, 1910. XXXV. 1917. márczius 3 – április 12 [3.3.–12.4.1917], S. 4–18. 43 Ebenda. 44 Ebenda, S. 9. 45 Ebenda. 42
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Hervorzuheben ist Bethlens Sicht auf die Regelungen der Regierung: „Wir sind nicht Deutsche: in uns gibt es nicht die Rassenzüge, die Disziplin (So ist es! So ist es), die dafür notwendig sind, dass die Regelungen auch umgesetzt werden“46, womit indirekt die Empfehlungen der Sachsen zurückgewiesen wurden. Eine Lösung sah der Politiker dagegen in der Wiederherstellung des seelischen Gemütszustandes, der zu Beginn des Krieges geherrscht hatte, wozu die Aufhebung der Parteikämpfe notwendig sei. Der Aufruf zur Einheit entbehrte nicht der pathetischen nationalen Parolen ebenso wie der Kritik der mangelnden Organisation und der Frage, warum in die Suche nach Lösungen nicht alle einbezogen werden: Genannt wurden Albert Apponyi, Sándor Wekerle, Ignác Darányi. Bethlens Fazit war prophetisch: „Meine letzte Schlussfolgerung ist also, dass mit diesem System vielleicht die Arbeiterpartei leben wird, vielleicht wird damit auch die Opposition überleben, aber dass das Land vernichtet wird, davon bin ich fest überzeugt.“47 Nach einer fünfminütigen Pause ging Bethlen auf den Frieden ein, über den seiner Ansicht nach in Ungarn nicht öffentlich debattiert werde. Es gebe keine Literatur dazu so wie in Deutschland, weswegen er die öffentliche Meinung auf diesem Wege beeinflussen wolle, so der Abgeordnete. Mit diesem Teil der Rede, in dem das gruppenintegrative „Wir“ dominierte, begab er sich auf theoretisch-ideologisches Terrain, indem er die These vertrat, dass die Existenz der Monarchie in diesem Teil Europas unerlässlich sei. Dem rumänischen Politiker Take Ionescu widersprechend und im Einklang mit Prokrustes behauptete Bethlen, die Nationen seien im kontinuierlichen Wandel und es formten sich neue (USA). In dieser Sicht entscheide die Lebensfähigkeit einer Nation, ob sie überlebe, und so stehe Woodrow Wilsons Prinzip im Gegensatz zu dem des Fortschritts. Österreich und Ungarn waren, so gesehen, diejenigen Länder in Europa, die dazu berufen seien, den kleinen Nationen eine Überlebenschance zu sichern, wogegen der Zerfall der Monarchie deren Verschwinden bedeute. Die fehlenden positiven Kräfte in der Monarchie waren gemäß Bethlen ein kulturelles Problem, das durch die Verstärkung des deutschen Elements hätte gelöst werden können. Die anderen Nationalitäten bzw. die Teile, die geographisch, geschichtlich und wirtschaftlich zum Land gehörten, hätten auch in die neue Einheit einbezogen werden müssen48. Russland wurde als die größte Gefahr identifiziert, die auch nach dem Sieg bleiben werde. Im Falle 46
Ebenda, S. 10. Ebenda, S. 11. Original: „Végső konklúzióm tehát az, hogy ezzel a rendszerrel lehet, hogy meg fog élni a munkapárt, leht, hogy meg fog élni az ellenzék is, de hogy az ország el fog pusztulni, arról egészen bizonyos vagyok.“ 48 Für die Bosniaken wurde Autonomie empfohlen. 47
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der Rumänen war für den Redner die Autonomie keine Option, der in dieser Hinsicht den gängigen ungarischen politischen Diskurs reproduzierte: „Da einerseits Siebenbürgen immer ungarisches Gebiet war. Siebenbürgen muss in aller Ewigkeit ungarisch bleiben. Rumänien hat niemals irgendwelche Rechte auf Siebenbürgen gehabt, andererseits ist Rumänien durch die Siebenbürger Rumänen groß und kultiviert geworden.“49 Das Nachbarland habe in dieser Sicht Ungarn keine finanzielle Entschädigung zu zahlen, sondern Gebiete zur Verfügung stellen müssen, um die unzuverlässigen siebenbürgischen Rumänen aussiedeln zu können: So habe man auch für die Ungarn aus der Moldau „Raum2 geschaffen. Die Radikalität und Brutalität der Maßnahme wurde dadurch verteidigt, dass auch andere, größere Nationen als die deutsche solche Pläne hegten. Im Geiste des 1000-jährigen Ungarn wurden die Verstärkung des Militärs und die Lösung der Bodenfrage verlangt. Bethlens Rede enthielt somit die wichtigsten Schlagwörter, die in der ungarischen Politik mit Siebenbürgen verknüpft wurden, und sie veranschaulicht zugleich den „Hang zum Griffigen“ in politischen Reden50. Die Tendenz zur Etikettierung bezüglich der Rumänen diente der „Solidarisierung nach innen und der Abgrenzung nach außen“51. Während des Weltkriegs ergriffen die Rumänen, wie erwähnt, nur selten das Wort – nach eigenen Angaben bloß in solchen Situationen, „in denen es unerlässlich“ war52. Die bereits vorgestellte Rede Karl Schmidts war ein solcher Moment, so dass C. Pop im Namen der Rumänischen Partei auf die Beschuldigungen reagierte. Er kritisierte die Generalisierungen des sächsischen Abgeordneten, betonte zugleich, dass die Worte Schmidts dem Staat und den Sachsen viel geschadet hätten, da sie nach dem Krieg Hass erzeugen würden53. Gleichzeitig dankte er Schuller, dass er sich im Namen der anderen sächsischen Abgeordneten von Schmidt distanziert habe. Pop lobte die rumänische Intelligenz für ihr Verhalten während des Krieges, wobei die Zwischenrufe auf die Flucht vieler Gelehrter nach Rumänien hinwiesen, auf die er nicht einging. Ähnlich wurde auch hier die „Wir“-Sprache bevorzugt. Das Opfer der rumänischen Intelligenz belegte der Redner mit konkreten Beispielen: Das rumänische Gymnasium in Kronstadt habe vier Professoren im Krieg verloren, und fünf rumänische Arader Advokaten 49 Képviselőházi napló, 1910. XXXV. 1917. márczius 3–április 12 [3.3.–12.4.1917], S. 15. Original: „Hiszen egyfelől Erdély mindig magyar terület volt. Erdélynek örök időkig magyarnak kell maradnia. Romániának Erdélyre semmi joga soha nem volt, másfelől Románia az erdélyi románság révén lett nagygyá és kulturálttá.“ 50 Vgl. dazu B u r k h a r d t : Das Parlament und seine Sprache, S. 352. 51 Ebenda, S. 353. 52 B a l á z s : Román képviselet, S. 262. 53 Ebenda, S. 263.
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seien ebenso gefallen, so Pop. Erwähnt wurden auch 600.000 rumänische Soldaten, die für das Land kämpften. Den Starrsinn bezüglich des Wahlrechts deklarierte der Redner als nationale „Katastrophe“. Um die eigenen Ansichten zu belegen, bezog er sich auf Theobald von Bethmann Hollweg, der die Liebe der Einwohner zur größten Stärke des Reiches erklärte und betonte, dass das allgemeine Wahlrecht eine in Europa anerkannte Notwendigkeit sei. Die Stigmatisierung der Rumänen, die Vorschläge zu ihrer Umsiedlung, die Denunziationen, die Rumänische Nationale Partei und die Autonomie waren weitere Schlagwörter der Rede. Um seine Argumentation zu belegen, zitierte er Gustav Ratzenhofer: „Erst eine institutive Versöhnung der nationalen Interessen stellt die Kraft des Volkes den Staatsinteressen wieder voll zur Verfügung.“54 Mit einer rhetorischen Wende gelang es Pop zuletzt, seine sonst kritischen Ausführungen, die neben dem defensiven Ton auch offensive Momente enthielten, positiv ausklingen zu lassen: „Ich kenne die ungarische Geschichte sehr gut und weiß, dass sich der Ungar der dominierenden Weltanschauung immer anpassen konnte. Dies ist doch das Geheimnis seiner tausendjährigen Geschichte. Ich bin davon überzeugt, dass es Staatsmänner geben wird, die diese großen und schwierigen Probleme ausschließlich im Sinne und Geiste der größeren staatlichen Interessen und des glücklichen Zusammenlebens lösen werden.“55 Das Plädoyer von Nicolae Şerban für die Zusammenarbeit mit den Nationalitäten des Landes, das er am 23. Juni 1917 im Plenum hielt, unterschied sich von den anderen rumänischen Stellungnahmen durch dessen geschichtlichen Rückblick. Die Rede war chronologisch strukturiert, der historische Streifzug begann mit der Revolution 1848, um darauf hinweisen zu können, dass es nicht nur Rumänen, sondern auch Ungarn gab, die die Krone unterstützten. Der Absolutismus habe die Entwicklung der rumänischen Kultur herbeigeführt, und für das Scheitern der Rumänischen Nationalen Partei wurden einerseits die Mitglieder, die das Vertrauen der Ungarn nicht gewinnen konnten, andererseits die Ungarn, die bei Konflikten immer als Stärkere den Schwächeren helfen müssten, für schuldig befunden56. In der Gegenwart angekommen, stellte Şerban fest, dass kein ungarisches Kabinett 54
Ebenda, S. 270 (Zitat auch ursprünglich auf Deutsch). Ebenda: „Én jól ismerem a magyar történelmet, és tudom azt, hogy a magyar mindig tudott alkalmazkodni az uralkodó világnézethez. Hiszen ez a titka az ezeréves fennállásának. Meg vagyok győződve, hogy lesznek olyan államférfiak, akik ezeket a nagy és nehéz problémákat kizárólag csak az állam nagy érdekei, a boldog együttélés érdekében és szellemében fogják megvalósítani.“ 56 Ebenda, S. 276. 55
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die Nationalitätenfrage lösen könne, weil es am Tag, nachdem es sie berührt habe, notwendigerweise zurücktreten müsse. Nur die Sachsen seien eine Ausnahme, wenn es um die Diskriminierung der Nationalitäten gehe57. Wie die geschilderten Debatten weisen auch diese Bemerkungen auf die Spannungen zwischen den beiden Nationalitäten zu jener Zeit hin. Sie sind aber zugleich klare Anzeichen eines sich verändernden rumänischen Diskurses. Was die Zustände im Krieg angeht, betonte der Redner, dass das eigene Militär viel Schaden anrichte und nur wegen einiger Rumänen, die zur rumänischen Armee flüchteten, nicht das ganze Rumänentum bestraft werden dürfe. Er brachte auch ein konkretes Beispiel aus Hosszúfalu, wo eine rumänische Dame einen Magyaren gerettet habe. Nach dem Rückzug sei sie dennoch mit der Begründung verhaftet worden, sie habe zu großen Einfluss auf die Rumänen gehabt, was verdächtig sei. Şerban wies erneut auf die hohe Zahl der rumänischen Internierten hin, deren Verwandte oft ihr Leben an der Front für Ungarn opferten. Er bat den nicht anwesenden Innenminister (in pathetischem Ton), in die betroffenen Komitate zu fahren, um sich von der Wirklichkeit zu überzeugen. Was den in Ungarn vieldiskutierten Patriotismus angehe, bemerkte er: „Wir erachten den Patriotismus als unsere Pflicht, Sie lassen ihn in Zeitungsartikeln und anderswo als ein Verdienst erscheinen. Dies ist der Unterschied zwischen uns.“58 Es ist zu betonen, dass Şerban selbst denunziert wurde, weil er nach der rumänischen Kriegserklärung und dem Vorstoß nach Siebenbürgen nach Hause gereist war und mit den rumänischen bzw. ungarischen Priestern die zu Hause Gebliebenen organisiert hatte. Ein Zwischenruf wies während seiner Rede darauf hin, dass auch seine Familie nach Rumänien gegangen sei59. Der regierungskritische Ton, der bei Şerban ausgeprägt war, verschärfte sich am 31. Januar 1918, als Mihali anlässlich der Ernennung der neuen Wekerle-Regierung im Plenum das Wort ergriff und betonte, dass die Rumänische Nationale Partei kein Vertrauen zum Kabinett habe. Ausdrücke wie: „Gefängnis der Internierung“, „die verhasste persönliche Rache“, „der Mantel der hundertjährigen Sünde des ungarischen Staates“ sind Symptome der neuen Zeit, die sich nun in Siebenbürgen anbahne60. Der erste Meilen57 Şerban wies darauf hin, dass die Schulinspektoren die sächsischen Schulen meiden würden, dass in ihren Ortschaften deutsch gesprochen werde und die sächsischen Banken ungarisches Land aufkauften. 58 B a l á z s : Román képviselet, S. 278. 59 Der Abgeordnete erwiderte kurz, dass er seit einem Jahr nicht mehr mit seiner Frau lebe. Ebenda. 60 Ebenda, S. 294.
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stein der neuen Epoche war die berühmt gewordene Stellungnahme von Alexandru Vaida-Voevod am 18. Oktober 1918. Er berief sich auf Wilson und verlangte erneut Autonomie, jedoch in ganz anderem Ton, indem er betonte, man könne nicht mehr über die Rumänen ohne sie entscheiden, und verlas den Beschluss der Rumänischen Nationalen Partei, die ihre Sitzung am 12. Oktober in Großwardein (Oradea, Nagyvárad) gehalten hatte. Die rumänischen Politiker sprachen hiermit dem Parlament im Plenum das Recht ab, die Rumänen in Ungarn bei den Friedensgesprächen zu vertreten. So verlor das Abgeordnetenhaus als symbolischer Ort der Repräsentation zunächst in einem bloßen Sprechakt seine wichtigste Rolle der Vertretung, doch folgten bald auch konkrete Handlungen.
Politischer Diskurs Kehrt man abschließend zu den anfangs gestellten Fragen zurück, lässt sich sagen, dass die Redestrategien der Abgeordneten der drei Nationalitäten aufgrund der repräsentativen Beispiele sowohl Analogien als auch Divergenzen zeigen: im Sinne des obligatorischen Optimismus zeigten sich alle betrachteten Redner zunächst zuversichtlich, was den Ausgang des Krieges angehe. Sie bevorzugten die „Wir“-Sprache, und die sächsischen und ungarischen Redner bezogen sich mit Vorliebe auf deutsche Beispiele. Die Ausführungen belegten erneut, dass „Rationaliät und Emotionalität, Pathos und Nüchternheit, Argumentation und Persuasion, Leere und Bombastik die Pole sind, zwischen denen sich politische Rhetorik bewegt“61. Der Krieg führte hierin zu keinen Veränderungen. Am eindeutigsten in seiner Kritik der Autoritäten war bis 1918 Bethlen, der sich als Ungar diese Haltung „leisten konnte“, ohne des Verrats beschuldigt zu werden. Die schwierige Lage der kleinen sächsischen Minderheit, deren Zukunft vom Balanceakt zwischen den Polen – den Ungarn und Rumänen – abhing, zeigte sich auch bei der Debatte der Wahlrechtsreform im Sommer 1918. Schuller meldete sich im Namen des sächsischen Klubs zu Wort und veranschaulichte die heikle Situation der Sachsen mit einem ungenauen Zitat aus „Faust“: „Zwei Seelen fühl ich[,] ach[!] in meiner Brust.“62 Er betonte, dass sich die Sachsen als demokratisches Volk für das allgemeine Wahlrecht aussprechen müssten, was aber ihren Interessen widerspreche. In dieser Lage sah er sich gezwungen, für die Notwendigkeit der sächsischen Isolation zu plädieren: „[…] die ist aber ein geschichtliches Produkt, und das 61 62
B u r k h a r d t : Das Parlament und seine Sprache, S. 351. Képviselőházi napló 1910. XL. 1918. június 25 – július 19 [25.6.–19.7.1918].
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benötigen wir auch unter den heutigen Umständen unbedingt in Ortschaften mit gemischter Bevölkerung, weil wir durch diesen Rassenzug unsere rassische Eigenart und Existenz behalten können.“63 Die entgegengesetzte Position unter den Sachsen vertraten erwartungsgemäß Brandsch und Copony. Ganz bezeichnend musste sich Brandsch 1917 gegen die Vorwürfe des Ministerpräsidenten, er sei kein richtiger Patriot, wehren64. Er äußerte sich zur akut gewordenen Nationalitätenfrage auch Ende Oktober 1918 und tat dies wiederholt im Namen der Deutschen in Ungarn mit der Begründung, im Namen der Sachsen werde ein anderer Abgeordneter sprechen. Ähnlich gespalten wie bei den Sachsen zeigte sich auch die Situation bei den Rumänen, wenn man die in der Regierungspartei sitzenden Abgeordneten vor Augen hält, man denke nur an Siegescus Rede. Ihre Lage veränderte sich langsam, und die Wandlung ließ sich auch im Ton der Reden nachzeichnen, deren kritische Schärfe erwartungsgemäß 1918 kulminierte. Allgemein siebenbürgische Interessen konnten aber nicht vertreten werden, weil es grundsätzlich divergierende Interessen gab, die sich aus den unterschiedlichen Perspektiven bzw. Zielen ergaben. Diese ließen sich, wie gezeigt, nicht nur national definieren, da die Gruppen der Nationalitäten im Parlament nicht homogen waren, obwohl sie, wie es Iudean belegte65, gerne so betrachtet werden. Politisches Reden ist fast zwangsläufig auf Imagewerbung und Persuasion ausgerichtet. In diesem Sinne versuchte jede parlamentarische Gruppe, der Natur der Plenarkommunikation zu folgen und daher das Parlament horizontal und die Öffentlichkeit vertikal bzw. die eigenen Kreise anzusprechen. Nur einmal kam es zu einer gemeinsamen Erklärung von János Hock, Mihali und Melzer, als sie sich an die siebenbürgische Bevölkerung wandten und sie zur Kooperation aufriefen66. Dem symbolischen Sprechakt folgten aber keine Taten mehr.
63 Ebenda, im Original: „de ez történelmi produktum, s erre a mai viszonnyok között is feltétlenül szükségünk van vegyes lakosságu községekben, mert ezen faji vonás által tartjuk meg mivoltunkat és faji létünket.“ 64 Képviselőházi napló 1910. XXXV. 1917. márczius 3–április 12 [3.3.–12.4.1917], S. 370. 65 I u d e a n : Deputați guvernamentali români în parlamentul de la Budapesta. 66 Ebenda, S. 58.
D I E R O L L E D E R S I E B E N B ÜR G I S C H E N S T ÄD T E I M E R S T E N W E LT K R I E G Harald R o t h Für die Zeit zwischen dem Attentat auf den Thronfolger und der allgemeinen Mobilmachung kann man für die siebenbürgischen Städte feststellen: keine besonderen Auffälligkeiten in diesem Teil der Monarchie – die gleiche sich steigernde Unruhe im Laufe des Juli, die gleichen Loyalitätsbekundungen der verschiedenen Sprachgruppen für Kaiser und König in Hermannstadt (Sibiu, Nagyszeben) und Bistritz (Bistrița, Beszterce) wie etwa in Aussig (Ústi nad Labem), Lemberg (Lviv, Lwów) oder Agram (Zagreb). Als der Mobilmachungsbefehl erfolgte, mussten die Bürgermeister der Städte die bis dahin geheim gehaltenen Schränke öffnen, das offen gelassene Datum in die Verlautbarungen und Mobilisierungserlasse eintragen und dann aushängen lassen1 – die ersten Schritte waren gut geplant. Aber schon kurz danach begann es zu klemmen: Die Abstimmung zwischen zivilen Behörden, die viele unterstützende Maßnahmen durchzuführen hatten, und militärischen Instanzen verlief nicht reibungslos. Das nicht immer ausreichende Organisationstalent des k. u. k. Militärs offenbarte sich schon während der Mobilmachung. Rumänien hatte seine Neutralität zu Kriegsbeginn bekräftigt. Darauf vertraute der Generalstab und zog das Gros seiner Truppen aus den Garnisonsstädten ab, um sie an die Fronten zu werfen. In militärischer Hinsicht hatten sich die Grenzen des historischen Fürstentums, dessen jahrhundertealten administrativen Spuren nach dem Ausgleich vom ungarischen Zentralstaat gezielt getilgt wurden, in einem „Militärischen Territorialbezirk“ erhalten. Das Korpskommando der XII. Armee hatte seinen Sitz in Hermannstadt, wo mit 13 Einheiten verschiedensten Charakters und einer Kadettenschule ohnehin die größten Heereskontingente lagen. Klausenburg (Cluj, Kolozsvár) folgte mit acht und Kronstadt (Brașov, Brassó) mit sechs Einheiten; kleinere Militärstandorte waren schließlich Karlsburg (Alba Iulia, Gyulafehérvár), Neumarkt am 1 Detailliert geschildert bei Karl Ernst S c h n e l l : Aus meinem Leben. Erinnerungen aus alter und neuer Zeit. Kronstadt [1934], S. 136f.
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Mieresch (Târgu Mureș, Marosvásárhely), Bistritz, Fogarasch (Făgăraș, Fogaras) und Mühlbach (Sebeș, Szászsebes), einzelne Bataillone oder Eskadronen konnten auch in Dörfern liegen wie etwa in der Kronstädter Umgebung2. Die Städte waren somit militärische Knotenpunkte und verwandelten sich mit dem Mobilmachungsbefehl über Nacht in Heerlager. Zu den Wehrpflichtigen kamen die Freiwilligen, nicht selten mit familiärem Anhang, was zu großen Herausforderungen der städtischen Infrastruktur und mitunter zu Versorgungsverknappung führte3, denn niemals vorher hatten sich in den Städten so viele Menschen gleichzeitig aufgehalten. Im Übrigen waren die Fahnenverbote aufgehoben worden, so dass diese Tage neben der ungarischen Trikolore auch die sächsischen, rumänischen und österreichischen Farben sahen und mit den zahlreichen Militärkapellen fast eine Art Volksfestcharakter hatten. Mit dem Abzug der Truppen an die Fronten im Osten gegen Russland und im Süden gegen Serbien kehrte eine bis dahin nicht gekannte Ruhe in die Städte ein. Rumäniens Haltung bereitete noch keine Sorgen, und so war es auch nicht notwendig, hier Etappenstädte einzurichten. Mit der massenhaften Einberufung der wehrfähigen Männer ergaben sich in den Städten neben vielerlei anderem vor allem zwei größere Problembereiche – die Sozialfürsorge für die Familien, die ohne Ernährer zurückblieben oder deren Ernährer durch die Einberufung ihrer Arbeitgeber erwerbslos wurden, und die Versorgung der Städte mit genügend Lebensmitteln. Für beides gab es keinesfalls ausreichende staatliche Regelungen, so dass zufriedenstellende Lösungen überwiegend lokalen Initiativen überlassen waren. Die sächsischen Städte waren insoweit im Vorteil, als sie auf die karitativen Erfahrungen und vorhandenen Strukturen der evangelischen Gemeinden zurückgreifen konnten und oft in Verbindung mit diesen Volksküchen und Kinderbewahranstalten einrichteten und Sammlungen durchführten. Die Opferbereitschaft zumal in der ersten Kriegszeit war sehr hoch, so dass in den Städten Hermannstadt, Kronstadt und Bistritz, für die uns entsprechende Berichte vorliegen, soziale Härtefälle ganz überwiegend aufgefangen werden konnten. In Kronstadt ging diese Fürsorgebereitschaft sogar so weit, dass die Stadtverwaltung nicht in der Lage war, gezielte Arbeitsprogramme zur Beschäftigung von Frauen aufzulegen; das Spendenaufkommen vernichtete buchstäblich die Arbeitsplätze. 2 Vgl. Übersichts-Karte der Truppen-Standorte des kais. u. kön. österr. ung. Heeres und der Landwehren im Jahre 1898. 3 Anschaulich geschildert bei Gustav Z i k e l i : Bistritz zwischen 1880 und 1950. Erinnerungen eines Buchdruckers. Hg. Michael K r o n e r . München 1989 (Veröffentlichungen SOKW C/9), S. 87–97.
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Auftrieb erhielt diese Hilfsbereitschaft zusätzlich, als vor dem ersten Kriegswinter trotz aller Abschottung der kämpfenden Truppen von der Heimat bekannt wurde, dass die eigenen siebenbürgischen Verbände nicht nur schlecht gerüstet, sondern auch vollkommen unzureichend eingekleidet waren4. Die erste siebenbürgische Stadt, die eine unmittelbare Anschauung vom Kriegsgeschehen erhielt, war Bistritz. An der Ostfront wurden die Mittelmächte schon Mitte August überrascht, als eine russische Armee große Teile Ostpreußens überrannte. So kam es schon in der zweiten Augusthälfte zu einer entlastenden Offensive der k. u. k. Verbände in Galizien gegen Russland mit fatalen Folgen: Die Truppen ÖsterreichUngarns mussten sich trotz Einzelerfolgen immer wieder geschlagen geben und weite Teile Galiziens und der Bukowina räumen, Mitte September auch Czernowitz (Černivci, Cernăuți). Bis dahin waren 400.000 Mann des k. u. k. Heeres an der Ostfront gefallen, verwundet oder in Gefangenschaft5. In Bistritz kamen bereits im August die ersten Flüchtlinge an, deren Zahl anwuchs, und im September waren es schließlich Wagentrecks aller Bevölkerungsschichten aus den beiden Nachbarprovinzen, begleitet von Viehherden, die man zu retten versuchte. Ein Teil der Flüchtlinge blieb in der Stadt, viele zogen weiter Richtung Westen. Diese konkrete Anschauung verband sich mit den Hiobsbotschaften von der Ostfront zu einer ausgesprochen angespannten Stimmung, die skurrile Nebenwirkungen zeitigte: Am 6. Oktober, einem Dienstag mit Wochenmarkt, konkretisierte sich am Vormittag ein Gerücht über einen Durchbruch russischer Truppen, und zwar in einer Bekanntmachung über die Bereitstellung von Eisenbahnzügen für Fluchtwillige aus der Stadt. In Bistritz und den umliegenden Gemeinden brach unter Einheimischen wie unter schon hier weilenden Flüchtlingen Panik aus – wer konnte, verließ mit verfügbaren Fuhrwerken die Stadt Richtung Süden, der Bahnhof wurde bis in die Nacht von Menschenmassen belagert, Behörden und Banken waren angewiesen worden, sich mit ihren Werten außerhalb der Stadt in Sicherheit zu bringen. Der Vizegespan und seine Beamten hatten sich nach Sächsisch-Reen (Reghinul Săsesc, Szászrégen) begeben. Am kommenden Tag stellte sich heraus, dass das alles ein Irrtum war, ausgelöst von ein paar versprengten und waffenlosen russischen Soldaten im Grenzgebiet zu Galizien. Weder 4 Zu den sozialen Nebenwirkungen und den Lösungsansätzen u. a. bei Friedrich T e u t s c h : Geschichte der Siebenbürger Sachsen für das sächsische Volk. Bd. IV. Hermannstadt 1926, S. 222–226; S c h n e l l : Aus meinem Leben, S. 138–141, Z i k e l i : Bistritz, S. 88–92. 5 Zu Chronologie und Zahlen vgl. u. a. Wolfdieter B i h l : Der Erste Weltkrieg 1914– 1918. Chronik – Daten – Fakten. Wien u. a. 2010, S. 83–89.
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die Militär- noch die Zivilbehörden hatten die Lage wirklich im Griff und ein halber Komitat stand tagelang aus nichtigem Grund Kopf. Nach einigen Tagen kehrten die Bistritzer wieder zurück, sollten aber auch künftig nicht wirklich zur Ruhe kommen6. Das Jahr 1915 unterschied sich in Siebenbürgen nicht wesentlich von anderen Provinzen der Monarchie, die nicht unmittelbares Kriegsgebiet waren. Es war geprägt von allgemeiner Verknappung, und für zunehmend mehr Lebensmittel wurden Beschränkungen und Karten eingeführt. Dies traf natürlicherweise primär die Städte und deren Zivilbehörden, da man auf dem Land eher Wege fand, die strikten Abgabepflichten etwa für Weizen, Mais und Kartoffeln zu umgehen. Wie sehr Siebenbürgen in punkto Versorgung jedoch noch ein Land der Seligen war, sollte erst ab dem Folgejahr deutlich werden. Metallsammlungen setzten ein und das Spendensammeln ging weiter – in Hermannstadt wurde der „Wehrmann in Eisen“ auf dem Großen Ring mit Spendennägeln benagelt7, in Kronstadt die Tür zum Sitzungssaal des Rathauses nach Gestaltung eines Künstlers8. Ab Anfang 1915 wurde auch die Unruhe im Hinblick auf den Nachbarn jenseits der Karpaten immer größer, denn man war sich nach dem Tode König Karls I. der Neutralität seines Nachfolgers und der Bukarester Politiker nicht mehr sicher. Im Vorfeld der Grenzen und Pässe wurden Verteidigungsstellungen angelegt und Gräben ausgehoben, dann aber nicht weiter unterhalten. Das Gerücht, dass das Militär im Falle eines Kriegseintritts Rumäniens die Mieresch-Linie festgelegt habe, um den Feind aufzuhalten, erhärtete sich bald. Dies hätte bedeutet, dass der Großteil des sächsischen Siedlungsgebiets und des Szeklerlandes besetzt sowie zwei größere und eine Vielzahl kleinerer Städte aufgegeben worden wären. Dennoch wähnte man auch dank entsprechender Beteuerungen des Militärs die Grenzen entlang der Karpaten als sicher bewacht9. 1916, als sich Kriegsmüdigkeit und Ermattung allgemein bemerkbar machten, hielt der Krieg schließlich auch in Siebenbürgen Einzug. Anfang Juni setzte eine schlagkräftige russische Offensive an der Ostfront ein, bei der auch große Teile der Bukowina erobert wurden. Wieder zogen Flüchtlingsströme Richtung Bistritz, und die Szenen von August und September 1914 wiederholten sich. Im späten Juni war ein schon bekanntes Verwirrspiel der Militärbehörden zu beobachten, als 6 Otto D a h i n t e n : Geschichte der Stadt Bistritz in Siebenbürgen. Hg. Ernst W a g n e r . Köln, Wien 1988 (Studia Transylvanica 14), S. 168–170. 7 Emil S i g e r u s : Chronik der Stadt Hermannstadt 1100–1929. Hermannstadt 1930, S. 63. 8 S c h n e l l : Aus meinem Leben, S. 145f. 9 Unter anderem bei T e u t s c h : Geschichte, S. 227.
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es mit der möglichen Räumung von Garnison und Spitälern in Bistritz immer hin und her ging und die Bevölkerung außerordentlich verunsicherte; wäre der Zugverkehr nicht vollständig vom Militär belegt gewesen, hätte wieder eine Fluchtbewegung eingesetzt. Anfang Juli war die Front so nahe an die Stadt herangerückt, dass man nachts den Geschützdonner hören konnte. Ende Juni 1916 war Bistritz zum Etappenort erklärt worden, und nach einer Woche traf schließlich das Etappen-Bezirkskommando ein. Nun wurde die Stadt neuerlich zu einem Knotenpunkt: Truppenteile und versprengte Abteilungen trafen von der Front ein, und neue Truppenteile, Rüstungsgüter, medizinische und Lebensmittelversorgung wurden angeliefert. Die Front kam zum Stehen, der russische Vormarsch war gestoppt und Siebenbürgen vorerst von Norden her sicher. Handel und Verkehr nahmen in der Etappenstadt Bistritz nun stark zu, es folgten bald auch deutsche Truppen, für die der Kurs der Reichsmark festgesetzt wurde, so dass zwei Währungen kursierten und Geld in die Stadt kam. Statt des Hausregiments lagen nun andere Truppen dauerhaft in Bistritz, das gesellschaftliche Leben nahm Fahrt auf (Treibjagden, Theater, Teeabende) und bezog anders als vor dem Krieg nun in allen Volkskreisen auch Militärpersonen mit ein. Diese Situation ließ den Mangel der kommenden zwei Jahre erträglich erscheinen10. Die Erfolge der russischen Sommeroffensive 1916 und wiederholte Versprechungen der Alliierten haben Rumänien letztlich doch dazu ermuntert, Österreich-Ungarn am 27. August 1916 den Krieg zu erklären. Noch unmittelbar vorher hatte der ungarische Ministerpräsident in einem Gespräch zugesichert, dass die Landesgrenze entlang der Karpaten für einen solchen Fall gut gesichert sei11. Als es jedoch ernst wurde, stellte sich heraus, dass die Pass-Straßen nach Rumänien nahezu unbewacht waren, und mit der Überschreitung der Grenze durch rumänische Truppen wurde auch Siebenbürgen zum Kriegsgebiet. Betroffen war vor allem der Südosten mit dem Burzenland und den Drei Stühlen sowie den südlichen Komitaten Fogarasch, Hermannstadt und Großkokeln. Das Ziel der rumänischen Kriegsführung war eine möglichst rasche Besetzung ganz Siebenbürgens, zunächst aber der wichtigen Knotenpunkte Kronstadt und Hermannstadt. Der rumänische Vormarsch erfolgte sehr vorsichtig, da mit einer starken Sicherung der Grenzen gerechnet worden war. De facto aber befand sich am Grenzposten im Predeal-Pass lediglich Gendarmerie und zur 10 D a h i n t e n : Bistritz, S. 171–175; zu Bistritz vgl. auch den Beitrag von Ingrid S c h i e l in diesem Band. 11 Dazu T e u t s c h : Geschichte, S. 230.
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Sicherung Kronstadts ein Infanteriebataillon, während der RotenturmPass vor Hermannstadt von einem Bataillon ungarischer Landwehr (Honvéd) gesichert wurde. Kronstadt (nur rund eine Stunde mit einem damaligen Kraftwagen von der Grenze entfernt) und Umgebung erhielt den sofortigen Evakuierungsbefehl: Neben den militärischen Kommandostellen betraf dies sämtliche Zivilbehörden sowie sämtliche ungarischen und deutschen Männer im wehrfähigen Alter (17–55 Jahre). Noch in der Nacht vom 27. auf den 28. August wurden alle Maßnahmen eingeleitet und am Morgen die Weisungen der Bevölkerung mit Aushang und Trommelschlag bekannt gemacht. Das Infanteriebataillon konnte die eindringenden rumänischen Truppen die Nacht über bis etwa 11 Uhr vormittags aufhalten; ab diesem Zeitpunkt war die Stadt praktisch ungeschützt. Ab dem Morgen waren Flüchtlinge in allen denkbaren Gefährten und zu Fuß unterwegs, auch am Bahnhof warteten sie zu Tausenden. Zu Mittag, zwischen 13 und 14 Uhr, fuhr einer der letzten von insgesamt 29 Flüchtlingszügen ab, mit ihm ein großer Teil der städtischen Beamten und der Bürgermeister. Dieser war zur Evakuierung verpflichtet und hatte kurz vorher die Verantwortung für die Stadt seinem (nicht mehr wehrpflichtigen) Stellvertreter übergeben sowie rumänische Mitarbeiter mit der Leitung der diversen städtischen Einrichtungen betraut. Von den gut 41.000 Einwohnern waren rund 20.000 geflüchtet, wogegen die fast 12.000 Rumänen sowie etwa 20 Prozent der deutschen und ungarischen Einwohner zurückblieben12. Die rumänischen Truppen rückten am Nachmittag in die in weiten Teilen verwaiste und militärisch ungeschützte Stadt ein. Um 17 Uhr hielt deren Kommandant auf dem Marktplatz eine Ansprache an die Bevölkerung, der amtierende (sächsische) Bürgermeister wurde abgesetzt, ein Kronstädter rumänischer Arzt in dieser Funktion eingesetzt, desgleichen ein rumänischer Polizeikommandant. Keine 24 Stunden nach der Kriegserklärung befanden sich Kronstadt und sein Umland somit in der Hand des rumänischen Militärs. Am Folgetag wurden sämtliche bisherigen Behörden und Gremien ihrer Kompetenzen enthoben und deren Besetzung ausschließlich mit Rumänen angeordnet, Kronstadt wurde dem Königreich Rumänien einverleibt, und allerorten war rot-gelb-blaue Beflaggung vorzunehmen13. 12 Zum Ablauf der Evakuierung vgl. S c h n e l l : Aus meinem Leben, S. 147–154, ferner d e r s ., Wilhelm G u n e s c h : Die rumänische Einnahme Kronstadts 1916. In: Neue Kronstädter Zeitung v. 1.10.1986, S. 5; Marianne L i c k e r - F a k l e r : Kriegsausbruch und Invasion. In: ebenda, S. 6. 13 S c h n e l l , G u n e s c h : Die rumänische Einnahme, S. 5; Heinrich Z i l l i c h : Der Weltkrieg. In: Kronstädter Zeitung, 100-Jahr-Ausgabe v. 24.5.1936, S. 100.
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Damit begann in Kronstadt die „Rumänenzeit“, wie die nun folgenden Wochen im Nachhinein genannt werden sollten. Die sich laufend verstärkenden rumänischen Truppen verhielten sich überwiegend freundlich. Ausschreitungen und vielfache Plünderungen der nicht bewohnten Häuser, der unbetreuten Geschäfte und Lager erfolgten vor allem seitens der vor Ort Verbliebenen mitunter im Verbund mit einfacher Mannschaft, während das Militärkommando nach Möglichkeit gegenzusteuern versuchte; viele Wohnungen wurden jedoch restlos ausgeleert. Geschäfte und Betriebe öffneten kaum oder eingeschränkt. Offenbar flohen auch während der Besatzungszeit Menschen aus der Stadt. Nachdem der evangelische Stadtpfarrer am ersten Sonntag noch in der Schwarzen Kirche gepredigt hatte (und, wie es in einem Tagebucheintrag heißt, unter Tränen fürs rumänische Königshaus zu beten gezwungen war), wurde er bald interniert und nach Bukarest verbracht. Der katholische Stadtpfarrer folgte alsbald, ebenso die verbliebenen nichtrumänischen Männer im wehrfähigen Alter. Die Stimmung unter der deutschen und ungarischen Bevölkerung war bleiern, zumal kaum Nachrichten von außen in die besetzte Stadt drangen14. Die „Kronstädter Zeitung“ hatte ihr Erscheinen eingestellt, die „Brassói Lapok“ erschien nun in Budapest, während es in Kronstadt nur noch die „Gazeta de Transilvania“ gab. Die rumänischen Truppen versuchten, das verhasste Arpad-Denkmal auf der Zinne zu zerstören. Es bedurfte etlicher Beschießungsversuche, bis es fiel und nur mehr der Sockel zu sehen war15. Während also Bistritz Etappenort für die Ostfront wurde, der Regierungskommissär und Teile der Armeeleitung in Klausenburg saßen, Kronstadt besetzt war und zu einem Teil des Nachbarlandes erklärt wurde, verlief die Entwicklung in Hermannstadt wiederum ganz anders: Die Stadt wurde Teil einer Stellungsfront. Der Evakuierungsbefehl war hier genauso wie in Kronstadt erfolgt, konnte jedoch mit etwas weniger Zeitdruck umgesetzt werden. Ein Bataillon der Honvéd sicherte den Rotenturm-Pass und musste sich nur langsam zurückziehen. Die Behörden verließen die Stadt am Dienstag, dem 29. August (am Sonntagabend war der Kriegszustand bekannt geworden); die Flucht der Bevölkerung ging allmählich vor sich. Erst am 3. September, eine Woche nach der Kriegserklärung, erreichten rumänische Truppen den Jungen 14 Franziska S c h u l l e r : Zurückgeblieben bei der Flucht. In: Neue Kronstädter Zeitung v. 15.12.2006, S. 8 u. 12. 15 Bálint V a r g a - K u n a : Árpád auf der Zinne. Das Kronstädter Milleniumsdenkmal als Folie der ethnischen Gegensätze in Siebenbürgen am Ende des 19. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Siebenbürgische Landeskunde 31 (2008), S. 59; S c h n e l l , G u n e s c h : Die rumänische Einnahme, S. 5.
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Wald vor Hermannstadt, wodurch sich die Honvéd auf die Höhen bei Hammersdorf zurückziehen musste16. Erst am 7. September morgens marschierten 300 Mann österreichischer Landsturm in Salzburg (Ocna Sibiului, Vízakna) westlich der Stadt los, um Hermannstadt zu sichern. Was in den nun knapp drei Wochen folgte, war echte k. u. k. Schauspielkunst. Diese 300 Mann älterer Landstürmler im Etappendienst wurden vom zuständigen Major so geschickt eingeteilt und durch den Aufbau eines mit örtlichen Mitteln improvisierten Kommunikationssystems koordiniert, dass sich der Feind in seiner Annahme bestätigt sah: Die rumänischen Truppen gingen nämlich von mindestens zwei Regimentern Besatzung in der Stadt aus, und alle Versuche, die tatsächliche Stärke der k. u. k. Truppen auszukundschaften, schlugen wie kleinere Angriffe und am 18. September ein größerer Angriff auf die Stadt fehl. Von den Einwohnern hatten fast drei Viertel die Stadt verlassen; weniger als 10.000 waren geblieben. Nicht nur die evangelische Kirchenleitung, auch das orthodoxe Metropolitankapitel war geflüchtet. Während dieser beklemmenden Wochen der Belagerung und laufender Scharmützel – inzwischen waren die Komitate Kronstadt, Fogarasch, Hermannstadt und Großkokeln zu großen Teilen besetzt worden – in diesen Wochen lief aus Hermannstadt noch eine weitere Räumung ab: Die Militärmagazine waren vollgefüllt, und nun wurden 900 Eisenbahnwaggons allein an Lebensmittelvorräten geräumt, dazu vieles mehr, auch die Schätze des Brukenthalmuseums. Auch hier war die Stimmung sehr gedrückt, zumal immer wieder Beschießungen der Stadt erfolgten; auf dem Großen Ring starben dadurch einmal zwei Kinder. Nachrichten kamen über die Räumungszüge nur sporadisch in die Stadt. Dass man glaubte, Hermannstadt nicht halten zu können, ist etwa an dem Befehl abzulesen, den Bahnhof zu sprengen. Der beauftragte sächsische Reservehauptmann, der auch die Lagerräumung koordinierte, führte den Befehl einfach nicht aus und ersparte der Stadt viel nachträgliches Übel17. Lange hätte das Täuschungsmanöver gegenüber den zunehmend nervösen rumänischen Belagerern nicht mehr weitergeführt werden können, als in der Nacht vom 25. auf den 26. September (rund einen Monat nach der Kriegserklärung) deutsche Truppen und ungarische Honvéd als Entlastung eintrafen und nun eine Befreiungsschlacht vorbereiteten. Diese setzte am 26. September am südlichen Hermannstädter Stadtrand ein und trieb die rumänischen 16 Zum chronologischen Ablauf siehe S i g e r u s : Chronik, S. 63f., der aber zuweilen Unsicherheiten aufweist. Über die Verteidigung Hermannstadts vgl. im Detail das publizierte Bataillonstagebuch in W. P e t r i c e k : Um Hermannstadt. Ein Zeitbild aus der rumänischen Invasion. Hermannstadt ²1917. 17 T e u t s c h : Geschichte, S. 239.
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Truppen in den kommenden drei Tagen von hier aus zurück in den Rotenturm-Pass, wo sie zusammen mit einem schon vorher dort eingetroffenen bayerischen Alpenjägerbataillon in die Zange genommen und fast vollständig aufgerieben wurden. Bemerkenswert waren nun die Szenen, die sich in den Tagen der Schlacht und danach in der Stadt abspielten: Die deutschen Soldaten und Offiziere stießen mit großer Verwunderung auf die Hermannstädter sächsische Bevölkerung, es folgte ein sehr bewegender und intensiver Austausch, der in vielen Fällen über Jahre und Jahrzehnte anhalten sollte. Das Bild, das die deutschen Truppen von den Deutschen Siebenbürgens hier genauso wie andernorts mitnahmen, sollte deren Wahrnehmung in Deutschland künftig deutlich mitprägen18. Nach der Schlacht bei Hermannstadt stellten sich die deutschen und k. u. k. Truppen in den ersten Oktobertagen umgehend wieder auf und marschierten Richtung Kronstadt. Dort kam es ab dem 7. Oktober zu heftigen Kämpfen, die sich überwiegend auf Stadtgebiet abspielten. Sie dauerten zwei Tage, bis die rumänischen Truppen die Stadt fluchtartig in Richtung Predeal-Pass verließen. Die Kampfspuren waren in der Stadt vielerorts sichtbar, doch konnten größere Brände im Stadtgebiet verhindert werden. Der durch die rumänischen Besatzer verursachte Schaden war teilweise erheblich, da sämtliche Stoffvorräte der bedeutenden Kronstädter Textilindustrie vereinnahmt worden waren. Die Zurückdrängung der rumänischen Truppen über den Karpatenkamm durch jene der Mittelmächte sollte sich allerdings schwieriger gestalten, denn erst Anfang November war dieses Ziel erreicht. Nach Erfolgen in der Dobrudscha und einigen Schlachten in der Walachei konnte am 6. Dezember Bukarest erobert werden; bis zum 10. Januar 1917 war die Besetzung der Walachei abgeschlossen. In (Süd-)Siebenbürgen fühlte man sich nun erstmals seit Kriegsbeginn vor einem militärischen Überfall sicher. Kronstadt wurde für den Rest der Kriegsdauer zur Etappenstadt fern der Fronten, aber als von deutschen und k. u. k. Militärs häufig frequentierter Knotenpunkt in Nachbarschaft zum besetzten Rumänien19. 18 Dieses Phänomen findet sich in der Literatur sowohl seitens sächsischer als auch binnendeutscher Autoren immer wieder beschrieben, vgl. u. a. die Titel: Ulrich L ö r c h e r : Um Hermannstadt. Erzählung aus dem Rumänienfeldzug 1916. Eisleben 1916; Emil S i g e r u s : Hermannstädter Kriegschronik. Nach Tagebuchaufzeichnungen. Hermannstadt 1917; Adolf S c h u l l e r u s : Die tote Stadt. Erlösung. Bilder aus den Tagen der Schlacht von Hermannstadt. Hermannstadt 1917; Aus der Rumänenzeit. Ein Gedenkbuch an sturmbewegte Tage; zugunsten der siebenbürgisch-sächsischen Kriegswitwen und -waisen. Hg. Emil S i g e r u s . Hermannstadt 1917; Franz H e r f u r t h : Im Sturme treu! Drei Ansprachen im Gedenken an Kronstadts Befreiung aus Rumänenhand. Kronstadt 1917. 19 B i h l : Der Erste Weltkrieg, S. 145–147.
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Die in halb Ungarn (mit einem Schwerpunkt der Kronstädter und Hermannstädter in Budapest) verteilten Flüchtlinge konnten ab Mitte Oktober allmählich wieder zurückkehren. Das Landeskonsistorium nahm seine Tätigkeit in Hermannstadt am 25. Oktober wieder auf, das Siebenbürgisch-Deutsche Tageblatt erschien ab dem 30. Oktober wieder daselbst, nachdem es während der Zeit der Flucht als Teil des „Pester Lloyd“ in Budapest herausgekommen war. Der Kronstädter Bürgermeister hingegen wurde an seiner Rückkehr zunächst gehindert: Er wollte gleich nach der Befreiung der Stadt mit einem Teil seiner Beamten heimkehren, doch brauchte das Armeeoberkommando in Kronstadt mit General von Falkenhayn noch keine Zivilverwaltung vor Ort, zumal man noch eine erbitterte Schlacht vor den Toren der Stadt focht. Der Beruhigung der eigenen Truppen wie auch der Bevölkerung dienten Besuche hoher Persönlichkeiten: Der Thronfolger Erzherzog Karl hielt sich Ende Oktober/Anfang November 1916 mit seiner Gattin einige Zeit in Schässburg (Sighișoara, Segesvár) auf und zeigte dem bayerischen König Ludwig III. die Stadt20. Desgleichen besuchte er Hermannstadt, bis ihn ein Telegramm ans Sterbebett des Kaisers und Königs nach Wien beorderte21. In Kronstadt fand sich ebenfalls noch im Oktober 1916 Erzherzog Friedrich als Generalissimus der k. u. k. Armee ein, dann 1917 Erzherzog Franz Salvator bzw. Prinz Friedrich Christian von Sachsen22. Im Herbst 1917 war es der deutsche Kaiser Wilhelm II., der nach einer Visite bei den deutschen Truppen im besetzten Rumänien Ende September Besuche in Kronstadt und Hermannstadt vornahm: Er beeindruckte deren deutsche Bevölkerung damit nachhaltig23. In Kronstadt fand man noch Ende 1916 eine besondere Form, der Rückeroberung der Stadt zu gedenken: Ein wichtiger Platz, an dem Behörden lagen, wurde „Falkenhaynplatz“, eine der Hauptverkehrsadern zum Bahnhof hin nach dem Kommandanten der Honvéddivision „Tarnakystraße“ benannt. Auch ein Denkmal sollte errichtet werden, wozu es wegen des Kriegsausganges jedoch nicht mehr kam24. Bei allen Versorgungsengpässen, die die Städte im dritten und beginnenden vierten Kriegsjahr mit viel Phantasie zu bewältigen hatten, 20 Schäßburg. Bild einer siebenbürgischen Stadt. Hgg. Heinz B r a n d s c h , Heinz H e l t m a n n , Walter L i n g n e r . Leer 1998, S. 109f. 21 T e u t s c h : Geschichte, S. 243. 22 S c h n e l l : Aus meinem Leben, S. 167–172. 23 Berichte dazu in sämtlichen Medien jener Zeit, rückblickend auch bei T e u t s c h (S. 247) und S c h n e l l (S. 172). 24 S c h n e l l : Aus meinem Leben, S. 161.
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sah es in Siebenbürgen doch noch deutlich besser aus als im Deutschen Reich: Die Stadtleitungen von Kronstadt und Hermannstadt regten einen großen Ferienaustausch für Schulkinder an, durchgeführt in enger Zusammenarbeit mit der evangelischen Kirche und den umliegenden Gemeinden. Nach Kronstadt kamen im Sommer 1917 für die Dauer von zwei Monaten Berliner Kinder, nach Hermannstadt Leipziger und Wiener Kinder (hier rund 500), begleitet von einer Vielzahl an Lehrern. Es waren auch öffentlich breit wahrgenommene Aktionen, die zumal nach ihrer Rückkehr noch lange nachwirkten, etwa im „Berliner Siebenbürgen-Bund“. Der Kinderaustausch hätte wiederholt werden sollen, wurde aber ein Opfer des weiteren Kriegsverlaufs25. Die letzten ein bis eineinhalb Kriegsjahre verliefen gewissermaßen „ohne weitere Auffälligkeiten“. Die zunehmende Verknappung sämtlicher Verbrauchsgüter war – wie am Beispiel des Kinderaustauschs zu sehen ist – immer noch erträglicher als in anderen Teilen Mitteleuropas. Die Städte profitierten unter den gegebenen Umständen durchaus vom Etappenstatus im relativ sicheren Hinterland. Im Oktober 1917 fanden, wenn auch in bescheidenem Rahmen, die 400-Jahr-Feiern zum Reformationsjubiläum statt. Auch städtische Bauprojekte wurden vorangebracht, in Hermannstadt etwa die Planungen für eine Mädchenschule, in Kronstadt jene für einen Zentralfriedhof oder für Reformsiedlungen für Arbeiter. Die jeweiligen Entwicklungen während des Zusammenbruchs der Monarchie bei Kriegsende mit Komitatsräten, Soldatenräten, Nationalräten, Bürgergarden usw. gehören bereits in einen anderen Zusammenhang. Abschließend sei eine Feststellung erwähnt, die sich durch alle Aufzeichnungen über die Kriegsjahre in siebenbürgischen Städten durchzieht – nämlich die weit reichende Desorganisiertheit und Planlosigkeit der k. u. k. Armee. Bei aller Loyalität konnte kaum ein Zeitgenosse umhin, deren Unzulänglichkeiten und Unzuverlässigkeit von kleinsten Dingen bis hin zur Kriegsstrategie irgendwie festzuhalten. Gänzlich anders wurde hingegen die deutsche Armee wahrgenommen, zu deren Angehörigen ab Sommer bzw. Herbst 1916 Kontakte und Austausch in den sächsischen Städten sehr viel intensiver waren. Daran änderte auch der Umstand nichts, dass im März 1917 der Hermannstädter Arz von Straußenburg Chef des k. u. k. Generalstabes geworden war.
25 Ebenda, S. 174–177, S i g e r u s : Chronik, S. 65, vgl. auch den Beitrag S c h i e l in diesem Band.
D I E E VA N G E L I S C H E L A N D E S K I R C H E A . B . I N D E N S I E B E N B ÜR G I S C H E N L A N D E S T E I L E N U N G A R N S W ÄH R E N D D E S E R S T E N W E LT K R I E G S Ulrich A. W i e n
Einleitung Heinrich Zillich (1898–1988)1 erlebte sein Debüt in den „Kirchlichen Blättern“ 1915 mit dem Gedicht „Heliand“, das der Oberstufenschüler in der Karfreitagsfeier des Honterusgymnasiums in Kronstadt (Brașov, Brassó) vorgetragen hatte. Es zeigt die Seelenlage eines Jugendlichen und stellt gewissermaßen ein verdichtetes Echo auf die auf ihn einströmenden Einflüsse des vergangenen Dreivierteljahres dar. Zugleich ist es aber auch eine veröffentlichte Meinung im Amtsblatt der Landeskirche und fungiert damit auch als eine Verstärkung der öffentlichen Stellungnahmen zum Krieg im Presseorgan der Landeskirche2. Heut morgen ward der Befehl gebracht Als die ersten Schüsse knallten: „Im vordersten Graben scharfe Wacht, und die Stellung wird gehalten.“ Da lagen im tiefen Unterstand, geduckt in den nassen Schanzen, feldgraue Schützen und spähten ins Land und ließen die Kugeln tanzen. Das wurde ein Tanz so wild, so weh! Der Tod kommandierte die Klänge; er spielte bald langsam, bald spielte er jäh Und liebte das tolle Gedränge. – Doch endlich brach die Nacht ins Land Und mählich verstummte das Tosen. Da lagen viele wie hingebannt, auf den Stirnen blutige Rosen. […] 1 Stefan S i e n e r t h : Zillich. In: Lexikon der Siebenbürger Sachsen. Innsbruck 1993, S. 590–591. 2 Kirchliche Blätter (fortan: KiBll) 7 (1915), S. 375f.
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[Ein Fähnrich ängstigt sich im Traum vor heranwogenden Feinden und erhält Trost von einem dagegen aufstehenden, erzgewappneten, einsamen Helden, der „als Heliand durch Kampf zum Frieden zum Siege!“ führt]. Er lauschte still und horchte auf. Und wie aus Kindertagen, aus sonniger Zeiten gold’nem Lauf hört‘ er es flüstern und sagen: daß einst hier über die Erde schritt ein Mann, der uns Frieden brachte und der am Kreuze dafür litt, daß er uns selig machte! – Der Herr schritt jetzt zum Kampfe aus, sein Licht voran zu tragen, für uns zu bluten im Schlachtengraus zu leiden in Schicksalstagen. – Der Fähnrich wurde ruhig und still Und krampfte die Faust um den Säbel. Nun weiß er, was Jesus von ihm will, nun hebt sich’s vor ihm wie Nebel. Da sah er die Welt so schön, so weit, sah Christus langsam verschwinden. Doch er war fröhlich zu sterben bereit, zu siegen – und Ihn zu finden.“
Zillichs mystisches Szenario basiert auf einer martialischen Vorbildchristologie. Der gefürchtete Schlachtentod verliert sein schreckendes Gesicht, denn jener gilt als Analogie zur stellvertretenden Lebenshingabe des Gottessohnes am Kreuz, ja als Wille Jesu – praktisch als Nachfolgeethik in Kriegszeiten. Es erwächst daraus die Siegeszuversicht, und der Protagonist (Fähnrich) gewinnt dem sogenannten Heldentod einen zwischen Immanenz und Transzendenz schwebenden Sinn ab („Da sah er die Welt so schön, so weit“), um schließlich „Ihn“, den „Heliand“ zu finden, also erlöst zu werden. Damit gerät die Gymnasiasten-Mystik in den Sog einer Art Märtyreridee, ja Märtyrersehnsucht. Wir werden einer sehr ähnlichen, vorbereitenden Denkbewegung ohne Gymnasiasten-Mystik bei Adolf Schullerus (1864–1928)3 wieder begegnen. 3 Ulrich A. W i e n : „Ich brauche zum Leben ein Stück Heimatluft“. Erinnerung an den ehemaligen Pädagogen, Wissenschaftler, Bischofsvikar und Politiker Dr. Adolf Schullerus (1864–1928) zum 150. Geburtstag. In: Siebenbürgische Zeitung v. 20.3.2014, S. 1 u. 7, demnächst in: Ostdeutsche Gedenktage 2014 (in Vorbereitung); SchriftstellerLexikon der Siebenbürger Deutschen. Bio-Bibliografisches Handbuch für Wissenschaft, Dichtung und Publizistik. Begründet 1868 von Joseph T r a u s c h , fortgeführt von Friedrich S c h u l l e r , Hermann H. H i e n z , Hermann A. H i e n z . Bd. X. Hg. Harald R o t h . Köln, Weimar, Wien 2012, S. 368–390.
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Folgen des Krieges Als der Krieg zu Ende war und die Mittelmächte bedingungslos kapituliert hatten, war auch für die Landeskirche das Desaster unermesslich und unüberschaubar. Die seit 1906 ständig vermehrte und vorwiegend zur Finanzierung der steigenden Lehrergehälter verwendete, zum 1. Juli 1914 um 400.000 Kronen erhöhte jährliche Staatsunterstützung (auf insgesamt rund eine Dreiviertelmillion Kronen) signalisierte als solche eine Entkrampfung des Verhältnisses zwischen dem ungarischen Staat bzw. dessen Regierung und der siebenbürgisch-sächsischen Minderheit bzw. Landeskirche4. Zumindest jene Entwicklung hatte es erleichtert, den jahrzehntelangen Prozess sich vermindernder Loyalität zum ungarischen Nationalstaat aufzuhalten: Im Sommer 1914 mündete die distanzierte Grundeinstellung in einen defensiven Patriotismus ein. Als aber in der Nachkriegszeit die staatlichen finanziellen Zuwendungen mittelfristig fortfielen, stand die Landeskirche schon 1920 nach Aussagen des Bischofs vor dem „Bankerott“.5 Zusätzlich bedrohten die Auswirkungen der anstehenden Agrarreform in Rumänien alle Minderheitenkirchen in ihrer Existenz, weil zumeist die Kulturleistungen (insbesondere das Schulwesen und sein Personal) durch den Nießbrauch (durch die Erträge der land- und forstwirtschaftlichen Einrichtungen und Immobilien) maßgeblich finanziert worden waren. Hier erlitten die Landeskirche und die Einzelgemeinden eine Einbuße von insgesamt 35.000 Joch Grund, denn es durften nur 32 Joch pro Gemeinde, zusätzlich als Lehrer- und Kantorengrund noch 16 bzw. 8 Joch behalten werden6. Die Liquidität der Rücklagen und im Bargeldverkehr wurde numerisch halbiert durch die bewusst ungünstige Währungsunion, die einen Umrechnungskurs von 2 Kronen zu 1 Leu ansetzte7. Schließlich hatte die Kirchenleitung die Zeichnung von Kriegsanleihen stark propagiert. Die Landeskirche selbst und viele ihrer Stiftungsfonds hatten Millionenbeträge in diese mit meist 6 Prozent 4 Verhandlungen der Sechsundzwanzigsten Landeskirchenversammlung 1916. Herausgegeben vom Landeskonsistorium der evangelischen Landeskirche A. B. in den siebenbürgischen Landesteilen Ungarns. Hermannstadt 1917. Siehe Ulrich A. W i e n : Kirchenleitung über dem Abgrund. Bischof Friedrich Müller vor den Herausforderungen durch Minderheitenexistenz, Nationalsozialismus und Kommunismus. Köln, Weimar, Wien 1998 (Studia Transylvanica 25), S. 9. 5 ZAEKR 103: G Z. 620/1925, Schreiben v. 18.3.1920 des Bischofs Teutsch an die Hilfsgesellschaft des Centralverbandes der Siebenbürger Sachsen in Cleveland. 6 W i e n : Kirchenleitung, S. 39. 7 Ebenda, S. 40.
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überaus rentierlichen Kapitalanlagen investiert und die Gemeinden zu gleichgerichtetem Vorgehen ermuntert, ja aufgefordert8. Insgesamt summierte sich diese Form des kirchlichen Anlagekapitals auf 14,5 Mio Kronen9. Die 7,5 Mio der vom Landeskonsistorium gezeichneten Kriegsanleihen entsprechen in etwa 30 Prozent der Stiftungskapitalien oder sonstiger Rücklagen bei der Zentrale im Jahre 1914. Rückzahlung und Verzinsung mussten bei den kirchlichen Kapitalien abgeschrieben und als Verlust gebucht werden. Dazu kamen rund 500 Millionen Kronen, die von der sächsischen Bevölkerung – zusätzlich ermuntert durch die kirchlichen Repräsentanten – an Kriegsanleihen gezeichnet worden waren10. Außerdem erschwerte die galoppierende Inflation sowohl der Kriegs- als auch der unmittelbaren Nachkriegsjahre die Haushaltsplanung bzw. jegliche Haushaltsführung. Teilweise hatte die Landeskirche schon seit 1916 vorschussweise und gedeckt durch Darlehen „Kriegsteuerungszulagen“ und andere Kompensationszahlungen äquivalent zu staatlichen Maßnahmen finanziert11, die sich schließlich – im nun als Ausland geltenden Ungarn – als uneinbringbar herausstellten. Zusätzlich verweigerten in der Nachkriegszeit viele Kirchengemeinden, aus verschiedenen Gründen, ihren kirchlichen Gehaltsempfängern (Lehrern und Pfarrern) die Inflationszulagen – trotz des durch die ertragreiche Kriegskonjunktur für Nahrungs- und Genussmittel zum Teil auf den Dörfern ungewöhnlich hohen Bargeldbestandes, der allerdings auch zur Entschuldung von Privatpersonen und Kirchengemeinden genutzt wurde12. Dieser bäuerliche Geiz gegenüber den Festbesoldeten strapazierte die Loyalität der Lehrer gegenüber dem Anstellungsträger, und es kam zu koordinierter Gegenwehr: Vor Weihnachten und zur Jahreswende 1919/20 fand ein erster koordinierter, größerer Lehrer8 KiBll 6 (1914), S. 548: RS 4385/1914, in denen die Kriegsanleihe – wie später immer wiederholt – als „außerordentlich günstige Kapitalanlage“ und als „patriotisches Unternehmen“ sowie als „Ehrenpflicht unserer Kirche“ gewürdigt und empfohlen wurde. Vgl. dazu auch KiBll 7 (1915), S. 215 – zweite Kriegsanleihe; S. 456 – dritte Kriegsanleihe; KiBll 8 (1916), S. 168–170 – vierte Kriegsanleihe; KiBll 8 (1916), S. 388 – fünfte Kriegsanleihe; KiBll 9 (1917), S. 173–174 – sechste Kriegsanleihe; S. 413 – siebte Kriegsanleihe; KiBll 10 (1918), S. 194, 196–197 – achte Kriegsanleihe. 9 KiBll 12 (1920), S. 37. Vgl. auch W i e n : Kirchenleitung, S. 40. 10 KiBll 12 (1920, S. 600. 11 Erstmals KiBll 8 (1916), S. 357. 12 ZAEKR 400/235-154: Gedenkbuch Hahnbach, 1915, Punkt 33: „Es ist viel Geld unter den Leuten; die Kriegsunterstützungen bedeuten für die vor dem Kriege an Bargeld sehr armen Empfänger immerhin ein ansehnliches Sümmchen.“ ZAEKR 400/357-255: Gedenkbuch der evangelischen Gemeinde Großscheuern, 15.3.1918: „Die Leute haben gegenwärtig Geld.“ ZAEKR 400/250-355: Gedenkbuch Burgberg 1917: „Das Papiergeld fließt in Strömen.“ Vgl. auch KiBll 10 (1918), S. 151–152.
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streik im Kirchenbezirk Hermannstadt (Sibiu, Nagyszeben) sowie flächendeckend in weiteren vier Kirchenbezirken statt13. Die Frontgeneration war mündig geworden und ließ sich nicht mehr selbstverständlich in alte Beziehungs- und Abhängigkeitsmuster einordnen14; dies galt sowohl innerfamiliär als auch in der Gemeinschaft des Dorfes, aber auch in den kirchlichen Verhältnissen. Nicht nur der Lehrerstreik, sondern auch die schon in der Vorkriegszeit begonnene religiöse Desintegration, besonders die Hinwendung zu religiösen Sondergruppen („Sekten“), ist dafür ein sprechendes Zeugnis15. Auch die sowieso schon geringe Neigung zur Teilnahme an den Abendmahlsfeiern sank binnen zweier Jahrzehnte durchschnittlich um mehr als ein Drittel16. Im Ergebnis der Kriegsziele der Entente, insbesondere des ihr alliierten Königreichs Rumänien, wurden endgültig im Vertrag von Trianon Teile des Banats, Siebenbürgen, Sathmar (Satu Mare, Szatmár), Marmarosch (Maramureș, Máramaros), die Bukowina, die Süddobrudscha und Bessarabien an Rumänien angegliedert. Aus dem Nationalstaat wurde ein Nationalitätenstaat mit knapp 30 Prozent Minderheitenbevölkerung, unter denen sich auch protestantische Gruppen befanden17. Die Lutheraner scharten sich um die Evangelische Landeskirche und ihre Kirchenleitung in Hermannstadt, die zunächst in Assoziierungsabkommen zwischen 1920 und 1922 sukzessive diese Gemeinden oder Kirchengebietskörperschaften in den Organismus der Landeskirche zu integrieren suchte. Formal abgeschlossen wurde dieser Prozess durch die Kirchenordnung der Evangelischen Landeskirche A. B. in Rumä-
13 Harald R o t h : Politische Strukturen und Strömungen bei den Siebenbürger Sachsen 1919–1933. Köln, Weimar, Wien 1994, S. 94. 14 ZAEKR 400/357-255: Gedenkbuch der evangelischen Gemeinde Großscheuern, Jahresende 1918: „In der Gemeinde selber gährt und rumort es auch gewaltig. Die Heimkehrer wollen in vielen Dingen Ordnung machen. Der Richter Sim. Fuss 318 ist weggefegt.“ Ergänzend zu Jahresanfang 1919: „Die sogenannten Heimkehrer brachten aus dem Kriege manche böse Sitte mit. Der Krieg hatte zu lange gedauert, alle Autorität war untergraben. Und mancher Maulheld, der stets hinter der Front gewesen, begann nun tapfer zu sein. Vor allem wollte die Jugend von Unterordnung und Gehorsam nichts wissen. Und das wüste Treiben wurde vom Ortsamt und den Eltern geduldet.“ – KiBll 10 (1918), S. 192, 236–237. 15 Johannes R e i c h a r t : Die Sekten und die Gemeinschaft in unserer Landeskirche. In: Referat gehalten am 10. Mai 1911 vor der geistlichen Generalssynode [1911]. Hermannstadt 1911, S. 52. 16 W i e n : Kirchenleitung, S. 37. 17 Konrad G. G ü n d i s c h : Siebenbürgen und die Siebenbürger Sachsen. Studienbuchreihe der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat. Bd. 8. München 1998, S. 180.
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nien 1926/2718. Die Landeskirche stellte die einzige, alle Regionen des Landes umgreifende deutschsprachige Körperschaft und Organisation im Rumänien der Zwischenkriegszeit dar. Die tiefgreifende Irritation, die die landeskirchliche Elite wegen der Transformation ergriff, lässt sich nur annähernd erfassen. Das patriotische Ethos geriet in die Krise: Die zu Beginn des Weltkriegs erfolgte Re-Identifizierung mit dem ungarischen Vaterland19 hatte nämlich eine institutionell stabilisierte Verkörperung erfahren. Dezidiert wegen dieser auf Ausgleich mit dem ungarischen Staat zielenden Strategie war folgerichtig der Spitzenbeamte und Obergespan des Hermannstädter Komitats und „Sachsenkomes“ Friedrich Walbaum (1864–1931) 1916 zum Landeskirchenkurator gewählt worden20. Infolge des Kriegsendes verlor er sein Amt als Obergespan, und so amtierte nun ein Exponent des verblichenen Systems als Bischof-Stellvertreter. Das Mitglied des Landeskonsistoriums Julius Schaser (1868–1951), einst Vizegespan des Großkokler Komitats, konnte angesichts der Entschließung des Deutsch-sächsischen Nationalrats vom 8. Januar 1919, die die Bereitschaft der Siebenbürger Sachsen signalisierte, sich für den Zusammenschluss Siebenbürgens mit Rumänien auszusprechen, nur indigniert festhalten, man wechsle sein Vaterland doch nicht „wie ein Hemd“21. Auch dem amtierenden Bischof Friedrich Teutsch kam das Wort „Vaterland“, das er eindeutig für die ungarische Monarchie verwendet hatte, für die neue staatliche Ordnung Rumäniens nicht über die Lippen. Die Distanz war groß, aber die Nötigung zur Kooperation noch stärker. Das jahrzehntelang gepflegte Konzept der „sächsischen Volkskirche“ mit ihrem „Sachsenbischof“ war nur noch begrenzt gültig, denn die deutsche Ethnie in Rumänien war mehrheitlich (55 Prozent : 45 Prozent) katholisch, ein gutes Drittel der Mitglieder der Landeskirche lebte außerhalb der siebenbürgisch-sächsischen Gemeinden. Schließlich wurde ein zum Luthertum konvertierter Schlesier, der als Stadtpfarrer von Czernowitz (Cernăuți, Černivci) über die ehemals österreichische Bukowina ein „Beute-Rumäne“ geworden war, zunächst zum Kronstädter Stadtpfarrer und dann zum Bischof gewählt: Dr. Viktor Glondys (1882–1949).22 Alles in allem stellten die Nachkriegsjahre einen Umbruch sondergleichen in der bis dahin fast 800-jährigen Geschichte der siebenbürgischsächsischen Gemeinschaft und Kirche dar. 18 Die Kirchenordnungen der Evangelischen Kirche A. B. in Siebenbürgen (1807– 1997). Hgg. Ulrich A. W i e n , Karl W. S c h w a r z . Köln, Weimar, Wien 2005, S. 255–307. 19 KiBll 6 (1914), S. 509. 20 KiBll 8 (1916), S. 255, Verhandlungen 1916, S. 32. 21 Erinnerungen des Dr. Julius S c h a s e r (Typoskript), S. 133. 22 W i e n : Glondys. In: RGG4 3 (2000), Sp. 1010–1011.
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Die „Kirchlichen Blätter“ als Quelle der veröffentlichten Meinung Der Krieg begann 1914 für die landeskirchliche Führung und einen Großteil der siebenbürgischen Bevölkerung überraschend und zu ihrem großen Schrecken, denn es kann keine anfängliche Kriegsbegeisterung festgestellt werden23. Vor dem Hintergrund einer deutlichen antideutschen Stimmung in den magyarischen Medien, einer forcierten Magyarisierungs- und Assimilierungspolitik bedeutete ein Eintritt der ethnischen Minderheiten für das ungarische Königreich keine Selbstverständlichkeit24. Die Repräsentanten der evangelischen Landeskirche A. B. und der politischen Elite der Siebenbürger Sachsen standen wie alle anderen ethnischen Minderheiten in der Habsburgermonarchie vor der Herausforderung, für einen Staat in den Krieg ziehen zu sollen, für den das patriotische Gefühl nur eingeschränkt galt: eine sich abschwächende Loyalität zum „Vaterland“(Ungarn) und eine sich intensivierende zum „Mutterland“ (Deutschland), in der u. a. „Deutschtum“ und „Protestantismus“ als verbindende Elemente fungierten. Es muss also mit einer „doppelten“ Loyalität unter den meinungsführenden Akademikern gerechnet werden, die von einer im Deutschen Kaiserreich sich dynamisch entwickelnden deutschnationalen Gesinnung an den Universitäten geprägt worden war. Diese hatte sich in den landeskirchlichen Gemeinden und unter den Siebenbürger Sachsen weit verbreitet und verstärkte sich im Verlauf des Krieges reziprok. Zusätzlich kamen ökonomische Faktoren hinzu: Aufgrund der überwiegend landwirtschaftlich geprägten Situation der sächsischen Gemeinden waren die Bevölkerung und die Landeskirche nach mehrjährig schwachen landwirtschaftlichen Ernteergebnissen auch materiell beeinträchtigt. In einigen Orten war der kirchliche Schuldenstand hoch, die Tilgungsraten trotz erheblicher Zinsbelastungen aber relativ klein. Vielerorts konnten außerdem die Eltern das Schulgeld nicht zahlen, aber auch die Erträge aus den kirchlichen Gütern waren rückläufig. Einige Kirchengemeinden hatten erkennbare Probleme, den Lehrern auf dem Lande die zustehende Besoldung zu leisten25. Dies war die 23 ZAEKR 400/357-255: Gedenkbuch Großscheuern, 18.1.1915: „von einer Kriegsbegeisterung unter unseren Leuten ist noch immer keine Rede“. 24 ZAEKR 400/235-254: Gedenkbuch der Evangelischen Gemeinde Hahnbach 1914, Punkt 17: „Es ist uns freudigste Genugtuung in den magyarischen Blättern das bisher angefeindete und geschmähte deutsche Volk und seinen großen Kaiser in Worten höchsten Lobes und überschwänglicher Begeisterung gefeiert zu finden.“ 25 Oskar W i t t s t o c k : Eine Anfrage. In: KiBll 6 (1914), Nr. 28, S. 311.
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Situation, in die die Nachricht vom Attentat auf den österreichischungarischen Thronfolger in Sarajewo hineinplatzte. Als Reaktion auf die Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand veröffentlichte die Landeskirche in ihrem wöchentlich erscheinenden, „Kirchliche Blätter“ genannten Kommunikationsorgan und Amtsblatt, eine Traueranzeige, in der vor dem Hintergrund der jüngsten Balkankriege zunächst Empörung, Empathie und Unwillen bekundet wurden26. Zugleich wurden die Serben als „kaum erst mit einem dünnen Firniß der Kultur bekleidete[s] Volk“ herabgewürdigt.
Zwischen Schrecken und Begeisterung Die Stellung zum Krieg vollzog in den „Kirchlichen Blättern“ eine Wellenbewegung – erst Trauer und Pflichtbewusstsein, gefolgt von erster Kriegsbegeisterung im Herbst 1914, dann Ernüchterung zur Jahreswende und Hoffnungen im Frühjahr 1915, jedoch Ermüdung im Winter 1916. Auf Panik im Herbst 1916 folgte enthusiastische Begeisterung im Winter 1916/17, die, nach einer Abkühlung wegen der Isonzoschlachten im Frühjahr 1918, kombiniert mit Kriegsmüdigkeit, schließlich die Hoffnung auf den „Endsieg“ und die „Friedensarbeit“ aufkeimen ließ. Dem anfänglichen Schrecken Ende Juli 1914 und der Trauer27 folgte also erst in einer zweiten Phase Kriegsbegeisterung. Letztere war Ende August in der Pfarrerschaft bereits so groß, dass angesichts der Anfangserfolge des deutschen Heeres an der Westfront von der Stimmung im deutschen Kaiserreich eine Sogwirkung ausging. Die Hermannstädter Gemeinde rüstete zu vollem Geläute aller Glocken vom Turm der evangelischen Stadtpfarrkirche anlässlich des angeblich bevorstehenden Sieges der österreichisch-ungarischen Truppen bei Lemberg (Lviv, Lwów)28, doch erschien angesichts der verheerenden Niederlage und der Verluste in Galizien im Spätsommer 1914 die ab Oktober 1914 publizierte Kriegsbegeisterung im Amtsblatt nicht nur durch die Übernahme von Texten reichsdeutscher Herkunft und Autoren als trotzige, ja kontrafaktische Beeinflussung der Öffentlichkeit. Sowohl der Stellungskrieg an der Westfront als auch die „russische Walze“ im Osten hatten den hochfliegenden Szenarien der Mittelmächte rasch die Grenzen aufgezeigt. Unterstützt wurde diese Kriegspropaganda durch 26
KiBll 6 (1914), S. 311. KiBll 6 (1914), S. 311 u. 323–325. ZAEKR 400/357- 255: Gedenkbuch Großscheuern: „So viel Männer hatte ich bisher nicht weinen gesehen wie an diesem Tag.“ 28 ZAEKR 400/235-154: Gedenkbuch der Evangelischen Gemeinde Hahnbach, 1914, Punkt 19. 27
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die Empfindung eines „gefühlten Verteidigungskrieges“ – trotz der von den „in Nibelungentreue“ aneinandergeketteten Mittelmächten ausgehenden Kriegserklärungen an die Nachbarstaaten29. Dabei beriefen sich die Reichsdeutschen im nationalprotestantischen Enthusiasmus missbräuchlich auf Luther, der prinzipiell jeglichen Angriffskrieg abgelehnt hatte30. Auch in Siebenbürgen wurden die aus dem Zusammenhang gerissenen Luther-Zitate im Stile von „dicta probantia“ als den Krieg legitimierende, zur Verteidigung und Gewalt mobilisierende Merksätze in den „Kirchlichen Blättern“ verbreitet. Nach Meinung der die Interpretation der Mittelmächte teilenden Kirchenvertreter musste Gott in dieser traditionell als „gerechter Krieg“ qualifizierten militärischen Auseinandersetzung auf der Seite der zu Unrecht angegriffenen Verteidiger stehen und ihnen zum Sieg gegen die moralisch disqualifizierten, angeblich ehrlosen, hinterhältigen und unchristlich agierenden „Feinde“ verhelfen31. Dass auf der Gegenseite meist dieselben Argumentationsmuster gegen die durch ihre Kriegsgräueltaten in Belgien desavouierten, als „Hunnen“ dämonisierten Deutschen verwendet wurden, irritierte weniger, als dass es Empörung auch über die „Lügenpresse“ hervorrief32. Die gelenkte und publizierte Kriegsbegeisterung im Herbst 1914 schlug sich in entsprechenden Artikeln und Predigten nieder. Im Sinne der seit G. D. Teutsch (1817–1893) popularisierten, kulturprotestantisch verstandenen „Volkskirche“, in der im Gegenüber zum Magyarisierungsdruck die ethnische und konfessionelle Identität meist kritiklos und unkritisch quasi als deckungsgleich deklariert worden 29 Der Superintendentialvikar D. Franz Herfurth brachte beispielsweise diese Grundeinstellung in einem im Deutschen Reich gehaltenen Panegyricus auf Kaiser Wilhelm II. eindeutig zum Ausdruck: „Nicht durch unsere Schuld. Wir kennen die Ursachen dieses Krieges. Nicht Ungarn, nicht Oesterreich, nicht Deutschland hat ihn vor Gott zu verantworten. Wir kämpfen für Recht und Gerechtigkeit!“ Entscheidende Grundlage sei die „Gemeinschaft der Gesinnung“, die das Deutsche Reich und die Habsburger Monarchie verbinde. Vgl. KiBll 8 (1916), S. 43–44. 30 WA 30, II, 18–23. Wer Krieg anfängt, hat Unrecht – so die plakative Position Luthers. 31 Martin G r e s c h a t : Der Erste Weltkrieg und die Christenheit. Ein globaler Überblick. Stuttgart 2014, S. 11–12. KiBll 6 (1914), S. 482 oder 508. 32 Vgl. die Notiz im Gedenkbuch der Kirchengemeinde Freck: „Die Zeitungen bringen Schauerberichte über die Grausamkeit und Unmenschlichkeit der Feinde. Es wird vieles von dem Berichteten der Wahrheit nicht entsprechen und kann ihm nicht entsprechen. So kann ein Mensch nicht zum wilden Tiere herabsinken. Aber im Kriege ist ja alles erlaubt, was den Gegner schädigen kann, auch das Lügen. Wenn die französischen Zeitungen berichten, dass die deutschen Soldaten den belgischen Kindern die Hände abschneiden und Menschenfett als Nahrungsmittel verwenden, so ist das gewiss ebenso unwahr, wie das, was die Deutschen über die Bestialität der Franzosen erzählen.“ In: ZAEKR 400/275-257: Gedenkbuch der evangelischen Kirchengemeinde Freck, 27.11.1915.
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war, wurde „deutsch“ und „sächsisch“ mit „christlich“ respektive „lutherisch“ identifiziert. Hatte noch der Hermannstädter Stadtprediger Gerhard Schuster in einem am 1. und fortsetzungsweise am 15. August 1914 veröffentlichten Predigtauszug unter dem Titel „Krieg“ zur Besonnenheit, ja, mit Berufung auf Sprüche Salomo 20, Vers 19 nicht nur die Staatslenker und Militärs, sondern alle zur „Vernunft“ ermahnt33 und gegen die patriotische Begeisterung der Zeitungsberichte über „kriegsfrohen Jubel“34 die Tränen der Mütter als „ernster“ und „wahrer“ hervorgehoben, so steigerten sich doch viele andere Kriegspredigten in zunehmendem Maße in ihrer Militanz. Das Amtsblatt „Kirchliche Blätter“ veröffentlichte eine namentlich nicht gekennzeichnete „Kriegspredigt“35, in der behauptet wurde: „Das Gewissen drängt zum Krieg. Gott will ihn.“36 Gegen wilden Hass, aufgeblähten Größenwahn und niedrige, tierische Machtgelüste des Gegners stünden die „Ehre des Vaterlandes“, der „Schutz seines Ansehens, seiner Macht und Kraft“37. Nicht eine „übermütige Kriegslaune“ oder „Rachedurst“ verleite zum Krieg, im Gegenteil: „Mit gutem Gewissen treten wir vor unseren heiligen Gott.“38 Bei allem kulturellen, ökonomischen und sozialen Fortschritt der vergangenen Jahrzehnte befähigten doch nur die „sittlich-religiösen […], die einzig wahren Werte“, also der „Gottesglaube“, „heiligen Krieg zu führen gegen den äußeren Feind, aber auch einen heiligen Befreiungskrieg gegen alles, was in unserer eigenen Mitte krank und faul, schlecht und gemein ist“39. Kombiniert wurde die traditionelle Kriegslegitimation der Ehrverletzung mit der religiös-moralischen Pädagogik und ethischen Purifizierung. Auch der am 12. September 1914 veröffentlichte Predigtausschnitt mühte sich ab, den Kirchenfernen und Glaubensdistanzierten sowie gegenüber deren massiver Kritik („Frevel“ und „Schande für die zivilisierte Menschheit“) eine Position zu plausibilisieren. Er erläuterte, wie ein religiöser Mensch in der Lage sei, „Gott und Krieg so auch Gebet und Sieg zusammenzudenken“40, weil „er an 33
KiBll 6 (1914), S. 362. Ebenda, S. 385. 35 Ebenda, S. 373–374. Eventuell stammt dieser Text aus der Feder des Hahnbacher Ortspfarrers, denn die Formulierungen decken sich weitgehend mit seinen Aufzeichnungen im Gedenkbuch der Kirchengemeinde. Vgl. ZAEKR 400/235-154: Gedenkbuch der Evangelischen Gemeinde Hahnbach, 1914, Punkt 5. 36 Ebenda, S. 374. 37 Ebenda, S. 373. 38 Ebenda. 39 Ebenda, S. 374. 40 Ebenda, S. 434. 34
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einen Gott der Gerechtigkeit und Weisheit glaubt, der Recht und nicht Unrecht werden lässt“41. Analog zu Karfreitag sei in der Gegenwart zu erkennen, dass „die Wellen der irdischen Bosheit über den Häuptern der Unschuldigen zusammenschlagen“42. Dagegen proklamierte der Prediger die in der „Glaubensgewissheit“ wurzelnde Zuversicht „Gott ist auf unserer Seite, weil wir auf seiner Seite sind“43. Ähnlich tönte es auch an vielen anderen Orten. Der Ortspfarrer in Großpold (Poldu de Sus, Nagyapold), Otto Piringer, verabschiedete wie in den meisten Kirchengemeinden die zum Kriegsdienst Mobilisierten in einem überfüllten, tränenreichen Abendmahlsgottesdienst. Danach zogen die Soldaten zu Fuß zum Bahnhof, wo sie mit Musik, Verpflegung und unter Tränen verabschiedet wurden. Die Frage nach seiner Wiederkehr beantwortete vorahnend ein junger Vater zutreffend mit: „I kum niammer!“44 – „Was kann aber ein Mensch höheres verlangen und erwarten, als bei treuester Pflichterfüllung [getroffen von feindlicher Kugel unter Hingabe des Lebens] vor Gottes Richterstuhl abberufen zu werden?“, fragte dagegen der Hermannstädter Stadtpfarrer Adolf Schullerus in seiner am 19. September veröffentlichten Kriegspredigt „Friede und Schwert“. Weiter propagierte er ebenfalls (unter missbräuchlicher Analogisierung der Schwertmetapher in Matthäus 10, Vers 34): „Aber der Krieg, zu dem die Söhne unseres Landes hinaus gezogen sind, ist ein heiliger Krieg.“ Der jahrelangen Hängepartie des vergangenen „faulen Friedens“ müsse mit dem vorübergehenden Übel eines Krieges gewehrt werden, um das „kostbarste irdische Gut […], unsere irdische Heimat“, die „ein heiliger Boden“ sei, „in der Stunde der Gefahr in deutscher Treue“ „ad retinendam coronam“ (zum Schutz der Krone) zu wahren45. Angesichts des im Sommer 1914 vielfach noch nicht eingebrachten Getreides und der auch sonst erst anlaufenden Ernte herrschte auf den Dörfern bei Kriegsausbruch allerdings große Besorgnis und Niedergeschlagenheit vor allem wegen der fehlenden Arbeitskraft der Männer und des requirierten Zugviehs samt Wagen. Im Bericht über die Burzenländer Pfarrkonferenz wurde festgehalten: „Von einer Kriegsbegeisterung war nichts zu merken, wohl aber Empörung über die Niedertracht der Feinde und das Bewußtsein für eine gerechte 41
Ebenda. Ebenda, S. 433. 43 Ebenda, S. 434. 44 Martin B o t t e s c h , Ulrich A. W i e n : Großpold. Ein Dorf in Siebenbürgen. Dößel 2011, S. 84. Vgl. dazu KiBll 6 (1914), S. 540–542, hier 542. 45 KiBll 6, S. 445–446, hier 446. Schließlich veröffentlichten die Kirchlichen Blätter Vorschläge für „Text und Themen für Kriegspredigten“, S. 487–488 u. 496. 42
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Sache in den Krieg zu ziehen. Es traten auch hie und da häßliche Züge hervor. Manche dachten nicht, wie diene ich dem Vaterland, sondern wie sichere ich mein Leben und suchten sich zu drücken und mit allerlei Mitteln vom Kriegsdienst zu befreien […].“46 Auch anlässlich des Einrückens der Soldaten in Deutsch-Zepling (Dedrad, Dedrád) wurde die Verzweiflung unter den bäuerlichen Gemeindegliedern der Evangelischen Landeskirche bei Kriegsausbruch angedeutet. Von den 400 Abendmahlsgästen mussten 200 einrücken: „Nachmittags 2 Uhr verließen sie die Gemeinde in schwerem Scheiden und mit bangen Klagen der zurückbleibenden Eltern, Weiber und Kinder. Sie hatten das Bedürfnis, mit Gott in den Krieg zu ziehen – sie sind mit Gott gegangen.“47 Im Oktober 1914 begann eine in loser Folge fortgesetzte Serie der „Kriegsbilder“48, in der die verschiedensten Aspekte der Kriegszeit beleuchtet wurden. Nicht überraschend, aber doch den bisherigen und zurückhaltenden Kurs abrupt abbrechend, schwenkte Stadtpfarrer Dr. Adolf Schullerus Ende September in die Kriegsbegeisterung ein und um: Neben dem Kreuz Christi und dem Roten Kreuz der Soldatenfürsorge offenbare sich erst durch den Krieg ein weiteres Kreuz, das Eiserne Kreuz, unter dessen Führung „Männer von Eisen“ den Ansturm des Feindes zurückgeschlagen hätten49. Schullerus diagnostizierte das „Christliche Kreuz“ als eine wesentliche Voraussetzung für die menschliche Hingabe und Tapferkeit. Eine Vorbildchristologie bahnte dafür den Weg, die das Karfreitagsgeschehen als Motivation zum „Streiten“, „Helfen“, „Leiden“ oder „Tragen“ deutet. An diese Denkbewegung konnte auch Heinrich Zillich im eingangs erwähnten Heliand-Gedicht anknüpfen. Seinen Gedankengang abschließend konnte Adolf Schullerus festhalten: „‚Eisernes Kreuz‘, ‚Rotes Kreuz‘, wir werden sein nur wert durch das ‚Christliche Kreuz‘.“ Damit reiht sich Schullerus in die internationale Phalanx der Theologen ein, die meinten, nur das eigene Volk könne fromm genug sein, um auch mit dem Sieg belohnt zu werden, weil es den vergleichsweise intensivsten Glauben praktiziere. Diese Meinung, die ganz auf die von den „Feinden“ unüberbietbare Frömmigkeit der Deutschen reflektierte, hielt nun auch in vielerlei Weise in
46
Ebenda, S. 508–509, hier 509. Ebenda, S. 391. 48 Ebenda, S. 506–508, 519, 530–531, 540, 552, 564–565, 580, 593–594, 608–609. KiBll 7 (1915), S. 1–2, 36–37, 46–47, 90–91, 134–136, 154–155, 208, 217, 200, 260, 304, 318, 330, 387, 407, 419, 525, 534; KiBll 8 (1916), S. 21–23, 36–38, 64–68, 77–79, 162–163, 262–263; KiBll 9 (1917), S. 2, 20–22, 30–33, 54–56, 61–63, 73–75. 49 KiBll 6 (1914), S. 456–457. 47
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den „Kirchlichen Blättern“ der Folgemonate in Siebenbürgen Einzug50. Sie kontrastierte damit die anfänglich noch als Erklärungsmuster herangezogene Straf- bzw. Buß-Theologie, die den Krieg als Gericht Gottes über die sittlichen Verfehlungen der Menschheit, insbesondere auch der eigenen Gesellschaft interpretierte. Nunmehr bereiteten die Siegesnachrichten aus dem Westen und dann bei Tannenberg den Boden für die überhebliche Selbstgewissheit und das sittliche Sendungsbewusstsein, das aus mancherlei Texten der „Kirchlichen Blätter“ aus der Zeit des Ersten Weltkriegs hervortritt. In derselben Nummer, in der Schullerus‘ Text abgedruckt wurde, findet sich eine kleine Notiz über neu eingezogene Rekruten für die österreichisch-ungarische Armee: „In den letzten Tagen sind eine große Anzahl Freiwilliger aus unserem Volke und unserer Kirche in das Heer eingetreten, darunter auch Kandidaten des Lehramts und solche der Theologie. So ists recht – in dieser ernsten Zeit soll Niemand zurückbleiben, der nicht muß.“51 Mit diesem Wortlaut waren keinerlei Bedenken mehr gegen den Krieg in der Öffentlichkeit artikuliert worden, sondern der Kurs der „Kriegsbegeisterung“ aufgenommen worden.
Feindbilder – Friedenssehnsucht – Durchhalteparolen Dementsprechend ging es auch in den Folgenummern dezidiert gegen die „Feinde“, da die aus dem Deutschen Reich nun eindringende Propaganda weitgehend unkritisch übernommen wurde. Die von Deutschland ausgehende Verschleierung, Vertuschung und Lüge (z. B. im Blick auf Belgien) fand Eingang in die „Kirchlichen Blätter“. Genau diese Vokabeln wurden aber nun den „Feinden“ vorgeworfen, mehr noch: Heimtücke, Hinterhältigkeit und Gier. Die „englische Krämerseele“ stand für den ungebremsten und unsozialen Manchester-Kapitalismus und die unbezähmbare Sucht nach imperialistischer Weltherrschaft, die sich aus reinem Neid gegen den rasch die Industrialisierung nachholenden, aufstrebenden „Tigerstaat“ Deutschland (ansonsten völlig „unmotiviert“) ins Schlachtengetümmel geworfen habe, dafür aber (mangels allgemeiner Wehrpflicht) die Kolonialvölker bluten lasse 50 Der Superintendentialvikar D. Franz H e r f u r t h unterstrich die Mobilisierungskraft der Religion: „Und wie Gottesglaube ein frommes Volk mit Kampfesschwung, Tatendrang, Lebensfrische segnet!“ Denn es werde klar erkennbar: „Die Pflichtspannung der Seele läßt sich nur so lange erhalten, als die Seele aus dem Jungbrunnen der Religion ihre Nahrung saugt.“ So habe die militärische Auseinandersetzung nicht nur sittlichpädagogische Funktion: „Darum der Krieg als Prophet: Hin zu Gott!“ Vgl. KiBll 8 (1916), S. 44. H e r f u r t h setzte alle die seit 1914 bekannten Argumente und Stereotype in seiner Predigt „Gotteshilfe“ im Spätsommer 1917 erneut ein. In: KiBll 9 (1917), S. 305–306. 51 KiBll 6 (1914), S. 461.
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und so das wahre Gesicht seiner vielgepriesenen christlichen Missionsanstrengungen rund um den Globus offenbare und christliche Inhalte und Sittlichkeit desavouiere. Dabei kann man aus dem Rückblick zwar unterscheiden zwischen oft moderateren siebenbürgisch-sächsischen Eigenproduktionen und propagandistischer Importware: Die inzwischen aufgeputschten Leser werden die Differenzierung in dieser Weise vermutlich aber kaum nachvollzogen und erkannt haben. Auch für die Versorgung der Pfarrer mit zeittypischer Literatur wurde gesorgt: Entweder wurden die Kriegsgebete oder Kriegspredigten in den „Kirchlichen Blättern“ selbst abgedruckt oder auf entsprechende Publikationen, die aus dem Deutschen Reich oder der österreichischen Reichshälfte stammten (darunter auch offizielle Kriegsbilderkarten), hingewiesen bzw. durch Anzeigen beworben. Darüber hinaus konnte der Burzenländer Bezirksdechant Johannes Reichart Leitsätze zum Thema „Der Krieg und unsere pastorale Pflicht“ vorstellen, aus denen sich die Seelsorge für Angehörige von Verwundeten, Kriegsgefangenen oder Gefallenen entwickle, außerdem die Versendung des Geleitbüchleins auf Gemeindekosten, Korrespondenz mit den Soldaten sowie Besuche in den Spitälern abgeleitet werde. Die Predigt müsse auch ideologische Aufrüstung betreiben: „Das Heimatgefühl soll erweitert werden zur Vaterlandsliebe.“52 Dennoch gab es vereinzelt auch gegenläufige Tendenzen: Spannend ist ein im Ansatz pazifistischer Aufsatz mit dem Titel: „Ist der Krieg sittlich berechtigt?“, dessen Autor Martin Binder die in der Überschrift gestellte Frage prinzipiell verneint und dies mit Rückgriff auf ein pazifistisches Jesusbild legitimiert; darüber hinaus weist er eine entgegenstehende Publikation des Wiener Universitätsprofessors Fritz Wilke zurück. Zum Schluss schwenkte er aber auf eine pragmatische Linie des „defensiven Patriotismus“ und eine Verteidigungsethik ein, die den Krieg dann doch nicht verweigert, aber bekennt, diese Haltung sei nicht stringent christlich, aber wenigstens ehrlich53. Eine prinzipiell kriegskritische Haltung nahm, wenn auch erst 1918 publizistisch wahrgenommen, der Pfarrer in Heltau (Cisnădie, Nagydisznód), Oskar Wittstock, ein. Angesichts der zu diesem Zeitpunkt aufkeimenden Hoffnung auf die dem Sieg folgende „Friedensarbeit“, wurden seine Ausführungen sogar abgedruckt, ohne dass ihm Zersetzung der Kriegsmoral vorgeworfen wurde54. Nach dem Bericht der „Kirchlichen Blätter“ wies er darauf hin: „Wie sich der Pfarrer 52 Ebenda, S. 509. KiBll 9 (1917), S. 6: „Sie führten uns von der Heimatliebe zum Vaterland“ [wohl Friedrich T e u t s c h ]. 53 KiBll 7 (1915), S. 131–134, hier 134. 54 KiBll 10 (1918), S. 191–192.
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vor den Heimkehrenden zunächst grundsätzlich zu dem Kriege an sich zu stellen haben werde. Die Frage, die jene ihm gegenüber zweifellos zunächst aufwerfen werden, wie Gott solches zulasse, werde er unbeirrt von jedweder politischen Strömung vom Standpunkt des Evangeliums, von dem er nicht abrücken dürfe, zu beantworten haben: die Ungerechtigkeit ist da, aber sie ist Menschenwerk, der Krieg ist zuletzt nichts Gottgewolltes – der Kampf ums Dasein ist wohl immer da, aber seine Formen wechseln. Der Krieg selbst soll ein Mittel werden, über seine Anschauung als Prügelstrafe Gottes hinauszukommen. […] Gegen den Krieg hilft nur das Evangelium. Durch die in ihm liegenden Kräfte müssen wir den Frieden uns selbst bewahren, indem wir in die gegebenen Verhältnisse uns hinein stellen, aber doch darüber hinaus zu kommen suchen. Von seinem Standpunkt aus muß der Krieg unbedingt verurteilt werden, […]. Redner beklagt es, wie in der Predigt, auch im Reiche draußen, das Alte Testament mit seinem überholten Gedankenkreis wieder hervorgeholt worden sei. Das habe doch einen sehr bedenklichen Eindruck gemacht. Der nationale Gedanke hat gewiß großen Wert, und wir tun recht, wenn wir ihm ein Leben voll Entsagung opfern, aber die Übertreibung mit der Ausschlachtung des Gedankens vom ‚auserwählten Israel‘, das ist vom Übel.“55 Bei aller Zeitgebundenheit der Argumentation Wittstocks nahm dieser doch dezidiert gegen jegliche Verherrlichung und auch biblische Legitimation des Krieges eindeutig Stellung. Als Aufmacher berichteten die „Kirchlichen Blätter“ von einer österlichen Verbrüderung an der russisch-österreichischen Front. Vergleichbar mit der „Verbrüderung“ zu Weihnachten 1914 an der Westfront schilderte der Beitrag „Von den Ostern der Unsern im Felde“ ein denkwürdiges Ereignis: Zu Ostern 1915 waren russische Soldaten, vorwiegend Rumänen aus Bessarabien, winkend aus ihren Schanzen gekommen und hatten „Kolatschen“ als Verpflegung mitgebracht, die andere Seite „Rum, Speck und Brot“. Man traf sich in der Mitte: Ein Russe spielte auf seiner Harmonika zum Tanz auf, und es wurde eine „Horea“ von russischen, rumänischen ungarischen und sogar sächsischen Soldaten im Kreis getanzt. „Die Unterhaltung ging ganz famos und lustig zu“, wenngleich nach einer halben Stunde abgebrochen werden musste. „Unter Küssen und Händedruck schieden sie voneinander“, auch konnten die zwischen den feindlichen Stellungen teilweise zwei Monate unbestattet gebliebenen Gefallenen beerdigt werden. Diese außergewöhnlich bewegende Szene hat Korporal Peter
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Depner festgehalten, und sie wurde Mitte Mai 1915 noch während des Bewegungskrieges an der „Nordfront“ publiziert56. Bischof Friedrich Teutsch grüßte zu Pfingsten 1916 und versuchte, die direkt angesprochenen Frontkämpfer religiös zu stabilisieren und Skeptizismus und Abstumpfung zu überwinden: „Es ist nicht richtig, daß der Heiland im Krieg und in der Schlacht und in all den Stunden die die Soldaten sich selbst überlassen sind, nichts zu sagen habe oder nichts rede. Überall […] führt er das Wort – so höret ihn! Und hört ihn vor allem, wenn er im Stillen zu euch über euch redet!“ Dabei setzte er sich von den unterstellt unchristlichen Kriegsanstiftern deutlich ab: „Gewiß, diejenigen, die die Verantwortung für das Ungeheuerliche dieses Krieges tragen, sie haben die Liebe zum Heiland ganz vergessen gehabt, und wenn sie sein Wort im Munde führen, so ist‘s Gotteslästerung. Umso mehr müssen wir, die wir Vaterland und Volkstum und alle heiligen Güter, die der Mensch in seinem Herzen trägt, in diesem Krieg gegen eine Welt von Feinden verteidigen, dafür sorgen, daß unsere Liebe zum Heiland sich darin zeigt, dass wir sein Wort halten.“57 Schließlich musste Pfarrer Daniel Konnerth aus Scharosch an der Kokel (Șaroșul Săsesc, Szászsáros) feststellen, dass sich die Gattung der Kriegspredigten abgenutzt habe: „[…] von denen wolle der Bauer nichts mehr hören, wolle erbaut, aber nicht Sonntag für Sonntag zu Tränen gerührt werden“58. Eine Serie von Artikeln wurde unter dem Titel „Kriegsbilder“59 veröffentlicht, in denen meist nüchterne Informationen über die unterschiedlichen Aspekte der Auswirkungen des Kriegsgeschehens bereitgestellt wurden. Sie umfassten neben Berichten über die Mobilisierung in Stadt und Land, die Rot-Kreuz-Arbeit, die Themen „Verwundete und Spitäler“, die „Fürsorgetätigkeit“, „Gefallene und Tote“, den „Einsatz der Schuljugend“, das „Gemütsleben der Bauern, Witwen und Waisen“, „Erlebnisse im Schützengraben“ und „Verhalten und Berichte der Fronturlauber“, aber auch Feldpredigten (u. a. eines Bauern) und eine Serie über die Feldkuraten. In den meist ausgezeichnet besuchten, wöchentlichen Kriegsleseabenden, die viele Pfarrer in den Dörfern persönlich leiteten und abhielten, wurde die „Heimatfront“
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KiBll 7 (1915), S. 206. KiBll 8 (1916), S. 237–238: erstes Zitat 238, zweites Zitat 237. 58 KiBll 9 (1917), S. 237. 59 Diese Serie wurde beginnend mit neun Artikeln im Jahr 1914 in den Jahren 1915 und 1916 in rascher Folge fortgesetzt (vgl. Anm. 45). In den letzten anderthalb Kriegsjahren verschwindet diese Rubrik aber fast vollständig; Kriegsthemen werden danach nur noch vereinzelt, aber ohne Zusammenhang mit dieser Serie veröffentlicht. 57
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mit unterschwellig den Durchhaltewillen und die Moral stabilisierenden Berichten versorgt60.
Kirchliche Maßnahmen und Reaktionen im Krieg Mit Beginn des Krieges ging das kirchliche Leben weiter, und die Presbyterien setzten ihre Arbeit fort: Die Planungen für Bauvorhaben oder Fortentwicklung der Gemeinde gingen zunächst ungebrochen und zuversichtlich weiter, doch hatten die Mobilisierung und die Einrückung der wehrtauglichen Männer massive Auswirkungen auch auf die lokalen Verhältnisse. Die Pfarrer wurden zur Unterbrechung ihres Urlaubs aufgefordert und eine allgemeine Urlaubssperre für Geistliche verhängt61. Überall wurden die mobilisierten Männer mit ihren Familien in sukzessive aufeinanderfolgenden Abendmahls-Gottesdiensten verabschiedet. Adolf Schullerus hatte ein kleinformatiges Geleitbüchlein (Gebet- und Gesangbuch) erstellt, das unter dem Titel „Mit Gott für König und Vaterland!“62 in mehreren Auflagen mit insgesamt 40.000 Exemplaren an die Ausziehenden zur Verteilung kam oder den bereits an der Front kämpfenden sächsischen Soldaten durch die Pfarrämter nachgeschickt wurde. Eine Auswahl der überaus dankbaren und zustimmenden Reaktionen veröffentlichten die „Kirchlichen Blätter“.63 Auf Grund der Mobilisierung rückten z. B. auch Jugendliche und junge Erwachsene aus den sächsischen Jugendwehren ein, die in den unmittelbaren Vorkriegsjahren aus den kirchlichen Bruderschaften heraus entstanden und dort auch disziplinarisch verankert waren64. Ihre flächendeckende Verbreitung war durch die Kirchenleitung, d. h. von der Zentralorganisation der sächsischen Jugendwehren unterstützt und propagiert worden.65 Diese über 100 Jugendwehren konnten ab 60 Vgl. dazu ZAEKR 400/235-154: Gedenkbuch Hahnenbach: 1915 – Punkt 34: „Wohl mag sie hieher auch die Neugierde drängen; denn der Pfarrer gibt jedes Mal einen eingehenden Bericht über die Ereignisse der Woche; doch hören sie mit Aufmerksamkeit und gewiss nicht ohne Gewinn auch die Ausführungen über Fragen ethischer, religiöser und völkischer Natur an. Großes Interesse wird den ‚Kriegsbildern‘ und auch den übrigen Aufsätzen und den ‚Nachrichten aus Nah und Fern‘ in unseren Kirchlichen Blättern entgegengebracht, die vor allem ausgeschöpft werden.“ 61 KiBll 6 (1914), S. 367. 62 KiBll 6 (1914), S. 427. Das Heftchen hatte 112 Seiten im Klein-Oktav-Format. 63 Die Gemeindepfarrer unterhielten eine rege Korrespondenz mit den Soldaten aus ihrer Ortsgemeinde. Das belegen nicht nur die Eintragungen in den Gedenkbüchern, sondern auch die veröffentlichten Reaktionen der Soldaten, die über die Gemeindepfarrer zur Publikation im Amtsblatt gelangten. 64 ZAEKR 400/115-94: Presbyterialprotokolle Schirkanyen v. 19.4.1914, Punkt 2. 65 KiBll 6 (1914), S. 185 u. 368f.
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1915 auch ältere Jahrgänge der männlichen Bevölkerung trainieren, um sie für deren abzusehende Einberufung im Vorhinein zu schulen66. Vor allen Dingen wurde die Ausstattung mit Gewehren und anderer Kriegsbeute ab dem Jahr 1915 nach Möglichkeit ausgebaut67. Die Bruderschaften wurden vom Landeskonsistorium über die Pfarrämter aufgerufen, bei den im Gange befindlichen Erntearbeiten mitzuhelfen und angesichts der Requirierungen der Transportmittel bei Bedarf sogar ortsübergreifend mit Gespannen und Wagen auszuhelfen68. Gerade auf dem Land waren nun die Frauen mit den alten Männern und den Jugendlichen für die Einbringung der Ernte zuständig, was sich in erhöhten Schulversäumnissen niederschlug. In den Dörfern, aber auch in den Städten wurden „Hilfskomitees“ begründet, um der absehbaren sozialen Not zu wehren. Die Frauen wurden zu „Liebesgaben“ (Spenden) ermutigt, Unmengen von Wäsche wurden geschenkt, gestrickt oder geschneidert und abgeliefert, für die Spitäler wurden Nahrungsmittel gespendet und den durch die Mobilisierung oder Arbeitslosigkeit finanziell hart getroffenen Restfamilien Unterstützung vermittelt69. So hat beispielsweise das Hermannstädter Presbyterium umgehend seine beiden Gemeindeschwestern zielgerichtet zu solchen Familien geschickt, um den „verschämten Armen“, die sonst aus freien Stücken nicht um Unterstützung angesucht hätten, unmittelbare Nothilfe zu leisten. Kinderschutzvereine, kirchliche Ortsfrauenvereine und Pfarrämter griffen koordiniert die Herausforderungen auf und ermöglichten effektive Hilfe. Auch die 1888 begründete Hermannstädter Evangelische Krankenpflegeanstalt stellte 30 ihrer insgesamt 50 Schwestern zur Pflege der Kriegsverwundeten in den als Lazarette dienenden Spitälern zur Verfügung. Viele Schulen oder Gemeindesäle – auch in 24 verkehrsgünstig gelegenen Ortschaften auf dem Lande – mussten als Spitäler dienen, sogar das Landeskirchenseminar und das Diasporaheim in Hermannstadt. Zunehmend wichtiger wurde das im April 1911 begründete Landeskirchliche Waisenhaus in Birthälm (Biertan, Berethalom). Je länger der Krieg dauerte, umso weniger waren es „Migrationswaisen“, sondern Kriegswaisen, die hier 66
ZAEKR 400/235-154: Gedenkbuch Hahnbach, 1914, Punkt 36. Ebenda/235-154: Gedenkbuch Hahnbach, 1915, Punkt 11 und Punkt 20: „Die Begeisterung der Jungen für die Jugendwehrsache wächst, seit vom Hermannstädter Militärkommando außer Gewehren auch Bajonette, Patronentaschen, Leibriemen und Schaufeln (japanische und russische Kriegsbeute) zur Verfügung gestellt wurden und praktische Übungen auf dem Felde veranstaltet werden.“ 68 KiBll 6 (1914), S. 380. 69 Den weiblichen Anteil der Aktivitäten der Kriegszeit behandelt Ingrid S c h i e l in diesem Band. 67
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Aufnahme fanden. Die landeskirchliche Reformationsjubiläumsspende 1917, die in allen Kirchengemeinden anlässlich der 400. Wiederkehr der deutschen Reformation in Wittenberg erbeten wurde, hat für den Ausbau dieses Waisenhauses rund 200.000 Kronen ergeben70. Die Kirchenleitung sah sich Anfang Dezember 1914 veranlasst, in diskret gehandhabten Rundschreiben die Pfarrämter auf zwei Maßnahmen hinzuweisen, die eine eventuelle Besetzung Siebenbürgens unterstellten: Einerseits sollten alle historisch wertvollen, transportablen Kunstgegenstände erfasst und Pläne für deren eventuelle Evakuierung erstellt werden71; andererseits wurden die Pfarrer angewiesen, in einem solchen Kriegsfalle ihre Ortsgemeinde keinesfalls zu verlassen, sondern vor Ort mit der Gemeinde auszuharren72. Die Realität Ende August 1916 war dann doch eine andere: Der Bischof sah sich veranlasst, den Ortspfarrern freizustellen, ob sie angesichts der Räumung Siebenbürgens hinter den Mieresch mit der zur Flucht bereiten Gemeinde mitgehen oder am Ort bleiben wollten73. Die Unterbrechung der internationalen Handelsströme veranlasste die Ministerien, sich an die Kirchen zu wenden, um die Bevölkerung zuhause aufzurufen, heimische Ersatzrohstoffe für die Kriegswirtschaft, u. a. Brombeerblätter zur Teebereitung74 und Brennnesseln als Woll- und Baumwollersatz75, aber auch Bucheckern als Öllieferanten und Eicheln als Viehfutter76 sowie wildwachsende Heilpflanzen77 zu sammeln und abzuliefern oder auch Obst- und Gemüsekonserven zu bevorraten78. Bereits im Jahre 1915 mussten Listen angefertigt werden, um die im kirchlichen Besitz befindlichen Metallreserven zu verzeichnen. Zunächst waren dies die Glocken, denen Kupferverkleidungen und -gerätschaften folgten79, dann die aus Zinnlegierungen bestehenden Orgelpfeifen80. Die Siebenbürger Sachsen hatten, was auch mit ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit zusammenhing, schon im Jahre 1915 zu großen Teilen ihre Küchengefäße aus Kupfer und sonstige 70
KiBll 10 (1918), S. 95–97, hier 95. ZAEKR 400/235-154: Gedenkbuch Hahnbach, 1914, Punkt 41. 72 ZAEKR 400/275-257: Gedenkbuch der evangelischen Kirchengemeinde A. B. in Freck, Erlass des Bischofs v. 16.12.1914. 73 Ebenda, am 28.8.1916. 74 KiBll 6 (1914), S. 165: RS 3739/1914 mit der Aufforderung zur Brombeerblättersammlung, die alljährlich wiederholt wurde. 75 KiBll 7 (1915), S. 513–514: RS 3593/1915; KiBll 8 (1916), S. 352: RS 3185/1916. 76 KiBll 8 (1916), S. 358. 77 KiBll 9 (1917), S. 195: RS 2034/1917. 78 KiBll 6 (1914), S. 465 u. 571: RS 3749/1914 u. RS 4536/1914. 79 KiBll 9 (1917), S. 364–366: RS 4172/1917 u. KiBll 10 (1918), S. 36–37: RS 332/1918. 80 RS Z. 4617/1917. 71
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Kupfergeräte abgeliefert. Nun kamen auch die kirchlichen Gerätschaften an die Reihe. Schließlich wurden Hals über Kopf Ende August 1916 die Glocken der siebenbürgischen Kirchen (vor allem die nicht historisch wertvollen, meist bis auf eine Ausnahme) requiriert81 und, falls noch Zeit zu einem Abschiedsgottesdienst und -läuten geblieben war, anschließend mit Lastwagen zu Sammelstellen abtransportiert. Teilweise wurden sie, z. B. in Hermannstadt, auf dem Bahnhof noch fotografisch dokumentiert. Viele Pfarrer haben sich bemüht, die Glockeninschriften im Gedenkbuch der Gemeinde wenigstens festzuhalten. Diese unmittelbar vor dem Kriegseintritt Rumäniens vollzogene Glockenrequirierung wurde 1917 ergänzt durch die Einsammlung von Orgelpfeifen (meist der großen Prospektpfeifen). Im Juni 1916 wurde endlich die für 1915 geplante Landeskirchenversammlung durchgeführt, um die längst fälligen Reformen der kirchlichen Finanzen, das Gesetz über das Pfarramt, die neuen Statuten der Pensionsanstalt sowie einige Schulordnungen neu zu beschließen. Weil aber die Dramatik der Kriegsinflation unterschätzt wurde, unterblieb eine Regelung bezüglich einer eventuellen Gehaltsanpassung der Festbesoldeten82. Lehrer, die prinzipiell zum Kirchenpersonal, ja zum überwiegenden Teil auch aufgrund ihrer theologischen Ausbildung zu den „Kandidaten des Geistlichen Amts“ zählten, waren ebenso wie die Pfarrer vor einer Einberufung zum Militär geschützt. Volksschullehrer wurden zu Kriegsbeginn davon ausgenommen, wenn sie mehr als vier Jahre nach Dienstbeginn keine theologische Prüfung abgelegt hatten. Aber auch unter den restlichen Lehrern und auch Gymnasialprofessoren sowie teilweise unter den jungen Pfarrern stieg die Bereitschaft, sich freiwillig an die Front zu melden. Darüber wurden sogar Debatten geführt83. Der Schulunterricht wurde im Herbst 1914 mit den unteren Klassen pünktlich begonnen, während die älteren Kinder für 81 KiBll 7 (1915), S. 457 wurden vorbereitende Statistiken über Kirchenglocken in RS 3181/1915 angefordert. KiBll 8 (1916), S. 149–151: RS Z. 1046/1916 betr. Vorbereitung zur Ablieferung der Kirchenglocken für Kriegszwecke; S. 158–159: RS 1231/1916 betr. Ablieferung der Kirchenglocken; S. 352: RS 3257/1916 betr. Abschied von den Kirchenglocken. Das Rundschreiben erwähnt, dass am 25. August 1916 die Ablieferungen schon begonnen hätten und ein Abschied rechtzeitig vorzunehmen sei. ZAEKR 400/101-127: Gedenkbuch Hahnbach, 1916, Punkt 19: „Wer hätte je geglaubt, daß die zum Dienste Gottes als Ruferinnen zu Gottes Frieden bestimmt gewesenen Glocken einst zu Kanonenrohren um gegossen werden sollten, deren Dröhnen Tod und Verderben bedeutet! Mögen sie – wenn das Schicksal sie nun diesem Dienste zuführt – nun auch im Kriege mittelbar einem guten, starken bleibenden Frieden dienen!“ 82 Verhandlungen 1916 (wie Anm. 4). 83 KiBll 7 (1915), S. 251–252, 308–310, 345–347.
