Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa: Teil 1 [1 ed.] 9783428551804, 9783428151806

Am 28. Juni 1914 ermordete der bosnisch-serbische Nationalist Gavrilo Princip in der bosnischen Hauptstadt Sarajewo den

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German Pages 259 Year 2017

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Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa: Teil 1 [1 ed.]
 9783428551804, 9783428151806

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Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Band 32

Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa Teil 1 Herausgegeben von Gilbert H. Gornig Adrianna A. Michel

Duncker & Humblot · Berlin

Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa

Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Herausgeber im Auftrag der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn: Gilbert H. Gornig, Christian Hillgruber, Hans-Detlef Horn, Bernhard Kempen, Eckart Klein, Hans v. Mangoldt, Adrianna A. Michel, Dietrich Murswiek, Dietrich Rauschning

Band 32

Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa Teil 1

Herausgegeben von Gilbert H. Gornig Adrianna A. Michel

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Bände 1 – 19 der „Staats- und völkerrechtlichen Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht“ erschienen im Verlag Wissenschaft und Politik, Köln

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 1434-8705 ISBN 978-3-428-15180-6 (Print) ISBN 978-3-428-55180-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-85180-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Am 28. Juni 1914 ermordete der bosnisch-serbische Nationalist Gavrilo Princip in der bosnischen Hauptstadt Sarajewo den österreichisch-ungarischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und dessen Frau Herzogin Sophie von Hohenberg. Aufgrund der gesamteuropäischen Spannungen wurde das Attentat zum Auslöser des Ersten Weltkriegs. Er war das Resultat langjähriger Spannungen in Europa, die vor allem durch Kolonialismus, Imperialismus und übersteigerten Nationalismus gefördert wurden. Am 28. Juli 1914 erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg und zog seinen Bündnispartner Deutschland in die Auseinandersetzung hinein. Diesen Mittelmächten standen die Entente-Mächte Vereinigtes Königreich, Frankreich und Russland gegenüber. Damit war das Reich eingekreist. Als die Mechanismen des europäischen Bündnissystems in Kraft traten, folgte eine Kriegserklärung der anderen. Der Krieg endete mit der Niederlage der Mittelmächte 1918 und kostete rund 17 Millionen Menschen das Leben. Am 11. November 1918 diktierten die Alliierten in einem Eisenbahnwaggon bei Compiègne den Deutschen die Bedingungen für einen Waffenstillstand, die die vollständige politische und militärische Niederlage des Reiches besiegelten. Mit dem Versailler Friedensvertrag vom 28. Juni 1919 und den weiteren Pariser Vorortverträgen wurde der Erste Weltkrieg offiziell beendet. Der Krieg hatte verheerende geopolitische Folgen für die nachfolgende Weltordnung. Russland formierte sich nach der Oktoberrevolution 1917 durch die Bolschewiki zur kommunistischen Sowjetunion, Monarchien in Deutschland, ÖsterreichUngarn und im Osmanischen Reich zerbrachen. In drei Symposien 2016 bis 2018 beschäftigt sich die Studiengruppe für Politik und Völkerrecht mit insbesondere den rechtlichen Fragen der Auseinandersetzung und den Folgen der Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg, aber auch mit den Auswirkungen des Krieges auf die Staatengemeinschaft weltweit bis zum heutigen Tag. Der erste Band ist den Anfängen, den Friedensverträgen und dem Schicksal Deutschlands gewidmet. Im ersten Teil der Trilogie diskutiert Wilfried von Bredow Ursachen und Beginn des Ersten Weltkriegs. Justine Diebel widmet sich dem im Ersten Weltkrieg gültigen Kriegsrecht. Adrianna A. Michel stellt die Entstehung, den Abschluss und die Rechtswirkungen der Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg vor und bildet damit den Unterbau für weitere Beiträge, die sich mit Gebietsveränderungen beschäftigen. Holger Kremser behandelt das Schicksal von Nord-Schleswig und von Elsass-Lothringen bei den Versailler Friedensverhandlungen. Gilbert H. Gornig erläutert das Schicksal Danzigs vor und nach dem Versailler Friedensvertrag bis heute und nimmt zu den Gebietsverlusten in Westpreußen Stellung. Auch behandelt er das