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die Ernte beurlaubt wurden. Die jüngeren, wehrtauglichen Lehrer fehlten bereits, doch wurden ersatzweise die älteren Lehrer sowie die Pfarrer und darüber hinaus nun verstärkt auch die in den Jahren seit 1904 an der Lehrerinnenbildungsanstalt in Schäßburg ausgebildeten Lehrerinnen eingesetzt. In der „Kriegsbilder“-Serie der „Kirchlichen Blätter“ behandelten mehrere Beiträge die Militärseelsorge. Im kirchlichen Einsatz standen die sog. „Feldkuraten“, d. h. Geistliche, die im Range eines Hauptmanns als Soldatenseelsorger eingesetzt wurden84. Die Bilanz fiel frustrierend und ernüchternd aus: Der Bischof ordinierte mehr Personen, als zum Einsatz kamen, denn das Ministerium und die Heeresleitung legten wenig Wert darauf, eine Mindestanzahl (auch nichtkatholischer Geistlicher) zu verwenden und für die vielsprachige und plurikonfessionelle Armee die Einsätze der Minderheitenpfarrer zu koordinieren. So kamen nur vier der sächsischen Feldkuraten an die Front, während die anderen hinter der Front in den Spitälern Dienst taten. Oft wurden sie von katholischen Geistlichen diskriminiert und kamen zu fremdsprachigen Verwundeten. Auch sprachlich waren sie mit Andachten in magyarischer oder rumänischer Sprache oft überfordert. Unter anderem ließ sich ein sächsischer Feldkurat vom Hermannstädter Metropoliten Metianu 200 rumänische Traktate schicken, um sie an die religiös völlig unterversorgten rumänisch-orthodoxen Verwundeten auszuteilen. Die siebenbürgisch-sächsischen Feldkuraten waren meist seelsorglich völlig unerfahren, denn die Landeskirche schickte entweder zu diesem Zweck ordinierte Gymnasialprofessoren oder Berufsanfänger bzw. Kandidaten des Geistlichen Amtes, die mit den auf sie einströmenden und sie meist restlos überfordernden Herausforderungen alleingelassen wurden und damit auch den eigentlichen Zweck der Aktion verfehlten. Die insgesamt 25 aktiven Feldkuraten waren durchschnittlich jeweils nur 17 Monate im Einsatz85. Einen mehrwöchigen Frontbesuch bei den Soldaten an der schon weitgehend
84 KiBll 8 (1916), S. 21–23, 36–38, 64–68, 77–79, 162–163, 262–263. KiBll 9 (1917), S. 54– 56. Heinz B r a n d s c h teilt zunächst grundsätzliche Reflexionen, aber auch konkrete Einsatzfelder bzw. Anforderungsprofile und deren jeweilige Herausforderungen mit. Dennoch bleibt seine ernüchternde Feststellung ausschlaggebend: „Wir Halben werden immer einen halben Erfolg haben.“ Vgl. KiBll 8 (1916), S. 66. Schließlich wird noch auf die Folgen der Geschlechtskrankheiten aufmerksam gemacht. In: KiBll 8 (1916), S. 262–263. 85 Heinz B r a n d s c h : Über die Militärgeistlichkeit unserer evangelischen Landeskirche A. B. im Weltkrieg 1914–1918. In: Die evangelische Landeskirche A. B. in Rumänien mit den angeschlossenen Verbänden Altrumänien, Banat, Beßarabien, Bukowina, ungarisches Dekanat. Hermannstadt 1922, S. 254–274, hier 261–262.
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ruhigen russischen Frontlinie machte im Frühjahr 1918 (22. März bis 18. April 1918) der Hermannstädter Stadtpfarrer Schullerus86.
Die Gedenkbücher der Gemeinden als mentalitätsgeschichtliche Quelle Die Einstellung siebenbürgisch-sächsischer Pfarrer lässt sich neben den Predigten an einer besonderen Quellengattung ausnehmend gut nachvollziehen. Sofern sie dem oberbehördlichen Auftrag87 nachkamen (was nicht durchgängig der Fall war), das Gedenkbuch der Kirchengemeinde sorgfältig zu führen, sind daraus aussagekräftige, nicht nur lokalhistorische, sondern auch mentalitätsgeschichtliche Äußerungen zu entnehmen. Das Landeskonsistorium legte unter Hinweis auf jahrzehntealte Rundschreiben Wert darauf, dass die Ortspfarrer das vorgeschriebene „Gedenkbuch“ in dieser ereignisreichen Zeit führen und „den kriegerischen Ereignissen […] den gebührenden Platz einräumen“ sollten. Dadurch sind die sowieso schon motivierten, schriftstellerisch begabten Pfarrer ermuntert worden, der Nachwelt wichtige Informationen zu hinterlassen, doch hat den trägen Ortsgeistlichen selbst diese amtliche Erinnerung keinen Schwung verliehen. Nach Auswertung einiger ausgewählter, schwerpunktmäßig im Hermannstädter Bezirk entstandener Gedenkbücher, die in ihrer Qualität sehr unterschiedlich sind, können folgende erste Beobachtungen festgehalten werden.
Kriegsausbruch Mit dem tödlichen Attentat auf den Thronfolger drohte der Krieg auszubrechen. Politische Analysen der Pfarrer finden sich relativ wenige, wenngleich die anlaufende Propaganda gegen Serbien zum Teil unkritisch rezipiert worden ist: „Es war eine unruhige, gährende Zeit, Krieg auf dem Balkan, Rivalität zwischen Deutschland und England auf dem Weltmarkt, Revanchegelüste der Franzosen. Auch bei uns herrscht Unruhe, man fürchtet den Ausbruch eines Krieges, in den auch unser Land verwickelt werden könnte.“88 Analysierend wie in Freck (Avrig, Felek) notierte der Ortspfarrer von Großscheuern (Şura Mare, Nagycsűr): „Krieg! Welch inhaltsschweres Wort! Wir stehen davor. Seit jenem unheilvollen 28. Juni, an welchem unser Thronfolger Franz 86
KiBll 10 (1918), S. 100, 154–156. KiBll 6 (1914), S. 589: Z. 4578/1914, in dem – unter Hinweis auf das RS v. 15.3.1872, Z. 818/1872, Punkt III; Jahrbuch I, S. 81 angeordnet wird, dass diesem Thema in „dieser hochernsten, weltgeschichtlichen Epoche in den Gedenkbüchern für die Geschichte der Gemeinden de[r] gebührende[n] Platz ein[zu]räumen“ sei. 88 ZAEKR 400/275-257: Gedenkbuch Freck, 1913. 87
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Ferdinand von mörderischer Bubenhand getötet worden, stunden wir immer in Kriegsgefahr. Nun soll es ernst werden. Da haben wir wohl Ursache zu beten: Herr sei uns gnädig! Denn uns droht doppelte und dreifache Gefahr, von Serben, Rumänen und Russen!“89 Die Sorge, ob alle Ethnien des Vielvölkerstaates loyal bleiben würden, war nicht unberechtigt, doch stellte sich dieses Problem in Siebenbürgen, abgesehen von einigen fahnenflüchtigen Rumänen, zunächst aber doch nicht. „In Hermannstadt selbst wurde fieberhaft gearbeitet. Die Mobilisierung hat im großen Ganzen tadellos geklappt. Unsere Furcht, die Rumänen würden diese Gelegenheit benutzen, um in offenem Aufruhr sich gegen die Regierung und speciell gegen unser Volk zu erheben, ward hinfällig. Sie waren ruhig und rückten mit derselben Gewissenhaftigkeit wie alle anderen ein. Eine schwere Sorge fiel uns damit vom Herzen. Gäbe Gott, es wäre für immer.“90 Sogar gegenteilige Erfahrungen wurden notiert: „Die auf den Kriegsschauplatz abziehenden Truppen werden auf dem Weg zum Bahnhof bejubelt und mit Blumen beworfen; deutsch-sächsische, ungarische und rumänische Lieder – (‚Ich bin ein Sachs …, Af deser Ierd, dr as e Land, – Gott erhalte – die Wacht am Rhein, Ister áld meg a magyarat – deșteapte te Române‘) – erklingen in den Straßen Hermannstadts. Der Gedanke an das gefährdete Vaterland hat sie alle friedlich-brüderlich geeint!“91, ja, es wird festgehalten: „Das Verhalten aber der siebenbürgisch rumänischen Soldaten und Offiziere soll tadellos sein.“92 Unter diesen Umständen konnte der Hahnbacher (Hamba, Kakasfalva) Pfarrer, dessen über 49 Jahre amtierender griechisch-katholischer Kollege „ein warmer Verehrer und Freund des Sachsenvolkes“93 gewesen war, gegenüber den örtlichen Rumänen seine „feste Überzeugung“ vertreten, „dass Rumänien mit uns geht“94. Darin hatte er sich getäuscht, aber auch in der wechselhaften Stimmung. Obwohl dessen griechisch-katholischer Nachfolger, Leonte Opriș, Schwiegersohn eines nationalpolitisch engagierten siebenbürgisch-rumänischen Politikers, „politische Verfolgung und brutale Behandlung“ erlitten und sich deshalb „strengste Vorsicht und Zurückhaltung“ bei politischen Stellungnahmen auferlegt hatte, erweckte er nicht nur den Anschein,
89 ZAEKR 400/357-255: Gedenkbuch der evangelischen Gemeinde A. B. Großscheuern, 24.7.1914. 90 Ebenda, 18. August 1914. 91 ZAEKR 400/235-154: Gedenkbuch Hahnbach, 1914, Punkt 18. 92 Ebenda 400/275-257: Gedenkbuch Freck, 27.11.1914. 93 ZAEKR 400/235-154: Gedenkbuch Hahnbach, 1914, Punkt 8. 94 Ebenda, Punkt 9.
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dass er „für die Mittelmächte nicht viel übrig habe“95. Auch einige Hahnbacher Rumänen sprachen je nach Kriegslage nun freimütiger „vom feindlichen Eintreten Rumäniens in den Krieg, und dann würden nicht mehr die Ungarn und die Sachsen hier die Herren sein“96. Unbeeindruckt von diesen Meinungsäußerungen begrüßte die evangelisch-sächsische Gemeinde hochgestimmt den Jahreswechsel: „Das Neue Jahr 1915 wird mit einem von der gesamten Jugend vom Kirchturm aus gesungenen Choral ‚Nun danket alle Gott‘ und mit sächsischen Volks- und Bekenntnisliedern begrüßt. Wir haben alle das überwältigende Gefühl, dass das Neue Jahr 1915 die Entscheidung des Krieges und damit eine ganz neue Weltordnung – politisch und wirtschaftlich – und gewiss auch eine Neugeburt des vor dem Krieg so arg darniederliegenden Innenlebens bringen wird. Der Ortspfarrer bringt diese Gedanken auch in einer Ansprache zum Ausdruck.“97 Vergleichbares galt erst wieder für den Jahresbeginn 1918, als Stadtpfarrer Schullerus das Presbyterium begrüßte: „[…] mit einem hoffnungsvolleren Neujahrswunsche als es in den letzten Jahren möglich war, da nun begründete Aussicht auf den lang ersehnten Frieden ist, welcher, nachdem so viele Zeit in dem Fortbau ungenutzt verstrichen ist, neuen Raum für die Arbeiten der Zukunft und ihre Fortsetzung bietet.“98
Einstellung zum Kriegsverlauf Anhand der ausführlich geführten Gedenkbücher (wie zum Beispiel in Hahnbach, Großscheuern oder Freck) lassen sich auch die Veränderungen in der Stimmungslage von Pfarrern und Gemeinden erkennen. Die anfänglich fehlende Kriegsbegeisterung99 und Hoffnung auf baldiges (siegreiches) Kriegsende („Weihnachten zuhause“), der aufschäumende Siegesenthusiasmus, die Resignation bei Fronturlaubern100 95
Ebenda, 1915, Punkt 4. Ebenda. 97 Ebenda, 1914, Punkt 43. 98 ZAEKR 400/276-20: Presbyterialprotokolle Hermannstadt 1918, 4.1.1918, TOP 1. 99 Vgl. Anm. 23. 100 ZAEKR 400/235-154: Gedenkbuch Hahnbach, 1914, Punkt 32: „Ende Oktober kommen [zwei Fronturlauber] aus den Karpathenkämpfen zur Erholung auf Urlaub. Sie sehen sehr erschöpft und mutlos aus und wissen eigentlich sehr wenig vom Kriege zu erzählen. Größere Schlachten haben sie nicht mitgemacht; wohl aber kleinere Gefechte und immer unter den aufreibendsten Strapazen bei schlechtester Verpflegung. Ihre Berichte sind geeignet, die Zuversicht derer hinter der Front zu untergraben. Der Pfarrer mahnt von der Kanzel, diese große Zeit, in der uns Gott mit der strengen Erziehungsmaßnahme des Krieges heimsucht, solle uns nicht klein finden; die armen Rekonvaleszenten und Urlauber aber, die von der Front kommen, sind geeignet, solcher Predigt alle Wirkung zu nehmen. Auch [zwei weitere], die leicht verwundet, zu 96
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bzw. Unverständnis gegenüber Hilferufen101, die Empörung über panslawische Solidarität102 und im Umkehrschluss die Verzagtheit angesichts der russischen Erfolge in Galizien103, die Begeisterung über die militärischen Offensiven im Frühjahr 1915, dem vermeintlichen „Höhepunkt des Krieges“104 wurden kontrastiert durch die Empörung über den Verrat des vermeintlichen Bundesgenossen Italien105 oder über den Defätismus und begleitet vom Abscheu über anscheinend die kurzem Urlaub nach Hause kommen, wissen nichts Erhebendes, im Gegenteil – nur Niederdrückendes zu berichten. Der Pfarrer muss den Leuten selber Zuversicht und Mut einreden; nicht ohne inneres Widerstreben. Dies aber nicht etwa, weil er an dem Erfolg unserer Waffen zweifelt, sondern weil man uns hier zu Hause, die wir im Sicheren wohl geborgen sind, mit Recht vorhalten kann: ‚Ihr habt leicht reden und zum Ausharren zu mahnen. Stellet euch selber einmal hin in Not und Gefahr, dann werdet ihr auch anders reden!‘“, so bereits im Herbst 1914, aber auch 1915, vgl. ebenda, 1915, Punkt 4 sowie 1916, Punkt 1: „Das vergangene Jahr hat den so sicher erhofften Endsieg der Mittelmächte nicht gebracht. Die von der Front zu kurzem Erholungsurlaub heimgekehrten Krieger wissen zwar von heldenhaften Waffentaten und Erfolgen zu berichten, doch klingt aus ihren Berichten nicht die unerschütterliche Siegeszuversicht, und auch nicht die Kampfesfreudigkeit. Es ist mehr Pflichtbewusstsein, was sie standhaft bleiben macht; bei sehr vielen auch resignierte Ergebung in das Unabänderliche. Und es ist für uns daheim, die wir eigentlich gar keine wirklichen Opfer für den Krieg bringen, so schwer, – wir fühlen den inneren Widerspruch – zum Durchhalten bis zum sicheren Endsieg zu mahnen. Und doch müssen wir die Zuversicht aufrechterhalten helfen.“ 101 ZAEKR 400/357-255: Gedenkbuch Großscheuern, Eintragung zum 2.12.1914: „Unser Rektor ist verwundet worden. Leichte Schusswunde; der Daumen der linken Hand ist ihm verletzt. Er befindet sich in Mährisch-Ostrau im Spital. Von da schreibt er einen verzweifelten Brief an mich, ich möge ihn aus der Hölle ‚denn anders sei der Krieg nicht, befreien, sonst würde ihn der Hunger- und Kältetod treffen!‘ Wie niederschmetternd solche Äußerung! Was soll der einfache, ungebildete Bauersmann [denken], wenn ein Lehrer und Erzieher also schreibt! Gewiss wird es schwer und schrecklich sein, im Kriege zu stehen, Tag für Tag zwischen Leben und Tod. Aber es steht doch Größeres auf dem Spiele als unser Leben! Darum steht es auch so schwach mit uns[eren] Erfolgen im Kriege. Die meisten gehen mit und kämpfen, weil sie müssen und nicht wie die deutschen Brüder, die nicht nur singen: ‚für dich wollen wir leben und sterben, du altes, deutsches Land!‘, sondern auch tatsächlich mit aller Begeisterung in den Tod gehen! Gott bessere es bei uns!“ 102 ZAEKR 400/235-154: Gedenkbuch Hahnbach, 1914, Punkt 19: „Dass es aber den Russen möglich war, mithilfe der Verräter so weit in Galizien einzudringen, das ist doch traurig und zeigt, wie unzuverlässig die slawischen Volksstämme sind.“ 103 ZAEKR 1914, Punkt 32. Ebenda, 1915, Punkt 12. 104 Ebenda 400/357-255: Gedenkbuch Großscheuern, Eintragungen zum 4.3.1915 und Zitat zum 12.5.1915. 105 ZAEKR 400/235-154: Gedenkbuch Hahnbach, 1915, Punkt 13. – ZAEKR 400/357255: Gedenkbuch Großscheuern, Eintragung zum 25.5.1915: „Ich hatte die Gemeinde schon in der Pfingstpredigt auf den Krieg […] vorbereitet. Der Grundton war auf das rechte Pfingstwort gestimmt: ‚Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.‘ Wir müssen nun noch mehr zusammenhalten und uns dahin wenden, woher uns allein Hilfe kommen kann: an Gott; das Bewusstsein, ein gutes Gewissen zu haben, ist schließlich
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Kriegsmoral zersetzende Grundeinstellungen und Äußerungen106. 1918 schließlich begegneten sich ambivalente Erwartungen: hoffnungsfroh dem „Endsieg“ entgegen oder die im Verlauf des Jahres ernüchternde Feststellung von Kriegsmüdigkeit und Stillstand107.
Eindrücke vom Kriegsschauplatz und von Fluchtgeschehnissen 1916 „Aber leider – die Kriegswolken wurden immer dunkler und drohender, um uns und über uns, bis sie sich in dem Kriegsausbruch mit Rumänien entluden. Dann kam die namenlose, die schreckliche Zeit“, erinnert das Gedenkbuch von Großscheuern an die Ereignisse und fährt fort: „Am 26. zum 27. August in der Nacht. Alarmrufe, Trompetensignale. Der Krieg mit Rumänien ist da. Eine furchtbare Verwirrung, Bestürzung. Überall. Die hier stationierten beiden Ersatzbatterien der früheren Feldkanonenregimente No 35 Klausenburg und No 36 Hermannstadt rüsten zur eiligen Flucht. Die Ausfahrten aus dem Dorfe werden gesperrt, sämtliche erreichbare Fahrzeuge werden für das Militär beschlagnahmt. Ich fahre zur nahen Stadt. Da selbst ist die Bestürzung, Furcht und Aufregung noch größer. Alles rennet, rettet, flüchtet. Rat weiß niemand zu geben.“108 [Am 31. August] „Unsere Soldaten sind auf dem Rückzuge. Oberhalb der Gemeinde, auf der Stolzenburgerhöhe beginnen sie sich einzugraben. Ebenso gegenüber dem Pfarrhofe auf der Schweinehutweide. Unseres Bleibens ist länger doch das Beste, und darum vertrauen wir fest darauf: ‚Das Reich muss uns doch bleiben!‘“ [Das letzte Zitat stammt aus dem Luther-Lied: Ein’ feste Burg ist unser Gott.] 106 ZAEKR 400/235-154: Gedenkbuch Hahnbach, 1915, Punkt 18: „Anfang Mai hält eine Gebirgsfeldbrotbäckereiabteilung eine mehrtägige Übung bei uns ab. Bei dieser Gelegenheit sind zwei Verpflegsakzessisten […] auf dem Pfarrhof einquartiert. Ich bin entsetzt über die vaterlandslose Gesinnung des [F…], eines Semiten; aber auch [H...] Haltung erregt meinen Unwillen. Er sagt: ‚Wir kämpfen für Deutschland; Deutschland wird siegen. Aber Österreich-Ungarn wird den Krieg verlieren.‘ Wo will das hinaus?“ Ebenda, Punkt 24: „Im Juli wird im benachbarten Großscheuern eine ganze Eskadron österreichische Gebirgstrainführer einquartiert – die Chargen meist Juden aus Böhmen. Die Offiziere […] Trotz wunderbarer Erfolge unserer Heere in Russland sind sie vom Endsieg unserer Gegner überzeugt und es sieht fast aus, als ob sie diesen auch wünschten.“ ZAEKR 400/235-154: Gedenkbuch Hahnbach, 1915, Punkt 4: „Der Krieg breitet sich immer mehr aus. Wir sind überrascht, dass die von der Front auf Urlaub oder zur Ausheilung leichterer Verwundungen heimkehrenden Krieger über den Gesamtverlauf der kriegerischen Operationen viel weniger wissen als wir hier hinter der Front. Es bedrückt uns vor allem, dass die wenigsten sicherer Zuversicht auf den siegreichen Ausgang des Krieges sind.“ 107 ZAEKR 400/275-257: Gedenkbuch Freck, Eintragung zum 3.5.1917. ZAEKR 400/250-355: Gedenkbuch II, Evangelische Kirchengemeinde A. B. Burgberg, 1918. 108 Ebenda 400/357-255: Gedenkbuch Großscheuern, 1916.
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hier nicht mehr. Nachdem Kirchengeräte vergraben, wertvolle Matrikel versteckt und die Wertpapiere dem Raiffeisenverein übergeben worden [sind], springe auch ich auf einen der letzten flüchtenden Wagen. Nichts anderes rettend als: Ornat, Wintermantel, Bibel, Gesangbuch und ein von meiner Frau ausgenähtes Tischtuch; alles andere bleibt. Die Flucht geht über Stolzenburg nach Reußen. Nach kurzer Pause weiter über Marktschelken nach Kleinschelken. Überall dieselbe Angst, Bestürzung, Verwirrung. Bei unserer Einfahrt in Kleinschelken wird durch die Trommel bekannt gegeben, die Leute sollten auch von da flüchten und zwar nach Ungarn hinein. Es geht die Kunde, Schäßburg sei gefallen, Mediasch evacuiert, Großscheuern verbrennt. Irgendeine sichere Nachricht ist nicht zu erhalten. Schwer war für mich der Abschied aus dem Pfarrhause; aus den schönen Räumen, von den einfachen lieben Möbeln und Sachen, die wir mit meiner treuen Gattin Stück um Stück uns selber geschaffen. Vor dem Weggang betete ich kurz: ‚Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen, der Name des Herrn sei gelobt.‘109“ Nach der Flucht bis Kleinschelken und kurzer Rückkehr nach Großscheuern machte sich der Pfarrer schließlich zu Fuß nach Mediasch auf; über Pretai, wo er Gottesdienst hält („Ich mahnte zum Bleiben“), gelangte er bis Schäßburg. Von dort floh er zusammen mit der vorausgeeilten Familie nach Altwerbaß. Nach der Rückkehr von der Flucht hielt das Gedenkbuch fest: „Die Gemeinde hat während der Militärbesetzung durch die eigenen Leute schweren, aber nicht übermäßigen Schaden gehabt. Am schwersten ist das Pfarrhaus mitgenommen worden. Die Kirchengemeinde hat überhaupt keinen Schaden zu verzeichnen gehabt.“110 In Kerz (Cârța, Kerc), das wohl die massivsten Schäden zu verzeichnen hatte, waren allein 24 Höfe durch Brandschaden vernichtet und sehr viel Ernteerträge (Nahrungsvorräte) nicht mehr vorhanden. Hier berichtet das Gedenkbuch: „Was man im Stillen immer befürchtete, niemand aber recht daran glaubte, ist heute geschehen! Wir sind im Kriegszustand mit Rumänien. Dieses unglükselige [sic!] Land ist nun auch auf die Seite unserer Feinde getreten und mit großer Heeresmacht in unsere friedlichen Thäler eingebrochen. Natürlich ist nun unsere ganze Aufmerksamkeit von allen Feldern, wo der Krieg weiter tobt, ab- und auf unsere Heimat Siebenbürgen [hin]gelenkt worden. Dies wollen die Rumänen besitzen, das ist ein alter Traum. Ob ihnen der Einfall gelingt? Uns haben sie großen Schrecken eingejagt. Aber die Deutschen sind gleich hinterher. Bis sie kommen, rauben diese und 109 110
Ebenda; Zitat aus Hiob 1,21. Ebenda.
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plündern, was sie können. Wir hier in Kerz sind am schlechtesten vielleicht von allen davon gekommen. […] Während dieser Zeit ist der Pfarrer hier bei seiner Herde geblieben, nur seine Familie war während 4 Monaten in Sz. Keresztúr im Torontaler Komitat, wohin die Flüchtlinge in jener Zeit zu vielen Tausenden geführt worden waren111. In den Tagen vom 4. bis 6. Oktober durften wir von Kirchberg, wo wir seit 18. September untergebracht waren, wieder zurückkehren. Was wir hier fanden, spottet aller Beschreibung: alles vernichtet, geplündert, leer. – Was sollen wir anfangen? Viele sind ganz verzweifelt. – Arm, der Winter vor der Tür, wenig, fast keine Brotfrucht, Futter für das Vieh nicht ausreichend, weil viel verschleppt, verbrannt, zerstört. – Da können wir sorgen nur und beten: Gott sei uns gnädig! – Ein Trost in dem großen Jammer, daran jedes Haus beteiligt ist, liegt in den Nachrichten vom siegreichen Vordringen unsrer Heere. Die hinterlistigen Räuber, die uns so schmählich überfallen, sind schon längst über die Grenzen hinausgejagt. Sie werden nun im eigenen Land hart bedrängt von der Not des Krieges, den sie sich selber in ihr Haus geladen.“112 Andere Empfindungen hatte der griechisch-katholische Pfarrer von Hahnbach. Über ihn berichtet das Gedenkbuch, dass er nun der Verwirklichung der schon lange gehegten, heimlich genährten Hoffnungen entgegenzusehen schien113. Bemerkenswertes teilt das Gedenkbuch von Großschenk mit. Die gut versteckten Wertgegenstände (u. a. die Vasa sacra) kamen am 28. September 1916 wahrscheinlich durch sächsischen Verrat vor den Augen der Eroberer ans Tageslicht, wobei die Kirchengeräte „aber vom Feinde nicht behalten“ wurden114. 111 Vgl. dazu die vom Ortspfarrer Carl R e i c h verfassten Aufzeichnungen, auf die an dieser Stelle im Gedenkbuch verwiesen wird. Diese sind jüngst veröffentlicht worden; Carl R e i c h : Wie der Krieg auch zu uns kam. Tagebuch 1916; Kerzer Chronik, Schriften, Briefe. Hg. Friedrich S c h u s t e r . Hermannstadt 2011. 112 ZAEKR 400/375-10: Gedenkbuch der Gemeinde Kerz, 1916, S. 217. 113 ZAEKR 400/235-154: Gedenkbuch Hahnbach, 1916, Punkt 20. Auf dem Platz vor dem nahe dem Ort im Walde gelegenen Forsthaus lagerte ein Großteil der Ortsbevölkerung: „Der rumänische Pfarrer, welcher bis zuletzt von der Flucht abgeraten hatte, kam am Nachmittag zum Besuch seiner dem Befehle der Behörde gehorsamen Kirchenkinder. Er war sehr aufgeräumt die Verwirklichung nationaler Hoffnungen in nächste Nähe gerückt zu sehen, und bedauerte, dass ihm die künstlerischen Gaben fehlten, um das anmutige Bild zu malen und dichterisch zu besingen. Von Süden her erklang immer heftigeres Gewehrfeuer und bis in die Nacht schwerer Geschützdonner. Wir schliefen im Freien neben unseren Wägen.“ 114 ZAEKR 400/102-59: Presbyterialprotokolle Großschenk, Protokoll v. 8.10.1916, Z. 92: Besprechung über die Ausbesserung der durch den Feind an den kirchlichen Gebäuden verursachten Schäden.
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Ethik Auch dieser Krieg wurde – in der traditionellen Deutung des Krieges als Mittel göttlicher Pädagogik – entsprechend als Zuchtrute Gottes gedeutet. Nicht nur Gottes als innerweltliches Gericht verstandenes Handeln belegte die Sünder mit Strafe, sondern die daraus resultierende Bußhaltung sollte zur Hebung christlicher Gesinnung und Gesittung motivieren. Diese jahrhundertealten, tief verinnerlichten, religiösen Deutungsmuster kennzeichneten zweifellos das Denken und Reden der siebenbürgisch-sächsischen Pädagogen und Pfarrer in Stadt und Land. So konnte der Hahnbacher Pfarrer (wohl typisch für viele Kollegen) feststellen: „Gegenwärtig ist wie niemals bisher, der Boden bereitet, für eine Saat großer Gedanken und geläuterter christlicher Gesinnung und edelsten Tatenbeweises.“115 Er artikulierte diese Läuterungs-Idee folgendermaßen: „Wir erhoffen von diesem schrecklichen Krieg eine heilsame Wirkung auf die Gesinnung. Vor allem wird er die Menschen gottergebener, frommer, christlicher machen. Auf Gott allein können wir unsere Hoffnung setzen, wenn wir hören, dass eine ganze Welt von Feinden wider uns aufsteht. Aber wir verzweifeln nicht! Gott ist ja nicht wie die Schwachen, haltlosen Menschen – ‚mit der Majorität‘, – ‚er ist mit den Minoritäten‘, mit denen, die verfolgt werden um ihrer Tüchtigkeit willen.“116 Wenn er seine Ausgangsposition, nämlich die Kritik an den neidischen, „niedrigen Gesinnungen“117 unter den Bauern, präzise analysiert gehabt hätte, wäre ihm wohl schon vor seinen edelmütigen Träumen die spätere Einsicht zuteil geworden: „Die vom Krieg erhoffte Läuterung des inwendigen Menschen bleibt aus.“118 Die sittlich enttäuschenden Phänomene waren vielfältig: Spekulation mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen (bis zum Zwei- oder Mehrfachen der Maximalpreise), Müßiggang unter Kriegsunterstützung erhaltenden Frauen119, Verbergen der Ernte vor staatlicher Requirierung, Horten von Silbermünzen, Geldgier („Mammonsteufel“) und Undankbarkeit: „Alles das viel zu wenig gegenüber den Opfern, welche unsere zur Verteidigung des Vaterlandes in den blutigen Krieg eingerückten Brüder bringen; viel zu armselig gegenüber der Dankesschuld, die 115
Ebenda 400/235-154: Gedenkbuch Hahnbach, 1914 Punkt 16. Ebenda. 117 Ebenda, Punkt 15. 118 Ebenda, 1915, Punkt 34. 119 Ebenda, 1915, Punkt 33: „Namentlich die Zigeunerinnen lassen sich durch die erhaltenen Kriegsunterstützungen zur absoluten Untätigkeit verleiten. Die auf Tagelöhnerhilfe angewiesenen Besitzer größerer Wirtschaften verallgemeinern nun ihren Unwillen über diese Tagediebe und wollen überhaupt keine armen Leute mehr anerkennen.“ 116
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uns belastet für das wunderbare Behüten unserer engeren Heimat vor dem furchtbaren Kriegselend, wie es die vom Krieg heimgesuchten Gegenden durchzumachen hatten. Die Menschen sind undankbar! Man hört schon die schmutzige, gottlose Klage, dass zu viel gesammelt werde. Der Mammonsteufel hat die Leute ganz besessen. Zu meinem Leid muss ich es festhalten, dass unsere Hahnbacher mit ihren Gaben hinter anderen Gemeinden zurückbleiben. Das macht, weil ihre Haupterwerbsquelle das Holzgeschäft ist. Der Brennholzhandel demoralisiert aber den einfachen Bauern; er birgt zu viele Versuchung zur Unehrlichkeit in sich.“120 Deswegen kam der Pfarrer zur Einsicht: „Der Krieg erweist sich als ein Prüfstein für den sittlichen Wert der Menschen. Die edleren Charaktere werden durch die Erfahrungen des Krieges erst recht geläutert, während die minderwertigen Verrohung und ihren niedrigen Trieben freie Bahn gewähren.“121 Sehr pessimistisch resümierte der Ortspfarrer den Ausgang des Krieges und die Folgemonate: „Die Moral ist schwer geschädigt. Autorität gilt keine mehr. Zusammenhang und Gemeingeist ist verschwunden. Dafür Gehässigkeit, üble Nachrede, Zwietracht in Gemeinden und Familien. Nebenbei blüht das Sektenwesen. […] Die Arbeitsfreude ist abhandengekommen. […] Auch die Gutgesinnten sind vielfach irre geworden. Die Besten treten still zur Seite. Dabei ist der politische Horizont noch immer dunkel. Es ist eine böse Zeit. Gott bessere es.“122 Besonders die Lockerung der Disziplin und die Aufweichung traditioneller Autoritätsstrukturen führten zu durchweg in allen Gemeinden und auch in übergeordneten Gremien geäußerten Sorgen bezüglich der „Verwilderung der Jugend“, der mit geeigneten Maßnahmen (gedacht wurde mehrheitlich an altbewährte, autoritäre Sanktionen) schon während der Kriegszeit hätte begegnet werden müssen. Der erkennbare Mentalitätswandel, teilweise auch bei den erziehungsberechtigten Alterskohorten fand meist das Unverständnis der Ortsgeistlichen. Nur in Ausnahmefällen wurden psychologisch sensible und menschlich souveräne Einsichten vermerkt, wie in Großschenk: „Mehrere Presbyter geben dem Wunsche Ausdruck, dass unsere Jugend bei tatkräftiger und taktvoller Führung gewiss manche Bedenken in Bezug auf das Gebaren unserer Jugend zerstreuen wird. Der Jugendbund möge ein Mittelpunkt zwischen Alten und Jungen werden und es sei vordringendes Bedürfnis, ein entsprechendes Lokal zu beschaffen, wo 120 121 122
Ebenda, 1915, Punkt 42. Ebenda, 1916, Punkt 4. Ebenda, 1919.
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man sich treffen könne und Gelegenheit zur Zeitungslektüre und […] Gedankenaustausch finde.“123
„Wie der Krieg auch zu uns kam“: Ereignisse und Deutung des „Rumäneneinfalls“ 1916 Am 28. August 1916 wurde Siebenbürgen zum Kriegsschauplatz. Die Kanzlei des Landeskonsistoriums flüchtete mit den Angestellten und der Landeskirchenkasse nach Budapest, was für die vielen aus Südsiebenbürgen ebenfalls dorthin geflohenen Gemeindeglieder (meist mobile Bürger) von großem Vorteil war. Bischof Friedrich Teutsch amtierte mit sieben weiteren Mitgliedern des Landeskonsistoriums in einer Rumpfbesetzung, womit die Kirchenbehörde handlungsfähig blieb. Dort wurde sogar eigenverantworteter Schulunterricht organisiert. In Südsiebenbürgen sollten die Pfarrer ihrer Gemeinde beistehen, d. h. versuchen, auch bei den flüchtenden Gemeinden zu bleiben. Oft wurden die kirchlichen Gerätschaften (Vasa sacra) vergraben, und eine recht kopflose Flucht setzte ein. Schon ab Mitte September 1916 griffen die eiligst unter Falkenhayn und Mackensen operierenden deutschen Truppen ein, und Anfang Oktober trafen die ersten Rückkehrer in Siebenbürgen ein. Das Landeskonsistorium nahm seine Arbeit in Hermannstadt am 25. Oktober 1916 erneut auf124. Von der Strategie, die Frontlinie in Siebenbürgen bis hinter den Mieresch zurück zu verlegen und die Wohnbevölkerung, auch die sächsische, aufzufordern, mit ihrem Hab und Gut hinter diese Linie oder nach Zentralungarn bzw. in das Komitat Torontal oder gar bis Neuwerbaß (Vrbas, Verbász) zu fliehen, waren die Menschen vor Ort völlig überrascht worden, trotz der sich im Sommer 1916 verschärfenden politischen Spannungen. Gerade erst waren die Glocken requiriert worden, aber eine Flucht hatte niemand irgendwo vorbereitet125. In den Orten, in denen die rumänischen Truppen nicht bereits in Höroder Sichtweite standen (im Burzenland und entlang der Karpaten, aber auch in Hermannstadt), versuchten die Ortspfarrer zunächst beruhigend zu wirken. Mancherorts, wie in Kerz oder Hahnbach, aber auch in Großscheuern oder Großpold versuchte die Bevölkerung abzuwarten. Schließlich rissen aber die durchziehenden Flüchtlinge oder die anrückende rumänische Armee die Hemmschwelle nieder, und ein Großteil der Bevölkerung in den Gemeinden floh. Meist be123 ZAEKR 400/102-59: Presbyterialprotokolle Großschenk, 1918, S. 285, Z. 114 Jugendwehrangelegenheit. 124 Z. 3314/1916 v. 26.10.1916. In: KiBll 8 (1916), S. 357–358. 125 KiBll 9 (1917), S. 61–63,73–75, 97–100, 108–111, 389–391.
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mühten sich die Ortspfarrer mit den politischen Ortsbehörden um eine Abstimmung, doch deren Unsicherheit oder Ziellosigkeit war vielerorts greifbar. Vor Ort suchten die Pfarrer, sofern überhaupt noch möglich, die Bleibewilligen oder Reiseunfähigen auf, Sterbenden wurde das Abendmahl gereicht, die vor der Flucht stehenden Neugeborenen getauft und Wöchnerinnen eingesegnet. In vielen Fällen wurden die historisch wertvollen Vasa sacra vergraben und die Kirchenmatrikel an einem möglichst sicheren Ort geborgen. Einige Pfarrer blieben vor Ort, z. B. in Kronstadt, Hermannstadt und Großschenk, in vielen anderen Gemeinden machten sich die Pfarrer gemeinsam mit der Gemeinde auf die Flucht. Oftmals transportierten die Bauern ganze Wagenladungen mit „Frucht“ oder nahmen auch hinderliches Klein- und Großvieh mit. Nicht zu selten kam es vor, dass die Geflohenen ihren Ortswechsel nur wenige Ortschaften weiter stoppten126. Als die Gemeinden – nach dem Ende September 1916 begonnenen Rückzug der rumänischen Armee – Anfang Oktober 1916 wieder in ihre Ortschaften heimkehren konnten, waren viele Häuser und Bauernhöfe geplündert. Während der Berichterstatter (Friedrich Teutsch) die Sachlage durch unklare Formulierungen kaschierte127, 126 ZAEKR 400/275-257: Gedenkbuch Freck, 1916, Eintragung zum 28. August: „Es ist eine eigene Beobachtung gewesen, dass die Flüchtlinge, wohin sie auch kamen, den Ort verlassen fanden, in dem sie sich niederließen. Die Frecker flüchteten nach Leschkirch, die Leschkircher nach Mediasch, die Mediascher nach Ungarn. Es scheint, die Leute fühlten sich nur gerade in ihrer Heimat nicht sicher.“ Vgl. auch den Bericht von Marie von Hannenheim in den Kirchlichen Blättern 9 (1917). Beispielsweise hielten viele in Stolzenburg an, in dem der Gemeindepfarrer bei seiner teilweise zurückgebliebenen Gemeinde ausharrte: Dorthin flüchteten sich Heltauer, Neppendörfer, Schellenberger, Hammersdörfer, Talmescher, Kleinscheurer, Großscheuerer und Hahnbächer. Diese halfen in der Landwirtschaft mit: „Und dann kommt der Gottesdienst, und überall sieht man zwischen den weißen Stolzenburgern die schwarzen Tücher der fremden Frauen und in dem Seitengestühl unbekannte Männer. Auch ein Leutnant sitzt im Predigergestühl und oben auf der Galerie viele Soldaten. Der Organist […] ist mit seiner Familie vorgestern auch geflüchtet, und an der verwaisten Orgel sitzt eine Hermannstädterin […] und begleitet die schönen Trostlieder. Und Trost tut not, überall verzagte Herzen. Aber mächtig ertönen die Kirchenlieder, und dann ermahnt mein Mann: Schicket euch in die Zeit, denn es ist böse Zeit! Aber er spricht auch Trost zu und findet dankbaren Boden“ (S. 99). In der Kriegsbetstunde vor der zusammengewürfelten Gemeinde stärkte der Ortspfarrer Julius von Hannenheim die Leute, die alle gemäß dem biblischen Verkündigungswort „stark sein wollen für unser Volk und die Stätte unseres Gottes“ (S. 108). Etwa 1.200 Personen aus Brenndorf lebten beispielsweise zwischen Schäßburg und Mediasch auf den Dörfern verteilt, deren Mehrzahl war aber bis ins Komitat Torontal auf einige Schwabendörfer zwischen Arad, Temeschwar und Großbecskerek weiter geflüchtet. Vgl. KiBll 9 (1917), S. 270. 127 Friedrich T e u t s c h [?]: „Es hat auch bei den Flüchtlingen nicht an bösen Erscheinungen gefehlt, von jenen angefangen, die in der fremden Gemeinde wüst und
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waren die Ortspfarrer in ihren Berichten durchaus deutlich: Neben den in gewohnter Weise plündernden Soldaten (sowohl Rumänen als auch Ungarn und Deutsche) hatten sich auch zurückbleibende Ortsbewohner (allerdings auch in nicht unerheblichem Umfang ortsansässige oder durchziehende Siebenbürger Sachsen) an den Plünderungen beteiligt128. Nach der Heimkehr erlaubte der lange und freundliche Herbst in den meisten Dörfern, den Großteil der Feldfrüchte komplett zu ernten129. Mit dem Rückzug der rumänischen Truppen wurde auch die Ende August 1916 bereits vom ungarischen Militär durchgeführte Praxis der Geiselnahme von Repräsentanten und Multiplikatoren ethnischer Minderheiten übernommen130. Von rumänischen Truppen wurden nun unter umgekehrten Vorzeichen lokal differierend nicht wenige ortsanwesende, generell der Kollaboration verdächtigte Männer mitgeführt. Aus Schellenberg z. B. wurden viele Personen (darunter der während der Deportation zu Tode gekommene Gemeindekurator G. Schunn), aber auch aus Freck insgesamt 19 Personen zu Fuß verschleppt, von denen in den nächsten Wochen insgesamt zehn (davon zwei unmittelbar nach der Rückkehr) wegen der Strapazen verstarben; auch der roh hausten, Zerstörung brachten, wohin sie kamen, aus dem Grunde, anderen alles zu nehmen, weil sie alles verloren zu haben glaubten […].“ In: KiBll 9 (1917), S. 6. 128 ZAEKR 400/250-355: Gedenkbuch II (1917–1989/2003) der evangelischen Kirchengemeinde Burgberg: „Zum Nachtrag für das Jahr 1916: Nun haben wir auch die Hyänen der Schlachtfelder gesehen. Die rumänischen Truppen hatten sich als Feinde in Feindesland – sie waren ja freilich nicht weit gekommen – sehr menschlich benommen. Dafür hat die hiesige Einwohnerschaft die Toten auf dem Schlachtfeld ausgezogen und ausgeraubt. Zuerst wohl Zigeuner und Rumänen. Aber die Sachsen haben sich auch schmählich genug benommen. Die Moral schwindet [?] bedenklich. Gelegenheit macht Diebe. Und die Berichte der Urlauber aus den Kampfgebieten fördern die Verrohung.“ ZAEKR 400/357-255: Gedenkbuch Großscheuern 1916: „Aber das Betrübliche war doch der Umstand: daß der Verdacht nicht von der Hand zu weisen war, daß auch Sachsen und zwar – bessere Leute – sich am Eigentum des Pfarrers vergriffen haben.“ 129 KiBll 9 (1917), S. 271, 408. 130 Vgl. Sebastian S t a n c a : Contribuția preoțimii române din Ardeal la războiul pentru întregirea neamului [Beiträge siebenbürgischer Priester zum nationalen Vereinigungskrieg]. Cluj 1925. N. P o p e s c u : Preoțimea română și întregirea neamului. Vol. II Temnițe și lagăre [Die rumänischen Priester und die nationale Vereinigung. Bd. 2: Gefängnisse und Lager]. București 1940. Nach Angaben von Păcurariu waren unter den im Spätsommer 1916 deportierten, teilweise in der Deportation verstorbenen Rumänen rund 220 Priester, darunter auch die drei von Herfurth – KiBll 9 (1917), S. 226 – nicht namentlich erwähnten Priester aus Kronstadt, Dr. Nicolae Stinghe und Ioan Prișcu jeweils mit Frau und zwei Kindern, aber auch der Protopope Vasile Saftu mit zwei Kindern. Vgl. dazu Mircea P ă c u r a r i u : The Romanian clergy in the 1916–1918 years. In: d e r s . : The policy of the Hungarian State concerning the Romanian Church in Transylvania under the dual monarchy 1867–1918. Bucharest 1986, S. 190–295, hier besonders 201–209.
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Heldsdörfer Lehrer Hans Roth starb in Bukarest131. Wegen geistiger Resistenz wurde unter einem Vorwand auch der Kronstädter Stadtpfarrer und Superintendentialvikar Franz Herfurth kriminalisiert, am 17. September verhaftet und über Sinaia und Ploiești nach Bukarest verbracht; er konnte erst im Dezember 1916 nach Kronstadt zurückkehren132. Je nach Gemeinde waren kleinere oder größere Schäden zu beklagen, doch insgesamt hielten sie sich in Grenzen, wenngleich sie in die Millionen gingen133. Kerz war wegen 24 brandgeschädigter Höfe besonders in Mitleidenschaft gezogen worden134. Die Wiedergewinnung der Heimat beflügelte sowohl die Deutung des Ereignisses als auch die Dankbarkeit darüber, indem diese ideologisch und ethisch mobilisierend interpretiert wurde – allen voran standen der Hermannstädter Stadtpfarrer Schullerus, aber auch der Kronstädter Franz Herfurth135. Die militärische Rückeroberung Siebenbürgens durch vor allem deutsche Truppen führte zu einem religiös überhöhten nationalistischen Reflex unter den Siebenbürger Sachsen, besonders ihrer kirchlichen Exponenten136. Der Hermannstädter Stadtpfarrer Adolf Schullerus war wie der Kronstädter Stadtpfarrer Franz Herfurth bei
131 KiBll 10 (1918), S. 218. Vgl. auch KiBll 9 (1917), S. 370–372: Vertreter der ungarischlutherischen Gemeinde in Szakadat wurden interniert, teilweise verschleppt, und der Ortspfarrer Adrianyi ist dabei zu Tode gekommen mit drei weiteren Gemeindegliedern; vgl. dazu KiBll 10 (1918), S. 183. 132 KiBll 9 (1917), S. 253, 277–279, 285–287, 325–328, 336–338. 133 Friedrich T e u t s c h : Kirchengeschichte II, S. 599. 134 Carl R e i c h : Wie der Krieg auch zu uns kam (s. Anm. 111). 135 KiBll 9 (1917), S. 225–226, 233–234, 241–242, 251–253, 259–261. Auf S. 252 schildert H e r f u r t h , welche Folgen aus der Annexion „Kronstadt[s] in Rumänien“ kirchlich resultierten: Fürbitte für die Königsfamilie in Bukarest und – freiwillig – als wörtlich wiedergegebenes Schlussgebet die große Fürbitte nach der Liturgie des ostkirchlichen Kirchenvaters Johannes Chrysostomus. H e r f u r t h s Predigtgedanke, nämlich Trost im Leiden, konnte den rumänischen Beobachtern keinesfalls als freudige Unterstützung der rumänischen Vereinigungsparolen glaubhaft gemacht werden. Die Gemeinde selbst hatte ebenfalls andere Gedanken im Herzen. Eine fleißige Kirchgängerin bekannte dem Pfarrer (auf Sächsisch), sie habe still für die Monarchen Franz Joseph und Wilhelm II. gebetet (S. 253). 136 Selbst in Dorfgemeinden wie Stolzenburg lässt sich dieses Phänomen klar erkennen, wenn die Pfarrfrau folgende Szene schilderte, in der sie einer Art Nationalgott-Idee huldigte: „Der Abend brachte eine ungewöhnliche Kriegsbetstunde. In den Frauenbänken eng gedrückt alles besetzt, und in allen Männergestühlen und den Gallerien deutsche Soldaten. Welch ein herzerhebendes Gefühl, so Schulter an Schulter zum selben Gott zu beten. Wie sangen alle ergriffen als Schlusslied: Die Wacht am Rhein! ‚Der deutsche [sic!], bieder, fromm und stark, beschützt die heilige Landesmark!‘ Ja, heute und in Ewigkeit: Lieb Vaterland magst ruhig sein!“ In: KiBll 9 (1917), S. 110.
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seiner Gemeinde geblieben137 und hatte die bittere, stoisch ertragene, demütigende Erfahrung gemacht: „Als das Vertrauen versank und der Glaube wankte, und Angst und Entsetzen sich in das bleiche Antlitz grub; da gellte wohl über dem Schmerz die Erbitterung auf. Gegen die, aus deren Verantwortung all das geschah. Aber zuletzt wich sie doch starrer Ruhe, und über uns senkte sich das Gefühl der Ohnmacht und der – Schmach. Wehrlos ausgeliefert einem Feind, dessen Kraft wir nicht ernst zu nehmen gelernt hatten! Um Gnade und Schonung bei denen bitten zu sollen, über die wir uns in unserer Art erhoben fühlten!“138 Dies sei erst mit dem „Siegesschritt der deutschen Macht“, den vaterländischen Liedern, „geboren aus deutscher Art, und wirkend deutsche Zucht“ gewendet worden. Dann erst habe die gemeinsame deutsche Seelen- und Sprachverwandtschaft ein verschüttetes Bewusstsein freigelegt: „Was wir mit stillem Leuchten in uns getragen als Gottesgabe und Auftrag an uns, was wir als heiliges Erbe der Väter verteidigt, behütet, bewahrt, das flammt hier in unerschöpfter Fülle empor. Ueber uns, mitten durch uns zieht der deutsche Geist seine Siegesbahn und bezwingt die Welt, indem er sie erlöst.“139 Hieran knüpfte sich der Stolz über das Lob der reichsdeutschen Soldaten über die sächsisch geprägten Orte und die womöglich kriegsentscheidenden Ereignisse in Siebenbürgen: „Unsere Heimat steht heute im Mittelpunkt des Weltgeschehens, wie noch nie, seit diese Berge leuchten. Von dem, was hier erreicht wird, vom Sieg, den wir in unseren Bergen erfechten, hängt vielleicht die Entscheidung im großen Weltkampfe ab. Entflammt an allen Ecken und Enden der alten Welt soll hier vielleicht die Kriegsfackel in letzter Stärke auflohen und dann verlöschen. Das Opfer, das gerade unsere Heimat an Leben und Gut bringen musste, wie schwer es uns auch dünkt, wird reichlich, überreichlich gelohnt werden, da hier der Feind an seiner Blöße gepackt und so die letzte Entscheidung eingeleitet werden soll. Sieg und Frieden mag dann für alle Zeiten an den Namen unserer Heimat sich knüpfen. In stiller Andacht falten wir die Hände. Wie groß, wie stolz bist du uns geworden! Heimat! Heilige Heimat!“140
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Adolf S c h u l l e r u s : Die tote Stadt. In: KiBll 9 (1917), S. 30–33. Ebenda. Der Herr hat Großes an uns getan. In: KiBll 8 (1916), S. 359–360, hier 359. ZAEKR 400/275-257: Im Gedenkbuch Freck klingt am Jahresende 1916 ein direktes Echo auf diese Deutungen an: „So tief hat uns Gott gedemütigt, dass wir das Große verstehen können, das er an uns getan hat.“ 139 Ebenda, S. 360. 140 Adolf S c h u l l e r u s : Heilige Heimat. … denn der Ort, da du auf stehest, ist ein heiliges Land. 2. Mose 3,5. In: KiBll 8 (1916), S. 376–377, hier 376. 138
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In teleologischer Deutung und gleichsam mit naturreligiöser Offenbarungsqualität wurde die national verengt betrachtete Heimat nun religiös aufgeladen und die demütigenden Einsichten rasch verdrängt: „Gott hat uns die Heimat neu finden lassen. Herrlicher, goldener, als wir sie je gehabt. Und er hat uns sie neu gegeben, indem er uns jäh empfinden ließ, was wir an ihr verloren hätten, was für ein Leben zerstört, welche Fäden zerrissen worden wären. Indem er uns die Freude ins Herz sandte, als wir sie wieder fanden. Und nicht zuletzt, indem er uns zeigte, wie doch hoch über Menschenvorsicht und Menschenfurcht sein ewiger Wille führt. Daß wir aus seiner Hand die Heimat wieder empfangen haben, das mahnt uns, nie zu vergessen, daß von alten Zeiten her, aus seiner Macht, aus seinem ewigen Walten die Heimat uns geworden ist, […] denn der Ort, da du auf stehest, ist ein heiliges Land. Es ist das Land, aus dem Gott uns [sic!] spricht und zu uns spricht.“141 Der Kronstädter Stadtpfarrer Franz Herfurth142 stellte auf der Kontrastfolie einer dämonisierten, unmoralischen Feindesschar („solchen Höllengeistern gesellt sich jetzt die Untreue und Raubgier unseres rumänischen Nachbars zu“) die „Gotteshilfe“ im Herbst 1916 fest: „Gottes unsichtbare Streitmacht – hat sie sich nicht auch um uns gelegt, wie eine lebendige Mauer! Gott stellt seine Engel um die her, die ihn fürchten. Uralte Erfahrung ist’s.“143 So konnte er schlussfolgern: „Ohne Glauben kein Sieg! Nun denn, so verdient euch im rechten Glauben, durch vertrauensvolle Hingabe an Gottes heiligen Willen, Gottes gnädige Hilfe.“144 Auf dieser Basis (Syllogismus practicus) initiierte der Hermannstädter Stadtpfarrer Adolf Schullerus den von einem Teilnehmer „Falkenhayndank“ und Ausdruck von „Nibelungentreue“ genannten Ferienaufenthalt österreichischer und reichsdeutscher Stadtkinder. Mit dem Nahrungsüberschuss der siebenbürgischen Landwirtschaft sollte wider die gegen die Mittelmächte gerichtete Aushungerungsstrategie ein Zeichen gesetzt und der nachwachsenden Generation ein echter, persönlicher und nachhaltiger Dank für den Einsatz der deutschen Truppen im Herbst 1916 abgestattet werden. Das im Soldatentod geleistete Opfer der Gesinnungsgemeinschaft sollte nun eine ethisch reine Vergeltung erfahren. Nach Siebenbürgen wurden erstmals während des Sommers 1917 für zwei Monate durch die siebenbürgisch141
Ebenda, 377. Franz H e r f u r t h : Gotteshilfe. Predigt zum Jahrestag des Rumäneneinbruches am 26. August 1917. In: KiBll 9 (1917), S. 305–307. 143 Ebenda, S. 306. 144 Ebenda, S. 307. 142
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sächsischen Gemeinden mehrere Gruppen von rund 2 000 Kindern aus Großstädten des Deutschen Reiches (Leipzig und Berlin), aber auch Österreichs (Wien und Graz) eingeladen. Nach Überwindung der Schwierigkeiten erlebten 600 Leipziger Kinder im Kirchenbezirk Hermannstadt, 825 Berliner im Burzenland und 25 weitere in Elisabethstadt (Dumbrăveni, Erzsebétváros), die übrigen auf andere Städte und Dörfer ganz Südsiebenbürgens verteilt, eine unvergessliche, vor allem aber auch nahrhafte Zeit, die den von Ernährungsengpässen gezeichneten Großstadtkindern zugute kam145.
Sprachloses Entsetzen Als sowohl Rumänien als auch das bolschewistisch regierte Russland 1918 die harten Bedingungen Deutschlands annehmen mussten, schien der Zweifrontenkrieg überwunden. Die Entscheidung (der lange erhoffte „Endsieg“) stand an der Westfront an. Doch auf Grund der nunmehr offen erkennbaren deutschen Kriegsziele war der Bogen endgültig überspannt worden, und der seit Frühjahr 1918 massive Truppen-Einsatz der USA führte zum Zusammenbruch der in Nibelungentreue untergehenden „Hunnen“. Bulgarien wechselte die Seite, und die Habsburgermonarchie zerfiel. In den „Kirchlichen Blättern“ hüllten sich der Bischof, aber auch Adolf Schullerus in Schweigen. Einzig der Superintendentialvikar Franz Herfurth bereitete in seiner unheilschwangeren Reformationspredigt vom 10. November 1918, die am 23. November veröffentlicht wurde, auf den Umbruch vor. Unter dem Titel „Das Sachsenschiff im Sturm“146 knüpfte er an die Perikope von der Sturmstillung (Mt. 8, Verse 23–27) an und fragte, ob das „Schifflein unseres sächsischen Volkes“ […] „aus alten Bahnen geschleudert, ob es in die gurgelnde Tiefe hinabgefetzt“ werde. Mit auch rhetorisch gekonnten Reminiszenzen an Schlüsselszenen der sächsischen und Kronstädter Historie untermauerte er die Zuversicht auf die bewährte Beharrungskraft, auf Bildung, Fleiß, Pflichtgefühl und Gemeinschaftstreue. Schließlich fasste er zusammen: „Getrost! Wir alle fahren im Sachsenschiff. Gewissenhafte sächsische Männer stehen am Steuer, treue Arbeiter sind an der Arbeit, gute Werkmeister erhalten das Schiff in festem Gefüge. Ein frommes und arbeitsames, ein schaffensfreudiges und genügsames Volk hat sich im Schiff eingelagert. Seine besten Güter führt es mit: deutschen Glauben, sächsische 145 Ernst B u c h o l z e r : Ferienkinder bei den Sachsen. In: Kalender des Siebenbürger Volksfreundes für das Jahr 1918, S. 131–134. 146 Franz H e r f u r t h : Das Sachsenschiff im Sturm! In: KiBll 10 (1918), S. 399–401, hier 399–400.
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Sprache. Fürchte dich nicht. Gottes Wort ist der Kompaß. Der Herr, unser Heiland, ist mit im Schiff!“147 Mit dieser rückwärtsgewandten, kulturprotestantischen und im Kriege gerade elementar gescheiterten Botschaft suchte Herfurth eine auf die eigenen Tugendkonzepte setzende Selbstvergewisserung zu suggerieren, tröstliche Zuversicht zu verbreiten und einen Ausweg aus dem sprachlosen Entsetzen zu zeigen. Bischof Teutsch forderte im Rundschreiben Z. 4813/1918 vom 18. November zur „Aufrechterhaltung von Ordnung und Frieden“ auf, mahnte Ruhe und Ordnung, die Fürsorge und Eingliederung der Heimkehrer und die Konzentration auf die religiösen Erziehungsaufgaben an. Die im Krieg eingehämmerte Verbindung von Gottes Gerechtigkeit und der eigenen „gerechten Sache“, die zwangsläufig in den militärischen Sieg führen müsse, lag in Trümmern148. Nun wurde der theologische Code vom Bischof spiritualisiert: Die Enttäuschung über den Kriegsausgang und der Verlust der bislang als legitim geltenden eigenen Meinung wurden transzendental verkehrt (die Immanenz wird überwunden, weil der Sieg nun nicht mehr materiell, sondern im Glauben errungen sei) und damit rückwirkend die langjährige kirchliche Kriegspropaganda ad absurdum geführt. Teutsch schloss sein Rundschreiben mit dem Zitat aus 1. Joh. 5, Vers 4: „Alles, was von Gott geboren ist, überwindet die Welt; und unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwindet [sic!].“ Kirchlich zerbrachen der kulturprotestantische Idealismus und damit auch der ideologische Kitt, der die siebenbürgisch-sächsische, volkskirchlich strukturierte Gesellschaft zusammengeschweißt hatte. Der Altruismus des siebenbürgisch-sächsischen Finanzsystems scheiterte an den veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen. Die Agrarreform entzog der schulerhaltenden Kirche einen Großteil der materiellen Grundlagen. Die mangelnde Integrationsfähigkeit des politischen Systems Rumäniens und die intransparente Verwaltungspraxis führten zu einer Politikerverdrossenheit und setzten auch Desintegrationskräfte in der Landeskirche frei. Der Weltkrieg und seine Folgen waren für die Evangelische Landeskirche A. B. somit ein Desaster sondergleichen.
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Ebenda, S. 401. ZAEKR 400/252-28: Kirchenbuch Schellenberg, S. 42: „Der Glaube an einen gerecht und weise waltenden Gott scheint durch die Ereignisse völlig erschüttert zu sein.“ 148
Die Evangelische Landeskirche A. B.
Abb. 1. Kirchliche Blätter vom 26. September 1914.
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Abb. 2. Werbeanzeige in den Kirchlichen Blättern, 1914 (Ausschnitt).
Abb. 3. Friedrich Wilhelm Teutsch (um 1920).
D I E S I E B E N B ÜR G I S C H -S ÄC H S I S C H E N F R A U E N ZWISCHEN DEN FRONTEN DER KRIEGE 1914/18 U N D 1918/19 Ingrid S c h i e l Die vorliegende Skizze versteht sich als ein erster Beitrag zu einer bis heute ausstehenden Untersuchung zu den siebenbürgischsächsischen Frauen im Kontext des Ersten Weltkriegs1. Als bereits im ersten Kriegsjahr von den 230.000 Siebenbürger Sachsen knapp 18.000 (17.666) Männer eingezogen wurden, mussten die fehlenden Arbeitskräfte durch Frauen, ältere Männer und Kinder ersetzt werden2. Die Frauen gingen daran, durch geregelte Arbeitsvermittlung zum einen die Lücken aufzufüllen, die in wichtigen Betrieben durch die Mobilisierung entstanden waren, und zum anderen arbeitslos gewordene Menschen vor Armut zu bewahren3. Die Arbeitsvermittlung organisierte in Bistritz (Bistrița, Beszterce) der Verein zur Förderung des Frauenerwerbs4 und in Hermannstadt (Sibiu, Nagyszeben) der Ortsfrauenverein des Allgemeinen Frauenvereins der evangelischen Landeskirche A. B. in den siebenbürgischen Landesteilen Ungarns. Letzterer hatte im September 1914 das sogenannte Frauenschutzamt, eine Beratungs- und Stellenvermittlungsstelle5, übernommen6. Daneben gab es eine Stellenvermittlung im Rahmen der Stadtver1 Zu Geschlechter-Dimensionen und Erfahrungen von Kriegsgewalt siehe beispielsweise: Gender and the First World War. Hgg. Christa H ä m m e r l e , Oswald Ü b e r e g g e r , Birgitta B a d e r - Z a a r . Basingstoke 2014, S. 7–9. 2 Michael K r o n e r : Attentat löst 1914 Weltbrand aus. Vor 100 Jahren brach der Erste Weltkrieg aus: Die Auswirkungen auf Siebenbürgen und die Siebenbürger Sachsen. In: Siebenbürgische Zeitung Nr. 64, Folge 12 v. 21.7.2014, S. 1, S. 10–11, S. 1. 3 Frauenarbeit zur Verminderung der Kriegsschrecken. In: Die Karpathen. Halbmonatsschrift für Kultur und Leben VII (1914), H. 23, S. 735. 4 Frauenarbeit zur Verminderung der Kriegsschrecken, S. 735. 5 Frauenschutzamt. In: Kalender des Siebenbürger Volksfreundes für das gemeine Jahr 1914, XLV (1914), S. 185. 6 Hans W a g n e r : Ein Markstein im Leben des Hermannstädter Ortsfrauenvereins. In: Kirchliche Blätter aus der ev. Landeskirche A. B. in den siebenbürg. Landesteilen Ungarns VII (1915), S. 242–245.
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waltung, die von freiwilligen Hilfskräften organisiert wurde7. In Kronstadt (Brașov, Brassó) war auf Anregung Bürgermeister Karl Schnells ein großer städtischer Fürsorgeausschuss eingerichtet worden, der aus mehreren Unterausschüssen bestand. Er setzte sich aus Vertretern aller Kirchengemeinden und Vertreterinnen aller Frauenvereine zusammen und bestand aus über 100 Personen8. Es wurde eine Beratungsstelle für weibliche Berufsarbeit sowie ein allgemeines Arbeitsvermittlungsamt eingerichtet, in denen neben fest angestellten Beamten freiwillige Helferinnen die Arbeit verrichteten, und eine städtische Mütterberatungsstelle gegründet9. Sie entstand auf Aufforderung des zu Kriegsbeginn in Budapest gegründeten Stephanie-Landesverbandes/Országos Stefánia Szövetség10 zur Förderung des Säuglingsschutzes11. Auch in Hermannstadt nahm die Kinderschutzarbeit an Umfang zu12, so dass sich im Jahr 1915 über 500 Kinder in Fürsorge befanden13. Aufgrund des Krieges kam es zu einer Verschiebung weiblicher Berufsfelder auf dem Arbeitsmarkt14. Bis zum Jahr 1916 waren über 30.000 sächsische Männer zu den Waffen gerufen worden15. Im Zusammenhang der Ausstattung von Soldaten mit Wäsche und Wollsachen verloren die in diesem Bereich berufstätigen Frauen ihre Aufträge, da die Konkurrenz durch die ehrenamtlich tätigen Damen zu groß war16. In Bistritz vergab daher der Verein zur Förderung des Frauenerwerbs aufgrund von Auftragsmangel selbst Aufträge für sächsische Hausfleißarbeiten, um arbeitslosen Frauen ein Einkommen zu ermöglichen; er hoffte auf den Weiterverkauf in besseren Zeiten17.
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Frauenarbeit zur Verminderung der Kriegsschrecken, S. 735. Karl Ernst S c h n e l l : Aus meinem Leben. Erinnerungen aus alter und neuer Zeit. Kronstadt 1934, S. 138. 9 Marie H a n n : Der Krieg und die sächsischen Frauen. In: Kalender des Siebenbürger Volksfreundes für das Jahr 1918, XLIX (1918), S. 88–93, hier 92. 10 Hermine Friederike H e r m a n n : Sächsische Säuglingssterblichkeit und Maßnahmen dagegen. Hermannstadt [1918], S. 4. 11 Ebenda. 12 Frauenarbeit zur Verminderung der Kriegsschrecken, S. 735. 13 Luise S c h i e l : Rückblick auf die fünfundzwanzigjährige Tätigkeit des Hermannstädter evang. Kinderschutzvereins. In: Festschrift anlässlich des fünfzigjährigen Bestandes des Allgemeinen Frauenvereins der evang. Landeskirche A. B. in Rumänien, seines Hermannstädter Ortsvereins und des fünfundzwanzig-jährigen Bestandes des Hermannstädter Kinderschutzvereins 1934. Hermannstadt 1934, S. 20–27, hier 22. 14 Vgl. S c h n e l l : Aus meinem Leben, S. 139–140. 15 Friedrich T e u t s c h : Die Siebenbürger Sachsen in Vergangenheit und Gegenwart. Leipzig 1916, S. 332. 16 Vgl. S c h n e l l : Aus meinem Leben, S. 139–140. 17 Frauenarbeit zur Verminderung der Kriegsschrecken, S. 735. 8
Die siebenürgisch-sächsischen Frauen zwischen den Fronten
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Die Anfertigung von Wollsachen nahm einen breiten Raum ein. Abnehmer waren die Militärspitäler, die Soldaten an der Front und das Rote Kreuz18. In Heltau (Cisnădie, Nagydisznód) z. B. wurden im ersten Kriegsjahr von Frauen, Mädchen und Schulkindern 220 Paar Stutzen, 110 Paar Socken, 240 Kniewärmer, 210 Pulswärmer und 30 Leibbinden angefertigt und an die Hermannstädter Filiale des Roten Kreuzes gesandt19. Die Sekretärin des siebenbürgisch-sächsischen Landwirtschaftsvereins, Auguste Schnell, gründete und leitete die sogenannte Liebesgabensammel- und Verteilerstelle, die Lebensmittel, Geschenkpakete und Kleidung für die Soldaten sammelte und in Zusammenhang mit dem ungarischen Roten Kreuz an die Front schickte20. Insgesamt wurden während des Krieges an Liebesgaben 157.056 Stück Wäsche, Federn, Naturalien und Geld im Wert von 3 Millionen Kronen Friedenswert gesammelt und für rund 500 Millionen Kronen Kriegsanleihen von den Sachsen gezeichnet21. Um die berufstätigen Frauen zu entlasten, wurden neben den bereits bestehenden Kinderhorten weitere ins Leben gerufen22. In Hermannstadt wurde ihre Anzahl verdoppelt, wobei die Plätze immer noch nicht ausreichten23. Volksküchen wurden in Bistritz, Hermannstadt, Mediasch (Mediaș, Medias) und Kronstadt errichtet, die neben den städtischen Armen auch Reservistenfrauen zugutekamen24. In Bistritz wurde das Gemüse für die Volksküche von den Mädchen der evangelischen Bürgerschule 18
H a n n : Der Krieg und die sächsischen Frauen, S. 93. Heltauer evangelischer Frauenverein 1884–1934. Bericht gehalten anläßlich des fünfzigjährigen Gründungsfestes des Vereines am 26. August 1934. Von Josefine Fleischer, Vorsteherin. Hermannstadt [1934], S. 9. 20 Bernhard B ö t t c h e r : Gefallen für Volk und Heimat. Kriegerdenkmäler deutscher Minderheiten in Ostmitteleuropa während der Zwischenkriegszeit. Köln, Weimar, Wien 2009 (Studia Transylvanica 39), S. 328. 21 Friedrich T e u t s c h : Die Siebenbürger Sachsen in den letzten 50 Jahren 1868–1919. Hermannstadt 1926, S. 224–225. 22 Frauenarbeit zur Verminderung der Kriegsschrecken, S. 735. Einunddreißigster Jahresbericht des Allgemeinen Frauenvereins der evang. Landeskirche A. B. in den siebenbürgischen Landesteilen Ungarns umfassend das Jahr 1914. In: Kirchliche Blätter aus der ev. Landeskirche A. B. in den siebenbürgischen Landesteilen Ungarns. Ev. Wochenschrift für die Glaubensgenossen aller Stände VII (1915), Nr. 42, S. 440–443, hier 442. 23 Bilder aus dem Geimeindeleben in der Kriegszeit. 1. Siebenbürgische Gemeinden im Kriegsjahr: [Adolf] D. S c h u l l e r u s : III. Die Stadt Hermannstadt. In: Mitteilungen an die Mitglieder der Konferenz für Evangelische Gemeindearbeit [Darmstadt] 1915, S. 15–20, hier 17. 24 Bericht über die landwirtschaftliche Kriesgfürsorgearbeit des „Vereins zur Förderung des Frauenerwerbes in Bistritz“ im Jahr 1917. Hrsg. v. Ausschuß. In: Bistritzer Deutsche Zeitung v. 2.11.1917. H a n n : Der Krieg und die sächsischen Frauen, S. 89, S. 91: Frauenarbeit zur Verminderung der Kriegsschrecken, S. 735. 19
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angebaut25. Die Versorgung der kämpfenden Truppen hatte Vorrang und ging zu Lasten der Zivilbevölkerung. Die sächsische Landbevölkerung wurde vom Raiffeisenverein unterstützt, die vaterlos gebliebenen Familien materielle Unterstützung und männliche Hilfeleistung bei den Feldarbeiten vermittelte26. Inzwischen gab es kaum eine Familie, aus der nicht der Vater oder die Söhne einberufen worden waren27. Die pomologische Sektion des Landwirtschaftlichen Vereins dörrte Obst oder presste es und stellte es den Verwundeten und durchfahrenden Soldaten zur Verfügung28. Die erste sogenannte Labestation wurde zu Beginn des Krieges auf dem Bahnhof in Schäßburg (Sighișoara Szegesvár) errichtet. Sie war tagsüber und nachts von Ärzten, Schwestern und Damen besetzt, um Getränke und Nahrungsmittel an durchreisende Soldaten auszuteilen29. Weitere Stationen wurden auf den Bahnhöfen in Hamruden-Reps (Rupea, Kőhalom), Kronstadt und Kleinkopisch (Copșa Mică, Kiskapus) eingerichtet. Diese wurden von den evangelischen Ortsfrauenvereinen betreut, die die Verpflegung organisierten30. Eine weitere „Labestation“ gab es auf dem Bahnhof in Bistritz, die von der dortigen Roten-Kreuz-Filiale betreut wurde31. Bereits im ersten Winter 1914/15 waren viele Pfarrfrauen mit ihrem evangelischen Ortsfrauenverein und dessen Mitgliedern aufgrund der vielfältigen Aufgaben und dem moralischen Anspruch – zuhause ebenso, wie die abwesenden Männer der Pflicht für das Vaterland nachzukommen und zusätzlich deren Arbeit so gut wie möglich zu übernehmen –, viel enger zusammengewachsen als all die Jahre zuvor32. In 24 siebenbürgischen Orten wurden Spitäler errichtet, die von der jeweiligen Gemeinde unterhalten werden mussten. Auf Ansuchen der 25 Bericht über die landwirtschaftliche Kriesgfürsorgearbeit des „Vereins zur Förderung des Frauenerwerbes in Bistritz“ im Jahr 1917. 26 Siebenbürger Sachsen im Weltkrieg. Feldbriefe und Kriegsskizzen. Hg. Adolf H ö h r . Wien 1916, S. 8. 27 Vgl. K r o n e r : Attentat löst 1914 Weltbrand aus, S. 10. 28 Siebenbürger Sachsen im Weltkrieg, S. 8. 29 H a n n : Der Krieg und die sächsischen Frauen, S. 91. 30 Einunddreißigster Jahresbericht des Allgemeinen Frauenvereins der evang. Landeskirche A. B., S. 441. 31 Bistritzer Wochenschrift v. 18.10.1914. 32 Bilder aus dem Gemeindeleben in der Kriegszeit. 1. Siebenbürgische Gemeinden im Kriegsjahr: Gustav A r z : I. Die Dorfgemeinde Großau. In: Mitteilungen an die Mitglieder der Konferenz für Evangelische Gemeindearbeit [Darmstadt] 1915, S. 5–10, hier 8–9. Bilder aus dem Geimeindeleben in der Kriegszeit. 1. Siebenbürgische Gemeinden im Kriegsjahr: Johannes R e i c h a r t : II. Heldsdorf im Burzenland. In: Mitteilungen an die Mitglieder der Konferenz für Evangelische Gemeindearbeit [Darmstadt] 1915, S. 11–15, hier 13–14. Heltauer evangelischer Frauenverein 1884–1934, S. 9–10. Vgl. Einunddreißigster Jahresbericht des Allgemeinen Frauenvereins der evang. Landeskirche A. B.
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Ortsämter übernahmen zum großen Teil die jeweiligen evangelischen Frauenvereine die Verpflegung der kranken und verwundeten Soldaten. Die Gesamtkosten für die ländlichen Spitäler beliefen sich auf 112.597,81 Kronen, wobei die Lebensmittel direkt und ohne Aufzeichnungen geliefert wurden. Frauen und Mädchen leisteten unentgeltliche Arbeit in den Spitälern33, und die Gemeindeärzte hielten unentgeltliche Krankenpflegekurse ab, um neben den fest angestellten Gemeindeschwestern weitere Hilfskräfte zu haben34. In Hermannstadt, das Sitz des Ergänzungskommandos des 12. (siebenbürgischen) Korps war35, wurden in den bereits vorhandenen Krankenanstalten sowie Schulen Spitäler eingerichtet, die im ersten Kriegsjahr bis zu 4.000 Verwundete aufnahmen36. Im Übereinkommen mit der Militärverwaltung übernahmen 20 Schwestern der evangelischen Krankenpflegeanstalt Hermannstadt die Leitung der Pflege in den einzelnen Spitälern und weitere 10 Schwestern in denjenigen Reservespitälern, die in den Filialen der Krankenpflegeanstalt eingerichtet worden waren37. Im Jahr 1914 hatten insgesamt 54 Schwestern zur Anstalt gehört38. Während des Krieges wurden unter der Leitung des Anstaltsarztes des FranzJosef-Bürgerspitals, Dr. Wilhelm Otto, Kurse für freiwillige Helferinnen abgehalten, die dem Roten Kreuz zur Verfügung gestellt wurden39. Im ersten Kriegsjahr waren auf österreichisch-ungarischer Seite mehr als 5.000 Krankenschwestern, 1.000 Hilfsschwestern und eine unbestimmte Zahl von Helferinnen bei den Frauenvereinen tätig40. In Bistritz war die Vorsitzende der Rot-Kreuz-Filiale die Gattin des Obergespans, Julie v. Fejérváry41. Nach dessen Absetzung im November 1914 übernahm die zweite Vorsitzende, Hermine v. Lani, ihr Amt42. Die Rot-Kreuz-Filiale veröffentlichte Aufrufe im Namen der Vorsitzenden der verschiedenen ethnischen und konfessionellen Frauenvereine, 33 T [ e u t s c h , Friedrich]: Unsere Leistungen im Kriege. In: Kirchliche Blätter aus der ev. Landeskirche A. B. in den siebenbürgischen Landesteilen Ungarns. Ev. Wochenschrift für die Glaubensgenossen aller Stände XII (1920), Nr. 8, S. 37–38. 34 Bitte der Militärärzte: Freiwillige Pflegerinnen für hiesige Krankenspitäler gesucht. Kronstädter Zeitung v. 8.11.1916. Heltauer evangelischer Frauenverein 1884–1934, S. 9. 35 S c h u l l e r u s : III. Die Stadt Hermannstadt, S. 16. 36 Ebenda, S. 18. 37 Ebenda. Heltauer evangelischer Frauenverein 1884–1934, S. 7. Vgl. T e u t s c h : Die Siebenbürger Sachsen in den letzten 50 Jahren, S. 224–225. 38 Dr. F.: Jahresübersicht. In: Deutscher Kalender für das Jahr 1915, XI (1915), S. 171– 229, hier 190. 39 S c h u l l e r u s : III. Die Stadt Hermannstadt, S. 18. 40 Unter http://www.oesta.gv.at/site/6773/default.aspx (20.8.2014). 41 Bistritzer Deutsche Zeitung v. 6.11.1914. 42 Ebenda.
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die dem Ausschuss angehörten, beispielsweise im Zusammenhang mit der Ausrichtung einer Weihnachtsfeier für Kranke und Verwundete in den Spitälern 191443. Julie v. Fejérváry hatte den Besztercze-Nassoder Komitatsfrauenverein gegründet, dessen Vorsteherin sie war; jener Verein unterstützte die Armen und Hilfsbedürftigen des Komitates. Die Gelder wurden durch Sammlungen freiwilliger Spenden in allen Bevölkerungskreisen und mit Hilfe öffentlicher Veranstaltungen aufgebracht44. Die Vizepräsidentin war Marianne v. Haynal45. Bei ihr befand sich die Sammelstelle des Komitees für die Unterstützung der im Felde stehenden Soldaten und deren Hinterbliebenen46. Die Spenden für diese Organisation wurden im gesamten Komitat von allen Frauenvereinen und Privatpersonen gesammelt. Dazu zählten z. B. die evangelischen Ortsfrauenvereine, der Lehrkörper der staatlichen Bürgerschule, der Beszterczer israelitische Mädchenverein, der römischkatholische Frauenverein47, der griechisch-katholische Frauenverein, der reformierte Frauenverein und der israelitische Frauenverein48. Alle drei genannten Einrichtungen wurden von sämtlichen Ethnien, Nationen und Konfessionen im Komitat unterstützt. Dabei handelte es sich um Organisationen, an deren Spitze Frauen standen. Sie übernahmen zum Teil Funktionen in Personalunion, da sie über praktische Erfahrungen in der Zusammenarbeit verfügten und bereits vorhandene Strukturen nutzen konnten. Am 6. August 1914 hatte Österreich-Ungarn Russland den Krieg erklärt49. Russische Truppen besetzten das strategisch bedeutende Kronland Galizien und Lodomerien50. Am 11. September brach die gesamte österreichische Front in Galizien zusammen, und die russischen Streitkräfte begannen die Verfolgung bis zum San51, wo die 43
Bistritzer Deutsche Zeitung v. 4.12.1914. Bistritzer Wochenschrift v. 15.11.1914. 45 Bistritzer Deutsche Zeitung v. 18.12.1914. 46 II. Bericht [des Komitees für die Unterstützung der im Felde stehenden Soldaten und deren Hinterbliebene]. Bistritzer Wochenschrift v. 18.10.1914. 47 I. Bericht des Komitees für die Unterstützung der im Felde stehenden Soldaten und deren Hinterbliebene. Bistritzer Wochenschrift v. 18.10.1914; II. Bericht [des Komitees für die Unterstützung der im Felde stehenden Soldaten und deren Hinterbliebene]. Bistritzer Wochenschrift v. 18.10.1914; III. Bericht für die Unterstützung der im Felde stehenden Soldaten und deren Hinterbliebene. Bistritzer Wochenschrift v. 25.10.1914. 48 IV. Bericht des Komitees zur Unterstützung der im Krieg Kämpfenden und deren Familienangehörigen. Bistritzer Deutsche Zeitung v. 13.11.1914. 49 Manfried R a u c h e n s t e i n e r : Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918. Wien, Köln, Weimar 2013, S. 137. 50 Deutsche Geschichte im Osten Europas. Galizien. Hg. Isabel R ö s k a u - R y d e l . Berlin 2002, S. 154. 51 R a u c h e n s t e i n e r : Der Erste Weltkrieg, S. 248–249. 44
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Front zum Stehen kam. Ein Großteil Galiziens und der Bukowina waren somit russisch besetzt52. Die Bukowina grenzt im Südwesten an die Karpaten. Den Übergang nach Siebenbürgen bildet der Tihuța-Pass, früher als Borgo-Pass bekannt. Da die Gebirgsflüsse der Karpaten (Wisloka, San und Dnjester) quer zur Frontlinie verlaufen, behinderten sie die russischen Truppen nicht, wodurch diese in das Komitat Marmarosch eindrangen53. Die russischen Streitkräfte lagen bei Dorna-Watra (Vatra Dornei, Dornavátra) in der Bukowina. Der Ort liegt an der Mündung der Dorna in die Goldene Bistritz im nördlichen Teil der Ostkarpaten, runde 80 km von Bistritz entfernt. Der russische Generalleutnant Arjutinow bezog sein Hauptquartier in Marmarosch (Sighetul Marmației, Mármaros-Szighet) im Theiß-Tal. Von dort sandte er kleine Reitertrupps ins Innere Siebenbürgens, die bis in die Nähe der Stadt Bistritz kamen54, um sich gegen Seitenangriffe zu schützen. Dorthin hatte die Bukowinaer Landesregierung mit ihrem großen Beamtenapparat von Dorna-Watra aus ihren Sitz verlegt55. Viele Flüchtlinge aus der Bukowina und dem Marmaroscher Komitat befanden sich in der Stadt56. Bistritz und Czernowitz (Černivci, Cernăuți) pflegten neben wirtschaftlichen auch gesellschaftliche Beziehungen, so dass die ersten Flüchtlingswagen in Scharen umstanden wurden. Neben Deutschen überfluteten Ruthenen, Rumänen und viele Juden die Stadt, die dadurch ihr Aussehen veränderte. Jene baten auf ihrem Weg nach Budapest und Wien um Hilfe und Obdach. Von den Einheimischen wurden die fremd aussehenden Menschen zum Teil als Spione verdächtigt und ein Großteil der ungewohnt ausschauenden Damen der untersten Gesellschaftsschicht zugeordnet (Prostitution)57. Inzwischen hatten russische Truppen einige ungarische Grenzkomitate besetzt, und die Beamten einer Kleinstadt aus dem Komitat Marmarosch waren nach Bistritz geflohen58. Es handelte sich um das Felsővisőer
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Ebenda, S. 251. Neue Generalkarte des österr.-ungar.-russischen Kriegsschauplatzes Bessarabien. Hg. k. u. k. militär-geogr. Institut in Wien. Wien [1916]. 54 Eduard F i s c h e r : Krieg ohne Heer. Wien [1935], S. 114–115. 55 Präsidialbericht des Bürgermeisters Franz S c h r e i b e r , erstattet in der Stadtvertretungssitzung am 24.10.1914. Bistritzer Deutsche Zeitung v. 30.10.1914. Vgl. F i s c h e r : Krieg ohne Heer, S. 88. 56 Luise H e l f e n b e i n : Bistritz während der Russennähe. In: Kalender des Siebenbürger Volksfreundes für das Jahr 1916, XLVII (1916), S. 99–104; Bistritzer Deutsche Zeitung v. 30.10.1914. 57 H e l f e n b e i n : Bistritz während der Russennähe, S. 99–100. 58 Ebenda. 53
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Stuhlrichteramt und die Grenzpolizeiexpositur59. In der Stadt breitete sich eine Stimmung allgemeiner Unsicherheit aus, und erste Menschengruppen verließen sie; am Abend des 5. Oktober rückte dann das Militär aus60. Am nächsten Vormittag ließ der Komitatsobergespan in Bistritz austrommeln (amtlich bekannt geben), dass der Feind in der Nähe sei, und wer flüchten wolle, die Eisenbahn benutzen könne. Wenige Stunden zuvor war das Gerücht umgegangen, die russischen Streitkräfte hätten die Front durchbrochen und befänden sich über Romuli auf dem Vormarsch nach Nassod (Năsăud, Naszód)61. Laut Auskunft des Obergespans war ein Teil des russischen Militärs, das in das Marmaroscher Komitat eingedrungen und zersprengt worden war, bei seiner Flucht durch Romuli, den äußersten Ort des Bistritzer Komitates, gezogen. Dabei handelte es sich um ungefähr 2.000 Soldaten. Aufgrund dieses Sachverhaltes war das Militär aus Bistritz ausgerückt, um das Komitat zu sichern62. Inzwischen waren auf der Strecke Romuli–Telcs militärische Sprengungen durchgeführt worden, die Bahnstrecke Bethlen-Altrodna wurde demontiert, und sämtliche Post, Telegraphen- und Telefonämter des Somesch(Someș, Szamos)Tales stellten ihren Betrieb ein. Das Militäroberkommando ordnete an, alle Staatsgüter in Sicherheit zu bringen63. Die Banken sowie staatliche und sonstige Verwaltungsbehörden wurden verständigt, ihre Werte zu bergen und die Stadt zu verlassen64. Am 6. Oktober 1914 fand ein gut besuchter Wochenmarkt auf dem Hauptplatz statt. Ein wildes Durcheinander entstand nach der amtlichen Bekanntmachung, das sich zur Panik steigerte und sich auf die umliegenden Dörfer übertrug. Die ihre Erzeugnisse feilbietenden Bäuerinnen rafften ihr Gemüse zusammen, ließen mehr als die Hälfte liegen und liefen zu ihrem Wagen oder zu Fuß in Richtung Heidendorf (Secășel, Székásbesenyő) oder in die umliegenden Dörfer65. Dadurch 59 Präsidialbericht des Bürgermeisters Franz Schreiber, erstattet in der Stadtvertretungssitzung am 24.10.1914; Bistritzer Deutsche Zeitung v. 30.10.1914. 60 H e l f e n b e i n : Bistritz während der Russennähe, S. 101. 61 Otto D a h i n t e n : Geschichte der Stadt Bistritz in Siebenbürgen. Köln, Wien 1988 (Studia Transylvanica 14), S. 169. 62 Bistritzer Deutsche Zeitung v. 9.10.1914. Am 7.10.wurde in Bistritz ausgetrommelt, dass bei Romuli 3.000 russische Soldaten gestellt worden seien. Der Berichterstatter hegte über den Wahrheitsgehalt bereits zwei Tage später Zweifel, siehe: Bistritzer Deutsche Zeitung v. 9.10.1914. 63 Bistritzer Deutsche Zeitung v. 30.10.1914. 64 D a h i n t e n : Geschichte der Stadt Bistritz in Siebenbürgen, S. 169. Vgl. Präsidialbericht des Bürgermeister Franz Schreiber, erstattet in der Stadtvertretungssitzung am 24.10.1914; Bistritzer Deutsche Zeitung v. 30.10.1914. 65 H e l f e n b e i n : Bistritz während der Russennähe, S. 101–102.
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wurde die Bevölkerung des gesamten Komitates in Aufruhr versetzt66. Viele Bürger mieteten sich Bauernwagen und fuhren überstürzt aus Bistritz ab. Eine große Anzahl von Bewohnern der umliegenden Gemeinden verließen Haus und Hof, Vieh und sonstiges Wirtschaftsgut und fuhren in Richtung Tekendorf (Teaca, Teke) davon67. Der Vizegespan hatte sich mit seinen Beamten am Nachmittag nach SächsischReen (Reghinul Săsesc, Szászrégen) begeben, während der Bürgermeister, Franz Schreiber, mit einem Teil der städtischen Beamten in Bistritz blieb.68 Er zahlte am Nachmittag und bis zum nächsten Tag Geldbeträge an um Unterstützung bittende Frauen aus, darunter die regulären Gelder für die Reservistenfrauen69. Zum Bahnhof begab sich ein gewaltiger Menschenstrom. Tausende Menschen, Bistritzer und Flüchtlinge, lagerten mit Kindern, Körben, Kisten, Koffern und Bündeln vor der Station. Am Nachmittag wurde das Treiben auf dem Bahnhof geradezu lebensgefährlich. Die Menschen drängten und stießen aneinander, jeder wollte zuerst im Zug sitzen70. Frauen und Kinder weinten71. Außer den fahrplanmäßigen Zügen fuhren jedoch keine für Zivilpersonen ab, denn die angekündigten waren nicht bereitgestellt worden72. Einzig ein Zug für Militärpersonen und deren Angehörige wurde zur Verfügung gestellt73. Gegen Abend hieß es, dass es Gefechte auf der Treppinger Höhe gebe, und man wollte Schüsse gehört haben. Die Nacht verging, der Feind kam nicht. Am Morgen wurden Telegramme veröffentlicht, dass keine augenblickliche Gefahr mehr bestünde, wodurch allgemeine Ernüchterung eintrat74. Der Vizegepan kehrte mit seinen Beamten am 8. Oktober zurück75, doch wurde der Komitatsobergespan, Jenő v. Fejérváry, aufgrund seines angeblich überstürzten Vorgehens seines Amtes enthoben76. Der psychologische Effekt in diesen ersten Kriegsmonaten war nicht unbedeutend. Eine namhafte Anzahl von Familien hatte die Stadt verlassen und mehrtägigen Aufenthalt in auswärtigen Hotels genommen, darunter auch der evangelische Stadtpfarrer Dr. Gustav Kisch, der als 66
Bistritzer Deutsche Zeitung v. 9.10.1914. H e l f e n b e i n : Bistritz während der Russennähe, S. 101–102. 68 D a h i n t e n : Geschichte der Stadt Bistritz in Siebenbürgen, S. 169. 69 Bistritzer Deutsche Zeitung v. 30.10.1914. 70 H e l f e n b e i n : Bistritz während der Russennähe, S. 101–102; vgl. Bistritzer Deutsche Zeitung v. 16.10.1914. 71 Bistritzer Deutsche Zeitung v. 7.10.1914. 72 H e l f e n b e i n : Bistritz während der Russennähe, S. 101–102. 73 Bistritzer Deutsche Zeitung v. 16.10.1914. 74 H e l f e n b e i n : Bistritz während der Russennähe, S. 101–102. 75 D a h i n t e n : Geschichte der Stadt Bistritz in Siebenbürgen, S. 169. 76 Bistritzer Deutsche Zeitung v. 13.11.1914; Bistritzer Deutsche Zeitung v. 20.11.1914. 67
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einer der ersten in seinem Wagen davongefahren und seine Gemeinde im Stich gelassen hatte. Dazu kamen viele „Kraftmeier“, die sich über den „blöden Rummel“ lustig gemacht und noch kurze Zeit vorher mit Wort und Handschlag versichert hatten, unter keinen Umständen die Stadt zu verlassen; auch diese waren geflohen. Das untergrabene Selbstwertgefühl – hervorgerufen durch den Umstand, von einem angeblichen Phantom die Flucht ergriffen zu haben – war größer als die Erleichterung, dass die Stadt von russischen Truppen verschont geblieben war77. Die ärmere Bevölkerung und die Gewerbetreibenden fühlten sich im Stich gelassen, das Vertrauen in die Behörden war erschüttert78. Im Juni 1916 wurde Bistritz zum Etappenort erklärt. Kampfhandlungen oder Evakuierungen von Zivilisten fanden jedoch keine statt, da die russische Offensive aufgehalten werden konnte79. Am 27. August 1916 trat Rumänien auf Seiten der Alliierten in den Krieg ein80. Vorausgegangen war eine Garantie der rumänischen Gebietsforderungen, die im Falle eines Sieges Teile der Bukowina, das gesamte Banat, Siebenbürgen und die westlich davon gelegenen Gebiete bis zur Theiß-Linie versprach. Bereits am 27. und 28. August drangen rumänische Truppen über die Karpatenpässe, wodurch Siegenbürgen Kriegsschauplatz wurde. Die ungarischen Behörden ordneten eine Räumung Süd- und Ostsiebenbürgens an, so dass die Sachsen mit den anderen Landesbewohnern in Richtung Klausenburg, außerdem ins Banat und nach Zentralungarn flüchteten81. Aufgrund des Evakuierungsbefehls mussten alle Ämter, Kassen, Geldinstitute, alle öffentlichen beweglichen Werte entfernt werden, und sämtliche Beamte und Männer im Alter von 17 bis 55 Jahren waren aufgefordert worden, Siebenbürgen zu verlassen82. Ebenso enthielt der Befehl den dringenden Rat an die magyarische und sächsische Bevölkerung, sich so weit wie möglich in Sicherheit zu bringen83. In Hermannstadt waren
77 H e l f e n b e i n : Bistritz während der Russennähe, S. 102; vgl. Bistritzer Deutsche Zeitung v. 9.10.1914. 78 Bistritzer Deutsche Zeitung v. 9.10.1914. 79 D a h i n t e n : Geschichte der Stadt Bistritz in Siebenbürgen, S. 171–172. 80 Anton W a g n e r : Der Erste Weltkrieg. Ein Blick zurück. Hg. Arbeitsgemeinschaft Truppendienst des Bundesministeriums für Landesverteidigung Wien (2) 1993, S. 207. 81 Konrad G ü n d i s c h : Siebenbürgen und die Siebenbürger Sachsen. Unter Mitarbeit von Mathias B e e r . München 1998 (Studienbuchreihe der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat 8), S. 165. 82 Aus der Rumänenzeit. Ein Gedenkbuch an sturmbewegte Tage. Zugunsten der siebenbürgisch-sächsischen Kriegswitwen und -waisen. Hg. Emil S i g e r u s . Hermannstadt 1917, S. 83. 83 Ebenda, S. 83–84.
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von 30.000 Einwohnern 9.615 zurückgeblieben84. Aus Kronstadt flüchteten über 20.000 Personen, beinahe 80 Prozent der nichtrumänischen Bevölkerung.85 Zurück blieben Frauen, Kinder und Alte, da die 17- bis 55-jährigen Männer aufgefordert waren, sich der Heeresverwaltung zur Verfügung zu stellen86. Nachdem die Ortsämter und Beamten die Gemeinde verlassen hatten, wurden die Telefone und Telegrafen abgestellt. Die Zurückgebliebenen waren so von der Außenwelt abgeschnitten und erfuhren nichts über den Stand der Grenzkämpfe87; sie empfanden sich als dem Feind kampflos preisgegeben. Pfarrfrau Malwine Antoni in Großschenk (Cincu Mare, Nagysink) fasste die Vorgänge in die Worte zusammen: „Und die Stimmung ward grau und ergeben.“88 Hinzu kam, dass sich das Militär zurückzog und sich außer Requisitionen auch Übergriffe gestattete89: Neben beschlagnahmten Gespannen wurden zum Teil die Gemeindeherden und weiteres Vieh gegen den Willen der Besitzer mitgenommen90. Die zurückgebliebenen Kinder, Frauen und Alte verloren Milch, Fleisch und Getreide, das sie dringend zum Leben brauchten. Gleichzeitig wurden sie aufgefordert, die eintreffenden Verwundeten zu verpflegen, z. B. im Rahmen des evangelischen Ortsfrauenvereins91. Da die gespendeten Nahrungsmittel zum Teil nicht ausreichten – in Heldsdorf (Hălchiu, Heltevény) traf beispielsweise ein Zug von 800 Leichtverwundeten zu Fuß ein – gingen diese in die verlassenen Häuser und nahmen alle Esswaren mit. Die zurückflutenden Truppen verhielten sich ähnlich, brachen in die verlassenen Häuser ein, und nahmen mit, was ihnen gefiel – angeblich damit es nicht dem Feind in die Hände gerate92; hierdurch wurde die Lage immer unübersichtlicher. Während manche Pfarrer ihre Gemeinde aufforderten, aufgrund der vorrückenden Front den Evakuierungsbefehl endlich zu befolgen und den Frauen rieten, Schweine zu schlachten und in Rex-Gläsern für die Flucht herzurichten sowie Brot zu backen, und damit eine weitere Panik auslösten93, rieten andere Pfarrer ihrer Gemeinde zu 84
T e u t s c h : Die Siebenbürger Sachsen in den letzten 50 Jahren, S. 237–238. S c h n e l l : Aus meinem Leben, S. 153. 86 Aus der Rumänenzeit, S. 147. 87 Ebenda, S. 201–202, 149. 88 Ebenda, S. 202. 89 Ebenda, S. 202. 90 Ebenda, S. 37, 156. 91 Ebenda, S. 149. 92 Johannes R e i c h a r t : Unsre Kirchengemeinde im Kriegsjahr 1916. Achter Bericht der evangelischen Gemeinde A. B. zu Heldsdorf als dritter Gemeinde- und Abschiedsbrief. Kronstadt 1917, S. 10. 93 Aus der Rumänenzeit, S. 144. 85
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bleiben, um ihren Besitz zu schützen. Die durchziehenden Soldaten rieten ebenfalls, rasch zu fliehen. Der Marienburger Stuhlrichter, der als einer der letzten noch vor Ort war, ließ ausrichten, jedermann solle überlegen und dann handeln: entweder auf eigene Gefahr bleiben oder von dannen ziehen94. Immer neue Gerüchte machten die Runde. Die bereits Geflohenen kamen in ihre Gemeinden zurück, da ein Durchkommen auf den Straßen mit den Wagen und dem daran angebundenen Milchvieh nicht mehr möglich war. Der Bahnverkehr war eingestellt. Flüchtlinge aus anderen Gemeinden trafen ein und mussten aufgenommen werden. In Heldsdorf verließen 2.000 Sachsen den Ort, zurück blieben etwa 40 sächsische Familien mit rund 200 Angehörigen. Die Fluchtwege verliefen teilweise über Marienburg (Feldioara, Földvár), Rothbach (Rotbav, Száz-Veresmárt), teilweise über Krisbach (Crisbav, Krizba), Nußbach (Măieruș, Szászmagyaros), durch den Geisterwald, Reps (Rupea, Kőhalom) und Schäßburg. Von dort zerstreute sich ein großer Teil der Flüchtenden in die Ortschaften des Altlandes, ein weiterer Teil wanderte bis Klausenburg (Cluj, Kolozsvár) und Umgebung, während die übrigen zu den schwäbischen Gemeinden des Torontaler Komitates zogen, die dem Kronstädter Komitat von der Regierung als Zufluchtsorte genannt worden waren95. Auf solche Art wurde Mundraub für Mensch und Tier begangen96. Am 1. September 1916 verwüsteten Heldsdörfer Sachsen und Sächsinnen den evangelischen Pfarrhof in Bodendorf (Bunești, Szászbuda). Dies versuchte der Prediger und Kirchenkurator zu verhindern. Die Scheune, in der eingedroschener Hafer lag, wurde ausgeräumt, das Geflügel verzehrt, Obst und Gemüse aus dem Garten gestohlen und die Schränke mit Wäsche und Kleidern ausgeraubt. Die Teppiche wurden zu Planen für die Wagen verwendet. Heldsdörfer Frauen und Mädchen wurden in Kleidern der Pfarrfrau und ihrer Tochter auf der Gasse angetroffen97. Es stellte sich im Nachhinein heraus, dass viele Flüchtende ihren moralischen Maßstäben der Friedenszeit nicht genügten. „Sie sind in die Häuser der Dörfer, die sie durchzogen, eingedrungen, haben dort Schweine geschlachtet, die sie den Wirten einfach wegnahmen, haben Brot gebacken aus fremder Kammer, haben in fremdem Eigentum mit einer unbegreiflichen Schamlosigkeit gewaltet, wie wenn es ihr Besitz wäre.“98 94
R e i c h a r t : Unsre Kirchengemeinde im Kriegsjahr 1916, S. 10. Ebenda, S. 10–11. 96 Ebenda, S. 61–62. 97 Ebenda, S. 60–61. 98 Ebenda, S. 59–60. 95
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Der Rückzug der österreichisch-ungarischen Truppen war mit Sprengungen von strategisch wichtigen Brücken und Gebäuden sowie der Vernichtung von Vorräten verbunden. Am 3. September sollte die Altbrücke bei Nußbach und danach die Mühle gesprengt werden99. Während in Neustadt auf Befehl des Hauptmanns Bennes die Czellsche Spiritusfabrik, die Gemeindesäge, der Stall der Kaserne und weitere Gebäude in Brand gesteckt wurden100, gelang es in Nußbach der Frau des Gemeindenotars, Anny Kovács, dies zu verhindern101. Nußbach ist die nördlichste Gemeinde des Burzenlandes, 30 Kilometer von Kronstadt entfernt. Sie liegt an der engsten Stelle der Alt-Ebene zwischen Geisterwald und dem linken Flussufer und war aufgrund dieser Lage ein wichtiger Stützpunkt zur Verteidigung des Burzenlandes. Seit dem Jahr 1866 war die Gemeinde mit der in diesem Jahr gebauten Hauptverkehrsstraße Schäßburg–Kronstadt verbunden; acht Jahre später war Nußbach an das Eisenbahnnetz angeschlossen worden102. Vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs lebten rund 1.000 Sachsen103, 600 Rumänen104 und 35 Angehörige anderer Ethnien105 im Ort. Anny Kovács war als Anna Foof am 14. Oktober 1867 in Nußbach geboren worden und war ausgebildete Krankenschwester106. Von 1902 bis 1909 hatte sie als Rot-Kreuz-Schwester in Frankfurt am Main gearbeitet107, kehrte 1911 nach Nußbach zurück und heiratete am 99 Annÿ K o v á c s : Kriegserinnerungen. Aus der Zeit des Rumänischen Einfalls 1916. Kronstadt [1917] (SA Kronstädter Zeitung Nr. 227–231 von 1917), S. 1–2. 100 R e i c h a r t : Unsre Kirchengemeinde im Kriegsjahr 1916, S. 8. 101 K o v á c s : Kriegserinnerungen, S. 2. 102 Georg T e u t s c h : HOG Nußbach. In: Siebenbürgische Zeitung Nr. 64, Folge 12 v. 31.7.1995, S. 16. 103 Im Jahr 1911 lebten in Nußbach 501 Sachsen und 517 Sächsinnen. Statistisches Jahrbuch der Evangelischen Landeskirche Augsburger Bekenntnisses in den Siebenbürgischen Landesteilen Ungarns 11. Hg. Landeskonsistorium. Hermannstadt 1911, S. 29. 104 Im Jahr 1890 lebten in Nußbach 546 Angehörige der griechisch-orientalischen Kirche. Im Jahr 1921 ergab die staatliche Zählung 632 Rumänen; Das sächsische Burzenland. Zur Honterusfeier herausgegeben über Beschluß der Kronstädter evang. Bezirkskirchenversammlung A. B. Kronstadt 1898, S. 398; Das Sächsische Burzenland einst und jetzt. Festschrift aus Anlaß der Tagung der 65. Hauptversammlung des Vereines für Siebenbürgische Landeskunde und der 55. Hauptversammlung des Siebenbürgischen Gustav Adolf-Vereines vom 21. bis 24. August 1925 in Zeiden. Hg. Johannes R e i c h a r t . Kronstadt 1925, S. 102. 105 Im Jahr 1890 lebten in Nußbach 32 Angehörige anderer Ethnien. Im Jahr 1921 ergab die staatliche Zählung 27 Magyaren und eine/n Angehörige/n einer sonstigen Ethnie. Das sächsische Burzenland, S. 102, 398. 106 Christian Z e l g y , Christa R a d u : Frau Anna Kovacs – eine bedeutende Persönlichkeit. In: Nußblatt Nr. 16, Weihnachten 2003, S. 23–28, S. 24. 107 K o v á c s : Kriegserinnerungen, S. 20.
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22. Oktober 1911 den dortigen Notar Julius Kovács108. Bei Ausbruch des Krieges schickte ihr die Frankfurter Oberin A. Korbach Brosche und Armbinde zu109. Anny Kovács war in der Gemeinde allgemein anerkannt, blieb mit den Frauen, Kindern und Alten zurück, während ihr Mann als Notar evakuiert wurde110. Von der politischen Gemeinde war nur Richter Michaelis vor Ort geblieben, der über 55 Jahre alt war111. Anny Kovács trug seit der Kriegserklärung Rumäniens an Österreich-Ungarn am 27. August Schwesterntracht112. Kovács wurde von den Rumänen der Gemeinde verständigt, dass die Soldaten auf dem Rückzug die Brücke und die Mühle sprengen wollten. In der Mühle lagerte Mehl, das zum Überleben gebraucht wurde und aus dem auf Gemeindekosten Brot für die durchziehenden Soldaten gebacken wurde. Kovács gelang es, den Oberleutnant zu überzeugen, die Mühle nicht zu sprengen, da sie für die Zivilbevölkerung von unschätzbarem Wert sei, um nicht zu verhungern113. Die Geflüchteten hatten zum Teil keine Lebensmittel mehr und baten um Unterstützung114; insbesondere diejenigen aus der Stadt waren davon betroffen. Die Bäuerinnen waren zuerst misstrauisch, erklärten sich dann aber bereit, zum Bohnenpflücken und Kartoffelausgraben bedürftige Städterinnen zu nehmen. Es handelt sich beispielsweise um Bedienerinnen, Wäscherinnen und Näherinnen, die mit Lebensmitteln wie Speck und Mehl entlohnt wurden115. Das gemeinsame Schicksal führte die Menschen zusammen, so dass die bisherigen Standesunterschiede aufgehoben wurden116. Auf den Bäuerinnen lag die gesamte Bürde der Landwirtschaft, seitdem die nicht bereits eingezogenen Männer von 17 bis 55 Jahren aufgefordert worden waren, sich der Heeresverwaltung zur Verfügung zu stellen117. Es war Herbstzeit, so dass die Ernte für das kommende Jahr eingebracht werden musste. Nachdem die rumänischen Truppen die Karpaten am 27./28. August überschritten hatten, wurde Kronstadt am Tag darauf eingenommen118 und bis Anfang Oktober ein großer Teil der Kronstädter, Fogarascher, 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118
Z e l g y , R a d u : Frau Anna Kovacs, S. 24. K o v á c s : Kriegserinnerungen, S. 20. Ebenda, S. 7, S. 3. Ebenda, S. 5. Ebenda, S. 7. Ebenda, S. 2. Aus der Rumänenzeit, S. 39. Ebenda, S. 42. Ebenda, S. 64. Ebenda, S. 200. Ebenda, S. 86–87.
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Großkokler und Hermannstädter Komitate besetzt119. Bei den Kämpfen wurde viel Vieh in Mitleidenschaft gezogen, das verendet an den Wegen, auf den Feldern und in Tümpeln oder Wasserkanälen (zum Beispiel für die Mühle) lag. Auf Kovács’ Geheiß wurden zusammen mit dem Dorfrichter und den wenigen verbliebenen Männern und Halbwüchsigen die Kadaver geborgen und vergraben, um Seuchen vorzubeugen120. Am 5. September trafen die ersten rumänischen Soldaten in Nußbach ein. Gegen Abend nahmen jene eine Anzahl Männer gefangen, darunter Richter Michaelis. Aufgrund des Tumults erschien Kovács in ihrer RotKreuz-Tracht und ging zusammen mit den Gefangenen bis zum rumänischen Kommandanten. Diesem erklärte sie in rumänischer Sprache, dass es sich um ordentliche Bürger handle, die nicht militärpflichtig und keine Spione seien, worauf die Männer entlassen wurden121. Am nächsten Tag erhielt Kovács von einem rumänischen Leutnant den Auftrag, zusammen mit dem rumänischen Lehrer und Richter sowie den Einwohnern des Dorfes das einrückende rumänische Heer festlich zu begrüßen. Während sie sich weigerte, die sächsischen Frauen und Mädchen daran teilnehmen zu lassen, begrüßte sie die Offiziere in rumänischer Sprache selbst und bat sie um Schutz für die Gemeinde; anschließend überreichte sie dem Oberst eine Rose122. Oberst Berende und Major Durma quartierten sich bei Anny Kovács ein, wo Durma eine Fotografie von Frau Bibescu, der Gattin des Generaldirektors der rumänischen Nationalbank, entdeckte, mit der Kovács befreundet war. Durma war ebenfalls gut mit Frau Bibescu bekannt, so dass das gegenseitige Verhältnis eine andere Grundlage erhielt123. Am Tag der Begrüßung des rumänischen Militärs sollte ursprünglich im Dorf gedroschen werden. Kovács riet davon ab, bis es ruhiger geworden sei. Während sich die Frauen damit zufrieden gaben, wollte der Maschinist dreschen: Was könne uns schon geschehen!? Als um 12 Uhr das Pfeifsignal für die Mittagspause und gleichzeitig die Glocken von der evangelischen Kirchturmuhr schlugen, wurden alle sechs an der Maschine arbeitenden Männer unter Spionageverdacht festgenommen; sie sollten vor das Kriegsgericht gestellt werden. Weder Oberst Berende noch Major Durma konnten etwas auf die Mitteilung von Kovács ausrichten, dass es ein harmloses Signal gewesen sei, da der Fall General Anghilescu bereits gemeldet worden war. Am nächsten 119 120 121 122 123
T e u t s c h : Die Siebenbürger Sachsen in den letzten 50 Jahren, S. 237–238. K o v á c s : Kriegserinnerungen, S. 3. Ebenda, S. 6. Ebenda, S. 7. Ebenda, S. 7–8.