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Vorwort

Schicksal des fast schon vergessenen Memellandes, mit dessen Abtrennung diejenige Grenze Deutschlands, die am längsten unverändert Bestand hatte, nach Westen verlegt wurde. Wolfgang Form setzt sich mit der Ahndung von Kriegsverbrechen nach dem Ersten Weltkrieg auseinander. Der Niederländer Paul Mevis widmet sich der rechtlichen Verantwortung für die Verletzung des internationalen Rechts und der internationalen Moral nach Artikel 227 und Artikel 228 des Versailler Vertrags und dem Schicksal des Deutschen Kaisers, der in den Niederlanden sein Exil fand. Die Herausgeber danken Herrn Ref. iur. Mathias Susˇnik für die Übersetzungsarbeiten. Marburg, im Juli 2017

Gilbert H. Gornig Adrianna A. Michel

Foreword On June 28, 1914, the Bosnian-Serbian nationalist Gavrilo Princip murdered the Austrian-Hungarian heir to the throne Archduke Franz Ferdinand and his wife Duchess Sophie von Hohenberg in the Bosnian capital Sarajevo. This was the result of many years of tension in Europe, mainly promoted by colonialism, imperialism and exaggerated nationalism. The assassination also was the trigger for World War I. On July 28, 1914, Austria-Hungary declared war on Serbia and implicated its alliance partner Germany. These powers were opposed by the Entente powers of the United Kingdom, France, and Russia. The Reich was encircled. When the mechanisms of the European alliance came into force, a declaration of war followed. The war, claiming about 17 million lives, ended with the defeat of the Central Powers 1918. On November 11, 1918, the Allies, in a railway wagon at Compiègne, dictated the conditions for an armistice, which sealed the complete political and military defeat of the empire. World War I officially ended with the Versailles Peace Treaty dated 28 June 1919 and further Paris suburb contracts. The war had devastating geopolitical consequences for the subsequent world order. After the October Revolution in 1917, the Bolsheviks formed a communist Soviet Union, which would threaten the neighbouring states for many decades to come. Long-standing monarchies in Germany, Austria-Hungary and the Ottoman Empire were dissolved. In three symposia from 2016 to 2018, the Study Group on Politics and International Law deals with the legal issues of the conflict and with the consequences of the peace treaties after World War I, but also with the effects which the war has on the international community today. The first volume is devoted to the beginnings, the peace treaties and the fate of Germany. In the first part of the trilogy Wilfried von Bredow discusses the causes and the beginning of World War I, whereas Justine Diebel pursues the war law applicable in the First World War. Adrianna A. Michel presents the emergence, the conclusion and the legal effects of the peace treaties after World War I and thus forms the substructure for further contributions dealing with regional changes. Holger Kremser deals with the fate of North Schleswig and Alsace-Lorraine at the Versailles Peace Negotiations. Gilbert H. Gornig explains the fate of Gdansk before and after the Versailles Peace Treaty up to the present day and comments on the loss of territories in West Prussia. He also discusses the fate of the almost forgotten Memelland, its separation entailing the westward shift of the border of Germany, this border having been unchanged for the longest period of time. Wolfgang Form deals with the punishment for war crimes after World War I. The Dutchman Paul Mevis examines the legal responsibility for violating international law and international morals

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Foreword

under Article 227 and Article 228 of the Versailles Treaty and the fate of the German Emperor, who was exiled in the Netherlands. The editors would like to thank Mr. Ref. Iur. Mathias Susˇnik for the translation work. Marburg, July 2017

Gilbert H. Gornig Adrianna A. Michel

Inhaltsverzeichnis Wilfried von Bredow Eyes Wide Shut. Ursachen und Beginn des Ersten Weltkriegs . . . . . . . . . . . . . . . Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Justine Diebel Das Kriegsrecht im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Adrianna A. Michel Die Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg. Entstehung – Abschluss – Rechtswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Holger Kremser Nord-Schleswig bei den Versailler Friedensverhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Holger Kremser Elsass-Lothringen bei den Versailler Friedensverhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . 99 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Gilbert H. Gornig Das Schicksal Danzigs vor und nach dem Versailler Friedensvertrag. Auch ein Beitrag zu den Gebietsverlusten in Westpreußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Gilbert H. Gornig Das Schicksal des Memellandes seit dem Versailler Friedensvertrag . . . . . . . . . 149 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Wolfgang Form Deutschland, die Alliierten und die Ahndung von Kriegsverbrechen nach dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Paul Mevis „Hang the Kaiser!“: Prozessmöglichkeiten und rechtliche Verantwortung nach Artikel 227 und Artikel 228 des Versailler Vertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