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Tag traf der General ein und wurde von Kovács mit einem Frühstück und zwei Flaschen Johannisbeerwein empfangen; anschließend bat Kovács um eine Unterredung. Anghilescu teilte ihr mit, dass er sich die Sache überlegen und mit seinen Offizieren besprechen werde. Major Durma kam zu Kovács und bat sie um eine Flasche Johannisbeerwein für den General, die sie ihm aushändigte. Nachdem dieser abgefahren war, ließ Major Durma die sechs Gefangenen, Richter Michaelis und Kovács rufen; für deren Freilassung musste Schwester Kovács mit ihrem Leben garantieren124. Unter rumänischer Besatzung wurden die Ortsämter mit rumänischen Bewohnern der Gemeinde besetzt125. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es Plünderungen, Vergewaltigungen und Diebstähle gegeben126, die zum Teil von den Offizieren verhindert wurden127. Einer Bäuerin wurden beispielsweise innerhalb von zwei Stunden ein Schwein von 150 kg, 35 Hühner, ein Sack Mais, ein dreiviertel Sack Kornmehl und ein Koffer mit Wäsche gestohlen. Die Frauen nähten sich zum Teil das vorhandene Geld in ihre Kleidung ein128. Diejenigen Frauen, die beim ungarischen Post- und Telegraphenwesen angestellten waren, wurden zum Teil der Spionage verdächtigt129. Ein Postverkehr war erst wieder nach Einrichtung der Ortsämter in rumänischer und französischer Sprache möglich130. Die neu gebildeten Ortsämter unterstanden dem militärischen Oberbefehl der zweiten Armee. Der Armeekommandant war nach allen Richtungen für die Wohlfahrt der Gemeinden bedacht und garantierte eine gewisse Rechtmäßigkeit und Sicherheit. Die maßlosen Pferderequisitionen wurden eingestellt, die Wegnahme von Milchvieh wurde verboten. Mehl wurde zum Teil in bedürftige Gemeinden gebracht, und die Feldarbeit wurde nach den ersten drei Wochen der Besatzung wieder zugelassen131. Während der Zeit der Besetzung kamen viele Frauen mit einem Anliegen zu Schwester Kovács, um gegebenenfalls die Hilfe des Kommandanten in Anspruch nehmen zu können, der bei ihr Quartier genommen hatte. In der Mehrzahl handelte es sich um Diebstähle,
124 125 126 127 128 129 130 131
Ebenda, S. 8–9. Aus der Rumänenzeit, S. 167. Ebenda, S. 210, 163, 158–159, 161–162. Ebenda, S. 163. Ebenda, S. 209. Ebenda, S. 211. Ebenda, S. 168. Ebenda, S. 168.
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die zeitnah von der Militärgendarmerie geahndet wurden132. In der Schule wurde ein Spital eingerichtet133. Schwester Kovács half auch dort auf Aufforderung, ebenso wie später im deutschen Spital. Als General Razu, der Kommandant der 22. Division, Nußbach verließ, hinterließ er Kovács ein Papier, in dem er bescheinigte, dass Anna Kovács sich als Schwester vom Roten Kreuz wohlwollend der rumänischen Armee angenommen habe und er wünsche, dass sie im Falle der Not von den Militär- und Zivilbehörden beschützt werde134. Am 5. und 6. Oktober verließen die rumänischen Truppen Nußbach. Kommandant Ottolescu übergab Kovács zwei volle Magazine mit Lebensmitteln zur freien Verfügung135. Die rumänischen Streitkräfte hatten inzwischen empfindliche Niederlagen in den Schlachten bei Hermannstadt (26. bis 29. September) und Kronstadt (7. bis 9. Oktober) erlitten136. Am 7. Oktober zogen die ersten deutsche Soldaten in Nußbach ein, wo Kovács die deutschen Offiziere verpflegte und jenen die beiden Lager mit Lebensmitteln zur Verfügung stellte. General Melms und General von Lüttwitz blieben mit ihren jeweiligen Stäben über Nacht137. Im Spätherbst kehrten die aus Siebenbürgen Geflüchteten zurück. An der Spitze eines deutsch-bulgarischen Heeres besetzte General Mackensen, über die Donau vorrückend, die Walachei und am 6. Dezember 1916 die rumänische Hauptstadt Bukarest138. Anny Kovács erhielt am 3. Mai 1917 von Kaiser Karl „In Anerkennung während der feindlichen Besetzung bekundeten tapferen und musterhaften Verhaltens“139 das Goldene Verdienstkreuz mit der Krone am Bande der Tapferkeitsmedaille140. Kurz nach der Befreiung Siebenbürgens organisierte im Burzenland der von Emma Scherg geleitete Sächsische Frauenkreis die Tätigkeit zugunsten der geplünderten Lazarette, die überbelegt waren und denen Bettzeug, Wäsche, Geschirr und Nahrungsmittel fehlten141. Beteiligt waren allgemein viele Frauen sowie Lehrerinnen und Kinder, bis die 132
K o v á c s : Kriegserinnerungen, S. 19. Vgl. Aus der Rumänenzeit, S. 168. K o v á c s : Kriegserinnerungen, S. 17. 134 Ebenda, S. 20. 135 Ebenda, S. 21. 136 G ü n d i s c h : Siebenbürgen und die Siebenbürger Sachsen, S. 165. 137 K o v á c s : Kriegserinnerungen, S. 21–22. 138 G ü n d i s c h : Siebenbürgen und die Siebenbürger Sachsen, S. 165. 139 Z e l g y , R a d u : Frau Anna Kovacs, S. 26. Abdruck der Verleihungsurkunde. 140 Ebenda, S. 26. 141 Adolf M e s c h e n d ö r f e r : Die Mädchenschule während und nach dem Rumäneneinbruch. In: Jahresbericht der evang. Mädchenschulen A. B. (Volks- und Bürgerschule, Fortbildungsschule und Kindergärtnerinnen-Bildungsanstalt in Brassó (Kronstadt), Nr. 33. Brassó (Kronstadt) [1917], S. 3–10, S. 9; S c h n e l l : Aus meinem Leben, S. 140. 133
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verschiedenen Schulen in Kronstadt ihren Betrieb im Zeitraum vom Dezember 1916 bis Januar 1917 wieder aufnahmen142. Zu Weihnachten 1916 wurden von der Liebesgabensammel- und Verteilungsstelle 12.000 verwundete deutsche Soldaten mit Geschenken beschert und soweit möglich in sächsischen Familien untergebracht, um ihnen ein Heimatgefühl zu vermitteln143. 1.931 verwundete Soldaten wurden in Lazaretten und Spitälern beschenkt. Dabei unterstützte Gräfin Mikes den Sächsischen Frauenkreis144. Graf Mikes war Obergespan und Präsident der Kronstädter Komitatsfiliale des ungarischen Roten Kreuzes; Vizepräsident war Bürgermeister Karl Ernst Schnell145. Am Krönungstag, dem 30. Dezember 1916, erhielten 1.361 Mann des k. u. Honvéd-Infanterieregiments Nr. 302, das bei der Befreiung Kronstadts eingesetzt war, Liebesgaben. Aufgrund dieser Anlässe spendeten Frauen Marmeladen, Kompotte, Kuchen, Kekse und Taschentücher146. Die Leiterin der Liebesgabensammel- und Verteilungsstelle Auguste Schnell betonte, dass in den Spitälern alle Verwundeten gleichermaßen, ohne Unterschied der Nationalität, versorgt worden seien147. Ihre Fürsorge erstreckte sich ebenso auf die Kriegsgefangenen, um die sich auch die sächsischen Frauenvereine von Kronstadt und Fogarasch (Făgăraș, Fogaras) kümmerten148. In beiden Reichshälften der Habsburgermonarchie war je ein Fürsorgekomitee für Kriegsgefangene unter der Schirmherrschaft des Roten Kreuzes gebildet worden, das sich gleichermaßen um die eigenen wie um die feindlichen Gefangenen kümmerte. Die übernationale, transethnische und überkonfessionelle zivile Fürsorgetätigkeit wurde vom Kriegsministerium gefördert, da man hoffte, in den feindlichen Ländern bespielgebend ähnliche Hilfsaktionen und Institutionen hervorzurufen149. Militärwitwen und -waisen der Angehörigen der k. u. k. Armee wurden ebenfalls unterstützt. In Kronstadt z. B. fanden vom 6. bis 13. Mai 1917 Vorstellungen und ein Volksfest statt, die von einem Arrangierungskomitee unter Präsident Oberstleutnant Neuwirth Edler von Sanbrück durchgeführt wurden. Beteiligt waren 142
M e s c h e n d ö r f e r : Die Mädchenschule, S. 4–5, 9. B ö t t c h e r : Gefallen für Volk und Heimat, S. 328–329. 144 Kronstädter Zeitung v. 9.1.1917. 145 S c h n e l l : Aus meinem Leben, S. 203–204; Kronstädter Zeitung v. 9.1.1917. 146 Kronstädter Zeitung v. 9.1.1917. 147 B ö t t c h e r : Gefallen für Volk und Heimat, S. 329. 148 T e u t s c h : Unsere Leistungen im Kriege, S. 38. 149 Matthias E g g e r : Der institutionelle Rahmen der Kriegsgefangenenfürsorge der Habsburgermonarchie 1914–1918. In: Storia e Futuro – articoli Rivista die Storia e Storiografia Nr. 28, Febbraio 2012, unter http://www.storiaefuturo.com/it/numero_28/ articoli/1_~146.html (15.5.2012), S. 6. 143
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sechs evangelisch-sächsische Frauenvereine, der ungarische Wohltätigkeits-Frauenverein, der orthodox-israelitische und der israelitische Frauenverein, der katholische Frauenverein sowie der ungarischprotestantische Frauenverein. Der Reinertrag belief sich auf 30.800 Kronen, an denen die Frauenvereine zu 25 Prozent beteiligt wurden. Sie erhielten zusammen 2.279,50 Kronen150. In der Nacht vom 2. auf 3. November 1918 kam es in Hermannstadt zu Plünderungen151, während die Ereignisse in Budapest die Revolution in den Provinzen vorbereiteten152. In Kronstadt ließ der Bürgermeister die am Bahnhof eintreffenden Heimkehrertransporte auf Kosten der Stadt an langen Tischen verpflegen und ihnen dort die Waffen abnehmen153. In Agnetheln wurde vom evangelischen Frauenverein eine Verpflegungsstation für Soldaten eingerichtet, um einem Aufruhr zuvorzukommen; in sämtlichen Häusern der Stadt wurden für sie Lebensmittel gesammelt154. Den Ausbruch des befürchteten Bürgerkrieges in Siebenbürgen verhinderten die in Kronstadt am 7. Dezember 1918 einrückenden rumänischen Truppen und die durch den Einmarsch rumänischer, tschechischer, serbischer und französischer Verbände bedingte Schwäche Ungarns155. Der Waffenstillstandsvertrag zwischen Ungarn und der Entente sah die alliierte Besetzung Siebenbürgens vor156. Diese Besetzung hatte nationale Verbitterung zur Folge, so dass sich aus patriotischen Gründen zahlreiche Offiziere und Soldaten der einstigen k. u. k. Armee der Roten Armee der Räterepublik zur Verfügung stellten; in ihr kämpften daher auch Siebenbürger Sachsen157. Auch die am 1. Dezember 1918 in Klausenburg vom Nationalrat der Szekler (Székely Nemzeti Tanács) aufgestellte Szekler-Division kämpfte unter ihrem Kommandeur Károly Kratochvill158 auf Seiten der ungarischen 150
Kronstädter Zeitung v. 25.5.1917. Siebenbürgisch-deutsche Tagespost v. 4.11.1918. Vgl. Friedrich T e u t s c h : Die Siebenbürger Sachsen in Vergangenheit und Gegenwart. Hermannstadt (2) 1924, S. 287. 152 B ö t t c h e r : Gefallen für Volk und Heimat, S. 310. 153 S c h n e l l : Aus meinem Leben, S. 189. 154 Siebenbürgisch-deutsche Tagespost v. 5.11.1918. 155 G ü n d i s c h : Siebenbürgen und die Siebenbürger Sachsen, S. 168. 156 B ö t t c h e r : Gefallen für Volk und Heimat, S. 311. 157 Unter http://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%A9la_Kun (4.6.2011). Vgl. G ü n d i s c h : Siebenbürgen und die Siebenbürger Sachsen, S. 168. 158 Es existieren in der Literatur unterschiedliche Schreibweisen des Nachnamens: Kratochvill, Kratochvil, Kratochwil. Für die vorliegende Skizze wurde zugrunde gelegt: Ferenc Sz. H o r v á t h : Kratochvill, Károly és a Székely Hadosztály Egyesület tevékenysége az Észak-Erdélyi zsidók védelmében [Die Aktivität von Károly Kratochvill und des Veteranenverbandes der Szekler-Division zum Schutze der nordsiebenbürgischen Juden] (1943/1944). In: Századok 142 (2008), S. 123–152. 151
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Roten Armee159. Die Räteregierung hatte dem Szekler-Militärkomitee gegenüber versichert, das rumänisch besetzte Szekler-Land zurückzugeben160. Mit Berufung auf die Wilsonschen Grundsätze des Selbstbestimmungsrechtes der Völker wurde erwogen, eine souveräne SzeklerRepublik zu schaffen161. Die Verteidigungslinie war am Fluss Mieresch (Mureș, Maros), rund 150 Kilometer Luftlinie entfernt, aufgebaut worden.162 Die bei den ersten Gefechten des ungarisch-rumänischen Krieges in rumänische Gefangenschaft geratenen Sachsen wurden nach Kronstadt gebracht163. Innerhalb des Ausschusses für Gefangenen-, Heimkehrer- und Interniertenfürsorge der Kronstädter Freien Sächsischen Frauenvereinigung als Dachorganisation und Vertretung aller sächsischen Frauenvereine und ständischen Berufsgruppen waren ein Gefangenenfonds und ein Heimkehrerfonds eingerichtet worden. Ursprünglich war ersterer nur für die Männer der eigenen Ethnie gedacht gewesen. Da diese den Ausschuss jedoch auch um Hilfe für ihre gefangenen Kameraden baten und sich immer wieder auch Angehörige anderer Nationalitäten und Ethnien um Hilfe an den Ausschuss wandten, wurde der Gefangenenfonds variabel gehandhabt. Die Vorsitzende Servatius betonte, dass es nicht in jedem Falle angehe, die Bittenden abzuweisen164. Die Frauenvereinigung führte die während des Weltkrieges geübte bisherige Gepflogenheit der Fürsorgetätigkeit fort und unterstützte nach Möglichkeit alle Bedürftigen. Sie gab über den Verbleib der Kriegsgefangenen, u. a. im Rahmen des Roten Kreuzes, Auskunft165. Aufgrund einer Sammlung konnten Anfang Juni 1919 die Gefangenen mit Nahrungsmitteln, Kleidern, Wäsche und Strohsäcken versorgt werden166. Von der sächsischen Bevölkerung aus den umgebenden 159 Béla K ö p e c z i : History of Transylania. Bd. III. New York 2002, S. 779; Tibor H a j d ú , Zsuzsa L. N a g y : Revolution, Counterrevolution, Consolidation. In: A History of Hungary. Hg. Peter F. S u g a r . Bloomington, Indianapolis 1990, S. 295–318, hier 306. 160 István E ö r d ö g h : Geschichte, Gründe und Voraussetzungen der rumänischen Expansion in Siebenbürgen (1916–1920). [O. O., o. J., 1993], S. 54–55. 161 Ignác R o m s i c s : Graf István Bethlens Konzeption eines unabhängigen oder autonomen Siebenbürgen. In: Ungarn-Jahrbuch XV (1987), S. 74–93. hier 75, 76. 162 András B e r e z n a y : Erdély Történetének Atlasza [Siebenbürgischer Geschichtsatlas]. [O. O.] 2011, S. 183. 163 Archiv der Honterusgemeinde in Kronstadt, Nachlass Ida Servatius [fortan: AHGK] IV F 364: Ida Servatius: Bericht über Gefangenenfürsorge (Gefangenenfonds) zur Sitzung am 13. Okt. 1921 [Manuskript]. 164 AHGK IV F 364. 165 AHGK IV F 364, Servatius: Bericht über Gefangenenfürsorge (Gefangenenfonds) zur Sitzung am 13. Okt. 1921. 166 AHGK, Protokollband: Soziale Frauengruppen. 2. Protokoll der Gruppe A vom 26. März 1912–8. April 1914. 1. Gründungsprotokoll der „Freien Sächsischen Frauen-
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Dörfern waren reichlich Lebensmittel gespendet worden, und Gaben erhielten ebenso die magyarischen Gefangenen, unter denen sich Angehörige der am 26. April 1919 kapitulierten Szekler-Division mit ihrem Kommandeur Oberst Kratochvill befanden167. Dabei handelte es sich um rund 4.000 Mann und ihre Offiziere168; letztere wurden in Kronstadt interniert169. Kratochvill selbst hatte seine Kindheit in der Stadt verbracht, war mit einer Kronstädter Ungarin verheiratet und unterhielt Beziehungen mit den dortigen Sachsen170. Der Szekler-Division hatte sich das 24. Honvéd-Infanterie-Regiment, das in Friedenszeiten in Kronstadt in Garnison gelegen hatte, angeschlossen171. Die Fürsorge brach jäh ab, als verboten wurde, die Gefangenen weiter zu besuchen, denn die humanitäre Hilfe der sächsischen Frauen für die Szekler, deren Siedlungsgebiet an das sächsische angrenzte, hatte den Argwohn der rumänischen Behörden hervorgerufen172. Eine Verbindung zwischen Szeklern und Sachsen drohte deren Loyalität173 zum neuen Staat zu vereinigung“ 23. April 1919 – 21. Oktober 1920 (seit 15.I. 1920 Abt. A) und Anhang bis 17. Februar 1921. IV F 374: Protokoll der am 5. Juni 1919 abgehaltenen 3. Versammlung in der Wohnung der Frau Ida Servatius. 167 AHGK, Protokollband, IV F 374: Protokoll der am 19. Juni 1919 abgehaltenen 3. Sitzung in der Wohnung der Frau I. Servatius. H a j d ú , N a g y : Revolution, Counterrevolution, Consolidation, S. 306. 168 Olivér F r á t e r : Erdélyi magyar helyzetkép 1916–1919-ben [Ein Bild über die Lage der Siebenbürger Ungarn zwischen 1916 und 1919]. In: Hamvas Béla Kultúrakutató Intézet [Budapest] 2003, S. 157–193. hier 185. 169 Rund 1.500 Soldaten wurden nach Fogarasch und Craiova gebracht. F r á t e r : Erdélyi magyar helyzetkép 1916–1919-ben, S. 187. 170 H o r v á t h : Kratochvill, Károly és a Székely Hadosztály Egyesület tevékenysége, S. 124. 171 Unter http://www.worldwar2.ro/forum/index.php?showtopic=5526 (15.5.2012) eingesehen. Endre K o r é h : Erdélyért. A székely hadosztály és dandár története 1918– 1919 [Für Siebenbürgen. Die Geschichte der Székler Division und Brigade von 1918– 1919]. Bd. I. Budapest (2) [1930], S. 155. Vgl. Gottfried B a r n a , Szabolcs N a g y : A Székely Hadosztály története [Die Geschichte der Szekler-Division]. Barót 2011; Adressenbuch der Stadt Kronstadt für das Jahr 1914 (Jg. 76). Kronstadt [1913], S. 148–149. 172 AHGK, Protokollband, IV F 374: Protokoll der am 3ten Juli [1919] in der Wohnung der Frau Ida Servatius abgehaltenen Versammlung.. 173 In der Vorstellung von Loyalität gegenüber Staat und Staatsform gehörte das offene Bekenntnis zu den jeweiligen Staatszielen zum Erwartungshorizont. Peter H a s l i n g e r , Joachim v o n P u t t k a m e r : Staatsmacht, Minderheit, Loyalität – konzeptionelle Grundlagen am Beispiel Ostmittel- und Südosteuropas in der Zwischenkriegszeit. In: Staat, Loyalität und Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa 1918 bis 1941. Hgg. d i e s s . München 2007, S. 1–16, hier 9. Zur Begriffsbildung siehe Martin S c h u l z e W e s s e l : „Loyalität“ als geschichtlicher Grundbegriff und Forschungskonzept. In: Loyalitäten in der Tschechoslowakischen Republik 1918–1938. Politische, nationale und kulturelle Zugehörigkeiten. Hg. d e r s . München 2004, S. 1–22.
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untergraben. Die Siebenbürger Sachsen hatten zwar ihren Anschluss an das Königreich Rumänien wenige Monate zuvor erklärt und waren daraufhin zur rumänischen Armee eingezogen worden, doch beriefen auch sie sich ebenso wie die Szekler auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker und wollten ihre Interessen auf der Friedenskonferenz in Paris eigenständig vertreten174. Unter dem Eindruck der bürgerlichdemokratischen Revolution forderten die Sachsen zur gleichen Zeit, als Stimmen nach einer souveränen Szekler-Republik laut wurden, ein autonomes Munizipium Sachsenland175. Im Namen der KárolyRegierung hatte Oszkár Jászi im November 1918 als Minister für Nationalitätenangelegenheiten den siebenbürgischen Ausschussmitgliedern und Delegierten der Nationalräte den Vorschlag einer kantonalen Konföderation nach Schweizer Vorbild unterbreitet176. Sowohl das Szekler-Land als das Sachsen-Land waren ein Teil des rumänisch besetzten Siebenbürgen. Als die sächsischen Frauen Verbindung zum inhaftierten Kommandeur der Szekler-Division aufnahmen, waren die Kämpfe zwischen der ungarischen Roten Armee und der rumänischen königlichen Streitmacht noch nicht beendet177. Die Fürsorge der sächsischen Frauen in Kronstadt rief daher den Argwohn der rumänischen Behörden hervor, die dahinter eine politische Agitation vermuteten, doch war dies der Freien Sächsischen Frauenvereinigung zu Beginn ihrer Tätigkeit noch nicht bewusst; sie handelte aus humanitären Gründen. Hinzu kam, dass die Gefangenen der Szekler-Division zum Teil dem Kronstädter Hausregiment Nr. 24 angehörten und bereits während des Krieges aus lokalpatriotischen Gründen mit sogenannten Liebesgaben von allen Kronstädter Frauenvereinen unterstützt worden waren. Die Freie Sächsische Frauenvereinigung erlebte daher eine unerwartete Politisierung ihrer bisherigen übernationalen, transethnischen und überkonfessionellen Tätigkeit, die intern zu einer Panik führte, insbesondere als ein angebliches Beweisstück ihrer konspira174 S c h n e l l : Aus meinem Leben, S. 193; vgl. T e u t s c h : Die Siebenbürger Sachsen in den letzten 50 Jahren 1868–1919, S. 256; vgl. Harald R o t h : Der „Deutsch-sächsische Nationalrat für Siebenbürgen“ 1918/1919. München 1993, S. 69–71. 175 Kurze Geschichte Siebenbürgens. Hg. Béla K ö p e c z i . Budapest 1990, S. 641, 651. R o m s i c s : Graf István Bethlens Konzeption, S. 76. 176 Kurze Geschichte Siebenbürgens, S. 645. Auf sächsischer Seite führte der Reichstagsabgeordnete Emil Neugeboren die Verhandlungen. Siehe Carl G ö l l n e r : Adolf Schullerus’ politisches Denken und Handeln. Ein Beitrag zur siebenbürgischen Nationalitätengeschichte. In: Forschungen zur Volks- und Landeskunde 28 (1985), Nr. 1, S. 41–58, hier 46. 177 E ö r d ö g h : Geschichte, Gründe und Voraussetzungen der rumänischen Expansion, S. 71.
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tiven Tätigkeit plötzlich verschollen war. Die Entlassenen der SzeklerDivision hatten den sächsischen Frauen im Juni 1919 eine von ihrem Sprecher Oberst Kratochvill unterschriebene Dankschrift, einen Strauß roter Rosen und ein breites Band in ihren Nationalfarben mit der Inschrift in Goldbuchstaben: „A brassói szász nöegyletnek – A székely hadosztály hálája jeléül“ [Dem sächsischen Kronstädter Frauenverein – von der Szekler-Division als ein Zeichen ihrer Dankbarkeit]178 überreicht179. Dieser Satz ließ sich in beinahe jede Richtung auslegen. Die Entlassenen bezogen sich jedoch auf die erhaltenen Lebensmittel und die Kleidung180. Die Verbindungen und Kontakte der verschiedenen Nationen und Ethnien untereinander, die sich aufgrund der bisher gemeinsamen ungarischen Staatsbürgerschaft ergeben hatten und weiterhin bestanden, fielen gegebenenfalls der Verdächtigung der Illoyalität zum neu entstehenden großrumänischen Staat zum Opfer und wurden von den staatlichen Organen unterbunden. In diesen Fällen war es nicht möglich, eine übernationale Haltung entgegen dem sich neu bildenden Staat und dem einsetzenden Nationsbildungsprozess aufrechtzuerhalten. Der Souveränitätswechsel war zu diesem Zeitpunkt rechtlich noch nicht vollzogen, so dass sich die Individuen und Gruppen innerhalb des Prozesses der zerbrechenden und neu entstehenden staatlichen Rahmenbedingungen mit der Forderung eines adäquaten staatsloyalen Verhaltens konfrontiert sahen, der die Revision ihrer persönlichen staatspolitischen Einstellung zu Grunde gelegt wurde, ohne dass sie Kenntnis über ihre staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten erhielten. Aufgrund des tagespolitischen Geschehens – der nationalen Neueinbettung der Region – bekam die Frage nach den Loyalitäten eine praktisch-reale Dimension innerhalb des Alltagslebens181. Bereits zu Beginn des Krieges machten die Frauen im Norden Siebenbürgens die Erfahrung, dass die traditionellen Rollenerwartungen mit dem gelebten Kriegsalltag in Widerspruch gerieten. Zwar kam es zu einer Verschiebung weiblicher Berufsfelder, doch wurde die propagierte öffentliche Tätigkeit von Frauen in der traditionellen Wohl178 AHGK, Protokollband, IV F 374: Protokoll der am 19. Juni 1919 abgehaltenen 3. Sitzung in der Wohnung der Frau I. Servatius. 179 AHGK, Protokollband, IV F 374: Protokoll der am 19. Juni 1919 abgehaltenen 3. Sitzung in der Wohnung der Frau I. Servatius; F r á t e r : Erdélyi magyar helyzetkép 1916–1919-ben, S. 187 gibt für einen Teil der Offiziere als frühesten Termin der Entlassung Juli 1919 an. Ein weiterer Teil wurde im Herbst 1919 und ein letzter Teil der Offiziere 1920 entlassen. 180 K o r é h : Erdélyért, S. 218. 181 Vgl. H a s l i n g e r , v o n P u t t k a m e r : Staatsmacht, Minderheit, Loyalität, S. 5, 9.
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fahrtspflege, Armen- und Krankenpflege verortet. Die aufgrund des Krieges neu entstandenen Vereine und Komitees fußten zum großen Teil auf bereits bestehenden Zusammenschlüssen. Deren Vorsitzende übernahmen zeitweilig in Personalunion den Vorsitz, da sie Erfahrungen in der praktischen Zusammenarbeit hatten und bereits vorhandene Strukturen nutzen konnten. Die neuen Zusammenschlüsse agierten transethnisch und überkonfessionell zugunsten einer kriegsbedingten allgemeinen Wohlfahrtspflege für die Staatsnation an der Heimat- wie an der Kriegsfront. Die bisherigen Zusammenschlüsse, z. B. die evangelischen Ortsfrauenvereine, erlebten eine Intensivierung nach innen aufgrund der vielfältigen neuen Aufgaben und deren pathetischer Überhöhung im nationalen Kontext zugunsten des Vaterlandes, der Kriegs- und Heimatfront sowie der eigenen Nation. Sächsische weibliche Kreise und Einzelpersonen versuchten trotz einer Intensivierung zugunsten des eigenen bzw. deutschen Ethnikums möglichst vielen Bedürftigen ohne Unterschied der Nationalität oder Konfession Hilfe auf lokaler Ebene zukommen zu lassen. Gegebenenfalls riefen sie im öffentlichen Raum die Frauen, die der Titularnation, weiteren Ethnien sowie anderen Konfessionen angehörten, auf, sie in der Arbeit zu unterstützen bzw. selbst zugunsten ihrer eigenen Gruppe tätig zu werden. Diese spezifisch weiblichen, übernationalen, transethnischen und überkonfessionellen sozialen Bestrebungen hatten durch die Kriegsereignisse eine Intensivierung erfahren, die die lokale Zusammenarbeit der Frauen förderte. Die Frontnähe forderte eigenständig agierende Frauen, da sie auf sich selbst gestellt waren, während die verbliebenen Männer evakuiert worden waren. Die Maßstäbe der Friedenszeit hatten ihre Gültigkeit verloren. Die Frauen wurden für die Beschaffung von Nahrungsmitteln, z. B. in Zusammenhang mit der eigenen Familie, den Verwundeten in den Spitälern sowie den Verpflegungsstationen auf Bahnhöfen und Volksküchen für zuständig erklärt. Es kam sowohl zu Mundraub wie auch zur Aufweichung der bisherigen Standesunterschiede bei der Nahrungsbeschaffung. Die sächsischen Frauen und ihre Vereinigungen versuchten innerhalb des bisherigen und bekannten Handlungsspielraumes den Kriegsgefangenen und Kriegsopfern humanitäre Hilfe zukommen zu lassen. Dabei machten sie die Erfahrung, dass die politischen Umbrüche und die damit einhergehenden sich wandelnden staatlichen Strukturen unmittelbare Auswirkungen auf die lokalen Gegebenheiten hatten und ihren Handlungsraum neu bestimmten. Die erneute Behauptung und Erschließung des öffentlichen Raumes gelang am ehesten denjenigen Frauen, die bereits über Erfahrungen in der modernen Öffentlichkeit
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verfügten, indem sie den Handlungsspielraum neu ausloteten. Ein Beispiel dafür ist Anny Kovács, die ihre Erfahrungen und Kenntnisse als Rot-Kreuz-Schwester sowie ihre rumänischen Sprachkenntnisse nutzte. Die sächsische weibliche Avantgarde hielt angesichts ihres Erfahrungshorizontes von den Zerstörungen kultureller Werte durch männliche Kriegsführungen an der Vorstellung der Erreichung der höchsten sittlichen Stufe der Menschheit durch die volle Gleichberechtigung der Geschlechter fest182. Diesen traditionellen Vorstellung entsprechend würden Frauen aufgrund ihrer angenommenen spezifischen Wesenhaftigkeit auf natürliche Weise eher dem Frieden verbunden sein, da sie den Wert des aus sich geborenen Lebens meist höher und mit mehr Verantwortungsgefühl einschätzten als die Männer183. Seit November 1919 bestanden Kontakte der weiblichen sächsischen Avantgarde zum Frauenweltbund zur Förderung internationaler Eintracht184 in Genf, die wenige Zeit später zur Gründung einer eigenen sächsischen Gruppe innerhalb des Frauenweltbundes führten185.
182 Vgl. Grete T e u t s c h : Frauenbewegung und Frauenstimmrecht. In: Für und wider die sächsische Frauenbewegung. Eine Artikelserie. Hgg. Vereinigung Frauenfortschritt. Hermannstadt 1913, S. 68–77, hier 76; vgl. Anna S c h n e l l : Die Frauenfrage – eine Kulturfrage. In: Im Kampf um Brot und Geist. Darstellungen aus dem Leben und Entwicklung der deutschen Frau Siebenbürgens. Unter Mitwirkung des Freien Sächsischen Frauenbundes. Hgg. Oskar W i t t s t o c k d. Ä. Hermannstadt 1927, S. 278–280. 183 Nira Y u v a l - D a v i s : Geschlecht und Nation. Emmendingen 2001, S. 156; [Oskar W i t t s t o c k d. Ä.:] Mütterlichkeit als Lebenseinsicht. In: Im Kampf um Brot und Geist, S. 337–341, hier 339; vgl. Marie S t r i t t : Die Einheitlichkeit der Frauenbewegung. In: Im Kampf um Brot und Geist, S. 313–319, hier 318. 184 Union Mondiale de la Femme pour le Concord International / World Union of Women for International Concord. 185 AHGK IV F 364: Schreiben von Ida Servatius, Helene Wachner, Adele Zay als Vertreterinnen der Freien Sächsischen Frauenvereinigung Kronstadt an das Zentralbüro des Frauenweltbundes in Genf vom 8. März 1920, Abschrift. Bericht des Frauenweltbundes zur Förderung internationaler Eintracht 4 (1921), Nr. 4, S. 4.
Z I E D (V E S E U D ) – E I N D O R F I M E R S T E N W E LT K R I E G 1914–1918. Fakten und Erinnerungen Irmgard und Werner S e d l e r Am 28. Juni 2014 jährte sich das Attentat von Sarajewo zum hundertsten Mal. Es gilt in der Geschichtsschreibung als Auslöser des Ersten Weltkriegs, in dessen Folge die politische Karte Europas sich entscheidend veränderte. Der Krieg und seine Folgen hatten wesentliche Auswirkungen auch auf das politische Schicksal Siebenbürgens und die Lage der Siebenbürger Sachsen. Vor dem Hintergrund der schicksalsbestimmenden Ereignisse des Zweiten Weltkrieges und der unmittelbaren Zeit danach (Fronterlebnisse, Russlanddeportation, Außerrechtstellung, Enteignung, Aussiedlung) verblassten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Erinnerungen an die Geschehnisse des Ersten Weltkriegs im kollektiven wie individuellen Bewusstsein der Siebenbürger Sachsen. Seit Mitte der 1970er Jahre musste es daher ein Anliegen sein, diesen zum Teil verschütteten Erinnerungen in der damals noch existierenden siebenbürgisch-sächsischen Gemeinschaft im Dorf Zied (Veseud, Szász Vessződ) im Harbachtal nachzugehen und sie im Wortlaut der Gewährspersonen aufzuzeichnen. Nachdem 1995 der letzte Ortseinwohner der in den 1970er Jahren noch knapp unter 300 Mitglieder zählenden sächsischen Gemeinschaft in die Bundesrepublik Deutschland ausgewandert war1, fanden sich Interviewpartner bei den Mitgliedern der 1979 in Deutschland gegründeten Heimatortsgemeinschaft (HOG) der ehemaligen Zieder. Anlässlich der ersten gemeinschaftlichen Zusammenkunft der aus Zied Ausgewanderten und deren Nachfahren in der alten Heimat im August 2014 kam das Thema erneut zur Sprache, mit dem Ergebnis, dass vor allem Dokumente, Selbstzeugnisse in Form von Briefen und Feldpostkarten 1 Der letzte Siebenbürger Sachse im Ort, der Jäger Georg Bardon, geb. 1939, wanderte 1995 aus und verstarb 2001 in Erlangen. Siehe: Zied. Ein Dorf und seine Geschichte. Bd. 1. Hgg. Irmgard S e d l e r , Werner S e d l e r . Ludwigsburg 2003, S. 47 u. 281. Im 21. Jahrhundert haben die ehemaligen Zieder ihre Heimat wiederentdeckt. 21 Gehöfte werden derzeit von sogenannten „Sommersachsen“ als Feriendomizile umgebaut bzw. genutzt.
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sowie Fotografien zur Einsicht verfügbar wurden, wovon ein Teil ins Archiv des Siebenbürgischen Museums in Gundelsheim am Neckar Eingang fand. Der ländlich geprägte Ort Zied befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft des Marktfleckens und späteren Städtchens Agnetheln (Agnita, Szentágota) und zählt zu den kleinsten Gemeinden im Harbachtal; die Siebenbürger Sachsen stellten mit knapp 300 Personen bis in die 1990er Jahre die Mehrheit der Einwohner, und weitere 200 Rumänen und Roma ergänzten die Dorfgemeinschaft. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg fand die ältere Generation ihr Einkommen überwiegend in der Landwirtschaft – auf den Ländereien der Staatsfarm oder aber der örtlichen Kollektivwirtschaft. Ab den 1960er Jahren suchte die Jugend den Weg in die Fabriken der nahen Stadt, was der neu eingerichtete Pendelverkehr erst möglich machte. In Zied selbst blieben die ländlichen Strukturen und das über die tradierten Verhaltensmuster eingespielte Miteinander der Generationen und Ethnien bis zum Ende des 20. Jahrhunderts gültig. Der in Briefen und Erinnerungen heraufbeschworene ländliche Mikrokosmos Zied spiegelt beispielhaft die Implikationen des Großen Krieges in das Leben der Dorfgesellschaften siebenbürgisch-sächsischer Prägung. Als subjektive Quellen liefern die dargebotenen Ereignisreflexionen einen spezifischen, oft emotional aufgeladenen Zugang zum „sachlichen“ Kriegsgeschehen. Während die Briefe und Postkarten eine zeit- und erlebnisnahe Sicht sowohl der im Felde Stehenden als auch der daheimgebliebenen Familienmitglieder auf den Krieg liefern, erweisen sich die beinahe vergessenen Kriegsgeschichten2 und die damit wieder aktivierte Erinnerung an den Krieg als ein konstitutiver Teil unverwechselbarer Familien- oder aber kollektiver Dorfgeschichte und -identität. Die erwähnte Auflösung der Zieder Dorfgemeinschaft am Ende des 20. Jahrhunderts gibt die kollektive Schicksalsfolie für die aufgezeichneten Berichte ab. Anschaulichkeit, Witz und Ironie würzen so manchen Erinnerungstext und schaffen des Öfteren eine wohltuende Distanz zwischen dem heutigen Erzähler und dem Erzählten. Wie viele Männer aus Zied in den Krieg gezogen und wie viele gefallen oder kriegsbedingt umgekommen sind, wie viele in Gefangenschaft gerieten und wie viele Rückkehrer es gab, lässt sich bis ins Detail anhand archivalischer Quellen beantworten. Heute ist hingegen 2 Katharina Rothmann, ehemals Zied (Hausnr. 112), derzeit Kleinglattbach/Vaihingen an der Enz.
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Irmgard und Werner Sedler
nicht mehr bekannt, ob sich der Einzelne nach der Mobilmachung im Sommer 1914 aus Begeisterung oder nur aus Pflichtgefühl meldete, ob er neugierig oder mit Angstgefühlen die kleine überschaubare Dorfwelt, in der er sich sicher fühlte, verließ. Von den Vorahnungen und Befürchtungen oder aber der Entschlossenheit, selbst zur Verteidigung des eigenen Landes beizutragen, ist nichts überliefert. Bis dato sind nur ein einziger Brief und einige wenige Frontpostkarten von Zieder Teilnehmern am Ersten Weltkrieg bekannt. Was man jedoch weiß, ist, dass viele der Zieder Kriegspflichtigen (50 Sachsen, nicht wenige Rumänen und einige Roma), die damals dem Marschbefehl gefolgt sind, Familienväter waren und Frauen mit kleinen Kindern und alte Eltern daheim zurückließen. Ihre Sorgen mochten um die Fragen kreisen, wer die Ernte einbringen und damit die Subsistenz der Familie bis ins kommende Jahr sichern werde und – im Falle der Sachsen – inwieweit die eingespielte Hilfe im Rahmen der überlieferten Nachbarschaftsstrukturen funktionsfähig bleiben würde. Auf die Generalmobilmachung vom 31. Juli 1914 reagierte man in der kleinen Welt der Siebenbürger Sachsen nach außen hin im Allgemeinen mit Begeisterung. Für diese Selbstmobilisierung gibt es eine Erklärung: Man fühlte sich als Sachse doppelt in die Pflicht genommen. Zum einen galt es, seine Loyalität gegenüber dem Hause Habsburg zu beweisen, von dem man sich erhoffte, dass es den Magyarisierungstendenzen der ungarischen Verwaltung in Bezug auf alle nicht ungarischsprachigen Bewohner Siebenbürgens ein Ende setzen werde; zum anderen agierte man aus dem seit Ende des 19. Jahrhunderts stetig wachsenden Bewusstsein der Zugehörigkeit zur deutschen Kulturnation heraus3. Sachsen und sächsische Kultur betrachtete man allgemein als Schutzbefohlene eines grenzüberschreitenden, alles überdachenden deutschen Sprach- und Kulturraums. Siebenbürgen selbst blieb vorerst von direkten Kriegshandlungen verschont, und in der ländlichen Abgeschiedenheit des Dorfes Zied hatte man vorerst nur einen vagen Begriff vom Krieg. Das Bild „vum Krech“ war festgemacht an der Gestalt des Georg Frank, genannt „Tōrtler Gerij“4, Jahrgang 1837, der als Invalide aus dem Österreichisch3 Siehe hierzu Paul P h i l i p p i : Das politische Selbstverständnis der Siebenbürger Sachsen zwischen 1791 und 1991. In: Paul P h i l i p p i : Kirche und Politik. Siebenbürgische Anamnesen und Diagnosen aus fünf Jahrzehnten. Bd. 2. Hermannstadt 2006, S. 44–64. 4 Der Verweis auf den Übernamen ist wichtig, da es in dem durch jahrhundertelange Endogamie geprägten Ort nur wenige Familiennamen gibt und die Vornamen sich auch nur auf wenige, meist biblisch-christliche, beschränken. Nebst Übername fungiert auch die Hausnummer als Individualisierungsmerkmal.
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Preußischen Krieg von 1866 zurückgekehrt war und eine kleine Versehrtenpension genoss. Der Krieg bot kein durchweg negatives Bild, denn: „Bei den Bauern war damals bares Geld eine Seltenheit, und ich weiß von meinen Eltern, dass man mit Achtung von diesem Mann redete, ja, dass ihm der eine oder andere gar die Pension geneidet hat, da er gut mit diesem Geld gewirtschaftet hat.“5 In den vier Kriegsjahren wurden nach und nach alle wehrfähigen siebenbürgisch-sächsischen Männer eingezogen. Zu Kriegsende waren es 37.533 Soldaten, fast die Hälfte davon Unteroffiziere und Offiziere: Von jenen fielen 4.850 oder galten als vermisst6, was einem Blutzoll von 12,92 Prozent entspricht. Die zahlenmäßig überschaubare evangelische Kirchengemeinde in Zied verzeichnete am 31. Dezember 1915 eine Gesamtseelenzahl von 378; männlichen Geschlechts (Kinder und Alte mit eingeschlossen) waren dies 179 Personen7. Wenn man weiß, dass die Zahl 378 über mehrere Generationen hinweg in etwa der Durchschnittsanzahl der Sachsen in Zied entsprach8, so bedeutete die Einberufung von 50 erwerbsfähigen Landwirten zu den Waffen einen gewaltigen Verlust an Arbeitskraft in den Familien. Der Krieg wurde im Ort zuallererst über das Fehlen der eingezogenen Arbeitskräfte bei der zeit- und kraftraubenden landwirtschaftlichen Alltagstätigkeit erlebbar. Die Requirierung von Zugtieren und Rohstoffen9, die hohen Preissteigerungen und die steigenden Lebensmittelpreise, die Verluste an Menschenleben ließen auch die Zieder Gemeinschaft die Ausnahmesituation kriegerischer Zeiten zutiefst spüren. Tabelle: Die Zieder Kriegsteilnehmer Mit sieben Toten, was einem Prozentsatz von 13,72 entspricht, liegen die Zieder Verluste nahezu einen Prozentpunkt über dem Durchschnitt der siebenbürgisch-sächsischen Kriegsopfer.
5 Interview mit Maria und Daniel Bartel, ehemals Zied (Hausnr. 120), geführt am 18.12.2014 in Lauffen am Neckar. 6 Zahlen nach Konrad G ü n d i s c h : Siebenbürgen und die Siebenbürger Sachsen. München 1998 (Studienbuchreihe der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat 8), S. 164. 7 Jahresbericht der evangelischen Gemeinde A. B. in Zied (nach dem Stand vom 31.12.1915). Formular ausgefüllt von Pfarrer Michael Schuster. Zentralarchiv der Evangelischen Landeskirche A. B. in Rumänien, Hermannstadt (ZAEKR), Bestand Zied, Signatur 400/247. 8 Gemäß einer vom Genealogen Albert A r z in den Jahren 1985–1990 durchgeführten Recherche. Handschrift. Archiv der Zieder HOG. 9 In Zied wurde, wie das auch andernorts geschah, eine Glocke, die wertvolle „mittlere“ aus dem Jahr 1573, vom Kirchturm geholt, wobei ihr Mantel sprang. Die Gemeinschaft konnte jedoch ihren Abtransport verhindern. Erst 1973 wurde sie z. T. umgegossen und hängt heute noch im Zieder Kirchturm. Siehe S e d l e r , S e d l e r (Hgg.): Zied, S. 174.
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Irmgard und Werner Sedler
1. 2. 3. 4.
Hausnummer alt/neu 2/41 6-7/38 8/37 9/36
Vorname Name
Übername
Johann Rothmann Michael Schneider Michael Seiwerth Georg Schneider
Zaletter Honz Breckner Misch Der Āchter Deschler Gerij
5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24.
10/35 12/31 11/32 13/30 13/30 14/29 15/28 17/26 19/24 19/24 21/21 24/18 26/15 26/15 27/14 28/13 28/13 30/12 31/11 35/8
Georg Sedler Michael Miess Johann Sedler Michael Arz Christina Arz Michael Schneider Andreas Salmen Leonhard Schneider Michael Sedler Johann Sedler Andreas Miess Andreas Miess Michael Miess Andreas Miess Georg Rothmann Johann Rothmann Wilhelm Rothmann Johann Salmen Andreas Schneider Johann Ehrlich
Zähner Gerij Nutze Misch Valten Honz Pitze Misch Pitze Chrestel Schneider Misch Honz- Derteis Oijnz Lienert Marzen Misch Marzen Honz Zaletter Oijnz Nutzen Oijnz Nutzen Misch Nutzen Oijnz Benner Gerij Honz-af-dem-Āk Honz Honz-af-dem-Āk Will Rümen Honz Schneider Oijnz Mellner Honz
25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38. 39. 40. 41. 42. 43. 44. 45. 46. 47. 48. 49. 50.
37/7 38/6 39/6 41/3 41/3 45/123 47/121 49/119 49/119 49/119 51/118 52/117 53/116 53/116 54/115 56/113 57./112 58/111 58/111 60/110 62/108 64/106 66/104 71/99 73/55 74/54
Andreas Seiwerth Johann Bartel Johann Heltsch Andreas Ehrlich Michael Ehrlich Andreas Salmen Wilhelm Heltsch Andreas Ehrlich Michael Ehrlich Johann Ehrlich Georg Rothmann Johann Schneider Michael Rothmann Daniel Rothmann Johann Miess Johann Salmen Michael Ehrlich Michael Seiferth Johann Seiferth Wilhelm Miess Michael Salmen Michael Schneider Michael Rothmann Johann Rothmann Andreas Rothmann Michael Heltsch
Seiwerth Oijnz Bartel Honz Helschen Honz Mellner Oijnz Mellner Misch Misch-em-Wenkel Oijnz Helsche Will Leokes Oijnz Leokes Misch Leokes Honz Gerij-af-dem-Āk Gerij Orjenisten Honz Zikeli Misch Zikeli Dan Nutzen Honz Honz-Derteis Honz Schüller Misch Seiwerth Misch Seiwerth Honz Bartel Will Misch-em-Wenkel Misch Deschler Misch Woaner Misch Schoster Honz Benner Oijnz Helsche Misch
Bemerkungen
† 1914 an Kriegsfolgen
† 1916 in russ. Kriegsgefangenschaft
† 1915, gefallen † 1914, Cholera
† 1918, gefallen † 1916, gefallen † 1914, gefallen
Zied – Ein Dorf im Ersten Weltkrieg
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Von den zur Waffe Gerufenen war der älteste (Johann Salmen, genannt „Rümen Honz“) bei Kriegsbeginn 45 Jahre alt und ließ eine Frau mit vier Kindern zurück. Michael Ehrlich (genannt „Leokes Misch“), Michael Ehrlich (genannt „Mellner Misch“) und Michael Sedler (genannt „Marze Misch“) hatten zu diesem Zeitpunkt gerade erst ihr sechzehntes Lebensjahr erreicht; sie zogen zwei Jahre später ebenfalls ins Feld. Wilhelm Miess (genannt „Bartel Will“), und Michael Arz (genannt „Pitze Misch“), waren bei Kriegsbeginn ihrerseits achtzehn, Johann Seiferth (genannt „Seiwerth Honz“) knappe siebzehn Jahre alt. 28 Zieder Kriegsteilnehmer waren bei Kriegsbeginn Familienväter, die ihre unmündigen Kinder meist der Obhut ihrer Großfamilie überantworteten. Beim 39 Jahre alten Georg Sedler (genannt „Zähner Gerij“) waren dies sechs. In der Familie des 40-jährigen Georg Rothmann (genannt „Benner Gerij“) verblieben fünf Kinder, wovon das älteste 15-jährig während des Krieges ohne väterliche Aufsicht war. Ein einziger verheirateter Einberufener, namentlich der 26-jährige Johann Rothmann (genannt „Honz-af-dem-Āk Honz“), hatte zu dem Zeitpunkt noch keine Kinder10. Die bisherigen Recherchen ergaben, dass Zieder sowohl an der Ost- als auch an der Südfront zum Einsatz kamen. Hier kämpften sie überwiegend als Infanteristen, da in diesem Krieg die Infanterie noch immer die Hauptwaffengattung war. Von Johann Ehrlich („Leokes Honz“) und Michael Arz weiß man, dass sie beim k. u. k. Ungarischen Infanterieregiment Pucherna Nr. 31 ihren Kampfeinsatz hatten. Johann Ehrlich fiel schon 1914 als 22-Jähriger im Reserve-Spital Nr. 20 in Kaschau (Košice, Kassa) der Cholera zum Opfer11. Andreas Rothmann (genannt „Benner Oijnz“) war Soldat bei der k. u. k. Landwehr (24. Honvédregiment), wo er als 38-Jähriger schon am 9. September 1914 an der Ostfront in Galizien fiel. Bei den Honvéds, der königlich ungarischen Landwehr, kämpften auch Michael Sedler (Jahrgang 1898) und der Rumäne Matei Varga. An der Front in Galizien war auch Michael Schneider (genannt „Breckner Misch“, Jahrgang 1876, Hausnr. 6–7), im Kampfeinsatz. Von Michael Miess (genannt „Nutzen Misch“, Hausnr. 26) ist überliefert, dass er eine Verwundung 10 Die Daten zum Personenstand der Kriegsteilnehmer wurden den von der evangelischen Kirche im Ort geführten Tauf-, Trauungs- und Totenmatrikeln entnommen. Die Führung der Kirchenmatrikeln geht auf einen Beschluss der Synode der Evangelischen Kirche A. B. in Siebenbürgen von 1617 zurück und wurde auch nach Einführung der Personenstandsregister durch die staatlichen Standesämter in Ungarn ab dem 1. Oktober 1895 durch die örtlichen Kirchenämter weitergeführt. Siehe die Matrikelbücher von Zied im ZAEKR, Matrikelsammlung, Sign. 789–793; 1355–1356; auch Bestand Zied, Sign. 353. 11 Information von Katharina und Johann Rothmann, Kleinglattbach.
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Irmgard und Werner Sedler
überlebt und nach dem Krankenhausaufenthalt in Kronstadt (Brașov, Brassó) ein zweites Mal an die Ostfront kam und letztlich in russische Gefangenschaft geriet. Er habe in Sibirien Schafe hüten müssen, bevor er nach Kriegsende (Waffenstillstand am 11. November 1918) wieder heimgekommen sei, erzählte man sich in Zied. Das Schafe-Hüten sei ihm als Bauernsohn leichter gefallen als anderen Gefangenen12. Andreas Rothmanns zwei Jahre älterer Bruder Georg (genannt „Benner Gerij“) überlebte den Balkanfeldzug (1916) bei den Pionieren und war in Montenegro und Albanien im Einsatz. Dieses brachte ihm später in Zied den Spitznamen „der Albaner“ ein, da er ein begnadeter Erzähler war und anschaulich aus dem Krieg zu berichten wusste13. Johann Miess (genannt „Nutzen Honz“) hatte ebenfalls den Montenegro-Feldzug mitgemacht und später die exotische Welt „von dort aus Sarajevo“ seinen daheimgebliebenen Ziedern anschaulich nähergebracht14. Von Johann Salmen (genannt „Honz-Derteis Honz“, Jahrgang 1878) weiß man, dass er an den Kämpfen am Isonzo teilnahm. Aus (süd)italienischer Gefangenschaft kehrten zum Jahresende 1918 noch Michael Arz (Jahrgang 1896) und Michael Miess (Jahrgang 1886) sowie Johann Miess (Jahrgang 1878) nach Zied heim15. Von den 50 Zieder Sachsen kehrten sieben von den Kampfhandlungen an den Fronten des Ersten Krieges nicht mehr heim beziehungsweise erlagen den Folgen dieses Krieges, darunter die beiden Geschwister Michael und Georg Schneider. Eine vom Zieder Frauenverein im Jahr 1925 gestiftete Gedenktafel im Zieder Kirchenschiff hält die Namen der Kriegsopfer fest: – Georg Schneider (genannt „Deschler Gerij“, Jahrgang 1887) verstarb im Krankenhaus in Kronstadt 1914 und wurde auch dort begraben. Er hinterließ eine Frau und drei unmündige Kinder; – Johann Ehrlich (Jahrgang 1879) verstarb 1916 in russischer Gefangenschaft. Er hinterließ eine Frau und zwei noch unmündige Kinder; – Wilhelm Heltsch (genannt „Helsche Will“, Jahrhang 1890) fiel 1915; – Johann Ehrlich (Jahrgang 1892) starb, wie erwähnt, 1914 an der Cholera; – Michael Schneider (Jahrgang 1877) fiel 1918 und hinterließ eine Frau und drei Kinder; – Johann Rothmann (genannt „Schoster Honz“, Jahrgang 1885) fiel 1916 und hinterließ eine Frau und drei unmündige Kinder; 12 13 14 15
Interview mit Katharina und Johann Rothmann am 20.11.2014 in Kleinglattbach. Information von Maria Bartel, Lauffen am Neckar. Information von Albert Arz, ehemals Zied (Hausnr. 109), derzeit Gummersbach. Information von demselben.
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– Andreas Rothmann (Jahrgang 1876) fiel 1914 in Galizien und hinterließ eine Frau und vier unmündige Kinder.16 Auf Seiten der Zieder Rumänen sind uns vier junge Männer der Großfamilie Varga als Kriegsteilnehmer bekannt – Ioan, Matei, Samoilă und Simion, des weiteren ein Zieder namens Ioan Fleșaru. Ioan Varga fiel schon 1914 während der Kampfhandlungen in Galizien17, Gabor Rupa und Nistor Pop, beide der Ethnie der Roma angehörig, haben den Krieg überlebt18.
Aus Feldpostkarten und Briefen Den Krieg überlebte auch Michael Schneider (genannt „Breckner Misch“, Jahrgang 1876). Von 1914 bis 1916 diente er beim Feldkanonenregiment 36 des XII. Korps der in Hermannstadt (damals offiziell Sibiu, Nagyszeben) stationierten 16. Infanterietruppendivision. Der im Familienbesitz erhaltene Schriftverkehr (vom 28. Januar 1915 bis zum 8. Februar 1916) gewährt einen wenn auch nur knappen Einblick in das Soldatenleben an der Front in Galizien und in den Seelenzustand des Zieder Familienvaters. Den ersten Kartengruß verschickte Michael Schneider einen Tag vor Beginn der Winterschlacht in den Masuren; eine später verschickte Postkarte ziert dann auch ein Bildmotiv von dieser Schlacht. Wenn auch stets formelhaft an den Anfang des Briefes gesetzt, steht immer die Sorge um die eigene Gesundheit und die der Familienmitglieder zuhause im Vordergrund. So auch im Feldpostkartengruß, geschrieben in der Zeit der Kampfhandlungen mit den Russen bei Przemyśl Ende Mai 1915, worin es heißt: „Grüß euch Gott. Liebe Gattin! Ich teile Dir mit, dass wir auf dem Marsch sind und [ich] nicht regelmäßig schreiben kann. Gesund bin ich und wünsche auch euch die beste Gesundheit, auch wünsche ich angenehme und zufriedene Pfingstfeiertage. Die unseren werden schwer sein, statt Pfingstglocken hören wir nur Kanonendonner. Hoffentlich werden die nächsten besser sein.“ Hin und wieder macht er der Gattin Vorwürfe, sie würde zu selten schreiben19 oder aber er ist in Gedanken bei der Feldarbeit zuhause, die alleinig auf den Schultern seiner Ehefrau lastet: „freue mich, dass es euch gut geht, wenn auch schwer und nur Du […] das Korn einführen konntest. Dann mit dem Mähen wärest Du auch einmal 16
Information von demselben. Interview mit Prof. Ion Varga, geführt in Agnita (Agnetheln) am 12.8.2014. 18 Information von Martin Sedler, ehemals Zied (Hausnr. 32), derzeit Kleinglattbach/ Vaihingen an der Enz. 19 Feldpostkarten v. 30.4. bzw. 15.7.1915, adressiert an „Katharina Schneider in Zied Nr. 7, Szent Agotha (Agnetheln) in Ungarn“. 17
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fertig, nur mit dem Pflügen ist es jetzt auch Zeit, wenn es aber geregnet hat, so wirst Du ja auch das machen, alles wäre gut, wenn Gott nur den Frieden geben sollte, wir sind auch müde.“20 In den Antwortschreiben berichtet seine Gattin Katharina von der wetterabhängigen Feldarbeit, von dem Befinden der betagten Eltern und wünscht sich den Mann und Familienvater bald zurück21. Aus einem weiteren Brief Michael Schneiders spricht die Sehnsucht nach seinem Kind, dessen Erwachsenwerden er nur noch aus der Ferne begleiten kann. Tochter Katharina ist zu diesem Zeitpunkt dreizehn Jahre alt: „Aber geliebtes Töchterlein nur eins gefällt mir nicht, warum schreibst Du mir nicht selber, Du bist doch groß genug dazu!“22 Der jüngste der erhaltenen Briefe stammt aus dem Jahr 1918. Er ist an den nunmehr auch schon an der Schwelle des Erwachsenseins stehenden 14-jährigen Sohn Michael gerichtet, dem der Schreiber nun indirekt, indem er die Krankheit der Mutter anspricht, die Verantwortung für die Familie anvertraut23. Michael Arz (genannt „Pitze Misch“24), ging als 18-Jähriger in den Krieg. Von den sieben erhaltenen, zwischen April 1915 und August 1916 geschriebenen Feldpostkarten stammt gerade eine von ihm selbst, die anderen sechs wurden ihm zugesandt. Sie belegen eine rege briefliche Kommunikation des jungen Mannes mit seiner Mutter Anna, seinem Bruder Christian (genannt „Pitze Krestel“), der Jugendfreundin Maria Salmen (genannt „Rümen Maichen“25) und dem im Nachbarort Martinsberg auf Urlaub weilenden Frontkameraden Johann Schieb. Am 31. August 1915 schickte Michael Arz seiner Mutter eine Postkarte mit dem Abbild der Stadtpfarrkirche St. Jakob in Brünn (Brno) und dem Hinweis: „Dies ist eine Evangelische Kirche, in welche wir fast jeden Sonntag gehen und beten zu Gott.“ Der Brief der Jugendfreundin dokumentiert seinerseits den militärischen Aufstieg von Michael zum Gefreiten. Der Brief26, mit dem die Familie den jungen Soldaten auch weiterhin an ihrem Alltag teilhaben ließ, erreichte ihn an der k. u. k. Armee-Schießschule in Bruck an der Leitha. Da die Rückkehr 20 Feldpostkarte v. 30.7.1915 an Katharina Schneider. Der Schreiber kämpft in dieser Zeit bei Lublin in Russisch-Polen. 21 Postkarte der Katharina Schneider aus Zied v. 19.8.1915, adressiert an ihren Mann, „Michael Schneider K. K. F[eld] K[anonen] Regiment Nro. 36. I[nfanterie] M[unitions] Kolonne Nro. 1 Feld Post U 3“. 22 Feldpostkarte v. Dezember 1915. 23 Feldpostbrief v. 1.9.1918, adressiert an „Michael Schneider in Zied Nr. 7 w. p. Sz[ent] Agota Siebenbürgen“. 24 Michael Arz (1896–1972), ehedem Zied (Hausnr. 13). Siehe S e d l e r , S e d l e r (Hgg.): Zied, S. 269. 25 Maria Salmen (1896–1974), ehedem Zied (Hausnr. 30). 26 Brief v. 24.10.1915.
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der Soldaten ins Zieder Landleben nach dem Krieg, sollten sie diesen überleben, als selbstverständlich angesehen wurde, kreiste jegliche Information um den Fortgang der Arbeiten auf dem Acker und deren Bewältigung durch die daheimgebliebenen Frauen und Alten, um Witterung und allgemeine wirtschaftliche Lage, aber auch um die Geschehnisse im Ort. Aus dem Brief des jüngeren Bruders Christian erfährt Michael, dass „das Vieh nicht mehr so teuer [ist], dass ein Paar Ochsen um [d. h. auf] 500 Fl. herunter [ge]kommen ist“, aber auch, dass eine Liebe im Dorf durch den Fortzug eines anderen Zieders an die Front in die Brüche gegangen ist: „Er schreibt ihr nicht mehr“, heißt es hier ganz schlicht27. Todesahnung spricht aus einem der erhaltenen Briefe des 22-jährigen Johann Ehrlich („Leokes Honz“), den er noch vor Auszug aus der Hermannstädter Garnison an seine Eltern in Zied richtete28. Es sind die schlichten Worte eines Bauernsohnes, und doch rühren sie noch den heutigen Leser: „Ihr wisst, dass ich es [daheim] gut gehabt habe, es geht mir jetzt wie dem Mann und dem Lazarus. Man hat uns jetzt in die graue Mondur gekleidet, dass wir auch dem Russen ins Angesicht geh[e]n. Wann wir abmarschieren, wissen wir nicht, aber dass wir es [das Ordre] jetzt bekommen werden, dass seh[e]n wir. Es ist, wie man hört, nicht eine gute Aussicht. Niemand kann es loben. Aber wenn ich doch auf die andere Seite denke und sehe uns alle in der neuen grauen Mondur und alles andere neu und was zu einem Militeristen gehört, so sehe ich mich doch in Mut [und] Froheit. Das ist aber nur ein paar Minuten, so kommt mir der Sinn doch nach Hause […] ich sehe dass ich scheide und nur weiß ich nicht [ob] auf immer.“ Im Folgenden beschwört der junge Mann die in der sächsischen Dorfgemeinschaft zum Ritual geronnene Formel des endgültigen Abschiednehmens: „Liebe Eltern, bitte Euch um Verzeihung, wenn ich [Euch] im geringsten mit [et]was beleidigt habe und weiter die Schwester Maria […] Glaubt mir, ich habe nicht so schwer geschieden wie ich von zu Hause von allen persönlich schied, niemals ist mir eine Träne geflossen, aber glaubt [mir], jetzt wie ich den Brief schreibe, so flossen sie mir so, dass ich kaum schreiben konnte.“ Dann wird der Brief wieder sachlich. Das zur Sparsamkeit erzogene Bauernkind berichtete stolz, dass es die 20 Kronen, die ihm der Vater bei seinem letzten Besuch in der Kaserne in Hermannstadt geschenkt hatte, nicht ausgegeben habe: „Ich habe mir 27 Postkarte von Christian Arz v. 25.8.1916 an seinen Bruder, den „Gefr[eiten] Arz Michael, Österreich-Ung[arisches] Inf[anterie] Regiment 31 M. G. Ab[teilung] I, XII. Armee 83. Deutsche Inf[anterie] Div[ision] Osten“. 28 Brief v. 11.10.2014, geschrieben in der 90. Kaserne in Hermannstadt; derzeit im Familienbesitz von Katharina und Johann Rothmann, Kleinglattbach.
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erspart, was ich brauche, die Kleider haben wir [unentgeltlich] bekommen.“ Er wolle das Geld mit einem befreundeten Zieder wieder nach Hause schicken, „denn ich weiß, dass ihr sie [die Kronen] auch notwendig braucht“. Letztlich bittet er um ein Wiedersehen: „Wenn ihr wollt, so kommt noch einmal herein [in die Stadt], bin ich nicht mehr hier, so könnt ihr euch das Geld mitnehmen. Uns geschehe wie Gott will.“
Michael Ehrlich – ein Zieder Bauer im Krieg An der Balkanfront kämpfte der 1872 geborene Zieder Michael Ehrlich (genannt „Schüller Misch“, der vier unmündige – zwischen 1901 und 1909 geborene Kinder mit ihrer 35-jährigen Mutter zu Kriegsbeginn im Ort zurückließ29. Der umfangreich erhaltene, zwischen Januar 1916 und April 1917 belegte Briefwechsel zeigt den Soldaten als einen begnadeten Briefeschreiber, dessen offen bekundete Liebe zu den Seinen als zutiefst empfundenes, in gefühlvoll bis pathetischen Worten heraufbeschworenes familiäres Glück der rauen Kriegswirklichkeit entgegengesetzt wird. Der Briefwechsel zwischen dem Frontsoldaten und seiner Frau und den drei ältesten Kindern wirft Streiflichter auf die Kriegsereignisse und die Lebensumstände an der Front, auf die Lage in der Heimat, offenbart aber auch das tradierte Rollenverständnis in der siebenbürgisch-sächsischen Familie und in der Dorfgemeinschaft, wonach der Ehemann als Hausvater30 die Verantwortung für alles zu tragen habe, was in seinem Hause geschehe, auch wenn er in der Ferne weilt. Punktuell liefern die Briefe konkrete Daten über das Frontgeschehen, zumeist aus der Sicht der Beteiligten, aber auch Fakten aus dem soldatischen Alltag in Bosnien und Montenegro. In einem Schreiben aus Maglaj an der Bosna in Nordbosnien vom 18. Januar 1916 ließ Michael Ehrlich seine Frau wissen: „Dich und die Kinder herzlich grüßend, teile ich Euch mit, dass wir heute in Maglaj Rast haben, am 16. [Januar] langten wir in Doboj an und am 17. hier. Auf den 19. geht es weiter.“ Wenige Tage später, am 23. Januar, meldete er sich aus der Stadt Semnitza (heute Gornja-Šemnica in Kroatien): „Am 21. und 22. sind wir fortmarschiert […] und wurden in Semnitza einquartiert. Von diesem Ort heißt es: Semnitza ist eine der besten Städte, heute ist Rast und morgen wird weitergereist. Bisher sind wir immer durch hohe Gebürge gekommen und forthin sieht man auch immer nur Gebürge. Je weiter man kommt je mehr Schnee und Kälte.“ Das Erlebnis der 29
S e d l e r , S e d l e r (Hgg.): Zied, S. 348. Brief Michael Ehrlichs an seine Frau Maria, geschrieben in Plevlje am 16.6.1916. Familienbesitz Rothmann, Kleinglattbach. 30
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Bergwelt in den Dinarischen Alpen sieht er mit dem Blick des Landwirtes, der bis zum Krieg nur die siebenbürgische Landschaft und die dortigen Siedlungsverhältnisse kannte und den die Streusiedlungen im Hochgebirge befremden: „Gemeinden31 gibt es keine, nur hie und da stehen über der Landstraße 1–5 armselige Hütten. Das Vieh dieser Einwohner steht des Tages draußen im Schnee und abends wird es in einen schlechten Stall oder offenen Schopfen untergebracht. Wird dem Vieh des Tages auch etwas Futter gereicht, wird es ihm auf den Schnee aufgeteilt […] Diese Leute leben von ungesalzenem Kukurutzbrod, welches sie aber auch kaufen müssen [da der Ertrag der eigenen Felder nicht ausreicht], aber nur soviel als ihnen das Gesetz vorschreibt.“32 Im Januar 1915 haben die Briefe von Michael Ehrlich alle noch einen optimistischen Ton, als er die österreichisch-ungarischen Schlachtenerfolge seinen Lieben stolz mitteilt: „Neuigkeiten hört man hier kaum, als das Serbien und Montenegro gefallen sind.“33 Noch im April galt sein Hauptinteresse dem geordneten Fortgang der allfälligen Arbeiten auf dem geräumigen Bauernanwesen im heimischen Zied. Michael gab genaue Anweisungen, was dort zu tun sei, wie viel und wobei die Kinder in der Wirtschaft mitzuhelfen hätten und was von der ansehnlichen Ernte zu veräußern sei. „Sehr wehrte unermüdete Gattin“, schreibt er, „teile mir mit, was ihr angebaut habt und wo Du alles geackert hast.“34 Am selben Tag ging auch an den 15-jährigen Sohn Michael ein Brief ab: „Teile mir auch mit“, bat der Vater, „hast du Zwetschen-Bäumchen gesetzt und wie viele hast du […] veredelt oder sollst du nur jetzt veredeln [?], teile mir auch mit, wieviel Bienenstöcke durch den Winter krepiert sind […] und wie viel ihr noch jetzt habt und wie es ihnen geht.“35 Der Soldat muss schon in einem früheren Brief diese Auskünfte angemahnt haben, denn am 17. April legte Michael Ehrlich Jr. akribisch Rechnung ab: „Ihr [habt] mir geschrieben, ich sollte Zwetschken veredeln, aber solche Edelreiser habe ich nicht, Apfelbäumchen habe ich aber schon veredelt. Ich hatte mir im März 10 Stück [Apfelbäumchen] aus dem Walde gebracht, sie in den Garten
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Im Sinne kompakter siebenbürgischer Straßendörfer. Brief Michael Ehrlichs v. 23.1.1916 an seine Ehefrau Maria in Zied. Familienbesitz Rothmann, Kleinglattbach. 33 Ebenda. 34 Brief Michael Ehrlichs v. 16.4.1916 (Balkanfeldzug, ohne Ortsangabe) an seine Ehefrau Maria in Zied. FamilienbesitzRothmann, Kleinglattbach. 35 Brief Michael Ehrlichs v. 16.4.1916 (Balkanfeldzug, ohne Ortsangabe) an seinen ältesten Sohn Michael in Zied. Familienbesitz Rothmann, Kleinglattbach. 32
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gesetzt und 6 davon schon veredelt. Auch den großen, wilden Baum beim Brunnen habe ich an drei Stellen veredelt.“36 Die Sorge Michael Ehrlichs um die Erziehung seiner Kinder, die fern von ihm aufwuchsen, zieht sich durch die ganze Korrespondenz wie ein roter Faden. Das eine Mal ist er der fordernde und kontrollierende Vater: „Teile auch Du mir mit, wie Du in der Schulprüfung geschrieben und gelesen hast und was Dein Herr Lehrer dazu sagte“, verlangte er von seinem siebenjährigen Töchterchen Maria37. Ähnliches wollte er von seinem Sohn Michael und von dem zwölfjährigen Johann wissen, ob er schon die schwierige Ungarisch-Prüfung hinter sich habe38; ein anderes Mal kamen seine Anweisungen in sehr liebevollem, gar zärtlichen Ton daher, wobei er auf das Alter der Kinder und das, was ihnen Freude mache, einging: „Teile mir mit, was dein Zicklein ist (Ziege oder Bock)“, fragt er Johann, „und hat deine Ziege viel Milch und wie schmeckt dir die Ziegenmilch[?], ist sie besser als die Kuhmilch? Trägst du das kleine Zicklein auch in die Stube, kommt es hinter dir [her]gelaufen? Hast du ihm ein Halsband angemacht?“39 An Maria erging die Frage: „Hast du mit der Mutter Blumen gesät, damit du dir alle Sonntage einen schönen Strauß binden kannst?“40 Schließlich ging es dem prüden sächsischen Protestanten Ehrlich auch um das Seelenheil seiner Kinder, insbesondere darum, dass sie nicht allzu früh mit sexuellen Erfahrungen in Berührung kommen. Beispiele aus dem Tierreich, befürchtete der Vater, könnten anstößig wirken und sich negativ auf die moralische Entwicklung der Kinder auswirken, weshalb er seine Frau diesbezüglich anmahnte: „Wenn die Stute das Junge wirft, wäre es gut, sie gleich bei den Hengst zu bringen, was bei unserer Stute nach 4–5 Tagen der Fall ist, denn hernach geschieht es nur mit schwerer Mühe. Du, liebe Maria sollst nicht die Stute mit den Knaben hinführen, es kann ja das auch schließlich der Florea41 tun.“42 Der Grundton aller Briefe Michael Ehrlichs ist ein tiefes Gottvertrauen, das ihm immer mehr Halt zu geben schien, je weniger optimistisch ihn die Frontgeschehnisse stimmten. Seinem Charakter und diesem Gottvertrauen entsprechend, nahm der Familienvater die im 36 Postkarte von Michael Ehrlich Junior v. 17.4.1916 (Zied) an seinen Vater. Familienbesitz Rothmann, Kleinglattbach. 37 Brief Michael Ehrlichs v. 16.4.1916 (Balkanfeldzug, ohne Ortsangabe) an sein „Innigstes liebstes Töchterlein“ Maria in Zied. Familienbesitz Rothmann, Kleinglattbach. 38 Brief an Sohn Johann, am gleichen Tag geschrieben. 39 Ebenda. 40 Brief v. 16.4.1916, wie Anm. 37. 41 Florea, der rumänische Knecht. 42 Brief Michael Ehrlichs v. 11.5.1916 (Balkanfeldzug, ohne Ortsangabe) an seine Frau Maria in Zied. Familienbesitz Rothmann, Kleinglattbach.
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Hungerjahr 1916 sich verändernde Versorgungslage an der Front ohne große Klagen hin43. Anfänglich ließ er seine Lieben die prekäre Lage nur indirekt erahnen, indem er seinen Alltag schilderte: „Möchtest du gerne wissen, was für eine Beschäftigung ich hier44 habe? Nun, lieber Johann, ich werde dir es mitteilen, wir machen hier vielen Wachdienst […] dann graben wir auch und säen Gemüse, Blumen und setzen auch Kartoffeln, wir haben einen sehr schönen Garten mit runden, viereckigen und anderen Beeten angerichtet.“45 Im Brief an die Ehefrau wurde der Soldat dann deutlicher: „Brot bekommen wir, wie ich dir schon mitgeteilt habe, auf 5 Tage nur 2,5 kg; weniger als es sich gebührt und auch Fleisch weniger, und zu kaufen bekommt man auch nur dann und wann etwas Brod und auch das ist jetzt um die Hälfte teurer. Man bekommt Zucker 8 Würfel = 20 Heller und Milch von Ziege und Kuh mit Wasser, so dass sie keinen Geschmack hat, als die weiße Farbe. 1 Liter = 60–80 Heller. Für das halbe Brod bekommen wir 38 Heller.“46 Im selben Brief sprach er erstmals den Wunsch nach Esspaketen aus: „Im Falle ihr zuhause [Feld]frucht habt, dass ihr nicht zu sparen braucht, ich könnt jede Woche ein Paket brauchen.“47 Einen Monat darauf befand sich Michael Ehrlich in Plevlje (heute Plevlja) in Montenegro: „Am 9. Juni gingen wir nach Montenegro auf Patroll.“48 Seine lange gehegten Hoffnungen auf Urlaub hatten sich zerschlagen, und Hunger und Kälte hatten die Situation dramatisch verändert: „Das heilige Pfingstfest hatte ich auf steilen Gebirgen Montenegros müde, hungrig und durstig mitgemacht […], ich hatte in vier Tagen mit einer Konserve u[nd] etwas Speck gelebt. […] Gestern sind zu unserem Batalion noch 110 Mann gekommen […]. Die Zeit ist ernst.“49 Der Beginn der Brussilow-Offensive am 4. Juni und der Verlauf der „Sommerschlacht“50 mit ihren hohen Verlusten an Menschen ließen dem Siebenbürger Sachsen „das Herz schlagen, wenn man an seine Liebsten daheim denkt“, und es beunruhigten ihn diesbezügliche Nachrichten: „Liebe Maria, hier hat man seit einiger Zeit immer schlechte Nachrichten gehört, wie viele die Russen derer Unseren 43 Siehe hierzu Manfried R a u c h e n s t e i n e r : Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburger-Monarchie 1914–1918. Wien, Köln, Weimar 2013, S. 682–714. 44 Keine Ortsangabe. 45 Brief Michael Ehrlichs v. 6.5.1916 (Balkanfeldzug, ohne Ortsangabe) an seinen Sohn Johann in Zied. Familienbesitz Rothmann, Kleinglattbach. 46 Brief Michael Ehrlichs v. 11.5.1916 an seine Ehefrau Maria, wie Anm. 42. 47 Ebenda. 48 Brief Michael Ehrlichs v. 16.6.1916 an seine Ehefrau Maria, wie Anm. 30. 49 Ebenda. 50 Siehe R a u c h e n s t e i n e r , Der Erste Weltkrieg, S. 457–477.
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gefangen und in Siebenbürgen eingedrungen und auch in Ungarn.“51 Zwar tröstete ihn die wirtschaftliche Lage von zuhause, doch befürchtete er auch dort die Folgen nicht vorhersehbarer Kriegszustände und riet dringend: „Liebe Gattin, vom Vieh habt ihr nun einen schönen blühenden Viehstand […], in unseren Stallungen ist so viel Vieh ein so großer Segen, […] ich möchte, Du solltest keines verkaufen bis Du siehst, wie es mit dem Krieg und mit mir noch geht.“52 Mit dem Eintritt Rumäniens in den Krieg am 28. August erfüllten sich Ehrlichs Ahnungen, indem der sächsische Teil Siebenbürgens zum Kriegsschauplatz wurde, die Ortschaft Zied mit einbezogen. Verstärkte Zugtier-Requisitionen, Feldfruchtabgaben und Preissteigerungen bestimmten und beschränkten nun auch in dieser Ortschaft die Lebensqualität. Im Briefwechsel der Ehegatten Ehrlich kommt davon jedoch nur wenig zur Sprache, vielleicht auch weil sich die Briefe der Ehefrau an ihren Mann nicht erhalten haben. Im Brief vom 23. Juli 1916 fragte Michael: „Hast Du die [Feld]frucht alle abgegeben, hast Du die Staatsobligationen alle bekommen?“ Leitmotivartig spricht nun aus den Briefen immer wieder die Schicksalsergebenheit. Das Gottvertrauen erfasst die Anweisungen an die Seinen immer öfter – sie sollten gut essen, sich nicht bei der Arbeit verausgaben und auf das Ende des Krieges hoffen, wünschte er sich. Zärtlich-Heiteres mischte sich mit Sorgen, wenn er an seine Kinder schrieb, so wie im Brief aus dem k. u. k. Reservespital im montenegrinischen Stari Bar, wo er sich im Juni 2017 befand. Michael Ehrlich erwähnte keine Verletzung, doch erfüllten die Zieder Lebenswelt und die seiner Familie sein ganzes Denken. „Liebe Kleine, […] wirst jetzt mit Brüderlein Willi immer auf die Bienen sorgen. Sind die Kirschen noch nicht gut[?], sind Johannisbeeren, Stachelbeeren, Zwetschken?“53 Manchmal wird der Ton elegisch, dann wiederum poetisch-schwärmerisch: „Liebes, holdes, wertes Kind“, heißt es auf einer aus Topolica 1917 abgeschickten Feldpostkarte, „von Dir weit ich mich befind unter der steinigen Gebirgswand an dem schimmernden Meeresstrand. Möchte Dich, Liebes nochmals sehn, Gott nur weiß, wanns wird geschehn, täglich tu ich Gott bitten, er mög‘ mich führen in eure Mitten […].“54
51 Brief Michael Ehrlichs v. 23.7.1916 aus Plevlje an seine Ehefrau Maria in Zied. Familienbesitz Rothmann, Kleinglattbach. 52 Ebenda. 53 Brief Michael Ehrlichs v. 8.6.1917 aus Stari Bar an seine Tochter Maria in Zied. Familienbesitz Rothmann, Kleinglattbach. 54 Feldpostkarte von Michael Ehrlich v. 5.4.1917 aus Topolica in Montenegro an seine Tochter Maria in Zied. Familienbesitz Rothmann, Kleinglattbach.
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Wann genau Michael Ehrlich aus dem Krieg nach Zied zurückkehrte, lässt sich nicht mehr eruieren. 1920 verstarb seine Tochter Maria im Alter von elf Jahren, sein Sohn Michael folgte ihr 1922 als 21-Jähriger. Michael Ehrlich selbst lebte bis zu seinem Tod im Jahr 1951 in seinem Heimatdorf. Der umfangreich erhaltene Briefwechsel beeindruckt durch die in jeder Zeile durchscheinende, unerschütterliche Zuneigung und durch den Zusammenhalt der Familienmitglieder untereinander, dem er Ausdruck verlieh. Er stellte ein beredtes Zeugnis dafür dar, wie eine siebenbürgische Bauernfamilie unter den Ausnahmeumständen eines Krieges und der Trennung sich ein Stück „normales“ Familienleben zu erhalten vermochte.
Geschichten vom Krieg Die Gräuel des Ersten Weltkriegs sind in der Erinnerung der Nachfolgegenerationen zumeist verblasst, und weitergegeben wurden nur einige pointierte Geschichten von Rückkehrern, wodurch die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Zied noch bis in die nächste und übernächste Generation tradiert wurde. Später erinnerte man sich vor allem an Georg Rothmanns lebendige Erzählweise: „Der ‚Albaner‘ konnte gut erzählen. Er war irgendwo da unten in Montenegro und hat Brücken gebaut. Dort hat er den Kaiser Franz Joseph getroffen. Der war dort auf Inspektion und hat gefragt, woher er kommt. Der Benner Gerij konnte den Kaiser nachmachen, genauso wie der gesprochen hat. Und wir Kinder in Zied haben das dann auch so nachgeplappert. Wir haben uns über das komische ‚Deitsch‘ lustig gemacht: ‚Was fir Geleit seint ihr?‘ – ‚Sivenbirjer Sachsen, Majestät!‘ – ‚Nur Sachsen?‘ – ‚Nein, auch Ungarn und Romäner, Majestät.‘ – ‚Gut. Ihr seint fleißig. Ich bewillije fir die ganze Mannschaft doppelte Menaje und dreifache Arbeitszulage!‘ Das muss man sich einmal vorstellen!“55 Und Gábor Rupa, ein schlagfertiger Zieder Zigeuner, soll sich bis auf seine alten Tage an erstaunten Kindergesichtern ergötzt haben, wenn er auf seine „wichtige“ Rolle als Dienstknecht bei einem der Hochchargierten im Krieg angesprochen worden ist. In einwandfreiem Hochdeutsch und mit der Pose eines Granden habe er stets auf die Frage, wo er im Krieg gewesen sei und was er dort gemacht habe, geantwortet: „Da’ tu ce ai fost în rӑzboiu?“ – „Am fost kaundka, Seine Exellenz Generalfeldmarschall Edler Ritter Rupa von Gabor!“56 Von exotischen Gärten auf Sizilien und Pomeranzen, wie man sie bis dahin in Zied noch nicht gesehen habe, berichteten die aus italie55 56
Interview mit Maria und Daniel Bartel, wie Anm. 5. Interview mit Martin Sedler, Kleinglattbach/Vaihingen an der Enz, am 18.7.2013.
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nischer Gefangenschaft Geflohenen oder Entlassenen. Keine Exotik, dafür aber der raue Kriegsalltag in einem der Hónved-Regimenter und die erlebte Diskriminierung rumänischer Soldaten sprechen aus den Erinnerungen von Michael Sedler (genannt „Marze Misch“). Sein heute 92-jähriger Neffe Martin Sedler erinnert sich: „Mein Onkel konnte, wie die meisten Sachsen, Ungarisch. Mit ihm zusammen war ein anderer Zieder im Krieg, der Varga Matei von Hausnummer 16. Dieser konnte rumänisch, aber auch gut sächsisch reden, aber er verstand kein Ungarisch. Deswegen haben ihn die Ungarn geschlagen, und das nicht nur einmal. ‚Honz, woram schlōn des mech?‘ – so hat er sich beim Onkel, der ihn erbarmte, immer wieder beklagt.“57 Nach Zied selbst kam der Krieg erst im Jahr 1916. Am 27. August erklärte Rumänien Österreich-Ungarn den Krieg, und in der Nacht zum 28. August kamen rumänische Truppen über die Karpatenpässe, wo sie anfänglich auf keinen militärischen Widerstand stießen. In einem weiten Bogen – vom Rotenturm-Pass im Süden, über das Burzenland im Osten und bis hin zum Ghimeș-Pass im Norden – versuchten sie, von den Rändern her in mehreren Stoßrichtungen ins Innere Siebenbürgens vorzudringen. Eine davon führte von der Zibinsebene aus über das Harbachtal in Richtung Schäßburg (Sighișoara, Szegesvár). Am 4. September erreichten die rumänischen Truppen von Südwesten her kommend Harbachsdorf (Cornățel, Hortobágyfalva) und Rothberg (Roșia, Veresmart) bei Hermannstadt. Für das ca. 50 km östlich liegende Zied bedeutete dies zunächst noch keine direkte Gefahr. Der unter General Erich von Falkenhayn stehenden 9. Armee gelang es in der Schlacht bei Hermannstadt (26.–28. September) jedoch, die rumänischen Truppen vernichtend zu schlagen und sie über den Rotenturm-Pass in die Walachei zurückzudrängen. Am 18. September hatten andere rumänische Verbände den Predeal-Pass überschritten und aus östlicher Richtung das Harbachtal zu erreichen versucht. Ende des Monats näherten sie sich auf der Linie Hundertbücheln (Movile, Százhalom), Mergeln (Merghindeal, Morgonda) und Braller (Bruiu, Brulya) auch der Gemeinde Zied; bei Seligstadt (Seliștat, Boldogváros) kam es zu ersten Kampfhandlungen. Die Siebenbürger Sachsen aus den überrollten Gebieten, aber auch andere Landesbewohner versuchten in Richtung Norden zu fliehen, um hinter die Verteidigungslinie am Mieresch (Mureș, Maros) zu gelangen. Schließlich unterlag die rumänische Armee am 7. und 9. Oktober auch
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Ebenda.
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in der Schlacht bei Kronstadt (Brașov, Brassó) Falkenhayns 9. deutscher Armee und musste aus Siebenbürgen weichen58. Für die Flucht der Zieder vor den rumänischen Truppen kann mit großer Wahrscheinlichkeit der 29. oder 30. September angenommen werden, da überliefert ist, dass zu diesem Zeitpunkt Flüchtlingstrecks aus den Nachbarorten Wird (Werd, Vărd, Vérd) und Agnetheln in Richtung Norden unterwegs waren59. Schon am 2. Oktober konnten die Flüchtlinge wieder in ihr Dorf zurückkehren. Das Gedenkbuch der evangelischen Kirchengemeinde Zied bringt leider keine detaillierten Informationen über die Flucht: „1916 erklärten uns auch die Walachen den Krieg, und gerade für uns Sachsen brach dann eine außerordentlich schwere Zeit aus. Wir mussten flüchten vor den hereinbrechenden Horden, aber mit Gottes und der Deutschen Hilfe wurden sie bald wieder zurückgeschlagen und wir konnten wieder in die Heimat zurück“, heißt es im Wortlaut60. In einer Aufzeichnung, die Albert Arz 1975 im Gespräch mit der damals 82-jährigen Maria Miess (genannt „Zwelfer Mai“), geführt hat, erinnerte sich diese an das Erlebnis der Flucht, die sie als 23-Jährige erlebt hatte. Die lange zeitliche Distanz zu dem Erlebten schmälert die subjektive Wahrhaftigkeit des Berichteten keinesfalls, lässt aber hin und wieder zeitliche Ungenauigkeiten zu. Hier der Bericht, der aus dem mundartlichen Sächsisch zum leichteren Verständnis ins Hochdeutsche übertragen wurde: „Es war im Herbst 1916. Mitten im Ersten Weltkrieg. Die Ernte war eingebracht, die Weinlese vorbei und der Most abgefüllt. [Dass die Weinlese schon zu Oktoberbeginn abgeschlossen gewesen sei, muss bezweifelt werden.] Die Nachricht von der Flucht kam nicht unerwartet, aber sie hat uns dennoch überrascht. Der Kanzlei-Diener Gesch [Georg Gottschling], trommelte uns eines Morgens zusammen und verkündete der Gemeinde, dass sich aus jedem Haus [je] eine Person für 10 Uhr vor der Kanzlei einfinden solle. Damals war Hann [Schultheiß] in der Gemeinde Zied der Michael Rothmann [Haus] Nr. 68, der gelassene Hann [sein Stellvertreter] aber Johann Rothmann von [Haus] Nr. 55. Die Sachsen sollen sich zur Flucht vorbereiten, sagte man uns. Jeder Hof muss ein Fuhrwerk stellen. Auf diesem soll man Lebensmittel, Kleidung, Wertgegenstände und sonst Wichtiges mitnehmen. Die rumänische Armee sei im Anmarsch, und es könnte 58
G ü n d i s c h : Siebenbürgen, S. 165. Siehe hierzu Michael K o n n e r t h : Abtsdorf und seine Geschichte. Gundelsheim 1997, S. 137–143. 60 Gedenkbuch der Ev. Kirchengemeinde in Zied, handschriftlicher Eintrag aus dem Jahr 1916 durch Pfarrer Michael Schuster, ohne Seitenangabe, ZAEKR, Bestand 400/247 Nachakzession 1. 59
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vielleicht zu Kämpfen kommen. Bei der Flucht wollte man ins Innere, an die Kokel, in die Sicherheit. Die meisten Leute konnten sich aber nur schwer zur Flucht entschließen, sie fürchteten sich vor Plünderungen, da die Zieder Rumänen und Zigeuner im Dorf bleiben würden. Bis zu guter Letzt einigten sich die Leute, dass man geschlossen wegfahren soll. Nur drei alte Ehepaare wollten bleiben. Dieses waren der LienertBatschu61, der Leonhard Schneider von [Haus] Nr. 17 und Michael Rothmann, [Haus] Nr. 25, und ihre Frauen. Es fing auf jedem Hof ein geschäftiges Treiben an. Die Leute schlachteten Hühner und Schweine, auch wenn das Schlachten für diese Jahreszeit ungewohnt war. Es wurde Brot gebacken, die Männer untersuchten und kontrollierten die Wagen und das Geschirr, sie reparierten und bauten Kobern. Die Leute vergruben ihre Vorräte an Lebensmitteln. Die Viehherden wurden als erste weggetrieben. Man hatte die Aufgaben eingeteilt, so gut es ging. Die kräftigen Männer waren ja im Krieg. Verantwortlich für die Viehherden waren damals der Johann Bartel, das war der Bartel Honz von [Haus] Nr. 1 und der Johann Miess, der Seimen Honz von [Haus] Nr. 12. Ihnen zur Seite standen die Jugend, Knechte und Mägde [Burschen und Mädchen]. Den Herden folgten einen Tag darauf die Menschen aus der Gemeinde. Hof für Hof wurde verlassen, Wagen nach Wagen, zuerst die Pferdefuhrwerke, dann die Ochsen- und die Kuhgespanne, alle reihten sich in einen langen Zug ein. Die Glocken läuteten vom Kirchturm, auch manche Zähre wurde vergossen. Die alte Hannin [d. i. die Frau des Hannen] küsste zum Abschied gar die Steine vor ihrem Hoftor. So schlängelte sich der Wagenzug beschwerlich den Werder Berg hinauf, als von der anderen Seite deutsche und österreichische Soldaten vorrückten. Nun mussten wir Platz machen. Es war knapp gewesen mit der Flucht, wie wir erst später erfahren haben. Die rumänische Armee war tatsächlich, von Braller kommend, in die Gemeinde eingedrungen. Sie hatten aber nur die Gehöfte in der vordersten Nachbarschaft geplündert, denn die anrückenden Österreicher hatten sie in die Flucht geschlagen, ohne dass es zu Kampfhandlungen gekommen war. Unser Wagenzug machte schon in Bürgisch [heute Bîrghiș] halt. Hier gab es ein Lazarett für die Verwundeten. Wir lagerten da und warteten auf das, was kommen wollte. Aber schon am nächsten Tag hieß es, wir könnten wieder nach Hause fahren. In Zied war es zu keinem größeren Schaden gekommen, außer den verschwundenen Schweinen und Hühnern, die man auch nie mehr fand. Bei den Leuten in der vorderen Nachbarschaft fehlten auch Wein 61
Lienert, mundartlich für Leonhard: „Batschu“ bedeutet Ohm (Onkel).
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und Korn. Hie und da waren auch Kleider und Wäsche gestohlen worden. Aber die Rumänen hatten bei der Flucht auch einen dicken Stoffballen liegen lassen. Diesen hat man dann an alle Zieder Familien aufgeteilt. Die beiden alten Ehepaare waren bei dem, was ihnen widerfahren war, zu spät zum Schluss gekommen, wenn schon das eigene Volk wegziehe, soll man das selbst auch tun. Denn das rumänische Militär, die Offiziere, hatten sich den alten Lienert-Batschu vorgenommen und schwer verhört. Überall, wo man Feinde vermutete, überall wo es dunkle Räume gab, schickte man ihn zur Sicherheit voraus. Hinten kam immer der Soldat mit angeschlagener Waffe.“62 Nach dem Großen Krieg veränderte sich auch in Zied alles. Neue Großmächte betraten die Weltbühne, neue politische Grenzen wurden gezogen. All das betraf auch die Siebenbürger Sachsen. Am 1. Dezember 1918 fand in Karlsburg (Alba Iulia, Gyulafehervár) eine Volksversammlung der Rumänen Siebenbürgens statt. In den daraus hervorgegangenen „Karlsburger Beschlüssen“ sprachen sich die siebenbürgischen Rumänen für einen Anschluss Siebenbürgens an das rumänische Königreich aus. Im Jahre darauf (1919) entschieden sich die Volksversammlungen der Siebenbürger Sachsen und der Banater Schwaben desgleichen für den Anschluss an Rumänien, zumal in den Karlsburger Beschlüssen den Magyaren, den Siebenbürger Sachsen und den Banater Schwaben weitgehende Gleichberechtigung zugesichert worden war63. Am 4. Juni 1920 wurde im Pariser Vorort Versailles, im Schloss Trianon, der Friedensvertrag unterschrieben, mit dem Ungarn zur Abgabe von zwei Dritteln seines Staatsgebietes verpflichtet wurde. Siebenbürgen und auch andere Landesteile der ehemaligen Donaumonarchie wurden an den neuen Nationalstaat Rumänien angeschlossen, wodurch die Zieder zu rumänischen Staatsbürgern wurden. Das ländliche Leben im Dorf ging mit einigem Auf und Ab noch zwei Jahrzehnte lang friedlich weiter.
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Privatarchiv Albert Arz, Gummersbach. Die Karlsburger Beschlüsse der rumänischen Nationalversammlung v. 18.11.1918. In: Quellen zur Geschichte der Siebenbürger Sachsen 1191–1975. Hg. Ernst W a g n e r . Köln, Wien 1976 (Schriften zur Landeskunde Siebenbürgens 1), S. 264–266. 63
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Abb. 1. Postkarte von Zied, 1916. Lichtdruck.
Abb. 2. Die Brüder Rothmann auf Fronturlaub in Zied: links Johann (1888–1921) und rechts Wilhelm (1896–1931) mit ihrer Schwester Maria (1893–1978). Fotografie, 1914.
Abb. 3. Soldaten an der Front: Michael Miess (1886–1966), links außen, und Georg Schneider (1887–1914), rechts außen. Fotografie, 1914.
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Abb. 4. Soldat Wilhelm Heltsch (1890–1915). Fotografie, 1914/15.
Abb. 6. Gedenktafel in der evangelischen Kirche in Zied. Holz/Ölmalerei, 1925.
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Abb. 5. Maria Ehrlich (1880–1952) mit ihren Kindern: Johann (1904–1927), Maria (1909– 1920), Michael (1901–1922) und Wilhelm (1906–1965). Die Aufnahme wurde 1915 für den Vater an der Front gemacht.
ZWISCHEN IDYLLE, ABENTEUER, S O L I D A R I T ÄT, S O R G E U N D F U R C H T. Heltauer Flucht- und Besatzungserfahrungen 1916 Frank M. S c h u s t e r Das Bild vom Ersten Weltkrieg, das man hundert Jahre nach seinem Beginn meist im Kopf hat, hat etwas Statisches, denn es ist geprägt vom Stellungskrieg der Westfront, von Schützengräben in Schlamm und Regen und dem stundenlangen Trommelfeuer der Artillerie. Die monatelangen Materialschlachten führten dabei selten zu mehr als einer Verschiebung der Front um wenige Meter. Was sich aber kaum jemand bewusst macht, ist, dass der Krieg in den Kriegsgebieten des östlichen Europa meist ganz anders aussah, denn hier war er noch in Bewegung. Dieser Bewegungskrieg, der auf allen Seiten die Vorstellung der Militärstrategen, der Presse und der Öffentlichkeit von einem richtigen Krieg prägte, war für die betroffene Bevölkerung vor allem durch die konkrete Erfahrung von Evakuierung, Flucht, Vertreibung oder Deportation geprägt1. Zu den ersten, die dies alles erleben muss1 Über die Kriegserfahrungen von Flüchtlingen im Nordosten der Habsburger Monarchie schreibt der Wiener Historiker Walter Mentzel beispielsweise: „So konnte man aus Ostgalizien durch die russische Besatzung oder durch die Kriegseinwirkungen vertrieben worden sein und wenige Tage später aus dem Zufluchtsort in einer der Städte Galiziens von der k. u. k. Armee evakuiert werden. Ebenso konnte man auf der Flucht aus dem unmittelbaren Kriegsgebiet von Angehörigen der eigenen Armee inhaftiert und als Spionageverdächtiger im Hinterland interniert werden, und von dort, nachdem sich die Verdachtsmomente als unbegründet herausstellten, als ‚Flüchtlinge‘ in ein Lager abgeschoben werden. Man konnte einer ‚strategischen‘ Evakuierung im Rahmen der ‚Politik der verbrannten Erde‘, um der heranrückenden russischen Armee keine Arbeitskräfte zu hinterlassen, in das Etappengebiet evakuiert werden, von dort aufgrund der sanitären Gefährdung für die Armee oder wegen der Überlastung der Gemeinden und Approvisionierungsschwierigkeiten im Etappengebiet in das Hinterland abgeschoben werden, um dort als ‚Flüchtling‘ denunziert zu werden.“ Siehe Walter M e n t z e l : Kriegsflüchtlinge in Cisleithanien im Ersten Weltkrieg. Wien (unveröffentlichte Dissertation) 1997, S. 11. Siehe auch d e r s .: Kriegserfahrungen von Flüchtlingen im Nordosten der Monarchie während des Ersten Weltkrieges. In: Jenseits des Schützengrabens. Der Erste Weltkrieg im Osten: Erfahrung, Wahrnehmung, Kontext. Hgg. Bernhard B a c h i n g e r , Wolfram D o r n i k . Innsbruck 2013, S. 359–390, hier 391, sowie d e r s .: Kriegsflüchtlin-
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ten, gehörte die jüdische Bevölkerung2 Galiziens3, um nur ein Beispiel anzuführen. Sie sollte aber nicht die einzige bleiben4. Im Zuge der „Politik der verbrannten Erde“ während des russischen Rückzugs vor ge in Cisleithanien 1914–1918. In: Asylland wider Willen. Hgg. Gernot H e i s s , Oliver R o t h k o l b . Wien 1995, S. 17–44. 2 Zu den osteuropäischen Juden während des Krieges siehe allgemein: Frank M. S c h u s t e r : Zwischen allen Fronten. Lebenswelten osteuropäischer Juden während des Ersten Weltkriegs 1914 bis 1919. Köln, Weimar, Wien 2004 (Lebenswelten osteuropäischer Juden 9); d e r s .: „Was hat der Krieg zwischen Zar und Kaiser mit uns zu tun?“ Osteuropäische Juden während des Ersten Weltkriegs. In: Besetzt, interniert, deportiert. Der Erste Weltkrieg und die deutsche, jüdische, polnische und ukrainische Zivilbevölkerung im östlichen Europa. Hgg. Alfred E i s f e l d , Guido H a u s m a n n , Dietmar N e u t a t z . Essen 2013, S. 57–86. 3 Die galizischen Juden sahen in der herannahenden russischen Armee 1914 eine Gefahr für Leib und Leben und flohen mit der sich zurückziehenden k. u. k. Armee ins Landesinnere. Die russische Armeeführung wiederum sah dadurch ihre antisemitischen Vorurteile, ihre Vorbehalte und ihr Misstrauen gegenüber Juden im Allgemeinen bestätigt, zumal diese verständlicherweise alles andere als enthusiastisch auf die Besetzung Ostgaliziens durch die russische Armee reagierten. Man versuchte sie also loszuwerden und aus den eroberten Gebieten zu vertreiben oder zu deportieren. Vgl. S c h u s t e r : Fronten, S. 122–160, S. 239–249; d e r s .: „Wenn der Zar gegen den Kaiser Krieg führt, was hat das mit uns zu tun?!“ Vertreibung und Exil der osteuropäischen Juden während des Ersten Weltkriegs in autobiographischer Literatur. Überlegungen zu Geschichte und Erinnerung im jüdischen Kontext. Flucht und Vertreibung in der deutschen Literatur. Beiträge. Hg. Sascha F e u c h e r t . Frankfurt/M., Wien, New York 2001, S. 117–140; d e r s .: „… wie ein Blitz aus heiterem Himmel“. Der Erste Weltkrieg in Galizien und der Bukowina aus jüdischer Sicht. In: Transversal. Zeitschrift des Zentrums für jüdische Studien 9 (2008), S. 33–58; Beatrix H o f f m a n n - H o l t e r : „Abreisendmachung“. Jüdische Kriegsflüchtlinge in Wien 1914 bis 1923. Köln, Weimar, Wien 1995; d i e s .: Jüdische Kriegsflüchtlinge in Wien. In: Asylland wider Willen, S. 45–59; David R e c h t e r : Galicia in Vienna. Jewish Refugees in the First World War. In: Austrian History Yearbook 28 (1997), S. 113–130; d e r s .: The Jews of Vienna and the First World War. Oxford 2000; Marsha L. R o z e n b l i t : Reconstructing a National Identity. The Jews of Habsburg Austria during World War I. Oxford u. a. 2001. 4 Das in Galizien erprobte Vorgehen übertrug man schon kurz darauf 1914/15 auch auf die jüdische Bevölkerung in Russland selbst und auf andere ethnische Gruppen, die man der Kollaboration mit dem Feind verdächtigte, wie die verschiedenen russlanddeutschen Bevölkerungsgruppen. Vgl. Eric L o h r : The Russian Army and the Jews. Mass Deportation, Hostages, and Violence during World War I. In: The Russian Review 60 (2001), S. 404–419; S c h u s t e r : Fronten, S. 161–233; Semion G o l d i n : Deportation of Jews by the Russian Military Command 1914–1915. In: Jews in Eastern Europe (Spring 2000), S. 40–73; d e r s .: Russkoe komandovanie i Evrei vo vremja pervoj mirovoj vojny: Pričiny formirovanija negativnogo stereotipa [Das russische Oberkommando und die Juden: Entstehungsgründe eines negativen Stereotyps]. In: Mirovoj krizis 1914–1920 godov i sud’ba vostočnoevropejskogo evrejstva / The World Crisis of 1914–1920 and the Fate of the East European Jewry. History and Culture of Russian and East European Jewry: New Sources, New Approaches. Proceedings of the International Conference. St. Petersburg, November 7–9, 2004. Hgg. O. V. B u d n i c k i j , O. V. B e l o v , V. E. K e ľ n e r i , V. V. M o č a l o v . Moskva/Moscow 2005, S. 29–46; Eric L o h r : Nationalizing
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den Mittelmächten 1915 wurde beispielsweise die Evakuierungs- und Vertreibungsstrategie auf alle „fremden“, das heißt nichtrussischen Ethnien ausgeweitet, so dass sich schließlich seit Ende 1915 nicht nur im übertragenen Sinne das gesamte russische Reich in Bewegung befand5. Wenn im Westen der Grabenkrieg das Charakteristische für den Ersten Weltkrieg war, so waren es im Osten die Flüchtlingsströme. Flucht ist gleichbedeutend mit Heimatverlust, und jenem folgt das Leben in der Fremde ohne die Gewissheit, ob man jemals werde zurückkehren können. Daher war die Fluchterfahrung für die meisten Menschen prägender als das Erlebnis der Besatzung und Fremdherrschaft für die Zurückgebliebenen. Obwohl die rumänische Besetzung Siebenbürgens6 nicht von Dauer war und die meisten Geflüchteten bereits nach wenigen Wochen wieder zurückkehrten konnten7, blieb die Flucht- bzw. die Besatzungserfahrung für viele Siebenbürger Sachsen eines der zentralen Ereignisse ihres Lebens. Sie schrieben das, was sie erlebten oder erlebt hatten, vielfach auf, veröffentlichten die Aufzeichnungen zum Teil sogar noch während des Krieges8 und berichteten ihren Kindern auch später noch immer wieder davon9. Im Gegensatz dazu war diese Episode nach 1918 weder für eine breitere Öffentlichkeit noch für Historiker von the Russian Empire. The Campaign against Enemy Aliens during World War I. Cambridge/MA, London 2003. 5 Vgl. Peter G a t r e l l : A Whole Empire Walking. Refugees in Russia during World War I. Bloomington/IN 1999. 6 Zum rumänischen Vormarsch nach Siebenbürgen und dessen Rückeroberung durch die Mittelmächte siehe: Österreich-Ungarns letzter Krieg, 1914–1918. Hgg. Österreichisches Bundesministerium für Heerwesen / Kriegsarchiv Wien. Bd. V, Wien 1934, S. 223–358. 7 An die schnelle Rückeroberung Siebenbürgens durch die Mittelmächte schloss sich die Eroberung und Besetzung fast ganz Rumäniens an. Vgl. dazu v. a. Lisa M a y e r h o f e r : Zwischen Freund und Feind. Deutsche Besatzung in Rumänien 1916–1918. München 2010; Harald H e p p n e r : Im Schatten des „großen Bruders“. Österreich-Ungarn als Besatzungsmacht in Rumänien 1916–1918. In: Österreichische Militärische Zeitung 45 (2007), S. 317–322; Tamara S c h e e r : Zwischen Front und Heimat: Österreich-Ungarns Militärverwaltungen im Ersten Weltkrieg, Frankfurt/M.u. a. 2009; Norman S t o n e : The Eastern Front 1914–1917. London, New York u. a. 1998, S. 264–281. 8 Vgl. bspw. Aus der Rumänenzeit. Ein Gedenkbuch an sturmbewegte Tage. Zugunsten der siebenbürgisch-sächsischen Kriegswitwen und -waisen Hg. Emil S i g e r i u s . Hermannstadt 1917; Tiborr J. R e j ö d : Das blutige Schwert über unserer Stadt. Tagebuchaufzeichnungen vom 28. August bis 1. Oktober 1916. Hermannstadt 1916. 9 Dass das Interesse an dem Thema innerhalb des kommunikativen Gedächtnisses der Familien nie ganz erloschen ist, erkennt man auch in den jüngst vereinzelt erschienenen Publikationen zum Thema Carl R e i c h : „Wie der Krieg auch zu uns kam. Tagebuch 1916. Kerzer Chronik, Schriften, Briefe. Hg. Friedrich S c h u s t e r . Hermannstadt/Sibiu 2011; oder Erich S i m o n i s : Weihnachten 1916 – wieder daheim. In: Siebenbürgische
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Bedeutung, da sie angesichts des Herrschaftswechsels in Siebenbürgen einer „damnatio memorii“ anheim fiel und ihrer zumindest im Rahmen des kulturellen Gedächtnisses nicht mehr gedacht wurde. Dabei bieten die damaligen Veröffentlichungen und die Aufzeichnungen, die oft in den Familien von Generation zu Generation weitergegeben wurden und sich so erhalten haben, eine interessante Quelle zur Kriegs-, Besatzungs- und vor allem zur Fluchterfahrung. Wie während des Ersten Weltkriegs die Flucht von den Betroffenen selbst erlebt wurde, ist trotz der Aufmerksamkeit, die das Thema in jüngster Zeit erhielt, bisher kaum untersucht worden. Da dies für die Flucht der Siebenbürger erst recht gilt10, möge im Folgenden, gestützt auf verschiedene Selbstzeugnisse, ein Einblick gegeben werden, wie Flucht bzw. die Besatzungszeit siebenbürgisch-sächsischer Bewohner einer einzigen Gemeinde erlebt wurden11. Zeitung, Folge 20 v. 20.12.2006, S. 5, unter http://www.siebenbuerger.de/zeitung/artikel/ drucken/index.php?id=5996 (19.10.2014). 10 Die Ausnahme bilden bisher die von Oral History ausgehenden Forschungen der Budapester Ethnologin und Anthropologin Emese G y ö n g y v é r V e r e s , deren Monographie zum Thema aber leider nur auf Ungarisch erschienen ist. Siehe d i e s .: „Mikor Oláhország háborút izene …“ A barcasági csángók kálváriája [„Als Rumänien den Krieg erklärte …“ Die Leidensgeschichte der Burzenländer Tschangos]. Budapest 2008, rezensiert von Enikő D á c z in: Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 19 (2011), S. 421, unter http://recensio. net/r/96a7729401195678b85391db703aead1 (3.10.2014). 11 Die Entscheidung für Heltau fiel v. a. aus pragmatischen Gründen, denn außer einem bereits 1917 veröffentlichten Bericht über die Besatzungszeit in Heltau von dem 66-jährigen Heltauer „Gemeindenotär“ Michael P e t r i liegen mir auch zwei auf der Flucht verfasste Tagebücher und ein kurz nach der Rückkehr nach Heltau verfasster Schulaufsatz im Original oder als wortgetreue Abschrift vor. Alle befinden sich im Privatbesitz der Nachkommen der Verfasserinnen, denen ich herzlich dafür danke, dass sie sie mir zur Verfügung stellten. Das erste Tagebuch wurde von der damals 17-jährigen Mathilde F l e i s c h e r verfasst und umfasst den Zeitraum vom 28.8. bis 4.11. 1916. Dieser Untersuchung liegt ein 11 ½ Seiten umfassendes Typoskript zugrunde, das seinerseits eine buchstabengetreue Abschrift des handschriftlich mit Bleistift in Sütterlin geschriebenen Originaltagebuchs von 1916 ist. Das zweite Tagebuch wurde von der 28-jährigen Katharina P e t r i per Hand in Sütterlin in ein kleinformatiges Rechenheft etwa im Sedezformat geschrieben. Dabei umfasst das Tagebuch selbst nur die ersten 32 von insgesamt 48 Seiten. Später wurde es als Haushaltsbuch weiterverwendet und auch einmal einem Kleinkind zum Zeichnen gegeben. Das Tagebuch beschreibt nur die Flucht vom 29.8. bis 23.9.1916 nach Ungarn und bricht dann ab. Ein längerer Aufenthalt dort und die Rückkehr nach Heltau werden nicht mehr beschrieben. Der am 20.11.1916 geschriebene Schulaufsatz mit dem Titel „Was ich auf der Flucht erlebt habe“ beschreibt die Zeit vom 28.8. bis zur Rückkehr von der Flucht nach Heltau Ende Oktober 1916. Er stammt von der damals 14-jährigen, die 8. Klasse der Heltauer Volksschule besuchenden Hilda G ü n d i s c h und ist in einer sehr gleichmäßigen, klaren und sehr gut lesbaren Sütterlinschrift geschrieben, obwohl die Verfasserin von ihrem Lehrer hierfür nur die
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Heltau (Cisnădie, Nagydisznód)12 gehörte zu jenen Orten, die von der aus den Karpaten über Boița (Bojca )13 und Talmesch (Tălmaciu, Nagytalmács)14 auf Hermannstadt (Sibiu, Nagyszeben)15 vorstoßenden rumänischen Armee besetzt wurden. Es war, wie es 1902 in einer Beschreibung Siebenbürgens hieß, „eine der wenigen Ortschaften mit fast reindeutscher Bevölkerung“.16 Die siebenbürgisch-sächsischen Hausvorstände in dieser vom Textilgewerbe geprägten Ackerbürgergemeinde17 waren überwiegend Kaufleute, Wollweber, Landwirte, Haus- und Grundbesitzer in einer Person18. Deren Familien waren nicht nur wirtschaftlich durch Betriebe, Zünfte und Genossenschaften, sondern auch sozial durch mehr oder minder enge verwandtschaftliche Beziehungen, Vereine und Nachbarschaftsverbände verbunden. Note 3 erhielt. Der Aufsatz umfasst 23 ursprünglich unpaginierte Seiten eines linierten Heftes mit Korrekturrand auf beiden Seiten etwa im Oktavformat, das den handschriftlichen Titel trägt: „Aufsatzheft Hilda Gündisch“. In allen Zitaten aus den genannten Texten werden durchweg die Orthographie, Zeichensetzung und grammatikalische bzw. stilistische Besonderheiten des jeweiligen Originals beibehalten, ohne dass darauf im Einzelnen nochmals hingewiesen wird. 12 Heltau liegt am Rand der Südkarpaten ca. 10 km südlich von Hermannstadt. Gegründet wurde es nach 1241 und der Vernichtung des Vorgängerortes durch die Mongolen, von vermutlich aus Flandern, Wallonien oder dem Trierer Raum eingewanderten Siedlern. Die meisten der deutschsprachigen Heltauer Familien können ihren Stammbaum bis ins 14. oder 15. Jahrhundert zurückführen. Dadurch sind alle mehr oder minder eng miteinander verwandt oder verschwägert, was auch daran deutlich wird, dass ein gutes halbes Dutzend Familiennamen im Ort vorherrscht. 13 Boița, ein von Rumänen bewohnter Ort am Eingang zum Rotenturm-Pass, liegt etwa 22 km südlich von Hermannstadt und 3 km südlich von Talmesch. 14 Talmesch, Anfang September 1916 umkämpfte Gemeinde am Rand der Südkarpaten, ca. 20 km südöstlich von Hermannstadt. 15 Hermannstadt, wichtigste Stadt in Südsiebenbürgen mit 1910 ca. 30.000 Einwohnern, von denen sich 1916 nur noch ca. 6.900 in der Stadt befanden, da die übrigen auf der Flucht waren. 16 Siebenbürgen in Wort und Bild. Vollständiger Nachdruck von „Die österreichischungarische Monarchie in Wort und Bild“, Bd. 23 (Ungarn, Bd. 6, Wien 1902) Köln, Weimar, Wien 2004 (Schriften zur Landeskunde Siebenbürgens; 28), S. 448. Laut der Volkszählung von 1910 lebten in der Gemeinde insgesamt 3.064 Menschen, davon 2.204 Siebenbürger Sachsen, 673 Rumänen, 152 Magyaren und nur 35 andere. 17 „‚Stadt‘ nennt der ‚Fremde‘ den Ort, wenn er die langen, geschlossenen Straßenzüge, mit seinen breitfrontigen, meist stöckigen Häusern sieht. Und fast jeder Ankömmling meint, er habe es mit einer werdenden Stadt zu tun. ‚Gemeinde‘ nennt der Heltauer den Ort.“ Hermann R e h n e r : Landschaft und Menschen. In: Heltau. Monographie hg. anlässlich des siebenbürgisch-sächsischen Lehrertages 1931. Nachdruck der 2. Aufl. Heltau 1944, o. O. 1983, S. 160–162, hier 160. 18 „Ist der Heltauer Kaufmann, Wollenweber oder Landwirt?“, fragte sich der spätere Heltauer Schulrektor Hermann Rehner daher auch in der ersten Monographie zu Heltau, um dann zu antworten: „Er ist alles und ist es immer gewesen […].“ R e h n e r : Landschaft, S. 161.
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Darüber hinaus sorgte noch die von einem gewählten Ortsausschuss geleitete Ortsgemeinde für einen engen Zusammenhalt, an deren Spitze ein Richter, der Oberstuhlrichter, dem meist zugleich die Aufgaben des Bürgermeisters zufielen19, und ein für die Stadtverwaltung zuständiger Gemeindenotar (der „Obernotär“)20, standen, und vor allem durch die evangelische Kirchengemeinde und deren Pfarrer21. Bei Kriegsbeginn waren 1914 Vertreter der Heltauer Wollweber nach Wien gereist und hatten dort das Recht erwirkt, für die k. u. k. Armee Decken und später auch Fußlappen zu produzieren, so dass es der Gemeinde bis Sommer 1916 ziemlich gut ging. Zunehmend mussten auch immer mehr Frauen, Jugendliche und Alte in der Produktion arbeiten, um die Aufträge zu erfüllen, zumal etliche junge und jüngere Männer zur Armee eingezogen waren22. Durch die Arbeitsaufträge in der Kriegsproduktion fühlte man sich wirtschaftlich abgesichert und vom fernen Krieg keineswegs bedroht. Das Leben unterschied sich zumindest bis zum 28. August 1916 nicht sehr von dem vorausgegangener Jahre. Erst das, was dann geschah, war es wert, festgehalten zu werden. Daher beginnt die 17-jährige Mathilde Fleischer23 ihr Tagebuch mit diesem Datum: „Am 28. August kam meine Schwester Julitz in den Garten wo wir den Sommer über gewohnt hatten, und brachte uns die Nachricht, daß Romänien uns den Krieg erklärt hatte. Wir zogen auch schon am selben Tage, es war Montag, Nachmittag 3 Uhr nach Hause, den man sprach schon davon, die Romänen seien durch den Roten Turmpaß eingedrungen und es würde bei Talmesch gekämpft, man hörte auch den Kanonendonner welcher von der Landeskrone herrührte.“24 19 Heltauer Ortsvorstand und Oberstuhlrichter war 1915–1919 der Wollweber Georg Herbert (4.8.1874–19.2.1919). 20 Heltauer Obernotär war 1876–1920 der Wollweber Michael Petri (29.1.1850–6.9. 1934). 21 1901–1917 stand als Pfarrer Dr. Richard Schuller (7.2.1860–12.6.1932) der Gemeinde vor. Er war Altphilologe und Theologe, Gymnasiallehrer in Schäßburg (Sighișoara, Segesvár), dann Pfarrer in Heltau und anschließend ein Jahrzehnt lang Stadtpfarrer in Sächsisch Regen (Reghinul Săsesc, Szászrégen). 22 R e h n e r : Nachwort [zur 2. Aufl.]. In: d e r s .: Heltau, S. 163–171, hier 164. 23 Mathilde Fleischer, gen. Tildi (8.6.1899–15.4.1968), sollte am 27.8.1921 in Heltau Michael Zerbes (14.9.1895–27.11.1969), einen typischen Heltauer Ackerbürger heiraten. Soweit mir bekannt ist, hat sie weder vor ihrer Flucht noch danach Tagebuch geführt. 24 Mathilde F l e i s c h e r : Tagebuch der Mathilde Fleischer [Montag, 28. August, bis Samstag, 4. November 1916]. Julie Maria F l e i s c h e r (22.8.1896–8.2.1980, genannt „Julitz“, war die älteste Schwester Mathildes. Diese verwendete im Tagebuch fast durchgehend die von der rumänischen Form des Landesnamens – România – beinflusste, im lokalen siebenbürgisch-sächsischen Dialekt sehr verbreitete Schreibweise „Romänen“ bzw. „Romänien“. Die Landeskrone ist eine mittelalterliche Burgruine oberhalb von Talmesch.
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Mit der Kriegserklärung Rumäniens wurde der Krieg schlagartig zur bestürzenden Realität, ohne dass man so genau wusste, was er zu bedeuten hätte, denn er traf alle völlig unvorbereitet25. Dies sollte, so der „Gemeinde-Obernotär“ Michael Petri, allerdings nicht so bleiben, denn in Heltau „wurden sofort Vorkehrungen getroffen für die Flucht der Bevölkerung und die Sicherheit des Herdenviehes, […] und dann ging es an die Arbeit zur Sicherung der Wertpapiere und sonstiger Werte. […] Die Wertpapiere der politischen, der ev[angelischen] Kirchengemeinde und des Vorschuß- und Sparvereines wurden zusammengetragen, die erforderlichen Konsignationen angefertigt und [dann] konnte der Kassierer und Schriftführer des Vereins mit der auch an Gewicht nicht leichten Bürde am 29. August auf die Flucht sich begeben. Zeit für sie und andere zu derlei Aufgaben verpflichteten, sich um die Familien zu kümmern oder an sich selbst zu denken blieb keine übrig.“26 Der Vorstoß rumänischer Truppen über die Südkarpaten, über den Rotenturm-Pass und den Predeal-Pass, nach Siebenbürgen und die für diesen Fall vorgesehene Evakuierung der Verwaltung ins Landesinnere27 löste schon kurz nach Rumäniens Kriegserklärung an Österreich-Ungarn am 28. August 1916 unter der siebenbürgischen 25 „Man kann sich vorstellen wie groß unsere Bestürzung war, als wir am 28. August […] die Kunde von der Kriegserklärung Rumäniens an Österreich-Ungarn vernehmen mußten. Vorbereitungen auf diesen Fall waren keine getroffen, unsere Werte und Wertpapiere lagen ruhig in den Schränken, unser Vieh stand noch auf der Gebirgsweide und von der Flucht hatte die Bevölkerung keine Ahnung.“ Michael P e t r i : Heltau während dem rumänischen Einbruch. In: S i g e r u s : Rumänenzeit, S. 179–200, hier 179. 26 Michael P e t r i : Heltau, S. 180. Unter „Konsignationen“ sind hier Anweisungen oder Dokumente zu verstehen. 27 Der österreichische „Orientierungsbehelf über Ausnahmsverfügungen“ für den Kriegsfall von 1912 (auch bekannt als Dienstbuch J-25 a) sah die Übertragung der Befugnisse der politischen Verwaltung im Kriegsgebiet an die militärischen Befehlshaber vor (§ 3) und erlaubte den dort agierenden militärischen Einheiten alle Maßnahmen, „die bei einer Bedrohung […] durch den Feind […] notwendig werden können“ (§ 14) (vgl. Orientierungsbehelf über Ausnahmsverfügungen für den Kriegsfall auf Grund des Gesetzesartikels LXIII vom Jahre 1912. Wien 1913; siehe auch: Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA, Kriegsarchiv (KA), Mil. Impressen, Kt. 493: Orientierungsbehelf über Ausnahmsverfügungen für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder. Ausgabe A (für Zentralstellen), J-25 a. Wien 1912). In der ungarischen Reichshälfte dagegen behielten die Zivilbehörden die Entscheidungsgewalt vor Ort, es trat aber ebenfalls eine Ausnahmegesetzgebung in Kraft, die die üblichen Rechte und Befugnisse der Zivilbevölkerung drastisch einschränkte (vgl. v. a. Orientierungsbehelf J-25 b, Ausnahmsverfügungen für Ungarn, Entwurf (mit Zustimmung der k. u. k. Ministerien und des Banus für Kroatien-Slawonien-Dalmatien verfasst). Wien [o. J., 1912] [ÖStA, Bibliothek, III 47833]. Eine Zusammenstellung der Ausnahmegesetze für Ungarn findet sich auch bei József G a l á n t a i : Hungary in the First World War. Budapest 1989, S. 78f.)
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Zivilbevölkerung Verunsicherung, Angst und schließlich – auch in Heltau – eine Fluchtwelle aus. Mathilde Fleischer stellte am Montag, dem 28. August, fest: „Die Leute waren alle wie verrückt. Sie liefen alle zum Oberstuhlrichter und ließen sich Legitimationen machen und sprachen überall vom Flüchten. Aber wir wollten davon nichts wissen denn der Obernotär riet den Leuten ab zu flüchten. Meine Mutter ging den auch zum Oberstuhlrichter, ließ für uns u[nd] Willonkels Kinder Legitimationen[28] machen, u[nd] wollte sich ein wenig richten[29].“30 Die herrschende Verunsicherung wird auch noch im Nachhinein deutlich, denn die damals 13-jährige Hilda Gündisch31 schrieb später in einem Schulaufsatz über ihre Erlebnisse auf der Flucht über die Kriegserklärung Rumäniens: „Unser Siebenbürger Sachsenland geriet dadurch in große Gefahr, denn der Ausbruch des Krieges war für unsere Grenztruppen eine große Überraschung. Dadurch gelang es dem Feind ohne Kampf vorzudringen. Dienstag [den 29. August] in der Früh waren die schon in Zoodt. Nun was tun? In einer Stunde konnten sie schon in Heltau sein. Wir mussten leider auch ans Flüchten Für Hinweise zu den Ausnahmeverfügungen danke ich Tamara Scheer aus Wien und Wolfram Dornik aus Feldbach. 28 Hier: Reisedokumente. 29 Hier: herrichten, in Ordnung bringen. 30 F l e i s c h e r : Tagebuch. Mathildes Mutter, die damals 41-jährige Julianne Fleischer, geb. Billes (19.12.1874–8.10.1934) war 1916 bereits seit Jahren Witwe, denn ihr Mann, der Landwirt und Wollweber Peter Fleischer geb. am 25. Juli 1870, war bereits am 16. November 1908 vermutlich an Tuberkulose gestorben. Sie hatten insgesamt sechs Kinder: die bereits erwähnte Julie Maria (genannt „Julitz), Emma (25.11.1897–22.7.1988, genannt „Emmi“); Mathilde (8.6.1899–15.4.1968, die Verfasserin des Tagebuchs), Peter Karl (28.1.1904–19.5.1976, genannt „Pitz“) und Friedrich (23.7.1908–11.12.1990, genannt „Fritz“). Das sechste Kind, der erste Sohn, Peter Fleischer, wurde nur ein Jahr alt, denn er wurde am 3.4.1902 in Heltau geboren und starb schon am 29.8.1903. Ihr hier genannter Onkel, der Wollweber Wilhelm Herbert (3.5.1871–13.10.1936, war der Mann der am 2.10.1877 geborenen und dort bereits am 29.7.1914 verstorbenen Hermine Fleischer, der jüngsten Schwester von Mathildes Vater Peter Fleischer. Wilhelm und Hermine Herbert hatten insgesamt acht Kinder, von denen die drei ältesten Söhne damals nicht in Heltau waren: Wilhelm (3.9.1896–28.11.1958) war beim österreichischen Militär. Auch sein jüngerer Bruder Julius, geb. am 24.2.1898, war österreichischer Soldat und fiel am 13.7.1917 in Galizien. Von Hermann (6.9.1899–29.3.1967) wird noch die Rede sein. So begaben sich nur die jüngeren Geschwister, die fünf Schwestern, mit Vater und Tante auf die Flucht: Hermine (21.8.1901–26.4.1970, genannt „Minnchen“), Maria (1.8. 1903–15.6.1980, genannt „Mitzi“), Friederike (20.5.1905–20.1.2000, genannt „Ricki“), Emma (31.3.1908–25.11.1964) und die damals erst zweijährige Gerda (2.4.1914–6.4.2007). 31 Hilda Gündisch (23.9.1902–5.12.1981) war die Tochter von Georg (12.3.1866– 16.5.1964) und Anna Gündisch (19.9.1873–1956), geb. Billes. Die beiden hatten damals insgesamt vier Kinder: Anna Mathilda (12.3. 1894–2.7.1941), Elfriede Sofia (28.11.1895– 14.12.1987), Maria (19.11.1897–30.6.1940) und schließlich Hilda. Das jüngste Kind, der einzige Sohn, Georg (2.3.1918–1.12.2000), war damals noch nicht geboren.
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denken. Zuerst richteten nur wir Geschwister uns zur Reise, packten nur das Notwendigste zusammen, weil man auf der Bahn nicht zu viel Gepäck mitnehmen durfte. Dann kam es aber anders. Es fuhr ein Wagen nach dem andern aus der Gemeinde. Eisenbahnzüge waren schon überfüllt mit Flüchtlingen. Nach langem Zögern entschlossen wir uns dann auch alle mit dem Wagen zu ziehen. In der großen Aufregung konnten wir gar nicht überlegen, was noch mitzunehmen sei, brachten auf den Ochsenwagen nur das Wenige, was wir im Eisenbahnwagen leicht hätten mitnehmen können, spannten die Ochsen ein und banden eine Kuh an den Wagen, damit wir auch auf der Flucht die im Haus fast unentbehrliche Milch nicht vermissen und fuhren fort, ohne zu wissen wohin.“32 Sie schlossen sich einer spontan entstandenen Kolonne aus sieben Wagen an, zu der auch die Ochsenwagen der Familie Fleischer gehörten, die sich doch zur Flucht entschlossen hatten, denn, so Mathilde, „es hieß die Romänen seien auch über die Präschba nach Riusadt eingedrungen u[nd] auf dem Weg nach Heltau“33. Man fuhr über Hermannstadt nach Kleinscheuern (Şura Mică, Kiscsűr)34. Dies war aber nicht der einzige Fluchtweg, denn im Tagebuch der 29-jährigen Katharina Petri35 heißt es weit weniger aufgeregt: „Dienstag den 29/8 1916 machten wir uns auf den Weg unserer Heimat zu verlassen und fuhren mit dem Wagen und einigen Verwandten bis nach Orlat. Hier machten wir eine kleine Rast und fuhren nachher bis nach Hamlesch. In Hamlesch wurden wir freundlich aufgenommen. Diese Leute waren aber auch sehr vorbereitet fertig gerüstet. Trotzdem baten sie uns, solange sie ruhig bleiben könnten, sollten auch wir bei ihnen bleiben. Wir erhielten nun von ihnen eine Schale Milch und weiches Brot und legten uns dann schlafen. Wir hatten noch nicht 5 Min[uten] geschlafen, als uns die Trommel zusammenrief und uns mitteilte, daß auch hier Gefahr
32 Hilda G ü n d i s c h : Was ich auf der Flucht erlebt habe [Schulaufsatz], n. p. [S. 1–4]. Zoodt (ung. Cód, rum. Sad oder Sadu) ist eine an die Gemeinde Heltau angrenzende, schon damals überwiegend rumänische Gemeinde. Wie im Weiteren aus ihrem Aufsatz hervorgeht, floh nur die Mutter mit den Kindern sowie mit ihrer Schwester, Hildas Tante, Maria Mesch, geb. Billes (12.4.1878–24.1.1968). Weder deren Mann Gustav Mesch (19.1.1867–11.5.1942) noch Hildas Vater Georg Gündisch waren mit auf der Flucht. 33 F l e i s c h e r : Tagebuch, n. p. Die Präschba (Prejba) ist eine Bergspitze im Lotrugebirge der Südkarpaten; Riusadt (Râu Sadului) ist ein aus vier Weilern bestehendes, sich auf eine Länge von ca. 4 km erstreckendes Hirtendorf im Zoodttal (Valea Sadului) etwa 20 km westlich von Talmesch. 34 Kleinscheuern, sächsische Gemeinde, ca. 11 km nordwestlich von Hermannstadt. 35 Katharina Petri, geb. Bonfert (30.6.1888–25.9.1961), seit dem 18.10.1905 mit dem Wollweber und Landwirt Georg Petri (4.5.1879–31.3.1935) verheiratet.
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drohte, und machten wir uns auch gleich wieder auf den Weg und fuhren die ganze Nacht mitsamt dieser ganzen Gemeinde weiter.“36 Ähnlich erging es auch den Flüchtenden in Kleinscheuern, wo „die ganz Kolonne im Schulsaal auf Stroh“37 übernachtete. „Es war aber eine schlaflose Nacht, denn fortwährend zog Militär durchs Dorf.“38 Auch hier mussten sie vor Tagesanbruch weiterziehen. „Wir kleideten uns rasch an, fütterten das Vieh, molken die Kuh und tranken unsere Milch, um drei Uhr fuhren wir weiter. Während wir fuhren, hörten wir Kanonendonner und sahen Luftschiffe über Hermannstadt (Nagyszeben) kreisen. Wir dachten an die Daheimgebliebenen, an meine lieben Großmütter, dachten an die Felder, wo noch vieles, Mais, Kartoffeln, Rüben und s[o] w[eiter] der Ernte wartete, und an die, nach der reichen Ernte zum Teil noch mit Getreide gefüllten Scheunen.“39 „Die Nacht zum 30. August hielten die meisten Zurückgebliebenen Wache“, berichtete der zusammen mit Oberstuhlrichter Georg Herbert und einigen weiteren Heltauer Honoratioren in der Gemeinde verbliebene Obernotär Michael Petri über die dortige Lage: „Die Vorkehrungen das Vieh in Sicherheit zu bringen, bewährten sich nicht […]. Die Bangigkeit steigerte sich, als man gegen Mittag, am 30. August das Wogen eines Kampfes in der Gegend der Gemeinde Czod zu vernahm. […] Es fielen Schrapnellschüsse […] und flogen die Gewehrkugeln bis in die Gemeinde herein. Immer heftiger tobte der Kampf und steigerte sich einem Maschinengewehrfeuer gleich, bis endlich der Abend hereinbrach. […] Diese Nacht war eine schwerere als die verflossene und als am Morgen des 31. August ganz früh eine Patrouille von zwei rumänischen Gendarmen mitten auf dem Marktplatz erschien, da war aber jeder Zweifel über unser Schicksale zerstreut.“40 Die Gemeinde wurde von rumänischem Militär besetzt. Der kommandierende Oberst der Kavallerie (Colonel Musoiu) ließ sich gut be36 Katharina P e t r i : Tagebuch [29. August bis 23. September 1916], n. p. [S. 2f.]. Um welche Verwandten es sich handelte, die gemeinsam mit ihr flohen, ist nicht klar, auch ob ihr Mann Georg Petri dabei war oder in Heltau blieb, ist nicht sicher. Ihre Eltern und Geschwister könnten auch dazugehört haben. Mit Sicherheit war ihre Tochter Hilda Katharina (4.10.1906–6.11.1985) mit dabei. Orlat (dt. damals auch „Winsberg“, ung. Orlát) ist eine Ortschaft etwa 17 km westlich von Hermannstadt; Hamlesch (Amnaș, Omlás) ein sächsisches Dorf wenige Kilometer weiter. 37 F l e i s c h e r : Tagebuch, n. p. 38 G ü n d i s c h : Flucht, n. p. [S. 5]. 39 Ebenda, n. p. [S. 6]. Sofia Gündisch (23.11.1847–22.8.1917), geb. Kapp, und Hildas Großmutter väterlicherseits war die Witwe von Michael Gündisch (5.6. 1841–19.11.1903), Anna Botscher (19.11.1853–11.7.1922) die Witwe von Michael Billes (6.1.1848–12.3.1907), Hildas Großvater mütterlicherseits. 40 Michael P e t r i : Heltau, S. 181f.
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wirten, befragte den Richter und Notar nach im Ort verbliebenen ungarischen Soldaten und warum die Bevölkerung geflohen sei, um dann zu erklären: „Wir sind nicht gekommen, friedliche Bürger umzubringen, sondern nur mit der Armee, wie es gestern geschehen ist, zu kämpfen.“ Dann betonte er mit lauter Stimme: „Wenn sich irgendjemand von euch gegen irgendeinen meiner Soldaten feindselig benimmt, lasse ich euch beide hier auf öffentlichem Markte erschießen.“ Schließlich überantwortete er den Richter und Obernotar einem Wachposten von vier Mann mit aufgepflanzten Gewehren und hieß sie abtreten41. Angesehene Bürger als Geiseln zu nehmen, um sicherzustellen, dass sich die lokale Bevölkerung ruhig verhielt, war bei der Besetzung eines Ortes damals durchaus üblich42 und beispielsweise in der russischen, aber auch in der österreichischen Armee gängige Praxis43. Die Heltauer Geiseln waren zwar in akuter Lebensgefahr, blieben aber zuversichtlich, dass es ruhig bleiben werde44. Bereits am 2. September sollten sie zumindest vorübergehend aus dem militärischen Gewahrsam entlassen werden, und Michael Petri, „der nun frei und mit den übrigen [verbliebenen, FMS] Ortsamtsmitgliedern auch als Ortsbehörde offiziell von der rumänischen Militärbehörde anerkannt worden war“45, übernahm die weitere Organisation der Versorgung der Offiziere und Soldaten mit Lebensmitteln durch die örtliche Bevölkerung. „Mit Deutschland und dem deutschen Volke wollte man es sich nicht verderben, meinte der Oberst gelegentlich; die rumänischen mit den deutschen Interessen liefen auf ein gemeinsames Ziel hinaus, aber die Ungarn müssten vernichtet werden! Pardon würden die Rumänen den Ungarn keinen geben, sie hätten sich an rumänischen Soldaten unmenschlich vergangen und [daher, FMS] würden diese nicht unterlassen, in vollem Maße Vergeltung zu üben! Von den Bulgaren dürften auch keine bleiben, diese müßten vom Erdboden verschwinden.“46 Da traditionell die Nachbarn das große Feindbild abgaben, ging es den Siebenbürger Sachsen, die in den Augen des rumänischen Offi41
Ebenda, S. 183. Die Haager Landkriegsordnung in der Fassung von 1907, die Österreich-Ungarn, Rumänien, Russland, Deutschland u. a. unterzeichnet hatten, untersagte zwar in § 50 ausdrücklich Kollektivstrafen: „Keine Strafe in Geld oder anderer Art darf über eine ganze Bevölkerung wegen der Handlungen einzelner verhängt werden, für welche die Bevölkerung nicht als mitverantwortlich angesehen werden kann“, zitiert nach: Karl S t r u p p : Das Internationale Landkriegsrecht. Frankfurt/M. 1914, S. 107. Aber alle Kriegsbeteiligten hielten sich nur daran, wenn es ihnen ins Konzept passte. 43 Vgl. S c h u s t e r : Fronten, S. 185–188, 215–217; S c h e e r : Front, S. 107–110. 44 Vgl. Michael P e t r i : Heltau, S. 183. 45 Ebenda, S. 187. 46 Ebenda, S. 186. 42
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ziers Deutsche waren, noch relativ gut47. Dies heißt aber nicht, dass die Situation für die Heltauer einfach war. Etliche Häuser wurden für militärische Zwecke besetzt, Vieh wurde requiriert und zu billig bezahlt, wenn nicht überhaupt Bons ausgegeben wurden, die nach einem rumänischen Sieg eingelöst werden sollten. Um die Versorgung der Armee mit Brot sicherzustellen, wurde das in der Heltauer Mühle gelagerte Mehl requiriert und musste von einem im Ort verbliebenen Bäcker und etlichen Frauen „binnen Tag und Nacht“48 verbacken werden; das noch unvermahlene Getreide erhielt die lokale rumänische Bevölkerung49. „Verhängnisvoll wurden die Weinkeller“50, stellte der Notar zudem fest, der beobachtete: „in diesen Kellern ging es schrecklich zu und sah noch schrecklicher aus. Der aus den Kellern und aus den erbrochenen Kaufläden hervorgeholte Champagner, Rum und Likör gelangte natürlich auch in die Hände unserer neuen Herren. Champagner wurde aber nicht in dem vermuteten Quantum vorgefunden, nach der Meinung rumänischer Offiziere müsse in den Häusern, die alle so schön und groß seien, überall Champagner vorhanden sein. Ein Heltauer Bürger gab ihnen die Aufklärung, daß in dem Falle die Häuser nicht so schön und groß sein könnten […].“51 Dass dieser daraufhin die Drohung zu hören bekam, man sollte alle sowieso erschießen, zeigt nicht nur, wie sehr das Bild der Fremden von stereotypen Vorurteilen geprägt war, sondern auch, wie sehr man einander misstraute, was die Situation nicht ungefährlich machte. Deshalb wurden auch nach Ablieferung der Waffen52 etwa hundert Häuser nach Waffen durchsucht, und bei der Gelegenheit Metalle und 47 Diese Sicht auf die Situation illustriert auch gut die Fehleinschätzung der rumänischen Militärführung, die zu einem schnellen Scheitern des rumänischen Feldzugs in Siebenbürgen führte, denn diese hatte nicht damit gerechnet, dass ihnen nach dem Vorstoß nach Österreich-Ungarn auch Deutschland sofort den Krieg erklären werde, und dass sich die Mittelmächte umgehend auf ein gemeinsames Oberkommando und eine gemeinsame Strategie einigen würden. 48 Vgl. Michael P e t r i : Heltau, S. 187f., Zitat ebenda, S. 188. 49 „Die Frucht aus der Mühle, […] bei drei Waggonladungen, gelangte als Beute an unsere und die Romänen der Nachbargemeinden, welche sie mit Wagen, Karren und als Traglast wegzuschleppen für nützlich und gut befanden.“ Ebenda, S. 188. Mit „Frucht“ ist hier die Feldfrucht, d. h. in diesem Fall das Getreide gemeint. Auch in dem Bericht Michael Petris variiert wie bei Mathilde Fleischer die Schreibweise des Namens der Besatzer. Ob diese Inkonsequenz auf den Verfasser zurückgeht oder später auf den Setzer in der Druckerei, ist nicht mehr festzustellen, da nur der gedruckte Text vorliegt. 50 Ebenda. 51 Ebenda, S. 188f. 52 „Die Sicherheitsvorkehrungen, die die Rumänen unternahmen, bestanden in der Einziehung sämtlicher Waffen – der den Jagdliebhabern anvertraut gewesenen schönen
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alles, was sich sonst noch irgendwie gebrauchen ließ, requiriert – eine gängige Praxis zu Kriegszeiten auf allen Seiten. In der Zwischenzeit waren die Heltauer Flüchtlinge in Richtung Törnen (Pókafalva, Păuca)53 weitergezogen: „Um hin zu gelangen hatten wir zwei große Hügel zu übersteigen, die Ochsen konnten kaum bis hinauf ziehen. […] Bei einer kleinen romänischen Gemeinde (Alemar) machten wir Mittagsrast. Hier wurde das Vieh natürlich auf die Weide freigelassen, da kam ein alter Walache u[nd] schimpfte darüber denn das Grundstück gehörte ihm.“54 Was den Flüchtlingen in dieser Situation selbstverständlich war, führte zu Konflikten mit der lokalen Bevölkerung, die sich überraschend mit den Fremden konfrontiert sahen. Die Kriegserfahrung wirkte sich auf die Flüchtlinge aus, denn kurz darauf schrieb Mathilde in ihr Tagebuch über eine Pause auf der Fahrt: „Auf Mittag machten wir zwei Stunden Rast, und fütterten das Vieh mit Grumet den wir von einer Wiese requirierten. Bisher hatten wir auch einen Sack voll Rüben gestohlen die Kuh nahm sich aus dem Wagen eine Rübe verschluckte sie ganz und sollte uns ersticken, aber Gott sei Dank ist es ihr wieder ganz gut.“55 Die Sorge um die Kuh war wesentlich größer als ihr Unrechtsbewusstsein, dass ohnehin nicht sehr ausgeprägt war, denn ein andermal schrieb sie über eine Übernachtung auf einer Gemeindewiese: „Wir schliefen diese Nacht auf gestohlenem Heu, aber als wir aufwachten, waren unsere Kühe frei auf der Wiese u[nd] die 3 Ketten waren verschwunden.“56 Ihre Verblüffung, selbst bestohlen worden zu sein, ist in diesem Zusammenhang geradezu amüsant. Angesichts solcher Erfahrungen ist es nicht verwunderlich, dass die Flüchtlinge nicht und guten Jagdgewehre – aus Vorsicht und Angst lieferte die Bevölkerung auch alle sonstigen unschuldigen Waffenstücke ab […].“ Ebenda, S. 186. 53 Törnen oder siebenbürgisch-sächsisch „Ternen“ (die Form, die Mathilde verwendet) ist eine Gemeinde nordwestlich des Bade- und Kurortes Salzburg (Ocna Sibiului, Vízakna), ca. 55 km von Hermannstadt entfernt an einer Straße, die von Hermannstadt über die rumänischen Dörfer Mândra, Alămor, Roșia de Secaș und Cergău Mare nach Blasendorf (Blaj, Balásfalva) führte, im damals ungarischen Komitat Unterweißenburg (Alba de Jos, Alsó-Fehérvármegye). 54 F l e i s c h e r : Tagebuch, n. p. Alămor ist ein rumänisches Dorf zwischen Hermannstadt und Blasendorf. Die auch im Siebenbürger sächsischen Dialekt in diesem Sinne gebräuchliche und deshalb nicht pejorativ gemeinte Bezeichnung „Walache“, die Mathilde hier verwendet, steht pars pro toto für Rumäne. Sie ist wesentlich älter als das 1859 durch die Vereinigung der Fürstentümer Moldau und Walachei entstandene Königreich Rumänien. 55 F l e i s c h e r : Tagebuch. „Grummet“ ist die zweite Mahd, das im Spätsommer geschnittene Herbstheu. 56 Ebenda.
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überall freundlich aufgenommen wurden. Alles in allem hatte die Flucht meist aber etwas Idyllisches, der Krieg als reale Bedrohung ist selten so direkt spürbar wie für Katharina Petri während einer Mittagspause auf dem Weg von Hamlesch nach Törnen, als das Neue am Krieg – in diesem Fall die Flugzeuge – sie in Angst und Schrecken versetzten und zur Eile antrieben57. Deshalb kam die Familie Petri glücklicherweise schon am Nachmittag in Törnen an. Dadurch, dass sich eine Abordnung der Flüchtlinge vor Ort an die dortigen Pfarrer oder die Notäre wandte, wurden sie auch hier gut untergebracht, da sie früh genug ankamen58. Die Familien Fleischer und Gündisch kamen freilich erst „[g]egen Abend […] an u[nd] fanden halb Heltau schon dort […]. In Ternen war schon alles vollgestopft bis wir hinkamen u[nd] so bekamen wir kein Zimmer u[nd] schliefen im Hof auf Heu.“59 Da auch die dortige Bevölkerung evakuiert werden sollte, zogen am nächsten Morgen alle, wahrscheinlich auf Nebenwegen, 25 km weiter bis nach Blutroth (Berghin, Berve)60. „Einen Wagen schickten wir im voraus, um für Quartiere zu sorgen da wir nur nachts nach zehn Uhr dort anlangten. Auch hier wurden wir sehr freundlich empfangen und durch die Hilfe des Herren Pfarrers glücklich untergebracht.“61 Die Fleischers handelten offensichtlich nicht ganz so weitsichtig und hatten weniger Glück, abgesehen von Mathilde selbst, der es, wahrscheinlich ihre fragile Konstitution ins Spiel bringend, auf der Flucht immer wieder gelang, kleine Vorteile für sich zu ergattern: 57 „Kaum hatten wir gegessen, hatten wir in unmittelbarer Nähe ein starkes Brausen. Als wir aufsahen, bemerkten wir über uns ein Flugzeug. Aufgeregt machten wir uns gleich auf und fuhren weiter, einige nach Georgesdorf einige auf Ternen.“ P e t r i : Tagebuch [S. 5]. Georgesdorf, richtig Gergesdorf oder Gergeschdorf, im Siebenbürger sächsischen Dialekt „Gergestref“ oder „Gärjeschtref“ (Gherghița, auch Ungureni, heute Ungurei, Gergelyfálva). Die Gemeinde liegt 4 km westlich von Törnen. 58 „Hier erhielten wir auch durch die Hilfe des Herrn Pfarrers gute Unterkunft. Der Herr Pfarrer bat uns auch nicht weiter zu fahren, denn er hoffte, wir könnten bald nach Hause fahren. Hier trafen wir auch viele Flüchtlinge aus Salzburg. Von Zuhause hörten wir allerlei Gerüchte, wußten aber nicht, was wir glauben sollten.“ P e t r i : Tagebuch [S. 5–7]. Der Kur- und Badeort Salzburg, bekannt für seine Salzminen und salzhaltigen Badeseen, liegt ca. 12 km nordwestlich von Hermannstadt. 59 F l e i s c h e r : Tagebuch. „Wir richteten uns auf den Wägen die Betten, es war sehr schönes Wetter, und als es dunkel wurde, zogen wir uns die Schuhe aus und legten uns schlafen“, erinnert sich Hilda G ü n d i s c h : Flucht [S. 5]. 60 Blutroth, Sächsisch-rumänische Gemeinde im damals ungarischen Komitat Unterweißenburg. Der Weg nach Blutroth führte vermutlich über Rothkirch (Roșia de Secaș, Székásveresegyháza), Weiersdorf (siebenbürgisch-sächsisch Wärdref, Tău, Székástóhát/ Tóhát) und Neudorf (Ohaba, Székásszabadja). 61 P e t r i : Tagebuch [S. 12].
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„Als wir endlich ankamen, bekamen wir kein Quartier, nur ein Bett, in welchem ich schlief, die anderen brachten den Rest der Nacht in der Scheune auf dem Wagen zu.“62 Abgesehen von der ständigen Unsicherheit hatte die Flucht etwas von einem Familienausflug: „Am folgenden Tage gingen wir mit dem Herrn Pfarrer in die Kirche und sahen uns sie an. Es ist eine neue sehr schöne Kirche. Der Plan dazu soll von einem gewöhnlichen Bauern ausgestellt worden seien. Dieser Herrn Pfarrer war ein sehr großer Kinderfreund. Er ging mit ihnen in seinen Garten und füllte ihnen die Taschen mit Zwetschken und sagte solange wir in Blutrot wären sollten wir uns nicht vor dem Verhungern fürchten. Milch soviel wir brauchten erhielten wir von unseren guten Hausleuten umsonst.“63 Die Heltauer trafen sich auf der Flucht immer wieder und tauschten Informationen aus, halfen sich gegenseitig64 und trafen Verwandte, wie Mathilde schreibt: „Es regnete wie aus Schäffern […], aber wir fuhren doch, ich war, da wir einen offenen Wagen haben, zu meinem Onkel unter das Wagendach eingestiegen. Der Regen wollte nicht nachgeben und so waren die Wege in der Gegend ganz aufgeweicht. Wir mußten über einen Berg und die Pferde meines Onkels […] wollten nicht durch den Kot ziehen, denn der Wagen war auch schwer. Da musste man eben zwei Kühe vor sie spannen und nachher noch unsere Ochsen, welche unseren Wagen schon oben hatten, herunter bringen und die vorspannen.“65 Wegen Schlamm und Dreck war der Weg mit einem Mal beschwerlich, und es dauerte Stunden, bis alle oben waren66: 62
F l e i s c h e r : Tagebuch. P e t r i : Tagebuch [S. 12f.]. Gemeint ist hier Michael Luister (1855–1923), der 1909– 1920 ev. Pfarrer in Blutroth war. 64 Als der Knecht der Fleischers bspw. kurz darauf plötzlich die Familie verließ, um zu seiner eigenen Familie zu ziehen, die nicht weit davon entfernt lebte, kam ihnen die Familie Gündisch zu Hilfe, die ihnen, so Mathilde, „eine Magd […] bis zu einem bestimmten Ziel borgte“. Siehe F l e i s c h e r : Tagebuch. Später lenkte dann ein weiterer Heltauer den Wagen von Julianne Fleischer, da diese keinen Mann als Kutscher zur Verfügung hatte. 65 F l e i s c h e r : Tagebuch. Bei dem erwähnten Onkel handelt es sich um Michael Botscher (5.4.1860–21.11.1929), der am 9.11.1881 in Heltau Katharina Billes (23.7.1864– 5.5.1938) geheiratet hatte, Julianne Fleischers älteste Schwester. 66 „Wir erschracken, als wir sahen, was für ein Kot dort war. Wir machten uns nun alle barfuß und kamen herab vom Wagen, nur meine Mutter und meine kleine Nichte blieb auf dem Wagen, nun ging’s schwer und langsam hinauf zu, immer nur einige Schritte, dann blieben die Ochsen stehen, dann noch ein wenig, dann rutschten sie aus und fielen, denn es war sehr glatt. So ging es zwar mit Mühe aber doch, und nach 5 stündiger Fahrt erreichten wir endlich den Gipfel des Berges.“ Siehe G ü n d i s c h : Flucht [S. 9–11]. Von der bisherigen Idylle findet sich auch bei Mathilde keine Spur mehr: „Endlich waren wir alle oben, der Regen hatte zwar aufgehört, aber die Leute welche den Berg hinauf 63
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„Hier stieg ich wieder auf unsern Wagen und fuhr mit meiner Mutter weiter. Abends langten wir, nachdem wir eine Anzahl Militärzüge begegnet hatten nach Töwisch an. […] In Töwisch fanden wir auch sämtliche Schwestern meiner Mutter[67] vor, das war ein Wiedersehen, eine Freude bei all der Trauer.“68 Da hier vor allem Rumänen lebten, konnten die Flüchtlinge nicht wie bisher mit der Unterstützung durch sächsische Landsleute rechnen69. Am nächsten Morgen, am Sonntag, dem 3. September, ging es weiter nach Straßburg (Aiud, Nagyenyed)70. „Hier kamen Kinder und brachten uns Flüchtlingen Obst zur Erfrischung“71, der dortige Oberstuhlrichter brachte alle in einem großen Tanzpavillon im Stadtpark unter, und Mathilde stellte fest: „Fast ganz Heltau war am Sonntag Nachmittag in diesem Park versammelt.“72 Dorthin „brachte man von der Stadt aus den Flüchtlingen Brodt zu 60 Heller, dasselbe welches auf dem Markt 1–2 Kr[onen] gekostet hatte. Auch Milch brachte man, aber wir hatten solche und kauften keine.“73 Hilda erinnerte sich: „Nächsten Tag fuhren wir auf einer wunderschönen Straße durchs Erzgebirge, nach Torockó.“74 „Wir fuhren […] durch Felsen, es sah aus wie eine zu Fuß gegangen waren, waren derart kotig, daß man die ursprüngliche Farbe der Kleidungsstücke nicht mehr erkannte.“ Siehe F l e i s c h e r : Tagebuch. 67 Katharina Billes (siehe Anm. 65), Maria Billes (8.9.1866–6.7.1920), Emilie Billes (20.8.1870–13.4.1920) und Anna Billes (26.11.1872–4.10.1948). 68 F l e i s c h e r : Tagebuch. Töwisch (Teiuș, Tövis), Kleinstadt im Komitat Unterweißenburg, 4 km westlich vom Fluss Mieresch (Mureș Maros) an der Straße nach Klausenburg (Cluj, Kolozsvár), Stadt im Westen Siebenbürgens, im gleichnamigen Komitat (Cluj, Kolozs), 1910 mit knapp 61.000 Einwohnern. 69 Katharina P e t r i notierte daher, weniger zufrieden als bisher: „Hier waren die Einwohner, lauter Rumänen, nicht so freundlich. Ein jeder musste sich eine Unterkunft suchen wo er wußte und konnte. Wir hatten uns mit schwerer Mühe eines [Zimmer] bekommen, mussten es aber bezahlen und schliefen in einem kleinen Zimmerchen auf ein wenig Stroh.“ Siehe P e t r i : Tagebuch [S. 15f.]. Auch Hilda Gündischs Familie erging es ähnlich: „Wir fanden in einem kleinen Zigeunerstübchen Unterkunft und schliefen hier auf ganz dünn untergestreutem Stroh ihrer 20. Viele aber mußten draußen übernachten, und es war sehr kalt und durch den starken Regen waren unsere Kleider so wie Mäntel und Decken ganz naß.“ Siehe G ü n d i s c h : Flucht [S. 11f.]. Nur Mathilde hatte mal wieder mehr Glück: „Meine Tante hatte ein Zimmer, sie war nämlich schon länger dort und rief auch mich hin und ich schlief bei ihr, die anderen aber blieben bei den Wägen.“ Siehe F l e i s c h e r : Tagebuch. Um welche Tante es sich handelt, ist unklar. 70 Straßburg, Stadt im Komitat Unterweißenburg, etwa 100 Kilometer nordwestlich von Hermannstadt. 71 F l e i s c h e r : Tagebuch. 72 Ebenda. Siehe auch: P e t r i : Tagebuch [S. 15f.]. 73 Ebenda. 74 G ü n d i s c h : Flucht [S. 12]. Gemeint ist hier nicht Eisenburg (Torockó, Râmetea), sondern das ebenfalls im Trascău-Gebirge liegende St. Georgen (damals TrăscăuSîngeorgiu, heute Colțești, Torockószentgyörgy) im Stuhlbezirk Torockó im Komi-
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Schlucht, ich weiß aber nicht, gehört das zum Siebenbürgischen Erzgebirge oder nicht“75, fragte sich Mathilde76. Andererseits scheint ihr die Fahrt etwas unheimlich zu werden, zumal sich eine Kuh verletzte und zwei Wagen auf der engen Straße miteinander kollidierten, wobei beides ohne ernsthafte Folgen blieb77. In St. Georgen (Torockószentgyörgy), wo sie am 4. September ankamen, trennten sich die Wege der Heltauer erneut: Die Familie Petri fuhr zusammen mit anderen von Buru am Arieș78 im Arieș-Tal flussaufwärts über Baia79 und AlsóSzoltsva80, wo man sie zu Katharina Petris Freude wieder freundlich behandelte und gut versorgte81, durch Nagylupsa82, nach AbrudBanya83. Hier wurden die Flüchtlinge geradezu zu einer Attraktion, vor allem für die örtliche Oberschicht: „Es dauerte keine 10 Min. und es kamen schon Herrnkinder, welche unsere Kinder immer je 3 – 4 tat Torda-Aranyos. Die später, vermutlich von Hilda Gündischs Sohn Erich Simonis (21.12.1930–3.7.2013) vorgenommene und im Schulaufsatz (S. 12) ergänzte Identifizierung mit der nahe gelegenen Stadt Thorenburg (Turda, Torda) ist daher falsch. 75 F l e i s c h e r : Tagebuch. 76 Die erwähnte Schlucht, die ung. „Kőköz“ und rum. „Cheile Vălișoarei“ heißt, gehört zum Trascău-Gebirge, das heute zum Siebenbürgischen Erzgebirge gerechnet wird und der östlichste Gebirgszug des Siebenbürger Westgebirges (Munții Apuseni) ist. Die Ungaren hatten bis 1919 keinen einheitlichen Namen für das Westgebirge und benannten daher nur die einzelnen Gebirgsmassive, z. B. Erzgebirge, Torockó etc. 77 Vgl. F l e i s c h e r : Tagebuch. 78 Buru în Arieș (ung. damals Borév, heute Borrév), Ort ca. 20 km westlich von Turda, der aber in Katharina Petris Tagebuch nicht erwähnt wird. 79 Offenburg (Baia de Arieș, Aranosbánya), Stadt am Arieș, die trotz ihrer lokalen Bedeutung aber im Tagebuch ebenfalls nicht erwähnt wird, da die Flüchtlinge sich dort offensichtlich nicht länger aufhielten. 80 Unter-Soldorf, auch Sundorf (Sălciua de Jos), Gemeinde am Arieș. 81 „Hier wurden wir von Herrn Notären, welcher schon wußte, dass wir kämen, freundlich empfangen und alle 7 Wägen in einem Wirtschaftshof untergebracht. Nun schickt er uns gleich mit Kannen und Körben in seine Wohnung, denn die Einwohner hatten sehr viel Milch, Eier und Zwetschken für uns zusammengetragen. Auch Brot brachten uns einige ins Wirtshaus. Die Milch und das Brot aßen wir gleich. Die Eier kochten wir u[nd] nahmen sie nächsten Tag mit auf die Reise. Wir schliefen hier im Wirtshause in 3 Zimmern auf Betten, einige auf Divan und einige auf Stroh. Hier mussten wir für das Nachtquartier auch etwas zahlen.“ P e t r i : Tagebuch (wie Anm. 36), n. p. [S. 17f.]. 82 „Auf der Durchfahrt wurden wir in Nagylupsa [Wolfsdorf, Lupșa] vom Herrn Notär angehalten und bewirtet. Jede Nachbarschaft hatte etwas zubereitet und in das Gasthaus geschickt, in welches wir eingekehrt waren, um die Pferde abzufüttern. So erhielten wir allerhand Speisen, welche uns alle recht gut schmeckten. Auch waren schon viele Eier, Milch und Brot hier für uns zusammengetragen worden, mit den Eiern machten wir uns Eierspeise. Die Milch konnten wir nicht genießen, denn sie war sauer geworden. Als wir nun gut satt waren fuhren wir weiter bis nach Abrudbanya.“ Siehe P e t r i : Tagebuch [S. 18f.]. 83 Großschlatten (Abrud), Bergwerksort am Abrud im Komitat Unterweißenburg.
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zum Nachmittag Kaffee einluden. Jede Familie zu einem anderen. Viele blieben auch die Nacht über dort, die übrigen schliefen wir in den Schulzimmern auf Heu.“84 Man blieb einen Tag85, bevor man über Kriscior86 nach Brad (Fenyőfalva)87 weiterzog. Für die etwas mehr als 50 km hatte man vier Tage gebraucht. In der vergeblichen Hoffnung das Vieh verkaufen und mit der Eisenbahn weiterfahren zu können, blieb man 2 ½ Tage dort, obwohl die Stadt schon vorher von Militär und Flüchtlingen überfüllt war, um dann erneut erfolglos in Józsahely88 sein Glück zu versuchen. Auch in dieser nicht nur von Rumänen und Ungarn, sondern auch von Juden bewohnten Ortschaft89, wurde die kleine Gruppe Heltauer erneut freundliche im Empfang genommen: „Sogleich kamen 2 Jüdische Familien und luden je 2 Familien zu sich ein und gaben uns Kost und Quartier. Hier blieben wir nun den ganzen nächsten Tag, den wir wollten die Wägen entladen und mit der Bahn weiterfahren. Da es aber nicht ging, so fuhren wir nächsten Morgen am 13. weiter […].“90 Sie setzten ihre Flucht also weiterhin auf Ochsenkarren Richtung der damals zu Ungarn und heute zu Serbien gehörenden Vojvodina fort. Diese erreichten sie über Pankota91, Uj-Arad92 und Perjamosch93, von wo aus sie weiter in die nächstgrößere Stadt, nach Großkikinda (Nagykikinda)94 zogen, wo sie am 16. September ankamen95. Zu diesem Zeitpunkt hatte Katharina Petri, die mit ihrer Familie noch etwas weiter ziehen und letztlich in einer Gemeinde schwäbischer Kolonisten unweit
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P e t r i : Tagebuch [S. 19]. „Den ganzen nächsten Tag blieben wir in Abrudbanya und immer waren wir beim Essen eingeladen. Wir waren die ganze Zeit über in einem großen Hotel zu überaus guten und liebenswürdigen Leuten.“ Siehe P e t r i : Tagebuch, S. 19f. 86 Kreischquell (Crișcior), Gemeinde, 6 ½ km vor Brad. 87 Brad, Bergort im Siebenbürgischen Erzgebirge, Zentrum des Goldbergbaus. 88 Iosășel, heute zur Gemeinde Gurahonț gehörender Ort an der Weißen Kreisch (Crișul Alb, Fehér Körös). 89 1910 lebten in Józsahely 633 Menschen, davon waren 552 Rumänen, 76 Magyaren und 61 Juden. 90 P e t r i : Tagebuch [S. 28]. 91 Pankota (Pâncota), Gemeinde ca. 36 km nordöstlich von Arad. 92 Neu-Arad (Aradul Nou), heute eingemeindete Gemeinde südlich von Arad, das bis 1920 eine Stadt in Ostungarn war 93 Perjamosch (Periam, Pérjamos), Ortschaft auf dem Weg von Pankota nach Kikinda. 94 Großkikinda (Chichinda Mare), Stadt in der Vojvodina, nahe der Grenze zum heutigen Rumänien. 95 „Hier wurden wir bei serbischen Gutsbesitzern ebenfalls gut aufgenommen.“ Siehe P e t r i : Tagebuch [S. 32]. 85
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des serbischen Dorfes Bajsa96 unterkommen sollte97, keine Ahnung, wie die Lage in der Heimat inzwischen aussah. Damit erging es ihr nicht anders als den Familien Fleischer und Gündisch, von denen sie sich am 4. September getrennt hatte. Die in St. Georgen zurückgebliebenen Heltauer Flüchtlinge hatten erst einmal Rast gemacht und erhielten endlich eine warme Mahlzeit98. Die Weiterfahrt in die Nachbargemeinde und schließlich nach Thorenburg (Turda, Torda)99 hat in Hildas Beschreibung, für die die Reise das große Abenteuer war, wieder etwas Idyllisches: „Das Wetter, so wie auch die Straße waren wunderschön und im übrigen war die Fahrt auch ganz gemütlich und manchmal sehr lustig.“100 Erneut blieb man einige Tage, ebenfalls in der vergeblichen Hoffnung, das Vieh verkaufen und auf die Bahn umsteigen zu können. „Die Zeit wurde aber gut ausgenützt. In dem durch die Gemeinde fließenden Bach wurde Wäsche gewaschen, am anderen Tag Brot gebacken.“101 Man nutzte aber, da man nun schon einmal da war, auch die Annehmlichkeiten des Kurortes. Man ging spazieren und besuchte sich gegenseitig. „Donnerstag waren wir im Salzbad u[nd] badeten, Mammi, Emmi u[nd] ich im Wannenbad die anderen im Freien“102, notierte Mathilde. Zur selben Zeit versuchten die Erwachsenen aber auch in Erfahrung zu bringen, wie und wohin es weitergehen solle. Mathilde Fleischers „Juliusonkel“103 beispielsweise fuhr an besagtem Donnerstag, dem 9. September, nach Klausenburg, während ihr „Willonkel“ in die un96
Bajsa, serb. Bajša, serbisches Dorf in der Vojvodina. Wo genau die Familie Petri letztlich landete, wo sie die Zeit bis zu ihrer Rückkehr zubrachte, wann und wie genau sie nach Heltau zurückkehrte, ist unklar, da das Tagebuch mit der Weiterfahrt in die Kolonistengemeinde am 23.9.1916 abbricht, und weder Katharina Petri noch ihre Tochter Hilda mit ihrer Familie später darüber geredet haben. Da die Heltauer aus Bajsa fortgezogen waren, weil sie sich nicht trennen wollten, ist es möglich, dass auch die Gruppe um die Familie Petri letztlich in den nur rund 25 km entfernten Ort weiterzogen, in dem neben vielen anderen Heltauern auch die Familien Fleischer und Gündisch untergekommen waren. 98 „Das Vieh kam nach langer Zeit wieder einmal in einen Stall und wir Menschen schliefen auf Stroh in einem Zimmer. Die Leute waren sehr freundlich zu uns und stellten uns Küche und Geschirr zur Verfügung. Auf Mittag machten wir Apfelsuppe und Hendelpaprikasch nach einer Woche das erste gekochte essen, es hat uns allen sehr gut geschmeckt.“ Siehe P e t r i : Tagebuch. 99 Thorenburg (Turda), Gemeinde im Komitat Torda-Aranyos, etwa 30 km südöstlich von Klausenburg. 100 G ü n d i s c h : Flucht [S. 13]. 101 Ebenda. 102 F l e i s c h e r : Tagebuch. Mit Emmi ist hier Mathildes ältere Schwester Emma Fleischer, genannt „Emmi“, gemeint. 103 Julius Fleischer (26.4.1884–12.2.1962) war verheiratet mit Maria Botscher, genannt „Mitzi“ (9.1.1890–27.3.1977). 97
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garische Hauptstadt unterwegs war104. Was nach einer spontanen Flucht von Etappe zu Etappe, von Ort zu Ort aussah, war es keineswegs. Die Flüchtlinge selbst versuchten sich zu informieren, und die Verwaltung versuchte die Flüchtlingsströme zumindest ansatzweise zu koordinieren und zu kanalisieren, ohne dass dies wirklich gelang. Hierin liegt letztlich auch einer der Gründe, warum im Laufe der Zeit die anfängliche Freundlichkeit vieler Einheimischer gegenüber den Flüchtlingen merklich abkühlte, wie die Heltauer Flüchtlinge auf ihrer Weiterfahrt über Tordaszentlászló105, Bánffyhunyad106 und über die siebenbürgische Grenze zu Ungarn bis nach Élesd107 feststellen mussten108. „Am 18. September in der Dämmerung erreichten wir endlich mit dem Ochsenwagen die Stadt Großwardein. Es tat uns zwar sehr leid, dass wir uns von den Ochsen und besonders von der Kuh trennen sollten, aber es mußte sein, denn in der Früh und Abends war es schon sehr kühl; deshalb verkauften wir das Vieh, und verließen nach drei Tagen mit der Bahn Großwardein. Bis nach Segedin (Szeged) war die Fahrt ziehmlich unbequem, denn wir fuhren in einem Viehwaggon. Auf dem Segediner Bahnhof erwartete man uns mit einem Nachtmahl, bestehend aus einem guten heißen Tee, Wurst und Brot. Wir mußten im Wartesaal den Zug abwarten, welcher uns an unser Ziel, und zwar nach Bács-Bokod im Bacs-Bodrog Komitat führen sollte109. […] Die 104 Die drei Städte Pest, Óbuda und Buda waren zwar seit 1873 offiziell zur ungarischen Hauptstadt Budapest vereinigt, doch verendete Mathilde in ihrem Tagebuch den Namen Pest und damit noch immer – wie in Siebenbürgen häufig – die historische Bezeichnung, denn Pest war seit 1723 Sitz der administrativen Verwaltung des Königreichs Ungarn. 105 Săvădisla, Ortschaft im Komitat Klausenburg (Cluj, Kolozs), ca. 15 km südwestlich von Klausenburg an einer Nebenstraße nach Turda. 106 Heynod (Huedin, Bánffyhunyad), Ort im Komitat Klausenburg (ung. Kolozs) mit ca. 5.000 Einwohnern im Jahr 1910. 107 Élesd (Aleșd), Ortschaft ca. 35 km von Großwardein (Oradea, Nagyvárad) entfernt. 108 So notiert Mathilde u. a.: „Montag, 11. September früh 7 Uhr zogen wir fort von Torda und kamen abends 6 Uhr in Tordaszentlaszlo an, wo wir nicht sehr freundlich empfangen wurden. Es waren nämlich schon vor uns Flüchtlinge dort und die Leute hatten schlechte Erfahrungen gemacht, aber später wurden sie doch freundlicher.“ Siehe F l e i s c h e r : Tagebuch. Hilda G ü n d i s c h schrieb dazu über den Empfang in Bánffyhunyad: „In dieser Stadt empfing man uns nicht sehr freundlich, denn die Leute hatten seit der rumänischen Kriegserklärung täglich Einquartierung von Militär und Flüchtlingen. Wir glaubten von hier mit der Bahn weiter fahren zu können; sie war aber vom Militär sehr in Anspruch genommen, so mußten wir in unserem alten Tempo weiter fahren bis nach Königssteig (Királyágó), einem ganz kleinen Dorf.“ Siehe G ü n d i s c h : Flucht [S. 15f.]. 109 G ü n d i s c h : Flucht [S. 17–19]. Segedin (Szeged, Seghedin), Stadt im Süden Ungarns nahe der heutigen Grenze zu Serbien an der Mündung des Mieresch in die
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Nacht verbrachten wir im Wartesaal. Dort waren 102 Heltauer und 10 Fremde. Es war eine Luft zum zerschneiden“110, notierte Mathilde in ihr Tagebuch, denn offensichtlich hatte jemand – vermutlich ihre Brüder oder andere Kinder – aus Langeweile die Leute gezählt, während sie alle auf den Zug warteten, der erst mitten in der Nacht ankam111. Die in diesem nun herrschende drangvolle Enge kommentiert Hilda in erfrischend kindlicher Offenheit: „Also mit der Gemütlichkeit, welche wir auf dem Ochsenwagen hatten, war es aus. Die Bahnfahrt dauerte aber Gottlob nicht lange. Am 22. September vormittags zehn Uhr erreichten wir das große Schwäbische Dorf Bács-Bokod. Hier fanden wir bei guten Leuten Unterkunft.“112 Die Familie Fleischer hatte weniger Glück, zumindest beklagte sich Mathilde: „Unsere Hausleute waren […] wie das Wetter im April. Sie schimpften wegen dem Feuer u[nd] überhaupt um alles, nach ein paar Minuten waren sie die Güte selbst.“113 Während die Heltauer froh waren, wieder ein einigermaßen normales Leben führen zu können mit regelmäßigen warmen Mahlzeiten und warmem Wasser „für Köpfe waschen“114, kam es deshalb zu Konflikten mit der Gastgeberin: „Die Frau kam, schimpfte wegen dem Reindel u. auch weil wir 3 x täglich Feuer machten.“115 Für die einheimischen donauschwäbischen Familien war die Versorgung der Flüchtlinge in der ohnehin angespannten Versorgungssituation des Krieges ein Problem116. Es war also mehr als nur die sprichwörtliche schwäbische Sparsamkeit, die im Spätsommer Theiß (Tisza). Das Ziel der Flucht, Bácsbokod (Wikitsch, Bikić), ist eine südungarische Großgemeinde im Gebiet Baja im Komitat Bács-Kiskun. Sie liegt rund 15 km südöstlich von Baja an der heutigen ungarisch-serbischen Grenze. Der Bahnhof befindet sich im Süden des Ortes an der Bahnstrecke Bátaszék-Baja-Kiskunhalas. Von dort führt eine direkte Bahnstrecke über Szeged und Arad bis nach Hermannstadt. 110 F l e i s c h e r : Tagebuch. 111 „Dieser traf in der Früh drei Uhr ein. Die Kinder wurden aus Schlaf geweckt, das Gepäck ins Coupee geschleppt und wir stiegen ein. Alles mußt aber rasch geschehen, weil man sonst vom Zug bleiben konnte.“ Siehe G ü n d i s c h : Flucht [S. 19f.]. 112 G ü n d i s c h : Flucht [S. 20]. Mathilde dagegen berichtete – ganz junge Dame – pikiert: „auf einer Station kam eine Frau ins Kouppe wo wir waren, es war noch nur sehr wenig Platz, legte mir einen Säugling in den Schoß ohne ein Wort zu sprechen u[nd] ordnete sich ihr Gepäck, dann nahm sie sich das Kind u. drängte mich zur Seite um auch Platz zu bekommen.“ Siehe F l e i s c h e r : Tagebuch. 113 F l e i s c h e r : Tagebuch. 114 Ebenda. 115 Ebenda. 116 Zu den Donauschwaben während des Ersten Weltkriegs siehe Mariana H a u s l e i t n e r : Die Donauschwaben 1868–1948. Stuttgart 2014, S. 60–63; Donauschwäbische Geschichte. Bd. 2: Wirtschaftliche Autarkie und politische Entfremdung 1806 bis 1918. Hg. Ingomar S e n z . München 1997, S. 415–423, zur wirtschaftlichen Situation allgemein, ebenda S. 328–350.
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die Gastgeber dazu veranlasste, den Flüchtlingen vorzuwerfen, sie verbrauchten zu viel Brennmaterial. Das aber nahmen zumindest die Jugendlichen und Kinder nicht wahr117. Für sie hatte der Aufenthalt ohnehin eher etwas von einem Ferienaufenthalt: „Die Zeit vertrieben wir uns mit Haus und Handarbeiten“118, erinnerte sich Hilda. Und Mathilde schrieb in dieser Zeit in ihr Tagebuch: „Sonntag […] gingen wir spazieren. […] Wir gingen nachmittag in die Vesper um uns die Kirche hier anzusehen, auch die Tracht ist sehr komisch. In den nächsten Tagen gingen wir zu den anderen Heltauern um die Quartiere zu besichtigen. Einige waren gut, andere wieder sehr mangelhaft, so daß die Wohnung gewechselt werden mußte. […] Donnerstag hat sich nichts nennenswertes ereignet. Freitag in der frühe 9 Uhr gingen wir zum See um so zu sehen wie man Fische fing. […] Samstag fuhren Mammi, Willonkel u. Julitz nach Baja u[nd] kauften uns Kleider u[nd] überhaupt verschiedenes ein […]. […] Abend war ein wenig zankerei wegen der Wäsche welche man uns gekauft hatte. Montag war es sehr kalt wenigstens in der Frühe, und wir wuschen auch das bischen Wäsche das wir hatten. Später wurde es aber wärmer.“119 Die Einkäufe waren wohl nötig, denn sie hatten einen Teil des Gepäcks „die Kochkiste, den Reisekorb u[nd] einen Ballen mit Bettzeug“120, in Großwardein mit der Post in die Vojvodina geschickt, als das Ziel der Flucht klar war. Diese waren noch nicht angekommen. Obwohl man beim Lesen von Mathildes Tagebuch den Eindruck von Weltabgeschiedenheit erhält, waren die Heltauer in der Batschka121 nicht ganz von der Welt abgeschnitten. Der zweite Gemeindenotar Michael Klein122, der nicht in Heltau geblieben war, hatte sich auch auf der 117 Mathildes Sicht spiegelt sich im Tagebuch wider, wenn sie schreibt: „Diese Wohnung war gut bis auf das, daß die Hausleute sehr unfreundlich waren. […] Willonkel wohnten neben uns. In dem Haus lies die Frau sie kein Feuer machen so dass sie zu uns kamen wenn sie etwas Warmes brauchten. Die Hausleute gaben uns nichts, wenn wir etwas verlangten so sahen sie garstig u. gaben nur wenig obwohl wir alles bezahlen wollten. […] Wir wollten Wasser wärmen für Köpfe waschen aber sie nahm uns den Topf fort gab einem kleinen Topf u[nd] es brauche zu viel Brennmaterial.“ Siehe F l e i s c h e r : Tagebuch. 118 G ü n d i s c h : Flucht [S. 20]. 119 F l e i s c h e r : Tagebuch. Baja (Frankenstadt) war die nächste größere Stadt im Komitat Bács-Kiskun an der Donau und deren Nebenarm Sugovica. 120 F l e i s c h e r : Tagebuch. 121 Batschka (ung. Bácska), Landschaft in Ungarn und Serbien. Gemeint ist hier der nördliche, zu Ungarn gehörende Teil, der den südlichen Teil des Komitats BácsKiskun bildet und im Westen und Süden von der Donau und im Osten von der Theiß begrenzt wird. 122 Michael Klein (12.2.1880–8.10.1964) war der zweite Heltauer Gemeindenotar neben Michael Petri und auch dessen Nachfolger als Obernotar von 1920 bis 1935. Er war
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Flucht weiterhin um die Heltauer gekümmert123 und von Bács-Bokod aus sogar Verbindung zu Heltauern andernorts und in die Heimat aufgenommen. Die Heltauer standen also durchaus miteinander in Kontakt. So gelang es auch Mathildes Cousin Hermann124, von dem die Familie angenommen hatte, er habe sich freiwillig gemeldet und sei zum Militär eingerückt125 (der sich aber auch auf die Flucht begeben und seine Familie schon länger gesucht hatte), diese zu finden; am Dienstag, dem 3. Oktober 1916, tauchte er plötzlich in Bács-Bokod auf.126 Dort erinnerte die bisherige Flucht ohnehin mehr und mehr an einen Ferienaufenthalt127, denn selbst, als die Fleischers umziehen mussten, erwies sich dies als Glücksfall für die Familie: „Hier waren die Leute viel freundlicher als in der anderen Wohnung, aber auch die Wohnung selbst. 2 Zimmer mit 4 Betten u[nd] 1 Divan, dann eine Küche u[nd] ein Zimmer in welchen wir aßen. So waren wir zufrieden bis um 10 unser Pack ankam. Endlich konnten wir nun noch einmal die Wäsche u[nd] Kleider wechseln, so dachten wir wenigstens aber als wir den Korb aufmachten war er leer. Alles hatte man uns gestohlen, uns die wir Unterstützung bekommen sollten hatte man das wenige was wir gerettet hatten, gestohlen, da hörten wir noch am selben Tag wir bekämen keine Unterstützung, denn wir wären wohlhabend. Ja freilich das waren wir aber jetzt sind wir es nicht mehr.“128 Für die aus gutbürgerlichem Hause stammende Mathilde stellten schon die gestohlenen Kleider eine kleine Katastrophe und den Anfang vom Ende ihrer Welt dar, auch wenn es letztlich nicht so schlimm seit dem 22.4.1906 mit Amalia Wilhelmine Richter (4.3.1884–19.12.1966) verheiratet. Sie hatten damals drei Kinder: Elisabeth (30.4.1908–17.11.1996), Kurt (1.7.1909–10.5.1973) und Margarete (14.6.1911–3.9.2000). Der jüngste Sohn war damals noch nicht geboren: Erhardt Michael Klein wurde erst am 29.5.1920 geboren und starb am 30.6.2009. 123 Auch zu den Fleischers bestand ein guter Kontakt, und man half sich gegenseitig: „Weil Notär Klein mit seiner Frau auch in Baja waren schickten sie die Kinder zu uns.“ Siehe F l e i s c h e r : Tagebuch. 124 Hermann Herbert (6.9.1899–29.3.1967). 125 Vgl. F l e i s c h e r : Tagebuch. 126 „Dienstag kam ich nach dem Frühstück in den Hof um das Kaffeegeschirr zu waschen, da hörte ich vom Tor Hermanns Stimme u[nd] als ich hin ging war er wirklich da. […] Es war auf dem Tag 5 Wochen dass wir fort waren von unserem lieben Heltau u. endlich hatte er uns gefunden.“ Siehe F l e i s c h e r : Tagebuch. 127 „Donnerstag fuhren wir mit dem Frühzug nach Baja, dort badeten wir es war herrlich. Man kaufte noch manches und Nachmittag gingen wir zur Donau. Es war so schön und ruhig. Wir stiegen auf ein Schiff und sahen uns die Ruderer, welche im kleinen Booten ruderten an. Da der Zug erst spät [ankam] langten wir nur um 8 Uhr im Regen in Bokod an, wo Hermann und Pitz uns mit Schirmen erwarteten.“ Vgl. F l e i s c h e r : Tagebuch. „Pitz“ war der Spitzname von Peter Fleischer, Mathildes jüngerem Bruder. 128 F l e i s c h e r : Tagebuch.
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kommen sollte, da sie die Unterstützung doch noch erhalten sollten. Dass der Krieg die ganze Zeit auch in Heltau weitergegangen war, wurde den Familien erst durch Briefe aus der Heimat bewusst und rüttelte sie auf. Bereits am 4. September waren rumänische Truppen auf dem Rückzug in Richtung Karpaten plündernd durch Heltau gezogen. Der bis dahin kommandierende rumänische „Oberst hatte öffentlich erklärt, Einbruch und Diebstahl seiner Leute sei mit Erschießen zu bestrafen“129, aber selbst dies hatte Plünderungen schon zuvor nicht ganz verhindern können, weshalb er die Gründung einer Bürgerwehr genehmigt hatte. Über die nun durch Heltau ziehenden Truppen hatten aber andere die Befehlsgewalt, wenn überhaupt: „Mit dem 4. September, also nach zweitägigem Bestande, hatte infolge der Ereignisse […] die Bürgerwehr ihre Wirksamkeit einstellen müssen und [es] war nun jedermann mit der Abwehr gegen Einbruch und Raub auf sich angewiesen; […]. Man kann sich vorstellen wie es in der Gemeinde zuging […]. Einbruch und Raub trieben die reichsten Blüten. Daran beteiligte sich auch das romänische Volk aus unserer und den Nachbargemeinden […]; es war nun, wie sie sagten, ihre Zeit endlich auch einmal gekommen. Diener, die ihren Aufenthalt hier haben, stolzierten in seidenen Kleidern und Damenstiefeletten in allen Farben […]. Trotz dieser Herausforderung und dem Hohn wurde für sie und die andere Bevölkerung, wie in anderen Zeiten, mit Mehl gesorgt; eine Unterbrechung der Lieferung und Austeilung von Mehl an bedürftige hat es nicht gegeben. Dies machte großen und guten Eindruck bei den Romänen, insbesondere bei dem gemeinen Volk […].“130 Die Versorgung der Bevölkerung konnte sichergestellt und die öffentliche Ordnung mehr schlecht als recht aufrechterhalten werden. Etliche Einwohner gerieten zwar immer wieder in Gefahr, aber nur wenige wurden verletzt131. Beim endgültigen Rückzug aus der umkämpften Gemeinde am 27. und 28. September 1916 nahmen die rumänischen Truppen auch die Heltauer Geiseln, darunter den Obernotar, mit nach Talmesch, das bald darauf heftig umkämpft war, wie Michael Petri berichtete: „Es kam zu einer panikartigen Flucht der 129
Michael P e t r i : Heltau, S. 190. Ebenda, S. 193f. 131 Michael P e t r i berichtet nur von einem einzigen, noch dazu eher tragisch zufälligen Todesfall: „An demselben Tage [vermutlich 4.9.1916, F.M.S.] abends in der Dunkelheit wurde Karl Ludwig Schimpf, ein hiesiger Sachse, weil er auf der Gasse und ohne weißes Armbandzeichen angetroffen worden war, von einem rumänischen Soldaten mit Revolver angeschossen und ist er dieser Verletzung später auch erlegen.“ Siehe Michael P e t r i : Heltau, S. 192. Es handelt sich bei dem Opfer um einen am 8.10.1859 in Mediasch geborenen verheirateten Tagelöhner und Vater von zehn Kindern, der 1917 verstarb. 130
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rumänischen Soldaten.“132 „Die der Spionage Verdächtigten, darunter neun Michelsberger, mit den gefangenen Soldaten und der freiwilligen Schar von unseren Romänen wurde mitgenommen; die Geiseln, deren Wachposten auch geflüchtet war, wurden vergessen!“133 Sie konnten schon am übernächsten Tag in das von Einheiten des überwiegend aus Baiern bestehenden Deutschen Alpenkorps134 zurückeroberte Heltau zurückkehren135. Von alledem erfuhren die geflüchteten Heltauer in Bács-Bokod aber erst später. So berichtete Mathilde in ihrem Tagebuch, am Freitag, dem 13. Oktober 1916, habe man einen Brief von dem bereits nach Heltau zurückgekehrten Notar Klein erhalten, in dem er u. a. „erzählte, wie man die Geiseln, welche die Rumänen mitgeschleppt hätten, behandelt hätte“136 und dass „er den Willonkel dringend nach Hause rief“137, denn Einwohner der rumänischen Nachbargemeinde Zoodt hätten ihm das Getreide vom Feld gestohlen, und der Knecht habe nur zwei Ochsen und drei Schweine retten können. „In seiner Wohnung sähe es schrecklich aus, auf dem Schreibtisch Fleisch gehakt am Kleiderständer Schweinefleisch und Schmutz überall. Seine Möbel in der ganzen Gemeinde verstreut.“138 Die Reaktion auf diesen Brief war laut Mathilde erwartungsgemäß heftig: „Mammi wollte, nachdem sie Kleins Brief gelesen hatte, nicht mehr hier bleiben u[nd] Freitag abend 8 Uhr ging sie mit Hermann und Willonkel zur Bahn und dampfte ab nach Pest, um sich die Bewilligung zu verschaffen, nach Siebenbürgen zu fahren. Im Falle es nicht ganz sicher war, wollte sie wieder her kommen und mitbringen, was sie noch fände.“139 132
Ebenda, S. 196. Ebenda. Michelsberg (Cisnădioara, Kisdiznód) ist eine damals siebenbürgischsächsische, heute eingemeindete Nachbargemeinde Heltaus. 134 Vgl. zum Deutschen Alpenkorps und seinem nach der Eroberung Heltaus dort mit seinem Stab residierenden Kommandanten, dem bayerischen General der Artillerie Konrad Krafft von Dellmensingen (24.11.1862–22.2.1953), Günther H e b e r t : Das Alpenkorps: Aufbau, Organisation und Einsatz einer Gebirgstruppe im Ersten Weltkrieg. Boppard 1988; Thomas M ü l l e r : Konrad Krafft von Dellmensingen (1862–1953). Porträt eines bayerischen Offiziers. Kallmünz/Oberpfalz 2002; Ludwig H a m m e r m a y e r : Ein bayerischer Soldat im Kaiserreich. Einige Überlegungen und Notizen zur Studie von Thomas M ü l l e r . In: Sine ira et studio. Militärhistorische Studien zur Erinnerung an Hans Schmidt. Hg. Uta L i n d g r e n . Kallmünz/Oberpfalz 2001, S. 187–202. 135 Michael P e t r i : Heltau, S. 199f. 136 F l e i s c h e r : Tagebuch. 137 Ebenda. 138 Ebenda. 139 Ebenda. Dem damaligen Rollenbild entsprechend ist es natürlich Hermann als der älteste unter den Jungen, der Vater und Tante begleitete, obwohl er erst 17 Jahre alt und damit jünger war als seine drei Cousinen Julitz, Emmi und Tildi. Wilhelm Herbert und 133
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Eine Zeit der Ungewissheit und des Wartens begann: „Wir 10 Kinder wirtschaften jetzt allein hier herum. […] So vergingen unter Nichtstun 2 Wochen.“140 Dann endlich kam Post von der Mutter, die u. a. schrieb, sie habe den versteckten Schmuck und das Familiensilber wieder, dass ein deutscher Soldat ihrem Vater141 gebracht habe, nachdem er es gefunden hatte142. Überhaupt scheint das Verhalten der deutschen Soldaten sie beeindruckt zu haben, denn noch später erzählte sie, sie sei bei ihrer Rückkehr von deutschen Offizieren, die in ihrem Haus wohnten, anhand der Bilder und Briefe schon auf der Straße erkannt und freundlich begrüßt worden, wobei die jungen Herrn es sehr bedauert hätten, dass die jungen Damen (die Töchter) nicht ebenfalls mitgekommen seien143. Es erschien Julianne Fleischer offensichtlich so sicher in Heltau, dass sie ihren Schwager Wilhelm, wie sie den Kindern schrieb, bat, diese zurückzuholen. Als er aber nach einiger Zeit nicht erschien, machten sich diese selbst auf den Rückweg, denn Julianne Fleischer waren aber nicht die einzigen, die sich daraufhin schnellstmöglich nach Siebenbürgen aufmachten, auch Hilda G ü n d i s c h berichtet: „Meine l[iebe]. Mutter war rasch entschlossen nach Hause zu fahren, deshalb zogen wir alle nach Cservenka zu meiner Schwester, damit meine Mutter und meine Tante nach Hause fahren könnten.“ Vgl. G ü n d i s c h : Flucht, [S. 21]. Cservenka (Tscherwenka oder Rotweil/Crvenka) ist ebenfalls eine damals überwiegend von schwäbischen Kolonisten bewohnte Gemeinde ca. 60 km südlich von Bácsbokod. Hildas Tante Maria, die selbst keine Kinder hatte, kümmerte sich mit um die Kinder und Enkel ihrer Schwester. Ob sie ursprünglich in Bácsbokod bei ihrer Schwester oder bei ihrer Nichte in Cservenka war, geht aus Hildas Aufsatz ebensowenig eindeutig hervor wie auch, um welche Schwester es sich handelte, denn beide ihrer älteren Schwestern hatten damals bereits kleine Kinder. Ihre älteste Schwester Anna Mathilda Binder, geb. Gündisch (12.3.1894–2.7.1941), hatte mit Marianne (6.1.1915–17.11.1997) damals schon eine kleine Tochter, war aber bereits Witwe, denn Michael Binder, ihr am 2.11.1888 geborener Mann, war als österreichischer Soldat am 2.4.1915 in den Nordkarpaten im Kampf gegen die russische Armee gefallen. Auch Elfriede Sofia Handel, geb. Gündisch (28.11.1895–14.12.1987), hatte schon eine eigene Familie. Sie war seit dem 8.11.1913 mit Johann Handel (22.4.1886–13.3.1964) verheiratet, und die ersten beiden noch kleinen ihrer insgesamt sieben Kinder waren schon auf der Welt: Hans (10.10.1914–15.5.2004) und Elfriede (17.1.1916–31.3.2011). 140 Mathilde meint hier sich, ihre vier Geschwister und ihre fünf Cousinen, Willonkels Kinder. Es ist die einzige Stelle in ihrem Tagebuch, an der sie ihre beiden älteren Schwestern und sich selbst zu den Kindern rechnet. 141 Mathildes Großvater, der Witwer Peter Billes (19.3.1841–23.5.1926), der ursprünglich nicht mit auf die Flucht gekommen war, hatte Heltau später doch mit seiner ältesten Tochter Maria (8.9.1866–6.7.1920) verlassen, war aber offensichtlich schon vor seiner Tochter Julianne wieder dorthin zurückgekehrt. Vgl. F l e i s c h e r : Tagebuch. 142 Ebenda. 143 Diese von ihrer Großmutter mehrfach im Familienkreis erzählte Geschichte teilte mir dankenswerterweise Peter Fleischers Tochter Hilde (geb. 7.12.1932) mit, die seit 1958 mit Hans Eduard Fleischer (12.6.1928–28.7.2008) verheiratet war, einem Urenkel des Heltauer Obernotärs Michael Petri.
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inzwischen wurden Züge für die Rückkehr der Flüchtlinge zur Verfügung gestellt144; am Sonntag, dem 29. Oktober, fuhren sie ab. Hilde Gündisch, die schon eine Woche zuvor mit ihren Geschwistern von Cservenka aus abgefahren war, schrieb rückblickend über ihre drei Tage und Nächte dauernde Zugfahrt: „Der Zug ging uns nicht rasch genug. Je näher wir an unsere l[iebe] Heimat kamen, desto langsamer schien der Zug zu gehen.“145 Für die Fleischergeschwister war auch die Rückfahrt über Békéscsaba146, Arad, Piski147 und Broos148 nach Hermannstadt abenteuerlich149. So erlebten die jungen Damen u. a. auch ein kleines, romantisches Abenteuer, wie es für die Epoche, die mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende ging, nicht untypisch war150. Da sie in Broos warten mussten und kein Licht im Coupé hatten, gingen die, wie Mathilde es formulierte, „wir 4 auf dieser Fahrt unzertrennlichen Emmi, Hedwig Mesch, Minnchen u[nd] ich“151 im Bahnhof spazieren und unterhielten sich mit ebenfalls wartenden deutschen Soldaten: „Einer von ihnen fragte uns, was wir immer im Zug überhaupt auf der Fahrt machten. Wir klagten ihm unser Leid, lesen könnten wir nicht, da wir weder Licht noch Bücher hätten.“152 Verwundert verschwand er daraufhin. Später am Abend, als sie schon im Zug saßen, „gab ein Soldat stillschweigend ein Buch zum Fenster herein u[nd] verschwand im Dunkeln“153. Die jungen Damen verbrachten den weiteren Abend damit, zu entziffern, wie der Vorbesitzer und edle Spender des Buches
144 Zur Organisation eines solchen Flüchtlingsrücktransports siehe Hans T o b i e : Mit dem Rückbeförderungszug nach Siebenbürgen. In: S i g e r u s : Rumänenzeit, S. 242–252. 145 G ü n d i s c h : Flucht [S. 22]. 146 Békéscsaba (Bichișciaba, Békešká Čaba), Stadt im Osten Ungarns und Komitatssitz des Komitats Békés. Die Bahnlinie führt von Szeged über Békéscsaba nach Arad und von dort aus über Deva nach Hermannstadt. 147 Simeria, Ort im Westen Siebensbürgens, Bahnknotenpunkt ca. 10 km östlich von Deva, im Jahr 1910 mit ca. 7.600 Einwohnern. 148 Broos (Orăștie, Szászváros), Ortschaft in Südsiebenbürgen, ca. 35 km von Mühlbach (Sebeș, Szászsebes) entfernt. 149 Sie trafen ihren Willonkel auf der Reise nur zufällig beim Umsteigen nach Hermannstadt auf dem Bahnhof Békéscsaba. Vgl. F l e i s c h e r : Tagebuch. 150 Vgl. Peter G a y : Die zarte Leidenschaft. Liebe im bürgerlichen Zeitalter. München 1987. 151 F l e i s c h e r : Tagebuch. Gemeint sind Mathildes Schwester Emmi Fleischer, und nicht ihre Cousine Emma Herbert, da diese um einiges jünger war, sowie ihre Cousinen Hermine Herbert und Hedwig Mesch, genannt „Hedi“ (25.8.1900–30.5.1989), die die Tochter von Johann Mesch (22.11.1862–9.3.1931) und Julie Herbert (18.11.1877–7.8.1966), der jüngeren Schwester von Wilhelm Herbert, war. 152 F l e i s c h e r : Tagebuch. 153 Ebenda.
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„Die Glücklichen“154 heiße. Nach einer Fahrt von vier Tagen und Nächten gingen sie nach ihrer Ankunft in Hermannstadt, wie schon Hilda Gündisch vor ihnen, zu Fuß bis nach Hause, „[d]a der Bahnverkehr von Hermannstadt […] nach Heltau […] noch eingestellt war“155. „Auf der Straße waren die Bäume größtenteils abgehauen u[nd] man sah auch Risse in den Wiesen wo Granaten u[nd] Schrapnel eingeschlagen hatten. Überall sah man daß Krieg gewesen war. Man hörte auch die Kanonen aus dem roten Turmpaß. Auf dem Berge war ein Grab wo auf dem Kreuz die Kappe des dort gefallenen Soldaten hing. In der Gemeinde sah man nichts vom Krieg nur so viel daß sehr wenig Leute da waren. Sie war noch nicht von der Flucht zurück.“156 Erst mit der Rückkehr in die Heimat kam Mathilde und ihren Geschwistern der Krieg richtig zu Bewusstsein, mit dem sie bisher noch nicht wirklich in Berührung gekommen waren. Sie reagierten der Zeit und den Umständen entsprechend: „Wir trugen Blumen u[nd] schmückten die Gräber. […] In diesen Tagen waren meine Brüder am Hinterbach u[nd] als sie nach Hause kamen erzählten sie dort seien noch tote Soldaten. Als ein Knecht dem einen den Mantel aufgeknüpft hätte, wäre der Kopf fortgerollt.“157 Damit endet Mathilde Fleischers Tagebuch. Eine außergewöhnliche Zeit war vorbei, die im Wissen um die weitere Geschichte des 20. Jahrhunderts dennoch geradezu idyllisch erscheint158. Die Angst vor dem Verlust der Heimat, die Angst, nicht mehr zurückkehren zu können oder bei der Rückkehr das Alte, Vertraute nicht mehr vorzufinden, 154 Mathilde nannte zwar nur den Titel, es war aber mit ziemlicher Sicherheit der gerade neu erschienene Roman der damals vielgelesenen Lübecker Schriftstellerin Ida B o y - E d : Die Glücklichen. Roman. Berlin [o. J., 1916]. 155 G ü n d i s c h : Flucht [S. 22f.], vgl. F l e i s c h e r : Tagebuch. 156 F l e i s c h e r : Tagebuch. 157 Ebenda. Gemeint sind hier der 8-jährige Friedrich und der damals 12-jährige Peter, der 1929 in Heltau Katharina Petris Tochter Hilda Katharina ehelichte. Auf diese Weise landeten beide Tagebücher im Besitz derselben Familie. 158 Einzigartig ist diese Wahrnehmung allerdings nicht, wie beispielsweise eine während der russischen Besetzung Ostpreußens nach Sibirien deportierte Familie in ihren Tagebüchern und Aufzeichnungen zeigt: Gefangen in Sibirien. Tagebuch eines ostpreußischen Mädchens 1914–1920. Hgg. Karin B o r c k , Lothar K ö l m . Osnabrück 2001; Karin B o r c k : Die Tagebücher und Erinnerungen der Familie Sczucka aus Popowen in Ostpreußen aus der Zeit ihrer Verschleppung nach Sibirien 1914 bis 1920. In: Berliner Jahrbuch für Osteuropäische Geschichte 2 (1996), S. 219–245; Ulla L a c h a u e r : Rosen am Jenissej. Zwei ostpreußische Kinder in russischer Kriegsgefangenschaft (1914–1920). In: Die Zeit,. Nr. 40 v. 27.9.1996, unter http://www.zeit.de/1996/40/Die_Rosen_am_Jenissej/ komplettansicht (1.11.2014); d i e s .: Hildchen und Lisbethchen in Sibirien 1914–1920. In: Deutsche Kinder. Siebzehn biographische Porträts. Berlin 1997, S. 275–295.
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schimmerte in allen hier betrachteten Texten durch – seien es die eher nüchternen Berichte von Katharina oder Michael Petri159, der Aufsatz der 14-jährigen Hilda Gündisch über das heil überstandene und daher fast gemütliche große Abenteuer oder Mathildes Aufzeichnungen, die sie am Übergang zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt zeigen. Für Mathildes Bruder Pitz war die Rückkehr in das vom Krieg veränderte Heltau aber auch die erste Konfrontation mit dem Tod, die ihn so tief beeindruckte, dass er seinen Kindern noch davon erzählte – selbst nach dem Zweiten Weltkrieg, der anschließenden Deportation in die Sowjetunion160 und der erneuten Rückkehr nach Heltau161. Trotz allem, was diese Generation alles erleben sollte, blieb der Erste Weltkrieg die prägende Erfahrung ihres Lebens, von der sie nicht loskamen162, so fern und fremd sie später auch erscheinen mochte163.
159 Auch Katharina und Michael Petri sind miteinander verwandt bzw. verschwägert, denn Michael Petri war der Onkel ihres Mannes Georg. Er war der ältere Bruder von dessen Vater Georg (15.8.1856 – 22.121940). 160 Vgl. v. a. Die Deportation von Siebenbürger Sachsen in die Sowjetunion 1945–1949. 3 Bde. Hgg. Georg W e b e r , Renate W e b e r - S c h l e n t h e r . Köln, Weimar, Wien 1995. 161 Dies erzählten mir dankenswerterweise Peter Fleischers Töchter Gertrud Stamp, geb. Fleischer (geb. 21.5.1931) und Hilde Fleischer. 162 Vgl. z. B. die Jugenderinnerungen von Manès S p e r b e r (12.12.1905–5.2.1984), der nicht nur als „Zeuge des 20. Jahrhunderts“ und Schriftsteller, sondern auch als Sozialpsychologe und Philosoph seine Erfahrungen reflektiert und sich insbesondere über die Bedeutung seiner Fluchterfahrung während des Ersten Weltkriegs für sein weiteres Leben Gedanken machte. Vgl. d e r s .: Die Wasserträger Gottes. All das Vergangene. Bd. 1. Frankfurt/M. 1993, siehe auch S c h u s t e r : Zar, sowie Rudolf I s l e r : Manès Sperber. Zeuge des 20. Jahrhunderts. Eine Lebensgeschichte. Aarau 2004. 163 Daher nimmt ein Nachspiel zu der Geschichte von 1916, von dem mir die Schwestern Gertrud Stamp und Hilde Fleischer berichteten, geradezu absurde Züge an: In den 1950er Jahren – zu einer Zeit als die sozialistischen Machthaber jedem, aber insbesondere den Siebenbürger Sachsen misstrauten – wurde bei Reparaturarbeiten am Dach von Mathilde Fleischers Elternhaus, zwischen Dachbalken und Ziegeln versteckt, ein alter Revolver aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gefunden. Diesen lieferten die Handwerker bei der Polizei ab, die wohl sofort konspirative Attentats- oder Umsturzpläne vermutete und daher Julie Marie Fleischer als die letzte einzig noch dort lebende ursprüngliche Bewohnerin des Hauses vorlud. Diese konnte allerdings den nicht ungefährlichen Verdacht ausräumen unter Hinweis darauf, dass die Waffe schon alt sei, wahrscheinlich schon während des Ersten Weltkriegs dort versteckt worden war, und sie daher keine Ahnung habe, wie sie dahin gekommen sei, da sie damals noch jung gewesen sei und sich nicht für Waffen interessiert habe. Ob die Waffe 1916 dort versteckt wurde, als die rumänischen Besatzer begannen, die Häuser nach nicht abgelieferten Waffen zu durchsuchen, oder ob einer ihrer Brüder die Waffe beim Spielen auf den ehemaligen Schlachtfeldern in der Gemeinde gefunden und dort versteckt hatte, lässt sich nicht mehr feststellen.
S I E B E N B ÜR G I S C H E ÄR Z T E I M E R S T E N W E LT K R I E G Hansgeorg von K i l l y e n
Einleitung Viel ist in den letzten Monaten zum Thema Erster Weltkrieg geschrieben, gesagt und in Bildern vermittelt worden. Man berichtet z. B. von der August-Euphorie, die in den Monaten um den Ausbruch 1914 in wohl allen kriegsbeteiligten Ländern aufgekommen war, bringt die Schuldfrage zur Diskussion, debattiert über den Krieg als Urkatastrophe, über Eskalation und Deeskalation der Ereignisse oder über den industriellen Charakter des Krieges. „Auch wenn die Diskussion um den Ausbruch des Ersten Weltkriegs alt ist, so ist das Thema aktuell, eigentlich noch aktueller und bedeutsamer als vor zwanzig oder dreißig Jahren.“1 Angeregt durch Christopher Clarks beachtenswerte Publikation soll der folgende Beitrag eine kleine Facette des Kriegsgeschehens in Siebenbürgen beleuchten, und zwar die Militärmedizin in Hermannstadt (Sibiu, Nagyszeben) während des Ersten Weltkriegs. Der Erste Weltkrieg wurde von 1914 bis 1918 in Europa, dem Nahen Osten, in Afrika, Ostasien und auf den Weltmeeren geführt und forderte rund 20 Millionen Menschenleben. Annähernd 70 Millionen Menschen standen unter Waffen im bis dahin umfassendsten Krieg der Geschichte. Auch die Zahl der vom Krieg direkt und indirekt betroffenen Menschen aus Siebenbürgen war beträchtlich2. Über das Thema Krieg und Medizin in diesem zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ist einiges erschienen. So weiß man heute, dass Soldaten an der Westfront nicht nur durch Schussverletzungen und durch Giftgas ums Leben kamen. „Dieser Krieg hatte auch medizinisch eine neue Dimension. Zum ersten Mal übertraf die Zahl der Verletzungen die der Durchfallerkrankungen und die durch schlechtes Wetter und verseuchtes Wasser verursachten wie Ruhr oder Cholera.“ 1
Christopher C l a r k : Die Schlafwandler. München 2013, S. 14. Sterberegister der Garnisons- und Spitalsseelsorge in Hermannstadt. Österreichisches Staatsarchiv, Kriegsarchiv, Nr. 0845. 2
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Völlig neu waren die Bandbreite und das Ausmaß der psychischen Versehrungen: Schocks und Traumata, zuvor nur in Einzelfällen von ersten Eisenbahnunglücken oder dem Untergang der Titanic bekannt, erschütterten nun Hunderttausende Frontsoldaten. Neue medizinische Herausforderungen gab es auch weit weg von den Frontlinien, „denn nicht nur mit Prothesen und Gehwägelchen versehene Kriegsversehrte brachten den Krieg in den Alltag, auch die immer schlechtere Versorgung der Zivilbevölkerung erschütterte die Menschen“3. In diesem Beitrag soll zum Thema Medizin und Erster Weltkrieg exemplarisch die Rolle der Ärzte in und aus Siebenbürgen während der vier Kriegsjahre betrachtet werden; dabei werden punktuell nur einige Mediziner und ihr Wirken im Krieg genannt. Vieles aus der Geschichte des Ersten Weltkriegs ist wenig bekannt, z. B. die Narrationen des Zeidner Pfarrers Emil Lassel, der sich, entgegen dem Trend und dem Ton in den damaligen Medien, was Krieg anbelangt, folgendermaßen äußert: „Die Weltseuche bekamen wir in unserem Winkel [dem Burzenland in Siebenbürgen] allmählich auch zu spüren.“ Und speziell auf das Burzenland bezogen, erwähnt Lassel Folgendes: „1916 waren 9/10 der [sächsischen] Dorfbevölkerung des Burzenlandes durch ihre Flucht vom Kriegsgeschehen betroffen.“ Über Kronstadt (Brașov, Brassó) hielt er fest: „Eine Weile stand die Stadt im Mittelpunkt des Weltkriegs und die Insel der Seligen war in ein waffenstarrendes Arsenal verwandelt.“4 Zu den Ereignissen nach dem Eintritt Rumäniens in den Krieg schreibt der Kronstädter Bürgermeister K. E. Schnell in seinen Erinnerungen Folgendes: „Trotz der prekären wirtschaftlichen Realitäten hatten die Sachsen auf dem Gebiet der Wohltätigkeit und der Kriegsfürsorge Beachtliches geleistet. Bis zum Februar 1916 wurden in Naturalien, Wäsche und Bargeld 807.480 Kronen gespendet und bis zum Kriegsende betrugen die Spenden der Sachsen 2,5 Millionen Kronen, etwa einer Jahressteuer gleichzusetzen. Einen wirtschaftlichen Aderlass bedeuteten auch die von den Sachsen gezeichneten Kriegsanleihen von 500 Millionen Kronen.“5
3 Axel H e l m s t ä d t e r , Sven S i e b e n b a n d : Mangelware Arzneimittel. Pharmazeutische Zeitschrift online, Ausgabe 26/2014, S. 1. 4 Emil L a s s e l : Aus der Übergangszeit 1914–1924. Das sächsische Burzenland einst und jetzt. Hermannstadt 1925, S. 150. 5 Martin R i l l , Carl G ö l l n e r : Der Erste Weltkrieg 1914–1918. Die Siebenbürger Sachsen in den Jahren 1838–1918. Köln, Wien 1988, S. 250.
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Zur Geschichte des Militärärztewesens Einleitend seien einige Fakten zur Geschichte der Heilkunst in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts in Siebenbürgen genannt, die sich auf die Militärmedizin beziehen und die mit den Ereignissen des Weltkriegs 1914–1918 im Zusammenhang stehen. Über die Ausbildung der in Siebenbürgen aktiven Militärärzte ist an anderer Stelle geschrieben worden6. Die Zahl der siebenbürgischen Kriegsteilnehmer in der österreichisch-ungarischen Armee umfasste zu Beginn des Krieges 17.666, am Ende (1918) waren es 37.533 Mann, die Hälfte davon Offiziere und Unteroffiziere. Die Sachsen waren in acht Infanterie- und vier Artillerieregimentern des 12. Siebenbürgischen Korps erfasst. Drei Siebenbürger Sachsen wurden während des Krieges in den Rang eines Feldmarschalls befördert, und zwar Arthur Arz v. Straußenburg, zeitweise Oberkommandierender des Kaiserlichen Heeres, Ludwig v. Fabini und Emil v. Ziegler. Ende 1918 nannte das k. u. k. Heer 760.000 Verwundete und 481.500 Tote. Beachtlich war auch die Zahl der Kriegsgefangenen, Gefallenen und Vermissten unter den Siebenbürger Sachsen, und zwar etwa 5.000, dazu über 1.000 Kriegsinvalide. Weitere direkte und indirekte Folgen der Kriegsereignisse sollen hier nur kurz genannt werden: der Mangel an Arbeitskräften besonders in der Landwirtschaft und bei den Handwerkern, die Requirierung von Zugtieren, die Zerstörungen an Häusern, Verkehrswegen u. a. Die zweimonatigen Kriegshandlungen durch die Invasion Rumäniens im Herbst 1916 nach Südsiebenbürgen hatte die Flucht von nahezu 200.000 Zivilpersonen zur Folge; dazu kamen die zahlreichen eingeschmolzenen Kirchenglocken u. v. m. Die politischen Konstellationen besonders nach dem Eintritt Rumäniens in den Krieg im August 1916 und dessen schwerwiegendste spätere Folgen nach Ende der Kriegshandlungen waren der Anschluss Siebenbürgens und des Banats an Rumänien7. Die Geschichte des Militärärztewesens und dessen Strukturen zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind eng verbunden mit der Geschichte des Kriegssanitätswesens. Auf dem gesamten Territorium der Habsburgermonarchie gab es 1899/1900 27 Militärgarnisonen und dementsprechend 27 Garnisonsspitäler, darunter das Garnisonsspital Nr. 22 in Hermannstadt. In diesen Spitälern war eine ständige Dislokation des Personals gang und gäbe, fast jährlich wechselten deren Kom6 Robert O f f n e r , Hansgeorg v. K i l l y e n : Ungarische Zöglinge und Studenten der Wiener Medizinisch-chirurgischen Josephs-Akademie 1775–1874. Budapest 2013, 142 S. 7 Konrad G ü n d i s c h : Siebenbürgen und die Siebenbürger Sachsen. München 1998, S. 164–166.
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mandanten. Jedes Garnisonsspital hatte eine Sanitätsabteilung, d. h. eine Militäreinheit, die nur aus Sanitätern bestand, sowie einen oder mehrere Militär-Curaten, also Geistliche; für alle Garnisonsspitäler sind auch Hebammen vermerkt. Bei Kriegsbeginn gab es im gesamten k. u. k. Heer 1.500 Berufsmilitärärzte und Marinemediziner. Anfang August 1914 wurden durch das allgemeine Aufgebot fast alle reserveund landsturmpflichtigen Ärzte sowie viele im Ruhestand befindliche Militärärzte einberufen oder meldeten sich freiwillig. Daneben kamen auch die sog. Sanitätsunteroffiziere, d. h. die einjährig freiwilligen Mediziner dazu8. Im Zeitraum 1914–1918 gab es zwei unterschiedliche Entwicklungen mit medizinischen Auswirkungen. Immer effektiver wurden die Kriegsmittel wie Geschütze, Panzer und Flugzeuge und nicht zuletzt das Giftgas. Andererseits wurden immer mehr Versehrte behandelt und z. T. gerettet. Der Aufschwung der orthopädischen Prothetik war enorm, denn der sog. „Sauerbrucharm“ und ähnliche Prothesen brachten den Verwundeten Besserung. Erfolgreich war auch die vor Jahrzehnten erfundene Asepsis. Auch in der Neurologie gab es Fortschritte, z. B. in der operativen Therapie von Gehirnverletzungen und in der Aphasie-Forschung9.
Die Situation in Hermannstadt Hermannstadt war seit Ende des 17. Jahrhunderts Garnisonsstadt, weshalb auch die Präsenz des Militärsanitätspersonals erforderlich war. 1890 waren in Hermannstadt 3.301 Militärangehörige stationiert, die zusammen mit ihren Familien etwa 25 Prozent der Stadtbevölkerung ausmachten. Das erste erwähnte, selbständige Militärhospital – es war übrigens auch das erste Krankenhaus Siebenbürgens dieser Art – befand sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts in der Knopfgasse. Ihm wurde im 4. und 5. Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts ein zusätzliches Gebäude durch Ankauf eines nachbarlichen Anwesens zugedacht. Zur Mitte des 18. Jahrhunderts hin wuchs die Garnison Hermannstadt dank des russisch-türkisch-österreichischen Krieges beträchtlich, und das Militärspital musste vergrößert werden. 1785 zog das Militärspital in das renovierte Arsenal-Gebäude auf dem Zeughofplatz ein. Diese sogenannte Josephinische Militärspitalsgründung hatte 8 Ioan V. B a r b u. a.: Spitalul militar Sibiu – 275 ani de atestare documentarӑ [Das Hermannstädter Militärspital – 275 Jahre seit seiner ersten urkundlichen Erwähnung]. Sibiu 2014, 277 S. 9 Wolfgang U. E c k a r t : Kriegskrüppel. SWR 2 Extra. Wissen/Aula. Sendung v. 17.8.2014.
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anfänglich 200 Betten. Einige Jahre darauf wurde das Krankenhaus durch die Umwandlung einiger Häuser am Hundsrücken um weitere Krankenstationen vergrößert. Das Militärspital war gut organisiert und strukturiert und hatte eine eigene Militärapotheke. Das moderne Hermannstädter Garnisonsspital wurde 1859 in Funktion gesetzt, und zwar im Gebäude der damaligen Offiziersschule in der Schäwisgasse, wo es mit 500 Betten eines der modernsten seiner Zeit war. Bis auf den heutigen Tag funktioniert in diesem Gebäude das Militärspital. Eine 2014 herausgegebene Publikation vermerkt als Gründungszeit das Jahr 1739, als der Militärarzt Jakob Hutter dort sein Wirken begann10. Zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden in Hermannstadt folgende Militär-Mediziner genannt: – Oberstabsärzte I. Klasse: Dr. Franz Weese, Sanitäts-Chef des 12.Corps in Hermannstadt, und Dr. Jakob Schaff, Comandant des Garnisonsspitals Nr. 22; – Stabsärzte: Dr. Johann Papp und Dr. Wilhelm Heltner, letzterer Chefarzt der 16. Infanterie-Truppen-Division Hermannstadt; – Regimentsärzte 1. Klasse, also Doktoren der Medizin und der Chirurgie: Adolf Spech (Cadetten-Schule Hermannstadt) und Joseph Halphen. 1911 werden im Hermannstädter „Adressbuch“ 60 Human-Mediziner und 13 Militärärzte genannt (siehe Tabellen 1 und 2). Die Situation im Hermannstädter Militärspital zu Beginn des Ersten Weltkriegs beschreibt Gheorghe Vlad folgendermaßen: „Die Teilnahme am Krieg war schon sichtbar, u. a. auch durch die Flut der Kriegsverwundeten, die in den Hermannstädter Spitälern ankamen. Schon am 10 September 1914 waren es über 1000 Verwundete, hauptsächlich Rumänen der k. u. k. Truppen. Notspitäler wurden in folgenden Immobilien Hermannstadts eingerichtet: Kadettenschule, das Lehrerseminar, die Kavallerie-Kaserne, die Räume der Geburtenklinik, Räume des städtischen Spitals und das Theologisch-orthodoxe Institut. Das Gesamtnetz der Militärkrankenhäuser unterstand dem kommandierenden Arzt Dr. Leopold Deutsch, einem zum katholischen Glauben übergetretenen Juden, der als Leiter eigentlich unfähig war, der oft in Panik kam und sogar vorhatte, das Militärspital nach Klausenburg zu verlegen.“11 10 Gheorghe V l a d , Mihai R a c o v i ț e a n : Spitalul militar Sibiu, 260 ani de atestare documentarӑ [Das Militärspital in Hermannstadt – 260 Jahre seit seiner ersten urkundlichen Erwähnung]. Sibiu 1999, S. 107. 11 Bericht der Medizinischen Sektion. In: Verhandlungen und Mitteilungen des Siebenbürgischen Vereins für Naturwissenschaften Hermannstadt 66 (1916), S. 1–6.
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Nach Ausbruch der Kriegshandlungen mit Rumänien am 28. und 29. August 1916 mit dem Eindringen der rumänischen Truppen in Siebenbürgen wurde u. a. auch das Militärspital evakuiert – neben den mehr als 20.000 Zivilpersonen, die Hermannstadt verlassen mussten. Ende September 1916 zogen die k.u. k. Truppen sowie deutsche Regimenter in Hermannstadt ein. Die deutschen Soldaten wurden u. a. im sogenannten Barackenlager im Hof des jetzigen Geschichtsmuseums im Altemberger-Haus untergebracht. Die Zahl der Toten und Verwundeten war erneut sehr groß. Ein Jahr darauf wurde am Hermannstädter Zentralfriedhof im Jungen Wald der Militärfriedhof um 4 Joch erweitert. In den Militärspitälern arbeiteten freiwillig zahlreiche Frauen des Hermannstädter sächsischen Bürgertums. Viele von ihnen wurden mit der Rot-Kreuz-Medaille dritter Klasse ausgezeichnet12. Tabelle 1: Humanmediziner in Hermannstadt, 1911. Namen
Fachrichtung
Beu, Ilie Bielz, Julius Czekelius, Daniel Eitel, Adolf Ernst, Heinrich Fischer, Emil Fülöp, Franz Göllner, Heinrich Grasser, Otto Grauer, Bernard Grün, Moritz Gundhardt, Karl Heltner, Wilhelm Hetyey v. Makkos, Julius Hochmeister, Viktor Holoss, Isidor Hollos, Stefan Ittu, Nikolaus Jeleszitz-Duschan Jancu, Ilie Kondr, Willhelm Lindner, Ernst Moeferdt, Gustav Otto, Wilhelm Pándy, Koloman
Allgemeinarzt Praktischer Arzt Stadtphysikus Chirurg Zahnarzt Dermatologe Chirurg Allgemeinarzt Praktischer Arzt Regimentsarzt, 2. Inf.Reg Allgemeinarzt Stadtarzt, Zahnarzt Generalstabsarzt der Reserve k. u. k. Stabsarzt der Inf., Kadettenschule Gynäkologe Psychiater Oberarzt, Irrenanstalt Sekundararzt k. u. k. Assistenzarzt Sekundararzt Regimentsarzt Zahnarzt Zahnarzt Königl. Rat, Direktor des Bürgerspitals Psychiater
12
V l a d , R a c o v i ț e a n : Spitalul militar Sibiu, S. 107.
Siebenbürgische Ärzte im Ersten Weltkrieg
Phleps, Karl Popp, Johann Reissenberger, Gustav Reissenberger, Ludwig Revezs, Béla Robitschek, Wilhelm Roth, Viktor Sachsenheim, Arthur v. Schuller, Friedrich Schuller, Heinrich Schuller, Max Schwarz, Adolf Schwarz, Josef Spech, Adolf Steinburg v. Pildner, Julius Süßmann, Friedrich Szalay, Béla Ungar, Karl Werner, Johann Zeidner, Rudolf
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Zahnarzt Oberstabsarzt d. R. Sekundararzt Sanatoriumsleiter, Badearzt Psychiater Oberstabsarzt Zahnarzt Primararzt am Franz-Joseph-Bürgerspital Sekundararzt Komitatsoberphysikus Internist, Regimentsarzt Stabsarzt Allgemeinarzt Stabsarzt Generalstabsarzt Frauenarzt Frauenarzt Prosektor und Bakteriologe Praktischer Arzt k. u. k. Oberarzt
Aus: Adressbuch der k. freien Stadt Hermannstadt für das Jahr 1911. Hermannstadt 1912.
Tabelle 2: Militärärzte in Hermannstadt, 1911. Grauer, Bernard Heltner, Wilhelm Hetyey v. Makkos, Julius Jeleszisz, Duschjan Jantsch, Josef Kondr, Willhelm Kreutzer, Karl Popp, Johann Robischtek, Wilhelm Schuller, Max Schwarz, Adolf Steinburg v. Pildner, Julius Spech, Adolf Zeidner, Rudolf
Regimentsarzt, 2. Inf.Regiment Generalstabsarzt der Reserve k. u. k. Stabsarzt der Infanterie k. u. k. Assistenzarzt Stabsarzt Regimentsarzt k. u. k. Oberstabsarzt d.R., Leiter der Hermannstädter Frauenklinik Oberstabsarzt Oberstabsarzt Regimentsarzt Stabsarzt Generalstabsarzt Stabsarzt k. u. k. Oberarzt
Aus: Adressbuch der k. freien Stadt Hermannstadt für das Jahr 1911. Hermannstadt 1912.
1916 hatte die Medizinische Sektion des Siebenbürgischen Vereins für Naturwissenschaften 82 Mitglieder, davon 59 in Hermannstadt tätige Ärzte. 29 Mitglieder dieser Sektion waren auf den Kriegsschauplätzen
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tätig und weitere 28 in Militärspitälern. Das berufliche Leben und die Pflichten der Militärärzte in Hermannstadt waren jetzt intensiv und vielseitig. Trotzdem konnten sich die Mediziner auch mit ihrer Weiterbildung befassen. 1914 existierte in Hermannstadt der „Wissenschaftliche Verein der Militärärzte der Garnison Nagyszeben“. Daten über das Wirken dieses Vereins konnten aus einigen Nummern der Zeitschrift „Der Militärarzt“ (Wien) entnommen werden, so z. B. einem Bericht vom 23. Oktober 1915 aus der Sitzung des genannten Vereins, in dem folgende Ärzte Mitteilungen vorgebracht haben: Alfred Neumann, Karl Ungar, Carl Jikeli und Béla Révesz13. Einige bekannte Persönlichkeiten unter den Siebenbürger Sachsen entdeckten an sich diverse Krankheiten, die ihnen einen Fronteinsatz ersparen sollten. Ihre Kriegsbegeisterung war nicht allzu groß, wie Friedrich Teutsch bezeugt14.
Mediziner aus Siebenbürgen im Ersten Weltkrieg An den Beginn sei hier ein deutscher Militärarzt gestellt, der in Siebenbürgen seinen Fronteinsatz beschrieb: Hans Carossa, der bekannte deutsche Schriftsteller, war Frontarzt und hat eine im Insel-Verlag 1924 veröffentlichte Publikation mit dem Titel „Rumänisches Tagebuch“ verfasst. Zwei Jahre lang, von 1916 bis 1918, war Carossa Bataillonsarzt in einem bayrischen Reserveinfanterieregiment, zunächst an der Westfront und ab Oktober 1916 an der Front in den Ostkarpaten, und zwar in Salzberg (Sărățeni, Praid), am Oituz-Pass und in anderen Orten. Carossa erläuterte sein Wirken als Arzt, z. B. bei Typhusimpfungen, nannte auch andere von ihm durchgeführte Einsätze zur Rettung Verwundeter und beschrieb in seinem Tagebuch die Landschaften in den Ostkarpaten. Dr. med. Julius Friedrich Bielz (auch Julius Bielz der Ältere genannt, 1856–1927) war Sohn des bekannten Hermannstädter Intellektuellen und Naturwissenschaftlers Eduard Albert Bielz. Er war in Hermannstadt praktischer Arzt und wirkte während des Ersten Weltkriegs als Militärarzt im Garnisonsspital Nr. 22. 1917 veröffentlichte er eine Arbeit unter dem Titel: „Die Infektionskrankheiten des k. u. k. Garnisonsspitals Nr. 22 Nagyszeben“, die auch im Sonderdruck erschienen ist. Auch später sind die Infektionskrankheiten sein Hauptthema, z. B. die 13 Hansgeorg v. K i l l y e n : Istoricul asociației medicilor militari din Sibiu la sfîrșitul secolului XIX și începutul sec. XX [Die Geschichte des Militärärztevereins in Hermannstadt am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts]. In: Sibiul medical XI (2000), S. 102–106. 14 Friedrich T e u t s c h : Die Siebenbürger Sachsen in den letzten 50 Jahren 1869–1919. Hermannstadt 1926, S. 217.
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Publikation mit dem Titel „Die Wasserversorgung von Hermannstadt und das Auftreten von Thyphuserkrankungen“15. Prof. Dr. Valeriu Lucian Bologa, der bekannte und wohl bedeutendste Medizinhistoriker des 20. Jahrhunderts in Siebenbürgen, wurde 1892 in Kronstadt geboren. Er konnte fließend alle drei Landessprachen, nachdem er Teile seiner schulischen Ausbildung an deutschen und ungarischen Schulen und zuletzt am rumänischen Şaguna-Gymnasium in Kronstadt erfahren hatte; zeitweise war Bologa auch Schüler des Piaristen-Gymnasiums in Wien. 1911 inskribierte er aufgrund eines Stipendiums der rumänischen siebenbürgischen Stiftung „Trandafir“ an der Universität Jena, zunächst an der berühmten von Ernst Haeckel geprägten naturwissenschaftlichen Fakultät. Parallel begann er ebenfalls in Jena sein Medizinstudium. 1914 wurde er zum k. u. k. Militär einberufen. Obwohl noch nicht fertiger Arzt, wurde er Bataillonsmediziner, und zwar in einer Truppeneinheit an der italienischen Front. Noch während des Krieges setzte er sein Studium in Innsbruck fort, wo er sein Rigorosum absolvierte. Kurz vor Ende des Krieges (Oktober 1918) geriet er in italienische Gefangenschaft. In Italien reihte er sich in ein freiwilliges rumänisches Regiment ein, das Regiment Nr. 2 „Cloșca“. In die Heimat zurückgekehrt, blieb er zunächst Militärmediziner und beendete 1919 sein Studium in Klausenburg (Cluj, Kolozsvár). Anschließend wurde er Assistent am Lehrstuhl für Histologie an der Universität Klausenburg und nach kurzer Zeit Assistent am Lehrstuhl für Geschichte der Medizin. 1932 wurde er Inhaber des dortigen Lehrstuhls, prägte 40 Jahre die medizingeschichtliche Forschung in Klausenburg und bildete zahlreiche Studenten aus. Bologa starb 197216. Den Erinnerungen des Hermannstädter Zahnarztes Heinrich Ernst, die im Zusammenhang mit den Ereignissen 1914–1918 stehen, ist in gekürzter Form Folgendes zu entnehmen: „Zu Hause angelangt meldete ich mich am 2. August [1914] als Assistenzarzt-Stellvertreter beim Honvéd-Ergänzungskommando in Hermannstadt. Meine Einteilung zu einem Honvéd-Etappenbataillon, das aus 38–42 Leuten bestand, ließ daraus schließen, dass mein Tätigkeitsfeld die Etappe sein würde, doch kam es auch hierhin anders. Auf Drängen meiner Leute, doch alles daran zu setzen, dass ich eine Einteilung in der Heimat bekäme, fragte ich bei dem damaligen Garnisonsspital-Kommandanten O.St.A. 15 Julius B i e l z : Die Infektionskrankheiten des k. u. k. Garnisonsspitals Nr. 22 in Nagyszeben. Sonderdruck Nr. 185, Hermannstadt 1915. 16 Samuel I s z á k , Sandu B o l o g a : Valeriu Bologa. Evocare monografică [V. Bologa, eine monografische Ehrung]. Cluj-Napoca 1995, S. 173; Arnold H u t t m a n n : Valeriu Lucian Bologa und Kronstadt. In: d e r s .: Medizin im alten Siebenbürgen. Hg. Robert O f f n e r . Hermannstadt 2000, S. 391.