Content Wilfried von Bredow Eyes Wide Shut. Causes and the Beginning of World War I . . . . . . . . . . . . . . . . Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Justine Diebel Martial Law in World War I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37 53

Adrianna A. Michel Peace Treaties after World War I. Development – Conclusion – Legal Effect . . Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Holger Kremser North-Schleswig in the Peace Negotiations of Versailles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Holger Kremser Alsace-Lorraine in the Peace Negotiations of Versailles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Gilbert H. Gornig The Fate of Gdansk before and after the Peace Negotiations of Versailles. Also an Article Concerning the Territorial Losses in West-Prussia . . . . . . . . . . . . . . . 113 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Gilbert H. Gornig The Fate of the Memel Territory since the Treaty of Versailles . . . . . . . . . . . . . . 149 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Wolfgang Form Germany, the Allies and the Punishment for War Crimes after World War I . . . 181 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Paul Mevis “Hang the Kaiser!”: Process Options and Legal Responsibility According to Article 227 and Article 228 of the Treaty of Versailles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 The Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 List of Names . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Subject Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations Abs. ADAP AJIL Anm. AöR Art. Aufl. AVR Bd. Begr. BGBl. BT-Drs. D. C. DDR ders. DÖV DRiZ dt. DVBl. ed. EKD EU e.V. Fn. FS GG GIS GK HLKO Hrsg. ICC IGH IStGH JIR JZ LKV MStGB m. w. N. NdsVBl. Nr. NRG

Absatz Akten der deutschen auswärtigen Politik American Journal of International Law Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Auflage Archiv des Völkerrechts Band Begründer Bundesgesetzblatt Drucksache des Deutschen Bundestags District of Columbia Deutsche Demokratische Republik derselbe Die Öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) Deutsche Richterzeitung deutsch(e) Deutsche Verwaltungsblatt edition/editor Evangelische Kirche in Deutschland Europäische Union eingetragener Verein Fußnote Festschrift Grundgesetz Geographische Informationssysteme Genfer Konvention Haager Landkriegsordnung Herausgeber International Criminal Court Internationaler Gerichtshof Internationaler Strafgerichtshof Jahrbuch des internationalen Rechts Juristenzeitung Landes- und Kommunalverwaltung (Zeitschrift) Militär-Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich mit weiteren Nachweisen Niedersächsische Verwaltungsblätter Nummer Nouveau recueil général de traités

12 NS NSDAP red. RGBl. RGZ RM Rn. ROW S. SPD u. a. UdSSR UN UNESCO UNO UNTS vgl. vol. ZaöRV ZevKR ZJS ZP ZRP ZSHG ZVölkR

Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations Nationalsozialistisch(e) Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterparte redigiert Reichsgesetzblatt Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Reichsmark Randnummer Recht in Ost und West (Zeitschrift) Seite Sozialdemokratische Partei Deutschlands und andere Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken United Nations United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization United Nations Organization United Nations Treaty Series vergleiche volume Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht Zeitschrift für das Juristische Studium Zusatzprotokoll Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte Zeitschrift für Völkerrecht

Eyes Wide Shut Ursachen und Beginn des Ersten Weltkriegs Von Wilfried von Bredow Die napoleonischen Kriege markieren den Beginn der Ära des Krieges als Auseinandersetzung von Massenarmeen, die mit den beiden Weltkriegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert kulminierte. Als exklusiv empfundene nationale „Werte“ und Weltanschauungen wie Nationalismus, Sozialismus und Hybridformen von beidem bewirkten in dieser Ära ein Übergreifen solcher Konzepte auf Politik und Krieg. Das nach-napoleonische Ordnungskonzept für Europa, das auf dem Wiener Kongress ausgetüftelt wurde, blieb davon noch weitgehend frei. Bei dem Friedensschluss nach dem Großen Krieg zwischen 1914 und 1918 konnte davon aber keine Rede mehr sein. Artikel 231 des Friedensvertrages nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zwischen den Siegermächten und Deutschland, des Versailler Vertrages, wird auch der Kriegsschuldartikel genannt: „Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, welche die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben.“1 Nun tragen, was eigentlich auch niemanden erstaunen dürfte, Friedensverträge zwischen den Gegnern nach einem gerade zu Ende gegangenen Krieg, zumal wenn er mit viel Erbitterung auf allen Seiten ausgefochten wurde und hohe Kosten verursacht hat, kaum etwas zur unparteiischen Erhellung der Kriegsursachen bei. Das ist auch nicht ihre Aufgabe. Vielmehr sollen sie die möglichst stabile Grundlage für eine zwischenstaatliche Nachkriegsordnung schaffen. Dass dabei die Vorstellungen und Interessen der Siegermächte mehr berücksichtigt werden als die der Verlierer, versteht sich dabei von selbst. Aber es geht auch darum, den Verlierern Anreize zu schaffen, sich in die neue Ordnung zu integrieren.