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[Oberstabsarzt] Leopold Deutsch an, ob für einen Zahnarzt keine Verwendung an einer Kieferabteilung des Garnisonsstabes sei. Ich wurde brüsk abgewiesen, solches sei nicht möglich. Mein Bataillon blieb jedoch noch bis Oktober in Hermannstadt, so dass ich, wenn auch sehr eingeschränkt, Praxis machen konnte. Ende Oktober ging dann unser Bataillon mit unbekanntem Ziel von Hermannstadt ab […]. Meine Stellung beim Bataillon war eine sehr gute, ich machte gewissenhaft meinen Dienst und war den Offizieren ein guter Kamerad […] In Radna [Altrodenau, Rodna, Óradna, im Nordosten Siebenbürgens] auswaggoniert, ging es über Rotunda und Cîrlibaba durch die Bukowina nach Kuty [Cuturi, in Pokutien, Ukraine] und Delatyn [Deljatyn, in Galizien, Ukraine], wo wir die erste Berührung mit dem Feind hatten […]. Granaten und Schrapnells gingen links und rechts nieder, eine Kugel drang durch die Hofwände eines Hauses […]. Die Schwerverwundeten mussten wir aus Zeitmangel dem Ortsrichter abgeben […]. Wir wurden von starken feindlichen Kräften auf die Rotunda [Rodnai, Berg der Ostkarpaten] zurückgedrängt […]. Anfang Januar 1915 – ich war als 40-jähriger von Beginn an beim Bataillon gewesen und hatte alle Strapazen der Märsche durch Dick und Dünn, die Gefechte und die Unbilden des Wetters mitgemacht, während rückwärts bei der Division-Sanitätsanstalt meist jüngere Protéges saßen. Da mein Herz den Anstrengungen scheinbar nicht gewachsen war, meldete ich mich krank, wurde aber nicht etwa zur Konstatierung abgeschoben, sondern bei der Divisions-Sanitäranstalt eingeteilt, bei der ich bis Januar 1915 blieb, um dann dem Armee-Gruppenkommando Pflanzer zugeteilt zu werden […]. Als unser Rückzug von der Rotunda zu Ende war, kam die Ablösung für mich: Dr. Wilhelm Hager aus Hermannstadt [siehe weiter unten]. Ich wurde zum Armeekommando beordert, um dort ein zahnärztliches Ambulatorium aufzustellen, eines der ersten im gesamten Heere. Conrad Dörschlag [ebenfalls ein Hermannstädter] hatte diese Versetzung in die Wege geleitet. Ich rückte nun als Armeezahnarzt nach Marmaros-Sighet [Marmarosch, Maramureș]. Was ich an Ausrüstung besaß, waren meine eigenen Zangen und außerdem eine in Wien für den Bedarf eines Feldambulatoriums zusammengestellte Instrumentenkiste. Spartanisch. Ein vor den Russen aus Galizien geflohener jüdischer Techniker war mein erstes Personal. Aus den genannten Anfängen baute ich ein Ambulatorium auf, das 2 Ärzte, 3 Techniker, darunter auch ein Dentist und 3 Ordonnanzen hatte. Es gab reichlich, meist sehr viel zu tun. […] 1918 verschlimmerten sich meine Leiden, ich meldete mich krank; Deutsch wollte an meine Krankheit nicht glauben. Ich erhielt auf intensives Betreiben Krankenurlaub nach
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Karlsbad [Karlovy Vary], wohin ich im Mai 1918 fuhr. Die dortigen Militär-Ärzte waren nicht erstklassig. Dazu die aller Beschreibung spottende Verköstigung im Militärkurhaus, so dass ich, trotz strenger Einhaltung der Bade- und Trinkkur, in fast noch schlechterem Zustand heimkehrte. Einzig das Ausspannen aus Dienst und Arbeit, die schönen Spaziergänge in die herrliche Umgebung hatten mich seelisch etwas aufholen lassen. Das Leben wurde immer widerwärtiger. Zum Winterbeginn 1918 wurden durch den Verrat Karolys an der Sache der Zentralmächte die ungarischen Soldaten von der Front heimgerufen und die Republik ausgerufen. Mannschaften der eigenen Hermannstädter Garnison und Kriegsgefangene marschierten mit Gejohle und Geschrei zum Bahnhof […]. In der Nacht stürzte sich der Mob, mit Soldaten des 82. Székler Regiment untermengt, auf Geschäfte und plünderte. Was sich am Fenster zeigte, auf das wurde geschossen […]. Es war die fürchterlichste Nacht meines Lebens. Am Morgen jagten die beherzten Bürger mit Stöcken die Plünderer aus den Geschäften und die Bürgerschaft bildete Garden (Rumänen, Sachsen, Ungarn). Das einmarschierende rumänische Heer folgte den in Ordnung zurückgehenden Truppen Mackensens. Dann zog General Mosoiu ein, es kam zur Besetzung Siebenbürgens bis an die Theiss, zum Einmarsch in Budapest, dem Niederwerfen des Bolschewismus dortselbst, zur Einverleibung Siebenbürgens, zur Anschlusserklärung der Sachsen in Mediasch mit allen aus diesen Wandlungen entspringenden Folgen. Im Oktober-November 1918 ging eine schwere Grippeepidemie über das Land, sie befiel auch viele Insassen des Spitals. Gelegentlich der Plünderung standen die Kranken auf und plünderten mit. Sie fanden dann nicht mehr zu ihrem Bett zurück, sondern zu einem anderen, oft in einem anderen Spital. Am Tag der Plünderung zählte ich am Gange des Garnisonsspitals 18 Leichen, die nicht agnostiziert [identifiziert] werden konnten, da auch die Krankenwärter weggelaufen waren. Deutsch, der auch jetzt noch Kommandant war, fragte bei mir an, ob ich weiter im Garnisonsspital Dienst machen wolle. Ich sagte unter der Bedingung zu, keinen Inspektionsdienst tun zu müssen. Daraufhin rüstete er mich zum letzten November ab, um mir nicht mehr die Dezembergage zahlen zu müssen. Ein perfekter Gentleman. Als mir dann der Heuchler bei meiner Abmeldung eine sog. ‚Belobigung im Namen des allerhöchsten Dienstes‘ übergab, verweigerte ich deren Annahme und, als er mir zudringlich das Papier in die Hand drückte, zerriss ich es, warf es ihm vor die Füße und schlug grußlos die Türe zu. So endete mein vierjähriger Kriegsdienst. Deutsch erhielt den Rat, aus der Medizinischen Sektion [des Siebenbürgischen Vereins für Na-
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turwissenschaften] auszutreten, was er dann auch tat und kurz danach aus Hermannstadt verschwand. Mit den Ereignissen des Zusammenbruchs sank eine ganze Welt von Ansichten, Begriffen, Gewohnheiten des persönlichen und politischen Lebens in Trümmer und ein Neues, Ungewohntes, Andersgeformtes wuchs aus dem Schutt der Zeiten […]. Der Sächsische Nationalrat gab ein neues Volksprogramm heraus […]. Im Auftrage der Ärzteschaft legte ich dem Volksrat ein von mir entworfenes, von der Medizinischen Sektion genehmigtes Projekt des Sanitätswesens im Rahmen der sächsischen Mark vor. Meine Gesundheit jener Jahre war miserabel, ich riss mich aber zusammen, arbeitete bis in die Nächte. Der Eifer, für mein Volk etwas zu tun, zu erzwingen oder zu erlangen, hatte mich gepackt und hat mich all die Jahre festgehalten.“17 Wilhelm Hager (1891–1965) war Kinderarzt in Hermannstadt und hatte in Budapest studiert. Nach dem Studium war Hager Assistenzarzt in den Kinderkliniken Düsseldorf und Tübingen. Über Hagers vielfältiges Wirken in Hermannstadt ist an anderer Stelle berichtet worden. Aus seinem mehrjährigen Aufenthalt an der Ostfront während des Ersten Weltkriegs ist jedoch ein Text erhalten, den die Nachkommen von Dr. Wilhelm Hager, und zwar der Sohn Dr. Hans Hager, ebenfalls Kinderarzt, und Tochter Margarete Mederus, geb. Hager, 2005 in der „Siebenbürgischen Zeitung“ veröffentlichten. Am 25. Dezember 1917 war Hager Bataillonsarzt im k. u. k. Hermannstädter Infanterieregiment Nr. 31, das an der russischen Front bei Chotin in Bessarabien stationiert war. Während eines kurzen lokalen Waffenstillstandes ging Hager, gekennzeichnet mit einer Rot-Kreuz-Armbinde, zu den russischen Stellungen, um eine Abordnung des Feindes zu einer Weihnachtsfeier des österreichisch-ungarischen Regimentes einzuladen. „Drei Leute kamen herüber, darunter ein junger russischer Arzt Dr. Elanski, 208 cm groß und in Lackstiefeln. Er sprach gut Deutsch. Ich unterhielt mich eine ganze Nacht hindurch ausgezeichnet mit ihm. Er hatte in Berlin studiert. Wir sprachen über die dortigen Professoren, über das Gängige an der Front wie Flecktyphus und Urlaub. Nach dem Festessen und vielen polnischen Schnäpsen gingen die russischen Militärangehörigen zurück in ihre Stellungen […]. Ich dachte nicht, dass ich noch etwas von ihm hören würde. Es kam aber anders. 1937, auf einem Ärztekongress in Berlin, erfuhr ich von einem Professor aus Riga, dass Elanski Dozent an der Leningrader Militärmedizinischen 17 Heinrich E r n s t : Erinnerungen an Friedrich Michael Ernst und Dr. Heinrich Gottfried Ernst. Typoskript 2003. Siebenbürgische Bibliothek Gundelsheim. Signatur: P II-e, S. 28–34.
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Akademie sei.“ Eine Begebenheit vom 21. Dezember 1944 erinnert daran. Die Rote Armee war schon längst in Rumänien einmarschiert. Dr. Wilhelm Hager, jetzt Leiter des Säuglingsheims in Hermannstadt, sollte ein Kind russischer Militärangehöriger therapieren und seine orthodoxe Taufe vermitteln. Vom russischen Kommandanten erfuhr Hager vom Generalarzt Dr. Elanski, der mit den Truppen der Roten Armee, vorbei an Hermannstadt, schon bei Arad sei. Hager nahm via Feldpost Verbindung mit Elanski auf und dieser versprach, Hager in Hermannstadt aufsuchen. Dazu kam es nicht, u. a. weil die Deportation der Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben in die damalige Sowjetunion begonnen hatte. Und zu guter Letzt eine dritte indirekte Kontaktaufnahme des siebenbürgischen Kinderarztes mit seinem russischen Kollegen: Hagers Tochter Margarete (verh. Mederus) war nach ihrem Studium erste Geigerin der Bukarester Staatsphilharmonie. 1958 veranstaltete die Philharmonie eine Tournee in die damalige Sowjetunion, nach Finnland und Schweden. Im oben genannten Text sagt nun Margarete Mederus Folgendes: „In Moskau nutzte ich einen unbewachten Augenblick und verließ das Hotel heimlich über die Feuertreppe, ausgestattet mit Elanskis Adresse und einem Moskauer Stadtplan. Ich konnte mich bis zum Institut Burdienko, wo Elanski leitender Professor der russischen Militärakademie geworden war, durchfragen. Ich kam bis in sein Büro, und um mich zu legitimieren, zeigte ich Elanski zwei Fotos, auf denen mein Vater und Elanski im Gefechtsstand von Weihnachten 1917 zu sehen waren. Elanski zeigte immer wieder seine Freude und lud mich zu sich ein. Weil ich allerdings ständig bewacht wurde, kam es nicht zu meinem Besuch. Die Beziehungen zu Dr. Wilhelm Hager wurden allerdings aufgefrischt, es kam zum Briefwechsel und Elanski schickte Büchergeschenke nach Hermannstadt.“ Lange blieb die Erinnerung an Elanski, der ursprünglich einer feindlichen Nation angehört hatte, lebendig. Beide Ärzte waren „von der gleichen humanistischen und ärztliche Gesinnung geprägt“18. Dr. Béla Révesz war vor und während des Ersten Weltkriegs Arzt am Garnisonsspital Hermannstadt. Von ihm ist ein Bericht mit dem Thema „Die militärpsychiatrischen Erfahrungen der Ersten Krankenabteilung des k. u. k. Garnisonsspitals Nr. 22 zu Nagyszeben“ bekannt, der von Révesz auf der Tagung des medizinhistorischen Vereins Hermannstadt 1917 vorgestellt wurde. Darin heißt es: „Auch hier erwiesen sich als häufigste Psychosen das manisch-depressive Irresein und 18 Hans H a g e r , Margarete M e d e r u s : Eine seltene Männerfreundschaft. In: Siebenbürgische Zeitung v. 30.4.2005, S. 12.
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die Dementia praecox in ihren verschiedenen Formen und Stadien. Paranoiker erwiesen sich im Einzelfalle als ganz brauchbare Soldaten. Auffallend häufig ist die Hysterie bei Landleuten, besonders häufig bei den burzenländischen Sachsen [die Gegend um Brasso].“19 Solche Kranke bilden einen ziemlich großen Prozentsatz der Deserteure, deren psychiatrische Begutachtung gefordert wurde. Rassenpsychiatrisch (wie Revesz sich ausdrückt) interessant ist die vom Vortragenden beobachtete Tatsache, dass „Erregungszustände“ bei Geisteskranken germanischer Abkunft bedeutend ruhiger verlaufen als bei Magyaren. Dr. Viktor Weindel, 1887 in Hermannstadt geboren, maturierte dort und inskribierte 1906 an der Universität München, die er bis 1910 besuchte; 1911 erhielt er in Budapest seinen Doktortitel. Anschließend arbeitete er fünf Jahre lang als Internist in München und ein Jahr in Berlin. Zurück in seiner Heimatstadt wurde Weindel ein allseits geschätzter Internist und Fachmann für Lungenkrankheiten. Später leitete er als Primararzt die Abteilung für Lungenkranke am Polyklinischen Ambulatorium in Hermannstadt und wirkte wesentlich an der Einrichtung und Eröffnung des Martin-Luther-Krankenhauses in Hermannstadt mit. Er war aktiver Initiator der Vereinstätigkeit im Siebenbürgischen Verein für Naturwissenschaften und im Deutschen Ärzteverein. 1916–1918 war er Militärarzt und Leiter eines Feldlabors sowie Lazarettarzt im Hermannstädter Garnisonsspital20. Dr. Eugen Worell wurde 1884 in Rosenau (Râșnov, Rozsnyo) bei Kronstadt geboren. Sein Vater stammte aus Leitmeritz (Litoměřice) in Böhmen. Der Vater war k. u. k. Militärarzt und zog nach seiner Heirat mit einer Rosenauerin nach Siebenbürgen. Durch den häufigen Garnisonswechsel des Vaters kam Eugen Worell nach Kaschau (Košice, Kassa) in die Zips, wo er das Gymnasium besuchte. Anschließend studierte er Medizin in Wien und Prag; 1908 war er Marinearzt im Kriegshafen Pola (Pula). Er betätigte sich als Schiffsarzt auf Reisen an die Küsten des Mittelmeers und Asiens bis Wladiwostok, Japan, Sumatra und zu den Philippinen. 1910 ging er auf Ansuchen der chinesischen Regierung in die Mandschurei, wo er bei einer schweren Lungenpestepidemie ärztliche Hilfe leistete. Ein Jahr später nahm er an einem Ärztekongress im chinesischen Mukden teil, wo die erwähnte Epidemie zur Sprache kam. Für seinen Einsatz in China erhielt Worell von den chinesischen Behörden den „Drachenorden“ und die „Goldene Erinnerungsmedaille“. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde 19
v. K i l l y e n : Istoricul asociației medicilor 13, S. 10. Fritz B e r w e r t h : Dr. Viktor Weindel 70 Jahre alt. Siebenbürgische Zeitung v. 12.12.1957. 20
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Worell ins rumänische Militär übernommen. Als Major versah er 15 Jahre lang den medizinischen Dienst im Hermannstädter Militärspital, wo er Internist, Röntgenarzt und Bakteriologe war. 1929 beteiligte sich Worell als Vertreter Rumäniens am Internationalen Kongress für Medizin und Militärpharmazie in London. Inzwischen Oberarzt, wurde er Vizepräsident der Hermannstädter Ärztekammer und empfing zahlreiche militärische Ehrenorden. 1940 eigentlich schon im Ruhestand, wurde Worell Chefarzt der 15. Rumänischen Division in Kischinew (Chișinău), wo er zum Brigadegeneral aufstieg. Den Naturwissenschaftlern wurde Worell durch seine Tätigkeit als Sammler und Kustos im Hermannstädter Museum bekannt. Seine großen entomologischen Kollektionen sind auch heute noch ein bedeutender Bestandteil der Naturaliensammlungen dieses Museums21. Dr. Karl Ungar war einer der wichtigsten siebenbürgisch-sächsischen Ärzte und Naturwissenschaftler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ungar kam 1869 in Hermannstadt zur Welt. Nach dem Schulbesuch in der Hermannstädter Volksschule und am dortigen Gymnasium ging er zum Studium der Medizin nach Wien und Graz. Sein großes Interesse galt schon in seinen frühen Jahren den exakten Wissenschaften, zunächst primär der damals aufstrebenden modernen Medizin. 1895, kurz nach Erlangung der Doktorwürde, kehrte Ungar nach Hermannstadt zurück und wurde zunächst Krankenkassenarzt. Fünf Jahre später avancierte er zum Sekundararzt am Franz-Joseph-Bürgerspital. Ab 1909 war er 20 Jahre lang Primararzt und gleichzeitig Leiter der Prosektur [Anatomische Pathologie] im Bürgerspital. Während des Ersten Weltkriegs leitete er die chirurgische Abteilung am Garnisonsspital von Hermannstadt. In seinen beiden letzten Dienstjahren war er Chefarzt der Abteilung Infektionskrankheiten am Hermannstädter Krankenhaus. 1928 trat er in den Ruhestand, leitete danach allerdings noch drei Jahre die „Kaltwasserheilanstalt im Sanatorium Baron Brukenthal“ im siebenbürgischen Freck (Avrig, Felek). Karl Ungar starb 1933 und war zu seiner Zeit ein hervorragender Botaniker und geachteter Kenner der Flora Siebenbürgens. Karl Ungar war Mediziner und Forscher in einer Person, wie seine Publikationen zur Kasuistik von Krankheitsfällen anhand eigener Untersuchungen belegen. Einige Arbeiten erschienen in den großen medizinischen deutschsprachigen Periodika in Wien und München. Zahlreiche ähnliche wissenschaftliche Publikationen sind in den Hermannstädter „Verhandlungen und Mitteilungen des Siebenbürgischen
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Angaben zu Worell fehlen.
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Vereins für Naturwissenschaften“ (VuM) zu finden, z. B. „Ein Fall von Acranie“, „Malaria tropica“ und „Spirochaetenerkrankungen“. Karl Ungar war auch durch sein Wirken als Arzt für Volksgesundheit und Hygiene bekannt. 40 Jahre lang hatte er einen bedeutsamen Anteil an der Bekämpfung von Seuchen wie Typhus und TBC in Hermannstadt und Siebenbürgen. 1911 veröffentlichte er in Wien eine Studie über die endemischen und epidemischen Typhuserkrankungen in Hermannstadt im Zeitraum 1894–1911 mit genauen Tabellen zur Mortalität, den Todesursachen sowie der Verbreitung der Epidemie auf Stadtteile, in Schulen und Kasernen. Zur TBC-Problematik schrieb er regelmäßig in der Tagespresse und in den oben genannten VuM. Ein dreisprachig von Ungar verfasstes Informationsblatt mit dem Titel „Die soziale Bekämpfung der TBC“ ist 1912 gedruckt worden. Im Zeitraum 1913–1917 präsentierte er der Öffentlichkeit jährlich in den VuM eine „Übersicht über die Sterbefälle in Hermannstadt“. Ungar führte schon vor der Jahrhundertwende die mikroskopischen und bakteriologischen Untersuchungen am Hermannstädter Bürgerspital ein. Als erster wandte er den Wassermann-Reaktionstest zum Nachweis der Syphilis an. Außerdem veranlasste er die regelmäßigen Untersuchungen des Keimgehaltes im Trinkwasser. Eine reiche Sammlung mikroskopischer Präparate, die auf Ungar zurückzuführen ist, wird heute im Naturhistorischen Museum Hermannstadt aufbewahrt. Karl Ungar war auch Initiator und Leiter der Kuranstalten im BrukenthalSanatorium Freck und Förderer des Höhenkurortes Hohe Rinne. Als Mediziner und Mensch mit hohem Ethos waren Dr. Ungar auch große sozialpolitische Anliegen wichtig. Er schrieb über „Mäßigkeit und Enthaltsamkeit“ und „Die sittlichen Grundlagen des sozialen Lebens“. Entgegen dem damaligen Trend offenbarte er sich als Vorkämpfer für den Frieden, wie ein nicht veröffentlichter Beitrag mit dem Titel „Die psychologischen Vorbedingungen des Völkerfriedens“ beweist. In die gleiche Richtung weist Ungars Rezension des Buches von Dr. med. G. F. Nicolai, „Die Biologie des Krieges. Betrachtungen eines Naturforschers, Zürich 1917“. Ungar besprach auch die Publikation des damals bekannten Kardiologen und Physiologen Nicolai in Sachen Betrachtungen über die biologischen Wurzeln, das Wirkungsgeschehen sowie die Möglichkeiten, den Krieg zu überwinden. Ähnliches enthielt auch der Beitrag „Krieg und Medizin“, der im Bericht aus der Sitzung des Militärärztevereins zu Hermannstadt vom 15. April 1916 erschien, bei der Dr. Karl Ungar den Vortrag hielt. Der Text erschien auch in den „Verhandlungen und Mitteilungen des Siebenbürgischen Vereins für Naturwissenschaften“ und 1917 bei Franz Michaelis in
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Hermannstadt als Sonderdruck. Dort stellte Ungar Folgendes fest: „Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass der Krieg an und für sich als Übel, als ein Unglück, als eine Krankheit zu halten ist, dessen Wurzeln und Ursachen auszurotten, dessen Auftreten und Ausbreitung mit allen Mitteln zu verhindern, und der große Wunsch und die Aufgabe jedes Menschenfreundes und die Pflicht jedes Arztes sind.“ Interessant sind auch einige Zahlen, die Ungar in seinem Vortrag nannte, z. B. zum Thema Sterblichkeit in den ersten Monaten des Krieges 1914 bis Juli 1915 – Zahlen, die er aus deutschen Publikationen entnommen hatte und in denen die stark erhöhte Sterblichkeitsrate 1914 und 1915 im Vergleich zu der vor dem Ausbruch des Krieges erwähnt wurde. Allerdings muss man feststellen, dass diese Zahlen mit Sicherheit aus kriegspropagandistischen Gründen geschönt waren. Außerdem meinte Ungar: „Das Endglied der tierischen Entwicklungsreihe ist der Mensch, so gesehen ist der Krieg als notwendige Tatsache abzufinden […]. Das Menschengeschlecht ist aber aus der Reihe der Tiere ausgetreten und hat mit den Waffen des Geistes den Kampf ums Dasein ermöglicht. So steht die grausame Einrichtung der Kriege im Widerspruch zu der Bestimmung des Menschen.“ Ungar ging auf zahlreiche Aspekte der Kriegsfolgen ein, wie z. B. den Verlust vieler junger und tüchtiger Ärzte-Kollegen und die unvermeidbaren Begleiterscheinungen, die jeden Stand und jeden Beruf treffen. „Bedauerlich ist ferner, dass die Entfremdung der Völker und der Verlust des gegenseitigen Vertrauens auf die Medizin sich ausdehnt […]. Wenn einst die Friedensglocken läuten werden und unsere Truppen im Triumph heimkehren (!), dann wird jeder an seine Arbeit gehen und das Leben wird langsam sich in seine alten Bahnen einlenken.“ Ungar sprach dann weiter von der Verhütung des Krieges, „so wie bei einer Seuche, durch vorbeugende Maßnahmen, durch Prophylaxe des Krieges“. Er mahnte an: „Ändert euren Sinn, ändert eure Weltanschauung.“ Dabei wandte er sich vor allem den Ärzten zu22.
22 Karl U n g a r : Krieg und Medizin. In: Verhandlungen und Mitteilungen des Siebenbürgischen Vereins für Naturwissenschaften LXVI (1916), S. 140–150. Zahlreiche Primärquellen Ungars (Diplome, Auszeichnungen etc.) befinden sich im Nachlass Ungar, die im Besitz seines Urenkels Wolfgang Keiss sind und uns dankenswerterweise zur Verfügung gestellt wurden.
D R . M E D . H E R M A N N B R E C K N E R (1892–1976) U N D S E I N E K R I E G S G E FA N G E N S C H A F T IN SIBIRIEN Erika und Eckbert S c h n e i d e r Mitten aus seinem Studium wird der Student der Medizin Hermann Breckner herausgerissen, als 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht. Die Kunde, die zum Auslöser des Krieges wurde, erreichte ihn während der Kieler Woche, einer Ausstellung und Parade der schönsten und größten Kriegsschiffe aller umliegenden Länder, die jährlich in Friedenszeiten stattfand, als er sich am Sonntag, 28. Juni 1914, „zwecks Besichtigung der gastlichen Schiffe gerade an Bord des ‚Audacius‘ befand“ und bemerkte, dass „auf dem deutschen Flottenflagschiff Friedrich der Große die österreichische Flagge auf Halbmast gehisst wurde“1. Nach einigen Mutmaßungen über den Tod des alten Kaisers Franz Joseph und anderer Möglichkeiten breitete sich die Ursache wie ein Lauffeuer über den ganzen Hafen, die ganze Stadt Kiel aus, so dass jeder erfuhr, dass Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich in Sarajewo ermordet worden war. „Die Kieler Woche beschloss“, wie Hermann Breckner schrieb, „eine politische Ära, deren Ende hier in der Stadt des deutschen Kriegshafens durch den gemeinsam abgefeuerten Trauersalut der hier friedlich nebeneinander verankert liegenden deutschen und englischen Kriegsschiffe besiegelt wurde. Gleichzeitig aber kündigte der Kanonendonner aus den riesigen Schiffsgeschützen den Beginn einer neuen Epoche an.“2 Damit wurde die „beschaulich dahinfließende Zeit“3, in der Hermann Breckner seine Kindheit und Jugend in Siebenbürgen, und zwar in Agnetheln und Hermannstadt verbracht hatte, sowie seine schöne und abwechslungsreiche Studentenzeit danach fast schlagartig beendet. 1 Hermann B r e c k n e r : Von der Postkutsche zur Kosmonautik. Lebenserinnerungen. Typoskript. Hermannstadt 1968, S. 1–46, hier 30. In Familienbesitz. 2 Ebenda, S. 30. 3 Ebenda, S. 1.
Dr. med. Hermann Breckners Kriegsgefangenschaft in Sibirien
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Rückblick auf Kindheit und Jugend Um seinen Werdegang und weiteren Lebensweg sowie sein Handeln zu verstehen, ist es erforderlich, einen Blick auf die prägende Zeit im Elternhaus zu richten. Hermann Breckner wurde am 13. Januar 1892 in Agnetheln (Agnita, Szentágota) geboren. Sein Vater Johann Breckner war ein in der Landwirtschaftlichen Schule in Mediasch (Mediaș, Medias) ausgebildeter Landwirt, über Jahrzehnte Fachmann in den Kommassationskommissionen und schließlich auch autorisierter Berichterstatter im ungarischen Landwirtschaftsministerium, ein Mann, der seinen Beruf „mit Leib und Seele“ ausübte und auch ein großer Freund der Natur und der Tierwelt war4. Seine Mutter Johanna, geb. Hügel, war „eine Frau mit klugem Kopf und starkem Arm“, die viel Verständnis für die Wirtschaft, aber auch für Haus und Gartenkultur hatte5. Hermann Breckner wuchs, wie er in seinen Lebenserinnerungen schrieb, zusammen mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Johann/Hans „in einem großen Wirtschaftshof auf“ sowie in einer harmonischen Familie und Verwandtschaft, in der „Eintracht, Zufriedenheit, Glück und Frohsinn herrschte“6. Er lernte früh mit anpacken, lernte aber auch mit offenen Augen seine Umgebung wahrzunehmen. Das Gefühl der Geborgenheit in einer behüteten, in Agnetheln fest verwurzelten Familie mit ausgeprägter Naturverbundenheit und Gemeinschaftssinn waren Werte, die ihm seine Eltern vermittelten und die er mit hoher Sensibilität in seiner Kindheit und Jugend aufnahm und verinnerlichte. Jene haben ihn für sein späteres Leben geprägt und ihm über viele schwere Momente seiner Kriegsgefangenschaft hinweggeholfen. Er besuchte die Volksschule in Agnetheln und bezog im Herbst 1903 nach Absolvierung der 5. Klasse das Evangelische Gymnasium (ab 1921 Brukenthalschule genannt)7 in Hermannstadt (Sibiu, Nagyszeben), wo er bei seiner Tante Sofie Binder, geb. Breckner, der Schwester seines Vaters, wohnte, die ihm „hilfreiche Unterstützung“ beim Sich-Einleben bot und die für ihn über Jahre hinweg eine „wirklich selten gute Betreuerin“, d. h. eine zweite Mutter war8. 1911 legte er seine Reifeprüfung ab und begann im Herbst desselben Jahres sein Studium der Medizin 4
Ebenda, S. 1. Ebenda, S. 2. 6 Ebenda, S. 2. 7 Konrad G ü n d i s c h (Red.): „Eine Pflanzstätte des Gemeinwesens“. Die Brukenthalschule in Hermannstadt 1380–2005. Festschrift zum 625-jährigen Jubiläum, herausgegeben von der Heimatgemeinschaft der Deutschen aus Hermannstadt e. V. Heilbronn. Hermannstadt 2005, S. 58. 8 Ebenda, S. 20. 5
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Erika und Eckbert Schneider
an der damaligen „Franz-Joseph-Universität“ in Klausenburg (Cluj, Kolozsvár). Seine Berufswahl war für ihn kein Problem gewesen, hatte er sich doch lange vor der Reifeprüfung für das Studium der Medizin entschieden, und zwar „beeinflusst durch die reiche medizinische und naturwissenschaftliche Literatur“9, die seine beiden Onkel Dr. med. Andreas Breckner, der ältere Bruder seines Vaters, und Dr. med. Carl Binder, der Schwager seines Vaters, hinterlassen hatten. Die medizinischen Fachbücher, die er als Schüler in den Ferien immer wieder zur Hand nahm, „sowie die vielfachen Spuren zweier Ärzte von nicht alltäglichem Format und der noch in den Räumen und in der Familie waltende Geist edlen Samaritertums“ hatten ihn für die Medizin begeistert10. Nach dem in Klausenburg abgelegten Rigorosum (Physikum) setzte er ab Wintersemester 1913 auf Rat seines Vetters Dr. phil. Andreas Breckner (Biologe), Studienrat in Berlin, sein Studium an der Charité in Berlin fort, wo er Famulus von Prof. Wilhelm His, Leiter der I. Medizinischen Klinik der Charité, wurde. Dadurch gelangte er „unmittelbar in den riesigen Betrieb eines der größten und modernsten Krankenhäuser, wo es unendlich viel zu sehen und zu lernen gab“11. Um seine „maritime Neugierde zu befriedigen“12, inskribierte er für das Sommersemester 1914 an der Universität Kiel. Hier erlebte er, wie bereits erwähnt, die „Kieler Woche“, nach der sein Studium zu einem vorläufigen Stillstand kam, da vier Wochen später der Erste Weltkrieg ausbrach. Wenige Tage danach befand sich Hermann Breckner nach sechs Studiensemestern in einem „Sammelzug“ auf dem Weg nach Siebenbürgen, wo er sich „unverzüglich beim 31. Infanterieregiment in Hermannstadt melden sollte“13. Über die Fahrt vermerkte er in seinen Lebenserinnerungen: „Während wir in Deutschland nur noch vereinzelten Militärzügen begegneten, weil die allgemeine Mobilisierung und der Aufmarsch der operierenden Truppen schon abgeschlossen war, rollten in Österreich die Militärzüge noch in ununterbrochener Folge hinauf nach Galizien. Alles befand sich im Taumel der Kriegsbegeisterung.“14 Nach seiner Meldung beim 31. Infanterieregiment beurlaubte er sich für zwei Tage, um sich in Agnetheln von 9 10 11 12 13 14
Ebenda, S. 25. Ebenda, S. 25. Ebenda, S. 27. Ebenda, S. 28. Ebenda, S. 30. Ebenda.
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seinen Eltern zu verabschieden, während sein Bruder Johann bereits an der galizischen Front war. Sechseinhalb Jahre sollten vergehen, bis Hermann Breckner wieder heimkehren durfte. Die militärische Ausbildung erhielt er mit den übrigen „Freiwilligen“ in Hermannstadt: „Es war, besonders für uns Mediziner, eine kurze und überstürzte Ausbildung“15; anschließend wurde sein Infanterieregiment an die Ostfront in Galizien entsandt. Darüber schrieb er: „Nach wenigen Wochen wurden wir Jünger Äskulaps aus der Kompagnie ins Spital abkommandiert. So erforderte es die Kriegslage oben in Galizien, wo der Feind an mehreren Stellen eingebrochen war.“16 Im Februar 1915 wurde Breckner mit seinem 31. Infanterieregiment nach Brünn (Brno) transferiert und bald darauf im April mit dem 12. Marsch-Bataillon nach Polen abkommandiert, „wo unsere Armee siegreich vorwärts eilt – oft in Eilmärschen. Um die Mitte Oktober 1915 wird Baranowitschi [in Weißrussland] erreicht. In den schweren Kämpfen um Iwangorod, Brest, Litowsk, Mesercece u. a. war unser Bataillon (das II.) in der ersten Linie erfolgreich eingesetzt. Es sei hier vermerkt, dass wir ‚freiwillige Mediziner‘ des II. Bat. im Gegensatz zu allen anderen Medizinern der gesamten österreichisch-ungarischen Armee und unter Missachtung des Regulamentes durch den Bat.Kommandanten [Arthur Martin] Gustav Phleps17 unseren Dienst in der 1. Linie machen mussten, anstatt hinten auf dem Bataillon-Hilfsplatz18. […] Am 21. Oktober 1915 unternimmt der Feind bei Baranowitschi einen massiven Gegenangriff auf unsere nur schütter besetzte Stellung, dringt vorübergehend in unsere Linien ein, wobei es ihm gelingt, die vorgeschobenen Stellungen zu überrennen und einen Großteil unseres Regimentes gefangen zu nehmen. Das Schicksal hatte es gewollt, dass ich, dank der Willkür unseres Bat. Kommandanten [Arthur Martin] Gustav Phleps, auch zu diesem Grossteil gehörte.“19 Die Chronik des Ersten Weltkriegs vermerkte für den 21. Oktober 1915 bloß „Fortschritte bei Baranowitschi und Czartorysk (am Styr) [in der Ukraine]“20, ohne weitere Angaben. Der österreichisch-ungarische Heeresbericht vom 21. Oktober 1915 gab vom russischen Schauplatz heftige Kämpfe westlich und südwestlich von Czatorysk an, wo öster15
Ebenda, S. 31. Ebenda. 17 Hermann B r e c k n e r erwähnt ihn unter o. g. Namen, obwohl er als Artur Phleps in die Militärgeschichte einging. Martin ist der Vorname seines Großvaters und Gustav der seines Vaters. Vgl. dazu Thomas N ä g l e r : Marktort und Bischofssitz Birthälm in Siebenbürgen. München 2004, S. 549–550. 18 B r e c k n e r : Von der Postkutsche zur Kosmonautik, S. 31. 19 Ebenda, S. 32. 20 http://www.lexikon-erster-weltkrieg.de/Erster_Weltkrieg:_Chronik_Oktober_1915 16
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reichische und deutsche Truppen starke russische Angriffe abwehrten21. Der Heeresbericht vom 22. Oktober 1915 erwähnt, dass die Kämpfe am Styr an Heftigkeit zunahmen: „Die Russen hatten, starke Kräfte aufbietend, in den letzten Tagen westlich von Czatorysk einen Keil in die Front der deutschen und österreichischen Truppen getrieben.“22 Erwähnt wird jedoch nicht, dass dabei viele österreichisch-ungarische Soldaten in russische Gefangenschaft gerieten. Mit dem 21. Oktober 1915 begann für Hermann Breckner eine fünf Jahre und zwei Monate dauernde Gefangenschaft mit verschiedenen Stationen in Russland, und zwar in Orenburg am Ural, an der Grenze zwischen Europa und Asien, sowie in Tomsk und Omsk im Westsibirischen Tiefland, die anhand seines Briefwechsels und seiner als Typoskript in der Familie vorliegenden Lebenserinnerungen nachvollzogen werden kann. Diese Dokumente widerspiegeln ein bemerkenswertes Einzelschicksal, das Schlüsse für das kollektive Schicksal vieler in Sibirien Gefangenen ermöglicht. Da für Gefangene des Ersten Weltkriegs in Russland wenige Postbelege oder aufgezeichnete Erinnerungen vorliegen, gewinnen die Ausführungen Hermann Breckners umso mehr an Bedeutung. Insgesamt handelt es sich um 63 Brief-Postkarten und einen Brief, letzterer von Agnetheln nach Galizien vor der Gefangenschaft, die in der Familie erhalten geblieben sind. Aus den Briefen und ihren Inhalten wird deutlich, dass viel mehr Briefe geschrieben wurden, als tatsächlich vorhanden sind, und wohl nicht alle ihr Ziel erreicht haben oder später verloren gegangen sind. In den vielen Jahren haben auch die Briefe bzw. Briefkarten ihre eigene Geschichte entwickelt, die mit zahlreichen Wechseln von Standorten verbunden war. Gesammelt lagen sie bei Lotte Hügel, geb. Breckner, in Agnetheln (Grodengasse 38), der Cousine von Dr. Hermann Breckner, und blieben nach deren Tod (1937) bei ihrer Tochter Herta Schneider, geb. Hügel. Im Jahr 1950 gelangten sie mit ihr und ihrer Familie nach Hermannstadt, wo sie nacheinander, verpackt mit anderen Unterlagen des Familiennachlasses, auf den Dachböden der jeweiligen Wohnadressen lagerten. Von Herta Schneider gingen sie an ihren Sohn Eckbert Schneider über, der sie bei seiner Ausreise vorerst weiterhin in Hermannstadt lagerte, ehe er sie schließlich päckchenweise an seinen neuen Wohnort in Rastatt mitnahm. Die Hauptadressaten von Hermann Breckners Briefen sind in erster Linie seine Tante Sofie Binder, geb. Breckner, die Schwester seines Vaters in Hermannstadt und seine Eltern in Agnetheln. An seine Tante sind 49 Briefe gerichtet, die nach Aussage Hermann Breckners wie eine 21 22
http://www.stahlgewitter.com/15_10_21.htm#KUK. http://www.stahlgewitter.com/15_10_22.htm#KUK.
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zweite Mutter war, zu der eine enge seelische Bindung bestand. Bei ihr hatte er seine gesamte Gymnasialzeit verbracht, während der sie ihn betreut und für sein Allgemeinwohl gesorgt hatte.23 13 Briefe sind an seine Eltern Hans/Johann und Johanna Breckner gerichtet. Außerdem liegen zwei Schreiben an seine Cousine Lotte Hügel, geb. Breckner, vor, eines von der galizischen Front vor seiner Gefangenschaft und eines aus Sibirien, sowie eine Postkarte an deren Tochter Herta Schneider geb. Hügel. Eine wichtige Rolle spielte die Verbindung zu seinem Vetter Dr. Andreas Breckner24, Biologe/Studienrat in Berlin, der ihn finanziell unterstützt und ihm notwendige Bücher für sein Studium besorgt und nach Sibirien geschickt hatte. Von diesem Briefwechsel ist leider nichts erhalten geblieben, doch dass ein solcher existiert hat und dass Andreas Breckner ihm Bücher, warme Kleider und Geld hat zukommen lassen, geht aus Erwähnungen und Fragen in Postkarten Hermann Breckners an seine Eltern und seine Tante hervor. Dr. Andreas Breckner hatte seinen Vetter Hermann schon vor dem Krieg während seiner Studienzeit unterstützt, und auch nach seiner Heimkehr und der Wiederaufnahme des Studiums an der Charité in Berlin war er ihm stets ein guter Freund und Ratgeber. Es ist anzunehmen, dass es in beide Richtungen viel mehr Schreiben gegeben haben muss, doch viele erreichten offenbar nicht ihr Ziel. Darauf kann man aus Äußerungen in den an Sofie Binder gesandten Postkarten schließen, da Hermann Breckner in diesen immer wieder erwähnt, an wen er geschrieben hat, und oftmals auch meldete, dass keine Reaktionen auf seine Schreiben bei ihm eingegangen seien. Nach Absenderorten gesehen liegt der Schwerpunkt auf Briefen, die Hermann Breckner aus Orenburg (20 Postkarten, Nr. 2–21, zwischen 4. Dezember 1915 und 27. Mai 1916) und aus Tomsk/Westsibirien (43 Briefe, Nr. 22–64, aus der Zeitspanne 9. August 1916 bis 18. Juni 1918) nach Hermannstadt und Agnetheln geschrieben hat. Danach sind ab Juni 1918 bis Ende des Jahres 1920, wohl bedingt durch die Kriegsereignisse und politischen Umwälzungen in Russland, keine weiteren Briefe mehr nach Agnetheln, Hermannstadt oder Berlin (bei seinem Vetter Andreas Breckner) angekommen. Bereits im Mai 1918 schrieb er an Sofie Binder: „Post bekommen wir jetzt gar keine.“25 Von den Schreiben, die an ihn in die Stationen seiner Gefangenschaft gesendet 23
B r e c k n e r : Von der Postkutsche zur Astronautik, S. 20. Hermann A. H i e n z : Schriftsteller-Lexikon der Siebenbürger Deutschen. Bd. V. Köln, Wien 1995, S. 254–256. 25 Brief aus Tomsk v. 6.5.1918 an Sofie B i n d e r in Hermannstadt. 24
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wurden, ist leider nichts mehr vorhanden, und es ist anzunehmen, dass er diese bei seiner Heimreise nicht mitnehmen durfte. Die erste Postkarte aus der Gefangenschaft betrifft die Nachricht über seine Gefangennahme und ist mit dem Poststempel Przmysl (Przemyśl) und einem Zensurstempel aus Wien vom 27. Oktober 1915 versehen (Abb. 1, 2). Darin schreibt er an Sofie Binder: „Seit dem 21. Oktober bin ich mit vielen anderen Freunden unverwundet und gesund in russischer Gefangenschaft. Es geht uns gut, werden standesgemäß behandelt. Werden noch weitergeführt und werde vielleicht nicht bald wieder schreiben können.“ In seinen Lebenserinnerungen schreibt er hierzu: „Von der Mannschaft abgesondert wurden alle im Offiziersrang stehenden Gefangenen mit landesüblichen Fuhrwerken tagelang bis zur ersten grösseren Eisenbahnstation gebracht und einvagoniert; nach etwa zweiwöchigem, langsamen und etappenweise erfolgten Transport wurden wir Offiziere in dem großen Kriegsgefangenenlager der am Uralfluss liegenden Stadt Orenburg eingeliefert.“26 Orenburg, gegründet 1743 als Außenposten Russlands an der Grenze zum damals unerschlossenen Asien27, war, wie Hermann Breckner in seinen Lebenserinnerungen schrieb, eine Stadt, die „lebhaften Handel mit der per Eisenbahn oder durch Kamelkarawanen aus dem Turkestan herbeigekarrten und umgeschlagenen Ware“28 trieb. Angeboten wurde diese Ware auf einem großen, drei Kilometer südwestlich der Stadt liegenden Messegelände, genannt „Minowoi dvor“ (oder „Menovoi Dvor“ = Tauschmarkt, „menovoi torgovlija“ laut Stempel auf einigen Postkarten), von dem heute nur noch die Grundmauern stehen. „Dieses Gelände, vorwiegend ein Viehhandelsplatz (vor allem für Schafe), war burgartig von einer dicken Mauer umgeben. Angelehnt an diese Mauer fand sich eine Unzahl von gewölbt konstruierten Geschäftsund Warenräumen, die den burgartigen Charakter noch deutlicher hervorheben. Diese Räume dienten seit Beginn des Krieges gemeinsam mit noch vielen Erdbaracken den Gefangenen als Unterkunftsstätte.“29 Da die Warenräume innen an der Mauer bereits belegt waren, wurde den Neuankömmlingen eine Erdbaracke zugewiesen, „in die wir auf mehreren nach abwärts führenden Stufen ins Innere gelangen und in der zu beiden Seiten eines breiten Mittelganges drei grobgezimmerte, übereinander angeordnete apfelbeetartige Gestelle zu recht gemacht und uns aufzunehmen bestimmt waren. Beim Betreten dieser unterirdischen Wohnstätte fielen unsere Blicke sofort auf die an auffälliger 26 27 28 29
B r e c k n e r : Von der Postkutsche zur Kosmonautik, S. 32. Orenburg, http://www.orenburgregion.de. B r e c k n e r : Von der Postkutsche zur Kosmonautik, S. 32. Ebenda, S. 33.
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Abb. 1. Hermann Breckner, Tomsk, März 1917.
Abb. 2. Karte Hermann Breckners aus Orenburg.
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Stelle angebrachten Worte aus Dantes ‚Göttlicher Komödie‘: ‚Lasst alle Hoffnung fahren, die ihr hier eintretet.‘ Sie ermunterten uns nicht gerade, diese Worte, trotzdem wir uns sagten, dass sie ein verzweifelter Leidensgenosse in seiner Seelennot geschrieben haben musste, denn so schlimm war es in Wirklichkeit auch gar nicht in dieser Baracke, in der sogar sehr unterhaltsame kabarettistische Darbietungen durch namhafte Fachkräfte zur Aufführung gelangten. Die Jugend lässt sich nicht so leicht unterkriegen, auch in der Hölle nicht!“30 Die Einlieferung in das Kriegsgefangenenlager erfolgte Anfang November 1915. In diesem Gefangenenlager verbrachte Hermann Breckner sieben Monate, wonach im Juni 1916 „alle Insassen der Baracke mit der Eisenbahn weiter ostwärts mit dem Endziel Tomsk abtransportiert“ wurden. „Ein schwer zu schilderndes Gefühl bemächtigt sich meiner, als wir beim Überqueren der Wasserscheide des Uralhöhenzuges auf der Westseite eines neben der Eisenbahnlinie emporragenden Obelisk das schlichte, aber sehr inhaltsschwere Wort lesen: ‚Europa‘ und auf der dem Osten zugewandten Seite das geheimnisvolle Wort ‚Asia‘. Was wird uns erwarten, wie wird es uns in der unendlichen Weite Sibiriens ergehen? – Nun, es ist uns auch schlecht, aber auch gut gegangen so, wie es in der Kriegsgefangenschaft eben zu gehen pflegt. Jedenfalls nicht schlechter, als im europäischen Teil Russlands – im Gegenteil: die Sibiriaken sind blonde, schöne Leute, mit denen man gut auskommen kann, einschliesslich der Tataren und Kirgisen und den vielen anderen hier lebenden Volksstämmen; sie sind alle hilfsbereit und gut. Was die Kultur in den sibirischen Städten anbelangt, kann gesagt werden, dass sie der europäischen in nichts nachsteht. Tomsk, an der einstigen transsibirischen Strasse gelegen, bildet als Universitätsstadt den Mittelpunkt des geistigen Lebens in Westsibirien und kann den Schwesterstädten im europäischen Westen ebenbürtig an die Seite gestellt werden.“31 In Tomsk verbrachte Hermann Breckner drei Jahre im großen Kriegsgefangenenlager mit Franz Münich, dem erst 1966 zurückgetretenen Ministerpräsidenten der ungarischen Volksrepublik, vorübergehend auch mit Béla Kun32. Unter den Mitgefangenen erwähnt er einen ihm bekannten Leutnant seines Regimentes, Herrn Weber aus Schäßburg (Sighișoara, Szegesvár).33 Dabei handelte es sich, wie ermittelt werden konnte, um den Apotheker Wilhelm Eugen Weber (1884–1966), der 30
Ebenda. B r e c k n e r : ebenda, S. 34. 32 Ebenda, S. 34. 33 Postkarte aus Tomsk v. 23.8.1916 an seine Eltern, Archiv Eckbert Schneider (fortan: AES). 31
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in Wien lebte, damals jedoch auch noch auf seiner Heimatadresse in Schäßburg gemeldet war34. In Tomsk wurde Hermann Breckner bald in die ärztliche Betreuung der Kriegsgefangenen eingeschaltet und konnte täglich mehrere Stunden in den Ordinationsräumen des Lagers verbringen. Außerdem beschäftigte er sich auch mit dem Studium medizinischer Werke sowie mit der Aneignung der russischen und englischen Sprache35. Da die Gesamtheit der Briefe sehr umfassend ist, können sie nicht alle im Detail behandelt werden. Nach Themenbereichen gruppiert, sollen einige beispielgebend erwähnt werden, um die Vielfalt der Betätigungen und der Gedankenwelt des Gefangenen deutlich zu machen.
Behandlung der Gefangenen Aus Hermann Breckners Briefen ist über die Behandlung als Kriegsgefangener nie etwas Negatives zu hören. Er betonte immer wieder, dass sie „angemessen“ oder „standesgemäß behandelt“ werden und verwendete wohl auch der Zensur wegen keine anderen Formulierungen. Gleich zu Beginn der Gefangenschaft teilte er aus Orenburg mit: „Mir geht es gut, sehe sehr gut aus. Wir führen ein kameradschaftliches Leben.“36 Bald danach schrieb er: „Meinetwegen braucht Ihr Euch keine Sorgen zu machen. Wir sind alle gut untergebracht, haben eine vorzügliche Küche.“37 Oder: „Sind gut und warm untergebracht und mit warmen Wintersachen reichlich versehen.“38 Viel später teilte er jedoch aus Tomsk über die Ernnährung der Gefangenen mit: „Der größte Fehler unserer Ernährung besteht nicht etwa im Mangel an Quantität als vielmehr in der Einseitigkeit derselben.“39 Das Recht, Briefe zu empfangen und versenden zu dürfen, gehörten, wie aus Hermann Breckners Schreiben deutlich wird, im Lagerleber zu den Selbstverständlichkeiten, auch der Empfang von Geldsendungen und Paketen war möglich; erst ab Mitte 1918 war jede briefliche Kommunikation unterbrochen. Im Falle Hermann Breckners und seiner Familie bedeutete dies ein Ausbleiben von Nachrichten aus der Heimat bzw. aus der Gefangenschaft an seine Familie über einen Zeitraum von fast zweieinhalb Jahren. In Orenburg wurde den Gefangenen die Freiheit zugestanden, den Geburtstag des deutschen Kaisers zu feiern: 34 Mündliche Mitteilung seiner Tochter Gertrud Weber (geb. 1920), wohnhaft in Wien, die auch einige Postkarten ihres Vaters aus der sibirischen Gefangenschaft besitzt. 35 B r e c k n e r : Von der Postkutsche zur Kosmonautik, S. 34. 36 Brief aus Orenburg v. 4.12.1915 an seine Eltern in Agnetheln, AES. 37 Brief aus Orenburg am 19.12.1915 an seine Eltern, AES. 38 Brief aus Orenburg nach Weihnachten 1915 an seine Eltern, AES. 39 Postkarte aus Tomsk im März 1917 an seine Eltern, AES.
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„Die Erlaubnis dazu erhielten wir einige Tage vorher in einem vom Zar an uns geschickten Erlass.“40 Auch sonst gab es die Möglichkeit, Feste wie z. B. Weihnachten und Neujahr im Rahmen des Lagerlebens festlich zu begehen. Aus einigen Postkarten ist zu entnehmen, dass es in Tomsk Lockerungen im Umgang mit den Gefangenen gab, da Breckner am 22. März 1917 an Sofie Binder schrieb: „Seit einiger Zeit können nämlich aus dem Lager täglich zehn Gruppen, eine Gruppe zu je 12 Offizieren, unter Begleitung eines russischen Offiziers in die Stadt spazieren gehen.“ Ein Jahr später wurde der Ausgang auch ohne Begleitpersonal möglich, denn er schreibt: „Das Leben geht so wie bisher seinen gewohnten Gang, nur mit dem Unterschied, dass wir jetzt fast jeden Tag frei in den Wald gehen können, wo wir auch baden. Ich bin recht gesund.“41
Informationsmöglichkeiten der Gefangenen über das Kriegsgeschehen Durch die Berichterstattung in russischen Zeitungen, die auch in das Kriegsgefangenenlager gelangten, waren die Insassen über laufende Ereignisse informiert. Das geht aus Hermann Breckners Schreiben an die Familie hervor, da er Bezug darauf nahm. So erfuhr er auch von den Kämpfen am Rotenturm-Pass bis Hermannstadt sowie von der Flucht vieler Familien Ende August 1916 aus Siebenbürgen. Um Genaueres zu erfahren, stellte er Fragen, in denen es nicht allein um das Wohlergehen seiner Familie, sondern um siebenbürgisches Kulturgut ging, das bei den Kämpfen und Plünderungen gelitten haben könnte. Besorgt schrieb er an seine Eltern: „Ob ihr wohl diese Karte noch erhalten werdet? Wie wir hier lesen, ist schon ein großer Teil unserer Heimat von rumänischen Truppen besetzt. Wo und in welchen Verhältnissen Ihr Lieben wohl seid? Mit Bangen warte ich jeden Tag auf Nachricht über siebenbürgische Verhältnisse.“42 Seine Tante Sofie Binder fragt er nach den Schutzhäusern „unseres Karpathenvereines, mit dem Kurort ‚Hohe Rinne‘ etc.? Wahrscheinlich ist der größte Teil niedergebrannt. Hat das Brukenthal’sche Museum keinen Schaden gelitten? Wird am Bau der Mädchenschule weitergearbeitet?“43 Das Thema der siebenbürgischen Bauten und Kulturgüter ließ ihn nicht los, denn er schrieb abermals an Sofie Binder: „Ich würde mich sehr freuen, wenn Du mir mitteilen wolltest, wie unsere Burgen im Burzenland und 40 41 42 43
Postkarte aus Orenburg v. 31.1.1916 an Sofie Binder, AES. Postkarte aus Tomsk v. 18.6.1918 an seine Eltern, AES. Postkarte aus Tomsk v. 2.9.1916 an seine Eltern, AES. Postkarte v. 15.6.1917 aus Tomsk an Sofie Binder, AES.
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in der Hermannstädter Gegend und das Schlösschen in Freck aus dem vorjährigen Raubzug davongekommen sind.“44 Von seiner Mutter erfuhr er über den Kinderaustausch, zu dem er sich gegenüber Sofie Binder äußerte: „Wie mir Mutter mitteilt, erwarten sie für den Sommer ein Ziehtöchterchen. Über diese vernünftige Vereinbarung des Kinderaustausches habe ich auch hier manches gelesen.“45 Ebenso teilt er Sofie Binder mit: „Von unserem Dr. K. Wolff habe ich hier manches in den Zeitungen gelesen“, wobei es sich wohl um die Rolle der Allgemeinen Sparkassa, deren Leiter jener in Hermannstadt gewesen war, während des Krieges gehandelt hat46.
Informationen über das Schicksal seiner Kameraden, Freunde und Bekannten In seinen Briefen an seine Eltern und seine Tante stellte Hermann Breckner Fragen betreffend das Schicksal seines Vorgesetzten Hauptmann Phleps, nach dem seines Bruders Hans, der ebenfalls in den Krieg eingerückt war, nach seinem Freund Erich Phleps sowie anderen Freunden und Bekannten: „Wie geht es Phleps Erich? Ich weiss noch immer nicht, ob er in Gefangenschaft ist, oder nicht. Ihr lasst mich darüber im Unklaren. Was ist mit Hauptmann Phleps?“47 Aus weiteren Briefen geht hervor, dass er inzwischen mit einigen seiner Freunde im Postverkehr Verbindung hatte aufnehmen können, ebenso auch mit Hauptmann Phleps48. Über seine Kriegskameraden erfuhr er einiges von einem neu im Gefangenenlager in Tomsk eingetroffenen Offizier und schrieb an Sofie Binder: „Vor einigen Tagen ist ein bekannter Offizier meines Rgt., Ltn. Gépész, in das hiesige Lager geschickt worden. Er hat mir viele Neuigkeiten über unser Rgt. und seine Offz. erzählen können. Etwas Erschütterndes hat er mir über G[e]n[e]r[a]l Goldbach49 mitgeteilt, doch will ich es nicht recht glauben, obwohl es nicht unmöglich ist. Schade um solch aussergewöhnlich tüchtige Menschen!“50
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Postkarte aus Tomsk v. 12.10.1917 an Sofie Binder, AES. Postkarte aus Tomsk v. 25.8.1917 an Sofie Binder, AES. 46 Postkarte aus Tomsk v. 12.8.1917 an Sofie Binder, AES. 47 Postkarte aus Orenburg v. 5.4.1916 an Sofie Binder, AES. 48 Postkarte aus Tomsk v. 23.8.1916 an seine Eltern, AES. 49 Antonio S c h m i d t - B r e n t a n o : Die k. k. bzw. k. u. k. Generalität 1816–1918, Österreichisches Staatsarchiv. Wien 2007, S. 56. 50 Brief aus Tomsk v. 25.8.1917 an Sofie Binder, AES. 45
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Fragen, Sorgen und Mitteilungen betreffend sein Studium Gedanklich war Hermann Breckner während der Gefangenschaft sehr mit seinem Studium befasst. Dazu notierte er: „In nächster Zeit werden wir – durch Vermittlung der Kopenhagener Universität – von unserer Heimatsuniversität Bücher zum Studieren erhalten.“51 Oder: „Hoffe in ca. 2 Monaten von der Universität Klausenburg Bücher zum Studieren zu erhalten.“52 Oder: „Warte sehnlichst auf die bestellten Fachbücher; die Langweile plagt mich.“53 Wenig später schrieb er: „Vor einigen Tagen habe ich von einem Freunde einige ungarische Fachbücher erhalten; nun ist Gott sei Dank meinem ‚in den Tag leben‘ ein Ende gemacht, ich studiere recht fleißig und hoffe demnächst auch die bei Andri bestellten Bücher zu erhalten.“54 Kurz danach wandte er sich wieder an Sofie Binder: „Seit ca. einer Woche habe ich von einem ungarischen Kollegen einige Fachbücher bekommen, die nun meinen kostbarsten Schatz und neben Sport meine einzige Unterhaltung bilden. In nächster Zeit hoffe ich auch die in Leipzig bestellten Bücher zu erhalten.“55 Andererseits standen auch in Tomsk Bücher zur Verfügung, denn er berichtete: „Zum Lesen haben wir Bücher genug, da wir hier im Lager zwei gute Bibliotheken haben. Auch Fachbücher habe ich, bloss eine ‚Interne Medizin‘ fehlt mir noch.“56 Im Jahr 1917 hegte er immer mehr die Hoffnung freizukommen, um dann sein Studium fortzusetzen. In diesem Zusammenhang schrieb er an Sofie Binder: „Angeblich sollen im Frühjahr einige Mediziner ausgetauscht werden; nun weiss ich nicht genau, ob dies nicht nur ältere Mediziner betrifft, hier kann ich leider auch nichts genaueres erfahren. Vielleicht ist es Dir möglich etwas hierüber zu erfahren. Die Möglichkeit ausgetauscht zu werden ist für mich zwar so gut wie ausgeschlossen, doch versuchen kann man ja alles. Im Ganzen sind bisher bloss vier Mediziner – nur ältere – ausgetauscht worden. Von ca. tausend gerade einer von den vieren zu sein ist kaum anzunehmen.“57 Die Frage der Weiterführung seines Studiums beschäftigte ihn immer mehr, daher stellt er an Sofie Binder die Frage: „Kannst Du mir nichts über meine Kameraden berichten? Gerne möchte ich wissen, wie es meinen Kollegen geht, ob die nicht etwa Urlaub zur Besuchung der 51 52 53 54 55 56 57
Brief aus Orenburg v. 25.3.1916 an Sofie Binder, AES. Brief aus Orenburg v. 25.3.1916 an seine Eltern, AES. Brief aus Orenburg v. 2.4.1916 an Sofie Binder, AES. Brief aus Orenburg v. 18.5.1916 an Sofie Binder, AES. Brief aus Orenburg v. 25.5.1916 an Sofie Binder, AES. Brief aus Tomsk v. 25.2.1917 an seine Eltern, AES. Brief aus Tomsk v. 16.1.1917 an Sofie Binder in Hermannstadt, AES.
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Universität bekommen haben.“58 Für die an der Galizien-Front verbliebenen Medizinstudenten gab es eine Möglichkeit weiterzustudieren, besonders für jene, die in fortgeschrittenen Semestern waren, wie aus Unterlagen von Dr. med. Michael Rether (Keisd, Saschiz, Szászkézd) hervorgeht59. Im Lager bestand auch die Möglichkeit, Sprachen zu lernen. So schrieb Breckner bereits in der Anfangszeit: „Ich wohne hier mit lauter ungarischen Kameraden zusammen und habe jetzt die beste Gelegenheit, mir diese Sprache in vollkommenem Maße anzueignen“60; außerdem lernte er Russisch und Englisch61.
Geistliches Leben und Gottesdienste Ab August 1916 erwähnte der Gefangene in seinen Schreiben an die Familie die Teilnahme an Gottesdiensten, worüber er erzählte: „Heute hatten wir hier im Lager evangelischen Gottesdienst, mein erster in der Gefangenschaft. In Zukunft wird jeden Sonntag von einem Stud. Theol., der mit uns im Lager ist, Gottesdienst abgehalten.“62 An Sofie Binder schrieb er: „Gestern war ich in der evang. Kirche, wo ich mich recht angeheimelt fühlte, da alles darin deutsch ist. Vom Bestehen dieser Kirche habe ich bisher nichts gewusst, nun dürfen wir fast jeden Sonntag gehen. Am Reformations-Tag werden wir auch das Abendmahl nehmen.“63 Zu Beginn des Jahres 1918 hielt er fest: „Sonderbar wird es Euch scheinen, wenn ich über eine gestern Abend gefeierte Sylvesterfeier schreibe. Doch die hiesigen Protestanten halten ihre Feiertage nach russischem Kalender d. h. 13 Tage später als wir. Die hiesigen Deutschen, die alle Protestanten sind, haben eine ganz nette, kleine gotische Kirche, deren Äusseres mich schon wohlig anheimelt. Der Gottesdienst ist natürlich auch deutsch. Die Weihnachtsfeier, der ich auch beiwohnte, trug denselben Charakter, wie die unserer heimischen Kirchen. Für die Stunde vergass ich die Entfernung der vielen tausend Km; ich war zu Hause! Sogar der helle, bunte Weihnachtsbaum vor dem Altar fehlte nicht – nur eines vermisste ich – die vielen Kinder, die mit leuchtenden Augen den strahlenden Baum umstehen.“64
58 59 60 61 62 63 64
Brief aus Tomsk v. 10.2.1917 an Sofie Binder, AES. Private Unterlagen, schriftliche Dokumente und Fotos bei Erika Schneider. Brief aus Orenburg, Minovoi Dvor v. Dezember 1915, an seine Eltern, AES. B r e c k n e r : Von der Postkutsche zur Astronautik, S. 34. Brief aus Tomsk v. 27.8.1916 an Sofie Binder, AES. Brief aus Tomsk v. 15.10.1917 an Sofie Binder, AES. Brief aus Tomsk v. 14.1.1918 an Sofie Binder, AES.
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Wetter- und Naturbeobachtungen In seinen Briefen an die Familie finden sich immer wieder auch Bemerkungen über das Wetter in Sibirien sowie kurze Anmerkungen zur Natur, die ihn zum Vergleichen mit heimischen Gegebenheiten veranlassten. Zu Beginn seiner Gefangenschaft in Orenburg schrieb er: „Wir haben jetzt das echte russische Wetter: Schneestürme und eisige, trockene Kälte.“65 Oder: „Haben jetzt ein milderes Wetter hier, am Tag sogar einige Grad Wärme.“66 An anderer Stelle notierte er: „In dieser öden Gegend denke ich oft an unsere Blütenpracht zu Hause, an das Heltauer Paradies etc. Blühende Bäume sind hier sehr rar, habe noch keinen gesehen.“67 Ein Jahr später berichtete er aus Tomsk: „Seit einigen Tagen haben wir Tauwetter, der Schnee schwindet merklich, an manchen Stellen guckt sogar schon die Erde hervor – es ist über ein halbes Jahr, dass sie von dicken Eis- und Schneeschichten bedeckt war. Im Allgemeinen war der Winter hier, obzwar viel kälter, so doch angenehmer als in Orenburg. Das Klima hier ist im Gegensatz zu Orenburg ruhig, trocken und gesund.“68 Später schrieb er: „Wie es scheint, ist‘s mit dem Sommer hier schon zu Ende, heute Morgen lag fingerdicker Reif auf der Erde – wehe unserem kleinen Gemüsegarten, eben beginnen die Paprikabäumchen u. Sonnenblumen zu blühen.“69 In einem kurzen Brief aus dem winterlichen Tomsk gab er seiner Cousine Lotte Hügel eine anschauliche Beschreibung davon, was sibirischer Winter bedeute: „Sooft ich abends spazieren gehe, muss ich immer wieder daran denken: so hast Du Dir als Kind die Heimat des Christmannes vorgestellt; helle eisige Nächte; in dicken Säulen steigt der weisse Rauch in die blaue Nacht, an den kleinen Häuschen hängen schwere Eiszapfen bis zur Erde; hie und da huscht ein kleiner Schlitten auf dem knarrenden Wege unter hellem Geläute vorbei. Je schöner und herrlicher sich die Natur zu dem Weihnachtsfeste vorbereitete, um so schwerer wurde es uns zu Mute.“70 Ein Jahr danach hielt er mit einem Anflug von Hoffnung auf eine baldige Heimkehr fest: „Heute ist Palmsonntag; es sieht aber gar nicht danach aus. Schwere Schneewolken hängen über uns und wirbeln noch immer ganz unbarmherzig eine Unmenge von Flocken auf uns herab. Der Schnee reicht stellenweise bis zu den Dächern.Wie gut 65 66 67 68 69 70
Brief aus Orenburg von Dezember 1915 an seine Eltern in Agnetheln, AES. Nachricht aus Orenburg v. 14.3.1916 an Sofie Binder in Hermannstadt, AES. Brief aus Orenburg v. 18.5.1916 an Sofie Binder Archiv Eckbert Schneider). Brief aus Tomsk v. 27.3.1917 an Sofie Binder, AES. Brief aus Tomsk v. 12.8.1917 an Sofie Binder, AES. Brief aus Tomsk v. 4.1.1917 an Lotte Hügel, Agnetheln, AES.
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käme es uns, wenn wir aus dieser unwirtlichen Gegend plötzlich in die schöne, blühende Heimat gesetzt würden.“71 Oder: „Endlich beginnt auch hier das Frühjahr einzusetzen, allerdings noch recht bescheiden; meterhohen Schnee und zugefrorene Flüsse gibt’s noch immer. Doch in einem Monat werden wir vielleicht schon die ersten grünenden Bäume – Blumen gibt’s sehr wenige – bewundern dürfen. Am liebsten wäre es mir aber, wenn ich auf die Reize des hiesigen Frühjahres verzichten müsste.“72
Sonstige Beschäftigungen und Wünsche Gleich zu Beginn der Gefangenschaft suchte Hermann Breckner nach Betätigung und begann sich mit handwerklichen Arbeiten zu befassen, da es vorerst im Orenburger „Minovoi Dvor“ kaum Möglichkeiten gab, in den Besitz von Büchern zu gelangen. So schnitzte er ein Schachspiel und baute für sich „blos mit dem Taschenmesser eine prächtige Violine“, über die er nach Hause berichtet73. „Meine Geige ist fertig“, schrieb er an anderer Stelle, „und hat einen guten Klang.“74 So konnte er auch seinen musikalischen Neigungen nachgehen, worüber er mitteilte: „Meine selbstverfertigte Geige bildet meinen besten Zeitvertreib.“75 Um die Jahresmitte 1917 berichtet Hermann Breckner aus Tomsk nach Hermannstadt: „Vor unseren Baracken haben wir uns kleine Gemüse- und Blumengärten angelegt, die uns jetzt ziemlich viel Arbeit machen, Jäten, Begießen etc. Im Gemüsegarten sind sogar einige Gurken u. Paprika-Pflanzen vertreten.“76 Mit fortschreitender Dauer der Gefangenschaft vermerkte der Gefangene aus Siebenbürgen: „Wenn wir noch lange hier bleiben, werden wir mit der Zeit langsam ganz umgemodelt. Die wissenschaftliche Beschäftigung liegt ziemlich stark darnieder, da es einem erklärlicherweise an Gelegenheit dazu u. entsprechender Anregung fehlt. Hier im Lager habe ich noch sechs Kollegen, keiner ist beschäftigt; es sehnt sich aber auch keiner danach, da rein gar nichts zu holen ist u. noch viel weniger zu lernen. Umso mehr beschäftigt man sich mit dem praktischen, materiellen Leben. Auch mit den kleinsten – bisher missachteten Dingen – haben wir gelernt umzugehen u. dazu noch möglichst ausgiebig zu wirtschaften. Die Muse der Lebensfähigkeit hat wohl die grösste Freude an uns.“77 71 72 73 74 75 76 77
Brief aus Tomsk v. 24.3.1918 an Sofie Binder, AES. Brief aus Tomsk v. 7.4.1918 an Sofie Binder, AES. Brief aus Orenburg v. 31.1.1916 an Sofie Binder, AES. Brief aus Orenburg v. 14.3.1916 an Sofie Binder, AES. Brief aus Orenburg v. 25.3.1916 an Sofie Binder, AES. Postkarte aus Tomsk v. 13.6.1917 an Sofie Binder, AES. Postkarte aus Tomsk v. 22.1.1918 an Sofie Binder, AES.
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Heimkehr, ein Wunschdenken? 1918 mehrten sich in den Briefen Äußerungen und Hoffnungen, das Lagerleben bald beenden zu können. Dazu schrieb Breckner: „Über unseren Abtransport schwirren natürlich schon alle möglichen und unmöglichen Gerüchte im Lager umher. Die größten Optimisten setzen diesen Tag auf die erste Hälfte des kommenden Monats. Gebe Gott, das sie diesmal Recht behalten.“78 Einige Wochen später notierte er erneut über eine mögliche Heimkehr: „Wie ich Dir schon einmal schrieb, habe ich das Glück gehabt, auf Grund meiner Brandwundennarbe an der Hand, für die Austauschkommission vorgemerkt zu werden. Vor einigen Tagen bin ich dieser Kommission nun auch wirklich vorgestellt worden und als leicht Kranker zum Austausch vorgemerkt worden. Ich hatte den Eindruck, als ob ich in diesem Falle mehr als Kollege als als ‚Krüppel‘ in Betracht gezogen wurde. Trotz alledem stünde ich nun aber vor der grossen Frage: ja, wann geht aber mein Transport ab? Nun, ich hoffe sicher, im August – spätestens – schon zu Hause zu sein. Post bekommen wir jetzt gar keine.“79 Die Hoffnungen auf eine baldige Heimkehr wurden aber erneut zunichte gemacht, denn es sollte ganz anders kommen. Über die Zeit nach Juni 1918 gibt es keine weiteren Briefe. Die Ereignisse bis zu Hermann Breckners Heimkehr Ende des Jahres 1920 sind jedoch in seinen Lebenserinnerungen dokumentiert und geben ein Bild über die äußerst schwierige Zeit mit sozialen und politischen Umwälzungen in Russland. Ausgehend von der Oktoberrevolution hielt er fest: „Die Oktoberrevolution 1917 brachte nicht nur für das europäische Russland die bekannten grundlegenden Änderungen ideologischer, sozialer, politischer und verwaltungsmäßiger Natur mit sich, sondern auch für den asiatischen Teil Russlands. Es konstituierten sich die Soldaten und Arbeiterräte und alle übrigen vorgesehenen Organisationen. Uns Kriegsgefangenen schien die Stunde der Befreiung und des langersehnten Heimtransportes tatsächlich auch geschlagen zu haben. Heimkehrerlisten mit dem Grade der Dringlichkeit jedes Einzelnen wurden angelegt und man rechnete so, das gegen Ende des Jahres 1918 die ersten Heimkehrer die bereitgestellten Eisenbahnzüge würden besteigen können. Das Schicksal wollte es anders und wir, die wir ja nun freie Bürger des sowjetischen Russlands geworden waren, durften das Lager verlassen, uns in der Stadt frei bewegen bzw. uns einen Arbeitsplatz suchen; nun war damit plötzlich nichts mehr, wir wurden aufs Neue wieder gefangen gesetzt und im Lager interniert. 78 79
Postkarte aus Tomsk v. 24.3.1918 an Sofie Binder, AES. Postkarte aus Tomsk v. 6.5.1918 an Sofie Binder, AES.
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Unsere große Freude war zu Essig geworden und schwerer Kummer senkte sich auf unsere Gemüter.“80 Weiter berichtete er: „Es hieß, die tschechische Legion habe es durchgesetzt, mit den Waffen in der Hand die Sowjetunion via Wladiwostok zu verlassen, um sich nach Europa zurückgekehrt mit der ‚Ententearmee‘ zu vereinigen. Die Wirklichkeit aber sah anders aus. Die tschechische Legion, unterstützt durch Anhänger der ‚Weissen Garde‘ des Admirals Koltschak bemächtigte sich der transsibirischen Eisenbahn und der an ihr gelegenen Städte, was den Sturz des noch nicht konsolidierten kommunistischen Regimes in Sibirien wesentlich erleichterte. In der Folge noch weiter unterstützt durch die sogenannte Interventionsarmee der Entente (England und Frankreich) konnte in Sibirien 1918 die weisse Regierung Koltschaks eingesetzt und der frühere Status wieder hergestellt werden. Im Verlauf dieser militärischen Handlung brachen, begünstigt durch die Winterkälte und durch die schlechte sanitäre Lage Epidemien aus, unter denen namentlich der Flecktyphus viele Todesopfer forderte, besonders in Omsk, der Residenzstadt Koltschaks. Man rief nach Sanitätspersonal, das zum großen Teil dahingestorben war (über 50 %). Im Rahmen dieser Aktion wurde ich im Jahre 1919 [zu Beginn des Jahres] nach Omsk kommandiert und dort dem Flecktyphusspital für Kriegsgefangene zugeteilt, das ausser den Kriegsgefangenen auch die eingekerkerten Kommunisten zu betreuen hatte. Das gleiche Schicksal teilten noch drei junge Kollegen mit mir – ein halbes Todesurteil! – Sechs Wochen nach der Arbeitsaufnahme lagen bereits zwei dieser braven Kollegen in der kalten sibirischen Erde und tiefer, tiefer Schnee bedeckte ihre bescheidenen Grabhügel. Wie viele noch folgten ihnen im Dienst – und im Tod.“81 Auch Hermann Breckner war an Flecktyphus erkrankt und schrieb darüber: „Als ich im Jahre 1919 in sibirischer Gefangenschaft wegen Flecktyphus in großer Lebensgefahr schwebte und das kontinuierliche hohe Fieber kaum noch zu ertragen war, da erquickten und labten mich in meiner irren Phantasie unsere heimischen kühlen Gebirgsbäche am Fusse unserer Berge, wie ich sie als Kind bei Arpasch ins Herz geschlossen hatte. Das durch den schweren Krankheitszustand verursachte ‚Delirium‘ hatte sie mir in das ferne Sibirien ans Krankenlager gezaubert und somit zur Rettung meines Lebens gewiss nicht wenig beigetragen. Ich liebe sie über alles, diese Gebirgsbäche und die Landschaft, die sie durchfließen!“82 Seine starke Natur und die 80 81 82
B r e c k n e r : Von der Postkutsche zur Astronautik, S. 35. Ebenda, S. 35–36. Ebenda, S. 18.
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sorgsame Pflege einer schwedischen Krankenschwester, die auch im Lager war, hatten ihm das Leben gerettet83, worüber er schrieb: „Ich hatte Glück und blieb. Zwar mit einem Herzschaden, auf den ich Zeit meines Lebens habe Rücksicht nehmen müssen; immerhin ich blieb und bin alt geworden.“84 Politisch begann sich Ende 1919 wieder einiges zu bewegen: „Man munkelte nämlich“, schrieb Breckner, „die Tage der Weissen seien gezählt, und die Roten würden bald in die Stadt einziehen. Ihr Vormarsch nach dem Osten sei nicht mehr aufzuhalten. In einer Dezembernacht – ich hatte gerade Nachtdienst und befand mich im großen Krankensaal, als zwei aufeinanderfolgende Detonationen das ganze Spitalsgebäude so erschütterten, dass der Bewurf der Wände und von der Zimmerdecke herab auf die Kranken fiel und sie unsanft aus dem Schlaf schreckte: Es war also so weit! Sie zogen ab, die ‚Weissen‘ und auch die ‚Interventionisten‘, die doch so gut helfen sollten, moralisch, aber auch mit der Waffe in der Hand! Die Zeit hatte offenbar zu keiner dieser verheissenen Hilfen gereicht, denn sie mögen mit sich selbst genug zu tun gehabt haben. Nun sprengten sie in die Luft, was noch irgendwie strategischen Wert hatte – und zogen. Unsere Schadenfreude war groß, denn sie waren es ja vor zwei Jahren gewesen, die unsere Heimkehr vereitelt und uns wieder eingesperrt hatten.“85 „Am selben Vormittag noch rückten die „Roten“ in die Stadt ein und ergriffen Besitz von Koltschaks und der Intervenisten Residenz. […] Es ergab sich die betrübliche Tatsache, dass die etwa 250.000 Einwohner zählende Stadt nur noch über 24 diplomierte Ärzte verfügte, die restlichen hatten sich freiwillig oder gezwungen, den abziehenden Weißen angeschlossen.“86 Nachdem aber die Flecktyphusepidemie weiter in der Bevölkerung und den auf dem Vormarsch befindlichen Soldaten wütete, „wandte sich das Militärkommando an alle hilfsbereiten Ärzte und Ärztehelfer mit dem Ersuchen, ihre Hilfe in den Dienst der für edle Menschlichkeit kämpfenden Soldaten zu stellen“87. Diesem Aufruf folgte auch Hermann Breckner. Er wurde zuerst einer Militärdivision zugeteilt, nach kurzer Zeit aber in das Feldspital „Blagoweschtschensky Woenii Gospital“ versetzt, in dem ein Großteil der Ärzte an Flecktyphus erkrankt war und er nun zeitweilig sogar den Dienst eines Abteilungsleiters übernehmen musste. In der Flecktyphusbehandlung hatte er reiche 83 Mündliche Mitteilung durch seine Tochter Hannemarie Mathes, geb. Breckner, Öhringen. 84 B r e c k n e r : Von der Postkutsche zur Astronautik, S. 35–36. 85 Ebenda, S. 37. 86 Ebenda. 87 Ebenda, S. 38.
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Erfahrung gesammelt und konnte Erfolge erringen und sich „Achtung und lobende Anerkennung“ durch seine Vorgesetzten sichern88. Mit dem Nachlassen der Kälte und dem Einsetzen einer besseren und regelmäßigeren Verpflegung, wie er schrieb, besserten sich auch die sanitären Verhältnisse. Nachdem ein Teil der russischen Militärkollegen wieder in ihre alten Stellen zurückgekehrt waren, wurde Hermann Breckner in den Sommermonaten 1920 dem städtischen Gesundheitsdienst übergeben, „im Rahmen dessen ich dann dazu ausersehen wurde, den Heimtransport der Kriegsgefangenen zu steuern und durchzuführen. Ende des Jahres 1920 war meine Mission erfüllt und nun konnte ich – sozusagen als Letzter – die Heimreise auch antreten.“89 Die lange Reise ging mit der Transsibirischen Eisenbahn über Moskau, Petersburg, wo er noch einige Kollegen besuchen konnte, nach Finnland. Hier bestiegen sie das deutsche Fracht-Dampfschiff „Martha Wörmann“ und landeten nach 3-tägiger stürmischer Fahrt in Stettin (Szszecin). „Nach Passierung des Durchgangslagers Hammerstein in Westpreußen, nach kurzem Aufenthalt in Berlin, setzte ich dann – ähnlich wie einst vor 6 ½ Jahren – in einem Sammelzug den letzten Teil der Heimreise über Oberschlesien in die Slowakei fort, überschritt die rumänische Landesgrenze bei Halmei und betrat am 27.XII.1920 mein Vaterhaus wieder, nicht ohne Gefühl tiefster Dankbarkeit dem Schicksal gegenüber, das mich so gütig behütet und durch alle Fährnisse dieser Jahre heil an Leib und Seele geführt und mir die grosse Gnade erwiesen hat, meine Eltern und meinen ebenfalls heil aus dem Krieg heimgekehrten Bruder froh in die Arme schließen zu dürfen.“90 In seiner Heimat erwartete ihn eine vollkommen neue Situation, über die er schrieb: „Mit dem Tag meiner Ankunft zu Hause begann für mich ein vollkommen neues Leben im wahrsten Sinne des Wortes. Es dauerte geraume Zeit, bis ich mich in die ‚Gesellschaft‘ wieder eingelebt und die unterschiedliche Würdigung des einfachen Mannes missbilligend zur Kenntnis genommen hatte.Trotz allem, die vier Monate bis zur Wiederaufnahme meines Studiums in Berlin, zu Hause wieder im trauten Kreis der Familie, der Freunde mit ihrer Anteilnahme, gehören wohl zu den schönsten meines Lebens.“91 Danach kehrte er nach Berlin zurück, um sein Studium an der Charité fortzusetzen, was ihm anfangs nicht leicht fiel, wie er selbst bekannte: „Gewöhnt, in Russland mit den diplomierten Ärzten auf die gleiche 88 89 90 91
Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 38–39. Ebenda, S. 39.
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Stufe gestellt zu werden und das Recht zu haben, genau wie diese leitende Posten zu bekleiden und auch in der Stadt Praxis ausüben zu dürfen, machten mir die Wiederaufnahme meines Studiums, das Einpauken des Prüfungsstoffes, das wieder ‚auf der Schulbank sitzen‘ bitter schwer und es kostete mich eine ungeheure Überwindung, diese bittere Pille zu schlucken. Aber ich schluckte sie, auch diesmal wieder nur mit Hilfe des Fleißes und des festen Willens. Im Jahre 1923 legte ich das Staatsexamen in Berlin ab und schrieb – während gleichzeitiger praktischer Arbeit auf der Charité – meine Doktorarbeit ‚Über Beckenfrakturen‘. Auf Grund dieser Inauguraldissertation und des damit verbundenen mündlichen Examens wurde ich in den ersten Tagen des Jahres 1924 zum Doktor der gesamten Heilkunde promoviert. Im selben Jahr noch liess ich mich als praktischer Arzt in meinem Heimatort Agnetheln nieder.“92 Im Laufe eines Jahres gelang es ihm, an der Bukarester medizinischen Fakultät die Gleichstellung seines deutschen Diplomes durchzusetzen und anschließend „in der mir noch nicht sehr geläufigen rumänischen Sprache die mit der Nostrifizierung einhergehende mündliche Prüfung abzulegen“93. In Klausenburg, an der Universität, an der er sein Studium der Medizin begonnen hatte, war dies damals nämlich nicht möglich. Zusammen mit seiner Ehefrau Melitta, geb. Spreer, als Arzthelferin, die er 1923 in Berlin geheiratet hatte, begann er 1924 seine Praxis in Agnetheln und beschloss sein berufliches Leben 1961, kurz vor seinem 70. Lebensjahr. Hermann Breckner starb 1976 im Alter von 84 Jahren in Hermannstadt und fand auf dem Agnethler Friedhof seine letzte Ruhestätte. In seinen Lebenserinnerungen schrieb er betreffend sein unterbrochenes Studium: „Es liegt auf der Hand, dass eine Gefangenschaft von so langer Dauer für die leidtragenden Hochschüler einen im Studium nicht mehr einzuholenden Zeitverlust bedeutet; auf jeden Fall wiegen die gewonnenen Menschenkenntnisse, die gewonnene Charakterreife, die wertvolle Bekannschaft mit einem mir bis dahin ganz unbekannten Volke, die verlorene Zeit kaum auf.“94
Ausblick Aus sechseinhalb Jahren erlebter Kriegsereignisse, davon eine fünf Jahre und zwei Monate dauernde Gefangenschaft, entstand durch seine Briefe und seine später aufgeschriebenen Lebenserinnerungen 92 93 94
Ebenda, S. 40. Ebenda. Ebenda, S. 32.
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aus den vielen, teils auch wenig herausragenden oder spektakulären Einzelheiten, das konkrete Bild eines historischen Zeitausschnitts, der sich bei Berücksichtigung der vielen Einzelschicksale als sehr vielfältig auszeichnet. Der Alltag der Kriegsgefangenen gestaltete sich teilweise als ein allen Gefangenen gemeinsamer, teilweise differenzierte er sich jedoch berufsbezogen, insbesondere für Mediziner und konkret für Hermann Breckner, als er in Tomsk die Möglichkeit bekam, in der ärztlichen Betreuung von Kriegsgefangenen mitzuarbeiten und täglich mehrere Stunden in den Ordinationsräumen des Lagers zu verbringen. Besonders in den letzten zwei Jahren seiner Gefangenschaft (1919/20), als er bei der Typhusbekämpfung in Omsk eingesetzt wurde und mehr Verantwortung übernehmen musste, konnte er seinem Lebensziel entsprechen, „immer für andere da zu sein und zu helfen“95, viel Gutes tun und viele Menschenleben retten. Der schwere Alltag ließ sich jedoch, je nach seelischer Konstitution, unterschiedlich meistern. Für Hermann Breckner waren Frohsinn und Optimismus kennzeichnend, um aus jeder Situation das Beste zu machen. Seine Erfahrung lehrte ihn auch nach Beendigung des Medizinstudiums in der Ausübung seines Berufes, „dass der Arzt – wenn er auch menschlich ein guter Arzt sein will – stets in Bereitschaft und schnell zu erreichen sein muss, am Tag und in der Nacht erst recht“96. Diesem Grundsatz ist er während seiner gesamten beruflichen Laufbahn gefolgt. Unabhängig davon, dass eine so lange Gefangenschaft mit ihren Erlebnissen für einen Menschen prägend und unvergessen blieb, hatte die russische Gefangenschaft auch Jahrzehnte später ihre Auswirkungen. Sein von der kommunistischen Behörde der Sowjetunion in Omsk ausgestellter Entlassungsschein aus der russischen Gefangenschaft hat ihm 1945 nämlich dazu verholfen, die Enteignung des Stammhauses der Familie Breckner in Agnetheln/Mittelgasse (heute Harbachtal-Museum), in dem er mit seiner Familie auf wenig Raum zusammengedrängt wurde, sowie den Verlust seiner Arztpraxis rückgängig zu machen. Die zuständigen Behörden der Volksrepublik Rumänien nahmen die Anordnung der Enteignung nach Vorlage des Entlassungsscheines nämlich wieder zurück97.
95
Ebenda, S. 42. Ebenda. 97 Mündliche Mitteilung von seiner Tochter Hannemarie Matthes, geb. Breckner, Öhringen. 96
D I E R U M ÄN I S C H E N M I L I T ÄR G E I S T L I C H E N A U S S I E B E N B ÜR G E N I M E R S T E N W E LT K R I E G
Ionela Z a h a r i a
Einleitung Historiker erforschten in den letzten zwei Jahren die Urkatastrophe der modernen Welt und die Ursachen für viele Probleme, die in dieser Weise bis ins Heute strahlen – den Ersten Weltkrieg, wieder tiefer und aus neuen Betrachtungswinkeln, die mehr die Kultur, die Religiosität und Mentalitäten untersuchen. Das Hauptinteresse dieses Artikels liegt auf den Auswirkungen des Krieges, auf einem Segment der inneren Struktur der österreichisch-ungarischen Monarchie – den rumänischen Militärgeistlichen aus Siebenbürgen. Es wird Einblick gegeben in die bedeutende Rolle der rumänischen Militärpriester, über die Religiosität der siebenbürgischen Rumänen und auch, wie die militärischen und politischen Entscheidungen, die bisher im Zentrum der Forschung standen, zur Erosion und zum Zusammenbruch von Symbolen und Mythen führten. Diese Symbole und Mythen waren einige der wichtigsten Instrumente, die eine so große Zahl von Völkern, Konfessionen und Religionen trotz Zunahme nationalistischer Tendenzen während des 19. Jahrhunderts unter der Herrschaft der Habsburger zusammenhielten. Die rumänischen Militärgeistlichen wurden aufgrund ihrer erheblichen Bedeutung deshalb ausgewählt, da sie nicht nur die Soldaten trösteten, sondern auch für die Entwicklung einer besonderen Religiosität, die mit messianischen Obertönen und Loyalität für die kaiserliche und königliche Familie verbunden waren, maßgeblich wurden. Weil über die rumänischen Militärgeistlichen Österreich-Ungarns bisher nicht sehr viel bekannt ist, wird zuerst eine kurze Geschichte der rumänischen Militärpriester in der österreichisch-ungarischen Armee skizziert. Danach geht es darum, die ersten Änderungen, die der Krieg hervorrief, vorzustellen. Dazu gehören auch die Meinungen der orthodoxen und griechisch-katholischen Kirchen aus Siebenbürgen zum Krieg an sich und zu Rumäniens Kriegseintritt, da die Militär-
Die rumänischen Militärgeistlichen
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priester auch während des Krieges teilweise unter der Jurisdiktion der Bischöfe und Metropoliten standen. Daran schließen Ausführungen an über die Tätigkeiten der Priester an der Front, in Krankenhäusern und Kriegsgefangenenlagern. Wichtig ist auch zu klären, ob bzw. in welchem Umfang die Geistlichen in die Abwehr der Feindpropaganda involviert waren. Abschließend wird die Situation der Geistlichen am Ende des Krieges dargestellt. Die verwendeten Quellen sind Erinnerungen derjenigen, die an der Front gekämpft und mit den rumänischen Geistlichen zu tun hatten, die Presse jener Zeit, die Pastoral- und Tätigkeitsberichte der Militärpriester und andere Akten sowie Bücher und Artikel, die auf ihre Aktivitäten hinweisen.
Kurze Geschichte der rumänischen Militärgeistlichkeit Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte der Militärseelsorgedienst der österreichisch-ungarischen Armee bereits eine lange Tradition. Die Präsenz der ersten rumänischen Militärpriester in der Armee ist ab Ende des 18. Jahrhunderts nachgewiesen, was mit der Gründung der Grenzregimenter in Zusammenhang steht. Ein erster Beweis ist die Genehmigung des Antrags, orthodoxe Militärpriester für diese Regimenter in Kriegszeiten einzusetzen, der im Jahr 1785 vom Metropoliten von Karlowitz (Sremski Karlovci, Karlóca), Pavle Nenadović, an Kaiser Joseph II. gesendet wurde1. Die Weiterentwicklung und die Reformen des 19. Jahrhunderts steigerten die Zahl der rumänischen Soldaten und folglich auch jene der Militärpriester in der Armee. Nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 wurde das gesamte Staatssystem den neuen Bedingungen entsprechend neu organisiert. Die Reformen in der Armee betrafen auch die Militärgeistlichkeit. Die wichtigsten Veränderungen waren die Abschaffung der Regimentsseelsorger und ihre Umgestaltung zu Militärkuraten und Militärkaplänen erster und zweiter Klasse bzw. im Aktiv- und Reservestand; die Umgestaltung der Feldsuperiorate zu Militärpfarreien; die Aufteilung der Priester in Militärseelsorgebezirken2. Diese und andere fortschrittliche Veränderungen bis zum Jahr 1913 führten zur Professionalisierung und Zentralisierung
1 Ionela Z a h a r i a : Preoți militari români din Imperiul Austriac. In: Imaginea în Istorie. Tipologii în societatea de ieri și de azi. Lucrările conferinței naționale, Cluj-Napoca, 19–20 aprilie 2013. Cluj-Napoca 2014, S. 396. 2 Emerich B i e l i k : Geschichte der k. u. k. Militärseelsorge und des Apostolischen Feldvikariates. Wien 1901, S. 204–220.
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Ionela Zaharia
des Seelsorgedienstes, und zwar unter Berücksichtigung der lokalen Besonderheiten3. Der Leiter und Berater des Kriegsministeriums für religiöse Angelegenheiten war von 1911 bis 1918 der Apostolische Feldvikar Emmerich Bjelik. Er ernannte im Auftrag des Kriegsministeriums und des Kaisers die katholischen und griechisch-katholischen Militärpriester. Dort, wo es für notwendig befunden wurde, einen orthodoxen Militärpriester einzusetzen, wurden der orthodoxe Metropolit bzw. die Bischöfe befragt4. Diejenigen, die sich für diesen Tätigkeitsbereich bewarben, mussten folgende Bedingungen erfüllen: das Theologiestudium mit gutem Erfolg abgeschlossen haben, unter 40 Jahre alt sein, eine gesunde körperliche Konstitution aufweisen, Bürger der Monarchie sein, ein tadelloses Vorleben haben, den Nachweis einer mindestens 3-jährigen Tätigkeit in der Zivilseelsorge erbringen, Kenntnis der deutschen und mindestens noch einer weiteren Sprache der Monarchie haben. Zu den besonderen Pflichten der Militärgeistlichen gehörte es, in ihren kirchlichen Predigten die Rekruten über ihre Standespflicht, die Achtung der Gesetze, den Gehorsam gegenüber den Vorgesetzten und die Liebe zum Monarchen und zum Vaterland zu lehren5. Die Kraft des priesterlichen Wortes galt besonders stark bei denjenigen Rumänen, die überwiegend in ländlichen Gebieten lebten, wo die Priester noch einen großen moralischen, geistigen und politischen Einfluss hatten6. Jene, die dies wollten, konnten freiwillig als Militärpriester in der Honvéd dienen. Alle anderen Kandidaten des geistlichen Standes wurden nach der Ernennung als Zivilpriester in der Liste der Militärseelsorger im Kriegsfalle verzeichnet7. In Friedenszeiten waren in dienstlichen Angelegenheiten die rumänischen Militärpriester sowie die katholischen Priester vor den Kommandanten der Militärbezirke und dem Kriegsministerium verantwortlich, während sie in Angelegenheiten der Seelsorge und des geistlichen Amtes ihren Bischöfen unterstanden. In Mobilisierungszeiten und an der Front waren für sie die Militärsuperioren bzw. Militärerzpriester ihrer Konfession 3 Patrick J. H o u l i h a n : Imperial Framework of religion: Catholic military chaplains of Germany and Austro-Hungary during the First World War. In: First World War Studies 3/2 (2012), S. 168. 4 Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Die bewaffnete Macht. Bd. V. Hgg. Adam W a n d r u s z k a , Peter U r b a n i t s c h . Wien 1987, S. 532–535. 5 Dienstvorschrift für Militärgeistlichkeit. Wien 1904, S. 1–2, 19–20. 6 Eugenia B â r l e a : Perspectiva lumii rurale asupra Primului Război Mondial. Teză de doctorat. Cluj-Napoca 2000, S. 23–25. 7 Die Habsburgermonarchie 1848–1918 und das Wehrgesetz. In: Reichsgesetzblatt für das Kaisertum Österreich LXVI (1868), S. 443.
Die rumänischen Militärgeistlichen
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zuständig, die den Armeekommandos zugeordnet wurden8. Im Februar 1914 gab es 27 rumänische Militärpriester aus Siebenbürgen im Aktivstand der k. u. k. Armee und der k. u. Honvéd, von denen 16 Orthodoxe und 11 Griechisch-katholische waren. Die meisten von ihnen lebten in Siebenbürgen, doch waren einige auch in Budapest, Sarajewo, Wien, Kaschau (Košice, Kassa) und Ragusa (Dubrovnik) bei den Truppen stationiert9. Wenn man den Pastoralbericht des Felderzpriesters Paul Boldea für das Jahr 1913 analysiert, erhält man einen Einblick in die Berufstätigkeit vor Kriegsbeginn. Boldea berichtete über die heiligen Liturgien, die Predigten und den Unterricht, die er für rumänische Soldaten, Kranke und Studenten in und um Wien abhielt. Die Predigten wurden auf Rumänisch abgehalten, und die Themen behandelten meist Gott, dessen Gebote, die Kirchengeschichte und, zu gewissen Festlichkeiten und Feiertagen, Kaiser und Vaterland10. In einem Zeitungsartikel wurde eine seiner Predigten, die das Beispiel der treuen tapferen Vorfahren und den guten alten Kaiser behandelte, besonders hervorgehoben11. Durch diese Predigten waren die Militärpriester nicht nur für die religiösen Bedürfnisse der Soldaten bedeutend, sondern auch als institutioneller Mechanismus zum Erwecken und Erhalten der Treue zum Monarchen und zum Vaterland. Sehr wichtig vor dem Kriegsbeginn waren auch die tolerante religiöse Haltung und die ökumenischen Beziehungen in der Armee, die auch vom Kaiser inspiriert und unterstützt wurden. Rumänisch-orthodoxe Offiziere z. B. konnten Chefs der Militärkanzleien des Kaisers werden12, und orthodoxe Militärgeistliche feierten die Heilige Liturgie in der evangelischen Garnisonskirche in Wien für rumänische und serbische Soldaten13. 8
Dienstvorschrift, S. 8–9. Schematismus für das k. u. k. Heer und für die k. u. k. Kriegsmarine für 1914.Wien 1914, S. 1129–1138; und A Magyar királyi honvédség és csendőrség névkönyve 1918. Budapest 1918, S. 599, 601. 10 Österreichisches Staatsarchiv Wien, Kriegsarchiv (fortan: AT-OeStA/KA) ZSt KM HR 467 Akten 9. Abt. 1914. Paul B o l d e a : Ausweiß über den im II. Quartal 1913 in der Garnison Wien und im Dienstbereich abgehaltenen Militärgottesdienst und Religionsunterricht, 1. Jänner 1914. 11 AT-OeStA/KA MBeh AFV 267 Personalakten Bl-Bu. Paul B o l d e a (ohne Titel und Datum). 12 http://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_P/Popp_Leonidas_1831_1908.xml und Peter B r o u c e k : Ein General im Zwielicht. Erinnerungen Edmund Glaises von Horstenau. Bd. 1. Wien 1980, S. 293. 13 AT-OeStA/KA ZSt KM HR 467 Akten 9. Abt. 1914, Paul B o l d e a : Ausweiß über den im II. Quartal 1913 ... Die Heiligen Liturgien wurden in der ehemaligen Schwarzspanierkirche/Garnisonskirche abgehalten. 9
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Ionela Zaharia
Der Beginn des Großen Krieges und die ersten Veränderungen Die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien löste gleich einem Dominoeffekt den Kriegseintritt weiterer europäischer Staaten aus, worauf eine beispiellose Mobilisierung erfolgte. Die rapide Entwicklung bzw. Vergrößerung des Konfliktes führte zu einer großen Zahl an Soldaten auf dem Schlachtfeld, zu einer sehr großen Zahl an Opfern und Kriegsgefangenen. Militärschematismen und Ranglisten zeigen, dass diese Veränderungen auch zu einem Wachstum der Zahl der rumänischen Militärpriester führten, denn im Jahr 1916 gab es 82 Militärpriester aus Siebenbürgen, zwei Jahre später belief sich ihre Zahl bereits auf 256 Personen. Das größte Problem war allerdings, dass die neuen Militärpriester meist aus dem Zivilklerus stammten, die nie einen Krieg erlebt und keine Erfahrung hatten. Die griechisch-katholischen Feldkapläne bekamen vom Papst, nach der Intervention des Apostolischen Feldvikars, neue Kompetenzen, um ihre Aktivitäten an der Front einfacher und leistungsfähiger gestalten zu können. Sie durften unter anderem: viele Sünden vergeben, sogar einige, die allein dem Papst vorbehalten waren; die heilige Liturgie unter freiem Himmel bzw. unter der Erde abhalten; die heilige Kommunion allen christlichen Soldaten, die ihre Sünden beichteten, anbieten; Messen und andere Gebete verkürzen; den Glauben an Gottes Gnade und Hilfe stärken; und allen Verletzten und Sterbenden Trost spenden14. Die Abhaltung der Heiligen Liturgie in orthodoxen Kirchen war allerdings nicht erlaubt, ebenso wie Orthodoxe ihre Heiligen Liturgien nicht in katholischen Kirchen abhalten durften15.
Die Einstellung der Kirchen zum Krieg Die offizielle Haltung der Kirchen kann man aus den Hirtenbriefen, die für die großen christlichen Feste veröffentlicht wurden, sehr deutlich herauslesen. Die griechisch-katholische Zeitschrift „Cultura Creștină“ von Blasendorf (Blaj, Balázsfalva) übernahm und analysierte die Weihnachtsenzyklika von 1914 von Papst Benedikt XV. In erster Linie betonte der Papst, dass für den Krieg der Mangel an christlicher Liebe, die Säkularisierung in der Ausbildung, der Hass zwischen den Völkern und andere Sünden schuld waren. Zweitens gab er Beispie14 Preoți militari și slujba lor în vreme de răsboiu. In: Unirea XXIV (1914), Nr. 111, S. 2–3. 15 AT-OeStA/KA MBeh AFV 163 Akten: Projekt einer interkonfessionellen Kirche in Bruck an der Leitha, 10.7.1916.
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le, wie man gegen jene ankämpfen solle. Am Ende des Artikels lobte der Redakteur Alexandru Rusu den Papst für seine Worte und seine unparteiische Haltung16. Der orthodoxe Bischof von Karansebesch (Caransebeş, Karánsebes), Miron Cristea, strich in seinem Weihnachtshirtenbrief von 1915 die gleichen Ursachen für den großen Krieg und die Hoffnung auf baldigen Frieden heraus17. Daraus geht hervor, dass am Anfang des Krieges einige Kirchenführer den Krieg nicht verleugneten, sondern bestrebt waren, die Notwendigkeit einer möglichst schnellen friedlichen Lösung zu betonen. Sie hatten jedoch nicht den Einfluss, den Frieden durchzusetzen, und haben sich daher das Ziel gesetzt, das Gewissen der Kombattanten zu wecken und an der Front und auch im Hinterland moralische Unterstützung zu bieten. Rumäniens Kriegseintritt schuf für die siebenbürgischen Rumänen eine schwierige Herausforderung und stellte die Frage nach der Legitimität des Krieges. Die Kirche gab ihre Meinung in einem neuen Hirtenbrief deutlich bekannt, in dem Bischof Cristea allen Gläubigen die Erfüllung ihrer Pflichten empfahl. Als Argument brachte er das immer zu beschützende Vaterland und den Thron ins Spiel, die immer nur das Beste für die siebenbürgischen Rumänen wollten18. Trotz solcher Stellungnahmen kam es zu einer Desertionswelle unter den Rumänen, was die Behörden veranlasste, mehr Druck auf die orthodoxen Bischöfe und den Metropoliten auszuüben und sie zu einem zweiten, schärferen Hirtenbrief aufzufordern. Dieser wurde im September 1916 veröffentlicht. Die Kirche sprach sich noch einmal für Pflichterfüllung aus, auch gegen die rumänischen Brüder, die von Russland beschwindelt worden seien, Österreich-Ungarn, und so auch sie selbst zu attackieren. Der Brief argumentierte mit der Gerechtigkeit einer solchen Tat, mit verschiedenen Zitaten aus der Bibel19. Die Mehrheit der Rumänen in Siebenbürgen und an der Front glaubten bis 1918 nicht an die Möglichkeit eines Zusammenbruchs der Monarchie. Politiker, Bischöfe und Priester hatten die Hoffnung, dass, wenn sie sich treu und loyal zeigten, ihre Nation am Ende des Krieges belohnt werde20. Die Priester waren allerdings durch einen 16 Alexandru R u s u : Enciclica papală. In: Cultura Creștină IV (1914), Nr. 19–20, S. 493–500. 17 AT-OeStA/KA ZSt KM HR 769 Akten 9. Abt 1915, Miron C r i s t e a : Cuvinte de mângâiere și îmbărbătare, 24.12.1914. 18 AT-OeStA/KA ZSt KM HR 982 Akten 9. Abt 1916: Pastorala [Hirtenbrief], 16/29.8. 1916. 19 AT-OeStA/KA ZSt KM HR 982 Akten 9. Abt 1916: Scrisoare circulară [Zirkularbrief], 8/21.9.1916. 20 Ebenda.
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Eid gebunden, den sie bei ihrer Investierung leisteten („Ich schwöre und gelobe auf Gottes heiliges Evangelium Eurer Majestät und Allerhöchst ihren Nachfolgern Gehorsam und Treue […]. Ich schwöre zu Gott dem Allmächtigen und gelobe bei meiner Ehre und Treue, Seiner Majestät, dem Allerdurchlauchtigsten Fürsten und Herrn, Franz Joseph dem Ersten […] treu und gehorsam zu sein.“21 Es ist zu betonen, dass jeder Feldgeistliche sowie jeder Gläubige verschiedene Gründe für die weitere Kriegsteilnahme haben konnte: Manche erfüllten ihre Pflicht aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen, andere aus Loyalität, einige, um die Angehörigen vor den Russen zu beschützen, weitere, um ihrer Pflicht gegenüber Gott und den Soldaten zu erfüllen22.
Tätigkeiten an der Front Erinnerungen und Pastoralberichte der Militärgeistlichen bieten einen guten Einblick in die Situation an der Front und lassen zurückverfolgen, wie die Priester ihre Mission ausführten und welche Interessen die Behörden hatten. Die Pflichten unterschieden sich je nachdem, wohin die Priester gesendet wurden. Die Erinnerungen des griechischkatholischen Militärpriesters Aaron Lupșa, der an der serbischen und russischen Front diente, veranschaulichen z. B., wie gefährlich die Tätigkeiten an der vordersten Linie waren: „Serbien, 25. November 1914 wurde ich verständigt, dass in einem unweit gelegenen Walde ein Mann tot liegt. Ich begab mich zeitlich früh hin, um dem feindlichen Artilleriefeuer zuvorzukommen und war schon mit der Beerdigung beinahe fertig, als die Serben mit Tagesanbruch das Feuer eröffneten. […] 6. September 1915 […] zum Gottesdienst versammelt. Die katholische und griechisch-orthodoxe Gruppe war auf der einen Seite des Lagers, die protestantische dagegen auf der anderen […], plötzlich über uns ein feindlicher Flieger. Die Mannschaft meiner Gruppe zerstreute sich sofort auf Befehl des Herrn Major Blümel und warf sich auf den Boden. Ich blieb noch beim Altar […], und schon war die erste Bombe da […]. Rasch hintereinander folgte eine zweite, dritte, vierte Bombe […]. 19 Männer wurden verwundet und der zwanzigste blieb auf der Stelle tot.“ Die Präsenz der Priester an der Front war für die traditionsbewusste Mentalität der rumänischen Soldaten sehr wichtig. Für ihre Geisteshaltung waren das Gebet, die Beichte und die heilige Kommunion vor dem Gefecht wesentlich. Auch das Wissen spielte eine große Rolle, 21
Dienstvorschrift, S. 80–81. Viele Erinnerungen, Tagebücher und Briefe der siebenbürgischen Rumänen bestätigen diese Aussagen. 22
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dass im Falle des Todes ein Priester die Beerdigung nach christlichem Ritus abhalten konnte23. Erinnerungen der Soldaten geben zahllose Darstellungen der Religiosität an der Front wieder und wie alles, was mit Gott zu tun hatte, auf die Soldaten einen geheimnisvollen Eindruck machte24. Angst vor dem Tod und Unsicherheit waren einige der Hauptursachen für den religiösen Eifer, die Intensität des religiösen Gefühls, die Wichtigkeit der Militärpriester an der Front – und ein ergiebiger Boden für Aberglauben. Die Pastoralberichte und Tätigkeitsberichte zeigen auch, welche Strategie die Behörden verfolgten und was für sie wichtig war, zum Beispiel: ob der Gottesdienst abgehalten wurde und wann, die Themen der Predigten, wie groß die Beteiligung daran war, ob die Priester die Soldaten zu Beichte und Kommunion aufmuntern konnten, ob die auf den Hilfsplatz gebrachten Verwundeten getröstet wurden und beichten konnten, was zur Hebung des religiös-sittlichen Lebens der Soldaten getan wurde, ob die Toten kirchlich eingesegnet und begraben wurden, welche Beobachtungen, Erfahrungen und Wünsche sie hatten usw.25 Für jene war also wichtig, die Stimmung der Soldaten und die Tätigkeiten der Feldkuraten zu überwachen. In den ersten zwei Jahren des Krieges gab es in Bezug auf die Predigten eine Prävalenz für Themen wie Homilie des Evangeliums, Treue, Glaube, Hoffnung, Nächstenliebe, Heiligkeit des Eides, Wert des Todes für Familie und Heimat usw. Viele Priester versuchten, den Krieg wie eine Strafe Gottes aussehen zu lassen, und wünschten Hoffnung und Geduld, um ein christliches Leben und die Erfüllung ihrer Pflichten zu einem Kampfmittel für die Zeit des Sieges und des Friedens herbeizuführen26. Die heiligen Messen und Predigten reichten jedoch nicht aus, um die Stimmung der Soldaten hochzuhalten, wobei die Situation für die Soldaten in den Krankenhäusern besonders schwierig war. Unterstützt von verschiedenen Vereinen versuchten die Militärpriester Gebetbücher und Zeitschriften auf Rumänisch für die Soldaten zu besorgen, um jene damit zu trösten27. Dokumente aus dem Archiv des 23
B â r l e a : Perspectiva lumii rurale, S. 95–104. Valeriu L e u , Nicolae B o c ș a n : Marele Război în memoria bănățeană 1914–1919. Cluj-Napoca 2012, S. 510, 531–532; B â r l e a : Perspectiva lumii rurale, S. 119–121. 25 AT-OeStA/KA MBeh AFV 216 Pastoralberichte 1915. Michael Medve, Pastoralbericht für den Monat Oktober 1915. 26 AT-OeStA/KA ZSt KM HR 767 Akten 9. Abt 1915; AT-OeStA, KA, MBeh, AFV, 215 Pastoralberichte 1895–1915; AT-OeStA, KA, MBeh, AFV, 216 Pastoralberichte 1915; ATOeStA, KA, MBeh, AFV, 179 Geschichte der Militärseelsorge. Weihnachts-Hirtenbrief des Feldvikars Bischof Bjelik u. a. 27 Foaia Diecezană XXIX (1914), Nr. 38, S. 5; Nr. 47, S. 2. 24
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Apostolischen Feldvikariats beweisen, dass nach 1916 an der Front und in den Spitälern vor allem der Bedarf an Gebetbüchern sehr groß war. Die Bücher enthielten alles, was für die Soldaten an der Front als notwendig erachtet wurde: Gebete für verschiedenste Bedürfnisse, patriotische Lieder und Texte zur Stärkung der Loyalität, aber auch Hygieneanweisungen28. Die Behörden waren in die Erstellung solcher Bücher involviert29, womit sie den Inhalt der Bücher mitbestimmen konnten.
Kriegsgefangenenlager Die Verhältnisse in den Kriegsgefangenenlagern waren nicht besonders gut, da die Behörden logistisch mangelhaft vorbereitet waren, einen so großen Kriegsgefangenzustrom zu bewältigen30. Nach Angaben der Haager Landkriegsordnung betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges mussten die religiösen Bedürfnisse der Gefangenen beachtet werden31; somit war die Notwendigkeit auch einer großen Anzahl rumänischer Militärpriester gegeben. Diese kamen vor allem aus dem Banat und der Bukowina, weil sie Serbokroatisch bzw. Russisch sprachen. Bezogen auf die Haager Landkriegsordnung erlaubten die österreichisch-ungarischen Behörden die Feier der Heiligen Liturgie und anderer religiöser Notwendigkeiten für die Gefangenen, zumindest einmal im Monat. Nachdem in den Gefangenenlagern Epidemien ausbrachen und sich verbreiteten, mussten die Militärpriester auch in den Kriegsgefangenenlagern mehr Zeit zubringen32. Laut Befehl mussten die Priester der Monarchie treu sein, um das Aufkommen gefährlicher Ideologien in den Lagern zu verhindern. Andere Quellen besagen aber, dass die Treue der Lagerpriester sowieso in Frage gestellt wurde und sie daher in die Lager gesendet wurden, um 28
AT-OeStA/KA MBeh AFV 202 Gebetsbücher. Viktor L i p u s c h : Österreich-Ungarns Militärgeistlichkeit im Ersten Weltkrieg. Wien 1938, S. 105–107. 30 In Bezug auf die Gefangenen hatten alle Staaten, nicht nur Österreich-Ungarn, große Probleme: die große Anzahl, keine Plätze zur Unterbringung, Sicherheitsprobleme, Lebensmittel, Kleidung, der einsetzende Winter, Hygiene, besondere Bedingungen für die Offiziere usw. Verena M o r i t z , Hannes L e i d i n g e r : Zwischen Nutzen und Bedrohung. Die russischen Kriegsgefangenen in Österreich (1914–1921). Bonn 2005, S. 17–18. 31 Peace Conference 18 October 1907. „Convention (IV) respecting the Laws and Customs of War on Land and its annex: Regulations concerning the Laws and Customs of War on Land“, unter https://www.icrc.org/applic/ihl/ihl.nsf/385ec082b509e76c41256 739003e636d/1d1726425f6955aec125641e0038bfd6. 32 AT-OeStA/KA ZSt KM HR 982 Akten 9. Abt. (1916), Mihai Russu: Beschäftigungsjournal, 23.5.1916. 29
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sie besser überwachen zu können33. Ab Oktober 1917 war z. B. Eftimie Jianu, ein orthodoxer Militärpriester, im Lager von Sopronnyeck eingeteilt, in dem seit 1916 die meisten rumänischen Gefangenen untergebracht waren. In einem seiner Pastoralberichte schrieb er, dass er dort einmal im Monat die Heilige Liturgie, Predigten über Loyalität und patriotische Belehrungen für die Wachmannschaft abgehalten hatte34. Ein in Sopronnyeck gefangener rumänischer Offizier berichtete nach Kriegsende, dass die Priester, die dorthin kamen, immer vorsichtig waren und versuchten, unparteiisch zu bleiben35. Coriolan Buracu, ebenso orthodoxer Militärpriester, war im Kriegsgefangenenlager bei Debrecen für die Wachmannschaft und für die Kriegsgefangenen tätig. Ebenfalls in Debrecen diente Alexandru Ţânțariu aus Siebenbürgen als Wachoffizier. Er beschrieb die Liturgien und Predigten von Priester Buracu und erklärte, dass dieser immer für das Ende des Krieges bete, damit jeder nach Hause zurückkehren könne36. Wie in den Spitälern versuchten die Priester auch in den Lagern zusammen mit dem Roten Kreuz und dem Verein „Young Man Christian Association“ (YMCA) irgendwie Trost zu spenden. Gemeinsam gelang es ihnen, Bücher und Gebetbücher zu verteilen und Theateraufführungen, Sportspiele, Alphabetisierungskurse u. a. zu organisieren37.
Nach dem Eintritt Rumäniens in den Krieg Nach dem Eintritt Rumäniens in den Krieg wurden die rumänischen Soldaten und Militärpriester intensiver beobachtet. Die Behörden ordneten den Priestern an, mehr über die Heiligkeit der Eide und Pflichterfüllung zu predigen. In einem Pastoralbericht des ersten rumänischen Militärpriesters Boldea am Ende des Jahres 1916 berichtete dieser, dass neben ihm auch weitere rumänische Militärpriester und Soldaten an der italienischen Front ihre Pflicht gegenüber Österreich-Ungarn erfüllten: „Eine große Anzahl der Mannschaft (3 – 4 Prozent) der an der ital. Front Kämpfenden sind griech-orientalische Rumänen aus dem Banat, 33 AT-OeStA/KA MBeh AFV 168 Kriegsgefangene und Heimkehrerlager. K. u. k. Kriegsministerium: Ausübung der Seelsorge für in Spitalspflege befindliche Kriegsgefangene, Bestellung der erforderlichen Seelsorger, Dezember 1914; Petru F o t o c : Preoți cu crucea-n frunte. Amintiri din răsboi. In: Foaia Diecesană (1934). 34 AT-OeStA/KA ZSt KM HR 1364 Akten 9 Abt. (1918–1919), Eftimie Jianu: Beschäftigungsjournal, 30.9.1918. 35 Gheorghe N i c o l e s c u , Gheorghe D o b r e s c u , Andrei N i c o l e s c u : Calvarul prizonierilor români din Primul Război Mondial. Pitești 2007, S. 57–58. 36 L e u , B o c ș a n : Marele Război în memoria bănățeană, S. 546. 37 Kenneth S t e u e r : The Pursuit of an Unparalleled Opportunity. The American YMCA and WPA Operations in Austria-Hungary, unter http://www.gutenberg-e.org/ steuer/print/steuer.ch09.pdf.
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Siebenbürgen und der Bukowina. Anlässlich der Kriegserklärung Rumäniens wurde auf Befehl des 7. Korpskommandos die Mannschaft durch Predigt und religiöse Vorträge zur beschwörenden Fahnentreue angeeifert und zur tapferen Erfüllung ihrer höchsten Pflicht für Thron und Vaterland ermuntert.“38 Auch die Berichte anderer Priester zeigen, dass sich die Predigtthemen nach 1916 mit dem geduldigen Ertragen des Heimwehs, der Ausdauer, der Pflichterfüllung, dem Soldateneid, den von Gott kommenden Obrigkeiten beschäftigten, um die Soldaten zum Weiterkämpfen anzuhalten39. Ab 1917 verschlechterte sich die Situation innerhalb der Monarchie durch innere Krisen, Nahrungsmittelknappheit, schlechte Stimmung und Feindpropaganda. Zusätzlich brachte die Rückführung von Soldaten aus der russischen Gefangenschaft weitere Probleme, nämlich die Verbreitung bolschewistischer Ideen. Deshalb beschlossen die Behörden, solche Ideen und Stimmungen mit offensiver und defensiver Propaganda zu bekämpfen. Die Feindpropaganda-Abwehrstelle wurde eingerichtet und hatte die Aufgabe, vaterländischen Unterricht zu organisieren. Dies waren spezielle Kurse, die an der Front, im Hinterland und in den Lagern der zurückgekehrten Soldaten abgehalten wurden, womit man versuchte, die Loyalität gegenüber der kaiserlichen und königlichen Familie zu stärken. Die Kurse wurden von speziell ausgebildeten Offizieren und Militärpriestern abgehalten40. Aus den Pastoralberichten der Jahre 1917 und 1918 lässt sich jedenfalls das Misstrauen und die Besorgnis der Behörden in dieser schweren Situation ableiten41. Im November 1918 war es für die politische Führung der Rumänen aus Siebenbürgen jedoch klar, dass die Monarchie am Rande des Zusammenbruchs steht. Unter diesen besonderen Umständen und unter Ausnutzung des Selbstbestimmungsprinzips entschieden sie sich für die Unabhängigkeit Siebenbürgens und die Vereinigung mit dem rumänischen Königreich. Als Folge dessen haben die Militärpriester bei der Organisation der Demobilisierung von Soldaten geholfen. In
38 AT-OeStA/KA MBeh AFV 223 Pastoralberichte, Paul Boldea. Tätigkeitsbericht 19.10.1916. 39 AT-OeStA/KA MBeh AFV 231 Pastoralberichte – 246 Pastoralberichte; AT-OeStA/ KA ZSt KM HR 1364 Abt. 9, 1918/1919. 40 AT-OeStA/KA MBeh AFV 177 Akten. Richtlinien für vaterländischen Unterricht und Abwehr der Feindespropaganda; k. u. k. Ministerium: Feindespropaganda- Abwehr durch die Militärgeistlichkeit, 22.8.1918. 41 AT-OeStA/KA Mbeh AFV 245 Pastoralberichte 1918; AT-OeStA/KA Mbeh AFV 246 Heimkehrlage; AT-OeStA/KA ZSt KM HR 1364 Akten 9. Abt. (1918/1919).
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diesem Zusammenhang hielten sie symbolische Zeremonien ab, um die Soldaten vom Eid für den Kaiser und das Haus Habsburg zu entbinden.
Konklusion Abschließend gibt es zu betonen, dass, obwohl die Kirchen den Krieg an sich verurteilten, die rumänischen Militärpriester ihre Pflichten an den Fronten sowie in den Krankenhäusern und Gefangenenlagern erfüllten, nicht nur weil sie durch einen heiligen Eid dazu verpflichtet waren, aus Angst oder aus Loyalität, sondern auch aus Mitgefühl für diejenigen, die den größten Bedarf an moralischer und spiritueller Unterstützung hatten – die Soldaten. Die Behörden sahen in den Militärpriestern ein Werkzeug, um die Stimmung der Soldaten hochzuhalten, und nutzten sie später zu Propagandazwecken. Trotz dieser späten Versuche verlor Österreich-Ungarn den Kampf um die Herzen und Seelen, so wie der Historiker Mark Cornwall es unterstrich42. Vier Jahre mit Leiden, Hunger und Misstrauen führten zur Entheiligung des Kaisers und der anderen Symbole des Kaiserreiches – trotz der Predigten der Feldkuraten. Auf einen weiteren interessanten Aspekt wies der Historiker Patrick Houlihan hin. In einem seiner Artikel unterstrich er eine starke Persistenz des religiösen Glaubens während der Auflösung ÖsterreichUngarns und eine Verschiebung der Verpflichtung gegenüber dem Kaiser zur Pflicht gegenüber Heimat und Angehörigen43. Dies galt auch für die einfachen Rumänen, die sich nach dem Krieg mehr an die Trostworte der Priester erinnerten und nicht an ihre Predigten über Loyalität gegenüber den Habsburgern. Ihr Gewissen war rein: Sie erfüllten ihre Pflicht nicht nur gegenüber ihrem Monarchen und Gott, sondern auch gegenüber ihrer Familie: „Aceste servicii divine erau nu numai rugăciune, erau jertfe, simțeam parcă cum darul Duhului Sfânt se poagoară asupra acelora care îi implorau mila. Se furișau în noi slăbiciuni omenești, gânduri mărețe și sentimentul datoriei pentru cei de acasă.“44 [Diese heiligen Gottesdienste waren nicht nur Gebete, sondern auch Opfer; wir fühlten, wie sich Gottes Segen auf jene legt, die um seine Gnade baten. In uns kamen menschliche Schwächen, große Gedanken und das Pflichtgefühl gegenüber den daheim Gebliebenen auf.] 42 Dies erklärt sich durch die schlechten politischen Entscheidungen und durch die unbeabsichtigten Folgen während des Krieges. Mark C o r n w a l l : The Undermining of Austria-Hungary. The Battle for Hearts and Minds. London, New York 2000, S. 405–407. 43 H o u l i h a n : Imperial Framework of religion, S. 173. 44 F o t o c : Preoți cu crucea-n frunte, S. 2–3.
KLASSENBEWUSSTSEIN V E R S U S N AT I O N A L B E W U S S T S E I N Ein Banater Sozialdemokrat und das Banat der Jahre 1918/19 Rudolf G r ä f Gegen Ende des Ersten Weltkriegs, als es keine Zweifel mehr über den Ausgang des Krieges gab, dass die Monarchie von zentrifugalen nationalen, aber auch politischen und ökonomischen Kräften auseinandergerissen würde, suchten auch die Politiker des Banats für die von ihnen vertretenen Völker die richtige politische Lösung für die Zukunft. Immer wieder wurde auf die nationalen Kräfte hingewiesen, die die Triebkraft für die entscheidenden Veränderungen waren, die das Banat und seine Bevölkerung betreffen sollten – die ungarische Bevölkerung, ungarisch regierungstreu, mit dem Wunsch, das Banat für Ungarn zu behalten; die schwäbische Bevölkerung, sehr in der ungarischen Kultur integriert, größtenteils sich für das Verbleiben bei Ungarn aussprechend, jedoch mit den ersten Ansätzen, dass man auch bei Rumänien und mit den Rumänen weiterleben könne, mit dem Hauptziel jedoch, dass das Banat ungeteilt bleibe und die politische und besonders ökonomische Grundlage für die deutsche Bevölkerung des Banats erhalten bleibe; die Serben, selbstverständlich mit dem Wunsch an Serbien angeschlossen zu werden; die rumänische Mehrheitsbevölkerung – vor die Perspektive gestellt, nunmehr nur Budapest als politischem Zentrum untergeordnet zu sein, ohne den Anhaltspunkt Wien und das Kaiserhaus – wünschte selbstverständlich Rumänien angeschlossen zu werden, wie es letztendlich, demographisch gerechtfertigt, auch geschehen ist. In diesen komplexen internationalen und internen Umständen wird im Banat eine „Banater Republik“ ausgerufen, wozu die Banater Sozialdemokraten einen besonderen Beitrag geliefert haben. Dies bedeutet, dass neben dem nationalen Faktor der sozialpolitische und übernationale eine große Rolle zu spielen versuchte und teilweise auch gespielt hat.
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Im folgenden Beitrag gilt es, im Rahmen der allgemeinen Lage des Banats am Ende des Jahres 1918 und in der ersten Hälfte des Jahres 1919 anhand eines (unterdessen veröffentlichten1) Typoskripts, das einem bedeutenden Banater Arbeiterführer zugesprochen wird und das von Prof. Nicolae Bocșan zur Verfügung gestellt wurde (es handelt sich um Koloman Müller2), die politische Situation des Banats während der serbischen Besatzung Temeswars (Timișoara, Temesvár) und des westlichen Banats zu erörtern3.
1 Koloman M ü l l e r : Timișoara sub ocupație militară sârbească până la preluarea puterii din partea României, respectiv până la introducerea administrației românești, Das Typoscript aus dem Archiv des Muzeul Banatului Timișoara wurde von Valeriu L e u (†), Nicolae B o c ș a n und Mihaela B e d e c e a n veröffentlicht in: Marele Război în memoria bănățeană. Bd. III. Cluj-Napoca 2015, S. 407–420. 2 Vgl. Carl G ö l l n e r : Koloman Müller (1891–1957), ein Vorkämpfer der Arbeiterbewegung in Rumänien. In: Beiträge zur Geschichte der Sozialdemokratischen Arbeiterbewegung im Sudeten-, Karpaten- und Donauraum, Folge 4 (1981): Arbeiterbewegung und Arbeiterdichtung. Referate, gehalten in Mattersburg (Burgenland) am 4. und 5. September 1980 im Rahmen eines gleichnamigen Symposions, Schriftenreihe des Seliger Archivs e.V. Stuttgart. München 1982, S. 29–38; William M a r i n : Ein verwegener Tischler. Episoden aus dem Leben und Wirken des Arbeiterführers Koloman Müller, 1. Folge, Neuer Weg (fortan: NW) v. 5.11.1988, S. 4; Im Generalstreik von 1920, 3. Folge, NW v. 26.11.1988, S. 4; Für Einheit der Gewerkschaften, 4. Folge, NW v. 10.12.1988; Der Bau des Arbeiterheims, 5. Folge, NW v. 17.12.1988; Blutsonntag im April 1929, 6. Folge, NW v. 24.12.1988, S. 4. 3 Während sowohl die rumänischen Historiker, die sich mit dem Thema beschäftigen, als auch die ungarischen und serbischen, die deutschen bzw. die Historiker der Banater Schwaben die Ereignisse der Jahre 1918/19 aus nationaler, rumänischer, ungarischer und deutsch/schwäbischer Sicht untersuchen, stellt sich die Frage ob die „Banater Republik“ nicht auch eine „ehrliche“ Alternative zur nationalen Lösung der Banater Frage darstellt. Auf eine soziale Klasse bezogen, bestand die Hoffnung, das Leben der Arbeiterschaft zu verbessern. Die Geschichtsschreibung aus kommunistischer Zeit sieht das Konzept teilweise als Ausdruck des Klassenkampfes, ist mit der nationalen Komponente aber vorsichtig, da es ja eine Konstruktion gewesen wäre, die im Rahmen des ungarischen Staates verblieben wäre. Seit 1989 wird der sozialen Komponente weniger Aufmerksamkeit geschenkt, weil sie als eine „Vorstufe“ zum Kommunismus gedeutet wird. Ich nehme mir in diesem Beitrag nicht vor, das Thema zu erschöpfen, denn es müssen ausgiebige Archivforschungen gemacht werden, doch spiegelt der Text von Koloman Müller die vielen Facetten einer Sozialdemokratie wider, die um die 40.000 – 45.000 Anhänger im Banat hatte, eine Arbeiterschaft, die sehr stark verbürgerlicht war durch Bildung und Erziehung, in Lebensformen und Denkweise – eine Arbeiterschaft, die nicht dem Lumpenproletariat angehörte, sondern, sich der Macht bewusst, die sie darstellte, in das politische Tagesgeschehen eingriff und ihr Schicksal mitzugestalten versuchte. Diesen Typus von Arbeiterschaft gab es im damaligen Rumänien nicht, darum waren auch viele Führer der sozialistischen Bewegung nicht Einheimische.
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Der Proklamation der Banater Republik4 waren Arbeiterdemonstrationen in den bedeutendsten Banater Industriestädten, Temeswar und Reschitza (Reșița, Resicabánya, Rešica), vorausgegangen (am 24., 27., 28., 31. Oktober 1918). Die Arbeiterschaft verlangte Frieden, eine gute Versorgung, Abschaffung der Zensur, eine Wahlreform, und war gegen die Wekerle-Regierung sowie gegen die politischen Kreise um Andrassy gerichtet5. Am 29. Oktober machte Dr. Otto Roth6 (er benutzte wieder den Begriff „Banat“ nach fünfzigjähriger Verwendung des Begriffes „Südungarn“) dem Publikum die Gefahr bekannt, wonach nach der Kapitulation der Türkei und Bulgariens die Truppen der Entente an die untere Donau vordringen würden und das Banat besetzt werden könnte. Er sprach von der Notwendigkeit, dass die Bevölkerung „Südungarns“ ihr Schicksal selbst bestimmen solle, indem es auch den Frieden verhandle, was letztendlich nicht eingetreten ist7. Dies geschah, nachdem am 28. Oktober 1918 „Deli Hírlap“ die Nachricht gebracht hatte, dass das Armeeoberkommando die Räumung ganz Südungarns bis zur Marosch (Mureș, Maros) angeordnet hatte8. Am 31. Oktober fand in Temeswar auf Befehl des Oberkommandos des ungarischen Heeres, der von dem Temeswarer Garnisonskommando übermittelt wurde, eine Versammlung der Garnisonsoffiziere statt, während gleichzeitig auch die Arbeiter, von Dr. Roth und den Parteiführern angeführt, auf der Straße waren und in Richtung PrinzEugen-Platz dirigiert wurden, die Offiziere sollten nationale Militärräte gründen9. Ein Banater Volksrat sollte entstehen, und Dr. Roth erhob den Anspruch auf die Autonomie des Banats. Die Rumänen wehrten sich gegen diese Initiative, denn sie durchschauten die Absicht, auf diese Weise das Banat eventuell Ungarn zu überlassen. Der Volksrat wurde auch gegründet, doch wollten die Vertreter der Rumänen nur bei den Verwaltungs- und Versorgungsfragen mitmachen, denn sie ordneten sich dem Rumänischen Nationalrat unter, von dem sie 4 Jovica L u k o v i ć : Grenzziehung als Epochengrenze. Untergang der Habsburgermonarchie, Selbstbestimmungsrecht und Banater Republik. In: Josef W o l f : Historische Regionen und ethnisches Gruppenbewusstsein in Ostmittel- und Südosteuropa. München 2010 (Danubiana Carpathica 3/4, 50/51, 2009/2010), S. 77–116. 5 Vgl. A. S i k l ó s : Ungarn im Oktober 1918. In: Acta Historica Academiae Scientiarum Hungaricum, Budapest 1977, tomus XXIII, Nr. 1–2, S. 29–30, unter http://real-j.mtak. hu/588/1/ACTAHISTORICA_23.pdf. 6 Dr. Otto Roth und Josef Terdelyi waren seit 27.1.1914 die ersten Arbeitervertreter im Stadtrat von Temeswar. Vgl. Josef G a b r i e l : Fünfzigjährige Geschichte der Banater Arbeiterbewegung 1870–1920. Temesvar 1928, 63. 7 Ebenda, S. 78f. 8 Ebenda, S. 80. 9 Ebenda, S. 80ff.
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ihre Befehle erwarteten. Die Republik wurde ausgerufen, der Banater Volksrat (gebildet aus den Vertretern der Nationalräte und auch der Parteien, einschließlich der Sozialdemokraten) war deren führendes Gremium und dem Ungarischen Nationalrat aus Budapest untergeordnet. Trotzdem wurde der rumänische Sozialdemokrat Traian Novac zum Sekretär des Regierungskommissars Otto Roth ernannt, der militärische Kommissar/Beauftragte war Oberstleutnant Albert Bartha, während Koloman Müller mit Sicherheitsfragen beauftragt wurde10. Kurze Zeit darauf wurde der bisherige gewählte Volkskommissar Otto Roth zum ungarischen Regierungskommissar ernannt, während Albert Bartha zum ungarischen Verteidigungsminister aufstieg. Diese „Revolution“ war nach den Worten Josef Gabriels ausgebrochen, weil die führenden Männer des Banats vermeiden wollten, dass die Provinz Kriegsschauplatz werde und das Schicksal Galiziens teile. Oberstes Ziel war, eine Aufteilung des Banats zu vermeiden sowie die öffentliche Ordnung und die Versorgung der Bevölkerung zu sichern11. Sowohl das Königreich Serbien als auch das Königreich Rumänien beanspruchten das Banat jedoch in seiner Ganzheit, denn nur als solche konnte diese, im Vergleich mit den beiden erwähnten Königreichen wirtschaftlich entwickelte Provinz den wirtschaftlichen Mehrwert für die beiden Agrarstaaten sichern. Ungarn war selbstverständlich ebenso daran interessiert, die Provinz zu behalten, für deren Wiedergewinnung sich die ungarischen Politiker seit 1778 bemüht hatten. Angesichts der allgemeinen Unzufriedenheit und Unsicherheit und der verzweifelten Bemühungen der ungarischen Behörden, den ungarischen Staat getrennt vom Schicksal der Doppelmonarchie zu behandeln, fanden im Banat soziale und nationale Bewegungen statt, die wegen der Rückkehr der Soldaten von der Front immer gefährlicher wurden. Die entlassenen Soldaten waren geschwächt, von revolutionären Ideen beeinflusst und von der Armut ihrer Familien sowie über zahlreiche Schikanen der Behörden empört. Dies führte dazu, dass das damalige Ungarn sowohl von außen wie auch von innen gefährdet war und das Banat den beiden Gefahren folglich standhalten musste. Nachdem Ungarn das Waffenstillstandsabkommen mit der Entente am 13. November 1918 abgeschlossen hatte, marschierten die serbischen Truppen am 15. November ins Banat ein (in Temeswar am 17. November), das sie im Namen der Entente in Besitz nahmen mit der Absicht, ein Fait accompli zu erreichen, um auf diese Art den Rumänen zuvorzukommen und sich den Besitz des Banats zu sichern. 10 11
Ebenda, S. 85. Ebenda, S. 83.
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Formell blieb die Provinz vorläufig aber noch unter der Oberhoheit der ungarischen Regierung. Parallel zu dieser Aktion drangen die Truppen des Rumänischen Königreichs in Siebenbürgen ein. Um eine Begegnung der rumänischen und serbischen Truppen zu verhindern, hat die Entente, beginnend mit dem Monat Dezember 1918, französische Truppen ins Banat geschickt.12 Es waren Divisionen der Armee von Franchet d‘Esperey13 (anfänglich die Kolonialdivision von General Gambetta, später die 11. Kolonialdivision unter dem Kommando von General Leo Farret, der eine ungarnfreundliche Haltung zur Schau trug, der später durch General Charles de Tournadre ersetzt wurde), die eine Schutzzone zwischen den serbischen und den rumänischen Truppen, die sich vom Osten her näherten, herstellen sollten. Die serbischen Truppen beabsichtigten, das ganze Banat in Besitz zu nehmen und Rumänien, Ungarn und die Entente vor fertige Tatsachen zu stellen14. Seit Jahrzehnten wurden die Kinder in den serbischen Schulen belehrt, dass das Banat „dem serbischen nationalen Territorium angehört“.15 Seit Beginn des Krieges hatte sich Serbien zum Ziel gesetzt, einen zentralisierten südslawischen Staat, gebildet aus Serben, Kroaten und Slowenen, unter Einschluss jener Slawen aus der Srem, der Bácska, dem Banat und aus Dalmatien zu bilden16. Es war ein „imperialer“ Plan, den Serbien auf akademischer, diplomatischer und militärischer Ebene durchsetzen wollte, der auf die Schwäche und dann auf den Zusammenbruch der Habsburgermonarchie reagierte und auch die Rivalität mit dem „befreundeten“ Land Rumänien in Kauf nahm. Das nationale Programm der serbischen Regierung fand sich in der „Erklärung von Niš“ wieder, die der serbische Premierminister Nicola Pašić am 7. Dezember 1914 der Serbischen Nationalversammlung vorgestellt hatte. Von der Nationalversammlung angenommen, sollte das Dokument bis zum 18. November / 1. Dezember 1918 das Grundsatzdokument für die serbische „Befreiungs- und Vereinigungsbewe12 Dazu Gheorghe I a n c u , Gheorghe C i p ă i a n u : Prezența militară franceză și administrația Banatului (noiembrie 1918 / august 1919). In: Sfârșit și început de epocă. Zalău, Satu Mare 1998. 13 Mariana H a u s l e i t n e r : Die Donauschwaben 1868–1948. Ihre Rolle im rumänischen und serbischen Banat. Quellen und Forschungen. Bd. 2. Stuttgart 2014 (Schriftenreihe des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde 18), S. 68. 14 Vgl. Vasile C i o b a n u : Germanii din România în anii 1918/1919. Sibiu/Hermannstadt 2013, S. 151. 15 Miodrag C i u r u ș c h i n : Relațiile României cu Serbia în perioada 1903–1919. Diss. Timișoara 2009, S. 490. 16 Ebenda, S. 491.
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gung“ bleiben17, was auch immer darunter zu verstehen ist. Jedenfalls begründete dieser Plan die konkreten von Serbien unternommenen Schritte im Herbst des Jahres 1918 und in der ersten Hälfte des Jahres 191918. Der Einmarsch der serbischen Truppen in Telestar19 (am 7. November haben die deutschen Truppen Temeswar verlassen und sich bis zur Monatsmitte aus dem Banat zurückgezogen20) hat der Banater Republik de facto ein Ende gesetzt. Formell existierte diese allerdings noch bis Februar 1919, als die serbischen Militärbehörden den Banater Volksrat und den Arbeiterrat auflösten, die während dieser Zeit die Zivilverwaltung des Banats (eigentlich nur seiner Städte) gesichert hatten21. Ebenso wurden die Nationalen Räte aufgelöst. Die Arbeiterschaft reagierte jedoch auf diese Maßnahmen des serbischen Militärs und streikte zwischen dem 21. und 23. Februar, weshalb Otto Roth den Schutz der französischen Militärbehörden beanspruchen musste22. Die Demarkationslinie wurde weiter nach Westen verlegt, was dazu führte, dass sich auch die serbischen Truppen weiter nach Westen bewegen mussten. Ihre Stellungen wurden von den Franzosen einge17 Ebenda, S. 492; vgl. Wolfgang K e s s l e r : Jugoslawien – der erste Versuch. In: Der Balkan – eine europäische Krisenregion in Geschichte und Gegenwart. Hg. Jürgen E l v e r t . Stuttgart 1997, S. 98, unter https://books.google.ro/books?id=pCD2BwxHqPw C&pg=PA98&lpg=PA98&dq=Deklaration+von+Ni%C5%A1+vom+7.+Dezember+1914& source=bl&ots=fo1mnChKLS&sig=1hFBMmfxHsMUINSGJDxiBhY7_ao&hl=en&sa=X &ei=qhkoVYHeEIPwaqb5gOAF&redir_esc=y#v=onepage&q=Deklaration%20von%20 Ni%C5%A1%20vom%207.%20Dezember%201914&f=false. 18 Ebenda: Der Plan sah die Festlegung der östlichen Grenze Serbiens auf den Karpaten vor (östlich des Temeschflusses), womit man die Hauptstadt Belgrad gesichert haben wollte. Das Banat stufte man als Kolonisationsland für die landlosen Bauern aus Dalmatien, Bosnien-Hercegovina und Montenegro ein – ein offensichtlicher Beweis, dass das hegemoniale Denken sich auch auf kleinen Herrschaftsräumen ausgedehnt hatte, dass die aus der Herrschaft der Habsburger „befreiten“ Völker und Länder sich derselben Prinzipien, gegen die sie aufgetreten waren, bedienten. Die demographischen Realitäten spielten diesbezüglich keine große Rolle. In diesem Fall haben wir es mit einem Musterbeispiel für die von Eric J. H o b s b a w m (Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1789. Frankfurt/M. 2004) vertretene Ansicht zu tun, dass nur jene das „Recht“ hätten, sich als Nationen zu erfinden, die stark genug seien, sich machtpolitisch zu behaupten, die „die erwiesene Fähigkeit zur Eroberung“ haben, mit dem kleinen Unterschied, dass es sich in diesem Falle nicht um Großmächte handle, die diese Fähigkeit unter Beweis stellen mussten. Nach Dieter L a n g e w i e s c h e : Reich, Nation, Föderation. Deutschland und Europa. München 2008, S. 20. 19 William M a r i n , Ion M u n t e a n u , Gheorghe R a d u l o v i c i : Unirea Banatului cu România. Muzeul Banatului. Timișoara 1968, S. 177–193. 20 H a u s l e i t n e r , S. 67. 21 Ebenda, S. 72. 22 C i o b a n u , S. 149.
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nommen, die die Nationalräte sowie die Arbeiterräte entwaffneten23. Unterdessen hatten aber mehr als 100.000 Rumänen in Karlsburg (Alba Iulia, Gyulafehérvár) die Vereinigung Siebenbürgens, des Banats, der ungarischen Gebiete und der Marmarosch mit Rumänien ausgerufen (1. Dezember 1918), was auch die Serben in Neusatz (Novi Sad, Újvidék) machten (17. November 1918), indem sie (757 Delegierte) die Vereinigung des Banats mit Serbien proklamierten. Analoges versuchten am 22. Dezember auch die Ungarn (40.000 Versammelte) in Klausenburg (Cluj, Kolozsvár). Die Taktik der serbischen Regierung war, möglichst viel Banater Territorium zu besetzen, um sich bei der Friedenskonferenz behaupten zu können. Die serbischen Truppen im Westen und Südwesten des Banats haben sich allerdings schwere Missbräuche gegenüber der Zivilbevölkerung erlaubt, sich an ihrem Vermögen bedient und gegen die Freiheiten und Bürgerrechte der Banater Bevölkerung verstoßen24. Während des Streiks der Eisenbahner vom 20. bis 30. Juni 1919 gelang es den Eisenbahnern zwar, ihre bis dahin nicht ausbezahlten Löhne zu bekommen, doch wurde der Werkstattarbeiter Michael Varga von einem serbischen Soldaten erschossen25. Nachdem sich die Temeswarer Sozialdemokratie am 23. Juni 1919 für die Einheit des Banats und für die Volksabstimmung ausgesprochen hatte, hielt der Temeswarer Arbeiterrat am 25. Juli seine letzte Sitzung ab26. Einer der Führer der Temeswarer Arbeiterschaft, Koloman Müller27, beschreibt in seinen „Erinnerungen“28 die Wahrnehmung dieser Okkupation durch die Stadtbevölkerung und die Reaktionen der Arbeiterschaft auf die Verhaltensweise und Zielsetzungen der serbischen Besatzungstruppen29. Müller bemerkt, dass die Nachricht vom 23
Ebenda. Nicolae I l i e ș i u : Monografia istorică a Banatului. București 2011, S. 15ff. 25 G a b r i e l , S. 92. 26 Ebenda. 27 Siehe Anm. 1. 28 http://www.hog-tm.de/#!thb-2004/c1brb: 22.2.2015. Sein Sohn Koloman Müller jr. erwähnt diese Memoiren in seinem Buch „Die andere Seite“. Temeswar 2000; ebenso erwähnt sie Carl G ö l l n e r (wie Anm. 2), S. 29. 29 Koloman M ü l l e r (weiter Müller) schreibt diese Erinnerungen fast ein halbes Jahrhundert später. Die neun Seiten des Typoskripts, die mir von Prof. Nicolae Bocșan zur Verfügung gestellt wurden, sind eine Übersetzung, die Koloman Müller jr. Vasile Dudaș aus Temeswar überlassen hat. Sie ist nicht solide redigiert, die Daten sind manchmal unpräzis und in der rumänischen Übersetzung, die mir zur Verfügung stand, macht der Übersetzer (Koloman Müller jr.) die Bemerkung: „La sfârșitul articolului a mai făcut următoarea mențiune: Cu aceste probleme mă voi ocupa într-un capitol separat …“ (Am Ende des Beitrages hat er noch folgende Bemerkung gemacht: Mit diesen Fragen werde ich mich in einem eigenständigen Kapitel beschäftigen…“ (Übers. R.G.) 24
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Einmarsch der serbischen Truppen die Stadtbevölkerung beunruhigt habe, da sich das Gerücht verbreitet habe, das serbische Heer wäre brutal und würde sich wegen des Angriffs auf Serbien (1914) rächen wollen. Koloman Müller belegt jedoch, dass der Einzug der serbischen Truppen in Temeswar ohne Zwischenfälle stattgefunden hat und die serbischen Truppen sich auch sonst „loyal“ benommen hätten30. Trotzdem bestätigte er besonders rumänische Berichte, Zeitzeugen und andere Materialien, die von „Aggressionen gegen die Bevölkerung“ sprechen: Einbrüche, Belästigungen und sogar Morde, die laut Müller aber selten geschahen. Die Beschwerden gegen diese Übergriffe wurden gemäß den Zeitzeugen von den serbischen Militärbehörden schnell entgegengenommen und untersucht31. Müller, der zu dieser Zeit (Ende 1918) Sekretär des Banater Gewerkschaftsrates war, erwähnt, dass die serbische Kommandantur „das Recht der Arbeiterorgane“ anerkannt habe, sich in dem Gebäude des ehemaligen Militärgerichtes von Temeswar einzurichten und über dieses Gebäude zu verfügen, um einem Konflikt auszuweichen. Laut Müller seien die „Arbeiterorgane“ die einzigen gewesen, die in Temeswar zu jener Zeit Macht ausübten32. Im Februar 1919 lösten die serbischen Behörden den Banater Volksrat auf, der von Dr. Otto Roth und Dr. Koloman Jakobi geführt worden war und als Organ der ungarischen Regierung seit der Anwesenheit der serbischen Truppen nur mehr ein Schattendasein geführt hatte33. Während auf der Ebene der großen Politik die Pariser Friedenskonferenz stattfand, bemühten sich die Regierungen Ungarns, Serbiens und Rumäniens, den Besitz des ganzen Banats zu sichern. Interessant sind die Ausführungen von Koloman Müller zu diesem Thema, der über einen Versuch der serbischen Regierung berichtet, sich die Unterstützung der politischen Parteien aus dem Banat im Interesse der Annexion an Serbien zu sichern. Bei diesem von einem serbischen Staatssekretär einberufenen Treffen mit den Vertretern der Parteien hätten die Sozialdemokraten eine klassenbewusste Haltung eingenommen, indem diese, weil sie sowohl Serbien als auch Rumänien als „Staaten der Bourgeoise“ betrachteten, den Ansprüchen der beiden Staaten eine neutrale Haltung vorschrieben34. Die Folge davon war, dass einige Tage später der Kommandant der serbischen Truppen Müller zu sich beorderte, wo er ihm noch einmal und eingehend den 30 31 32 33 34
M ü l l e r , S. 407 (zitiert nach: Marele război în memoria bănățeană). Ebenda, S. 407. Ebenda, S. 408. Ebenda. Vgl. C i o b a n u , S. 148.
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Wunsch der serbischen Regierung erklärte, das Banat zu annektieren. Der von Müller wiedergegebene Inhalt des Gesprächs geht von der Frage des serbischen Kommandanten35 aus, ob Beschwerden existieren, und von der Behauptung Müllers, dass die Sozialdemokraten den Angriff Österreich-Ungarns auf Serbien als schändlich und diebisch betrachtet hätten, dass diese den Kampf der Serben mit viel Sympathie verfolgt hätten – eine Sympathie, die nun durch das Verhalten der serbischen Truppen umso größer geworden sein müsse. Während des Gesprächs hatte der serbische Staatssekretär die demokratische Auffassung des serbischen Volkes und der serbischen Institutionen erklärt. Ebenso wurde es Müller klar, warum die serbische Seite auf dem Erwerb des Banats bestand: Für das Agrarland Serbien war die Temeswarer Industrie und die Montanindustrie im Banater Bergland mit deren Industriehochburgen Reschitza und Anina von großem Interesse. Der serbische Unterhändler bot dem Arbeiterführer an, die serbische Regierung überlege für den Fall, dass die Sozialisten die Annexion des Banats durch Serbien unterstützten, im Falle einer Volksbefragung ein Ministerium für Minderheiten einzurichten, in dem ein Vertreter der Arbeiterschaft einer der Staatssekretäre werden könne. Die Antwort Müllers lief darauf hinaus, dem hohen serbischen Vertreter sein Festhalten am Sozialismus klarzumachen, aber auch dessen Vorstellungen über die ethnische Zusammensetzung des Banats zu korrigieren. Während der serbische Vertreter davon ausging, dass die Serben mit allen Slawen 30 Prozent der Banater Bevölkerung ausmachten, zeigte Müller, dass die Serben und Ungarn nur je 10 Prozent darstellten, die Deutschen 30 Prozent bzw. die Rumänen 50 Prozent, was im Falle einer Volksbefragung in den von Deutschen und Rumänen bewohnten Gebieten zu einem klaren Sieg dieser Volksgruppen führen würde36. Müller versprach, diese Frage in der gemeinsamen Sitzung der Räte zu besprechen. Dieser hat dann die Entscheidung getroffen, keine der beiden Positionen zu vertreten, jedoch den Kampf „gegen den bürgerlichen Staat und für die sozialistische Gesellschaft zu führen“37. Wenn man bedenkt, dass der Text erst gegen Ende der 1950er Jahre geschrieben wurde, ist gut möglich, dass er so verfasst wurde, wie ihn die damaligen kommunistischen Behörden aus Rumänien gerne gesehen haben. Müller bemerkte in seinem Text noch, dass die beiden Banater Serben, Stanatiev Mladin und G. Perianovici, die Mitglieder der Leitung der Sozialdemokraten waren, nicht zugunsten 35 36 37
General Gruić. M ü l l e r , S. 410. Ebenda.
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Serbiens gestimmt hatten, obwohl sie sich wünschten, dass das Banat zu Serbien komme38. Müller musste diese Antwort der serbischen Seite überbringen. Den Versuch der rumänischen Seite durch Rechtsanwalt Dr. Crâțmaru den Inhalt der Gespräche mit den Serben zu erfahren, hat Müller zurückgewiesen. Nachdem die Pariser Friedenskonferenz ohne Volksbefragung entschieden hatte, das zwei Drittel des Banats mit Temeswar, Reschitz und Steierdorf (Anina, Stájerlakanina) Rumänien zugesprochen werden, merkte Müller an, dass der serbische Heeresstab „unruhig und unfreundlich“ geworden sei. Die serbischen Soldaten hätten alle Posteinrichtungen abmontiert, d. h. die öffentlichen und privaten Telefonapparate. Den Versuch, die Ausstattung der Büros des Kriegsgerichtes abzutragen (danach als Arbeiterheime genutzt), wurde von den Arbeitern, die sich in größerer Zahl versammelt hatten, verhindert; die serbischen Offiziere und Soldaten mussten sich zurückziehen39. Nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Trianon erweiterten sich die Forderungen der serbischen Kommandantur, die bis zu jenem Zeitpunkt nur Lebensmittel und Kleidung beanspruchten (nur Zigaretten wurden im Übermaß konfisziert) auch auf Stoffe, Kinder- und Frauenschuhe, Seide, Strümpfe und vieles andere, d. h. Waren, die mit militärischen Bedürfnissen nichts gemeinsam hatten. Die Tabakfabrik wurde ausgeplündert, und Kaufläden wurden komplett geleert. Später wurden dann von den serbischen Truppen auch Pkw, Pferde und Fuhrwerke beschlagnahmt, mit denen die erbeuteten Waren abtransportiert wurden. Einbruch und Diebstahl verunsicherten nun das Leben der Stadtbürger. Koloman Müller bekannte aber, dass dies nicht nur den serbischen Soldaten zugeschrieben werden könne, sondern die Stadt überhaupt ein beliebtes Reiseziel für Diebe und Einbrecher geworden sei, die aus anderen Ortschaften kamen und „immer frecher“ wären40. Müller berichtet auch, dass es unter diesen Umständen zur Zusammenarbeit zwischen dem „Patronat“ (den Besitzern der Betriebe) und der Arbeiterschaft gekommen sei. Die Fabrikbesitzer machten die Arbeiter darauf aufmerksam, dass, wenn weiterhin Waren und Rohstoffe ohne Bezahlung aus den Betrieben entfernt würden, diese außerstande seien, die Löhne zu bezahlen. Dies veranlasste die Arbeiterschaft, die „Verteidigung“ der Betriebe zu organisieren. Müller beschreibt den Vorgang sehr plastisch: „Anfangs nur Streitigkeiten mit den Plünderern, danach Prügeleien. Die serbischen Offiziere aber 38 39 40
Ebenda. Ebenda, S. 411. Ebenda.
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begannen sich die Maschinen aus den Fabriken aufzuzeichnen und auch die ersten wegzuschleppen, so z. B. aus den Werkstätten der Eisenbahngesellschaft hatten sie die Drehbank und Werkzeugmaschinen auf Eisenbahnwaggons geladen. Die Arbeiter haben sich Rechenschaft gegeben, dass ein derartiger Vorgang ihnen die Existenzgrundlagen nehmen wird.“ Die Folge war der Entschluss der Leitung der Sozialdemokraten und der Gewerkschaft der Handwerker, bei der serbischen Kommandantur einzugreifen. Müller berichtet auch, dass der serbische Kommandant die Abgeordneten der Arbeiter kühl empfangen habe. Nachdem sich diese über die Übergriffe des serbischen Militärs beklagt hatten, habe er geantwortet, dass die Bevölkerung Temeswars gegenüber den Serben nicht mit derselben Korrektheit (Müller sprach von „Loyalität“) geantwortet habe, mit der diese die Stadtbevölkerung behandelt haben. Er wollte sich auch nicht in eine Diskussion über die Weltauffassung der Sozialisten und über das Thema der staatlichen Zugehörigkeit des Banats einlassen. Er habe zu tun, was er für das serbische Heer und das serbische Volk für gut halte; da würde er keinerlei Widerspruch (Intervention) dulden. Zur Klage der Arbeiter über die Requisition der Fabrikmaschinen soll er geantwortet haben, dass das serbische Volk diese Maschinen brauche. Er drohte allen jenen mit Gewalt, die sich den Aktionen des serbischen Heeres widersetzten41. Die Arbeiter ließen nicht nach und begaben sich am darauffolgenden Tag nach Hatzfeld (Jimbolia, Zsombolya, Žombolj) und Großkikinda (Kikinda/Vojvodina, Nagykikinda, Chichinda Mare) zum Sitz „des Kommandos der alliierten Kommission“.42 Müller hielt fest, dass die Arbeitervertreter mit viel Wärme vom französischen Kommandanten empfangen worden seien, ihnen jedoch empfohlen wurde, sich beim serbischen Kommandanten für das Verhalten des österreichisch-ungarischen Heeres in Serbien zu „entschuldigen“. Die Vertreter der Arbeiter unterstrichen jedoch, dass die Fabrikmaschinen für ihre Existenz entscheidend seien, worauf man von französischer Seite versprach, bei den Serben zu intervenieren, ohne sich jedoch dazu zu verpflichten43. Der Arbeiterrat beschloss jedoch, beim serbischen Kommandanten nicht mehr zu intervenieren. Müller sprach sich für einen General41
Ebenda, S. 412. Wahrscheinlich bezieht sich Koloman Müller auf die gemischte französischrumänisch-serbische Kommission unter der Leitung von Gen. Tournadre, die die Demarkationslinie im Banat bis zur definitiven Entscheidung der Pariser Friedenskonferenz festsetzen sollte. Georg W i l d m a n n : Donauschwäbische Geschichte München III, 2010, S. 244. 43 M ü l l e r , S. 412. 42
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streik aus, der von den Arbeitergremien anfangs aber nicht angenommen wurde, doch widersetzten sich die Temeswarer Arbeiter immer entschlossener den vermehrten Übergriffen und Requisitionen des serbischen Heeres, das laut Müller alle Konserven der Stadt mitgenommen habe. Müller, der damals krank im Bett lag, habe dann die Arbeiterschaft davon überzeugt, im Falle eines Generalstreiks ihre Fabriken besser als bloß einzelne Belegschaften verteidigen zu können. Er und zwei andere Arbeiterführer, Traian Novac und Ţiclovan, hätten sogar überlegt, Sabotageaktionen durchzuführen und die Eisenbahnbrücke in Elisabethstadt (Stadtteil von Temeswar) im Notfall zu sprengen44. Mit dem Verschlechtern der Lage der Arbeiterschaft radikalisierte sich auch die Führung der Arbeiter und entschied sich auf Vorschlag Müllers, Mayers und Geistlingers für den Generalstreik. Die Entscheidung sei von den Vertretern der Arbeiter, die im Saal des Arbeiterheimes versammelt waren, mit „Enthusiasmus“ angenommen worden. Die Arbeiterschaft organisierte sich daraufhin, um die Fabrikanlagen, aber auch die umliegenden Straßen kontrollieren und verteidigen zu können. Ein besonderes Augenmerk wurde den Trinkern wie auch den Kneipenbesitzern gewidmet, die Alkohol ausschenkten. Gegenmaßnahmen waren die körperliche Züchtigung sowohl der Trinker wie auch deren Versorger (dies muss man im größeren Kontext des Kampfes gegen den Alkoholismus unter der Arbeiterschaft sehen wie auch wegen der Furcht, unkontrolliertes Trinken könnte die serbischen Besatzer reizen und zu unangenehmen Situationen führen). Am 21. Juli 191945 versammelte sich die Temeswarer Arbeiterschaft im Stadtzentrum auf dem Hauptplatz vor der Oper, dem Lloyd-Boulevard und in der ganzen Innenstadt. In Stellung gingen auch die serbischen Truppen, die Maschinengewehre vor dem Kommandogebäude, an den Brücken und an den Plätzen in den Vierteln Elisabethstadt, Josefstadt und Fabrikstadt sowie in den Bahnhöfen und in der Nähe der großen Fabriken aufgestellt hatten46. Der Generalstreik verhinderte einerseits weitere Plünderungen durch das serbische Militär, andererseits zeigte er, dass sich die Arbeiterschaft bewaffnet hatte, dass diese aktiv in das Tagesgeschehen eingreifen konnte und trotz einiger Übergriffe im Dienste der Sache (Zurechtweisung von Dieben, Trinkern und Kneipenbesitzern, manchmal auch nur, weil diese sich „nicht gefügt“47 haben), eine am Rechtsstaat orientierte Arbeiterschaft 44 45 46 47
Ebenda, S. 413. William M a r i n : Unirea din 1918 și poziția șvabilor bănățeni. Timișoara 1978, S. 92. M ü l l e r , S. 414f. Ebenda, S. 415.
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bildete, d. h. an die Werte mitteleuropäischer Zivilisation gebunden war. In der darauffolgenden Nacht, hielt Müller fest, wurde zum ersten Mal kein Einbruch begangen. Am nächsten Tag wurden die Arbeiterführer zur Kommandantur gerufen. Nachdem der serbische Kommandant seine bescheidene soziale Herkunft erwähnt hatte und seinem Hass gegen die Kapitalisten Ausdruck verliehen hatte, versprach er, jede Requisition, die keinen militärischen Zweck verfolge, zu stoppen. Er verlangte von den Arbeiterführern, die Arbeit wiederaufzunehmen und die Versorgung der serbischen Truppen mit Lebensmitteln, Stoffen und Schuhen durch den Stadtrat sicherzustellen. Misstrauisch, ob der serbische Kommandant sein Versprechen halten werde, schlug Koloman Müller vor, den Generalstreik bis zum Abzug des serbischen Heeres aus Temeswar weiterzuführen. Der Arbeiterrat entschied aber, den Generalstreik zu beenden und die Arbeit wiederaufzunehmen. Von den Fabrikbesitzern und Meistern wurde verlangt, den Arbeitern für die zwei Tage Streik den Lohn auszuzahlen. Bis das serbische Heer Temeswar verließ, fanden allerdings keine Plünderungen mehr statt außer jener in der Tabakfabrik; hier, meinte Müller, wollten „wir uns nicht einmischen“48. Interessant ist, wie der Arbeiterführer, der unterdessen von „Vertrauensmännern“ gegen eventuelle Repressalien des serbischen Kommandanten unter Schutz gestellt wurde, diese Ereignisse deutete: Er vertrat die Meinung: „Der Streik gegen das serbische Heer war ein ungewöhnliches Ereignis der Arbeiterbewegung; die Selbstverteidigung der Arbeiterschaft war an die Verteidigung des Vermögens der Kapitalisten gebunden.“49 Dies ist eine für die Banater Arbeiterschaft charakteristische Stellung, die Koloman Müller beschreibt. Es handelte sich nicht um Kommunismus nach sowjetischem Modell, das man nicht anstrebte. Obwohl die ungarische Räterepublik noch am 25. Juni 1919 die Diktatur des Proletariats ausrief und bis zum 16. August 1919 überlebte, hatten die Banater Arbeiter mit dieser wenig zu tun. Abgesehen von Solidaritätsbekundungen mit der sowjetisch-russischen und der ungarischen Revolution schlug die Banater Arbeiterschaft eine „bürgerliche Schiene“ ein – sowohl ideologisch als auch praktisch kämpferisch. Mit dem Rückzug des serbischen Heeres (28. Juli 1919) und dem Einzug der rumänischen Truppen (3. August 1919)50 musste die Lage der
48 49 50
Ebenda, S. 417. Ebenda, S. 418. M a r i n , M u n t e a n u , R a d u l o v i c i , S. 193–199.
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multiethnischen Arbeiterschaft des Banats51 neu positioniert werden. Den Gerüchten über den Umgang der Polizei und über die Prügelstrafen schenkte die Banater Arbeiterschaft keinen Glauben. Die Wahrheit sollte sich jedoch bald herausstellen, als der neue Polizeipräfekt, Hauptmann Stoica, nach den Aussagen von Koloman Müller diejenigen, die die rumänischen Truppen nicht mit Hurra-Rufen empfingen, sogar mit Knüppeln schlagen ließ. Tags darauf wurden die Arbeiterführer Müller, Geistlinger, Bebrits, Gabriel und Stanatiev (interessant die ethnische Zusammensetzung der Arbeiterführung) zu Hauptmann Stoica zitiert, der ihnen in gutem Ungarisch klar machte, dass von nun an die Aktivitäten der „großen Gescheiten“ der Arbeiterbewegung nicht gebraucht und gewünscht seien und dass die Verfassung des Königreichs Rumänien im Banat gültig sei. Er verbot ihnen Versammlungen, Streiks, Demonstrationen, die die „Ordnung“ störten. Als „Heilmittel“ bot er eine bekannte Methode an (25 Stockschläge) und, wenn auch das nicht helfen sollte, „werden wir Euch so behandeln wie wir am 13. Dezember den Bukarester Pöbel behandelt haben“52. Die Arbeiterführer, die an Gesetzgebung und Umgangsformen gewohnt waren, die sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie entwickelt hatten, ließen sich dies nicht gefallen, und Koloman Müller protestierte. Er betonte, dass die Arbeiterführer 15.000 Arbeiter in Temeswar und 30.000 im ganzen Banat verträten, dass sie gewählt seien, und dass die Arbeiterschaft nur dann von „dem schönsten Recht des Arbeiters“ Gebrauch machen werde, wenn es dringend notwendig sei, denn der Streik schade ja vor allem dem Arbeiter, der während des Streiks nicht bezahlt werde. Danach machte er den rumänischen Hauptmann darauf aufmerksam, von der Prügelstrafe nicht Gebrauch zu machen. Müller bekundete seine Klassensolidarität mit den Arbeitern, die am 13. Dezember 1918 in Bukarest während einer Großdemonstration von Polizei und Heer angegriffen worden waren, worauf mehrere Personen starben. Für Koloman Müller waren diese „unsere Helden“. Der Hauptmann verwies sie des Raumes, wurde aber bald darauf ersetzt, und auch die Prügelstrafen wurden nicht mehr verteilt. Während der schwierigen Zeit der serbischen Besetzung gelang es der Arbeiterführung, mit dem Patronat der Stadt den ersten kollektiven Arbeitervertrag zu un51 Obwohl viele Autoren darauf hinweisen, dass die Arbeiterschaft besonders aus „Fremden“, also aus Deutschen und Ungarn bestanden hat, stimmt das nicht insgesamt. Auf die Rolle von Novac wurde schon hingewiesen. Die Aussagen der Arbeiterführer gehen auf die Bevorzugung sozialer und politischer Solidarität hinaus, ohne ethnische Aspekte zu verneinen oder zu unterdrücken. 52 M ü l l e r , S. 419.
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terschreiben, der vorsah, dass in ganz Temeswar der 8-Stunden-Tag eingeführt und die Kinderarbeit unter 16 Jahren nicht erlaubt werde. Müller schrieb stolz in seinem Bericht, dass dies die zweite Stadt des ehemaligen Königreichs Ungarn sei, in der der 8-Stunden-Tag eingeführt wurde; die erste Stadt war Agram (Zagreb)53. Der Text von Koloman Müller gibt Aufschluss über eine Periode, die für das Banat entscheidend war, weil hieraus jenseits der Parolen der früheren kommunistischen Geschichtsschreibung ein Bild über eine Arbeiterschaft evident wird, die eine ernsthafte Rolle spielen konnte und wollte, die hoch qualifiziert und gebildet war und ihre Chancen mit den damaligen unterschiedlichen Inhabern der Macht auf Augenhöhe auszutragen vermochte. In dem neuen Großrumänien54 sollte ihr eine doppelte Rolle vorgeschrieben sein: ein Modell mitteleuropäischer Sozialdemokratie zu vertreten und andererseits eine Vorreiterolle im Prozess der Industrialisierung des Landes zu spielen.55
53
Ebenda, S. 420. Ioan-Aurel P o p , Thomas N ä g l e r , András M a g y a r i : Istoria Transilvaniei III. Cluj-Napoca 2008, S. 606–647; Kurze Geschichte Siebenbürgens. Hg. Béla K ö p e c z i . Budapest 1990, S. 656–659. 55 Hans Heinrich R i e s e r : Das rumänische Banat – eine multikulturelle Region im Umbruch. Stuttgart 2001, S. 86–93. 54
„M A N I U , S C H L ÄF S T D U ?“ Ethnoregionalistische Diskurse nach dem Ersten Weltkrieg an einem Fallbeispiel Florian K ü h r e r - W i e l a c h
Einleitung „Sechs Mal hat der unsterbliche Şincai auf dem Freiheitsfeld bei Blasendorf geredet und dabei die unvergesslichen Worte gesprochen, in denen er auf die Vereinigung Siebenbürgens mit Ungarn einging: ‚die Ungarn haben uns bis jetzt ohne Sattel geritten und jetzt wollen sie uns auch den Sattel anlegen‘; und die Walachen sahen, dass diese Vereinigung dem Untergang Siebenbürgens gleichkam. Wenn einst Şincai wiedererwachte und sähe, dass uns unsere Brüder aus dem Altreich nun den Sattel und das Joch umgelegt haben, und ihnen nicht einmal das genügt – man würde jetzt meinen, dass sie uns die Kette durch die Nase gezogen haben, um uns damit wie einen Bären herumzuführen. Was würde der Visionär dazu sagen? Blitz und Donner würde er schicken, seine Stimme wie eine Fanfare ertönen: Hinaus mit den Hunden aus meinem Siebenbürgen, hinfort aus meinen Bergen. Und er würde die Motzen aus Abrud versammeln, und die Grenzer aus Nassod, und es würde kein Kind der Bulgăroi1 und der Grecotei2 aus dem Altreich zurückbleiben in unserem heiligen Siebenbürgen. Maniu, schläfst du? Du bist Blut von unserem Blut, du wurdest an derselben Brust genährt, du hast dieselbe Luft geatmet wie wir. Was machst du, wie lange warten wir noch?“3
Diesen dramatisch formulierten Aufruf richtete ein anonymer Autor im Jahr 1922 in der Zeitung „Ardealul“ („Siebenbürgen“) an den wichtigsten politischen Führer der Siebenbürger Rumänen, Iuliu Maniu4. Das Diskursfragment steht paradigmatisch für den zunehmend ins Stocken geratenden Eingliederungs- bzw. Unionsprozess der 1918 von Ungarn (Siebenbürgen, Banat und Partium), Österreich (Bukowina) 1
Pejorativer Ausdruck für Bulgare. Pejorativer Ausdruck für Grieche. 3 Ardealul Nr. 6 v. 21.5.1922: „Maniu tu dormi …“ [Maniu, du schläfst …]. Alle Übersetzungen vom Autor. 4 Iuliu Maniu, geb. 1873 im siebenbürgischen Bădăcin, gest. 1953 im Gefängnis von Marmaroschsiget (Sighetu Marmației, Máramarossziget), stammt aus einer griechischkatholischen Politikerfamilie. 2
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und Russland (Bessarabien) abgetrennten und an Rumänien angeschlossenen Gebiete. Die anfängliche Euphorie über die Entstehung „Großrumäniens“ (România Mare) nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich innerhalb weniger Jahren in Enttäuschung gewandelt. Waren auch nun auf Kosten der zerfallenen Donaumonarchie und des sich gerade zur Sowjetunion transformierenden russischen Reiches fast alle nationalen Ziele der Rumänen erreicht – die annähernde Deckungsgleichheit von Staatsgrenzen und imaginiertem nationalen „Lebensraum“ –, konnte der tatsächliche Integrationsprozess in diesem Moment erst beginnen: Auf institutioneller Ebene sollten wirtschaftliche, administrative, schulische, kirchliche, zivilgesellschaftliche Institutionen „altrumänischer“, transleithanischer, cisleithanischer und russischer Prägung zusammengeführt werden. Ebenso erwarteten die Architekten „Großrumäniens“ auch eine baldige mentale Vereinigung. Der am 1. Dezember 1918 in Karlsburg (Alba Iulia, Gyulafehérvár) im Rahmen einer Massenkundgebung der ungarländischen Rumänen verkündete Anschluss der von ihnen bewohnten Gebiete an das „Mutterland“ stellte sich als Pyrrhussieg heraus, als klar wurde, dass es einen harten Kampf um die politische Hegemonie in dieser neuen Gesellschaft geben werde. Die erst im Entstehen begriffene Gesellschaft zeigte sich im Jahr 1922, als „Ardealul“ erschien, bereits tief gespalten. Der Diskurs über die Frage, welcher der richtige Bauplan für diesen Staat sei, nährte sein Konfliktpotential aus den gegensätzlichen Standpunkten zum strukturprinzipiellen Aufbau (Zentralismus bzw. Dezentralismus/Föderalismus), zur Wirtschaftspolitik (Protektionswirtschaft bzw. Marktwirtschaft), zum Grad des staatlichen Eingreifens in die Arbeit kirchlicher oder profaner Nichtregierungsorganisationen und zur Rolle der orthodoxen Kirche. Territorium und Einwohnerzahl des Königreichs Rumänien hatten sich in der Folge des Ersten Weltkriegs verdoppelt: Das Staatsgebiet war von 138.000 km² auf 295.049 km² gewachsen, die Bevölkerung von 7,9 Mio. (1915) auf 14,7 Mio. (1919) gestiegen5. In diesem Staat lebten rund ein Drittel Nicht-Rumänen (im ethnischen Sinne: Ungarn, Deutsche, Juden, Roma, Ukrainer/Ruthenen, Armenier, Bulgaren, Serben u. a.) und circa ein Drittel Nicht-Orthodoxe (Protestanten, Calvinisten, Katholiken römisch-katholischer und griechisch-katholischer Richtung, Anhänger des jüdischen und des islamischen Glaubens, Altgläubige und Neoprotestanten). Rumänien hatte sich somit schlagartig vom relativ homogenen Nationalstaat zu einem multiethnischen und 5 Istoria Românilor [Geschichte der Rumänen]. Bd. VIII. România întregită [Das vollendete Rumänien] 1918–1940. Hg. Ioan S c u r t u . București 2003, S. 32.
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multikonfessionellen Nationalitätenstaat gewandelt. Der Großteil der Staatsbürger, die wegen der multiethnischen Realität vom dominierenden nationalstaatlichen Ideal des orthodoxen Rumänen abwichen, lebte in den „neurumänischen“ Gebieten. Die Politiker im sogenannten Altreich (auch: Altes Königreich, Vechiul Regat), dem bereits seit dem 19. Jahrhundert nationalstaatlich organisierten Teil „Großrumäniens“, konnten somit kaum Erfahrung im Umgang mit pluralistischen Gesellschaften aufweisen (nur die schrittweise Eingliederung der Dobrudscha seit 1878 diente als Experimentierfeld für einen ausgeprägten Binnenkolonialismus6). Problematisch war jedoch keineswegs nur das Verhältnis zwischen Rumänen und Nicht-Rumänen, sondern auch der deutlich spürbare Umstand, dass dieser Staat in zunehmendem Maße nach den Regeln des alten Zentrums Bukarest ausgerichtet wurde. Im Gegensatz dazu hatten die mit einem mitteleuropäisch geprägten Sendungsbewusstsein ausgestatteten Eliten Siebenbürgens und aller von Ostungarn abgetrennten Gebiete zumindest in den ersten Jahren nach 1918 eine Neuaushandlung der Spielregeln nach einem demokratischen, minderheitenfreundlichen und dezentral organisierten Gesellschaftsmodell erwartet, wie es in der Anschlussresolution von Karlsburg skizziert worden war. Treibende Kraft hinter der Versammlung von Karlsburg und in der Folge für die Verteidigung dieses „siebenbürgischen Weges“ war die seit dem 19. Jahrhundert für die Emanzipation der Rumänen in Österreich-Ungarn kämpfende Nationalpartei (Partidul Național7). Alexandru Vaida-Voievod8, neben Iuliu Maniu der bedeutendste Protagonist des siebenbürgisch-rumänischen Regionalismus, war Ende 1919 der erste Ministerpräsident „Großrumäniens“ geworden, dessen Ernennung aus dem Ergebnis demokratischer Wahlen resultierte. 6 Vgl. Constantin I o r d a c h i : Citizenship, Nation and State-Building. The Integration of Northern Dobrogea into Romania, 1878–1913. Pittsburgh 2002; d e r s . : Internal Colonialism. The Expansion of Romania’s Frontier in Northern Dobrogea. In: National Borders and Economic Disintegration in Modern East Central Europe. Hgg. Helga S c h u l t z , Uwe M ü l l e r . Berlin 2002, S. 77–105; Constantin I o r d a c h i : The California of the Romanians. The Integration of Northern Dobrogea into Romania. In: NationBuilding and Contested Identities. Hgg. Balázs T r e n c s é n y i u. a. Budapest, Iași 2001, S. 121–152. 7 Zur Geschichte der 1881 gegründeten Partidul Național Român din Ungaria și Transilvania (Rumänische National-Partei Ungarns und Siebenbürgens) siehe Din viața politică a României 1926–1947. Studiu critic privind istoria Partidului Național-Ţărănesc [Aus dem politischen Leben Rumäniens 1926–1947. Kritische Studie zur Geschichte der Nationalen Bauernpartei]. Hg. Ioan S c u r t u . București 1983. 8 Alexandru Vaida-Voievod (auch Vajda, Vaida-Voevod), geb. 1872 im siebenbürgischen Opreț (heute: Bobâlna), gest. 1950 in Hermannstadt (rum. Sibiu) unter Hausarrest, stammt aus einer griechisch-katholischen Großgrundbesitzerfamilie.
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Nachdem seine Regierung aber schon nach wenigen Monaten, im Frühjahr 1920, gescheitert war, ging die Partei – und im übertragenen Sinne große Teile Siebenbürgens – für einige Jahre in Opposition. Maniu, Vaida-Voievod und ihre Parteigenossen nutzten die multiple Krise, die der Transformationsprozess nach dem Ersten Weltkrieg ausgelöst hatte, für ihre Oppositionspolitik. Speziell die von den Regierungen der Nationalliberalen Partei (Partidul Național-Liberal) und der Volkspartei (Partidul Popular) vorangetriebene Zentralisierung diente als Angriffspunkt. Diese regionalistisch geprägten Diskursstrategien der „neurumänischen“ Elite sind bis heute nur wenig erforscht9, weswegen die Erschließung neuer Quellen, die sich der Untersuchung des Zusammenhangs zwischen staatlicher Dysfunktionalität und (nicht erfüllten) Gruppenbedürfnissen widmen, ein Desiderat der Siebenbürgen-Forschung ist. Die in diesem Beitrag kritisch vorgestellte Quelle soll auf exemplarische Weise den Transformationsprozess nach dem Ersten Weltkrieg mittels der Verschränkung diskursanalytischer und institutionengeschichtlicher Zugriffe aus einer regionalen Perspektive illustrieren.
Das politische Programm von „Ardealul“ Die 1922 nur in sieben Ausgaben erschienene Zeitung „Ardealul“ stellt ein besonders interessantes Beispiel für den publizistischen Kampf um die Führerschaft im „großrumänischen“ Staat dar10. Als Erscheinungsort der rumänischsprachigen Publikationen ist Wien ausgewiesen, als Chefredakteur wird der Name Petru Bolovan genannt. Das in „Ardealul“ vorgestellte politische Programm konzentrierte sich auf die Idee eines von Ungarn und Rumänien unabhängigen (!) Siebenbürgen, wie schon der Blick auf die neben dem Titel angeführten, von Ausgabe zu Ausgabe variierenden Mottos zeigt: „Wir wollen Siebenbürgen für uns“11, 9 Im November 2014 ist die vom Autor dieses Beitrages verfasste Studie „Siebenbürgen ohne Siebenbürger? Zentralstaatliche Integration und politischer Regionalismus nach dem Ersten Weltkrieg“ in München (Südosteuropäische Arbeiten 153) erschienen. Sie stellt die erste umfassende systematische Auseinandersetzung mit Prozess und Diskurs der Transformation nach 1918 aus einer siebenbürgisch-rumänischen Perspektive dar und bildet die Grundlage für die Analyse des hier behandelten Archivfundes, der in der Studie nicht behandelt wurde. 10 Die „Entdeckung“ dreier Nummern von „Ardealul“ in der Klausenburger Universitätsbibliothek ist Dr. Petru (Peter) Weber (Universität Szeged) zu verdanken: Peter W e b e r : Dizidenți ardeleni ai „Marii Uniri“? Atitudini politice în gazeta „Ardealul“ [Siebenbürgische Dissidenten der „Großen Vereinigung“? Politische Ansichten in der Zeitung „Ardealul“]. In: Conviețuirea – Együttélés. Revista românilor din Seghedin V (2001), Nr. 1–4, S. 88–94. 11 Ardealul Nr. 2 v. 23.4.1922: „Vrem Ardealul pentru noi“.
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„Wir wollen Gerechtigkeit“12, „Auch tot beugen wir uns nicht“13, „Siebenbürgen den Siebenbürgern“14 und „Raus mit den Schurken“15. „Ardealul“ definierte die ‚unrumänische‘ politische Kultur des Altreichs als eine Mischung aus „dekadentem Okzidentalismus und unmoralischem Byzantinismus“16, die die alleinige Ursache der Probleme in Siebenbürgen darstelle. Neben dem evidenten Feindbild der Liberalen Partei um den Politikerclan Brătianu wurde jedoch – für die regionalistische Literatur völlig untypisch – auch die Nationalpartei angegriffen und ihren führenden Persönlichkeiten durch ihr der Bukarester Politik angepasstes Verhalten Verrat an Siebenbürgen vorgeworfen („Maniu, du schläfst …“17). Auch konfessionellen Problemen räumte das Programm von „Ardealul“ viel Platz ein: Die siebenbürgische Orthodoxie habe unter dem ungarischen Regime mehr Autonomie genossen, als dies bei einer vollständigen Vereinigung mit der rumänischen orthodoxen Kirche der Fall sei18. Zudem warf sie der Priesterschaft aus dem Altreich moralische Dekadenz vor, die sich angeblich auch in den Trinkgewohnheiten der Geistlichen ausdrücke19. Die meist in polemischem und oft auch zynischem Ton gehaltenen Texte wurden von der Redaktion häufig mit antislawischen und antisemitischen Äußerungen verbrämt, die darauf hinausliefen, die Kultur des Altreichs als vom schlechten Einfluss dieser „fremden“ Kulturen verdorben darzustellen. Dies solle zu der Erkenntnis führen, dass die Unabhängigkeit Siebenbürgens die einzige Lösung für die Misere sei. In einer Antwort auf die publizistischen Angriffe mehrerer rumänischer Zeitungen („Universul“, „Izbânda“, „Viitorul“, „Patria“, „Epoca“, „Gazeta Transilvaniei“), die „Ardealul“ vorwarfen, ihrerseits fremde, nämlich ungarische Interessen zu vertreten, betonte die Zeitung, dass sie in niemandes Diensten, außer dem Interesse der siebenbürgischen Bevölkerung stehe20. Das publizistische Programm, das wiederum auf den relevanten Topoi des „großrumänischen“ Integrationsdiskurses nach 1918 auf12
Ardealul Nr. 3 v. 30.4.1922: „Vrem dreptate“. Ardealul Nr. 4 v. 7.5.1922: „Nu cedăm nici morți“. 14 Ardealul Nr. 6 v. 21.5.1922: „Ardealul al ardelenilor“. 15 Ardealul Nr. 7 v. 6.6.1922: „Afară cu ticăloșii“. 16 Ardealul (wie Anm. 11). 17 Ebenda. 18 Ardealul (wie Anm. 10). Der seit dem Ende des Ersten Weltkriegs laufende institutionelle Vereinigungsprozess der rumänischen Orthodoxie wurde 1925 mit der Gründung des Patriarchats und dem Erlass des Gesetzes zur Organisation der rumänischorthodoxen Kirche abgeschlossen. 19 Ebenda. 20 Ardealul (wie Anm. 12). 13
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baut, spiegelt sich in einer nahezu beispiellosen Dichte im zu Beginn dieses Beitrages referierten Aufruf an die eigenen, siebenbürgischrumänischen Politiker wider, endlich im Sinne der Region zu arbeiten. Auf Basis eines „close readings“ dieses Diskursfragments pars pro toto können folgende Topoi und Argumentationsstrategien festgehalten werden: 1. Historistische Erinnerung des Ethnoregionalen: Siebenbürgischrumänische „lieux de mémoire“, Orte, Ereignisse und Personen, die Nationalität und Regionalität verbinden, werden eingesetzt. In diesem Falle handelt es sich um den zentral-siebenbürgischen Ort Blasendorf (Blaj, Balázsfalva), wo im 18. und 19. Jahrhundert die Protagonisten der „Siebenbürgische Schule“ (Şcoala Ardeleană) gewirkt hatten. Diese Gruppe von griechisch-katholischen Gelehrten (unter ihnen der im Zitat erwähnte Gheorghe Şincai, 1754–1816), vertrat als erste die Idee einer römischen Abstammung der Rumänen auf Basis systematischer historischer und philologischer Argumentationsstrategien. Sie steht somit für einen wichtigen Aspekt der rumänischen Nationalgeschichte, symbolisiert aber gleichzeitig die intellektuelle und nationale Überlegenheit der Siebenbürger Rumänen gegenüber ihren Ko-Nationalen jenseits der Karpaten. Ebenfalls bei Blasendorf befand sich jene Fläche, die „Freiheitsfeld“ (Câmpia Libertății) genannt wurde, da dort in den Revolutionsjahren 1848/49 wichtige nationale Kundgebungen der Siebenbürger Rumänen stattgefunden hatten. Den 1816 verstorbenen Gheorghe Şincai dort auftreten zu lassen, wie es im analysierten Text passiert, ist somit anachronistisch, was für die Logik dieses Diskurses jedoch keine Relevanz hat. 2. Unterschwelliger Revisionismus: Mit der teils latent, teils ausdrücklich vertretenen Meinung, dass die Situation der Rumänen im neuen Staat derart inferior sei, dass man selbst zur Zeit der ungarischen Dominanz ein besseres Leben geführt habe, schwingt automatisch ein revisionistischer Aspekt mit. Dieses Spannungsverhältnis wird mit dem Bogen, den der anonyme Autor des Diskursfragments vom Blasendorfer Freiheitsfeld zum „Nasenring des Tanzbären“ schlägt, besonders drastisch geschildert und mündet letztlich in einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der Qualität politischer Freiheit: Altrumänien konnte in diesem Zusammenhang eine gewisse Überlegenheit vorweisen, da sich dieser Staat zumindest seit seiner Gründung 1859/64 offiziell als frei und unabhängig bezeichnen konnte. Im intranationalen, transregionalen Diskurs stellten die Siebenbürger Rumänen diesem Argument die Grenzerdörfer um Nassod (Năsăud, Naszód) entgegen: In diesen Siedlungen lebten Rumänen, die durch
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ihre militärische Funktion als Grenzverteidiger im Gegensatz zu ihren Ko-Nationalen in vielen anderen Teilen Siebenbürgens schon seit Jahrhunderten Land besitzen durften. 3. Tagespolitischer Ethnoregionalismus: Eine Konsequenz aus dem deutlich bekundeten Willen, als Siebenbürger Rumänen die Führung in der Region zu übernehmen, ist die Forderung, alle Nicht-Siebenbürger der Region zu verweisen: „Hinaus mit den Hunden!“, lässt „Ardealul“ den Gelehrten Şincai rufen. Ebenso, wenn auch meist weniger ordinär, plädierte bereits Alexandru Vaida-Voievod für ein „Siebenbürgen der Siebenbürger“21. In diesem Diskursstrang dominiert der Regionalismus in einer ethnisch auf die Rumänen der Region konzentrierten Variante (Ethnoregionalismus). Gesamtnationale Belange werden in den Hintergrund gerückt, da der (partei)politische Feind innerhalb der eigenen ethnonationalen Gruppe, wenn auch geographisch jenseits der Berge, in der und um die Hauptstadt Bukarest lokalisiert wird. 4. Ideologisierung der Geomorphographie: Durch die Absicht, sich auf Basis regionalistischer Rhetorik abzugrenzen, fällt dem Gebirgszug der Karpaten eine besondere Rolle zu: Einerseits hatte er eine Abgrenzungsfunktion inne, die er mit der Entstehung „Großrumäniens“ eigentlich nicht mehr hätte erfüllen dürfen: Aus der ungarischen Reichsgrenze, die in diesem Bereich entlang des Karpatenbogens verlief, sollte das „Rückgrat“ des neuen Staates werden. Die siebenbürgischen Regionalisten transferierten jedoch die alte Staats- und Reichsgrenze in den politischen Diskurs der Zwischenkriegszeit und der im Entstehen begriffenen „großrumänischen“ Gesellschaft, um sich – und in der Folge eine ganze Region – von den politischen Feinden im Altreich abzugrenzen. 5. Intraethnische Überlegenheitsbehauptung: Auch die Siebenbürgischen Westgebirge hatten eine besondere Funktion. Dieses Massiv im Westen der Region wurde mit der dort lebenden „historischen“ Gruppe der Motzen verbunden – ein infrastrukturell vernachlässigt lebendes Berg- und Hirtenvolk „ethnischer“ Rumänen, dem durch seinen abgeschiedenen Lebensraum die Konservierung einer urtümlichen „Rumänität“ unterstellt wurde. So konnten sich die Siebenbürger Rumänen in Abgrenzung zu den von „Fremden“ beeinflussten Rumänen aus dem Altreich als die besseren Rumänen darstellen. Sich dieser Gruppe zumindest verbal zu widmen, bedeutete im siebenbürgisch-rumänischen Diskurs, aus der sozialen Not eine ethnoregionale Tugend zu machen.
21 Zum Beispiel in Gazeta Ardealului v. 2.12.1921: Problema ardelenească [Die siebenbürgische Frage].
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6. Transregionaler Orientalismus: Was die Berge auf der Landkarte symbolisieren sollten, wurde im Diskurs auch mit kulturellen Argumenten fortgesetzt: Die Abgrenzung von der Kultur jenseits der Karpaten orientalisierender Zuschreibungen sollte das Gefälle von den sich einer mitteleuropäischen Lebensart und Mentalität zugehörig fühlenden Siebenbürgern hin zu den Walachen (im Sinne der regionalen Zugehörigkeit) verdeutlichen. Indem der anonyme Autor diese als bulgarisiert und gräzisiert („Bulgăroi“, „Grecotei“) bezeichnete, entfernte er sie noch einen Schritt weiter vom als besonders „rein“ betrachteten Blut der Siebenbürger Rumänen. 7. Sakralisierung: Die rhetorische Überhöhung beschränkte sich nicht, wie im zitierten Beitrag, auf die Region selbst als rumänisches „Kernland“, sondern übertrug sich auch auf seine politischen Akteure. Insbesondere Iuliu Maniu verlieh der endogene Siebenbürgen-Diskurs im Laufe der Zwanzigerjahre einen Nimbus des Erlösers, der in die oligarchische, immer tiefer in die multiple Krise schlitternde Gesellschaft endlich Demokratie und vor allem Wohlstand bringen solle. Aus dieser Sicht ist es als gezielt eingesetzte „Blasphemie“ zu werten, wenn „Ardealul“ diese zu jenem Zeitpunkt unumstrittene Symbolfigur der siebenbürgischen Politik mit Nachdruck aufforderte, endlich aus dem Schlaf zu erwachen und Maßnahmen zu setzen. Dieser Ausbruch aus dem typischen Repertoire des siebenbürgisch-rumänischen Ethnoregionalismus macht es notwendig, die Frage nach den Interessen der Herausgeber von „Ardealul“ noch einmal zu vertiefen.
Die polizeiliche Untersuchung Die Auswertung der Akten der dem Innenministerium unterstellten Polizei-Generaldirektion des betreffenden Jahres22 zeigt die scheinbar von siebenbürgischen Rumänen im Wiener Exil verfasste Publikation „Ardealul“ in einem völlig anderen Licht. Die Behörden des Innenministeriums wiesen am 4. Mai 1922 ihre Subeinheiten sowie die dem Finanzministerium unterstellten Zollbehörden auf die Existenz der Publikation hin und ordneten an, deren Import ins Land zu verhindern. Vom Generalinspektorat des Sicherheitsdienstes und der Polizei für Siebenbürgen in Klausenburg (Cluj, Kolozsvár) wurden am 6. Mai zwei Ausschnitte der Zeitung „Înfrățirea“23 übersandt, in denen über „Ardealul“ kritisch berichtet wird. Der Verfasser des Bei22 Rumänisches Nationalarchiv, Bukarest, Fond (fortan: F) 2349, Direcția Generală a Poliției (D.G.P.), Dosar Nr. 24/1922, Dosar Bolovan Petru – prim redactorul ziarului „Ardeal“ ce apare la Viena. 23 F 2349, Nr. 24/1922 (wie Anm. 19), f 69. Înfrățirea Nr. 507 v. 4.5.1922.
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trags warf die Vermutung auf, dass der Name Petru Bolovan lediglich ein Pseudonym sei und „Ardealul“ eigentlich in Siebenbürgen selbst erscheine, da der Preis in rumänischer Währung angegeben und die Druckqualität für eine Wiener Publikation zu minder sei. Zudem würde das Erscheinungsbild der ersten Seite sehr an die in Klausenburg erscheinende Zeitung „Glasul Libertății“ erinnern. „Înfrățirea“ kam daher zu dem Schluss, dass man es hier mit einer subversiven Aktion separatistisch-autonomistischer Kräfte zu tun habe24. Die Behörden in der zentralsiebenbürgischen Bezirkshauptstadt Strassburg (Aiud, Nagyenyed) bestätigten jedoch wenige Tage später, dass „Ardealul“ in Umschlägen mit den Vermerken „Drucksache“ und „Rumänien“ aus Wien gekommen sei25. In einer weiteren Nachricht an die Sicherheitsdirektion, an die Generaldirektionen der Post und der Bahn, an die Zollbehörden und an den Generalstab nannte das Innenministerium die Publikation „eine ungarische Zeitung, die in Wien erscheint“.26 Noch im selben Monat informierten die Bukarester Behörden ihre Subeinheiten, dass die Herausgeber von „Ardealul“ auch eine Publikation namens „Viitorul“ produzierten und ins Land verschickten, die durch Titel und Layout die gleichnamige, in Bukarest erscheinende Zeitung der Liberalen Partei imitieren würde und derart die Behörden täusche. Im Lauf der nächsten Woche tauchten weitere irredentistische Publikationen in Rumänien auf: „Ardealul ardelenilor“ („Siebenbürger den Siebenbürgern“) ist als 40-seitige Broschüre angelegt, deren Umschlag zu entnehmen ist, dass es sich um die erste Nummer der Reihe „Biblioteca Autonomiei“ [Bibliothek der Autonomie] des Autors Jancu Azapu27 handle; das Vorwort stammte angeblich von VaidaVoievod28. Im Juli hielten die Behörden für ihre Subeinheiten fest, dass „Ardealul“ und „Viitorul“ nun unter dem Namen „Înfrățirea“ erscheinen und aus Serbien verschickt würden29. So wie „Viitorul“ für die gleichnamige Bukarester Zeitung, wurde auch „Înfrățirea“ als Kopie der in Klausenburg erscheinenden liberalen Tageszeitung produziert. Offensichtlich sahen die Behörden eine breite Front an mehr oder weniger subtil irredentistischer Literatur heranrollen. 24
Ebenda, f 68. Ebenda, f 71. 26 Ebenda, f 78. 27 Zu Jancu Azapu siehe auch Anm. 36. 28 Diese Strategie einer fingierten Legitimation durch den bekannten Politiker wurde von den Verfassern auch in „Ardealul“ angewandt. Der Beitrag „Unde duce politica noastră?“ [Wohin führt unsere Politik?] in Ardealul Nr. 3 v. 30.4.1922 stammt angeblich ebenso aus der Feder Vaida-Voievods. 29 F 2349, Nr. 24/1922 (wie Anm. 19), f 138. 25
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Nachforschungen in Wien und Budapest Auf die Bitte des Innenministeriums an die Behörden des Außenministeriums hin, mithilfe der rumänischen Legation in Wien alle verfügbaren Informationen über das Redaktions- und Verwaltungspersonal der Zeitung „Ardealul“ in Erfahrung zu bringen30, erfolgte am 25. Mai die Antwort: In Wien existiere keine solche Redaktion und unter der angegebenen Adresse (Schönborngasse 12, VIII. Wien) wohne kein Petru Bolovan. Es konnte in Wien auch keine Druckerei ausfindig gemacht werden, der der Auftrag zum Druck einer solchen Publikation erteilt worden sei. Zudem sei man der „generellen Überzeugung“, dass die Zeitung in Budapest produziert und durch „Spezialagenten“ nach Wien verbracht werde, von wo sie dann nach Rumänien verschickt werde31. Ein weiteres Schreiben vom 31. Mai durch die Wiener Legation berichtet von der Existenz eines „Zentralkomitees der ungarischen Irredenta“, das sich aus drei Politikern zusammensetze: Stefan Haller, Károly Huszár und Stefan Friedrich32. Die Bewegung unterteile sich in drei Sektionen, von denen je eine für Rumänien, die Tschechoslowakei und Jugoslawien zuständig sei; die „rumänische Sektion“ werde von Ferdinand Urmanezy33, einem Großgrundbesitzer aus Siebenbürgen, und Major Gyula Tokoos, ursprünglich aus „Nagyened-Adiud“34, geleitet werden. Die irredentistische Bewegung verfüge über ein Vermögen von 20 Millionen ungarischen Kronen und sei für die Unterstützung jedweder politisch-nationalen Emanzipationsbestrebung der „versklavten Magyaren“ vorgesehen: die Unterstützung der ungarischen Minderheitenparteien in den „beherrschenden Ländern“, die Publikation von Broschüren, das Erscheinen von Untergrundzeitungen und offiziellen Propagandamaterialien. Die irredentistischen Aktivitäten sollten sich gleich nach den allgemeinen Wahlen intensivieren, „Ardealul“ und „Viitorul“ würden jedoch bald eingestellt werden. An ihrer Stelle seien andere Zeitschriften und Zeitungen geplant, die aus Prag und Belgrad verschickt werden sollen35. Der von der Wiener Sicherheitsdirektion erbetene Bericht, der den Verlauf der von den Wiener Behörden unternommenen Untersuchung dokumentieren sollte, lieferte weitere Details zum Vorgehen 30 31 32 33 34 35
Ebenda, f 75. Ebenda, f 82. Die Schreibung aller Namen wurde unverändert aus den Quellen übernommen. Nándor Urmánczy (1868–1940), siebenbürgischer Politiker und Schriftsteller. Gemeint ist wohl Straßburg am Mieresch (Aiud, Nagyenyed). F 2349, Nr. 24/1922 (wie Anm. 19), f 94.
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der Ermittler: Man habe eine große Delegation von Experten „aus den größten Einrichtungen grafischer Kunst Wiens“ konsultiert, die zu dem Schluss gekommen seien, dass „Ardealul“, nachdem man die größten Druckereien, die über rumänische Lettern verfügten, befragt habe, nicht in Wien oder sonst einer Stadt in Österreich erscheine. Zudem stamme das Zeitungsformat aus einer ungarischen Papierfabrik; die gesamte ungarische Presse erscheine in diesem Format. Auch sei eine Druckerei namens „Orient“ weder am Wiener Handelsgericht noch bei der Handelskammer bekannt36. Am 13. Juni erging ein ergänzender Bericht nach Bukarest: Die Budapester Organisation, die hinter den Publikationen stehe, nenne sich „Területvedö-Liga“ („IntegritätsLiga“)37, hinter dem Pseudonym Petru Bolovan stehe ein gewisser Ernst Antolffy. Am 20. Juli wurden die Behörden in einem ausführlichen und teils korrigierenden Bericht über Details bezüglich des Erscheinens der irredentistischen Untergrundpublikationen informiert. Drei enge Vertraute der Wiener Legation hätten in Budapest weitere Nachforschungen mit folgendem Ergebnis angestellt: Der Druck von „Ardealul“ bzw. „Înfrățirea“ und „Viitorul“ erfolge in der Druckerei Hornyanszky Viktor, der „Druckerei des Königshofes“ in Budapest. Alle Schriftsetzer, bei denen es sich teils um Flüchtlinge, teils um Personen handle, die ihren festen Wohnsitz in Budapest haben, stammten aus Siebenbürgen. Alle beherrschten die rumänische Sprache in Wort und Schrift38. An der Spitze dieser irredentistischen Propagandabewegung befände sich der aus Arad stammende stellvertretende Staatssekretär im Kultusministerium István von Illes, wogegen als Person hinter Petru Bolovan nun Dr. József Ajtay ausgemacht wurde39. Das Sammeln und 36 Hier irrt der Berichtende, in allen vorliegenden Exemplaren ist eine Druckerei „Occident“ angegeben, deren Existenz in Wien jedoch ebenso bezweifelt werden muss. 37 Der Berichterstatter aus Wien verweist im Zusammenhang mit der „Területvedö Liga“ auf seinen Bericht v. 16.12.1920, der nicht eingesehen werden konnte. Bei dieser „patriotischen Vereinigung“ handelt es sich um die im Dezember 1918 gegründete „Magyarország területi épségének védelmi ligája“ (TEVÉL). Vgl. dazu Anikó K o v á c s B e r t r a n d : Der ungarische Revisionismus nach dem Ersten Weltkrieg. Der publizistische Kampf gegen den Friedensvertrag von Trianon (1918–1931). München 1997 (Südosteuropäische Arbeiten 99), S. 50f. 38 Als Leiter der technischen Abteilung wird Kyryll Endre genannt. Mitarbeiter: Maklakowszky Rezsö (Arad), Sadowinszky Gyula, Maniu Grigor, Wotycy Janos, Choroiu Tibor; alle Genannten sollen aus Siebenbürgen stammen. 39 Zudem wird angemerkt, dass der genannte Joszef Ajtay als Referent für „rumänische Fragen“ fungiere und nach der Auflösung des Ministeriums für Minderheitenfragen dem Büro des Ministerrates unterstellt sei. K o v á c s - B e r t r a n d : Revisionismus, nennt Ajtay als Geschäftsführer (S. 51) bzw. stv. Vorsitzenden (S. 129) der TEVÉL (wie Anm. 34). Folgende Redakteure konnten lt. Berichterstattendem identifiziert werden:
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Zensurieren der Beiträge erfolge im selben Gebäude, in dem auch die Sektion 18a des Kriegsministeriums untergebracht sei, die mit der militärischen Propaganda unter der Führung von Oberst Siemenfalvi und dessen Hauptmann Imrey betraut sei. Den Mitarbeitern von „Ardealul“ stünde ein Zimmer in der Redaktion der Tageszeitung „Magyarság“ zur Verfügung. Als gelegentliche Mitarbeiter werden zudem die beiden „Flüchtlinge“ Dr. Mano Vaniu und Jonas Vaitoianu, als Korrespondenten in Siebenbürgen vor allem politische Aktivisten genannt40. Die Drucklegung erfolge unter militärischer Aufsicht, die der Druckerei zugeteilten Unterleutnante würden die rumänische Sprache perfekt beherrschen. Nach der Produktion würden die Publikationen in Tranchen zu 50 Stück mit dem Emblem des Außenministeriums an die ungarischen Legationen ins Ausland (Wien, Bern, Paris, London, Berlin, Belgrad, Sofia, Prag und Stockholm) verschickt. In jeder dieser Legationen befinde sich ein Vertrauensmann, der der Organisation „Liga für den ungarischen Frieden“ unter der Koordination des Prälaten Dr. Alexandru Giesswein mit zentralem Sitz in Budapest angehöre. Diese Personen hätten genauen Befehl, wie und wohin sie die Publikationen weiterverschicken sollten. Man stelle dieser Organisation seitens der Regierung jährlich eine Summe von 3 Millionen ungarischen Kronen sowie das Papier zum Druck und die Druckerei zur Verfügung41. Zudem konnten im Zuge der Recherchen weitere sechs Druckereien ausfindig gemacht werden, die ungarische Propaganda-Broschüren auf Rumänisch drucken würden. Am 2. August wurde aus Budapest berichtet, dass von „Ardealul“ und „Viitorul“ insgesamt ca. 3.000 Stück gedruckt worden seien. Besonders hohe Auflagen seien zur Zeit der Abgeordnetenwahlen in Budapest (Ende Mai bis Mitte Juni) und anlässlich der Hochzeit des Milotay Istvan, dessen echter Name Jon Milotiu sei und der unter dem Pseudonym Jancu Azapu schreibe, Torday Imre mit dem Pseudonym Julian Dragomir oder Pribeag. Der ehemalige Korrespondent von „Universul“ in Budapest Gorjansky Marian (Pseudonyme: Jacob Dimancea oder Zamfir). Dr. Gagji Jenű, der ehemalige Büroleiter des „Spionagebüros“ unter der ungarischen „Besetzung“ in Bukarest, Hevesi Edmund, Funktionär im Pressebüro des Präsidiums des Ministerrates, und der Abgeordnete Graf Hoyos Miksa. 40 Als Korrespondenten von „Ardealul“ in Siebenbürgen werden folgende Personen genannt: Sándor József, ehemaliger Kandidat der ungarischen Nationalpartei in Siebenbürgen (Magyar Nemzeti Part), und Zima Tibor, ehemaliger Kandidat der Ungarischen Volkspartei (Magyar Nép Part), Baron Samuel Jósika, der Präsident der Vereinigung Magyar Szöveseg (gemeint ist wahrscheinlich die Magyar Irredenta Szövetség [Ungarischer Verband der Irredenta],) vgl. K o v á c s - B e r t r a n d : Revisionismus, S. 52), und Dr. Chiroiu Vlad, Anwalt in Temesvar. 41 Als Verwalter des Vermögens werden Milotay, Ajatay und Hoyos angeführt.
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Königs Alexander von „Serbien“ (eigentlich: der Serben, Kroaten und Slowenen) mit der Prinzessin Maria von Rumänien (8. Juni 1922) registriert worden. Vornehmliches Ziel sei gewesen, die ausländische Presse in die Irre zu führen und Falschmeldungen über die politische Lage in Rumänien zu verbreiten. In Ungarn selbst würde man die Publikationen nicht finden, nur die ungarischen Magnaten, speziell die aus Siebenbürgen, bekämen die Publikationen. Die Druckkosten würden von der ungarischen Regierung mitgetragen, die wiederum von „ungarisch-patriotischen jüdischen Bankern“ unterstützt werde. Man habe den Druck jedoch eingestellt, da keine Resultate erzielt worden seien42.
Wirkung Die kurze Existenz der Zeitungen „Ardealul“, „Viitorul“ und „Înfrățirea“ sowie der Broschüre „Ardealul Ardelenilor“ wurde von den rumänischen Behörden als ernsthafte Bedrohung der staatlichen Integrität wahrgenommen und dementsprechend behandelt. Zum krisenhaften Verlauf des „großrumänischen“ Integrationsprozesses kam ein weiteres, sowohl außen- als auch innenpolitisch relevantes Problem hinzu: Ungarn funktionierte nicht nur als abstraktes, historisches Feindbild, sondern trug mit solchen Aktionen selbst dazu bei, ihm höchstes Misstrauen entgegenzubringen. Zudem fanden die Publikationen auch über den siebenbürgischen Kontext hinaus Verbreitung: Die Befehle zur Beschlagnahmung der betreffenden Druckwerke ergingen nicht nur an die mit größerer Wahrscheinlichkeit betroffenen Gebiete im Westen des Landes, sondern auch an die Behörden des Altreichs, Bessarabiens und der Dobrudscha. Tatsächlich kamen die Rückmeldungen über einschlägige Sendungen nicht nur aus den ehemals ungarischen Gebieten, sondern auch aus Czernowitz (Chernivtsi, Cernăuți), Brăila, Fălticeni, Chișinău, Sighet, Tulcea, Vaslui und Bukarest. Unterrichtsminister Constantin Angelescu (1869–1948), dem auf der Durchreise in Temesvar (Timișoara, Temesvár) ein Exemplar von „Ardealul“ übergeben wurde, kündigte sogar an, die Publikation im Ministerrat zu präsentieren43. Das Beispiel der Zeitschrift „Ardealul“, scheinbarer Beleg antizentralistischer Diskurse in der rumänischen Publizistik, mahnt einmal mehr zum vorsichtigen Umgang mit publizistischen Quellen: Erst das „archivalische Hinterland“ der Polizeiakten legt die Motive der Herausgeber offen – eine Schwächung des rumänischen Staatsgefüges 42 43
F 2349, Nr. 24/1922 (wie Anm. 19), f 158. Ebenda, f 86.
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durch die Propagierung der Idee eines unabhängigen Siebenbürgens und langfristig die Wiedereingliederung der 1918/20 verlorenen Gebiete. Vorausgesetzt, die Berichte der rumänischen Auslandsdienste sind im Kern ihrer Aussage als korrekt zu betrachten, würde dies einen neuen Aspekt des ungarischen Revisionismus und dessen Propagandastrategien einbringen44. Nach Festlegung der endgültigen Grenzen durch die Grenzregulierungskommissionen (konsequent auf Kosten Ungarns) verzichtete die ungarische Diplomatie seit 1922 offiziell darauf, eine Revision der Grenzziehung zu fordern45, weswegen der publizistische Kampf in den Untergrund gehen musste. Der Versuch, mit vorgeblich genuiner rumänischer Publizistik ein negatives Bild der Verhältnisse in den verlorenen Gebieten zu zeichnen sowie ebendort die negative Stimmung gegen das „Zentrum Bukarest“ zu schüren, war eine logische Konsequenz dieser Entwicklung. Neben der regionalen und der gesamtrumänischen Dimension kam eine internationale Ebene hinzu: Nummer 7 von „Ardealul“ beinhaltete eine französische und eine deutsche Beilage. Auch der theoretische Diskurs untermauert die Logik dieser Bestrebungen: Im für den internen Gebrauch bestimmten Manuskript „Propaganda“ finden sich die Grundlagen für einen koordinierten publizistischen Kampf um die Revision der Grenzen: „Als erster Leitgedanke wurde hervorgehoben, dass nicht der Sprecher, sondern der Angesprochene wichtig sei. Zweitens komme es nicht darauf an, was der Sprecher sage, sondern was für einen Gedanken er in den Zuhörern hervorrufen wolle. Hierzu seien gründliche Kenntnisse der Mentalität und der Gewohnheiten der Zielgruppen unerlässlich. Viertens sei die Frage der Sprache und des Stiles zu beachten, die Methoden der Tagespresse seien allein erfolgreich. Dem Bereich der indirekten Beeinflussung wurde besondere Aufmerksamkeit gewidmet.“46 Auf Basis dieser Empfehlungen können die lancierten Texte, obwohl dies nicht ihr hintergründiger Publikationszweck war, als seriöse 44 Ein weiterer Schritt, der im Rahmen dieser exemplarischen Studie nicht geleistet werden kann, muss die Suche nach betreffenden Unterlagen in den ungarischen Archiven sein. Erst dann kann ausgeschlossen werden, dass es sich bei „Ardealul“ und den weiteren in diesem Zusammenhang aufgetauchten Druckerzeugnissen nicht eventuell um die Produkte (siebenbürgisch-)rumänischer Konkurrenten der Nationalpartei und ihrer Politik handelt, die mit dem Verweis auf die ungarische Herkunft der Publikationen ihrerseits ein Täuschungsmanöver vollzogen haben. 45 K o v á c s - B e r t r a n d : Revisionismus, S. 126. 46 Ebenda, S. 109.
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Evidenz des Unbehagens gegenüber der Bukarester Politik bei der „neurumänischen“ Bevölkerung interpretiert werden: die in den Akten genannten, großteils aus den betroffenen Gebieten stammenden Redaktionsmitglieder mussten – wenn auch unter Vorgabe falscher Tatsachen und einer der revisionistischen Intention entsprechenden Emphase – durchaus auf real existente Missstände und die zugehörigen endogenen Diskurse Bezug nehmen, um den siebenbürgischen Teil ihres Zielpublikums zu erreichen: Die Durchsetzung der Zentralisierung erwies sich als äußerst schwieriges Unterfangen, das für die völlig anders als im Altreich strukturierte Gesellschaft der angeschlossenen Gebiete Westrumäniens eine „Nivellierung nach unten“ bedeutete. Der Einsatz von Verwaltungsbeamten aus dem Altreich an den zu rumänisierenden bzw. so wie die Siguranța völlig neu zu errichtenden Behördenstellen schien diese Kluft entlang des Karpatenbogens noch zu verstärken, wie ein Bericht vom 8. August des betreffenden Jahres bestätigt. Darin wandte sich die Siguranța-Abteilung in Diemrich (Deva, Déva) „streng vertraulich und persönlich“ unter Umgehung des Dienstweges direkt an die Bukarester Sicherheitsbehörden mit der Begründung, dass man nicht allen Beamten im Generalinspektorat Klausenburg (Cluj, Kolozsvár) vertraue. Der Berichterstatter stellte fest, dass die betreffenden Publikationen an Akteure der Nationalpartei sowie der sozialistischen Bewegungen geschickt würden und einige „Funktionäre siebenbürgischer Herkunft“ kein großes Interesse daran zeigten, das „Eindringen“ der Zeitung zu verhindern. Mehr noch: Man sei sich „fast sicher“, dass die Verbreiter der Pamphlete auch unter den Beamten viele Anhänger hätten, da der Import und die Verteilung der Publikationen im Land sehr gut organisiert scheine. Abschließend bat der Verfasser des Berichts um weitere direkte Befehle und den Einsatz von Personen absoluten Vertrauens, da man beobachten könne, wie die Publikationen den Hass auf die Regierung in Bukarest und die Personen, die aus dem Altreich nach Transsilvanien gekommen seien, noch mehr verstärken47.
47
F 2349, Nr. 24/1922 (wie Anm. 19), f 169.
D A S V E R H ÄLT N I S D E R S I E B E N B ÜR G E R M A G YA R E N Z U D E N R U M ÄN E N U N D S A C H S E N Gefallenengedenken und Kriegserinnerung bei den Siebenbürger Ungarn 1918–1940 Franz Sz. H o r v á t h Im Gedenken an Béla György (1957–2013)
Einleitung Der Ausgang des Ersten Weltkriegs bedeutete für die Ungarn Siebenbürgens die vielleicht größte politische und soziale Zäsur im 20. Jahrhundert. Nach all den Kriegsjahren mit den Entbehrungen in der Heimat und den Erlebnissen an den Kriegsfronten, dem Einfall rumänischer Truppen im Sommer 1916 und den daraufhin erfolgten Fluchtbewegungen, sahen sich die Ungarn im Herbst 1918 schließlich nicht nur mit dem Zerfall der Monarchie konfrontiert, sondern mussten auch weitgehend tatenlos den erneuten ungehinderten Vormarsch rumänischer Soldaten in ihrem Land zur Kenntnis nehmen. Diese besetzten innerhalb weniger Wochen weite Teile Ostungarns und verwirklichten damit den Traum vieler ihrer Politiker – die Vereinigung Siebenbürgens mit dem Altreich. Die Ungarn Siebenbürgens fanden sich nach dem Weltkrieg somit in der für sie neuen Lage wieder, nicht mehr zur politischen Mehrheitsbevölkerung zu gehören, sondern eine nationale Minderheit in einem Land zu sein, das sich als einheitlicher Nationalstaat sah – wogegen die meisten ungarischen Männer noch kurze Zeit davor mit Waffen gekämpft hatten. Für ungefähr 200.000 Ungarn war diese Situation derart unerträglich, dass sie innerhalb weniger Jahre ihre Heimat verließen und nach Ungarn umsiedelten1. Jene Siebenbürger Ungarn jedoch, die den Status einer ethnischen Minderheit (zumindest nach außen hin) akzeptierten, mussten neben dem Alltag im neuen Staat auch ihre Erfahrungen und Erlebnisse 1 Othmar K o l a r : Rumänien und seine nationalen Minderheiten 1918 bis heute. Wien, Köln, Weimar 1997, S. 51.
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im letzten Krieg allein bewältigen. Das Gedenken an den Krieg, die Verarbeitung des jahrelangen Mordens und auch die Sinngebung für das Sterben im Krieg für ein Vaterland, das in der Form von 1914 nicht mehr existierte, zog für die Ungarn allerdings mehrere Schwierigkeiten nach sich. Wie sollte man etwa der Toten der eigenen Nation gedenken, wenn insbesondere kurz nach dem Krieg ungarische Blumenverkäuferinnen bereits dafür bestraft wurden, wenn sie ihre Blumen angeblich in den ungarischen Nationalfarben angeordnet haben2? Wie sollte man etwa den (tatsächlichen oder behaupteten) Heldenmut ungarischer Soldaten öffentlich in Reden oder gar auf Denkmälern rühmen, wenn sie gegen jenen Staat gekämpft hatten, in dem man gerade lebte? Welchen Sinn hätte man einem Krieg zu geben vermocht, den man verloren hatte und dessen Ende zu Lebensbedingungen führte, die man im Vergleich mit den vorangegangenen Möglichkeiten als inferior betrachtete? Der vorliegende Aufsatz versucht, unterschiedliche Formen des siebenbürgisch-ungarischen Umgangs mit dem Thema Erster Weltkrieg nachzuzeichnen. Hierzu wird in einem ersten Teil die Kriegserinnerung in Ungarn dargestellt, denn bereits im Verlauf des Krieges sind erste Formen des Gedenkens entstanden, die in Ungarn dann weitergeführt werden konnten, in Siebenbürgen jedoch nicht; anschließend soll der Erinnerungsdiskurs eines ungarischen Veteranenverbandes aus Siebenbürgen untersucht werden. Obwohl dieser in Budapest aktiv war, lässt sich hiermit siebenbürgisch-ungarisches Gedenken aufzeigen, wie es möglich war, wenn man sich nicht in der Lage einer nationalen Minderheit befand, sondern selbst zur Mehrheit gehörte. Der dritte Teil stellt schließlich unterschiedliche Formen der ungarischen Kriegserinnerung in Siebenbürgen dar. Dabei soll es darum gehen, wie der Krieg belletristisch und von Angehörigen der jüngeren Generationen aufgearbeitet wurde. Abschließend werden diese Kriegserinnerungen mit dem Gedenken aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs kontrastiert, als Nordsiebenbürgen erneut zu Ungarn gehörte. Damit soll die Hauptthese des Aufsatzes belegt werden, wonach es sich bei der Kriegserinnerung der Siebenbürger Ungarn in der Zwischenkriegszeit um eine vertagte Erinnerung und vertagte Trauer handelte, die damals wegen der politischen Umstände nicht voll ausgedrückt und ausgelebt werden durften. Dies wurde nur zwischen 1940 und 1944 möglich, bevor die Ungarn von den neuen kommunistischen Machthabern erneut unterdrückt wurden.
2 Unzählige Beispiele für solche Schikanen zählte in der Zwischenkriegszeit die in Lugoj erschienene Zeitschrift „Magyar Kisebbség“ auf.
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Kriegsgedenken in Ungarn Die moderne ungarische Erinnerungskultur entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zeichen eines romantisierenden Nationalismus. In ihrem Mittelpunkt standen dabei vor allem zwei Themen – die Erinnerung an die Revolution von 1848/49 und die Feier des Milleniums, also der tausend Jahre seit der Landnahme der Ungarn im Jahre 896. In diesem Kontext entwickelten die ungarischen Künstler eine Reihe von Symbolen und Motiven, um die militärischen Fähigkeiten der Ungarn zu feiern und zu rühmen. Dazu gehörten u. a. die Figur des sitzenden Löwen, der neu-heidnische Turul-Vogel, Waffen und Kampfszenen3. Diese Bemühungen dienten letztlich dazu, zur Entstehung und Festigung eines ungarischen Nationalbewusstseins beizutragen. Es wurden schließlich auch neue Nationalfeiertage, sogenannte „ungarische“ Kleidung und Denkmäler geschaffen, welche die ungarische und nichtungarische Bevölkerung in ihrem patriotischen Verhalten beeinflussen sollten4. Die erste private Initiative im Weltkrieg, um der gefallenen Soldaten zu gedenken, wurde bereits im Herbst 1914 von der „Gesellschaft der Kunsthandwerker“ auf den Weg gebracht5. Obwohl diese Initiative zur Errichtung eines Denkmals erfolglos blieb, denn die Qualität der eingereichten Vorschläge war so schlecht, dass man keinen berücksichtigen wollte, startete man im darauffolgenden Jahr einen erneuten Versuch. Laut Ausschreibungstext sollte das zu errichtende Denkmal „die ungarischen Helden des größten und blutigsten Krieges aller Zeiten verewigen“6. Kaum zwei Jahre nach dieser erneuten Initiative verabschiedete auch das ungarische Parlament ein Gesetz (Nr. VIII/1917), das den Städten und Gemeinden vorschrieb, der Gefallenen zu gedenken7. Dank dieses Gesetzes, das die gesamte Zwischenkriegszeit über in Kraft blieb, sind heute noch in ganz Ungarn etwa 2.000 Denkmäler 3 Miklós S z a b ó : A magyar történeti mitológia az első világháborús emlékműveken [Die ungarische historische Mythologie auf Denkmälern des Ersten Weltkriegs]. In: Hg. Ákos K o v á c s : Monumentumok az első háborúból [Denkmäler aus dem Ersten Weltkrieg]. Budapest 1990, S. 46–63. 4 Vgl. hierzu allgemein Árpád v o n K l i m ó : Nation, Konfession, Geschichte. Zur nationalen Geschichtskultur Ungarns im europäischen Kontext (1860–1948). München 2003 (Südosteuropäische Arbeiten 117); Ákos K o v á c s : A kitalált hagyomány [Die erfundene Tradition]. Pozsony 2006. 5 Ildikó N a g y : Első világháborús emlékművek. Esemény- és ideológiatörténet [Denkmäler aus dem Ersten Weltkrieg. Ereignis- und Ideologiegeschichte]. In: K o v á c s : Monumentumok, S. 125–139, hier 131. 6 Ebenda, S. 133. 7 Ebenda, S. 136.
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des Ersten Weltkriegs vorhanden, wovon etwa 500 Skulpturen sind8. Das Errichten von Denkmälern war damit keine Angelegenheit von Privatpersonen mehr, sondern wurde v. a. in der Zwischenkriegszeit zu einem Instrument in den Händen von Politikern, die damit ganz bewusst politische Ziele verfolgten. So sagte György Lukács, der frühere Minister, 1927 eindeutig aus, welche Gefühle und Ideologie die Denkmäler den Erwartungen offizieller Stellen gemäß vermitteln sollten: Durch ihren Anblick sollte ein Gefühl des Stolzes für die Söhne der Nation entstehen, die ihr Leben für das Vaterland geopfert hätten. Der Künstler sollte zudem den Ärger der Ungarn wegen der aufgezwungenen Friedensordnung darstellen und zugleich die Zuversicht ausdrücken, dass sich die Wahrheit durchsetzen werde9. Die Denkmäler sollten außerdem die Überzeugung ausdrücken, dass sich der Status quo des Landes entweder durch harte Arbeit oder durch „das heilige Märtyrertum des Blutes der neuen Generationen“ ändern werde10. Es lässt sich somit feststellen, dass die Aussage der über 2.000 Denkmäler eine militaristische Dimension besaß und sie die jungen Generationen auf eine zukünftige politische Aufgabe verpflichteten. Übernimmt man die Kategorisierung von Ildikó Nagy, so lassen sich die ungarischen Denkmäler in zehn Gruppen einteilen: a) der idealisierte Soldat; b) der kämpfende Soldat; c) der Tod des Helden; d) der trauernde Soldat; e) Reiterdenkmäler; f) Allegorien (z. B. ein Löwe für die Stärke der ungarischen Nation; eine Frauengestalt als Allegorie für die ungarische Nation usw.); g) die ungarische Vergangenheit; h) die ungarische Familie (die häufig als aus den abgetrennten Gebieten fliehend oder als auseinandergerissen dargestellt wird); i) ein Denkmal mit dem Turul-Vogel; j) eine Säule oder ein Denkmal mit einem Symbol (z. B. die Stephanskrone, das Kreuz usw.)11. Die meisten dieser Motive wurden bereits vor dem Krieg eingesetzt, wenn auch in anderen Kontexten. Da diese Denkmäler in der erwähnt großen Zahl errichtet und die bei ihrer Enthüllung gehaltenen Reden in Zeitungen und Zeitschriften publiziert wurden, kann man davon ausgehen, dass die politische und kulturelle Elite der ungarischen Minderheiten in den Nachfolgestaaten über die Erinnerungskultur Ungarns Kenntnisse besaßen. Die Frage, die sich hier stellt, ist jedoch, ob und inwiefern sie manche Teile dieser Kultur in ihren eigenen Gesellschaften heimisch machen konnten und 8 Ebenda, S. 125. Laut Nagy sind freilich nur etwa ein Dutzend dieser Denkmäler kunsthistorisch interessant. 9 Ebenda, S. 137. 10 Ebenda, S. 137. 11 Ebenda, S. 126 u. 128.
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wollten. Bevor hierauf eingegangen wird, soll jedoch die Kriegserinnerung eines Veteranenverbandes vorgestellt werden.