1 Vertragstext zitiert aus: Der Vertrag von Versailles, Matthes & Seitz, München 1978, S. 118 – 375, hier: S. 238.

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Wilfried von Bredow

I. Kriegsbeginn aus der Perspektive des Kriegsausgangs In dem mit 440 Artikeln plus zahlreicher Anlagen ziemlich umfangreichen „Friedensschluss zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten“, unterzeichnet am 28. Juni 1919, steht dieser Artikel an der Spitze des Teils VIII, in dem es um Wiedergutmachungen geht. Dieser Begriff und all das, was damit gemeint war, scheint zunächst einmal auf den Bereich der Ökonomie beschränkt zu bleiben. Allerdings übersteigt die Begründung des Anspruchs der „alliierten und assoziierten Mächte“ auf Wiedergutmachung den Bereich des Ökonomischen und wird mit der Formulierung, ihnen sei der Krieg durch Deutschland und seine Verbündeten aufgezwungen worden, ins Politische transponiert. Aber auch der Bereich des Politischen ist gewissermaßen nur eine Durchgangsstation. Aus dem damaligen Kontext wird nämlich deutlich, dass das Verhalten Deutschlands und seiner Verbündeten letztlich moralisch verurteilt wird. 1. Das Politische und das Moralische Übernehmen wir versuchsweise die „letzten Unterscheidungen“, die Carl Schmitt in seiner Schrift „Der Begriff des Politischen“ für diese drei Bereiche eingeführt hat: nützlich/schädlich oder rentabel/unrentabel für den Bereich des Ökonomischen, Freund/Feind für den Bereich des Politischen, gut/böse für den Bereich des Moralischen2. Ein Friedensvertrag soll ja die politische Unterscheidung ein Stück weit einebnen, denn er postuliert das Ende der Feindschaft, die zum Krieg geführt hat. Wirtschaftliche Wiedergutmachung seitens der Sieger zu verlangen, ist eine nachvollziehbare Forderung des Siegers. Dabei bleibt freilich immer im Einzelfall zu klären, wie weit dieser Anspruch gehen darf, wenn man den Friedensschluss nicht gefährden will. Auch hier also rückt man von den „letzten Unterscheidungen“ ab und teilt sich die Lasten, wenn auch ungleich, weil mehr davon auf die Schultern der Besiegten gepackt werden. Im Bereich des Moralischen ist das Herunterstufen der „letzten Unterscheidung“ gut/böse am schwierigsten. Bei einem Krieg, an dessen Ende es Sieger und Besiegte gibt, mit Opfern und Leiden auf beiden Seiten, ist die Versuchung der Sieger groß, mittels rigoroser moralischer Unterscheidung nicht nur den Opfern und Leiden auf der eigenen Seite einen moralischen Sinn zu geben, sondern darüber hinaus auch die Legitimität der Nachkriegsordnung moralisch zu untermauern. Genau das macht der Artikel 231 des Versailler Vertrages, indem er Deutschland und seinen Verbündeten die Alleinschuld am Ausbruch und Verlauf des Ersten Weltkriegs zuschreibt und zwar mit bestätigender Unterschrift der Besiegten. Die kam allerdings nur aufgrund stärksten politischen Drucks zustande: Die moralische Selbstbezichtigung des Verlierers wurde politisch erzwungen. Kein Wunder, dass sich im Lager der Besiegten kaum jemand fand, der den Vertrag von Versailler als Friedensvertrag akzeptierte. 2 C. Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Duncker & Humblot, Berlin 1963, S. 26.