Der Veteranenverband der Szekler Division Die Mehrheit der etwa 200.000 ungarischen Flüchtlinge aus Siebenbürgen, die sich zwischen 1918 und 1924 in Ungarn niedergelassen haben, gehörte der Mittelschicht an. Sie waren Grundbesitzer, Staatsbeamte, Offiziere, Lehrer oder Pfarrer12. Der Umzug nach Ungarn bedeutete für die meisten von ihnen einen großen wirtschaftlichen Abstieg, denn der durch den Vertrag von Trianon verkleinerte ungarische Staat hatte nur für die wenigsten administrative oder militärische Verwendung. Die Flüchtlinge bildeten eine Vielzahl von Vereinen, die sich einerseits der Pflege von Traditionen widmeten, andererseits versuchten, auf die Regierung Druck auszuüben, damit die revisionistische Agenda einer Wiedererlangung Siebenbürgens von der Tagesordnung nicht verschwinde. Siebenbürgische Veteranen bildeten ebenfalls Veteranenverbände, hielten Kameradschaftstreffen und Zusammenkünfte ab und veröffentlichten mitunter Publikationen, um die Erinnerung an den Krieg und die eigenen Taten hochzuhalten. Károly Kratochvill (1869–1946), ein pensionierter Oberst, war einer der Vorsitzenden des Veteranenverbandes des 4. Infanterieregiments und nach 1928 der Präsident des Veteranenverbandes der Szekler Division. Diese wurde im November 1918 von ihm selbst nach seiner Rückkehr von der italienischen Front gegründet, um dem Vormarsch der rumänischen Truppen militärischen Widerstand entgegenzusetzen. Zu dem Zeitpunkt versammelte sich in Klausenburg (Cluj, Kolozsvár) eine große Zahl von ungarischen, aber auch sächsischen Soldaten, die von der Front gerade erst zurückgekehrt waren. Da ihre südsiebenbürgische Heimat bereits von rumänischen Truppen besetzt war, hatten die meisten von ihnen noch keine Pläne hinsichtlich ihrer Zukunft gefasst, so dass sie sich Kratochvill gerne anschlossen13. Daher verwundert es auch nicht, dass jener binnen weniger Wochen über etwa 15.000 Soldaten verfügte. Seine Division, die ab Januar 1919 die Bezeichnung „Szekler Division“ trug, leistete im Westen Siebenbürgens zwischen Januar und April 1919 einen erbitterten, mehr oder weniger erfolgreichen 12 Vgl. Ernő R a f f a y : Erdély 1918–1919-ben [Siebenbürgen 1918–1919]. Budapest 1987; sowie István I. M ó c s y : The uprooted: Hungarian refugees and their impact on Hungarian domestic politics 1918–1921. New York 1983. 13 Dies geht aus einem Brief des ungarischen Offiziers István Zágoni an Kratochvill hervor, der sich im Nachlass von Kratochvill befindet, im Kreisarchiv von Veszprém (Ungarn): Veszprém Megyei Levéltár (VeML), Kratochill Károly Irathagyatéka, XIV. 10, 11.
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Widerstand gegen das Vorrücken der rumänischen Truppen. Nach der Machtübernahme durch die Kommunisten unter Béla Kun wollte man jedoch nicht als Teil einer „Roten Armee“ angesehen werden und streckte die Waffen – wohl auch, da man sich der Überlegenheit der rumänischen Truppen bewusst war14. Viele Soldaten, die sich nicht ergeben wollten, flohen nach Szeged, wo sie der konterrevolutionären Armee des Admirals Miklós Horthy beitraten, die sich dort gerade formierte15. Ausgehend davon, dass die neuen rumänischen Machthaber die Teilnahme an den Kämpfen der Szekler Division nicht positiv honorierten, ist anzunehmen, dass in den Folgejahren die meisten ihrer Soldaten, etwa 8.000 bis 10.000 Veteranen, Siebenbürgen verließen und sich in Ungarn niederließen. Kratochvill selbst diente noch bis 1925 in der ungarischen Armee, wurde dann aber aufgrund der Ungarn 1920 auferlegten Verkleinerung der Armee zwangspensioniert16. Im Jahre 1930 gründete er gemeinsam mit etwa 50 Offizieren den „Verband der Szekler Division“17 und setzte sich zum Ziel, die Erinnerung an die Division und deren Kämpfe aufrechtzuerhalten, das spurlose Aufgehen der Veteranen im bürgerlich-zivilen Leben zu verhindern und die Geschichte der Division sowie deren Kämpfe aufzuschreiben18. Die weiteren Ziele beinhalteten die Förderung und patriotische Erziehung der Szeklerjugend, finanzielle und seelische Unterstützung der Witwen 14 Die Geschichte der Szekler Division wurde erst in den letzten Jahren wissenschaftlich aufgearbeitet. Erste, zeittypisch konnotierte Versuche waren von László F o g a r a s s y : Adalékok a székely hadosztály és az erdélyi kérdés történetéhez (1918–1919) [Anmerkungen zur Geschichte der Szekler Division und der Siebenbürgenfrage 1918–1919]. In: Magyar Történeti Tanulmányok XIX. Hg. Géza V e r e s s . Debrecen 1986, S. 59–90; und d e r s .: Az ismeretlen székely hadosztály [Die unbekannte Szekler Division]. In: A Debreceni Déri Múzeum évkönyve 1971. Hg. Imre D a n k ó . Debrecen 1972, S. 225–252. Neuere Ansätze sind etwa Szabolcs N a g y : Kérdések a Székely Hadosztály történetéből [Fragen zur Geschichte der Szekler Division]. In: Székelyföld 13 (2009), 10, S. 71–86; Gottfried B a r n a : A Székely Hadosztály, 1918–1919 [Die Szekler Division 1918–1919]. In: Székelyföld 11 (2007), 2, S. 73–103; sowie Gottfried B a r n a , Szabolcs N a g y : A Székely Hadosztály története [Die Geschichte der Szekler Division]. Barót 2011. 15 M ó c s y : The uprooted, S. 39. 16 Zu Kratochvill vgl. B a r n a , N a g y : A Székely Hadosztály, S. 189–208, wo auf S. 200f. Zweifel an dieser offiziellen Version der Pensionierung angemeldet werden. 17 Zum Datum der Gründung ebenda, wo die Autoren auch eine in der Literatur bisher kursierende falsche Angabe korrigieren (Sz. Ferenc H o r v á t h : Kratochvill Károly és a Székely Hadosztály Egyesület tevékenysége az Észak-Erdélyi zsidók védelmében (1943–1944). In: Századok 142 (2008), Nr. 1, S. 123–152, hier 130). 18 Tárgysorozat az 1927. május hó 8. megtartandó Székely Hadosztály összejövetelére [Tagesordnung für die Zusammenkunft der Szekler Division am 8.5.1928] und Tárgysorozat az 1928. május hó 5-én megtartandó Székely Hadosztály összejövetelre [Tagesordnung für die Zusammenkunft der Szekler Division am 5.5.1928]. VeML, XIV. 10., 1., 3. Einheit, Bl. 83 u. 86.
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sowie allgemein die Förderung eines ungarischen Nationalbewusstseins19. Die Mitgliederzahl des Verbandes stieg bis Ende der 1930er Jahre langsam auf etwa 600 an, womit er im Vergleich zu anderen ungarischen Veteranenverbänden als überdurchschnittlich groß angesehen werden muss20; die Zahl soll in etwa der Zahl der Divisionsoffiziere entsprochen haben. Indem der Verband Mitglied im „Verband Siebenbürgischer Männer“, einem politisch wie gesellschaftlich einflussreichen Zusammenschluss siebenbürgischer Emigranten, wurde, zählte er zum Netzwerk siebenbürgischer Flüchtlingsorganisationen. Diese Organisationen hielten öffentliche Vortragsreihen ab, beobachteten die politische Entwicklung in Rumänien und die Behandlung der dortigen Ungarn, publizierten hierüber Broschüren und Bücher. Der Zweck dieser Aktivitäten bestand darin, die Siebenbürgische Frage aus der öffentlichen Meinungsbildung nicht verschwinden zu lassen, um so gesellschaftspolitischen Druck auf die Regierung auszuüben. In seiner Eigenschaft als Präsident des Verbandes (und als Mitglied einer Vielzahl anderer Organisationen) war auch Kratochvill sehr aktiv, das Heldentum seiner Soldaten während des Weltkriegs und auch das der Szekler Division 1919 zu preisen. Er suchte die Schlachtfelder des Krieges (etwa in Italien) auf, hielt Gedenkreden über die Gefallenen und in Erinnerung an den Krieg und verfasste eine Reihe von Aufsätzen und sogar eine Darstellung der Geschichte der Szekler Division. Eine Analyse der Reden und Beiträge von Kratochvill und dessen Kameraden hinsichtlich ihrer Aussagen ergibt folgende, immer wiederkehrende Punkte: a) für den Kriegsausbruch waren Serbien und Russland verantwortlich, u. a. weil sie damit die Auflösung Ungarns bzw. der Monarchie bezweckten; b) die ungarischen Soldaten haben in vielen Schlachten gekämpft und heldenhaft ihr Leben gelassen, ohne bezwungen worden zu sein; c) der soziale Aufruhr im Herbst 1918 führte zum ungünstigen Kriegsausgang, zur „Asternrevolution“ unter Károlyi sowie zur kommunistischen Machtübernahme durch Béla Kun; d) der Friedensvertrag von Trianon sei somit das Ergebnis all dieser Entwicklungen, die für die ungarische Armee letztlich nichts anderes als einen Dolchstoß bedeuteten. Diese Deutungen der Kriegsereignisse lassen es zu, den Verband als einen klassischen Vertreter ungarischen politischen und revisionistischen Denkens der Zwischenkriegszeit anzusehen. Die siebenbürgisch-ungarischen Veteranen fanden sich genauso wenig mit dem 19 A Székely Hadosztály Egyesület Alapszabályai [Die Satzung des Verbandes der Szekler Division]. Budapest 1941, § 2. 20 Vgl. B a r n a , N a g y : A Székely Hadosztály, S. 175f.
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Kriegsausgang und dem Verlust von Territorien und ihrer Heimat ab wie es die ungarische Mehrheitsgesellschaft tat21. Um die politische Lage eines kleinen Landes, „des Ansehens und der Macht beraubt“, zu überwinden, schlugen sie vor, die Jugend und die Nation insgesamt in einem militärischen Geist zu erziehen – der Blick zurück in bessere Zeiten sollte zur Stärkung des nationalen Bewusstseins beitragen, und dies wurde als Voraussetzung einer ungarischen Erneuerung angesehen, die zur Rückgewinnung der verlorenen Gebiete und Macht führen sollte. Immerhin diente dieser Selbstbezug auch dazu, sich zumindest teilweise aktuellen politischen Strömungen entziehen zu können. So traf Kratochvill 1938, als Ungarn über das erste sogenannte Judengesetz debattierte, die Aussage, Ungarn brauche keinen „Führer“ (wie Deutschland), denn es habe in der Gestalt des Admirals Horthy bereits einen22. Damit setzte sich Kratochvill zum einen von ungarischen Rechtsradikalen ab, die eine stärkere Hinwendung Ungarns an das Dritte Reich forderten. Zum anderen verdeutlicht die Aussage, dass, auch wenn der Verband der Szekler Division insgesamt als ein nationalistischer und revisionistischer Veteranenverband anzusehen ist, er dennoch nicht mit der ungarischen extremen Rechten gleichgesetzt werden darf.
Die Kriegserinnerung der Siebenbürger Ungarn in Rumänien (1918–1940) Das Kriegsende bedeutete in Siebenbürgen in erster Linie die Vereinigung Siebenbürgens mit dem Altreich. Dabei drückt bereits der Begriff eine bestimmte Sichtweise auf die Geschehnisse der Jahre 1918–1920 aus, nämlich einen nüchtern erscheinenden Prozess, im Verlaufe dessen zwei Landesteile auf friedlichem Wege zueinander fanden. Im zeitgenössischen Sprachgebrauch Ungarns verband man jedoch mit dem gleichen Prozess Termini wie „Zerstörung“, „Zertrümmerung“ oder „Zerfall“ (des ungarischen Staates)23. Eine derart direkte Wortwahl war in der siebenbürgisch-ungarischen Presse nicht gegeben und wohl auch nicht möglich gewesen, weswegen man für die Ereignisse Umschreibungen wie „Herrschaftswechsel“ oder „Kriegsausgang“ benutzte. 21 Zum ungarischen Revisionismus grundlegend Miklós Z e i d l e r : A revíziós gondolat [Der revisionistische Gedanke]. Pozsony 2009. 22 25. számú Egyesületi Értesítő [Nachrichten des Verbandes Nr. 25], Budapest, 4.6.1938, S. 2. 23 Vgl. Z e i d l e r : A revíziós gondolat; Dániel S z a b ó : Az első világháború [Der Erste Weltkrieg]. Budapest 2009, S. 508–510; Miklós Z e i d l e r : Trianon. Budapest 2003.
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Das Gedenken an den Krieg und die Erinnerung an dessen Ausgang war in Siebenbürgen somit ethnisch gefärbt und besaß je unterschiedliche Ausprägungen. Für die rumänische Mehrheit besaß der 1. Dezember den Charakter eines inoffiziellen Nationalfeiertages, wurde 1918 an diesem Tag doch die Vereinigung Siebenbürgens mit dem Königreich Rumänien ausgesprochen. Ungeachtet der militärischen Niederlage Rumäniens vor den Truppen der Mittelmächte wurde die Vereinigung als Ergebnis rumänischer Kriegserfolge (und nicht als Folge der Pariser Vorortverträge) angesehen; das Heldentum rumänischer Soldaten konnte somit ungehindert durch eine Vielzahl von Denkmälern gepriesen werden. Die Kriegserinnerung der Siebenbürger Sachsen wird von der neueren Forschung als von einer „doppelten Loyalität“24 gekennzeichnet beschrieben. Dieser Ausdruck soll die Zwiespältigkeit der Botschaft ausdrücken, welche die im Gedenken an die gefallenen Soldaten aufgestellten Denkmäler und Inschriften vermitteln: Einerseits seien sie für ihre „Heimat“ gefallen, worunter gewöhnlich eine kleine, lokale Einheit bzw. Region verstanden wurde, andererseits enthielten die Denkmäler auch eine Art Versprechen, wonach die Sachsen auch unter den neuen Umständen hart für ihr neues Vaterland arbeiteten und somit loyal zum Staate stünden, wie es auch in der Vergangenheit der Fall gewesen sei. Wie hat das Kriegsgedenken der Siebenbürger Ungarn ausgesehen? Um ihren uneinheitlichen und disparaten Umgang mit der Kriegserinnerung zu verstehen, ist es hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, dass es sich bei dieser Gruppe um eine Zwangsminderheit handelte. Der Begriff soll zum Ausdruck bringen, dass es sich bei den Ungarn um eine unter Zwang entstandene Gruppe handelte, die keine homogene Identität besaß und Personen sowie Subkulturen vereinte, die vor 1918 keine Berührungspunkte zueinander hatten. Schließlich gilt es zu bedenken, dass die Ungarn in ganz Siebenbürgen zwar in der numerischen Minderheit waren, in vielen Städten und manchen Regionen (etwa dem Szeklerland) aber die Mehrheit ausmachten und in vielen gesellschaftlichen Bereichen die dominierenden Positionen innehatten25. 24 Bernhard B ö t t c h e r : „Treue zur Heimat und zu dem Staate, von dessen Grenzen unsere Heimat umschlossen ist“ – Doppelte Loyalität bei den Siebenbürger Sachsen. In: Staat, Loyalität und Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa 1918–1941. Hgg. Peter H a s l i n g e r , Joachim v o n P u t t k a m e r . München 2007, S. 159–185. 25 Vgl. Nándor B á r d i : Die minderheitspolitischen Strategien der ungarischen Bevölkerung in Rumänien zwischen den Weltkriegen. In: Südost-Forschungen 58 (1999), S. 267–312.
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Die Siebenbürger Ungarn hatten mehrere Schwierigkeiten zu überwinden, wenn sie ihrer gefallenen Soldaten gedenken wollten. Ein solches Gedenken war bereits vordergründig seltsam angesichts der Tatsache, dass diese Soldaten die als Verlust empfundene Vereinigung ihrer Heimat mit Rumänien nicht verhindern konnten. Übermäßiges Feiern ungarischen soldatischen Ruhms erschien aber nicht opportun in Zeiten, in denen eine nationalistisch aufgeheizte rumänische Öffentlichkeit alle möglichen nationalbewussten Äußerungen und Regungen der Ungarn mit dem Vorwurf der Illoyalität belegte. Es bedurfte nur einiger unbedachter Aussagen, in der Öffentlichkeit gesungener Volkslieder oder (wie erwähnt) des Blumenarrangements von Verkäuferinnen in den ungarischen Farben, um angeklagt und wegen Revisionismus verurteilt zu werden26. In einer solchen Atmosphäre konnte ungarischerseits allenfalls unter dem Schutz der parlamentarischen Immunität geäußert werden: „genauso wie es für die rumänische Bevölkerung der 1. Dezember ein Tag der Freude ist, ist er für die ungarische Nation ein Tag der Trauer, denn er brachte die Katastrophe Ungarns mit sich“27. József Willer, von dem diese Äußerung stammt, erklärte in seiner Rede auch, warum seine Partei, die Ungarische Landespartei Rumäniens, den Feierlichkeiten zur Erinnerung an die Vereinigung ferngeblieben sei. Es sei schließlich unehrlich, täten die Ungarn so, als sei dieser Tag für sie ein Tag der Freude. Das Fernbleiben sei aber kein Akt der Illoyalität, denn dass sie sich loyal zum Staat verhalte, habe die Partei schon unzählige Male erklärt, doch könne sie dies nicht gerade an einem 1. Dezember tun, wenn ihr dies niemand glaube. Ungarische Veteranenverbände konnten im Siebenbürgen der Zwischenkriegszeit unter solchen Umständen nicht gegründet werden, womit auch die Möglichkeit des adäquaten Totengedenkens oder des Errichtens imposanter Denkmäler genommen war. Es verwundert daher nicht, dass in rumänischen Archiven zwar Bestände über rumänische Verbände vorhanden sind, aber über keine ungarischen28. Hieraus kann geschlossen werden, dass rumänische Veteranen es bei ihrer 26 Eine Reihe solcher und ähnlicher Beispiele findet sich in der Rubrik „Urteile“ der Zeitschrift „Magyar Kisebbség“, die zwischen 1922 und 1941 in Lugosch vom ungarischen Politiker Elemér Jakabffy herausgegeben wurde. 27 Willer József képviselő nyilatkozata a december 1 megünneplése tárgyában a kamara 1932 december 2-iki ülésén [Rede des Abgeordneten József Willer in der Kammer hinsichtlich der Feier des 1. Dezember, gehalten am 2.12.1932]. In: Magyar Kisebbség (fortan: MK) 11 (1932), 24, S. 783–784 (Zitat auf S. 784). 28 Diese Angabe beruht auf den Recherchen des Verfassers im Frühjahr 2007 in mehreren Kreisarchiven Rumäniens (Timișoara/Temeswar, Sibiu/Hermannstadt, Cluj/ Klausenburg, Oradea/Großwardein). Vgl. Arhivele Naționale Bihor (Staatsarchiv Kreis
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Erinnerungsarbeit einfacher hatten, einschlägige und beeindruckende Monumente zu errichten. Die Kriegserinnerung der Ungarn erscheint hingegen weniger imposant, wie es an zwei Beispielen verdeutlicht werden kann. 1926 wurde im Dorf Păsăreni (Backamadaras), etwa zwölf Kilometer von Neumarkt am Mieresch (Târgu Mureș, Marosvásárhely) entfernt, eine Gedenktafel enthüllt, um „die Erinnerung der verschwundenen oder gestorbenen Helden des Ersten Weltkriegs (1914–1918)“ zu ehren29. Der Text erwähnt nur den Weltkrieg mit Jahreszahlen und listet die Namen der Soldaten auf, ohne irgendeine Bewertung des Krieges oder des Kriegsausgangs vorzunehmen. Dass die Soldaten für Ungarn gefallen waren, wird genauso wenig thematisiert wie die Trauer der Gemeinde, die für die Tafel aufgekommen war, explizit verdeutlicht wird. Schließlich sucht man auch eine religiöse oder säkulare Sinngebung für den Tod der Männer vergeblich, wodurch auch die Bedeutung von deren Opfer nicht ausdrücklich betont wird. Die einzige offizielle Person, die im Zusammenhang mit der Tafel erwähnt wird, ist der Lehrer, der an ihrer Enthüllung teilgenommen hat; Namen anderer Offiziellen (etwa Pfarrer oder Bürgermeister) sucht man umsonst. Die Bezeichnung „Erster Weltkrieg“ zeigt immerhin, dass die Initiatoren der Tafel dem kaum erst beendeten Krieg im Vergleich mit anderen, vorangegangenen, eine besondere Bedeutung beigemessen haben. In Mădăraș (Csíkmadaras), einem Dorf im Szeklerland, wurde in den 1920er Jahren auf dem Friedhof der Gemeinde ein Denkmal errichtet30. Es enthielt in seiner ursprünglichen Version keine Namen von Soldaten, denn die Liste mit den Namen der Gefallenen wurde erst in den 1990er Jahren hinzugefügt. Dieses Denkmal weist demnach ebenfalls keine besondere Botschaft auf und vermittelt dem Betrachter keine außergewöhnliche Sinngebung und Deutung der Kriegsgeschehnisse, wie es sonst auf Denkmälern häufig der Fall ist. Es soll hier noch einmal darauf hingewiesen werden, dass die Zahl ungarischer Kriegsdenkmäler in Siebenbürgen, die tatsächlich in der Zwischenkriegszeit errichtet wurden, zwar unbekannt ist, jedoch nicht allzu hoch sein dürfte. Offenbar, muss man vermuten, zogen es die Siebenbürger Ungarn eher vor, wenige Denkmäler oder Denkmäler mit kaum einer besonderen Botschaft und Eigenschaft zu errichten als irgendein beliebiges, mit dessen Botschaft sie nicht zufrieden sein Bihor), Oradea, Fond Nr. 75 Uniunea foștilor voluntari români din Bihor [Verband der ehemaligen rumänischen Freiwilligen aus Bihor]. 29 Backamadaras 600 éve (1392–1992) [Die 600 Jahre von Backamadaras]. Hg. Sándor P á l - A n t a l . [O. O., o. J.] S. 60. 30 Sándor P á l - A n t a l : Csíkmadaras. Egy felcsíki falu hét évszázada [Csíkmadaras. Die sieben Jahrhunderte eines Dorfes aus dem Felcsík]. Marosvásárhely 1996.
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konnten. Gerade die vorgestellten Beispiele, die aus Dörfern mit fast ausschließlich ungarischer Bevölkerung stammen, hätten zeigen können, dass die Ungarn problemlos Denkmäler nach ihrem Geschmack aufstellen dürfen, wenn sie es gewollt hätten. Dass sie dies dennoch nicht zu tun wagten, zeigt ihre Umsicht und Zurückhaltung, die sie an den Tag legten. Eine Aufarbeitung ihrer Kriegserlebnisse brachten die Ungarn trotzdem zustande, u. a. indem sie jene Erfahrungen literarisch verarbeiteten: Dies soll hier anhand des Romans „Die sibirische Garnison“ von Rodion Markovits verdeutlicht werden. Darin schilderte der Veteran Markovits, geboren 1888 und im bürgerlichen Leben Anwalt und Journalist, seine Erlebnisse an der Ostfront sowie in russischer Kriegsgefangenschaft (1915–1921). Der 1927 auf Ungarisch erschienene Roman erschien alsbald in einem Dutzend Sprachen und machte seinen Autor zum damals wohl bekanntesten siebenbürgischen Schriftsteller31. Bereits der Untertitel „kollektiver Dokumentarroman“ zeigt an, dass es sich um ein ungewöhnliches Buch handelt. Tatsächlich gingen in den Stoff Berichte vieler ungarischer Soldaten ein, die dem Aufruf von Markovits, veröffentlicht 1926 in einer der wichtigsten ungarischen Tageszeitungen Siebenbürgens („Keleti Újság“) folgten und ihm Kurzberichte über ihre Erlebnisse zusandten. Aus den über 100 Einsendungen formte Markovits seinen Roman mit dem Ziel, dem millionenfachen Leiden und Erfahrungen eine authentische Stimme zu geben. Die Handlung ist denkbar einfach: Ein junger Anwalt meldet sich bei Kriegsausbruch freiwillig zum Kriegsdienst, wird relativ früh von den zaristischen Truppen gefangen genommen und mit Tausenden anderen (ungarischen und nichtungarischen) Soldaten von einem Lager ins andere geschickt, bis am Ende alle in Sibirien blieben, wo sie bis 1920 festgehalten worden sind. Welche Formen der Kriegserinnerung und des Gedenkens transportiert dieser Roman? Sein charakteristischer Grundzug lässt sich als pazifistisch-humanistische Haltung bezeichnen, die sich in einem abgeklärt-ruhigen Ton äußert und eine kritische Einstellung gegenüber nationalistischem sowie militaristischem Denken erkennen lässt32. Der Protagonist nimmt die Nachricht über die Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand gleichgültig auf, als ob sie ihn überhaupt nichts angehe. Auch an die Meldungen über den Kriegsausbruch wird so erinnert, 31 Informationen zu Leben und Werk von Markovits und der zeitgenössischen Rezeption seines Romans bietet der englische Wikipedia-Artikel unter http://en.wikipedia. org/wiki/Rodion_Markovits (13.10.2014). 32 Der Roman „Szibériai Garnizon. Kollektív riportregény“ wird hier nach der Ausgabe von 1965 zitiert, erschienen in Bukarest.
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als ob sie nur das Königshaus betroffen hätten. Dennoch lässt er sich von der Kriegsbegeisterung der Menge anstecken, meldet sich freiwillig und geht an die Front, die als Schauplatz größter Grausamkeit, endlosen Leidens und sinnlosen Gemetzels dargestellt wird. Heldentum, nationalistischer Pathos, Glorifizierung oder Legitimierung des Krieges kommen im Roman nicht vor, auch werden keine Nationalitätenkämpfe zurückprojiziert; überhaupt wird ethnische Zugehörigkeit kaum erwähnt. Der Krieg und all die Schlachten dienen allenfalls den herrschenden Klassen zur Bewahrung ihrer Vorherrschaft, was der Autor im längeren Teil des Romans über die Zeit der Gefangenschaft herausarbeitet. Die Offiziere und somit auch der Romanheld kommen in ein separates Lager, wo sie einen Großteil ihrer Zeit und Energien darauf verwenden, die gesellschaftliche Hierarchie zu bewahren. Obwohl die Gefangenen in den Augen der Russen alle gleich seien, widmeten sich die Offiziere ihren eigenen Regeln, die sie selbst aufstellten und die Bedeutung der jeweiligen Person von seinem Rang abhängig machen. Als ob sie eine reguläre Friedensarmee seien, geht es ihnen in erster Linie um die Aufrechterhaltung strenger Disziplin und Etikette. Dieses Offiziersverhalten wird im Roman sehr kritisch geschildert. Dabei lässt Markovits seinen Protagonisten nicht nur mehrfach auf Abstand zu seinen Offizierskollegen gehen, sondern äußert vielfach sein Interesse für das Schicksal der Nichtoffiziere und zeigt seine soziale Sensibilität. Er betont im Hinblick auf die die Gefangenen bewachenden Russen wie auch auf Russland selbst häufig das Verbindende und Gemeinsame: „Man kann nicht jedes Gebirge Mátra nennen, aber aus der Ferne sind auch hier die Berge blau, und selbst die vordere Front der Bahnhöfe ist genauso wie zu Hause. Steigt man aus, so wird einem der Fahrschein abgenommen und der Bahnhofsvorsteher salutiert vor dem Zug. Dass er ein bisschen anders salutiert? Und dass sie ihre Palatschinken mit geschnetzeltem Fleisch füllen? Muss man sie deswegen töten?“33 Die Natur, die Umwelt, die Menschen und ihre Gewohnheiten weisen alle nur geringfügige Abweichungen auf: das Gemeinsame überwiegt, und es sind künstlich konstruierte Gegensätze, die die Menschen aufeinander schießen lassen. Folgerichtig heißt nach einigen Jahren die Erkenntnis: „Wir wollten uns an den bösen Serben rächen. Was hat es mit der Rache auf sich? Wie weit sind wir jetzt von der Rache entfernt! […] Wie soll man sich begeistern, wenn man nicht weiß, wofür man kämpft?“34 Es sind Aussagen über die Sinnlosigkeit des Krieges, die zeigen, wie weit sich der Autor von jeder Kampfeslust und jedem 33 34
M a r k o v i t s : Garnizon, S. 179f. Ebenda, S. 221.
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Militarismus entfernt hat. Markovits‘ Roman entpuppt sich somit letztlich eindeutig als Antikriegsroman, der jedoch den vorangegangenen Krieg nicht primär wegen seines für Ungarn und Siebenbürgen (aus ungarischer Sicht) ungünstigen Ausgangs kritisch sieht, sondern von einer universell humanistischen Warte aus. Diese pazifistische Einstellung scheint allgemein auf die siebenbürgisch-ungarische Belletristik der Zwischenkriegszeit zuzutreffen und ist in den Romanen sowie Gedichten von Aladár Kuncz, Benő Karácsony und József Darvas nachweisbar35. Hieraus kann demnach abgeleitet werden, dass es in der ungarischen Literatur keinen heroisierenden, sondern eher einen kritischen und antimilitärischen Umgang mit dem Krieg gab. Der Roman von Markovits endet 1920, als es dem Protagonisten möglich war, in sein Heimatdorf zurückzukehren. Auch dies ist ein wichtiges Charakteristikum, denn somit scheint der Krieg für viele ungarische Teilnehmer erst 1920 sein Ende gefunden zu haben. Für die Betonung dieses Datums als Kriegsende (in Abgrenzung zu 1918) spricht auch der Umstand, dass der Vertrag von Trianon erst Mitte dieses Jahres unterschrieben wurde und die letzte Hoffnung vieler Ungarn zerstörte, wonach der Krieg doch noch ein, aus ihrer Sicht, gutes Ende finden könne. Somit rückten der Begriff Trianon bzw. die Konsequenzen des Vertrages immer stärker in den Mittelpunkt des ungarischen politischen Denkens und Kriegsgedenkens. Dies erforderte eine Analyse der Ursachen, die zum Zerfall des ungarischen Staates geführt hatten. In Ungarn selbst beantworteten mehrere einflussreiche Bücher das Bedürfnis der Gesellschaft nach einer Antwort auf diese Frage36, doch stand dies unausgesprochen auch im Zentrum der Darstellung des siebenbürgischen Journalisten Imre Mikes, die den Titel „Der Weg Siebenbürgens von Großungarn nach Großrumänien“ trug37. Mikes wurde 1900 geboren, war im Krieg Matrose und arbeitete nach 1918 bei mehreren ungarischen Zeitungen Siebenbürgens; sein Buch stellt eine interessante Mischung aus Fiktion und Sachtext dar. Einerseits beschrieb er, wie Rumäniens führende Politiker ihr Land in den Krieg zogen, um Siebenbürgens Anschluss zu erreichen. Andererseits 35 Gemeint sind hier die Romane „A fekete kolostor“ (Das schwarze Kloster) von Aladár K u n c z , der 1931 erschien (1934 bereits ins Englische übersetzt, ins Deutsche bis heute nicht), sowie „A napos oldal“ (Die Sonnenseite) von Benő K a r á c s o n y , erschienen 1936. Im Falle von Darvas sei auf dessen Gedicht „A harctéri eset“ (Der Vorfall an der Front) verwiesen (erschienen in Pásztortűz 3 (1923), 1, S. 52). 36 Das berühmteste einschlägige Werk war wohl „Három nemzedék“ [Drei Generationen] von Gyula S z e k f ű , vgl. v o n K l i m ó : Nation, S. 241f. 37 Imre M i k e s : Erdély útja Nagymagyarországtól Nagyromániáig. Sepsiszentgyörgy 1996 (ursprünglich Brassó 1931).
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enthält seine Darstellung viele Politikergespräche, die der Autor nicht miterleben konnte, und der Text strotzt von emotionsgeladenen Begriffen wie „tragisches Ereignis“, „traurig“ oder „dramatisch“38. Das Buch von Mikes erscheint insgesamt wie der literarische Aufarbeitungs- und Bewältigungsversuch eines jungen Ungarn, der herausfinden will, wie der Krieg zum Zerfall seines Landes beigetragen habe. Somit interessierte sich auch Mikes mehr für den Ausgang und das Ende des Krieges, weniger jedoch für dessen Auslöser, den Kriegsverlauf oder einzelne Etappen der Kriegshandlungen. Dabei stellte er das Kriegsende wie einen zweifachen Zusammenbruch dar und sprach von dem Todeskampf der Armee und dem inneren Zusammenbruch der Monarchie39. Er gestand den rumänischen Politikern ein geniales Vorgehen zu und bezeichnete das Verhalten der Rumänen Siebenbürgens im Herbst 1918 als revolutionäre Handlung zur Destabilisierung Ungarns. Diese Erklärung ließ die ungarische Führung freilich hinsichtlich des Staatszerfalls unschuldig erscheinen, denn dieser war hiermit das Werk des Nachbarstaates und der nationalen Minderheiten (im Falle Siebenbürgens die Rumänen). Das Nachdenken über den Krieg bedeutete für Mikes offensichtlich das Nachdenken über einen und die Suche nach einem Sündenbock für die Auflösung des Staates. Krieg und Kriegsausgang stellten somit einen Bruch im Denken von Mikes und seiner Generation dar. Als Mikes sich Ende der 1920er Jahre an die Niederschrift seines Buchs machte, das zunächst als eine Artikelserie in der Kronstädter Tageszeitung „Brassói Lapok“ erschien, trat zeitgleich eine neue ungarische Generation ins öffentlich-politische Leben Siebenbürgens ein40. Diese war zwischen 1900 und 1910 geboren worden und entschied sich bewusst für ein Leben im nunmehr rumänisch gewordenen Siebenbürgen, denn manche ihrer Mitglieder kehrten nach ihren Universitätsstudien im Ausland absichtlich und mit einem ausgeprägten Sendungsbewusstsein nach Siebenbürgen zurück. Sie bekamen bereits als Heranwachsende die Schwierigkeiten der älteren Generationen und der eigenen Eltern im neuen Staat mit (Sprachprobleme, berufliche Schwierigkeiten und Benachteiligungen, Diskriminierungen usw.) und traten mit einem politischen Programm auf. Ungarns Kriegsniederlage und Zerfall bewiesen aus der Sicht der Jugend das Versagen der ungarischen Vorkriegseliten beim Erkennen und Lösen der politischen und gesellschaftlichen Probleme. Da sich 38
M i k e s : Erdély, S. 26. Ebenda, S. 105–107. 40 Nándor B á r d i : Generation Groups in the History of Hungarian Minority Elites. In: Regio, 2005, S. 109–125. 39
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die Ideologien und Theorien der Vorkriegszeit als unzuverlässig und ungeeignet herausgestellt hatten, mussten in allen Bereichen neue Wege beschritten werden – auf dem Gebiet der Staatspolitik genauso wie auf dem Feld der Sozialpolitik, in der Wirtschaft wie in der Literatur oder der Kunst. Das Wirtschaftssystem der Vorkriegszeit setzte man mit einem wilden Kapitalismus gleich, dessen Auswüchse für die wirtschaftliche Misere der ungarischen Minderheit verantwortlich gemacht wurden41. Die so entwickelte kritische Distanz führte in manchen Teilen der ungarischen Jugend daher zur Annäherung oder gleich zur Übernahme kommunistischer Ideen, in anderen Teilen zu Sympathien für korporative Gedanken, und wieder andere Teile propagierten wirtschaftspolitische Vorstellungen christlich-sozialer Herkunft42, die Vorkriegszeit wurde im Bereich der Politik als zu liberal und individualistisch verurteilt43. Stattdessen propagierten Vertreter der jungen ungarischen Generation den nationalen Zusammenhalt und die Herstellung einer nationalen Gemeinschaft als den richtigen Weg zur Überwindung der sozialen und wirtschaftlichen Spannungen sowie Gegensätze, wodurch die Abwehr rumänischer Assimilationsmaßnahmen besser gelingen sollte; hierzu wären auch die unteren Bevölkerungsschichten (Bauern, Arbeiter) als Teil der nationalen Gemeinschaft zu begreifen und in diese zu integrieren. Soziologische und soziografische Untersuchungen der Lebensbedingungen dieser Kreise kamen in Mode, womit zumindest in manchen Teilen der Jugend ein Interesse für die Lösung von Problemen im lokalen Rahmen und für das bäuerliche Leben (als Gegensatz zum modernen Stadtleben) entstand. In einem größeren Rahmen setzte sich die Jugend damit vom Materialismus der Vätergeneration vor dem Krieg ab und stellte ihren eigenen Idealismus an dessen Platz. Die Betonung ihrer sozialen Sensibilität ist deswegen wichtig, weil die ungarische Jugend den Vorkriegsgenerationen in der sozialen Frage Gleichgültigkeit vorwarf. Da sie sich dessen bewusst war, die zukünftige politische Elite der Minderheit zu sein, wollte sich diese Jugend von den Fehlern der Väter abgrenzen und sich mit den tatsächlichen Lebensbedingungen der Landbevölkerung vertraut machen, welche die Mehrheit der Minderheit ausmachte44. Die Kenntnis dieser Bedingungen erachtete man als die Voraussetzung für eine später zu realisierende neue Politik, eine neue Wirtschaft und eine neue Gesellschaft. Das Besondere 41 Vgl. Franz Sz. H o r v á t h : Zwischen Ablehnung und Anpassung. Politische Strategien der ungarischen Minderheitselite in Rumänien 1931–1940. München 2007, S. 125f. 42 Mehr Details ebenda, S. 106–129, 193–214. 43 Ebenda, S. 194f. 44 Ebenda, S. 115.
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dieser Hinwendung zum „einfachen“ Volk bestand in der Vielfalt der neuen Wege, die hierbei eröffnet wurden: Um dessen soziale Lage zu verbessern, erblickten einige Gruppen der Jugend die Lösung im Kommunismus, andere hingegen in einem Zusammenschluss auf völkischer Grundlage, womit sie nach rechts abdrifteten. Während das Ziel der Kommunisten darin bestand, sich von der Vorkriegszeit abzuwenden und eine klassenlose Gesellschaft herzustellen, strebten die völkischen Teile der Jugend eine neue und soziale Gemeinschaft an, die nur aus „richtigen“ Ungarn aufgebaut werden sollte (also ohne Juden oder Ausländer) und eine neue, „wirklich“ ungarische Kultur aufweisen sollte45. Dies wiederum bedeutete Kritik und Abgrenzung zur Einstellung und Politik der Väter, die in der Vorkriegszeit gegenüber den Juden auf Toleranz und Gleichstellung, gegenüber den Nationalitäten auf Eingliederung und sogar Assimilation ausgerichtet waren. Diese Einstellung galt als Ursache und Ausdruck einer verfehlten Politik, die ihre Quittung im Zerfall des Staates 1918 und der angeblich jüdischen Räterepublik 1919 bekommen hatte. Die ungarische Jugend scheint sich also in der Zwischenkriegszeit in ideologisch disparate und einander sogar bekämpfende Gruppen geteilt zu haben, doch muss man berücksichtigen, dass sowohl der Ursprung der unterschiedlichen ideologischen Entwicklung als auch deren Ziel (Errichtung einer sozial bzw. ethnisch homogenen Gemeinschaft) letztlich eine große Übereinstimmung aufweisen. Fest steht zudem, dass 1939 zumindest manche Mitglieder der völkisch ausgerichteten Ungarn, die im Ersten Weltkrieg übrigens wegen ihrer Jugend noch nicht mitgekämpft hatten, den Ausbruch des neuen Krieges enthusiastisch begrüßten und von der Möglichkeit einer heldenhaften Betätigung und Bewährung sprachen bzw. den Tod des Humanismus und die Geburt einer neuen politischen Ordnung ausriefen46. Diese neue Ordnung bedeutete die Aufopferung des Alten und die Zertrümmerung der alten Werte. Unter den Umständen des neuen Krieges war dies freilich gleichbedeutend mit der Verabschiedung vom politischen System der Zwischenkriegszeit und der Begrüßung der neuen Grenzen, die mittlerweile überall in Europa gezogen worden waren. In diesem Zusammenhang fiel vielen Ungarn Siebenbürgens die Begrüßung einer neuen politischen Ordnung leicht, denn sie dachten bereits konkret an die Rückkehr Siebenbürgens zu Ungarn. Interessanterweise gelang es innerhalb der ungarischen Minderheit Siebenbürgens weder den radikalisierten Teilen der Jugend noch den 45 46
Ebenda, S. 196–199, 250–255. Ebenda, S. 332.
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Kriegsveteranen entscheidenden Einfluss auf deren politische Führung zu nehmen bzw. diese zu übernehmen. Der Veteran, Politiker und Journalist István Sulyok (1891–1945) startete 1932 bei einer Sitzung des Klausenburger Ortsverbandes zwar einen Versuch, der Ausrichtung der Ungarischen Landespartei, der wichtigsten politischen Vertretung der Minderheit, einen nationalistischeren Zug zu geben und innerhalb der Partei den Durchbruch eines „rechtsorientierten Geistes“ zu fordern47, und konnte sich sogar auf die Unterstützung mehrerer völkischer Mitglieder der Jugend stützen, doch schlug sein Versuch dennoch fehl, denn die anwesenden Parteimitglieder schienen mit obigen Losungen wenig anfangen zu können. Sulyok selbst wurde in der Folgezeit noch stärker in die Parteistrukturen eingebunden, was ihn später aber nicht daran hindern sollte, zu einem rechtsextremen Journalisten mit antisemitischen und nationalsozialistischen Ansichten zu werden48. Einer von Sulyoks Parteikollegen war Elemér Gyárfás (1884–1945), ebenfalls ein Kriegsveteran, und im Ersten Weltkrieg Offizierskamerad von Gyula Gömbös, dem späteren ungarischen Ministerpräsidenten. Gyárfás galt innerhalb der Minderheit als Verfechter eines militärischen und autoritären Geistes, als Anhänger eines Führerkultes und Bewunderer Mussolinis und Gömbös’49. Innerhalb der Ungarischen Landespartei gehörte er immerhin zur obersten Führungsebene. Es ist jedoch vielsagend, dass auch er 1935 mit seinem zaghaften Versuch, den Parteivorsitzenden zu stürzen und selbst den Vorsitz zu übernehmen, gescheitert war. Auch wenn der Hintergrund seines Putschversuchs noch weitgehend ungeklärt ist50, kann festgestellt werden, dass zum einen die ungarische Öffentlichkeit Siebenbürgens damit nicht einverstanden gewesen wäre, und zum anderen, dass die ungarischen Veteranen zwar teilweise zur ideologischen Radikalisierung neigten, diese jedoch nicht zum politischen Durchbruch bringen konnten. Dafür, dass nicht jeder Kriegsveteran rechtem oder rechtskonservativem Gedankengut anhängen musste, ist Elemér Jakabffy (1880–1963) das beste Beispiel, der Vizevorsitzende der Ungarischen Landespartei. Bereits vor dem Krieg Abgeordneter im ungarischen Parlament, diente er im Krieg als Offizier und engagierte sich in der Zwischenkriegszeit in der europäischen Minderheitenpolitik51. Innerhalb der ungarischen 47
Ebenda, S. 120f. Ebenda, S. 260–262, 268–270, 402. 49 Ebenda, S. 223, 401. 50 Ebenda, S. 223f. 51 Vgl. Sabine B a m b e r g e r - S t e m m a n : Der Europäische Nationalitätenkongreß 1925 bis 1938. Nationale Minderheiten zwischen Lobbyistentum und Großmachtinteressen. Marburg 2000. 48
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Minderheit stand sein Name für eine wertkonservative Politik, die zunehmend liberaler erschien, je stärker die faschistischen und nationalsozialistischen Bewegungen auf internationaler Ebene wurden. Dabei bestand Jakabffy (häufig im Gegensatz zu Sulyok und Gyárfás52 sowie zu manchen Teilen der völkisch radikalisierten Jugend) auf der Weitertradierung exakt jener liberalen Werte, die die Gesellschaft Ungarns in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auszeichneten und die von den jungen, völkischen Radikalen als Ursache des ungarischen Staatszerfalls abgelehnt und zurückgewiesen wurden. Die politischen Ansichten dieser drei prominenten Veteranen verdeutlichen somit die ideologische Heterogenität sowohl der Ungarischen Landespartei als auch der Minderheit selbst wie auch der Veteranen im Allgemeinen. Obwohl die Generationsunterschiede zwischen ihnen nicht bedeutend waren, unterschieden sich ihre politischen Ansichten dennoch. Sie gründeten zwar keine Veteranenverbände oder „Erinnerungsorganisationen“ wie ihre Kameraden in Ungarn, beeinflussten ihre Minderheit aber dennoch auf dem Umweg über die Ungarische Partei oder durch ihre Tätigkeit als Journalisten. Hinsichtlich der Ungarischen Partei fallen die Integrationsbemühungen auf, die sich auf Personen unterschiedlicher ideologischer Ausrichtungen erstreckten. Auf diese Weise sollten sowohl möglichst alle Gesellschaftsschichten angesprochen und alle politischen Meinungen abgedeckt als auch eine Spaltung der Partei vermieden werden.
Ungarische Kriegsdenkmäler in Nordsiebenbürgen (1940–1944) Infolge des Wiener Schiedsspruchs (30. August 1940) kehrte ein Teil Siebenbürgens zu Ungarn zurück. Der ungarische Bevölkerungsteil (etwa 1,3 von 2,5 Millionen) begrüßte den Entscheid und bejubelte die Mitte September 1940 einmarschierenden ungarischen Truppen. Die Zeitgenossen erlebten jene Tage zweifellos als Befreiung und Wiedervereinigung53. Eine Wiedervereinigung fand nicht nur in der Hinsicht statt, dass viele jener Flüchtlinge, die nach 1918 das Gebiet verlassen hatten, nunmehr zurückkehrten. Die vorher geteilten Erinnerungskul52 Hinsichtlich Gyárfás’ Tätigkeit als ehemaliger Kriegsteilnehmer sind noch seine Reden zugunsten siebenbürgischer Kriegsveteranen im rumänischen Parlament erwähnenswert, vgl. z. B. Gyárfás Elemér interpellációja az erdélyi hadirokkantak nyugdíjának egyenlősítése tárgyában a szenátus 1932 március 4-iki ülésén [Die Rede von Elemér Gyárfás bzgl. der Gleichstellung der Pensionen siebenbürgischer Kriegsinvaliden in der Sitzung des Senats v. 4.3.1932] MK 10 (1932), 6, S. 190f. 53 Die neueste Literatur hierzu bei Balázs A b l o n c z y : A visszatért Erdély [Das zurückgekehrte Siebenbürgen] 1940–1944. Budapest 2011.
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turen fanden wieder zusammen, denn mit der neu eingeführten ungarischen Verwaltung zogen auch neue Ideologien, Gedankenwelten, Parteien und Bewegungen in die Region ein54. Eine dieser Bewegungen war die „Bewegung der Landesfahnen“ („országzászló-mozgalom“), die 1923 von Nándor Urmánczy (1868–1940), einem aus Siebenbürgen stammenden Politiker, initiiert worden war. Das Ziel bestand zuerst darin, an möglichst vielen Orten Ungarns Fahnen zu hissen, um so an den Zerfall des Landes und an die zu Minderheiten gewordenen Ungarn außerhalb der Landesgrenzen zu erinnern. Diese Bewegung war damit integraler Bestandteil des ungarischen Revisionismus und zugleich Ausdruck des damaligen ungarischen Nationalismus55. Die Bewegung begann sich bereits kurz nach dem Schiedsspruch auch in Nordsiebenbürgen auszubreiten. Ungarische Städte wie auch aus Siebenbürgen stammende Personen spendeten Fahnen und Flaggen, um die Verbindungen zwischen den Städten zu stärken und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zum Ausdruck zu bringen. In Nordsiebenbürgen wurden sie dann in Anwesenheit der örtlichen Honoratioren und im Rahmen einer feierlichen Zeremonie gehisst, während die Lokalbevölkerung (Schüler genauso wie Erwachsene) häufig in Trachten anwesend war. Lokalpolitiker, aber auch landesweit bekannte Politiker hielten Reden, die Armee und Mitglieder von Veteranenverbänden nahmen an der Zeremonie teil, Pfarrer segneten die Fahnen, Kinder rezitierten patriotische Gedichte, und Chöre sangen die ungarische Hymne oder Volkslieder. Diese Feiern dienten allerdings nicht nur der Stärkung des Nationalbewusstseins und der Bildung einer nationalen Gemeinschaft in Kriegszeiten, sondern auch der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg und der gefallenen Soldaten. Gleichzeitig mit den Zeremonien wurden nun häufig auch Kriegsdenkmäler und Tafeln mit den Namen der gefallenen Soldaten aufgestellt56. Im Dorf Reci (Rety) spendete Ferenc Pál, ein Veteran des 24. Infanterieregiments, in Erinnerung an die Szeklersoldaten des Regiments 1941 dem „Honvéd Kameradenverband“ ein Grundstück, auf dem man im Juni 1941 eine Landesfahne hisste und 1943 ein Kriegsdenk54 Zur Ideen- und Ideologiegeschichte vgl. Gábor E g r y : Az erdélyiség „színeváltozása“. Kísérlet az Erdélyi Párt ideológiájának és identitáspolitikájának elemzésére [Die „Metamorphose“ des Siebenbürgertums. Die Ideologie und Identitätspolitik der Siebenbürgischen Partei – Versuch einer Analyse] 1940–1944. Budapest 2008. 55 Tibor D ö m ö t ö r f i : Országzászló mozgalom [Die Landesfahnen-Bewegung] 1921–1944. In: Élet és tudomány 8 (1991), S. 232–234. 56 Eine Reihe solcher Denkmäler werden dokumentiert in József Á l m o s : Országzászló-állítások Háromszéken [Aufstellen von Landesfahnen in Háromszék]. Sepsiszentgyörgy 2006.
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mal errichtete. Dieses enthielt nicht nur eine Widmung, sondern auch patriotische Losungen und ein damals allseits bekanntes revisionistisches Gebet57. Auf dem Denkmal selbst ist die Figur eines anonymen Soldaten zu sehen, der keine kämpfende Pose einnimmt, sondern eher in einer ruhenden, jedoch aufmerksamen Haltung verewigt wird, als ob er stets zur Verteidigung seines Landes bereit sei. Die von der Enthüllung überlieferten zeitgenössischen Aufnahmen zeigen die Präsenz des ungarischen Militärs, das damit seine Verbundenheit und Anwesenheit vor Ort betonen wollte; auch bezeugen sie die Teilnahme der Fahnen schwenkenden und Volkstracht tragenden lokalen Bevölkerung. Sowohl der Inhalt (kampfbereiter ungarischer Soldat) als auch die Symbole der Enthüllung (Fahne, Volkstracht, ungarische Militärsuniform) verdeutlichen ihren nationalen Charakter, der vor 1940 nicht gezeigt werden konnte58. Betrachtet man einige andere der aufgestellten Denkmäler, wird deren dezidierte Botschaft noch deutlicher. Im Dorf Pfauendorf (Pava, Páva) stammte das 1941 enthüllte Denkmal von einer örtlichen vermögenden Familie. Es wurde direkt vor dem Schulgebäude aufgestellt, mit dem offensichtlichen Ziel der Mahnung und Erziehung der Schüler59; ganz oben wurde der Turul-Vogel platziert – ein eindeutig revisionistisches Symbol der Zwischenkriegszeit60. In der Mitte des Denkmals waren die Umrisse Ungarns in den Grenzen von 1914 zu sehen, und darüber der Spruch „In Erinnerung an unsere heldenhaften Toten 1914–1918“. Unterhalb des dargestellten Großungarn stand der revisionistische Spruch „So war es – so wird es sein“. Somit lässt sich eindeutig eine Verbindung zwischen der Aufstellung des Denkmals, nämlich der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, und der aktuellen politischen Lage herstellen, denn der gerade stattfindende Zweite Welt57 Vgl. József O r s z á g z á s z l ó , S. 91–93. Die Informationen zum Text auf dem Denkmal teilt derselbe Autor in einem anderen Werk mit: Mire a falevelek lehullanak … [Bis die Blätter fallen …]. Sepsiszentgyörgy 2003, keine Seitenzählung. 58 Vielsagend ist im Übrigen auch die spätere Geschichte des Denkmals: die kommunistischen Herrscher ließen nur den Sockel stehen, das Denkmal selbst wurde entfernt, die Tafeln mit den Inschriften zerstört. 1991 setzte man eine Tafel mit den Namen der im Zweiten Weltkrieg verstorbenen Soldaten des Ortes darauf sowie eine Namensliste der Teilnehmer der 1848er Revolution. 1996 kam eine „Milleniumsplatte“ auf die Hauptseite des Denkmals (in Erinnerung an die 1100 Jahre der ungarischen Landnahme?) sowie die Liste der im Holocaust umgekommenen Einwohner des Dorfes. 1999 wurde das gesamte Denkmal renoviert. Alle Angaben nach O r s z á g z á s z l ó , S. 93; und József F a l e v e l e k , ohne Seitenzahl. 59 O r s z á g z á s z l ó , S. 87–89. 60 Vgl. hierzu Miklós Z e i d l e r : A magyar irredenta kultusz a két világháború között [Der ungarische irredentistische Kult in der Zwischenkriegszeit]. Budapest 2002, S. 17.
Gefallenengedenken und Kriegserinnerung
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krieg konnte mit dem Ziel der Wiedererrichtung Großungarns legitimiert werden. Da zudem oberhalb des dargestellten Großungarn auch das Wappen Siebenbürgens sichtbar war, kann von einer Verbindung lokaler Identitätssymbole mit Versatzstücken nationaler Rituale und Botschaften (etwa in der Form revisionistischer Losungen) gesprochen werden. Ähnliches findet sich auch in anderen Orten und an anderen Kriegsdenkmälern, die damals in Nordsiebenbürgen errichtet wurden. In Poian (Kézdiszentkereszt, auch Polyán) steht auf dem Denkmal der Spruch „In Erinnerung an unsere Rückkehr“ in Verbindung mit der „Heiligen Krone“ Ungarns und einem revisionistischen Gebet. Häufig finden sich auf den Denkmälern auch Hinweise auf die 22 Jahre der Zugehörigkeit zu Rumänien – eine Zugehörigkeit, die als „Besatzung“ und als große Ungerechtigkeit bezeichnet werden61.
Zusammenfassung Der vorliegende Aufsatz hat versucht, einen Beitrag zu einem von der Forschung bislang kaum beachteten Thema zu liefern: der Kriegserinnerung der ungarischen Minderheit Rumäniens. Der Hauptbefund des Aufsatzes lautet, dass es der Minderheit wegen ihrer politischen Lage in der Zwischenkriegszeit nicht möglich war, die eigenen Kriegserlebnisse und -traumata in adäquater Form aufzuarbeiten. Dies wird dann deutlich, wenn wir den Umgang der Minderheit mit ihren Kriegserlebnissen mit dem zeitgleich völlig andersartigen Umgang der Gesellschaft Ungarns vergleichen oder auch mit dem nach 1940, als zumindest ein Teil dieser Minderheit die Kriegsaufarbeitung unter völlig anderen Umständen bewerkstelligen konnte als vorher. Stellt man diesen zweifachen Vergleich an, wird man gewahr, dass es sich bei der Kriegserinnerung der ungarischen Minderheit in der Zwischenkriegszeit um eine vertagte Erinnerung und verschleppte Trauer handelte. Die analysierten literarischen Zeugnisse wie auch der untersuchte politische Diskurs haben gezeigt, dass vornehmlich Epiphänomene im Zentrum des Interesses standen: Die Vorgeschichte und Ursachen des Krieges oder auch die Zeiten der Kriegsgefangenschaft und das Ende des Krieges mit dem Zerfall des ungarischen Staates waren jene Phänomene, welche die Aufmerksamkeit der Siebenbürger Ungarn fesselten. Der Krieg selbst, das Morden auf den Schlachtfeldern oder auch der Alltag ebenda, wurden eher ausgeblendet und nicht thematisiert. Heldentum, Soldatentum, militärische Tugenden und Opfer für das Vaterland oder die Heimat schienen Themen zu sein, die unter den 61
O r s z á g z á s z l ó , S. 55ff.
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Umständen eines Minderheitendaseins nicht opportun oder sogar von den neuen Machthabern unerwünscht waren. Deswegen wurde die Erinnerung an den Krieg vertagt – auf spätere Zeiten, deren Kommen im Laufe der 1930er Jahre immer wahrscheinlicher wurde. Sie sind durch den Wiener Schiedsspruch tatsächlich eingetreten, und die obigen Aspekte konnten nach 1940 auch angesprochen werden. Die neuen Zeiten können jedoch auch nicht als frei angesehen werden, denn unter den Umständen des neuen Krieges, der ebenfalls einer ideologischen Fundierung bedurfte, wurde die Erinnerung an den ersten Krieg instrumentalisiert und in den Dienst der Herstellung einer neuen Kriegsgemeinschaft gestellt. Inwiefern die nach 1940 gezeigte Trauer und Aufarbeitung nunmehr eine authentische geworden war, lässt sich nach so vielen Jahren nicht mehr endgültig klären. Sie scheint aber dem inneren Bedürfnis der Minderheit eher entsprochen zu haben als die Erinnerung vor 1940 oder nach 1944, als die neuen Machthaber sich an die Auslöschung der zwischenzeitlichen Erinnerungspolitik aus dem Gedächtnis und der Topographie Siebenbürgens machten.
D I E A U F D E N E R S T E N W E LT K R I E G B E Z O G E N E N E R I N N E R U N G S K U LT U R E N B E I D E N S I E B E N B ÜR G E R S A C H S E N U N D B A N AT E R S C H WA B E N I N D E R Z W I S C H E N K R I E G S Z E I T Bernhard B ö t t c h e r
Einleitung „[…] während in Rumänien, namentlich in Siebenbürgen, unter Führung einer vortrefflichen deutschen Frau die Friedhöfe unserer Gefallenen in bester Ordnung sind und die Gräber von deutschen Schulkindern gepflegt werden.“1
Diese Zustandsbeschreibung der deutschen Gräber in Siebenbürgen bzw. der Tätigkeit der Kriegsgräberfürsorge ist nicht einem Jahresbericht besagten Volksbundes in Kassel entnommen, sondern stammt aus einer Rede vom Juli 1926 anlässlich der Einweihung einer Gedenktafel für gefallene Schüler und Lehrer in der westfälischen Provinz Paderborn. Die Schule war das altehrwürdige, ehemals jesuitische, bis heute altsprachliche Gymnasium Theodorianum. Der Redner, der langjährige Paderborner Oberbürgermeister Otto Plaßmann, ein ZentrumsPolitiker, der 1918/19 heftige Dispute mit den örtlichen Arbeiter- und Soldatenräten austrug und anschließend nicht mehr zur Wahl antrat, sprach als Vertreter der Eltern der gefallenen Schüler. Fast zweihundert Schüler waren, z. T. mit dem Notabitur versehen, allein in den ersten beiden Kriegsjahren von der Schulbank weg in den Krieg gezogen. Insgesamt 90 Schüler und Lehrer des Theodorianums waren gefallen, manche Schüler gerade erst 15 Jahre alt, manchmal mehrere Brüder, aber sämtliche Söhne einer Familie. Eine Initiative von Schülern und Ehemaligen regte in der Nachkriegszeit eine Gedenktafel an; und ein ins Leben gerufener Ehemaligen-Verein, der bis heute existiert und sehr rege ist, sammelte die Namen und das nötige Geld. Die sehr schlichte Gedenktafel, die in der Schulaula aufgestellt wurde, enthielt außer den 90 Namen lediglich – man war voller Selbstbewusstsein humanistischer Bildung – das Hektor-Zitat aus Homers’ Ilias im altgriechischen Original: 1 Staatliches Gymnasium Theodorianum zu Paderborn. Bericht über das Schuljahr 1926. Paderborn 1927, S. 45. In: Schularchiv-Jahresberichte.
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ού μάν άσπουδί γε καί άσκλειώς άπολοίμην, άλλά μέγα ρέξας τε καί έσσομένοισι πυθέσθαι. [„Nicht will ich kampflos und ruhmlos fallen; nein, Großes erst möcht´ ich wirken, wovon noch singen und sagen die spätern Geschlechter.“]
Die Reden bei der Einweihungsfeier vor hochrangigen Politikern, Bischöfen, Professoren und örtlichen Honoratioren deuteten den Tod der Schüler als nicht vergebens, sondern als höchst heldenhaft und vorbildlich, benannten es als tröstlich, dass die Toten die geistige „Verwirrung“ und den „moralischen Zusammenbruch“ (gemeint war die Revolution von 1918) nicht mehr miterleben mussten, appellierten an die nachwachsende Schülerschaft, den „Geist von 1914“, vor allem die Opferbereitschaft für das Vaterland als Vermächtnis wachzuhalten und sich so der Toten würdig zu erweisen, und thematisierten, wie angemessenes Gedenken auszusehen habe: Außer, dass die jüngsten Schüler regelmäßig diese Gedenktafel schmücken sollten und alljährlich über deutsche Schlachtensiege erzählt werden sollte, lenkte besagter Bürgermeister Plaßmann den Blick auf die Pflege deutscher Soldatengräber auf den Schlachtfeldern des Krieges: So wichtig wie das Gedenken daheim sei es, die Gräber zu pflegen, was organisatorisch der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge übernommen hatte. Plaßmann ging die jeweiligen Gegenden mit deutschen Gräbern durch und lobte dabei ausgiebig Siebenbürgen. Die Kriegerdenkmallandschaft Rumäniens war also in der Zwischenkriegszeit in der deutschen Provinz bekannt und ein Thema. Dies macht, bevor von den tatsächlichen Gegebenheiten deutscher Kriegerdenkmäler in Rumänien die Rede sein wird, bereits an dieser Stelle einige Zusammenhänge bezüglich Gedenkkultur und Weltkriegsverarbeitung deutlich: Ein großes Trauma bei den Menschen nach dem Ersten Weltkrieg stellte dar, keinen Ort der Trauer, kein Grab ihrer gefallenen Angehörigen zu haben. Dazu kam in den Gesellschaften eine allgemeine Unsicherheit, wie mit den Opfern des Krieges angemessen umgegangen werden solle, bzw. nicht zuletzt die Angst, die Toten alsbald zu vergessen; all dies trug zu einer tiefen Verunsicherung in den Nachkriegsgesellschaften bei2. Die Besonderheit des Ersten Weltkriegs prägte die sich von der Denkmalkultur des 19. Jahrhunderts unterscheidende Gedenkkultur nach 1918: Die immens hohe Zahl der Opfer und die Tatsache, daß die Toten fern der Heimat ruhten, zwangen zu neuen Formen, etwa dem „Kenotaph“, dem leeren Grab des unbekannten Soldaten, wie in vielen europäischen Hauptstädten. Bezeichnender2 Jörn L e o n h a r d : Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. München 2014, S. 980.
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weise gab es in Deutschland kein zentrales Denkmal für die Gefallenen (die politischen Unruhen und Auseinandersetzungen um die Sicht auf den Weltkrieg verhinderte einen „Denkmalkonsens“3), sondern eine Unzahl lokaler Denkmäler. Das besagte Bedürfnis, die Toten vor Ort betrauern zu können und einen Raum für die Trauer zu haben, führte dazu und damit zur, so Jörn Leonhard, Übersetzung des Krieges „in [vom Kriegsgeschehen] geographisch weit entfernten Gesellschaften in den Alltag der Nachkriegsphase“4. Kriegerdenkmäler, Totentafeln, Einweihungsfeiern usw. sind Teil von Erinnerungs- und Symbolpolitik5, also nicht nur eine Form der Verarbeitung des Krieges (Reinhart Koselleck spricht von „Sinnsuche der Überlebenden“6) – sondern darüber hinaus „eine auf kulturelle Medien gestützte Form des selektiven Rückbezugs auf Vergangenes“7. Erinnerungspolitik ist dabei ein „Bündel sozialer Praktiken“8, ja eine besondere Form symbolischer Politik: Bestimmte Akteure greifen gegenwartsbezogen auf Dinge der Vergangenheit zurück, um die eigene Gruppe zu stärken. Die vergegenwärtigte Vergangenheit enthält dabei „kollektive Integrationsangebote“9. Dabei sollte klar sein, dass Denkmäler oder stattgefundene Erinnerungspraktiken nicht bloß ein „Spiegel regionaler mentaler Tiefenstrukturen“ sind, sondern eher durch Entscheidungsstrukturen und Machtverhältnisse dominiert werden10. Die Schulen, v. a. die Gymnasien, und die Universitäten hatten in Deutschland offenbar eine herausragende Rolle bei der Erinnerungskultur und Verarbeitung des Ersten Weltkriegs inne11. Einerseits wurde rückblickend die Anzahl der Kriegsfreiwilligen und Gefallenen aus den eigenen Anstalten hervorgehoben, um damit Opferbereitschaft, die gelungene Erziehung, ja einen gewissen Statusanspruch zu belegen12. Die jüngste Generation sollte andererseits nun durch ritualisierte 3
Ebenda, S. 986. Ebenda, S. 987. 5 Arnold B a r t e t z k y : Nation – Staat – Stadt. Architektur. Denkmalpflege und visuelle Geschichtskultur vom 19. bis 21. Jahrhundert. Köln u. a. 2012, S. 8f., 189–197, 210. 6 Reinhart K o s e l l e c k : Kriegerdenkmale als Identitätsstiftung der Überlebenden. In: Identität. Hg. Odo M a r q u a r d . München 1979 (Poetik und Hermeneutik 8), S. 252–276, S. 257. 7 Jan C. J a n s e n : Erobern und Erinnern. Symbolpolitik, öffentlicher Raum und französischer Kolonialismus in Algerien 1830–1950. München 2013, S. 14. 8 Ebenda, S. 20. 9 Ebenda, S. 16. 10 Ebenda, S. 363. 11 L e o n h a r d : Büchse der Pandora, S. 989. 12 Sonja L e v s e n : Elite, Männlichkeit und Krieg. Tübinger und Cambridger Studenten 1900–1929. Göttingen 2006, S. 268. 4
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Ehrungen der Toten das Gedenken, ja das Vermächtnis, in die nächste Generation weitertragen. Das hing mit der Niederlage bzw. mit der Schwierigkeit, diese anzunehmen, zusammen: Während des Krieges wurde dem Krieg der Sinn verliehen, Deutschland zu verteidigen bzw. für Deutschlands künftige Größe und Stärke zu kämpfen. Nun, 1918 hatte das Vaterland aus dem Krieg nicht nur keinen Gewinn gezogen, sondern war im Gegenteil noch geschwächt und gedemütigt worden. Der Opfertod der Gefallenen war damit seines postulierten Sinnes beraubt, die Gefallenen konnten „nicht zur Ruhe kommen“, wie es in zahlreichen Gedenkreden hieß13. Es liege nun bei der heranwachsenden Jugend – Studenten oder Schülern –, dem Tod der Gefallenen Sinn zu verleihen, indem diejenigen, die 1914ff. nicht erlebt haben, sich vom Geist von 1914 leiten lassen und die Aufgabe zu Ende führen. Die junge Generation stehe in der „Nachfolge“, was meist indirekt einem Aufruf zu einem erneuten Kampf zur Befreiung des Vaterlandes gleichkam. Der Sinn des Todes der Gefallenen wurde somit in die Zukunft projiziert14. Und dazu brauchte man die Jugend, weshalb der Geist der als Vorbild hingestellten Gefallenen in der Jugend wachgehalten werden und eine geistige Bereitschaft und körperliche Wehrhaftigkeit (angesichts des Verbots der Wehrpflicht) anerzogen werden musste. So erklärt sich, warum Vertreter der Jugend bei Gedenkfeiern eine so große Rolle spielten und umgekehrt Kriegerdenkmäler als dauerhaftester Ausdruck der Gedenkkultur auf jede weitere Generation zu wirken hatten. Auf der Jugend ruhte die Hoffnung, die Nation in der Zukunft zu erlösen, wenn sie solch eine Hingabe an die Nation zeigte wie die Jugend 191415. Dieses „Totengedenken im Banne der Niederlage“16 nicht nur an Schulen und Universitäten in Deutschland, sondern allgemein in der Öffentlichkeit trug zuallermeist nicht zu einer Demilitarisierung der (heranwachsenden) Gesellschaft oder Verarbeitung der Niederlage im Sinne einer Annahme bei: Im Gegenteil, das Bild, künftige Kämpfer auf Abruf zu sein, war in der Weimarer Gesellschaft offenbar weit akzeptiert und diente der Milderung der empfundenen Ohnmacht. Offenbar war es unmöglich, sich angesichts der Niederlage vom Krieg zu distanzieren, ohne den Tod der Gefallenen sinnlos zu machen17. George Mosse spricht angesichts der auf Denkmälern artikulierten 13 14 15 16 17
Ebenda, S. 268. Ebenda, S. 270. Ebenda, S. 362. Ebenda, S. 279. Ebenda, 287f.
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Kriegsdeutung von einer „Verlängerung des Krieges im Frieden“18. Sonja Levsen geht so weit, dass die „Bereitschaft zu einem zukünftigen Krieg im Gefallenendiskurs angelegt [wurde]“19. Die Weltkriegsverarbeitung, nicht zuletzt hinsichtlich des Wegfalls der Monarchie, trug auch zu einer Verschiebung der Bedeutung von Nation bei: „Volk“ und „Gemeinschaft“ wurden noch stärker betont als vor und während des Krieges. Beides wurde als „Wurzel der Beständigkeit“ bzw. als seit ferner Vergangenheit älter und fester als schwankende Staatsformen betrachtet und sollte somit die aktuelle Schwächesituation relativieren bzw. überwinden helfen20. Wenn nun die heranwachsende Jugend in diesem Sinne erzogen werden sollte, sich „im Geist von 1914“ zu engagieren, sollte sie sich für den Erhalt der Nation einsetzen, nicht zuletzt für die Deutschen außerhalb der Reichsgrenzen21, was den Blick auf Siebenbürgen erklären mag. Nach den bisherigen Ausführungen, vor allem wenn man Jörn Leonhard folgt, ist die Art, den Krieg und die Toten mittels Denkmälern und Riten zu verarbeiten, gescheitert. Das Weltkriegsgedenken trug nicht zur Pazifizierung bei: Im Gegenteil, die Militarisierung und Nationalisierung durch die junge Generation wurde verlängert bzw. gesteigert. Zwar entstanden „emotionale Räume, in denen die Trauernden und der Staat in eine Beziehung traten“22, zwar versuchte der häufige Heroismus der Denkmäler, über den Schrecken und die Anonymität des Krieges triumphieren zu können, aber die Vielzahl der Denkmäler und selbst Symbole der Trauer statt des Monumentalismus verdeckten, dass viele Angehörige keinen Trost fanden.23 Für alle Versuche, der Toten zu gedenken, ist festzuhalten, dass die ganz individuelle Kriegserfahrung und Trauer über den Verlust mitnichten im offiziellen, kollektiven Gedenkkult aufging, ja dass eine Kluft zwischen der Einmaligkeit individuellen Leidens und den Erinnerungskulturen wie Denkmäler, Gedenktagen usw. die Epoche kennzeichnete24. Nicht nur gab es in der Weimarer Republik keinen integrierenden Gedenkkonsens, vielmehr trugen die Erinnerungspolitik, der Diskurs um das richtige Gedenken und die uneinheitliche „Denkmalsproduktion“ nach 1918 zur politischen Polarisierung, ja Spaltung der Weimarer Gesellschaft bei25. 18 19 20 21 22 23 24 25
George L. M o s s e : Gefallen für das Vaterland. Stuttgart 1993, S. 191. L e v s e n : Elite, Männlichkeit und Krieg, S. 288. Ebenda, S. 316. L e v s e n : Elite, Männlichkeit und Krieg, S. 313ff. L e o n h a r d : Büchse der Pandora, S. 987. Ebenda, S. 989. Ebenda, S. 981. Ebenda, S. 989.
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Denkmäler und Gedenkkultur deutscher Minderheiten in Rumänien In den osteuropäischen Staaten, v. a. in den neu entstandenen, sollte sich das Weltkriegsgedenken als noch schwieriger erweisen als im Verliererstaat Deutschland: Teilweise ging die Gewalt nach 1918 noch weiter, in den meisten Regionen waren die alten Staaten, die 1914 in den Krieg gezogen waren, nicht mehr vorhanden, und die neuen Staaten suchten nach ganz neuen Ausdrucksmöglichkeiten der Erinnerungskultur. Hinzu kamen die Minderheitenprobleme, die ja durch die Pariser Vorortverträge nicht gelöst, sondern verlagert wurden: Diese Minderheitenprobleme „übersetzten sich“, so Leonhard, in „besonders schwierige Erinnerungskulturen“; die Erinnerungen waren nicht nur politisch, religiös und ideologisch, sondern auch noch ethnisch zersplittert.26 Es verschmolzen das Totengedenken und politische Ziele. Es ist also zu fragen, ob in Ostmitteleuropa der Aspekt „Niederlage“ und alles, was damit verbunden wurde, wie Zusammenbruch bisheriger Ordnung und soziale Bedrohung, Revolution und Herrschaftswechsel, Sinnlosigkeit des Kriegstodes usw. bei den Minderheiten solche Tragweite und Auswirkung auf Nationalisierung und Revanchismus oder Radikalisierung und Militarisierung hatte, ob eine Entfremdung zwischen Bevölkerung und Staat erfolgte oder eine Versöhnung, mithin, ob das Gedenken als „gelungen“ zu bezeichnen ist. Jan Jansen hat für den Fall Algerien herausgearbeitet, wie die indigene Bevölkerung das Weltkriegsgedenken nach 1918 in der „symbolpolitischen Arena“27 dazu zu nutzen versuchte, politische Forderungen zu stellen und die Kolonialherren damit umgingen, während ja der Totenkult im Mutterland klar egalitär-nationalen Zielen diente. Sicherlich kann man weder die neuen Herren, die Titularnationen in Osteuropa, mit Kolonialherren gleichsetzen, noch die (neuen) Minderheiten mit Kolonialisierten, doch die Art und Weise, wie auf vertikaler Ebene Totengedenken genutzt und gehandhabt wurde, lässt Rückschlüsse zu und fordert den Vergleich geradezu heraus. Es wurde allein schon darum gestritten, ob die Namen aller Gefallenen „demokratisch“28 aufgelistet würden – nach Rangfolgen, Ethnien oder Religionszugehörigkeiten getrennt – oder nur die der „Herren“. Das Betonen der Anzahl der Kriegstoten spielte eine Rolle bei der Artikulation tagespolitischer oder grundsätzlicher Forderungen. Auch hier galt die Zahl der Gefallenen als Ausweis der Einsatzbereitschaft. Nicht zuletzt bei der Gestaltung der Denkmäler 26 27 28
Ebenda, S. 982. J a n s e n : Erobern und Erinnern, S. 338. Ebenda, S. 348ff.
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und der Ausrichtung der (jährlichen) Feiern war bedeutsam, wer über Form und Inhalt entschied: Die offiziellen Denkmäler zeigten zumeist nur französische Motive, Personen oder Sprüche und Stilmittel. Gab es gemeinsame Feste, dominierte die staatsoffizielle Präsenz, es wurde der französische Termin des Allerheiligentages genutzt, dabei allerdings mit der Öffnung für andere Religionen, so dass sich eine überkonfessionelle „Religion der Friedhöfe“ entwickelte29. Nach Abhaltung der katholischen Zeremonie gingen Abordnungen auf den muslimischen bzw. jüdischen Teil des Friedhofs, mithin zu „Nebenschauplätzen“ des Gedenkens, wo allerdings in weitaus bescheidenerem Rahmen die Totengedenkfeier wiederholt wurde. Die hierarchische Ordnung blieb also gewahrt. Die französischen Siedler und Behörden hatten mit Unbehagen das subversive Potential der Symbolik erkannt und versucht zu depolitisieren30: Nichtfranzösische, provozierende Denkmalsentwürfe wurden klar abgelehnt und damit verknüpfte politische Forderungen bzw. indigene Ansprüche gestoppt. Zugleich wurde beschwichtigend betont, dass ja symbolische Ehrungen aller Gefallenen – allerdings „binnendifferenziert“ – stattfänden und sogar die jeweiligen Religionen berücksichtigt würden. Zum Totengedenken in dieser ungleichen Gesellschaft lässt sich also zusammenfassen, dass ethnische Unterteilungen trotz gemeinsamer Feiern nicht verwischt wurden und damit das Weltkriegsgedenken elitären Logiken gehorchte. Die „Herren“ suchten die Vereinbarkeit dieser Ordnung mit allen gerecht werdendem Totengedenken zu belegen. Zugleich wurde klar, dass die Einbeziehung der indigenen Gefallenen „Ersatz“31 für politische Zugeständnisse war. Es wird zu prüfen sein, ob und inwiefern dies bei heterogenen Gesellschaften Ostmitteleuropas Entsprechungen hatte. Auf die in meiner Dissertation32 untersuchten Fälle – siebenbürgische bzw. Banater Dörfer und Städte – habe ich folgendes Raster angelegt: 29
Ebenda, S. 371ff. Ebenda, S. 383f. 31 Ebenda, Erobern und Erinnern, S. 384. 32 Siehe: Zwischen Nationalismus und übernationaler Identität. Kriegerdenkmäler von Minderheiten nach dem Ersten Weltkrieg am Beispiel Siebenbürgens. In: Patriotismus – Nationalbewußtsein – europäische Identität. Beiträge zu einem Gespräch in der Villa Vigoni. Mitteilungen 2004 VIII. 4. Sonderheft.Villa Vigoni/Como 2004, S. 131–150; Kriegerdenkmäler von Minderheiten und das Verhältnis zum Staat an Beispielen aus Siebenbürgen und Lettland der Zwischenkriegszeit. In: Werner M e z g e r , Michael P r o s s e r , Hans-Werner R e t t e r a t h (Hgg.): Jahrbuch für Deutsche und Osteuropäische Volkskunde 47. Marburg 2005, S. 57–82; German First World War Memorials in Transylvania. In: Robert P y n s e n t (Hg.). Central Europe 4 (2006), No. 2, November, pp. 123–130; Kontinuität des Ersten Weltkrieges im Frieden? Kriegerdenkmäler und Heldenkult bei den Siebenbürger Sachsen nach 1918. In: Der Einfluß von Faschismus und 30
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Welche Vorgeschichte, Ausgangslage, Situation? Wo steht das Denkmal (Standort)? Was zeigt und enthält das Denkmal bzw. sagt es aus (Ikonologie)? Enthält es eine Deutung der Niederlage oder der neuen Minderheitensituation? Wer initiierte oder finanzierte es (Genese)? Welche Rolle spielten Kirche, örtliche Politik, Verbände, Staat und Ausland? Gab es Gegner? Wie verlief die Einweihungsfeier? Wie gestalteten sich Riten? Gab es Umdeutungen, Zerstörungen?
Die Denkmäler der Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen Totenehrung in Temeswar In der zentralen Metropole des Banats Temeswar (Timișoara, Temesvár), gab es kein eigenes Denkmal der Banater Schwaben, allerdings ein Denkmal für sieben verunglückte reichsdeutsche Soldaten aus der Kriegszeit auf dem regulären Friedhof. Dieses 1916 durch Spenden der schwäbischen Bevölkerung Temesvars mitfinanzierte Denkmal stellt einen etwa ein Meter hohen Obelisken auf einem Sockel mit einem Adler auf der Spitze dar. Dadurch, dass der Adler die Flügel anlegte, d. h. gewissermaßen „ruhte“, ferner dass als Symbol auf der Vorderseite nur ein Lorbeerkranz angedeutet wurde sowie die schlichte Widmung „Dem Andenken […]“ besteht, kann man von einem gelassenen, keinesfalls martialisch auftrumpfenden, ja bescheidenen Denkmal für die Reichsdeutschen sprechen, das die Nichtdeutschen in der Nachkriegszeit kaum herausgefordert haben dürfte. Dieses Denkmal spielte bei dem Totenkult der Nachkriegszeit eine wichtige Rolle: Bereits 1920, am orthodoxen Himmelfahrtsfest, wurde seitens der rumänischen Staatsmacht in der Stadt ein „Tag der gefallenen Helden“ angeordnet; bei dieser Feier sollte die gesamte Bevölkerung teilnehmen. „Die braven Krieger“ seien „die Toten der ganzen Bevölkerung“, so die Ankündigung in der Temesvarer Zeitung vor der Feier33. Die Feier, beginnend auf dem Domplatz, hatte einen gemeinsamen Teil, bei dem Vertreter der Öffentlichkeit sowie der jeweiligen Konfessionen sprachen, bei der auch die rumänische Königshymne gesungen wurde, und eine Prozession stattfand. Im Anschluss an diese Prozession zogen die jeweiligen Nationalitäten zu den jeweiligen Teilen der Friedhöfe, Nationalsozialismus auf Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa. Hgg. Mariana H a u s l e i t n e r , Harald R o t h . München 2006, S. 53–72; „Treue zur Heimat und zu dem Staat, von dessen Grenzen unsere Heimat umschlossen ist“ – Doppelte Loyalität bei den Siebenbürger Sachsen. In: Staat, Loyalität und Minderheiten in Ostmitteleuropa 1918– 1941. Hgg. Peter H a s l i n g e r , Joachim v o n P u t t k a m e r . München 2007, S. 159–184. 33 Temesvarer Zeitung Nr. 80 v. 20.5.1920, S. 1.
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wo „ihre“ Toten in Gräbern ruhten, so die Deutschen Temeswars zum besagten reichsdeutschen Kriegerdenkmal. Im Anschluss an diesen Feiertag, der sich in den nächsten Jahren stets so abspielen sollte, lobte der Stadtpräfekt ausdrücklich den Verlauf und die „an den Tag gelegte Manifestation“34. Diese Art des Gedenkens – eine gemeinsame Feier, die von „oben“, von den rumänischen Behörden angeordnet und auch befolgt wurde, sowie die Separation des eigenen Gedenkens, die aber selbstverständlich geduldet wurde – ist, v. a. in ethnisch gemischten Städten und Dörfern und beim Zusammentreffen von „oben“ und lokalen Gegebenheiten, als symptomatisch für das rumänische Totengedenken, d. h. der Staatsnation und der Minderheiten, zu betrachten.
Schwäbische Kriegerdenkmäler auf dem Lande Die Situation auf dem Lande gestaltete sich etwas anders als in der ethnisch, konfessionell und sozial heterogenen Großstadt. Den allermeisten schwäbischen Dörfern gemeinsam war, dass sie ein eigenes Denkmal besaßen und dass dies nahe der römisch-katholischen Kirche oder auf dem Friedhof errichtet wurde. Die Initiative zur Errichtung kam so gut wie immer von der kirchlichen Gemeinde, d. h. vom Pfarrer, Gemeinderat oder einer dort engagierten Persönlichkeit, etwa dem Lehrer. Die Bandbreite an Formen und Gestaltungen war vielfältig, was zu zeigen sein wird. Als Gemeinsamkeit ist festzustellen, dass keine Kosten und Mühen gescheut und die Denkmäler in aller Öffentlichkeit und nicht im Verborgenen errichtet wurden. Einige waren Obelisken und Tafeln, so in Sanktandreas (Sânandrei, Szentandrás) und Freidorf (Szabadfalu). Mehrheitlich wurden jedoch, wie in Lenauheim (auch Schadat, Csatád), und Grabatz (Grabaț, Garabos), Figuren verwendet, wie eine trauernde Pietà bzw. Christus, der einen Toten im Arm hält (Abb. 3). Dies ist sehr typisch für klar katholisch geprägte Gegenden und Gruppen, wie etwa auch in Bayern oder Österreich. Außerdem gab es häufig – z. B. in Warjasch (Variaș, Varjas) und Kleinsanktpeter (Sânpetru Mic, Kisszentpéter) – Adler auf den Obelisken oder Kriegerfiguren, die auf den ersten Blick eher an reichsdeutsche, säkularisierte Kriegerdenkmäler der Zwischenkriegszeit erinnern mögen; eindeutig heroisierende, kriegsverherrlichende Denkmäler stellten aber die Ausnahme dar. Außer den aufgelisteten Namen der Gefallenen enthalten die Denkmäler Widmungen („Unseren Helden“) und Sinnstiftungen. Bei den Widmungen wurde zuallermeist „Helden“, gefolgt von „Söhnen“ verwendet. Als Sinnstiftung ist – bis heute 34
Temesvarer Zeitung Nr. 81 v. 22.5.1920, S. 2f.
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noch – sehr häufig zu lesen: „Zur Erinnerung“, „Andenken“, „Dank“ und „Ehrung“. In nicht wenigen Fällen wurde – außer einem eher endogenen „Für uns“ – das uns aus klassischen Nationalstaaten bekannte „Sie fielen fürs Vaterland“ verwendet. Dabei ist auffällig, dass nirgends – weder bei Einweihungsreden, Gedenkfeiern oder in den Akten, die die Errichtung dokumentieren, oder als Erläuterung auf den Denkmälern selbst – genau gesagt wurde, was mit „Vaterland“ gemeint war – Österreich-Ungarn, Rumänien, Deutschland oder das Banat? Das Adjektiv „deutsch“ etwa taucht – anders als z. B. in Siebenbürgen oder in anderen Regionen mit deutscher Minderheit – kaum auf35. Eine Verbindung und Erklärung mag der Begriff „Heimat“ geben, der bei besagten Reden, Einweihungen, Veranstaltungen usw. regelmäßig verwendet wird. Das Vaterland, für das die Gefallenen in dieser nachträglichen Sinndeutung der Denkmalserrichter ausgezogen und gestorben waren, war die konkrete Heimat, das Dorf, die Gemeinschaft – sie fielen „für uns“. Die „Heimat“ widmete „ihren Söhnen“ die Erinnerungsmale daher als „Dank“. Hochinteressant ist außerdem als singuläres Phänomen bei den Untersuchungen im ostmitteleuropäischen Raum zu verzeichnen, dass mitunter nicht nur eine lateinische, quasi neutrale Fassung „Pro Patria“ verwendet wurde, sondern nicht selten die rumänische Version „Pentru Patrie“, manchmal kombiniert, z. B. in Mercydorf (Carani, Mercyfalva) mit „Pentru eternizarea eroilor“ (Zur Verewigung der Helden (Abb. 2). Nicht wenige Denkmäler waren zweisprachig, so die neben der Kirche in Lowrin (Lovrin) errichtete Gedenkkapelle, über deren Eingang übereinander die Inschrift „Onorați eroii voștri – Ehret eure Helden“ deutlich zu lesen ist. Aus den schriftlichen Dokumenten der Zeit geht nirgends hervor, was den Anlass – etwa staatlicher Zwang, besondere Loyalitätsgefühle dieser Gemeinde zu den Rumänen, finanzielle Anregungen – zu dieser Zweisprachigkeit gegeben haben könnte. Innerschwäbische Debatten diesbezüglich sind auch nirgends zu finden. Dazu passt, dass viele Denkmäler, oft gerade die mit zusätzlicher rumänischer Inschrift, den gängigen Denkmälern der Rumänen ähnelten: Der Adler auf dem typischen Obelisken breitet die Flügel ähnlich dem rumänischen Wappenvogel aus und hat, wie bei den rumänischen Denkmälern, entweder eine Schlange oder ein Kreuz (immerhin kein orthodoxes) im Schnabel.
35 Beispielhaft dafür sei der Spruch auf dem Denkmal in Deutschbetschkerek zitiert: „Da mit der Banater Erde / Deutsche Treue Euch verband, / Ruht Ihr fern dem Heimatherde, / Starbet für das Vaterland.“
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Nennenswert und für die Aufwendigkeit der Gestaltung bezeichnend sind Kombinationen verschiedener Gestaltungsmotive. Das Kriegerdenkmal in Warjasch enthält besagten Adler, dazu kommen auf dem Obelisken aber noch diverse Reliefs mit Figurengruppen: trauernde Alte, eine Witwe mit Waisenkindern, eine ihren Mann empfangende Familie oder eine Gruppe von Soldaten, von denen einige sterben. Dieses Denkmal bündelt die je unterschiedlichen Formen der Erinnerung an den Krieg, an den Kriegstod, aber auch an die Rückkehr bzw. die verschiedenen Perspektiven der Teilnehmer, der Angehörigen und Überlebenden. Eine weitere aussagekräftige Kombination stellt das Denkmal in Gertianosch (Cărpiniș, Gyertyámos) dar, das eine größere Anlage auf dem kirchlichen Friedhof bildet (Abb. 1). Das 1925 errichtete Denkmal steht auf einem Hügel, der durch freiwillige Arbeit der Ortsbevölkerung errichtet wurde. Der Hügel ist terrassenförmig angelegt, und auf den einzelnen Terrassen sind kleine Grabsteine errichtet, auf denen die Namen der Gefallenen stehen. Das Denkmal selbst besteht (wie häufig) aus einer viereckigen Säule, auf der die Widmungstafeln angebracht sind, und auf der ein lebensgroßer Soldat in trauernder Pose, den Helm und das Gewehr in der Hand, steht. Das Besondere dieser Anlage war, dass die Einwohner von Gertianosch fast „authentische“ Orte für ihre persönliche Trauer hatten. Die Angehörigen konnten nun am jeweiligen Grab um ihren jeweiligen Toten trauern, als wäre er nicht „fern der Heimat“, wie es sonst auf so vielen Denkmälern stand und in Reden und Predigten thematisiert wurde, sondern daheim. Doch es handelt sich hierbei nicht um bloße Privatgrabsteine, sondern um eine Gesamtanlage der Ortsgemeinschaft. Die Anlage wirkt trotz der Soldatenfigur und obwohl sie von den Einheimischen als „Kriegerhain“ bezeichnet wurde36, nicht unbedingt martialisch-kriegsverherrlichend. Dies wird zum einen durch die unheroisch, eher demütige und schlicht trauernde Haltung des Soldaten ausgedrückt, zum anderen durch die Inschrift, die das Denkmal den „brave[n] Brüder[n] und Mitbürger[n]“ widmete und nicht den „Helden“.
Ritualisierung, weitere Feiern und Entwicklung bis zum Zweiten Weltkrieg Nicht nur die Errichtung, sondern auch die Gestaltung der Feiern zur Einweihung sowie der ritualisierten, jährlichen Gedenkfeiern waren fest in der Hand der römisch-katholischen Kirche. Meist waren es kirch36 Gertianosch 1785–1985. Wie es einmal war. Hg. Heimatortsgemeinschaft Gertianosch. Donauwörth 1985, S. 70f.
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liche Feiertage (Himmelfahrt, Pfingsten, Allerheiligen/Allerseelen), an denen im Rahmen einer Totenmesse die Denkmäler eingeweiht wurden. Manche Einweihungsfeier, so in Orzydorf (Ortișoara, Orczyfalva) 1927, wurde in Anwesenheit des hochpopulären Schwabenbischofs Augustin Pacha veranstaltet. Auch nachdem ein Denkmal errichtet worden war, war es nicht bloß steingewordene Erinnerung und Trauer, die ad acta gelegt wurde, sondern Bestandteil des kirchlichen Lebens. Denkmäler, die von den Kirchen etwas entfernt (z. B. auf Friedhöfen) aufgestellt worden waren, wurden bei Prozessionen als eine Station genutzt. Den Hauptschwerpunkt dieses jährlich wiederkehrenden, kirchlichen Ritus bildete das Totengedenken an Allerheiligen bzw. Allerseelen, wenn aller Toten gedacht wurde, und die im Weltkrieg Gefallenen erhielten im Zuge dessen ihren Platz in der Memorialkultur. Ähnlich kirchlich ritualisiert war der staatlicherseits angeordnete Heldengedenktag zu Christi Himmelfahrt. Die Schwaben hatten an diesem nationalen wie religiösen Gedenktag „ihre“ Toten, derer sie offiziell gedenken konnten. Der Rahmen war bewusst und ausschließlich ein kirchlicher, auch wenn die Rede – wie bei den Einweihungsfeiern – von „unseren Helden“, „gefallen für uns“, „unsere Heimat“ war. Einen besonderen Fall in dem Feiertagskalender in Rumänien bzw. der Banater Schwaben stellen die Ansiedlungsfeiern seit Anfang/Mitte der 1920er Jahre dar, die an die Besiedlung nach den Türkenkriegen zu Beginn des 18. Jahrhunderts erinnern sollten und deren Ausgangspunkt die groß angelegte Feier 1923 in Temeswar war. Grundtenor bei den offiziellen Ansprachen und Vorankündigungen war, dass die Schwaben sich damals wie heute – also auch im rumänischen Staat nach 1918 – durch Pflichtbewusstsein, Fleiß und Loyalität zur (jeweiligen) Obrigkeit ausgezeichnet hätten und noch auszeichnen. Dieses Motiv zog sich bei den weiteren Feiern in den jeweiligen schwäbischen Ortsgemeinden durch und verband sich dabei auf prägnante Weise mit den Kriegstoten bzw. dem Heldengedenken. Dies belegt z. B. die Ansiedlungsfeier in Bogarosch (Bălgaruș, Bogáros) im August 1924, indem die Gemeinde eigens für die Jubiläumsfeier (zeitgleich mit dem zehnten Jahrestag des Kriegsbeginns) ein Kriegerdenkmal zu errichten gedachte: „Damit unser Fest ein vollkommenes sei, wird bei dieser Gedenkfeier das Andenken unserer im Weltkriege gefallenen, gestorbenen und vermissten Brüder durch ein Denkmal verewigt werden.“37 Die Helden, die im August 1914 dem „Ruf des Vaterlandes in Pflichtbewusstsein“ gefolgt waren, setzten die Traditionslinie der pflichtbewussten Schwaben der mühsamen Ansiedlungszeit fort. Das 37
Temesvarer Zeitung Nr. 168 v. 29.7.1924, S. 4.
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Gedenken an sie fiel mit dem Gedenken an die Ahnen des 18. Jahrhunderts zusammen. Dem Krieg wurde der Sinn gegeben, sich „für die Heimat“, „für die Väterscholle“ eingesetzt zu haben, mit der letzten Konsequenz des Heldentodes. Bei den Jubiläumsfeiern, auch bei denjenigen, die sich in den 1930er Jahren ereigneten, wurde zwar auf deutsche bzw. schwäbische Tugenden rekurriert, doch an keiner Stelle Antirumänisches artikuliert: Im Gegenteil, die rumänische Königshymne und das Ausbringen eines Toasts auf den König38 gehörten zum Rahmenprogramm wie die Kranzniederlegung und das Absingen des Liedes „Ich hatt’ einen Kameraden“, so in Alexanderhausen 1933. Dies stellte offenbar kein Problem dar, wenn zugleich bei den Ansprachen davon die Rede war, dass die Toten zur Verteidigung der Heimat im Endeffekt auch gegen die damaligen rumänischen Soldaten gekämpft hatten und gefallen waren. Im Verlauf der 1930er Jahre ist allerdings festzustellen, dass neue Denkmäler nicht mehr in unmittelbarer Nähe der Kirche errichtet wurden und dass das überwiegend religiös-kirchliche Formen-, Sprach- und Deutungsarsenal begann, von germanisch-heldischen Denkmaltypen abgelöst zu werden. Die Kirche ging bei den ritualisierten Feiern und Einweihungen neuer Denkmäler allerdings ihrer Präsenz, ja letztendlich Deutungshoheit nie völlig verlustig. Bestehende Denkmäler konnten auch Kulisse für nationale Veranstaltungen sein, etwa der „Gautag der Deutschen Volkspartei“ 1936 in Lowrin. Allerdings schlossen sich bei dieser Feier mit 1.500 Teilnehmern Deutsche aus ganz Rumänien und in Anwesenheit von überregional bekannten Politikern wie Rudolf Brandsch Blut-und-Boden-Rhetorik, Sieg-HeilRufe und die rumänische Königshymne nicht aus39.
Reaktion der Rumänen Zur naheliegenden Frage, wie die rumänische Seite auf diese Art des Weltkriegs- und Totengedenkens, der Sinngebung und kirchlichen wie politischen Sinnstiftung reagierte, lässt sich sagen, dass bereits bei der genannten ersten Weltkriegsgedenkfeier in Temeswar der rumänische Staat ein großes Maß an Duldung für die jeweiligen konfessionellen und ethnischen Gruppen des Banats gezeigt hatte, was für die nächsten Jahre bestimmend bleiben sollte. In den Dörfern und im weiteren Verlauf der Jahre war es üblich, dass die Erlaubnis zur Errichtung der Denkmäler beim Präfekten in Temeswar erbeten wurde und, zumindest 38 39
Temesvarer Zeitung Nr. 126 v. 7.6.1933, S. 4. Temesvarer Zeitung Nr. 245 v. 27.10.1936, S. 4f.
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der Aktenlage nach, nirgends abschlägig beurteilt wurde40, ferner dass die offizielle Seite der Rumänen (ein Vertreter des Staates) ja meist bei den Einweihungen dabei war und Adressat der Huldigungen an den rumänischen König war. Wichtig war, wenn die Denkmäler auf zentralen Plätzen errichtet wurden, dass diese spätestens dann in „parcul unirii“ zu benennen waren41 und somit an die Angliederung des Banats an Rumänien erinnerten. Ebenfalls wirkte es sich zur Zufriedenheit der rumänischen Seite aus, dass die Totengedenkfeiern am offiziell angeordneten, rumänischen Heldengedenktag vollzogen wurden42.
Zwischenfazit Fasst man die Ergebnisse für die Denkmäler der Banater Schwaben zusammen, so kann man Folgendes sagen: Die Kriegerdenkmäler waren überwiegend kirchlich initiiert und religiös geprägt. Statt politischer Aussagen stand religiöser Trost im Vordergrund. Die Denkmäler halfen den Mitgliedern der Dorfgemeinschaft ganz konkret, ihre Toten zu betrauern. Die Toten wurden dabei als „Helden“ aufgewertet, die „für die Heimat“ gestorben waren. Diese Begriffe – „Helden“ und „Heimat“ – wiederum richteten sich nicht gegen die vormaligen Gegner der Kriegszeit bzw. gegen „Nichtdeutsche“, also hier die Rumänen: Im Gegenteil, die Denkmäler enthielten gar rumänische Zweitwidmungen, die Loyalität zum neuen Staat bzw. Königshaus wurde nicht vernachlässigt. Ein wichtiger Grund war, dass die Kirche, die sich mit der neuen Situation arrangiert hatte, den Totenkult verwaltete. „Für die Heimat“ wurde oft auch gelesen als „für uns“. Das lässt die These aufstellen, dass die Denkmäler nicht der Außenabgrenzung – gegen die Sieger, gegen die neuen Herren, gegen das System von Trianon – dienten, sondern nach innen, auf die Dorfgemeinschaft hin gerichtet waren: Die Toten starben für die Heimat, und diese möge sich ihrer würdig erweisen. Die den Erinnerungskult leitende Kirche half also mittels der Denkmäler, ein schwäbisches Lokal- bzw. Regionalgefühl zu stärken. Ebenso wie die gelungene Verarbeitung des Krieges haben dies auch die Ansiedlungsfeiern gezeigt, bei denen die Kriegerdenkmäler und das Totengedenken eine Rolle spielten: Die Gefallenen des Krieges standen nun in einer Reihe mit den zu verehrenden Ahnen der 40 Staatsarchiv Timișoara. Fond Prefectura jud. Tim.-Torontal 63/1937, p. 30. In diesem Fall der röm.-kath. Pfarrer von Dolatz im Jahr 1937. 41 Staatsarchiv Timișoara. Fond Prefectura jud. Tim.-Torontal 50/1921, p. 64. 42 Staatsarchiv Timișoara. Fond Prefectura jud. Tim.-Torontal 50/1920, p. 22f.
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Ansiedlungszeit. Sie waren nunmehr historisiert, rückten gemäß Jan Assmann vom „heißen“ ins „kalte“ Gedächtnis, von der kommunikativen in die kulturelle Erinnerung. Die Kriegsverarbeitung mag – zumindest offiziell – als geglückt zu betrachten sein. Appell, Lerneffekt und Handlungsauftrag waren auch hier nach innen gerichtet: Die Zeitgenossen der schwäbischen Gemeinschaft sollten sich der Ahnen (inklusive der Weltkriegstoten) würdig erweisen und dabei nicht zuletzt staatstreu handeln. Ein gewichtiger Grund für die an den Denkmälern artikulierte Loyalität zum neuen Staat und das Sich-Abfinden mit der Nachkriegssituation mag nicht nur bei den Schwaben an der vornationalen, kirchlich geprägten Gruppeneinstellung gelegen haben bzw. am traditionellen Auskommen mit den Nachbarn sowie dem Bewusstsein, ohnehin keine Alternative zu haben, was jeglichen Revanchismus ausschloss. Der zweite wichtige Erklärungsgrund ist, dass die offizielle rumänische Seite die Denkmäler offenbar problemlos zuließ und darüber hinaus gar eine Art Versöhnungsangebot an die nichtrumänischen Bevölkerungsgruppen machte: Die Formulierung „Alle waren Helden“ (was gewiss auch an die Rumänen in der k. u. k. Armee gerichtet war) mag eine ungeheuer starke Geste gewesen sein, die den Nichtrumänen half, eine eigene Nische des Selbstwertgefühls und der positiven Identität einzurichten, die nicht das Fundament des rumänischen Staates untergrub. Die Kriegerdenkmäler der Schwaben gaben der Nachkriegsgesellschaft also Halt und Orientierung, v. a. im religiösen Sinne. Man kann es einen Rückzug auf regionale bzw. lokale Bezüge nennen, wenn im Zusammenhang mit der Kriegsverarbeitung von „Heimat“ gesprochen wurde. Die Rumänen beförderten durch ihre Duldung des schwäbischen Eigenbewusstseins den „Abschied von Ungarn“ und die Eingliederung in das neue Rumänien, die Schwaben nahmen das Integrationsangebot („Alle waren Helden“, rumänische Inschriften auf den Denkmälern, Treue zum Staat) an und fügten sich mit ihrem Totenkult in den gesamtrumänischen ein (gemeinsamer Feiertag), ohne darin aufzugehen.
Vergleich mit Siebenbürgen: Das Fallbeispiel Kerz Bei den Siebenbürger Sachsen kamen zwei Typen von Kriegerdenkmälern vor: Den ersten Typus stellten, vergleichbar mit dem Banat, Gedenktafeln für die Gefallenen aus der Gemeinde in oder an Kirchen oder Denkmäler vor den Kirchen oder auf den Friedhöfen dar. Auffallend im Vergleich zum Banat ist, dass die sächsischen Denkmäler
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deutlich schlichter waren, aus konfessionellen Gründen Pietà-Motive fehlten und viel mehr biblische Zitate verwendet wurden. Allerdings wurden Symbole wie das Eiserne Kreuz oder vergleichbare Rhetorik verwendet, aber ohne die Rumänen direkt anzureden. Rumänische Übersetzungen oder Inschriften fehlten auf sächsischen Denkmälern völlig. So auch in der 1.000 Einwohner starken sächsischen Gemeinde Kerz (Cârța, Kerc, zwischen Hermannstadt/Sibiu/Nagyszeben und Fogarasch/Făgăraș/Fogaras), wo die evangelische Gemeinde 1923/24 ihren Weltkriegstoten ein Denkmal errichtete43. Das Denkmal wurde innerhalb der Kerzer Abteiruine, und zwar an der inneren Nordwand, errichtet, also im unüberdachten Vorraum der eigentlichen Kirche, durch den jeder Kirchenbesucher hindurchzugehen hat (Abb. 4). Auf einen Sockel, der aus Steinen des Klostergebäudes zusammengestellt ist, wurde ein Steinblock mit den eingravierten Namen der Gefallenen gesetzt. Auf der Seite, die dem Weg zur Kirchentür zugewandt ist, steht die Inschrift: „Sie gingen zu sterben, um zu erwerben / Freiheit und Ehren, den Feind zu wehren. / Sie sind gefallen und geben uns allen / zu danken, zu denken, in Gott zu versenken. / Dem Andenken der Kriegstoten: ihre Sachsengemeinde Kerz 1924“. Der Krieg, in den die Söhne der Gemeinde gezogen waren, wurde somit als Verteidigungskrieg gesehen; andererseits wird gemahnt, nachzudenken und Trost bei Gott zu suchen. Direkt an der Wand wurden eine Bank und davor ein Tisch aufgestellt, ebenfalls aus Materialien der Abteiruine. Darüber wurde eine Tafel mit dem Spruch „Sei getreu!“ angebracht. Welche Treue gemeint war, bleibt offen. Am wahrscheinlichsten ist, dass dies ein verkürztes Zitat des sehr häufig verwendeten Jesus-Ausspruchs „Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben“ ist. Diese Denkmalanlage der Gemeinde, die man in ihrer Schlichtheit, in ihrem religiösen Grundgehalt sowie in der Lokalbezogenheit (ortstypisches Material, Ort innerhalb der Mauern, Schwerpunkt auf den Toten der Gemeinde) als typisch für die Sachsen bewerten kann, wurde am 15. Juli 1924 durch den Sachsenbischof Teutsch feierlich eingeweiht44. Die zweite Art der Kriegerdenkmäler auf siebenbürgischem Boden geht auf die Tatsache zurück, dass die Region der Südkarpaten Kriegsschauplatz war und zahlreiche reichsdeutsche Gefallene zu bestatten bzw. dann ihre Gräber zu versorgen waren. Dies nahm und nimmt seit 1919 der in Kassel beheimatete Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge als Aufgabe wahr. Für Siebenbürgen kam die Besonderheit hin43 44
Gemeindearchiv Cârța. Geschäftsakten Z. 63/1923. Georg Z e l l : Kerz und die Kerzer Abtei. München 1997, S. 178.
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zu, dass es aus Kriegszeiten eine von der Hermannstädterin Auguste Schnell gegründete sächsische Kriegsgräberfürsorge gab, die sich nach Kriegsende und der Integration Siebenbürgens in Rumänien als Zweig der Rumänischen Kriegsgräberfürsorge (Cultul Eroilor) behaupten konnte. Auguste Schnell sorgte für die reichsdeutschen Gräber, unterhielt zahlreiche Kontakte, trieb Gelder und andere Unterstützung aus Deutschland ein und partizipierte zugleich am offiziellen rumänischen Totenkult – etwa dem rumänischen Heldengedenktag. Die dabei höchst effektive wie auch für das sächsische Selbstbewusstsein bezeichnende Methode war, dass die sächsische Kriegsgräberfürsorge anfallende reichsdeutsche Gräber auf sächsische Gemeindefriedhöfe umbettete bzw. von nahe gelegenen sächsischen Gemeinden pflegen ließen, sog. Friedhofspatenschaften. Die Rumänen waren bei Einweihungsfeiern eingeladen und wenigstens bei der Planung eingebunden. In der Korrespondenz an verantwortliche rumänische Stellen schrieb Auguste Schnell dann: „Steht doch unsere ganze Arbeit hierbei im Dienste des Größten, was Menschenherzen bewegt: der heiligen Dankbarkeit für Pflichterfüllung bis in den Tod und der Hebung des Ansehens unseres wunderschönen Vaterlandes!“45 Jede Seite kümmerte sich um ihre Toten, wobei vielsagend ist, dass die Rumänen die reichsdeutschen mit den sächsischen Toten in eins setzten. Für die Sachsen bedeutete dies, dass die reichsdeutschen Gräber auf ihren Gemeindefriedhöfen wie die Gräber eigener Gefallener gepflegt und betrachtet wurden, ja, in der Rhetorik Frau Schnells, „an Sohnes statt“ angenommen wurden, da beide „Brüder eines Stammes“ seien. Dies wird in der Errichtung der Denkmalskombination in Kerz höchst anschaulich, als 1928 knapp 90 reichsdeutsche Gefallene exhumiert und in die Abteiruine Kerz, an die innere Südwand gegenüber dem bestehenden Gemeindedenkmal, umgebettet wurden (an der Wand wurde ein noch aus der Kriegszeit stammendes Standbild eines Roland als Zeichen „deutscher Treue“ aufgestellt). Zu beiden Seiten wurden Tafeln mit Sprüchen angebracht, auf der einen das Jesaja-Zitat „Das Gras verdorrt, die Blume welkt, / aber das Wort Gottes bleibt ewig bestehen“, auf der anderen ein Zitat von Ernst Moritz Arndt „Euer Gedächtnis ist heilig beim Volke. / Wir beten an der Stätte, wo ihr fürs Vaterland fielet“. Während das Gemeindedenkmal von der Gemeinde Kerz geschaffen und auch bezahlt worden war, oblag der Soldatenfriedhof samt Rolandstatue und Spruchtafeln der Kriegsgräberfürsorge. Beide unterschiedlichen Denkmäler verwuchsen zu einem, die dort ruhenden reichsdeutschen Soldaten „ersetzten“ die gefallenen 45
Staatsarchiv Sibiu, Inv. 245, Nr. 145, S. 90.
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Kerzer, die nicht in ihrer Heimatgemeinde bestattet waren. Frau Schnell sprach schon vor der Fertigstellung davon, dass die Anlage nicht nur ein „Symbol der Christlichkeit“, sondern auch ein „Zeugnis deutscher Kultur und Treue“ sei. Sie besaß also die besten Voraussetzungen, zu einer deutschnationalen Stätte zu werden, die die kulturhistorische Verbundenheit und Waffenbrüderschaft der Sachsen und Reichsdeutschen versinnbildlichte, und die dabei durch die Klostermauern vor fremden Blicken geschützt war. Dass sich die Angelegenheit vielschichtiger entwickelte, belegt schon die Einweihungsfeier vom 30. September 1928, zu der außer dem Sachsenbischof Teutsch, der das Denkmal nach dem Gottesdienst weihte, und Frau Schnell als Repräsentantin der sächsischen Kriegsgräberfürsorge Vertreter der reichsdeutschen und der rumänischen Kriegsgräberfürsorge sowie der deutsche Konsul aus Kronstadt (Brașov, Brassó) eingeladen waren. Während Bischof Teutsch den Kriegstod als Mahnung für das Leben, für die Lebenden, ebenso tapfer zu sein und Mattheit und Kleinmut abzulegen und in Treue zu sich selbst und die Gesamtheit zu arbeiten interpretierte46, deutete Auguste Schnell die Anlage in der jahrhundertealten Abteiruine als konsequente Fortführung der sächsischen Tradition, Art und gar Mission und appellierte, das Heldentum der Gefallenen zu ehren. Das Denkmal und die Gräber innerhalb der Ruine lehrten, „daß schon vor 800 Jahren ein an Zahl geringes, aber arbeitshartes, ordnungsgewohntes und vor allem opferwilliges Geschlecht seiner Umgebung den Stempel seines Wesens aufgedrückt und die inmitten der Wildnis geschaffene Kultur trotz Sturm und Drang und Not und Tod, die ihm überreichlich zugemessen waren, all die Jahrhunderte hindurch gewahrt und gemehrt hat in treuer Pflichterfüllung gegen sich selbst, seinen Gott, sein Volk und sein Vaterland!“47 Die Vertreter der rumänischen Kriegsgräberfürsorge erinnerten an die Kämpfe 1916, an die damalige beiderseitige Tapferkeit der Deutschen und Rumänen. Für den Soldaten, so Oberst Visan, sei der „Heldentod bei Freund und Feind als die letzte Konsequenz höchster militärischer Tugend und treuester Pflichterfüllung“ zu sehen; aus diesem Grunde beuge er sich vor den Toten. Major Popescu aus Bukarest drückte aus, wie sehr es ihn mit Freude erfülle, dass die Bewilligung, die das Bukarester Zentralkomitee erteilt hatte, „auf so fruchtbaren Bo46 „Seit alten Tagen steht als Aufgabe hier vor uns, in Treue gegen sich selbst die deutsche Art zu wahren, die Du, o Herr, uns als Gabe übergeben hast, sie zu bewähren in ernster Arbeit für uns und jene, die mit uns den Boden teilen, und in freudiger Hingabe unser Bestes für Volk und Vaterland zu geben.“ Kirchliche Blätter 40/1928 v. 4.10.1928, S. 409. 47 Ebenda.
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den gefallen“ sei und „ein so schönes Werk geschaffen“ habe. Auch er halte es für die „schönste Menschenpflicht, die letzte Ruhestätte derer, die für ihr Vaterland gestorben seien, in Ehren zu halten und zu pflegen“. Weiter betonte er, dass der Tod alle Gegensätze tilge, und „wie sehr die rumänische Armee heute ihrer heldenmütigen deutschen Gegner aus dem Kriege gedenke“48. Die beiden Redner, die auf Rumänisch sprachen, drückten die Gemeinsamkeit deutscher und rumänischer Totenehrung aus: Die Soldaten auf beiden Seiten der Front seien heldenhaft und tapfer gewesen und ehrenhaft für ihr Vaterland gefallen. Bischof Teutsch hielt beim anschließenden Festessen eine Tischrede, bei der er ein „Hoch“ auf den rumänischen König Michael ausbrachte und ausführte, dass die Lehren des Weltkrieges verdeutlichten, dass die Menschen sich „nicht bekriegen, sondern einander verstehen und in edlem Wettbewerb miteinander wetteifern“ sollten. Der deutsche Konsul sagte, er hoffe ebenfalls, dass „ihr Tod nicht vergebens sei, daß ein Völkerfrühling die Menschen versöhnen werde“. Die Einweihung der Anlage verdeutlicht mehrerlei: Zum einen die Duldung der rumänischen Seite, überhaupt solch eine Art von Denkmälern mit bewusst deutschem Formenrepertoire und der Präsenz reichsdeutscher Stellen zuzulassen, denn bei solchen Denkmalskombinationen handelte es sich nicht mehr um kircheninterne Gemeindegräber. Bei der Feier erhielt jede Seite das Wort und hatte neben der eigenen Positionierung auf die jeweils andere Seite Rücksicht zu nehmen. Frau Schnell hielt sich angesichts ihrer ansonsten deutschnationalen Einstellung zurück, auch wenn man sich zu ihren kulturhierarchischen Wendungen („Kultur in die Wildnis bringen“) seinen Teil denken konnte und sie außer dem Dank an die rumänische Kriegsgräberfürsorge für die Bewilligung keine positive Stellungnahme zum damaligen Staat ausdrückte. Die Formulierungen des Bischofs, der doch deutlich von eigener „Arterhaltung“ sprach, enthielten Wendungen wie „Pflichterfüllung“, „Heimattreue“, „Einsatz für das Ganze“, die auch für die Rumänen versteh- und akzeptierbar waren. Das verbindende Scharnier war der Appell an den Einsatz für das Ganze, für den Staat, auch für diejenigen, die den Boden mit den Sachsen teilten, d. h. auch für die Rumänen. Die reichsdeutsche Seite verhielt sich sehr zurückhaltend, die Wendung „Pflichterfüllung“ trat keinem zu nahe, diente als Erklärungsgrund dafür, weshalb überhaupt deutsche Soldaten in den Karpaten standen, und wurde auch den rumänischen Soldaten nicht abgesprochen. Die rumänischen Redner machten deutlich, dass alle Soldaten des Weltkriegs auf beiden Seiten der Front tapfere Helden 48
Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Mitteilungen 12 v. 12.1928, S. 188.