Eyes Wide Shut

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Die erkennbare Schiefheit des Versailler Vertrages setzte einen Wettbewerb zwischen den Nachkriegsregierungen der wichtigsten Kriegsparteien des Ersten Weltkriegs in Gang, bei dem es darum ging, die politisch-moralische Wertung des Artikels 231 entweder zu erhärten oder zu widerlegen. Das war das Geschäft der Amts-Historiker. Bald wurden die regierungsamtlichen Interpretationen allerdings durch regierungsunabhängige ergänzt.3 Schließlich ist die Zunft der Historiker eine akademische Profession mit eigenem Wissenschaftsethos, wenngleich die mannigfachen subkutanen Einflüsse des Zeitgeistes auch nicht unterschätzt werden dürfen. Auf jeden Fall war der Erste Weltkrieg von Anfang an ein ideologischer Zankapfel – und ist es bis heute geblieben. Schon während des Krieges 1914 bis 1918 sind in allen beteiligten Nationen Unmengen von Schriften unterschiedlichster Art zum Krieg erschienen. Der Grund dafür waren Strukturveränderungen der politischen Öffentlichkeit und die Entwicklung der Medien, die als Instrumente zur Steuerung oder zumindest Beeinflussung der Volksstimmung zu nutzen mehr und mehr zur dauernden Begleitaufgabe aller politischer Akteure wurde. Der Erste Weltkrieg wurde so auch ein Krieg der Propaganda-Spezialisten. Die konnten dabei auf die Dienste von Intellektuellen zurückgreifen, die sich ihnen, mal mehr naiv, mal aus berechnendem Eigeninteresse, gerne andienten. „Die Deutungseliten haben sich nachhaltig in das Geschäft der Entscheidungseliten eingemischt, und dabei haben sie mehr zur Eskalation als zur Moderation des Kriegsgeschehens beigetragen“.4 Und zwar auf allen Seiten.5 Inzwischen ist dieser Strom von Publikationen in verschiedenen Sprachen, von Pamphleten, Rechtfertigungen, geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen, so breit geworden ist, dass ihn niemand mehr übersehen kann. Die seinerzeit in der Bundesrepublik Deutschland seit Anfang der 1960er Jahre erbittert ausgefochtene Kontroverse um Fritz Fischers These vom deutschen Griff nach der Weltmacht6 gehört dabei wohl am ehesten zur Phalanx der eigentümlich verdrehten deutschen Selbstverständigungs- und Reinigungsdebatten, die durch den Aufstieg, die triumphale Inhumanität und die Niederlage des Nationalsozialismus ausgelöst wurden. Ein kollektiv schmerzhaftes, im Übrigen immer noch nicht ausreichend erforschtes Phänomen.

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Meinem Eindruck nach gab es vor allem in der anglophonen Literatur zum Ersten Weltkrieg schon bald nach dem Ereignis solide und aufschlussreiche, sich dem Eifer der Schuld-Verteiler auf überzeugende Weise verweigernde Studien und Darstellungen. Vgl. dazu auch die bibliographischen Anmerkungen in: S. McMeekin, Juli 1914. Der Countdown in den Krieg, Europa Verlag, Berlin 2014, S. 532 ff. 4 H. Münkler, Der Große Krieg. Die Welt 1914 – 1918, Rowohlt-Berlin Verlag, Berlin 2013, S. 18. 5 Vgl. den knappen instruktiven Überblick bei G. Krumeich, Juli 1914. Eine Bilanz, F. Schöningh, Paderborn 2014, S. 183 ff. 6 F. Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/1918, 3. Aufl. Droste, Düsseldorf 1964.

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Wilfried von Bredow

Die bislang letzte große Publikationswelle über den Ersten Weltkrieg ergab sich aus Anlass des hundertsten Jahrestages seines Ausbruchs. Freilich entspricht die große Zahl der Veröffentlichungen durchaus der politisch-historischen Bedeutung dieses Krieges, der auf alle direkt an ihm beteiligten Mächte enorme Auswirkungen zeitigte, und auf manche der nicht direkt an ihm beteiligten Mächte auch. 2. Schuld und Verantwortung Über keinen Aspekt des Ersten Weltkriegs ist dabei so ausführlich und so erbittert gestritten worden, so behauptet es Gerd Krumeich, wie über die Frage nach der Verantwortung für seinen Beginn.7 Dem wird kein Fachmann unter den Historikern ernsthaft widersprechen. Das ist bemerkenswert – weniger die historischen Umstände selbst erscheinen als Hauptstreitpunkt, vielmehr ihre politische Bewertung, die auf der Grundlage derselben Datenbasis ganz unterschiedlich ausfallen kann. Allerdings ist es ja oft so, wenn Individuen oder Kollektive in der Vergangenheit einen (für die Gegenwart relevanten) Sinn dingfest machen wollen. Dingfest ist nicht dasselbe wie erkenntnisfest. Der Begriff Verantwortung hat mehrere Bedeutungen – hier steht er ganz eindeutig als Synonym für Schuld, auch wenn dieses Wort selbst nicht verwendet wird. Die Diskussion über die individuelle Schuld oder die Schuld-Anteile bestimmter politischer und militärischer Handlungsträger ist an sich nicht illegitim. Dabei sollte es aber eher um die Analyse von Fehlwahrnehmungen, falschen Entscheidungen oder nachweisbarem politischem Falschspiel gehen, wovon es in Politik und Krieg bekanntlich übergenug gibt (aber eben meist auf allen Seiten). Solche Analysen sind methodisch schwierig und bleiben mitunter im zu untersuchenden Aktionsgewirre ohne eindeutiges Ergebnis stecken. Mit nachträglich vorgenommenen Schwarz-Weiß-Einteilungen muss man vorsichtig sein. Besondere Vorsicht ist bei Urteilen über die kollektive (weil auf ihre strukturellen mentalen Dispositionen zurückgehende) Schuld der am Krieg beteiligten Mächte geboten. Hier handelt es sich in den meisten Fällen nicht um eine historische oder, nehmen wir das etwas sperrigere Adjektiv: eine geschichtswissenschaftliche Analyse, sondern um moralpolitisches Geschichts- und Sinn-Management. Beides lässt sich nicht rigoros, aber doch ein Stück weit trennen. In der kritischen Rückschau auf die Literatur zum Ersten Weltkrieg seit seinem Ende kann man die geschichtspolitischen Frontenverläufe und ihre Veränderungen im Laufe der Zeit ganz gut ausmachen. Da stoßen wir auf die erwartbare Unterscheidungen – nach dem Herkunftsland der Autoren, nach den ideologischen Zeitströmungen in einem Land oder der Weltöffentlichkeit, nach historischen „Schulen“ in der akademischen Welt und nach den unterschiedlichen volkspädagogischen Intentionen. Wer derart Geschichtspolitik oder Vergangenheits-Management betreibt, sieht es allerdings in 7 G. Krumeich, Der Erste Weltkrieg. Die 101 wichtigsten Fragen, C. H. Beck, München 2014, S. 26.

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der Regel nicht so gerne, dass das, was er tut, als solches identifiziert wird. Denn das könnte den Erfolg der volkspädagogischen Absichten schmälern. Angesichts des zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den europäischen Gesellschaften und ihren Führungseliten verbreiteten und allgemein (mit Ausnahme der Pazifisten) akzeptierten Verhältnisses von Politik und Krieg, ist der Begriff „Kriegsschuld“ ganz und gar unangemessen. „Krieg war damals ein legitimes Mittel der Politik; jede Großmacht rechnete jederzeit mit Kriegsmöglichkeiten, jeder Generalstab führte theoretisch ständig Krieg gegen irgendwelche gegnerischen Kombinationen, und wenn sich eine günstige Kriegsmöglichkeit ergab, galt es nicht als unmoralisch oder gar verbrecherisch, davon Gebrauch zu machen.“8 Das besagt freilich überhaupt nicht, dass von den Verantwortlichen in der Juli-Krise 1914 nicht jede Menge politische Fehler gemacht worden sind. 3. Anlass und Ursachen Der hier gewählte Ansatz soll jedenfalls von volkspädagogischen Absichten weitestgehend frei bleiben. Stattdessen geht es mir um eine Analyse der Geschehnisse, die zum Beginn des Krieges 1914 geführt haben, vor allem unter vier Gesichtspunkten: - die Rolle historischer Zufälligkeiten; - die Zwangsläufigkeiten, die echten und die eingebildeten, denen sich die wichtigsten Akteure ausgesetzt sahen; - der Wahrnehmungsrahmen, innerhalb dessen sie sich bewegten, und die fehlerhaften Kalküle wichtiger Entscheidungsträger, sowie schließlich - die Ursachen dafür, dass der Kriegsausbruch nicht wie bei etlichen europäischen Krisen der Jahre vorher vermieden wurde. Die folgenden Überlegungen sind in drei Kapitel aufgeteilt. Darauf folgt ein kurzer Ausblick, in dem der Bogen zum Kriegsende geschlagen wird und zu seinen Auswirkungen auf die folgenden Jahrzehnte in Deutschland und Europa. Eine kleine Chronologie der Juli-Krise findet sich im Anhang. Zunächst führt eine knappe Skizze der inzwischen gut erforschten Umstände des Attentats vom 28. Juli 1914 in Sarajewo vor, dass es nicht bewusst kalkulierte Kriegsausbruchs-Planungen waren, welche die Juli-Krise in Gang setzten und damit zum Auslöser des Krieges wurden. Vielmehr haben historische Zufälligkeiten, absichtslose Nachlässigkeiten und sogar mitmenschliche Gefühle hier die entscheidende Rolle gespielt – Kontingenz also. Die in den europäischen Hauptstädten unter den Entscheidungseliten verbreiteten Ängste und Bedrohungsperzeptionen haben, eine andere Form der Kontingenz, zu Fehleinschätzungen im diplomatischen Verkehr ge8 S. Haffner, Von Bismarck zu Hitler. Ein Rückblick, Kindler Verlag, München 1987, S. 113.