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waren, was über die sächsische Deutung von Heldentum und Pflichterfüllung hinausgeht, denn die Formulierungen rumänischerseits, dass nicht nur der Tod alle gleich mache und alle Helden seien, sondern dass beide Kriegsparteien, Deutsche und Rumänen, gemeinsam, friedlich und fast freundschaftlich die Gefallenen ehrten, zog unter die Frontstellung des Krieges gewissermaßen einen Schlussstrich. Auch durch das Hoch auf den rumänischen König als Herr über Siebenbürgen wurde zudem der gegenwärtige Zustand bzw. das Ergebnis des Krieges als gegeben bestimmt. Zugleich machte die rumänische Seite freundlich, aber bestimmt deutlich, dass es von ihrem Einverständnis abhänge, dass überhaupt solch ein Denkmal und solch eine Gedenkveranstaltung möglich sei. Auf die Sachsen (Bischof Teutsch, die sächsische Kriegsgräberfürsorge, die sächsischen Gefallenen und die sächsisch-deutsche Brüderschaft) wurde interessanterweise gar kein Bezug genommen: Die Rumänen suchten zum einen offenbar eher das gute Einvernehmen mit dem Deutschen Reich, zum anderen sahen sie die sächsischen Formulierungen von „Pflichterfüllung“ und Loyalität als so selbstverständlich an wie die Tatsache, dass die sächsische Kriegsgräberfürsorge bloß ein Zweig der rumänischen war. Das verbindende Grundelement, das den Sachsen all dies ermöglichte, und zwar auf solch eine Art, revanchistische Spitzen getrost wegzulassen, bestand in der religiös versöhnenden Sprache „Im Tode sind alle gleich“ und der Tatsache, dass Rumänen die gefallenen Sachsen und Deutschen als Helden anerkannten („alle waren tapfer“), da sie treu für ihre (jeweilige) Heimat gekämpft hatten. Dies führte bei den Rumänen zu der politischen Schlussfolgerung, dass bei den Sachsen auch künftig Treue zu erwarten sei. Wenn vor allem durch die Vertreter der sächsischen Kriegsgräberfürsorge die „deutsche Art“ oder die Kriegskameradschaft mit Deutschland betont wurde, war dies eine nationale Selbstbehauptung und eine politische Manifestation nach innen, wonach man als Volksgruppe nicht vergessen dürfe, wer man sei und woher man komme. Das „Heranrücken“ an Deutschland sollte Selbstvergewisserung liefern, aber nicht Rumänien kritisieren. Die Kriegerdenkmäler der Sachsen waren nicht primär zur Integration in den neuen Staat Rumänien errichtet worden, aber auch nicht in nationalistischer, revanchistischer Opposition gegen Rumänien. Sie dienten dem Versuch der Kriegsverarbeitung, der Suche und der Selbstfindung.
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Vergleich mit dem Banat Vergleicht man das Banat mit Siebenbürgen, fällt leicht ins Auge, dass bei beiden (mit konfessioneller Unterscheidung!) der Totenkult deutlich kirchlich geprägt war, es kein zentrales Denkmal gab, sondern der Totenkult lokale Bezüge aufwies. Die gemeinsam zelebrierte und ritualisierte Trauer half, die dörfliche Gemeinschaft zu stärken. Dass in beiden Fällen so oft von „Heimat“ die Rede war, lässt auf das Bedürfnis schließen, nicht nur dem Krieg und dem Kriegstod Sinn zu verleihen, sondern auch die neue Situation zu erörtern und sich selbst zu verorten. Das spiegelt sich in der vielsagenden und vielschichtigen Verwendung von „Heimat“, „für uns“ usw. wider. Die religiöse Deutung lieferte den Rahmen für Denkmalsgestaltung und Weltkriegsdeutung, selbst wenn sich nichtkirchliche Deutungen entwickelten. Innerhalb dieses Rahmens spielten sich auch die Vorsichtsmaßnahmen und Kompromisse gegenüber der neuen Titularnation bzw. dem Siegerstaat ab, wobei das Verhältnis zu den konkreten rumänischen Nachbarn wohl als unbelastet und das Miteinander als eingeübt und traditionell gelten kann. Die artikulierte Loyalität gegenüber dem neuen Staat lässt sich in beiden Fällen durch den wegfallenden Magyarisierungsdruck der Vorkriegszeit erklären, aber auch durch die Vorgangsweise des rumänischen Staates. Die Deutschen im Banat und in Siebenbürgen nutzten die ihnen ermöglichten Freiräume und pflegten ihr Eigenbewusstsein, während sie im Gegenzug auf Revanchismus verzichteten. Dieses Integrationsangebot fiel Rumänien leichter als anderen „Siegerstaaten“ nach 1918 (Tschechoslowakei, Polen, die baltischen Staaten), die nicht oder nur in Ausnahmefällen ihren Minderheiten gegenüber artikulierten, dass auch jene Helden seien, denn jene waren neu entstandene Staaten, die sich als Nationalstaaten verstanden, während Rumänien schon viele Jahrzehnte vor dem Weltkrieg als Staat existierte und keiner besonderen Rechtfertigung für sein Entstehen und Bestehen infolge des Krieges bedurfte. Ein wichtiger Unterschied zwischen dem Banat und Siebenbürgen liegt darin, dass bei den Siebenbürger Sachsen ein deutlich stärkeres Eigenbewusstsein als Sachsen sowie eine stärker ausgeprägte Rolle der Evangelischen Landeskirche A. B. vorlagen. Diese Traditionsstränge und das Selbstbewusstsein erleichterten es, die „Heimat Siebenbürgen“ zum Bezugspunkt der Kriegerdenkmäler und der Sinnstiftung zu machen. Ein Erwachen bzw. ein (unter einem Schwabenbischof erst zu schaffendes und dann zu hegendes) Identitätsbewusstsein war gar nicht nötig, da bereits vorhanden und durch die Selbstbehauptung seit dem Ausgleich 1867 bzw. 1876 geschärft. Nach dem Wegfall des Magyarisierungsdrucks musste in Siebenbürgen kein Vakuum gefüllt werden.
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Zum Gedenken an die eigenen Toten kommt in Siebenbürgen – dem Umstand geschuldet, dass Siebenbürgen 1916 Schlachtfeld war – noch das Gedenken an die reichsdeutschen Gefallenen, organisiert durch die reichsdeutsche wie sächsische Kriegsgräberfürsorge. Rief schon die Befreiung 1916 durch deutsche Truppen einen sächsisch-deutschen Solidarisierungsschub hervor, war die Erinnerung nach 1918 ein wichtiger Baustein für die Identität der Sachsen. „Gefallen für uns“, „Schutz der Heimat“, „Deutsche Treue“, „Deutsche Brüder“ waren keine Floskeln, sondern artikulierten tatsächliche, ganz konkrete Erfahrungen, die man mit den gefallenen deutschen Soldaten verband und die die Erinnerungen an den Krieg wieder wachriefen. Das entscheidende Element des sächsischen Kriegsgedenkens ist also – durch die Pflege reichsdeutscher Gräber und gar das Aufnehmen auf sächsische Friedhöfe „an Sohnes statt“ – das Zusammenrücken der sächsischen und der reichsdeutschen Kriegsgräberfürsorge und damit des Gedenkens. Gerade durch die kombinierten Denkmäler wurden die speziellen Kriegserfahrungen der Sachsen in Kombination mit dem traditionellen Eigenbewusstsein verarbeitet, ohne dass dabei „Deutschtum“ übertrieben oder zu Revanche aufgerufen wurde. Die Erinnerung an den Krieg war konkreter, aber der Krieg war nicht, wie im Verliererstaat Deutschland, mit der Perspektive eines neuen Krieges verlängert. Dafür sorgten die Rolle der evangelischen Landeskirche und die praktizierte Einvernehmlichkeit mit der rumänischen Seite. Dies wiederum wurde dadurch erleichtert, dass die Rumänen sogar bei solch martialischen Denkmälern wie dem in Kerz ihre – in diesem Fall fast wörtlich „entwaffnende“ – Formel „Alle waren Helden“ anwendete.
Fazit Bei der Betrachtung der Kriegerdenkmäler deutscher Minderheiten in Rumänien in der Zwischenkriegszeit tauchten sehr bekannte Komponenten auf: „Opfergeist“ und „Helden“ werden höchst regelmäßig thematisiert, die Jugend wird in den Ritus eingebunden, um sich, zusammen mit der gesamten Gemeinschaft, der Gefallenen würdig zu erweisen. Die Frage „Wofür gestorben?“ blieb eher eine Leerstelle – „Vaterland“ tauchte nicht auf oder wurde vage mit dem Begriff „Heimat“ gefüllt. Hervorgehoben wurde, dass Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben anhand des Totenkultes ihr Heimat-, Gruppen- und Regionalbewusstsein eruierten, zu formulieren suchten und dies dann offen artikulierten. Dies stand auf jeden Fall vor einer Nationalisierung mittels Gefallenengedenken, wie es für andere Staaten zu verzeichnen ist. Auffallend ist, dass anders als in Deutschland die Thematik Nie-
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derlage und alles, was an Negativerfahrungen und -deutungen damit verknüpft wurde, hier höchstens am Rande stand. Bezogen auf die Studie Jansens über das Weltkriegsgedenken in Französisch-Algerien wurde klar, dass die Errichtung der deutschen Denkmäler weder mit tagespolitischen Fragen in Verbindung stand noch den Status quo in Frage stellte, d. h. keine große „symbolpolitische Arena“ für machtpolitische Fragen abgab. Angesichts der Bevölkerungszahlen oder der Entfernung zu Deutschland als potentiellem Beschützer ist dies naheliegend, doch offenbaren Beispiele aus Lettland oder aus dem Sudetenland andere Optionen als nicht unmöglich. Wenn man den Denkmälern einen symbolpolitischen Zweck zuschreiben möchte, war er hauptsächlich nach innen gerichtet mit dem Ziel, den Zusammenhalt zu intensivieren. Dass dabei hin und wieder das Thema „Deutschtum“ vorkam, war nach innen wie nach außen gerichtet zu dem Zeitpunkt bar aller Aggressivität. Ob die Denkmäler und Gedenkfeiern dazu beitrugen, den Kummer jedes Einzelnen zu lindern, kann nicht beantwortet werden. Tatsache ist, dass hauptsächlich die jeweiligen Kirchen den Kultus um das Totengedenken verwalteten. Die überwiegend verwendete Sprache und Ikonographie und nicht zuletzt der hohe Stand der Religiosität bei Banater wie Siebenbürger Deutschen sprechen dafür, dass religiöser Trost vermittelt wurde. Der geringere Säkularisierungsgrad hat seine Entsprechung im geringeren Nationalisierungsgrad bzw. im Ausbleiben militärischer Aufladung oder gar Radikalisierung. All dies, v. a. die Abwesenheit von Revanchismus, lässt sich damit erklären, dass die Deutschen Rumäniens eine vom rumänischen Staat gestattete Nische zur Gestaltung ihres eigenen Gedenkkultes nutzten. Ob der Staat dies bewusst als Ersatz für politische Forderungen der deutschen Minderheiten konzipierte, erscheint so unwahrscheinlich wie die Intention, mittels gemeinsamer Feiern im Sinne Jörn Leonhards „emotionale Räume“ zu schaffen, in denen „Trauernde und der Staat in eine Beziehung traten“. Es gab kaum gemeinsame Feiern (wie z. B. in Temeswar) und keine gemeinsamen Denkmäler, weshalb man anders als in Algerien von einer gemeinsamen „Religion der Friedhöfe“ nur höchst eingeschränkt sprechen kann. Die Minderheiten hatten Nischen. Die Präsenz der rumänischen Öffentlichkeit beschränkte sich auf Einweihungsfeiern, und die Deutschen waren gewiss nicht in das rumänisch-nationalstaatliche Pantheon aufgenommen. Es gab aber bei diesen gemeinsamen Veranstaltungen eine gemeinsame Sprache und Gestik, und das ist das Besondere: Die siebenbürgischen und rumänischen Beteiligten standen auf einer Augenhöhe – derjenigen der Frontkämpfer, der gemeinsamen Leiderfahrung und Trauernden und
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schließlich der Helden. Eine Hierarchisierung, die klar machte, wer der Sieger des Krieges sei, schwang unausgesprochen aber dennoch mit. Der Umstand, dass die Rumänen der deutschen Minderheit, die ja während des Krieges auf der anderen Seite des Schützengrabens stand, zugestanden, ebenfalls und ebenbürtig „Helden“ gewesen zu sein, war ein ungeheuer großer Schritt auf die Minderheit zu und damit ein Vertrauensbonus. Das Ansprechen der Trauer auf der Gegenseite im Sinne Norbert Elias’49 trug somit zur Entschärfung möglicher gefährlicher Politisierungen bei. Trauer war dabei sicherlich nicht übertrag- oder teilbar, aber in der Gemeinsamkeit der Trauer „findet sich zusammen, was nur scheinbar getrennt ist: die Vielzahl der persönlichen Erinnerungen, gegründet in ebenso vielfältigen Erfahrungen, sowie unser aller Geschichte, die das ermöglicht hat“50. Diese Art der Trauer um die Gefallenen, das Trauern und Trauern-lassen, was keine Vereinheitlichung darstellte, erlaubte, ja beförderte und bewirkte viel mehr – eine Regionalisierung, Lokalisierung und Individualisierung von Trauer, die nichts forderte und dazu diente, Politisierung, Nationalisierung und Ideologisierung einzudämmen. Man kann also sagen, dass die Weltkriegsverarbeitung der deutschen Minderheiten mittels Kriegerdenkmälern in Rumänien als gelungen zu bezeichnen ist. Anders als es Jörn Leonhard für Deutschland und manch andere Regionen Osteuropas formuliert hat, vertieften die Kriegerdenkmäler nicht nur die Spannungen und Zerklüftungen nicht, sondern trugen sogar zur Pazifizierung und Entschärfung, zur Akzeptanz der Situation ein kleines Stückchen bei – und dies ausgerechnet mit dem Begriff neben der gemeinsamen Trauer, den Leonhard als Erklärung dafür heranzieht, warum statt Trost die Denkmäler in Deutschland eher kriegerische Überhöhung zu bieten suchten:51„Helden“. Alle Gefallenen wurden zu Helden aufgewertet, eine Hierarchisierung wie in Algerien an dieser Stelle vermieden. Wurde sonst meist ausgespart zu sagen, wofür die Gefallenen sich heldenhaft eingesetzt hatten, so wurde bei gemeinsamen Feiern formuliert „für die Heimat“ – ein Begriff, der allen verständlich und von allen akzeptierbar war. Heimat war ganz konkret Raum und Gemeinschaft vor Ort, also ein identi-
49 Norbert E l i a s : Humana conditio. Beobachtung zur Entwicklung der Menschheit am 40. Jahrestag eines Kriegsendes (8.5.1985). Frankfurt/Main 1985, S. 55. (Bemerkung über angemessenes Kriegsgedenken 1985: „Wir trauern heute um diese Toten – ich ganz besonders um die meinen und andere um die ihren. Sie sind nicht vergessen.“) 50 Reinhart K o s e l l e c k : Der 8. Mai zwischen Erinnerung und Geschichte. In: d e r s . : Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Berlin 2010, S. 265. 51 L e o n h a r d : Büchse der Pandora, S. 987.
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tätsstiftender, lokaler Erinnerungsort (Pierre Nora). Persönliche Trauer konnte hier greifen und den Krieg verarbeiten helfen. Das bei der Gedenkfeier 1926 im Gymnasium Theodorianum Paderborn zitierte Hektor-Zitat wirkte also diesbezüglich weiter. Die Schüler am Theodorianum hatten Siebenbürgen im Focus, und es ist davon auszugehen, dass die Siebenbürger und Banater Schüler gewiss ihrerseits versuchten, nach Deutschland zu schauen. Die nachwachsende Generation der Zwischenkriegszeit in beiden Ländern zog später in einen noch schlimmeren Krieg mit furchtbaren Folgen und Verwerfungen, was für die Deutschen Rumäniens bekannt sein dürfte. Paderborn hingegen wurde in den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges zu 90 Prozent zerstört, auch das Gymnasium samt Gedenktafel. Dennoch sind hundert Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Toten nicht völlig der Vergessenheit anheimgefallen. Dazu tragen die noch existierenden Kriegerdenkmäler und Auflistungen bei, auch wenn symbolische Gestaltung und Sprache dieser Denkmäler heutzutage kaum noch den Vorstellungen von Gedenken entsprechen. Die Denkmäler haben ihre Aufgabe (Funktion der Memoria), erlauben aber auch ein Lernpotential, da sie mittels der Gedenkformen die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts verstehen helfen.
Abb. 1. Gertianosch. Foto Böttcher.
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Abb. 2. Mercydorf. Foto Böttcher.
Abb. 3. Grabatz. Foto Böttcher.
Abb. 4. Kerz. Foto Böttcher.
D E R W E LT K R I E G S Z Y K L U S I M K O N T E X T DER KRIEGSGRAFIK LUDWIG HESSHAIMERS Markus L ö r z
Einführung Das Bild Ludwig Hesshaimers in der historischen Forschung war lange Zeit von dessen Verstrickungen als hoher Funktionär des Verbands Österreichischer Philatelisten vor und während der NS-Zeit geprägt, was einer sachlichen Beschäftigung mit dessen künstlerischem Werk im Wege stand. Mit der umfangreichen und differenzierten HesshaimerBiografie machte Wolfgang Maaßen 2006 das Leben und Werk des Künstlers jedoch einer größeren Öffentlichkeit wieder zugänglich1. Es zeigt sich darin eine interessante, vielschichtige, teilweise widersprüchliche Persönlichkeit, die nur schwer sowohl künstlerisch als auch politisch in klare Kategorien einzuordnen ist. Da Maaßen Hesshaimer vor allem von der Warte des Philatelisten aus betrachtet hat, steht eine tiefer gehende kunsthistorische Analyse seines Schaffens noch aus. Als ein Beitrag dazu soll das 1921 vollendete Hauptwerk Hesshaimers „Der Weltkrieg – Ein Totentanz. Eine Dichtung in Radierungen“ hier Betrachtung finden. Um diesen Zyklus und seine Bedeutung besser einordnen zu können, ist es notwendig, vorab kurz die Kriegsgrafik Ludwig Hesshaimers und dessen Erlebnisse im Ersten Weltkrieg zu beleuchten. Ludwig Hesshaimer erlebte als Lehrer am Militärknabenpensionat in Sarajevo das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand, das die Katastrophe des Ersten Weltkriegs auslöste. Es folgten kurze Dienstzeiten als Zeichenlehrer in Pressburg (Bratislava, Pozsony) und Ersatzkommandant in Salzburg, bevor der Berufsoffizier Hesshaimer Anfang 1915 zum Kriegspressequartier, sozusagen der Propagandaeinheit der k. u. k. Armee, versetzt wurde. Sein erster Fronteinsatz als Kriegsberichterstatter führte ihn im Frühjahr 1915 an die Ostfront, dem weitere an allen ost- und südosteuropäischen Kriegs1 Wolfgang M a a ß e n : Licht und Schatten. Liebe und Leidenschaft für Kunst und Philatelie. Ludwig Hesshaimer. Schwalmtal 2006.
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schauplätzen folgen sollten. Als zeichnender Berichterstatter hatte er das Privileg, sich allein oder mit einem kleinen Trupp frei entlang der Frontlinie zu bewegen2. Bei diesen Einsätzen hielt er seine Eindrücke zeichnend, jedoch auch mit einer Fotokamera fest3. Diese wurden danach vielfach in Radierungen resp. Lithographien umgesetzt, die bei Ausstellungen gezeigt oder in Grafikmappen und Zeitschriften (u. a. der „Leipziger Illustrierten“) veröffentlicht wurden4. Grob lassen sich seine Zeichnungen aus dieser Zeit in drei Gruppen einteilen: Zur ersten gehören Aufträge zur Dokumentation des Frontverlaufs mit genauen Angaben von Ort und Tag sowie ins Bild eingefügten Erläuterungen zu den abgebildeten Stellungen und Gebäuden. Zu diesen quasi kartografischen Werken zählt u. a. die Zeichnung „Zwischen zwei Feuern“, in der er am 24. April 1915 eine zerstörte Brücke über die Nida bei Briesen (Brzeźno) festgehalten hat, deren einer Brückenkopf von österreichischen, der andere von russischen Truppen besetzt war. Dabei sind in der Zeichnung die Positionen der Stellungen und Drahtverhaue durch Pfeile und Beischriften gekennzeichnet5. Ein weiteres Blatt dieses Typs stellt eine große Panoramazeichnung des Schlachtfeldes um Görz (Gorizia, Gorica) dar, die 1917 entstanden ist. Auch hier sind die abgebildeten Ortschaften sowie die österreichischen und italienischen Stellungen genau angegeben6. Die zweite Gruppe bilden Porträts und Szenen des Kriegsalltags, die weniger dokumentarischen Charakter haben, sondern illustrativ sind und häufig Stimmungen wiedergeben. Zu sehen sind Feldküchen, Unterstände, Versorgungstrecks, aber auch lagernde österreichische Soldaten und Kriegsgefangene. Teilweise (wie z. B. bei seiner „Husarenpatrouille am San“ 1915) entfernt sich der Künstler von einer realitätsnahen Darstellung. Obwohl gerade die genannte Radierung auf fotografischen Vorlagen beruht, vermittelt sie mit den Reitern, deren Silhouetten sich im Licht der untergehenden Sonne im Wasser spiegeln, eine idealisierte, friedlich romantische Abendstimmung7. Herauszuheben aus dieser Gruppe sind Hesshaimers Zeichnungen seiner Balkandurchquerung von Januar bis Mai 1916. Diese häufig farbig gefassten Grafiken zeigen oft kein Kriegsgeschehen, sondern haben den 2 Ludwig H e s s h a i m e r : Miniaturen aus der Monarchie. Ein k. u. k. Offizier erzählt mit dem Zeichenstift. Hg. Okky O f f e r h a u s . Wien 1992, S. 91. 3 Ebenda, S. 106: „So war ich denn mit Zeichenblock und Kodak den ganzen Tag ostwärts gewandert, und meine Mappe füllte sich mit kleinen Skizzen.“ 4 Ebenda, S. 106, 228. 5 Ebenda, Abb. S. 98 oben. 6 Ebenda, Abb. S. 226f. 7 Ebenda, Abb. S. 107.
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Charakter einer Reisereportage in ferne orientalische Länder. Unter den Werken dieser Zeit finden sich daher viele Stadtansichten und Bilder bedeutender Bauwerke wie Moscheen oder osmanische Paläste, aber auch pittoreske Schilderungen der wild-romantischen Landschaft des Balkans, bunter Trachten der Bevölkerung oder orientalischer Märkte. Was in den Werken Hesshaimers weitestgehend fehlt, ist die Darstellung der Schrecken des Krieges, obwohl er diese sehr wohl in vielfältiger Weise erlebt hat. In seinen Erinnerungen beschreibt er z. B. die Rückeroberung von Lemberg (Lviv, Lwów) wie ein Inferno: Die im Rückzug befindlichen russischen Truppen hätten verbrannte Erde hinterlassen, in den Straßen der Stadt habe er „blasse, blutige Verwundete. Österreicher, Ungarn, Russen. Freund und Feind. Große starrende Augen, gepreßte Lippen, hohle Wangen, Gesichter überzogen vom grüngelben Staub, ein Haufen Gespenster“ gesehen8. Dafür, dass er dieses Erlebte nicht in Bilder gebannt hat, gibt es mehrere Gründe: Zum einen spielte die Zensur sicher eine Rolle. Hesshaimer war Presseoffizier und hatte daher, um die heimische Bevölkerung zu beruhigen, den Auftrag, den Krieg möglichst technisch-sachlich oder sogar positiv zu schildern. Emotionen, die Angst und Trauer auslösen konnten, waren nicht erwünscht. Es ist bei Hesshaimer sicher auch eine Form von Selbstzensur zu vermuten, da ihm als loyalem Offizier an einem positiven Bild der eigenen Armee, d. h. der Kameraden, gelegen war. Dies wird in seinen Erinnerungen an einem Vergleich deutlich, in dem er die humanen Lebensverhältnisse der eigenen Kriegsgefangenen mit den unmenschlichen Bedingungen vergleicht, denen österreichische Soldaten in russischer Kriegsgefangenschaft ausgesetzt seien9. Die Hinrichtungen von angeblichen Saboteuren oder Kollaborateuren an der Ostfront, die ihm sicher nicht verborgen geblieben sind, werden in seinen Bildern nicht thematisiert. Dieses unrühmliche Kapitel des Krieges findet sich nur als kleine Randnotiz in Hesshaimers Erinnerungen über die Rückeroberung Lembergs: „Eng gefesselt und verschnürt ein ganzer Haufen Spione und Konfidenten, verladen wie eine Ware, eskortiert von Dragonern.“10 Generell muss man betonen, dass es von Hesshaimer kaum Darstellungen aktiver Kriegshandlungen gibt. Er begründete dies später damit, dass er sich nicht zum „Schlachtenmaler“ eigne und kein Talent zur Darstellung bewegter Geschehnisse habe11. Daher existieren hauptsächlich „ruhige“ Schilderungen der Soldaten in ihren Stellungen 8 9 10 11
Ebenda, S. 108. Ebenda, S. 215. Ebenda, S. 109. Ebenda, S. 119.
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oder technische Abläufe wie das Laden der Kanonen. Hier überwiegt zunächst auch noch die Faszination des Berufsoffiziers Hesshaimer für den Kampf und die Freude über die Überlegenheit der eigenen Kriegstechnik, wie etwa bei der Zeichnung eines Mörsers, einer der damals modernsten Fernwaffen12. In seinen Erinnerungen findet sich noch ein persönlicher Grund, der erklärt, warum in seinem Werk keine Darstellungen der Kriegsgräuel zu finden sind und er diese schließlich als eine Form der psychischen Bewältigung im Weltkriegszyklus verarbeitet hat. Zu einem Lazarettbesuch während der zweiten Schlacht um Lemberg bemerkt Hesshaimer: „Nun stand ich in eine Ecke gedrückt, starrte in die fürchterlichen Bilder und machte den Versuch, einzelne Szenen zu zeichnen. Es war unmöglich. Meine Hände versagten das erste Mal in diesem Krieg, ich konnte den Bleistift nicht führen. Meine Augen konnten an keinem Punkt haftenbleiben, weil sie voll grausigen Mitleids von Szene zu Szene gerissen wurden.“13 Zu diesem Zeitpunkt erfassten den Künstler wohl auch erstmals pazifistische Gedanken14, die später zur Grundintention des Zyklus werden, wie in dessen Vorwort vermerkt ist. Nur drei nüchterne Darstellungen eines Verbandsplatzes bzw. toter Soldaten sind aus dieser Zeit überliefert. Dabei sind die Toten würdevoll zugedeckt oder mit dem Kopf abgewandt gezeigt15. Verdrehte, von Granaten zerrissene und verstümmelte Leiber sind nie zu sehen. Diese Unfähigkeit, das Grauen direkt zu schildern und zu verarbeiten, führt zur dritten Gruppe der Zeichnungen Hesshaimers, die auf symbolistische Weise das Gesehene wiedergibt. Das menschliche Sterben ist in den Darstellungen von Tierkadavern und -skeletten, wie in der Zeichnung „Das Tal der toten Pferde“ von 1915, implizit16. Ebenso sind die beiden einsamen Grabkreuze in der Zeichnung „Gräber bei Limanowa“ von 1915 als Symbole, als Pars pro Toto für das millionenfache Krepieren auf den Schlachtfeldern zu deuten. Die Ästhetisierung der Darstellung ist dabei sicherlich ein Selbstschutzreflex des empfindsamen Zeichners, eine innere Flucht in Schönheit und Harmonie17. Einmal riskierte er sogar sein Leben, weil er den Drang 12
Ebenda, S. 95: „Dieser prächtige Kerl schoß nicht nur, er fuhr auch!“, Abb. S. 96. Ebenda, S. 114. 14 Ebenda, S. 115: „Vier Menschen: ein Ungar, ein Russe, ein Italiener, eine Deutsche […] vereint im edelsten menschlichen Tun, in gegenseitiger Hilfe. Mir stieg ein würgendes Schluchzen in die Kehle: Menschen, was könntet ihr einander sein?“ 15 Vgl. Ludwig H e s s h a i m e r : Heil und Sieg. 35 Zeichnungen vom östlichen Kriegsschauplatze. Wien, Leipzig 1915, Blatt Nr. 21 u. 29. 16 Ebenda, Abb. S. 94. 17 Vgl. Okky O f f e r h a u s : ohne Titel. In: Ludwig Hesshaimer 1872–1956. Hg. Haus des Deutschen Ostens München. München 1992, S. 13: „erfüllte ihn stets starkes Sehnen 13
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hatte, Blumen im Vorfeld der eigenen Stellungen zu zeichnen, die kurze Zeit später, zusammen mit angreifenden russischen Soldaten in einer infernalischen Schlacht untergehen sollten. Hier kam Hesshaimer „die deutliche Vision der Knochengestalt des Schnitters Tod“ in den Sinn. Er fügt hinzu: „Aus blühendem Mohn war Blut geworden.“18 Ein für Ludwig Hesshaimer noch grauenvolleres Erlebnis, das sicherlich zum Weltkriegszyklus Anlass gab, ereignete sich 1917 an der Isonzo-Front. Er beschreibt die Entmenschlichung der „bis zum Wahnsinn überanstrengten“ österreichischen Soldaten, „einst eine Schar blühender Jünglinge, nun gealterte ausgemergelte Männer“, die sich „mit stierem Blick“ vorankämpften, und zeigt dabei die Brutalität der eigenen Truppen19. Wesentlicher ist allerdings noch der Anblick des zum Schlachtfeld gewordenen Friedhofs von Görz, der bei Hesshaimer Gedanken an die Apokalypse hervorrief. Schützengräben waren quer hindurch gezogen worden, Särge und sogar Skelettteile zum Aufbau der Schanzen genutzt worden, dazwischen Granattrichter, Kriegsgerät und tote Soldaten: „Totale, entsetzliche, nicht mehr zu begreifende Zerstörung. Weltuntergang.“20 Diese Bilder müssen den Künstler nicht mehr losgelassen haben. Ein Jahr später, körperlich und seelisch leidend, begann er mit den Arbeiten an „Der Weltkrieg – Ein Totentanz. Eine Dichtung in Radierungen“, worin er „grübelte […] über den Sinn dieses ganzen furchtbaren Kriegsgeschehens. Während der langen Nächte erschien [ihm] in Visionen“, wie er selbst beschreibt, „der Reigen [seines] Totentanzes“21. Drei Jahre intensiver Beschäftigung mit dem Thema folgten, bis sein künstlerisches Hauptwerk vollendet war.
Der Weltkrieg – Ein Totentanz Der Zyklus besteht aus 15 Radierungen inklusive einem Titelblatt, die in die Jahre 1919 bis 1921 datiert sind; zusätzlich hat Ludwig Hesshaimer der Mappe noch drei lithographierte Eingangsseiten hinzugefügt. Dabei folgt auf die schlichte Titelseite des Verlags eine Seite mit sechs Zitaten zum Thema Frieden, in deren Initialen Engelsdarstellungen eingefügt sind: „Selig sind die Friedenstifter, denn sie sollen Gottes Söhne heißen. Christus / Seelig sind die Friedfertigen, denn sie wissen nach Schönheit und Harmonie. […] Zerstörung erschreckte ihn, Totes verursachte ihm Entsetzen.“ 18 H e s s h a i m e r : Miniaturen, S. 128f. 19 Ebenda, S. 221, Abb. 20 Ebenda, S. 227. 21 Ebenda, S. 235.
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nichts von Krieg und Niederlage, der Besiegten Los ist Knechtschaft, und dem Sieger folgt der Hass. Buddha / Trachte so zu leben, dass Du der Gewalt nicht bedarfst. Tolstoi / Nicht deßhalb ist Macht dem Menschen gegeben, damit er den Schwachen bedrücke, sondern damit er ihn stütze und ihm helfe. Ruskin / Wir sollten alle miteinander Mitleiden haben. Goethe / Glaubet an das Licht, dieweil Ihr es habt, auf dass Ihr des Lichtes Kinder seid. Joh. 12.“ Bezeichnend ist, dass Hesshaimer neben Bibelzitaten und buddhistischen Weisheiten auch Geistesgrößen der ehemaligen Feinde, Tolstoj und Ruskin, zu Wort kommen lässt und damit die Versöhnungsbotschaft unterstreicht. Nach diesem Statement in Zitatform folgt eine Textseite mit Hesshaimers persönlichen Erläuterungen, in deren Initialkartusche der Tod als Schnitter zu sehen ist. Die Hauptaussage besteht neben der Bewältigung der traumatischen Erlebnisse in einer versöhnlich-pazifistischen Botschaft, die in dem Künstler während seines langen Kriegseinsatzes reifte: „Einen Totentanz nenne ich diese Blätter. Gedanken sind’s aus einer unendlichen Reihe, die mir in schlaflosen nächtlichen Stunden heraufbeschworen durch Erinnern an Erlebtes Herz und Sinn gar arg beschwert. In mein Herzblut hab’ ich den Stift getaucht, meine Liebe in diese Blätter versenkt. Das Grauen, das mich geschüttelt in bangen Stunden des Krieges und die Hoffnung, die mir auch in schwerer Verlassenheit doch nie ganz entschwunden, die habe ich hingeschrieben, wie ich es empfunden. In dunkler Zeit entstand mein Werk. Schmerzhaftes Leiden lähmte oft mein Schaffen. Den Tag füllte mir schwere Fron, nur die Nacht war mein, die herrliche, stille, einsame Nacht. Ihr danke ich, dass ich in Formen fassen konnte, was mich in den Jahren des Krieges oft bis zum Übermaß gequält. Beim furchtbaren Kriegsende, in den Monaten tiefer seelischer Gedrücktheit, reifte mein Werk aus, manches Blatt fügte sich ein, und das Ganze rundete sich zum abgeschlossenen Zyklus. Die Hoffnung auf die Versöhnung der Menschen, den Sieg des Lebens über den Tod, reichte beim letzten Blatte dem ersten die Hand und ließ mich meinen schweren Weg vollenden (Geschrieben am Sylvesterabend des Jahres 1920. Wien, Ludwig Hesshaimer)“. Darauf folgt das eigentliche Titelblatt. Dieses trägt oben in der Mitte den Titel und vereint in rahmenden Miniaturszenen den Inhalt des Zyklus (Abb. 1). In der unteren Bildzone erkennt man mittig den Künstler, in Arbeit versunken am Zeichentisch. Vom Betrachter aus rechts ist eine große geflügelte, nackte Frauengestalt abgebildet, die seinen Kopf mit ihrer Rechten berührt. Aufgrund der Darstellungsweise ist diese schwierig einzuordnen. Am ehesten ist in der geflügelten
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Abb. 1. Ludwig Hesshaimer: Der Weltkrieg – Ein Totentanz, Titelblatt, 1920. Radierung (Strichätzung), Siebenbürgisches Museum Gundelsheim.
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Gestalt Iris, die Götterbotin, zu sehen, die in der antiken Mythologie den Menschen göttliche Befehle überbrachte, die aber auch als Beraterin betrachtet wurde. Möglicherweise verbinden sich bei Hesshaimer in der Figur Eigenschaften eines Engels und einer Muse. Ihre Hand an seinem Haupt ist ein Symbol göttlicher Eingebung. Hinter dem Künstler ist ein Uhrwerk als „Rad der Zeit“ zu erkennen. Darüber wird die Darstellung horizontal durch den Stiel der Sense des Schnitters Tod geteilt. Auf ihrem grimmigen Totenschädel trägt die riesenhafte Gestalt einen mit Dornen umkränzten deutschen Stahlhelm. Im Zentrum des Bildes ist, wesentlich kleiner, der triumphierende Tod hoch zu Ross mit wehender Fahne zu erkennen. Bekrönt wird der dreizonige Aufbau der vertikalen Achse durch die Darstellung des gekreuzigten Christus als Sinnbild der Erlösung. Bemerkenswert ist noch, dass Hesshaimer in der rechten unteren Ecke oberhalb seiner Monogrammkartusche einen Ausspruch des Torquato Tasso aus Goethes gleichnamigem Schauspiel wiedergibt, der die Seelenlage des Künstlers zur Entstehungszeit sowie die Intention, die er mit dem Zyklus verbindet, nochmals unterstreicht: „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt – Gab mir ein Gott, zu sagen wie ich leide“22. Auf dem zweiten Blatt des Zyklus, dem ersten der Bilderzählung, steht rechts im Vordergrund breitbeinig der Tod (Abb. 2). Während er in der Rechten die Sense hält, ist die linke Hand keck in die Hüfte gestützt. Der Blick des Knochenkopfes ist über die Schulter auf die Trinität gerichtet. Sein knöcherner Mund scheint zu grinsen. Die Dreieinigkeit Gottes ist als dreigesichtiger Kopf, der aus einer Wolke erscheint und aus dessen Stirn Strahlen als Zeichen göttlicher Weisheit entspringen, auf der linken Seite des Blattes zu sehen. Nur die vom Schöpfer ausgehenden Strahlen werfen Licht in die düstere Szenerie. Unter der Radierung findet sich die erste Zeile der begleitenden Dichtung, die die Blätter des Zyklus miteinander verbindet: „Ich stürz die Welt! So prahlt der Tod. Die Ewigkeit sie schweigt. So kam der Menschen Not!“ Im dritten Blatt ist unten ein wildes Heer aus knochengesichtigen Dämonen und Hexen abgebildet, die von Schlangen umgeben nach rechts in ein friedlich daliegendes Tal einfallen. Über ihnen reiten, vom Tod angetrieben, fackeltragende Geister. Die Szene illustriert den beigefügten Text: „Auf blutgem Ross der Tod die schwarzen Geister schickt ins Land. Es lodert Hass. Die Welt in Brand!“ Das vierte Blatt des Zyklus ist 1919 datiert (Abb. 3). In ihm verlässt Hesshaimer das Schema der vorhergehenden Einzelszenen und zeigt stattdessen eine Haupthandlung mit illustrierenden Nebenszenen. 22
zug.
Johann Wolfgang G o e t h e : Torquato Tasso. Ein Schauspiel. Leipzig 1790, 5. Auf-
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Abb. 2. Blatt 2, 1920. Radierung (Weichgrund- und Kornätzung), Siebenbürgisches Museum Gundelsheim.
Auch die Erzählweise wechselt vom Mystisch-Phantastischen hin zum Karikaturenhaften. Ein König fordert mit einer theatralischen Geste eine weitere bekrönte Figur in der linken Bildhälfte heraus. In der linken Hand halten beide Telefonhörer, über deren Kabel sie miteinander verbunden sind. Die Linke des Königs ist ähnlich wie bei der Darstellung des Todes auf dem zweiten Blatt des Zyklus selbstbewusst in die Seite gestützt. Zwischen seinem linken Arm hindurch und auf seiner Schulter kriechen Schlangen empor. Zu Füßen der riesenhaften Gestalt ist nackt und bloß sein Volk zu erkennen. Figuren umklammern sich bang. Im Vordergrund fügt Hesshaimer Motive friedlichen Alltagslebens zu einem Panorama der realen Welt zusammen. Dort erkennt man die Eisenbahn, Bauarbeiter, Bauern beim Pflügen, Säen und Ernten des Korns. Am linken Rand des Vordergrunds sind zwei Männer – einer an einem Fernrohr, der andere an einem Mikroskop dargestellt. Diese Verbindung von Astronomie und Mikroskopie, der Betrachtung der größten und der kleinsten Dinge des Universums, ist als Allegorie der Wissenschaften zu deuten. Rechts vor ihnen lagert auf einem Felsen der Künstler selbst. Mit einem Buch in Händen blickt er auf eine Hafenstadt im Mittelgrund. Dort sind außerdem Dampfschiffe, ein Luftschiff, Strom- bzw. Telegrafenmasten und eine stählerne Brücke
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als Zeichen der Moderne abgebildet. Links davon in einer dunklen Wolke ist die zweite riesenhafte Königsgestalt sitzend dargestellt. Seine Rechte ist auf einen blanken Säbel gestützt. Dazwischen sind zu seinen Füßen ebenfalls seine Untertanen in banger Erwartung des kommenden Unheils zu erkennen. Zornig, mit aufgerissenen Augen blickt der weißbärtige alte König zu seinem Kontrahenten. Auch auf seiner linken Schulter liegt das grinsende Haupt einer Schlange als Zeichen teuflischer Verführung. An seine rechte Schulter gelehnt ist der Tod mit Zweispitz und Sense zu sehen, der ihm ins Ohr flüstert. Dies deckt sich mit den beigefügten Worten: „Der Tod, er träufelt Gift ins Herz der Macht, und über alles Menschentum senkt sich des Bösen Nacht.“ Der alte König links trägt die zwar karikierend verzerrte, aber dennoch an ihren charakteristischen Merkmalen gut zu erkennende Stephanskrone des ungarischen Königs. Die sitzende Haltung und der lange Bart ähneln dagegen Darstellungen Kaiser Friedrichs I. Barbarossa, der einer national-romantischen Sage nach schlafend im Kyffhäuser darauf warte, als Friedenskaiser sein Volk zu befreien. Somit verknüpft Hesshaimer in dieser Figur die reale Person seines Kaisers und ungarischen Königs Franz Joseph mit der mythischen Figur des alten Stauferkaisers als Retter und Einer des deutschen Volkes. Er macht jedoch deutlich, dass von diesem letztlich der Krieg ausging, da der Tod ihm das „Gift ins Herz träufelt“. Dieser trägt einen Zweispitz, den man doppelt deuten kann: Zum einen waren derartige Hüte als Kopfbedeckung von Friedhofspersonal in jener Zeit nicht ungewöhnlich, zum anderen gehört der Zweispitz aber auch zur Uniform hochrangiger Beamter und Militärs in der k. u. k. Armee, was eine Deutung in der Richtung zulässt, dass Hesshaimer diese als Kriegstreiber identifiziert. Die rechte Königsfigur ist schwieriger zu benennen. Es könnte sich der historischen Logik nach um König Peter I. von Serbien handeln, denn der gezwirbelte Schnurrbart und die auffällige Amtskette lassen darauf schließen. Die Krone mit den hohen Zacken und die restliche Kleidung mit den Spitzenmanschetten geben der Figur jedoch eine eher irreal kostümierte Erscheinung. Vielleicht war dies von Hesshaimer durchaus gewollt, um die „Operettenmonarchie“ Serbien zu karikieren. Das fünfte Blatt hat einen zweizonigen Aufbau und ist wieder von der mystisch-phantastischen Stimmung der ersten geprägt. Die untere Zone zeigt eine flache winterliche Landschaft, in der zwei Heere aufeinander zustürmen. Darüber, sozusagen in einer überirdischen Sphäre, stehen breitbeinig zwei Titanen einander gegenüber. Zwischen ihnen zucken Blitze. Die rechte Gestalt trägt eine Rüstung und einen attischen
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Abb. 3. Blatt 4, 1919. Kaltnadelradierung und Strichätzung, Siebenbürgisches Museum Gundelsheim.
Helm mit langem Helmbusch. Sie ist mit züngelnden Schlangen gegürtet und gerade im Begriff, ihr Schwert zu ziehen. Die linke Gestalt ist ein Mischwesen mit Gorgonenhaupt. Es trägt in der Manier eines Philosophen keine Rüstung, sondern Himation und Chiton. Um seinen Leib winden sich ebenfalls zwei fauchende Schlangen. Die bürgerliche Tracht täuscht allerdings nicht über dessen kriegerische Absichten hinweg. Während jene Gestalt in ihrer Linken ein Messer hält, umfasst die Rechte einen Hammer. Im Halbdunkel hinter ihm steht grinsend der Sensenmann. Die Szene kommentiert Hesshaimer mit dem Satz: „Des Krieges Furien lässt der Tod erstehn. Die Völker fasst’s wie Blitz und Sturmeswehn!“; wobei er allerdings keine Furien, also Rachegöttinnen, sondern Götter darstellt. Dies ist insofern bezeichnend, da im Zyklus, mit Ausnahme von Blatt 3, weibliche Figuren als Heils- und Friedensbringerinnen positiv konnotiert sind. Die beiden Darstellungen auf Blatt 6 und 7 bilden den dramatischen Höhepunkt des Zyklus, in denen der Künstler die Apokalypse des Krieges schildert. Im unteren Viertel der hochrechteckigen sechsten Radierung ist wiederum ein reales Gefecht, ein Fliegerangriff, geschildert (Abb. 4). Doppeldecker überfliegen das Schlachtfeld, einer davon sticht herunter und feuert. Von links nach rechts durchziehen helle
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Abb. 4. Blatt 6, 1920. Radierung (Weichgrund- und Kornätzung), Siebenbürgisches Museum Gundelsheim.
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Abb. 5. Blatt 7, 1919. Kaltnadelradierung, Strich- und Kornätzung, Siebenbürgisches Museum Gundelsheim.
Streifen der Leuchtspurmunition den Nachthimmel, und im Hintergrund ist eine lodernd brennende Stadt zu erkennen. Dreiviertel des Blattes füllt jedoch wiederum eine phantastische Szene: Am Himmel stürmen, begleitet von Raben, Fledermäusen und Höllenhunden auf Feuer schnaubenden Pferden apokalyptische Reiter heran. Während drei der Reiter mit Bogen, Sense und Flammenschwert bewaffnet sind, hält ein vierter eine Waagschale als Zeichen des Jüngsten Gerichts. Daher beschreibt der Künstler die Szene: „Und über Mensch und Tier und Erd, in namenlosem Grausen, Apokalypsenreiter richtend brausen.“ War das vorangegangene Blatt durch die Verwendung von Strichätzung und Kaltnadelradierung in seiner Anmutung grafisch, so wirkt dieses durch den Einsatz von Kornätzung und Schaber flächiger, malerischer, denn es bilden sich fließende Übergänge zwischen den einzelnen Grauschattierungen. Die siebte Radierung ist das expressivste Blatt des Zyklus (Abb. 5). Eine Feuerwand lodert im Mittelgrund, von der links schwarzer Rauch in den Himmel steigt; in der Bildmitte ragt darin noch eine Kirche heraus. Links unten sind panisch fliehende Menschen und Pferde in einer wüsten Landschaft mit verkohlten Bäumen zu erkennen. Zwischen ihnen sieht man, hell erleuchtet, die Einschläge von Granaten.
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Von rechts folgen die Angreifer, ein flammenwerfendes Flugzeug und Fußsoldaten mit Handgranaten und Flammenwerfern. Diese winzigen, nur wenige Millimeter großen Figuren sind sowohl ein gutes Beispiel für den Detailreichtum der Darstellung als auch für Hesshaimers technische Fähigkeiten im Bereich der Miniaturgrafik, die er beim Studium und dem Entwurf von Briefmarken schulte. Der rechte Bildrand wird dominiert von zwei riesenhaften Monstergestalten. Die hintere knochenköpfige Gestalt trägt ebenfalls einen Flammenwerfer. Im Nacken der vorderen sitzt ein Soldat mit deutschem Stahlhelm an einem Maschinengewehr, von dem wiederum ein Flammenstrahl ausgeht. Zwischen den Füßen des Monsters feuert eine wesentlich kleinere Gestalt mit Totenschädel von einem Panzer aus in die fliehende Menge; diese trägt bezeichnenderweise einen englischen Stahlhelm. Hieraus wird ersichtlich, dass der Künstler die Schuld für das „Inferno“ nicht nur bei den früheren Gegnern sah, sondern gleichermaßen auch die eigene Seite mit einschloss. Er beschreibt die Szene mit folgenden Worten: „Die Geister der Maschinen hat der Tod befreit / Mit grausger Wonne jeder Stahl und Feuer speit.“ In den folgenden zwei hochrechteckigen Kompositionen rücken christliche Erlösungsmotive in den Vordergrund. In Blatt 8 ist die Szenerie zweigeteilt (Abb. 6). Wie bei einigen Blättern zuvor ist in der unteren Hälfte das irdische Geschehen abgebildet. Von links stürzen italienische Soldaten, erkennbar an der Helmform, wütend heran. Vorn will einer, mit einem Messer bewaffnet, seinem Gegner an den Kragen. Der gegnerische Soldat trägt das typische Feldgrau und den deutschen Stahlhelm „M1916“, der in den letzten beiden Kriegsjahren auch in der österreichisch-ungarischen Armee getragen wurde. Dieser Soldat wehrt sich mit erschrockenem starren Blick, indem er versucht, den Angreifer mit dem Gewehrkolben zu erschlagen. Es zeigt sich deutlich, dass Hesshaimer hier wie im gesamten Zyklus vorrangig Geschehnisse der letzten Kriegsjahre verarbeitet. Wie in seinen Erinnerungen deutlich wird, blieben ihm die Erlebnisse in den Alpenstellungen und an der Isonzo-Front in besonders negativer Erinnerung. Die hier dargestellte Szene verweist auf seine Schilderungen bei der Einnahme von Belluno 1917, in denen er den brutalen Nahkampf mit allen Mitteln drastisch beschreibt23. Die obere Hälfte der Radierung ist der überirdisch religiös-mystischen Sphäre vorbehalten. Hier ist der ans Kreuz geschlagene tote Christus zu sehen, von dem das einzige imaginäre Licht, das „Licht des Heils“, ausgeht, das die Szenerie beleuchtet. Über ihm hockt der Tod, die Sense umklammernd und grinsend auf 23
H e s s h a i m e r : Miniaturen, S. 221, Abb.
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Abb. 6. Blatt 8, 1920. Kaltnadelradierung, Siebenbürgisches Museum Gundelsheim.
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dem Kreuz. Hesshaimers Kommentar zu der Szene lautet: „Von einem Kreuz herab ertönt ein Schrei: Von aller Schuld wollt ich sie lösen! Herr vergib, es ist vorbei!“ Damit bezieht sich der Künstler auf die biblische Geschichte vom Tod Jesu und dessen heilsgeschichtlicher Bedeutung als Erlösung von den Sünden24. Nach der Kreuzigung in Blatt 8 rekurriert Hesshaimer in der neunten Radierung des Zyklus auf die Darstellungstradition der Hirten in der Weihnachtsgeschichte25. Im Schützengraben unter nächtlichem Sternenhimmel erscheint Maria mit dem Jesuskind den Soldaten. Rechts neben ihr sitzt ein Soldat im Gebet oder in Ermattung auf seine gefalteten Hände zusammengesunken. Hinter ihm blickt, geblendet vom hellen Licht der Erscheinung, ein weiterer auf sein Gewehr gestützter Soldat mit ausgemergeltem Gesicht zu Maria und Jesus. Ein Dritter steht noch mit dem Gewehr im Anschlag am Rand des Schützengrabens. Er wendet seinen Blick über die Schulter zur neben ihm sitzenden Gottesmutter, die ihn ansieht. Verstört reißt er die Augen auf. Hinter ihm, mit ebenso großen Augen, steht der Tod und greift nach ihm. Wiederum wird die Szene nur vom göttlichen Licht erhellt. Hesshaimer fährt in der begleitenden Dichtung fort: „Zu schwach ist’s Menschenherz für solch Erleben! Es bricht und suchet Trost im letzten Beben.“ Im zehnten Blatt des Zyklus triumphiert der Tod (Abb. 7). Auf einem ins Wasser abfallenden Felsen sitzt er hoch zu Ross und hält in der Rechten ein großes schwarzes Banner, vor dem seine weiße Knochengestalt erstrahlt. Er trägt einen altertümlichen Spitzhelm, der an osmanische oder russische Helmformen des Mittelalters erinnert. Der Tod wird damit in der Art eines unheilbringenden Reiterkriegers, einer „Geißel Gottes“ aus den Steppen des Ostens dargestellt26. Unter den Hufen des Pferdes sind zwei tote Engelsgestalten hingestreckt. Eine dritte treibt leblos darunter im Wasser. Im Hintergrund sind Schwärme schwarzer Vögel vor der heraufziehenden Dämmerung zu erkennen. In der dramatischen Komposition und der Verdichtung der Darstellung auf den Tod als triumphierenden Reiter ist dieses Blatt ganz der symbolistischen Tradition verbunden. Der schroffe Felsen über dem Wasser mag dabei an Böcklins „Toteninsel“ erinnern27. Im elften Blatt des Zyklus erkennt man in fahlem Mondlicht in der vertikalen Mittelachse die Umrisse eines halb eingestürzten Glocken24
Vgl. Neues Testament Johannes 19, 30. Vgl. Neues Testament Lukas 2, 15–20. 26 Der Hunnenkönig Attila wurde auch als „Flagellum Dei“, als Geißel Gottes bezeichnet. 27 Vgl. Arnold B ö c k l i n : Die Toteninsel, 1880. Öl auf Leinwand, Kunstmuseum Basel (1. Version). 25
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Abb. 7. Blatt 10, 1920. Radierung (Strich- und Kornätzung, Aquatinta), Siebenbürgisches Museum Gundelsheim.
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Abb. 8. Blatt 11, 1920. Mezzotinto, Siebenbürgisches Museum Gundelsheim.
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turms (Abb. 8). Rechts daneben sitzt versonnen der Sensenmann auf den Trümmern der Kirche. Im Vordergrund liegt ein Engel auf einer umgestürzten Glocke und blickt in die Nacht. Sein weißes Gewand und seine Flügel werden durch die Strahlen seines Heiligenscheins erhellt. Hesshaimer wechselt bei diesem Blatt wieder gekonnt die Technik. Hier benutzt er im Gegensatz zu den vorangegangenen Radierungen das Schabkunst- oder Mezzotinto-Verfahren. Dabei werden, grob gesagt, aus einer komplett aufgerauten Druckplatte durch Schaben, Glätten und Polieren die Stellen wieder herausgearbeitet, die heller oder weiß erscheinen sollen. Diese Technik erlaubt sehr feine Abstufungen der Grauwerte und erzeugt eine samtig weiche Farbstruktur, die die Aussage der Szene unterstützt. Die im Mondlicht verschwimmenden Konturen sind damit ebenso gut darstellbar wie die ruhigmelancholische Stimmung: Keine harten Konturen, keine dynamische Strichelung stören den Eindruck der „Totenstille“, daher passt auch der Kommentar Hesshaimers: „Und über stumme Glocken banges Seufzen weht / und über alle Welt ein großes Sterben geht.“ Die Kirchenruine und das Chaos vor ihr sind eine Reminiszenz Hesshaimers an die Kirche von St. Peter in Görz, den Kriegsschauplatz, mit dem er die schaurigsten Erinnerungen verband28. 1928 griff er das Motiv in weniger allegorischer Weise im neunten Blatt des Zyklus „Das Lied vom Schlachtfeld“ nochmals auf. Dort findet sich auch eine genaue Ortsangabe, die eine Zuschreibung der Kirche zulässt. In der folgenden Darstellung liegt links unten ein sterbender Soldat in den Armen des Todes. Während der Tod ihn gierig angrinst, blickt der Soldat zum Himmel auf. Dort erscheint in gleißendem Licht eine geflügelte weibliche Engelsgestalt. Ihre Haltung mit geschlossenen Beinen und ausgebreiteten Armen bildet die Kreuzform, gleichfalls erwartet sie den Sterbenden mit offenen Armen, um seine Seele, wie der Beitext beschreibt, in den Himmel zu führen: „Doch nur des Leibes Herre wird der Tod, ins helle Jenseits führt der Weg aus aller Not!“ Wiederum setzt Hesshaimer geschickt zwei unterschiedliche Radiertechniken ein, um die Gestaltung zu akzentuieren. Im Bereich des Todes ist die Platte so deckend bearbeitet, dass die satten Schwarz- bzw. Dunkelbrauntöne einen starken Kontrast zur Helligkeit der himmlischen Zone bilden. In dieser sind die Wolken und die Engelsfigur im Grunde nur in Umrisslinien ausgeführt, und keine Schatten trüben die strahlende Helligkeit, wodurch die Engelsfigur silhouettenhaft flach und körperlos wirkt. Damit steht sie im Gegensatz zum Tod, der durch den Faltenwurf seines Gewandes und die gedrehte Körperhaltung 28
H e s s h a i m e r : Miniaturen, S. 227.
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Volumen gewinnt. Dies unterstützt die Aussage der Darstellung und die Gliederung in eine Sphäre des Leibes (Erde – Tod) und eine der Seele (Himmel – Engel). Nach diesem bereits die Hoffnung auf Erlösung signalisierenden Blatt folgt in der 13. Szene die Wendung. Auf einem Berg von Schädeln und Drahtverhau sitzt ermüdet der riesenhafte „Moloch Krieg“. An sein Knie gelehnt blickt der Schnitter Tod zu ihm auf. Mit seiner Linken hält der Moloch die Kette, mit der er einen Engel gefesselt hält, der neben seinem linken Fuß traurig zusammengekauert sitzt. Rechts im Vordergrund ragt ein großes Zweihänder-Schwert aus dem Schädelberg, dessen Knauf ein Skelett ziert. Am dunklen Himmel ziehen Geier über die Szenerie. Darunter jedoch erstrahlt der Hintergrund, denn Christus am Kreuz und viele weitere Kreuze sind zu erkennen. Im Zusammenwirken der Symbolik kann in dem Schädelhaufen ein Verweis nicht nur auf das massenhafte Sterben im Krieg, sondern auch auf die Passion Christi gesehen werden, da der Berg Golgatha, auf dem die Kreuzigung stattfand, übersetzt „Schädelstätte“ heißt29. Im 14. Blatt tritt schließlich der Auferstandene selbst, von einer Aureole umgeben, den Mächten der Finsternis entgegen; um ihn scharen sich die Kinder der Welt (Abb. 9). Von links führt der Tod ein Heer von Teufeln heran, das hinter einem fauchenden Lindwurm, wie aus einem Schützengraben heraus, mit Kanonen und Maschinengewehren auf die Aureole feuert, dem Auferstandenen und den Kindern aber nichts anhaben kann. Das Leben siegt, ist die unverkennbare Botschaft. Dieses Blatt ist in seiner Gestaltung vielleicht das traditionellste des Zyklus. Hesshaimer lehnt sich in der Lichtwirkung und der Komposition der Kinder, die sich um den Heiland scharen, sowie der Strahlen, die von diesem ausgehen, an das berühmte „Hundertguldenblatt“ Rembrandts an30. Die letzte Grafik des Zyklus ist, wie in Hesshaimers Erläuterungen vermerkt, mit dem ersten Blatt der Bilderzählung verknüpft und schließt so den Kreis. Wieder ist links die Dreieinigkeit als dreigesichtiges Wesen in einer Wolke zu sehen. Nun triumphiert jedoch rechts, wo zu Anfang der Tod herausfordernd stand, das Leben in Gestalt einer Frau31, die ein Kind auf ihrer rechten Schulter trägt und mit 29
Vgl. Neues Testament Matthäus 27, 33. Rembrandt Harmensz v a n R i j n : Christus heilt die Kranken (auch: Die Segnung der Kinder oder „Das Hundertguldenblatt“), um 1640/49. Radierung, Kaltnadel und Grabstichel auf Papier, 28,1 x 39,1 cm Platte, 31,8 x 42,3 cm Blatt, bspw. Staatsgalerie Stuttgart Inv. Nr. A90/6366. 31 Okky Offerhaus bemerkte bei einem Gespräch am 15.11.2014 im Siebenbürgischen Museum Gundelsheim, dass Ludwig Hesshaimer der Frau die Gesichtszüge seiner Tochter Herta, ihrer Tante, gegeben hat. 30
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Abb. 9: Blatt 14, 1921, Radierung (Strichätzung und Diamantschnitt), Siebenbürgisches Museum Gundelsheim
ihrer Linken einen Apfel als Sinnbild des Lebens und der Erlösung in den Himmel reckt32. Ihr rechter Fuß steht wie zum Zeichen des Sieges über dem Tod auf einem Schädel, der einen von Dornen umrankten deutschen Stahlhelm trägt. Über dem Kopf des Kindes flattern zwei Schmetterlinge als Symbole der Auferstehung. Das Ende der Mappe bildet, quasi als Epilog, eine Lithographie, in der Gottvater aus einer Wolke herabblickt, wie ein Adler das leblose Gerippe des Todes hinwegträgt. Dem im Wind flatternden Leichentuch des Todes folgt der Schriftzug „Ende“. Unter der Szene hat der Künstler noch folgende Angaben zur Entstehung hinzugefügt: „1914–1921 erlebt und erlitten / 1918–1919 in Worte u. Bilder gefasst / 1920–1921 radiert und gedruckt“. Außerdem sind noch ein lithographiertes Blatt mit genauen Angaben zu den verwendeten Radiertechniken und ein Selbstporträt beigefügt. Diese Radierung beschränkt sich wirkungsvoll nur auf das Gesicht des Künstlers (Abb. 10). Darunter ist links 32 Obwohl die Figur nicht mit Maria gleichgesetzt werden kann, ist der Apfel hier dennoch als Zeichen der Erlösung und nicht als Zeichen des Sündenfalls zu deuten. Dies würde der Gesamtaussage der Szene widersprechen; vgl. Apfel in: Christliche Ikonographie in Stichworten. Hgg. Hannelore S a c h , Ernst B a d s t ü b n e r , Helga N e u m a n n . München, Berlin 1998 (7. überarb. Auflage), S. 40.
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Abb. 10. ICH, Selbstporträt, 1921. Radierung, Siebenbürgisches Museum Gundelsheim.
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am Rand in Großbuchstaben das Wort „ICH“ zu lesen. Am rechten unteren Bildrand ist noch der Tod als Sensenmann dargestellt, der mit einer Frau einen Reigen tanzt. Die nackte Frau ist von zwei Panthern umgeben und trägt einen Thyrsosstab, was sie als Bacchantin und damit als Symbolfigur der Lebensfreude charakterisiert.
Schlussbetrachtung 1928 hat Hesshaimer im „Lied vom Schlachtfeld“, einem weiteren Grafikzyklus, die Thematik nochmals aufgegriffen (Abb. 11). Dieser ist keine allegorische Darstellung des Kampfes zwischen Tod und Leben, Licht und Finsternis, jedoch nicht weniger expressiv: In stiller Melancholie führt der Künstler die meist menschenleeren Wüsten, die der Krieg zurückgelassen hat, als Sinnbilder von Trauer und Verlorenheit vor Augen. Dies zeigt, dass die Eindrücke, besser gesagt Albdrücke des Krieges, mit der künstlerischen Verarbeitung und dem optimistischen Ende des „Weltkriegszyklus‘“ für Hesshaimer nicht vergangen waren. Sie begleiteten bzw. verfolgten ihn sein Leben lang, denn weitere ebenso schreckliche sollten im Zweiten Weltkrieg noch folgen. Dass sich Hesshaimer nach 1921 von seiner pazifistischen, völkerverbindenden Haltung wieder entfernt hat, schmälert die positive Aussage des Zyklus nicht. In der Ausarbeitung der Grafiken zeigt sich die technische Brillanz des Künstlers, doch war Ludwig Hesshaimer sicherlich kein Avantgardist – dafür sind seine Darstellungen zu stark dem Symbolismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts verhaftet. Gerade durch diese Zeitgebundenheit seiner Werke werden diese zu einem herausragenden historischen Dokument für die künstlerische Bewältigung des Ersten Weltkriegs durch einen typischen Vertreter der letzten Generation der untergehenden Donaumonarchie, die Joseph Roth in „Radetzkymarsch“ literarisch verewigt hat.
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Abb. 11. Ludwig Hesshaimer: Das Lied vom Schlachtfeld, Blatt 9, 1928. Radierung, Nachlass Hesshaimer, Depositum Siebenbürgisches Museum Gundelsheim.
SCHIMBARE DE SCENĂ CU ZGOMOT DE LUPTĂ Transilvania și Primul Război Mondial Rezumat Acest volum cuprinde o serie de studii despre Transilvania din perioada de dinainte, din timpul Primului Război Mondial și de după acesta. Publicația de față îmbogățește pe de o parte cercetarea referitoare la istoria acestei țări din interiorul arcului Carpatic, iar pe de altă parte, din cauza accentului regional, are menirea de a furniza un fundament pentru cunoașterea nivelului aflat în dedesubtul temelor majore ale Primului Război Mondial. Perspectiva statului ca întreg se reflectă doar în două lucrări: Perspectiva militară o abordează renumitul istoric militar Manfried Rauchensteiner cu întrebarea, ce rol i s-a atribuit cu zeci de ani înainte de 1914 Transilvaniei, provinciei ereditare a coroanei, în căutarea unei linii clare de strategii, în timp ce varianta diplomatică și de politică externă a fost tratată de Gerald Volkmer prin aplecarea sa asupra problemei Transilvaniei în cadrul relațiilor dintre Germania, Austro-Ungaria și România din perioada de dinainte de august 1916 (când România atacă Austro-Ungaria). Toate celelalte texte au un caracter de istorie regională și se referă la fațete care trebuiesc căutate în cadrul politicii mari. La începutul volumului stau comentariile lui Zsolt K. Lengyel, care analizează linia oficială a guvernului maghiar de dinainte și din timpul războiului mondial, care, ca urmare a revendicărilor schimbătoare și crescute, a dispus de un spațiu de manevră din ce în ce mai restrâns. La acesta se alătură lucrarea lui Stéphanie Danneberg, care s-a aplecat asupra relației dintre sași și români devenită deja înainte de atacul României asupra Austro-Ungariei din ce în ce mai încordată. Enikő Dácz completează acestea, investigând comportamentul parlamentarilor ardeleni în parlamentul ungar în timpul Primului Război Mondial, arătând totodată că tărăgănarea războiului a dus la confruntarea accentuată a pozițiilor. Perioada „zgomotului de luptă” este tratată în numeroase studii. Harald Roth privește orașele din Transilvania atât ca pe o arenă de luptă cât și ca puncte de comandă ale organizării dintre organele militare și cele civile. Un echivalent la lucrarea precedentă reprezintă cercetarea
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Rezumat
lui Irmgard și Werner Sedler despre Veseud, unde comunitatea satului a trăit nu doar pe propria piele războiul, ci a lăsat în urmă un bogat patrimoniu de amintiri. Cunoștințe asemănătoare oferă Frank Schuster, care referindu-se la Cisnădie, prezintă ce efecte profunde au cauzat evenimentele de război în mințile și inimile oamenilor. Hansgeorg von Killyen se dedică medicilor din Transilvania precum și provocărilor cărora au fost supuși în timpul războiului mondial, în timp ce Erika și Eckbert Schneider reconstruiesc soarta unui caz particular, a medicului sas Hermann Breckner, care a ajuns prizonier de război în Rusia. Ingrid Schiel se concentrează asupra problemei în ce măsură și cu ce efect pentru Transilvania a fost contribuția femeilor, printre altele, în săptămânile de luptă, și deschide astfel noi perspective. Ulrich A. Wien se ocupă pe baza numeroaselor izvoare (și citate) de politica bisericii protestante C. A., având în vedere numeroasele deziderate care s-au formulat în anii războiului în primul rând în regiunile locuite de sași. Ionela Zaharia, pe de altă parte, se dedică clerului ortodox român, care a avut grijă de românii de pe front precum și de cei din spatele frontului și din spitale. Partea de încheiere cuprinde cinci studii. Florian Kührer-Wielach abordează într-un mod critic unirea Transilvaniei cu România și arată cât de dificilă a fost pentru toți cei implicați schimbarea de scenă de la Ungaria la România. În schimb Rudolf Gräf își îndreaptă atenția spre Banatul învecinat și schițează ce perspective au apărut, când sfârșitul războiului și începutul perioadei postbelice amenința o revoluție socialistă (asemănătoare celei din Ungaria propriu-zisă sub conducerea lui Béla Kun), iar pe de altă parte ocupația și ulterior împărțirea țării deveniseră iminente. Perspective culturale și de istorie culturală oferă Markus Lörz, Bernhard Böttcher și Franz Sz. Horváth: Primul comentează grafica de război a lui Ludwig Hesshaimer referitoare la Transilvania, al doilea cercetează la sașii din Transilvania și șvabii din Banat cultura memoriei referitoare la război, iar al treilea a preluat firul de la Zsolt K. Lengyel și mijlocește două aspecte interconectate – pe de o parte perspectiva ungurilor în timpul războiului cu privire la români și sași și pe de altă parte natura culturii de jelire la maghiari în perioada interbelică, și anume având la bază șocul colectiv cauzat de tratatul de pace de la Trianon. Mesajul central al lucrărilor bazate pe studiul izvoarelor se cristalizează în următoarele constatări: Chiar dacă pe pământul Transilvaniei evenimentele legate de război au durat un timp scurt și nu au cuprins întreaga regiune, totuși, Primul Război Mondial a dus la o profundă îngrijorare în rândul populației
Schimbare de scenă cu zgomot de luptă
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din Transilvania, deoarece țara și oamenii au avut de suferit și din cauza celorlalte fronturi mai mari și cu pierderi mai semnificative, dar și din cauza mizeriei din ținuturile de coroană din cadrul Imperiului Austro-Ungar. Chiar dacă doar anii 1917/18 au oferit ultimele premise pentru schimbarea de scenă, și anume pentru transferul Transilvaniei de la Regatul Ungar la Regatul României, relațiile dintre grupurile etnice cât și situația constituțională au fost atât de greu de descâlcit, încât o soluție în sensul continuității a fost greu de imaginat. În ciuda tuturor incertitudinilor din timpul războiului, contemporanii nu puteau prevedea cum vor evolua lucrurile după 1918 și în anii următori, nemaivorbind de faptul că după o generație zgomotul de luptă se va reîntoarce în țară având urmări și mai grave.
C S ATA Z A J J A L H E LY S Z ÍN V ÁLT O Z ÁS Erdély és az első világháború Összefoglalás Jelen kötet számos tanulmányt tartalmaz az első világháború előtti, alatti és utáni Erdélyről. Az adott publikáció egyrészt gazdagítja a Kárpátok övezte ország történelmének kutatását, másrészt az az előnye, hogy regionális fókuszáltsága miatt, építőkövet biztosít az első világháború nagy témáin belül levő színt megismeréséhez. Az államnak, mint egésznek, megközelítése csak két tanulmányban lelhető fel: a katonai változatban Manfried Rauchensteiner, az ismert katonai történész, azt a kérdést veti fel, hogy egy világos stratégiai vonal keresésében milyen szerepet szántak a korona birtokát képező Erdélynek az 1914 előtti évtizedekben, míg a diplomáciai-külpolitikai változatot Gerald Volkmer tárgyalja, aki az erdélyi kérdést a Németország, Osztrák-Magyar Monarchia és Románia közötti kapcsolatok keretein belül világítja meg, mégpedig az 1916 augusztusa előtti időszakból, mielőtt Románia megtámadta Ausztriát és Magyarországot. Az összes többi szövegnek regionálistörténeti jellege van és olyan arculatokra villantanak fényt, amelyek a nagypolitika regiszterébe sorolhatók be. Az elején Lengyel K. Zsolt észrevételei találhatók, aki a magyar kormány világháború előtti és alatti hivatalos vonalát elemzi, amelynek a változó és növekvő követelések egyre kevesebb mozgásteret engedélyeztek. Ehhez kapcsolódik Stéphanie Danneberg tanulmánya, aki a szászok és románok közötti viszonynak szenteli figyelmét, amely már Románia Ausztria és Magyarország elleni támadása előtt is egyre feszültebbé vált. Dácz Enikő kiegészítésképpen az erdélyi képviselőknek a magyar országgyűlésben tanúsított magatartását taglalja és ugyancsak rávilágít arra, hogy a háború elhúzódásával párhuzamosan egyre inkább egymásnak feszültek az álláspontok. A „csatazaj” időszakát Erdélyben számos tanulmány taglalja. Harald Roth az erdélyi városokra veti pillantását, úgy is mint a csaták színhelyére és mint a hadi valamint civilszervezetek kapcsolatteremtési helyére. Megfelelő párját képezi az Irmgard és Werner Sedler Szászvessződről szóló kutatása, melynek faluközössége nemcsak testközelből ismerte meg a háborút, hanem egy tartalomban gazdag örökség emlékeit is maga után hagyta. Hasonló ismeretekkel szolgál Frank Schuster, aki Nagydisznódra vonatkoztatva bemutatja, hogy milyen mély nyomokat hagyott maga után a háború a fejekben valamint a szívekben. Hansgeorg von Killyen az erdélyi orvosoknak és azok világháború
Csatazajjal helyszínváltozás
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alatti kihívásainak szenteli figyelmét, míg Erika és Eckbert Schneider egy egyedi esetet, mégpedig Hermann Breckner szász orvos sorsát rekonstruálják, aki orosz hadifogságba került. Ingrid Schiel arra a kérdésre fókuszál, hogy az asszonyok hogyan és Erdélyre nézve milyen hatással tevékenykedtek többek között a harcok heteiben, és ezen belül új perspektívákat nyit meg. Ulrich A. Wien számos (idézett) forrásokra hivatkozva a protestáns A. B. egyház politikájával foglalkozik, tekintettel a számos elvárásra, amelyek a háború évei alatt főleg a szászok lakta vidékeken fogalmazódtak meg. Ionela Zaharia viszont a román ortodox papságnak szenteli figyelmét, melynek nem csak a fronton, hanem a front háta mögött és a kórházakban is gondoskodnia kellett a románokról. A záró rész öt tanulmányt tartalmaz. Florian Kührer-Wielach Erdély egyesülését Romániával veszi kritikusan górcső alá és bemutatja, hogy az összes érintett számára milyen nehézségekkel járt a Magyarországról Romániára való átállás. Rudolf Gräf viszont a szomszédos Bánátra tekint és felvázolja, hogy milyen perspektívák körvonalazódtak, amikor a háború végén és utána egyfelől egy szocialista forradalom fenyegetett (hasonló mint az anyaországban Kun Béla vezetése alatt) és másfelől a megszállás, majd azt követően, az ország felosztása állt a küszöb előtt. Kulturális és művészettörténeti bepillantást nyújtanak Markus Lörz, Bernhard Böttcher és Franz Sz. Horváth: az első Ludwig Hesshaimer Erdélyre vonatkozó háborús grafikáját kommentálja, a második a világháborúra vonatkozó emlékezési kultúrát kutatja az erdélyi szászoknál és a bánáti sváboknál a két világháború közötti időszakban, míg a harmadik Lengyel Zsolt K. fonalát veszi fel újra és két egymásba fonódó szempontot közvetít – egyfelől a magyaroknak a világháború alatt a románokkal és szászokkal szemben tanúsított nézőpontját, másrészt a magyaroknak a két világháború közötti gyászkultúrájának a természetét, melynek hátterében a trianoni békeszerződés által kiváltott kollektív sokkhatás állt. A forráskutatás alapú tanulmányoknak a központi üzenete a következő megállapításokban fogalmazódik meg: Még ha a tulajdonképpeni háborús események Erdély földjén csak rövid ideig zajlottak és nem is érintették az ország egészét, mégis mély nyomot hagyott az első világháború az erdélyi lakosságban, mivel az ország és az emberek, a többi, nagyobb és sok áldozatot követelő frontokon valamint az OsztrákMagyar Monarchia többi tagországaiban dúló nyomor miatt is szenvedtek; Még ha csak az 1917-es/1918-as évek szolgálták az utolsó feltételeket a színtérváltozáshoz, azaz Erdély átcsatolásához a Magyar Királyságtól a Román Királysághoz, az etnikai csoportok közötti kapcsolatok valamint az alkotmányos helyzet annyira bonyolultak voltak, hogy egy, a kontinuitást figyelembe vevő megoldás nehezen elképzelhető volt; A háború alatti összes bizonytalanság ellenére a kortársak nem láthatták előre, hogy mivé fejlődnek a dolgok 1918-ben és a rá következő időszakban, és azt semmi szín alatt sem, hogy egy generáció után a csatazaj ismét visszatér az országba és jelentősen komolyabb következményekkel fog járni.
M I TA R B E I T E RV E R Z E I C H N I S Bernhard Böttcher, Dr., Oberstudienrat, Lehrbeauftragter für Geschichtsdidaktik an der Universität Paderborn Enikő Dácz, Dr., Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, München Stephanie Danneberg, Dr., Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, München Rudolf Gräf, Univ.-Prof. Dr., Prorektor der Babeș-Bolyai-Universität Cluj-Napoca/Rumänien Harald Heppner, Univ.-Prof. i. R. Dr. Dr. h. c. (mult.), Institut für Geschichte, Universität Graz Franz Sz. Horváth, Dr., Studienrat, Rüsselsheim Zsolt K. Lengyel, PhD, Ungarisches Institut, Regensburg Markus Lörz, Dr., Siebenbürgisches Museum, Gundelsheim Hansgeorg v. Killyen, Dr. Oberstudienrat, Lahr/Schwarzwald Florian Kührer-Wielach, Dr., Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, München Manfried Rauchensteiner, Univ.-Prof. i. R. Dr., Wien Harald Roth, Dr., Deutsches Kulturforum Östliches Europa, Potsdam Ingrid Schiel, Dr., Siebenbürgen-Institut, Gundelsheim Irmgard Sedler, Dr., Museum im Kleinhues-Bau, Kornwestheim Werner Sedler, ehem. Gymnasialprofessor und Beamter, Kornwestheim Eckbert Schneider, Dr., Rastatt Erika Schneider, Prof. Dr., Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Geographie und Geoökologie, Rastatt Frank M. Schuster, Dr., Univ.-Prof., Philologische Fakultät der Academy of Humanities and Economy, Łódź/Polen Gerald Volkmer, DDr., Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Oldenburg Ulrich A. Wien, Dr., Institut für Evangelische Theologie der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau Ionela Zaharia, Dr., Projektantin an der Babeș-Bolyai-Universität ClujNapoca/Rumänien
PERSONENREGISTER Ajtay József 349 Alexander serb. König 351 Andrássy Gyula 33 Angelescu Constantin 351 Anghilescu 211 Antolffy Ernst 349 Antoni Malwine 207 Apáthy István 53, 55, 64–66, 72, 76, 78, 79, 87, 93–97, 101, 103–110 Apponyi Albert 76, 78, 84, 120, 140 Arndt Ernst Moritz 393 Azapu Iancu 347 Arjutinow 203 Arz Albert 239 Arz Anna 230 Arz Christian 230, 231 Arz Michael 227, 230, 231 Arz von Straußenburg Arthur 42, 49, 52, 156, 275 Baiulescu 127 Bánffy Miklós 63 Bariţiu George 118, 119 Bartel Johann 240 Bartha Albert 327 Benedikt XV. 316 Bennes 209 Berchtold von und zu Ungarschitz Leopold 19, 20, 24, 37, 38 Berende 211 Berthelot Henri M. 32, 104 Bethlen István 56, 58–61, 63, 65, 67, 71, 72, 74, 76, 78, 82, 84, 95–97, 135, 139, 140 Bethmann Hollweg Theobald von 23, 142 Bibescu Marthe-Lucie 211 Bielz Eduard Albert 280 Bielz Friedrich 280 Bielz Julius 280
Biliński Leon von 39 Binder Carl 292 Binder Martin 170 Binder Sofie 291, 294–296, 300–303 Bjelik Emmerich 314 Bocşan Nicolae 325 Boia Lucian 29 Boldea Paul 315, 321 Bologa Valeriu 281 Bolovan Petru 342, 347–349 Blümel 318 Brandsch Rudolf 116, 121, 134, 135, 145, 389 Brătianu Ion 13, 15, 17, 25–28, 40, 44, 343 Brebits 337 Breckner Andreas 292, 295 Breckner Hermann 290–311 Breckner Johann 291, 295 Buracu Coriolan 321 Burián von Rajecz István 22, 23, 26–28, 45, 91, 92 Bussche-Haddenhausen Hilmar Freiherr von dem 25, 27 Cäsar röm. Kaiser 52 Cantacuzino Nicolae 40 Carossa Hans 280 Carp Petre 14, 15, 25 Cieger András 130 Clark Christopher 273 Conrad von Hötzendorf Franz 19, 24, 35–39, 41, 47, 48, 52 Copony Traugott 134, 135, 145 Copony Wilhelm 121 Cornwall Mark 323 Cosma Partenie 123 Craţmaru 333 Cristea Miron 123, 317
434
Register
Czernin von und zu Chudenitz Ottokar 16, 19, 21–25, 27, 28, 35, 40, 42, 44
Friedrich Barbarossa 412 Friedrich Christian von Sachsen 155 Friedrich Stefan 348
Dahinten Ernst 135 Darányi Ignác 140 Darvari 127 Darvas József 367 Depner Peter 172 Deutsch Leopold 282, 283 Dörschlag Conrad 282 Dózsa Endre 57, 58 Durma 211, 212
Gabriel Josef 327, 337 Gambetta 328 Geistlinger 335 Gépész 301 Giesswein Alexandru 350 Goiginger Ludwig 52 Glondys Viktor 162 Goethe Johann Wolfgang von 410 Goga Octavian 25, 26, 133 Goldbach Anton 45, 301 Goldiş Vasile 108 Gömbös Gyula 371 Gottschling Georg 239 Gratz Gustav 135–137 Gündisch Georg 132 Gündisch Guido 132, 135 Gündisch Hilda 251, 257, 259, 262, 264, 270, 271 Gyárfás Elemér 371, 372
Ehrlich Johann 227, 228, 231, 234 Ehrlich Maria 234, 237 Ehrlich Michael 227, 232–237 Elanski 284, 285 Elias Norbert 400 Ernst Heinrich 281 Erzberger Matthias 22, 23, 125 Esterházy Móric 74 Fabini Ludwig 275 Falkenhayn Erich von 48, 49, 51, 52, 187, 238, 239 Farret Leo 327 Fejérváry Jenő von 205 Fejérváry Julie von 201, 202 Ferdinand rum. König 17, 25, 28 Filipescu Nicolae 14 Fleischer Julianne 269 Fleischer Mathilde 249, 251, 252, 256–258, 262, 264–268, 270–272 Fleşaru Ioan 229 Földes Béla 76 Forgach Johann von 35 Franchet d’Espèrey Louis Félix 328 Frank Georg 224 Frantz Constantin 111 Franz Ferdinand, österr. Erzherzog 19, 21, 34, 116, 120, 121, 164, 178, 290, 365, 403 Franz Joseph österr. Kaiser 17, 19, 21, 36, 46, 47, 52, 137, 237, 290, 318, 412 Franz Salvator österr. Erzherzog 155 Friedrich österr. Erzherzog 50, 155
Haeckel Ernst 281 Hager Hans 284 Hager Wilhelm 282, 284, 285 Hajnal Marianne von 202 Haller Stefan 348 Halphen Joseph 277 Heltner Wilhelm 277, 285 Heltsch Wilhelm 228 Herberstein Herbert 47 Herbert Georg 253 Herfurth Franz 190, 192, 193 Hesshaimer Ludwig 403-412, 418, 419-422, 425 Hindenburg Paul von 18, 52 His Wilhelm 292 Hock János 145 Hohenlohe 123 Horthy Miklós 359, 361 Houlihan Patrick 323 Hoyos Alexander 37 Hügel Johanna 291 Hügel Lotte 294, 295, 304 Huszár Károly 348 Hutter Jakob 277
Personenregister
Illes István von 349 Imrey 350 Ionescu Take 14, 140 Isac Emil 87 Iudean Ovidiu-Emil 133 Jagow Gottlieb von 20 Jakabffy Elemér 371, 372 Jakobi Koloman 331 Janovics Jenő 102 Jansen Jan 382, 399 Jászi Oszkar 66, 71, 90–92, 94, 96–99, 101, 103, 109–111, 218 Jikeli Carl 280 Joseph II. österr. Kaiser 313 Karácsony Benő 367 Karl österr. Kaiser 91, 92, 95, 155, 213, Karl (Carol) rum. König 14, 16, 17, 24, 25, 33, 34, 39, 40, 43, 124, 149 Károly Mihály 65, 71, 91, 93–95, 97, 99, 100, 104, 108, 218, 283, 360 Kedves Stefan von 123 Kemény Árpád 66, 75 Kisch Gustav 205 Klein Michael 265, 268 Koltschak Alexander Wassiljewitsch 307, 308 Konnerth Daniel 172 Korbach 209 Korodi Lutz 133 Koselleck Reinhart 379 Kovács Anny 209, 210, 211, 213, 221 Kovács Julius 209, 130 Kratochvill Károly 215, 217, 219, 358, 360, 361 Krobatin 39 Kun Béla 298, 359, 360 Kuncz Aladár 367 Lani Hermine von 201 Lassel Emil 274 Leonhard Jörn 379, 382, 399, 400 Lucaciu Vasile 25, 26, 133 Ludendorff Erich 52 Ludwig III. bayr. König 155 Lüttwitz Walther von 213
435
Lukacs György 357 Lupşa Aaron 318 Luther Martin 165 Maaßen Wolfgang 403 Mackensen August von 51, 52, 187, 213, 283 Maiorescu Titu 14 Maniu Iuliu 109, 110, 111, 339, 341–343 Marghiloman Alexandru 14, 25 Maria rum. Königin 17, 351 Markovits Rodion 365, 366, 367 Mattanović Ernst 43 Matscheko Franz von 37 Mayer 335 Mederus Margarete 284, 285 Melms 213 Melzer Wilhelm 138, 145 Mesch Hedwig 270 Metianu Johann 123, 177 Michael rum. König 395 Michaelis Franz 298, 210–212 Miess Johann 228, 240 Miess Maria 239 Miess Michael 227, 228 Miess Wilhelm 227, 228 Mihali Tivadar 135, 145 Mikes 214 Mikes Imre 367, 368 Moltke Helmuth von 35, 37 Morres Wilhelm 125, 126 Mosoiu General 283 Mosse George 380 Müller Friedrich 125 Müller Koloman 325, 330–338 Münich Franz 298 Musoiu 253 Mussolini Benito 371 Nagy Ildiko 357 Napoleon Bonaparte 52 Nenadović Pavle 313 Neumann Alfred 280 Neuwirth 214 Nicolai 288 Nikolaus II. russ. Zar 36 Njegovan Viktor 45
436
Register
Nora Pierre 401 Novac Traian 327, 335 Opriş Leonte 179 Otto Wilhelm 201 Ottolescu 213 Paál Árpád 75 Pál Ferenc 374 Papp Johann 277 Perianovici 333 Peter serb. König 412 Petri Katharina 252, 257, 260, 261, 272 Petri Michael 250, 253, 254, 268, 272 Petrichevich-Horváth Emil 80–82 Pflanzer-Baltin Karl von 43, 48, 49 Phleps Erich 301 Phleps Gustav 293 Piringer Otto 167 Plaßmann Otto 377 Pop Nistor 229 Pop Ştefan C. 133, 135, 136, 141, 142 Popovici Aurel C. 21 Popescu Major 395 Praporescu David 32 Preda Johann von 123 Ratzenhofer Gustav 142 Razu 213 Redlich Josef 52 Reichart Johannes 170 Rejöd Tibor J. 125, 126 Rether Michael 303 Révesz Béla 280, 285, 286 Révesz Sándor 131, 132 Rosetti Theodor 14 Roth Harald 124 Roth Josef 425 Roth Otto 326, 327, 329, 331 Rothmann Andreas 227–229 Rothmann Georg 227, 228, 237 Rothmann Johann 227, 228, 239 Rothmann Michael 239, 240 Rupa Gabor 229, 237 Ruskin 408 Rusu Alexandru 317
Salmen Johann 227, 228 Salmen Maria 230 Schaff Jakob 277 Schaser Julius 162 Scherg Emma 213 Schieb Johann 230 Schmidt Karl 136–139, 141 Schneider Eckbert 294 Schneider Georg 228 Schneider Herta 294, 295 Schneider Leonhard 240 Schneider Michael 227–230 Schnell Auguste 199, 214, 393–395 Schnell Karl 198, 214, 274 Schreiber Franz 205 Schuller Rudolf 138, 141, 144 Schullerus Adolf 123, 158, 167, 168, 178, 180, 190, 192, 193 Schunn 189 Schuster Georg 166 Sedler Martin 238 Sedler Michael 227, 238 Seiferth 227 Semenfalvy 350 Şerban Nicolae 133, 142, 143 Servatius 216 Siegescu Iosif 133, 145 Şincai Gheorghe 344 Spreer Melitta 310 Stanatiev Mladin 333, 337 Stürgkh Karl 37, 39 Sturdza Dimitrie A. 13 Szterényi József 137 Stoica 337 Sulyok István 371, 372 Szentimrei Jenő 86, 88 Tânţariu Alexandru 321 Teutsch Friedrich 117, 119, 123, 162, 187, 188, 194, 280, 392, 394, 396 Teutsch Georg D. 165 Thomas Richard 129 Ţiclovan 335 Tisza Borosjenő und Szeged István 19–23, 37–39, 46, 61, 62, 64, 65, 68, 69, 72, 94, 95, 115, 119–122, 125, 130, 132 Tokoos Gyula 348
Ortsregister
Tolstoj Lew Nikolajewitsch 408 Tournadre Charles 328 Tschirschky Heinrich von 21, 22 Ugron Gábor 74, 75, 78, 82, 83, 96 Ungar Karl 280, 287–289 Urmánczy Nándor 373 Urmaneczy Ferdinand 348 Vaida-Voievod Alexandru 144, 341, 342, 345 Varga Ioan 229 Varga Matei 227, 229, 238 Varga Michael 330 Viktoria engl. Königin 17 Vlad Aurel 133 Vlad Gheorghe 277 Vlad Dorimedont 39
437
Waldthausen Julius von 18 Weber Eugen 298, 299 Weese Franz 277 Weindel Viktor 286 Weisz Manfred 79 Wekerle Sándor 84, 140, 143 Wilhelm II. deutscher Kaiser 16, 37, 40, 155 Willer József 363 Wilke Fritz 170 Wilson Woodrow 90, 91, 92, 140 Wittstock Oskar 170 Wolff Karl 301, 116, 123 Worell Eugen 286, 287 Ziegler Emil 275 Zillich Heinrich 157, 158, 168 Zottu Vasile 49
Walbaum Friedrich 162
ORTSREGISTER Abrud-Banya 260 Agnetheln 132, 215, 223, 239, 290–292, 294, 295, 310, 311 Agram 146, 338 Aiud 347 Alexanderhausen 389 Altwerbaß 183, Arad 85, 96–98, 101, 103, 109, 115, 270, 285 Aussig 146 Bács-Bokod 263, 266, 268 Bajsa 262 Bánffyhunyad 263 Baranowitschi 293 Békéscsaba 270 Belgrad 40, 95, 350
Berlin 9, 12, 15, 18, 23, 25, 27, 29, 37, 38, 44, 48, 133, 156, 193, 284, 292, 295, 309, 350 Bern 350 Bethlen 204 Birthälm 174 Bistritz 136, 146–150, 197, 198–200, 203–206 Blasendorf 316, 344 Bluthroth 257 Bodendorf 208 Bogarosch 388 Boiţa 248 Brad 261 Brăila 351 Braller 238, 240 Brest 293
Ortsregister
Tolstoj Lew Nikolajewitsch 408 Tournadre Charles 328 Tschirschky Heinrich von 21, 22 Ugron Gábor 74, 75, 78, 82, 83, 96 Ungar Karl 280, 287–289 Urmánczy Nándor 373 Urmaneczy Ferdinand 348 Vaida-Voievod Alexandru 144, 341, 342, 345 Varga Ioan 229 Varga Matei 227, 229, 238 Varga Michael 330 Viktoria engl. Königin 17 Vlad Aurel 133 Vlad Gheorghe 277 Vlad Dorimedont 39
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Waldthausen Julius von 18 Weber Eugen 298, 299 Weese Franz 277 Weindel Viktor 286 Weisz Manfred 79 Wekerle Sándor 84, 140, 143 Wilhelm II. deutscher Kaiser 16, 37, 40, 155 Willer József 363 Wilke Fritz 170 Wilson Woodrow 90, 91, 92, 140 Wittstock Oskar 170 Wolff Karl 301, 116, 123 Worell Eugen 286, 287 Ziegler Emil 275 Zillich Heinrich 157, 158, 168 Zottu Vasile 49
Walbaum Friedrich 162
ORTSREGISTER Abrud-Banya 260 Agnetheln 132, 215, 223, 239, 290–292, 294, 295, 310, 311 Agram 146, 338 Aiud 347 Alexanderhausen 389 Altwerbaß 183, Arad 85, 96–98, 101, 103, 109, 115, 270, 285 Aussig 146 Bács-Bokod 263, 266, 268 Bajsa 262 Bánffyhunyad 263 Baranowitschi 293 Békéscsaba 270 Belgrad 40, 95, 350
Berlin 9, 12, 15, 18, 23, 25, 27, 29, 37, 38, 44, 48, 133, 156, 193, 284, 292, 295, 309, 350 Bern 350 Bethlen 204 Birthälm 174 Bistritz 136, 146–150, 197, 198–200, 203–206 Blasendorf 316, 344 Bluthroth 257 Bodendorf 208 Bogarosch 388 Boiţa 248 Brad 261 Brăila 351 Braller 238, 240 Brest 293
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Register
Briesen 404 Broos 39, 270 Bruck/Leitha 230 Brünn 36, 230, 293 Budapest 10, 18–22, 24, 25, 35, 51, 53, 57, 58, 62, 63, 82, 92, 98, 100, 101, 108, 109, 111, 115, 122, 125, 152, 187, 198, 203, 215, 283, 284, 315, 335, 348, 349, 350, 351, 355 Bürgisch 240 Buftea 71 Bukarest 9, 16–18, 20, 21, 23, 26, 27, 29, 30, 34, 35, 40, 41, 43, 44, 46–48, 50, 52, 54, 71, 118, 120, 152, 190, 285, 347, 349, 352, 353, 394 Căineni 32 Cholm 48 Cotroceni 28 Czartorysk 293, 294 Czernowitz 43, 148, 162, 203, 351 Debrecen 49, 321 Delatyn 282 Desch 84 Deutsch-Zepling 168 Diemrich 98, 104, 122, 353 Dorna-Watra 203 Düsseldorf 284 Élesd 263 Elisabethstadt 193 Fălticeni 351 Fogarasch 147, 214, 392 Fokschan 71 Frauenbach 104 Freck 178, 189, 287, 301 Freidorf 385 Gertianosch 387 Görz 404, 407, 421 Grabatz 385 Graz 193, 287 Großkikinda 261, 334 Großpold 167, 187 Großschenk 184, 186, 188, 206 Großscheuern 178, 182, 183
Großwardein 41, 85, 144, 263, 265 Hahnbach 179, 180, 184, 185, 187 Hajmáskér 31 Hamlesch 252 Hammersdorf 32, 153 Hamruden-Reps 200 Harbachsdorf 238 Hatzeg 49 Hatzfeld 334 Heidendorf 204 Heldsdorf 190, 207 Heltau 170, 199, 248, 250, 254–256, 258, 259, 261, 264–269, 272, 304 Hermannstadt 36, 39, 41–43, 45, 77, 116, 118, 119, 125, 126, 146, 147, 149–156, 161, 166, 167, 174, 176–179, 182, 187, 188, 192, 193, 197–199, 201, 205, 213, 215, 229, 231, 238, 248, 252, 253, 271, 273, 275–281, 283–288, 290–295, 301, 305, 310, 392, 393 Hosszúfalu 143 Hundertbücheln 238 Ivangorod 293 Jassy 14 Jena 281 Józsahely 261 Karansebesch 122, 317 Karlsbad 282 Karlsburg 41, 103, 110, 146, 241, 330, 340, 341 Karlowitz 313 Kaschau 227, 286, 315 Kassel 377 Keisd 303 Kerestényfalu 137 Kerz 183, 190, 392, 393 Kiel 290, 292 Kirchberg 184 Kischinew 287, 351 Klausenburg 41, 64, 68, 72, 76, 77, 80, 85, 94, 101, 102, 104, 105, 107, 109, 136, 146, 182, 205, 208, 262,
Ortsregister
281, 292, 302, 310, 330, 346, 347, 353, 358, 371 Kleinkopisch 200, Kleinsanktpeter 385 Kleinschelken 183 Kleinscheuern 252, 253 Kolomea 43 Konstantinopel 30 Kopenhagen 302 Krisbach 208 Kriscior 261 Kronstadt 42, 49, 63, 76, 77, 123, 124, 126, 127, 137, 141, 146, 147, 149, 150–152, 154–157, 188, 190, 192, 198, 199, 205, 209, 210, 213, 214, 217, 218, 228, 239, 274, 281, 286, 394 Kupinovo 135 Kuty 282 Leipzig 117, 156, 193, 302 Lemberg 27, 146, 164, 405, 406 Lenauheim 385 Leningrad 284 Limanowa 406 London 11, 287, 350 Lowrin 386, 389 Mădăraş 364 Maglaj 232 Mărăşeşti 32 Marienburg 208 Marktschelken 183 Marmarosch 282 Martinsberg 230 Mediasch 183, 199, 291 Mercydorf 386 Mergeln 238 Moskau 285, 309 Mühlbach 147 München 286, 287 Nagylupsa 260 Nassod 204, 344 Neumarkt 64, 67, 68, 76, 77, 85, 146, 364 Neusatz 330 Neuwerbaß 187
Niklasmarkt 49 Nußbach 208, 209, 211, 213 Oderhellen 75 Omsk 294, 307, 311 Orawitz 133 Orenburg 294–296, 299, 304, 305 Orschowa 36, 49 Orzydorf 388 Paderborn 377, 401 Pankota 261 Paris 11, 350 Păsăreni 364 Perjamosch 261 Petersberg 118 Petersburg 309 Pfauendorf 374 Piski 270 Plevlje 235 Poian 375 Pola 286 Prag 286, 350 Preßburg 403 Pretai 183 Przedbórz 43, Przemyśl 229, 296 Radautz 38, 39, 45 Radna 282 Ragusa 315 Rastatt 294 Reci 374 Reschitza 326 Reps 208 Reußen 183 Riga 284 Rom 18 Romuli 204 Rosenau 286 Rothbach 208 Rothberg 238 Sächsisch-Reen 148, 205 Salzberg 280 Salzburg 153, 403 Sanktandreas 385 Sarajewo 37, 121, 164, 222, 290
439
440 Sathmar 161 Schäßburg 117, 155, 177, 183, 200, 208, 209, 238, 298 Scharosch 172 Seligstadt 238 Semnitza 232 Sighet 351 Silistria 34 Sofia 35, 350 Sopronnyeck 321 Steierdorf 333 Stettin 309 St. Georgen 260, 262 Stockholm 350 Stolzenburg 183 Straßburg 259 Suceava 38, 45 Sz. Keresztúr 184 Szeged 98, 107, 359 Talmesch 49, 248, 249 Tarnów-Gorlice 44 Tekendorf 205 Telestar 329 Temeswar 43, 85, 325, 326, 327, 329–335, 337, 351, 384, 388, 389 Thorenburg 262 Törnen 256, 257
Register
Töwisch 259 Tomsk 294, 295, 298–302, 304, 305 Topolica 236 Tordaszentlászló 263 Trianon 29, 241, 333, 367 Tübingen 284 Tulcea 351 Uj-Arad 261 Ungarisch Weißkirchen 41 Vaslui 351 Verdun 28 Warjasch 385, 387 Washington 92 Wien 9, 12, 15, 18, 22, 25, 27–29, 34–37, 40, 41, 44, 46, 50, 92, 125, 193, 203, 281, 286, 287, 299, 315, 348, 349, 350, 372 Wird 239 Wittenberg 175 Wladiwostok 286, 307 Zeiden 274 Zied 222–225, 228, 233, 236–241 Zoodt 251, 268
SIEBENBÜRGISCHES ARCHIV ARCHIV DES VEREINS FÜR SIEBENBÜRGISCHE LANDESKUNDE IM AUF TRAG DES ARBEITSKREISES FÜR SIEBENBÜRGISCHE LANDESKUNDE E. V. HERAUSGEGEBEN VON ULRICH A. WIEN UND HARALD ROTH
EINE AUSWAHL
BD. 40 | HARALD ROTH (HG.) DIE SZEKLER IN SIEBEN BÜRGEN
BD. 36 | HEINZ HELTMANN,
VON DER PRIVILEGIERTEN
HANSGEORG VON KILLYEN (HG.)
SONDERGEMEINSCHAFT ZUR
NATURWISSENSCHAFTLICHE FOR-
ETHNISCHEN GRUPPE
SCHUNGEN ÜBER SIEBENBÜRGEN VI
2009. VIII, 280 S. 16 S/W-ABB. IM TEXT. BR.
BEITRÄGE ZUR GEOGRAPHIE, BOTANIK,
ISBN 978-3-412-20240-8
ZOOLOGIE UND PALÄONTOLOGIE 2000. X, 305 S. 32 S/W-ABB. BR.
BD. 41 | ULRICH A. WIEN (HG.)
ISBN 978-3-412-03800-7
REFORMATION, PIETISMUS, SPIRITUALITÄT
BD. 37 | ULRICH A. WIEN,
BEITRÄGE ZUR SIEBENBÜRGISCH-
KRISTA ZACH (HG.)
SÄCHSISCHEN KIRCHEN GESCHICHTE
HUMANISMUS IN UNGARN UND
2011. VIII, 316 S. BR.
SIEBENBÜRGEN
ISBN 978-3-412-20697-0
POLITIK, RELIGION UND KUNST IM 16. JAHRHUNDERT
BD. 42 | KONRAD GÜNDISCH (HG.)
2004. X, 240 S. 14 S/W-ABB. BR.
GENERALPROBE BURZENLAND
ISBN 978-3-412-10504-4
NEUE FORSCHUNGEN ZUR GESCHICHTE DES DEUTSCHEN ORDENS
BD. 38 | WALTER KÖNIG
IN SIEBENBÜRGEN UND IM BANAT
»SCHOLA SEMINARIUM
2013. 278 S. 62 S/W-ABB. BR.
REI PUBLICAE«
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AUFSÄTZE ZU GESCHICHTE UND GEGENWART DES SCHULWESENS IN
BD. 43 | JOACHIM VON PUTTKAMER,
SIEBENBÜRGEN UND IN RUMÄNIEN
STEFAN SIENERTH, ULRICH A. WIEN (HG.)
2005. XVI, 391 S. 1 S/W-ABB. AUF TAF. BR.
DIE SECURITATE IN SIEBENBÜRGEN
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2014. 432 S. BR. ISBN 978-3-412-22253-6
BD. 39 | PAUL PHILIPPI LAND DES SEGENS?
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FRAGEN AN DIE GESCHICHTE SIEBEN-
UMBRUCH MIT SCHLACHTENLÄRM
BÜRGENS UND SEINER SACHSEN
SIEBENBÜRGEN UND DER ERSTE
2008. XII, 394 S. BR.
WELTKRIEG
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SCHRIF TEN ZUR LANDESKUNDE SIEBENBÜRGENS ERGÄNZUNGSREIHE ZUM SIEBENBÜRGISCHEN ARCHIV HERAUSGEGEBEN VON ULRICH A. WIEN, ARBEITSKREIS FÜR SIEBENBÜRGISCHE LANDESKUNDE E.V. UND HARALD ROTH
EINE AUSWAHL
BD. 32 | GEORGE MICHAEL GOTTLIEB VON HERRMANN
BD. 27 | RICHARD SCHULLER
DAS ALTE KRONSTADT
DER SIEBENBÜRGISCH-SÄCHSISCHE
EINE SIEBENBÜRGISCHE STADT- UND
PFARRER
LANDESGESCHICHTE BIS 1800
EINE KULTURGESCHICHTE
HG. VON BERNHARD HEIGL UND
NACHDRUCK DER AUSGABE
THOMAS SINDILARIU
SCHÄSSBURG 1930
2010. XXX, 417 S. 10 S/W-ABB. MIT CD-
2003. XVIII, 396 S. GB.
BEILAGE. GB. | ISBN 978-3-412-20439-6
ISBN 978-3-412-10203-6 BD. 33 | PAUL BRUSANOWSKI BD. 28 | KRISTA ZACH (HG.)
RUMÄNISCH-ORTHODOXE
SIEBENBÜRGEN IN WORT UND BILD
KIRCHENORDNUNGEN 1786–2008
2004. XXII, 631 S. 250 S/W-ABB. GB.
SIEBENBÜRGEN – BUKOWINA –
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RUMÄNIEN
BD. 29 | ANNEMARIE WEBER, PETRA
ULRICH A. WIEN
HG. VON KARL W. SCHWARZ UND JOSTING, NORBERT HOPSTER (HG.)
2011. XII, 611 S. GB.
RUMÄNIENDEUTSCHE KINDER- UND
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JUGENDLITERATUR 1944–1989 EINE BIBLIOGRAPHIE
BD. 34 | FRANZ ZIMMERMANN
2004. XIV, 415 S. MIT CD-ROM. GB.
ZEITBUCH
ISBN 978-3-412-19003-3
AUTOBIOGRAPHISCHE AUFZEICHNUNGEN EINES
BD. 30 | KARL W. SCHWARZ,
HERMANNSTÄDTER ARCHIVARS
ULRICH A. WIEN (HG.)
(1875–1925)
DIE KIRCHENORDNUNGEN DER
HG. VON HARALD ZIMMERMANN
EVANGELISCHEN KIRCHE A. B. IN
2013. 262 S. 20 S/W-ABB. AUF 16 TAF.
SIEBENBÜRGEN (1807–1997)
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2005. IX, 414 S. GB. ISBN 978-3-412-13405-1
BD. 35 | ANNEMARIE WEBER (HG.) DIE DEUTSCHEN IN RUMÄNIEN
BD. 31 | GEORG SOTERIUS
1944–1953
»CIBINIUM«
EINE QUELLENSAMMLUNG
EINE BESCHREIBUNG HERMANNSTADTS
UNTER M ITARBEIT VON
VOM BEGINN DES 18. JAHRHUNDERTS
HANNELORE BAIER
HG. VON LORE POELCHAU
2015. 408 S. GB.
2006. XX, 284 S. GB.
ISBN 978-3-412-22528-5
RB190
ISBN 978-3-412-21505-7
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STUD IATR ANS YLVAN IC A ERG ÄNZ UNGSB ÄND EDES SIEB ENB ÜRG IS CHENARCHIVS HER AUSG EG EB ENVON HAR ALDROTHUNDULR ICHA.WIEN
EINE AUSWAHL
BD. 42 | ANDREAS MÖCKEL UMKÄMPFTE VOLKSKIRCHE
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LEBEN UND WIRKEN DES EVANGELISCH-
KIRCHENLIED ZWISCHEN PEST UND
SÄCHSISCHEN PFARRERS KONRAD
STADTBRAND
MÖCKEL (1892–1965)
DAS KRONSTÄDTER KANTIONAL I.F. 78
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2009. XII, 437 S. MIT CD-ROM-BEILAGE. GB. ISBN 978-3-412-20239-2
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DEUTSCHEN POLITIKERS (1890–1953)
KRIEGERDENKMÄLER DEUTSCHER
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WÄHREND DER ZWISCHENKRIEGSZEIT 2009. VIII, 440 S. 106 S/W-ABB. GB.
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ISBN 978-3-412-20313-9
ANDRÁS F. BALOGH (HG.) RADIKALE REFORMATION
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DIE UNITARIER IN SIEBENBÜRGEN
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ISBN 978-3-412-21073-1
EINER MINDERHEIT (1944–1971) 2010. VIII, 342 S. 5 FARB. ABB. AUF
BD. 45 | MICHAELA NOWOTNICK
2 TAF. GB. | ISBN 978-3-412-20538-6
DIE UNENTRINNBARKEIT DER BIOGRAPHIE
BD. 41 | EDDA BINDER-IIJIMA, HEINZ-
DER ROMAN „ROTE HANDSCHUHE“ VON
DIETRICH LÖWE, GERALD VOLKMER (HG.)
EGINALD SCHLATTNER ALS FALLSTUDIE
DIE HOHENZOLLERN IN RUMÄNIEN
ZUR RUMÄNIENDEUTSCHEN LITERATUR
1866–1947
2016. 359 S. 4 S/W-ABB. GB.
EINE MONARCHISCHE HERRSCHAFTS-
978-3-412-50344-4
ORDNUNG IM EUROPÄISCHEN KONTEXT 2010. V, 196 S. GB.
RC008
ISBN 978-3-412-20540-9
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MANFRIED RAUCHENSTEINER, JOSEF BROUKAL
DER ERSTE WELTKRIEG UND DAS ENDE DER HABSBURGERMONARCHIE 1914–1918 IN ALLER KÜRZE
Das Standardwerk des renommierten Historikers Manfried Rauchensteiner zum Ersten Weltkrieg liegt nach gemeinsamer Überarbeitung mit dem Journalisten Josef Broukal jetzt auch in komprimierter Form vor: für den raschen Überblick, verständlich geschrieben und spannend zu lesen. Mit Kartenmaterial und Chronik. Eine Strafexpedition gegen den Nachbarn Serbien sollte es sein, ein Weltkrieg mit 20 Millionen Toten wurde es. Am Ende ist die Habsburgermonarchie Geschichte. Zwischen dem Attentat von Sarajevo und dem Waffenstillstand liegen die Entfesselung des Ersten Weltkriegs, die Kriegserklärungen Italiens 1915 und der USA 1917, die letzten Lebensjahre Kaiser Franz Josephs, Kaiser Karls Versuche, einen Weg aus dem Krieg zu finden, der Zerfall ÖsterreichUngarns, Hunger und Elend – und in Folge veränderte nationale Grenzen. Josef Broukal und Manfried Rauchensteiner haben das große Geschehen in einem handlichen Band zusammengefasst. Informativ, prägnant und spannend. 2015. 276 S. 24 S/W-ABB UND 6 KT. BR. 135 X 210 MM. ISBN 978-3-205-79697-8
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NICOLA LABANCA, OSWALD ÜBEREGGER (HG.)
KRIEG IN DEN ALPEN ÖSTERREICH-UNGARN UND ITALIEN IM ERSTEN WELTKRIEG (1914–1918)
Der italienische Kriegseintritt im Mai 1915 eröffnete im Süden Europas eine neue Front, die von der Weltkriegsgeschichtsschreibung lange vernachlässigt wurde. Hundert Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges stellt dieser Band darum einen wichtigen Beitrag zur Analyse des österreichisch-italienischen Krieges in den Alpen und am Isonzo dar. Ausgewiesene Historikerinnen und Historiker aus Österreich, Deutschland und Italien beschäftigen sich – jeweils in Parallelgeschichten – mit sechs zentralen Themenbereichen der Weltkriegsgeschichte in den beiden Staaten: der Rolle von Regierung und Politik, der militärischen Kriegführung, der Erfahrungsgeschichte der Soldaten, der Geschichte von gesellschaftlicher Mobilisierung und Propaganda sowie der Kriegserinnerung und der Geschichtsschreibung bis in die Gegenwart. 2015. 346 S. GB. 155 X 235 MM. | ISBN 978-3-205-79472-1
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WOLFRAM DORNIK, JULIA WALLECZEK-FRITZ, STEFAN WEDRAC (HG.)
FRONTWECHSEL ÖSTERREICH-UNGARNS „GROSSER KRIEG“ IM VERGLEICH
Mit seiner breit angelegten Perspektive auf die Geschichte des Ersten Weltkrieges folgt der vorliegende Sammelband den aktuellen Trends der internationalen Weltkriegsforschung. Die Autoren untersuchen nicht nur die sogenannte „Heimatfront“ des Ersten Weltkrieges, sondern werfen gleichermaßen einen Blick auf andere Kriegsschauplätze. Die zwanzig Beiträge versuchen die Ereignisse zwischen 1914 und 1918 sowohl in die langen Linien des 19. und 20. Jahrhunderts einzubetten, wie auch die oft an die nationalstaatlichen Perspektiven gebundenen Grenzen aufzubrechen. Als Ergebnis liegen nun neue Einblicke vor, die diesen ersten weltumspannenden Krieg, der das gesamte folgende Jahrhundert prägte, in einem neuen Licht erscheinen lassen. 2014. 466 S. 6 GRAFIKEN. GB. 155 X 235 MM | ISBN 978-3-205-79477-6
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