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führt. Der Umgang mit dem in jeder Krise ganz entscheidenden Faktor Zeit hat überdies die Handlungsfähigkeit der Akteure beschnitten. So entstand binnen weniger Wochen das fast überall verbreitete Bild von der „Unausweichlichkeit“ eines Waffengangs. Aber es gab auch tiefer, nämlich in den Strukturen des damaligen Systems der europäischen Mächte liegende Anreize für konfliktverschärfende Politik. Und die Erwartung, dass es früher oder später sowieso zu einem Krieg kommen werde. Allerdings ist wohl unumstritten, dass sich kaum jemand unter den Politikern und den Militärexperten im Vorhinein klar darüber war, welche Gestalt der Krieg annehmen würde. Vereinzelte Äußerungen aus den Vorkriegsjahren, die dem widersprechen, etwa von dem jüngeren Moltke, gingen meist unter und hatten keine Auswirkungen auf die konkreten politischen und militärischen Planungen. Die uns schon aus dem Geschichtsunterricht in der Schule vertraute Unterscheidung zwischen einem (oberflächlichen) Anlass und den (tieferen) Ursachen historischer Ereignisse ist sicherlich auch für die Analyse des Ersten Weltkrieges sinnvoll. Gab es also gewissermaßen tektonische Verwerfungen in der Sicherheitslandschaft Europas, die völlig unabhängig von den Aktionen der einen oder anderen politischen Entscheidungsträger zum Krieg geführt haben, ja führen mussten? Was ist von der zuletzt gerade wieder neu entflammten Kontroverse um das „Hineinschlittern“ in den Krieg und das „Schlafwandlerische“ seiner Hauptprotagonisten zu halten? 4. Strukturen und Personen Als theoretisch-methodischer Exkurs soll an dieser Stelle noch auf eine Art betriebsinterne Streitfrage in den Sozialwissenschaften und der Historiographie eingegangen werden, nämlich auf die (vermutlich nicht wirklich und für alle Fälle entscheidbare) Frage, ob politische Entwicklungen im Allgemeinen und speziell verdichtete historische Sequenzen wie die Eskalation einer internationalen Krise in den Krieg mehr von den Strukturen des internationalen Systems und den internen Strukturen der beteiligten Staaten bestimmt werden und die handelnden Personen im Grunde nicht mehr als ausführende Organe struktureller Vorgaben sind oder ob es bei jedem Schritt innerhalb einer solchen Sequenz auf die individuellen Entscheidungen der handelnden Personen ankommt, die auch dann, wenn sie strukturellen Zwängen unterliegen, diese mit Geschick, Willenskraft oder fortune überwinden und den Lauf der Entwicklung entscheidend zu steuern – sowie mit genügender Urteilskraft dem scheinbar unausweichlichen Zug ins Verderbliche erfolgreich entgegenzuwirken vermögen. Das ist eine alte Streitfrage. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie unter anderem in der sich hauptsächlich quantitativer Methoden bedienen-

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den Kriegsursachenforschung schwungvoll aufgegriffen9. Das auslösende Motiv für diese Explorationen war die Befürchtung, das nukleare Wettrüsten zwischen den USA und der UdSSR sowie das sich um die Mitte der 1960er Jahre ausbildende „Gleichgewicht des Schreckens“ könnten über kurz oder lang zu einem Atomkrieg führen. Gefragt wurde etwa danach, wie eine solche Eskalation durch ein erfolgreiches Krisenmanagement verhindert werden könnte. Da bot es sich an, das Krisenmanagement in vergleichbaren (wenn auch in vielen Punkten ganz unterschiedlichen) Konstellationen der Vergangenheit in den Blick zu nehmen, etwa die Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und insbesondere den Ersten Weltkrieg10. Als ein interessantes, wenn auch nicht ganz gelungenes wissenschaftliches Debatten-Experiment im deutschsprachigen Raum darf der in den frühen 1970er Jahren unternommene Versuch dreier westdeutscher Friedensforscher gelten, einen Dialog zwischen Sozialwissenschaftlern und Historikern über die Ursachen des Ersten Weltkriegs in Gang zu bringen. Sie übersetzten eine Reihe von Aufsätzen und Kapiteln aus Monographien amerikanischer Forscher, überwiegend Anhänger eines behavioralistischen Ansatzes, über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und ließen sie von Historikern, die sich mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt hatten11, kritisch kommentieren. Aus dieser Gegenüberstellung entstanden allerdings keine interdisziplinären Synergieeffekte. An dem Interesse der amerikanischen Politikwissenschaftler an Modellen für Wahrnehmungs- und Entscheidungsprozesse sowie für die Interaktion wichtiger Akteure fanden die Historiker keinen Geschmack. Dabei mag es überraschen, dass die akademischen Differenzen zwischen den Historikern (John C. G. Röhl, Volker E. Berghahn und Immanuel Geiss) und den Politikwissenschaftlern (u. a. Bruce M. Russett, Richard N. Rosecrance, Nazli Choucri/Robert C. North, Lewis F. Richardson, Paul Smoker, Quincy Wright) weniger um die Alternative System/Akteur als entscheidendem Faktor der Krisenentwicklung bestanden, vielmehr in der Unvereinbarkeit eines „szientistischen“ und eines „ideographischen“ Ansatzes. So richtete Geiss etwa an das „behavioristische Modell“ den Vorwurf, es beruhe auf einer „hoffnungslos idealistischen Personalisierung von Politik und Geschichte“. Die „Entscheidungen in der historischen Realität wie in der nachträglichen Simulierung“

9 Die wichtigste deutschsprachige Arbeit dazu ist die Habilitationsschrift von K. J. Gantzel, System und Akteur. Beiträge zu einer vergleichenden Kriegsursachenforschung, Bertelsmann Universitätsverlag, Düsseldorf 1972. 10 Etwas ältere Zeitgenossen werden sich noch an mehrere Krisensituationen während des Ost-West-Konflikts nach 1945 erinnern, in denen Politiker und Publizisten öffentlich meinten, Ähnlichkeit mit der Situation im Sommer 1914 ausmachen zu können. Gleichviel ob zu Recht oder nicht – allein dass solche meist als Warnung gemeinte Hinweise auf 1914 als ein politisches Argument im Diskurs nach 1945 auftauchten, ist bemerkenswert. 11 K. J. Gantzel/G. Kress/V. Rittberger (Hrsg.), Konflikt-Eskalation-Krise. Sozialwissenschaftliche Studien zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Bertelsmann Universitätsverlag, Düsseldorf 1972.

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seien „weitgehend unabhängig von personellen Eigenarten der handelnden Staatsmänner“12 zu erklären! Nun spricht einiges dafür, dass der zuweilen in der Tat übertrieben erscheinende quantitative methodische Aufwand der nach systematischen Erklärungen für historische Abläufe in Krisensituationen suchenden Politikwissenschaftler nur dünne Erträge einbringt. Auf der anderen Seite fällt auf, dass die Historiker, jedenfalls die drei in dem hier näher in Augenschein genommenen Band, sich viel zu sehr auf ein im Dunkeln bleibendes Vorwissen (das eben keines ist) verlassen, auf ein wie auch immer vorgefertigtes Bild der historischen Abläufe, das sie so zuschneiden, dass es in ihren Interpretationsrahmen passt. Vielleicht kann man es ja auch nicht viel anders machen. Denn nicht die schieren „Fakten“ kombinieren sich zu dem, was gerne „historische Wahrheit“ genannt und als ein für alle mal feststehend angenommen wird, sondern ihre Deutungen und Bewertungen. Auch historische Wahrheiten haben also zumindest zeitbedingte und somit gewissermaßen fluide Anteile. II. Die Juli-Krise 1914 1. Das Attentat und die Kontingenz Attentate auf Monarchen waren gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts vielleicht nicht gerade ein Volkssport; aber als Mittel radikaler Politik, entweder aus dem Geist des Anarchismus heraus oder als Ausdruck eines glühend-militanten Nationalismus, kamen sie häufig vor13. Entsprechend ausgeklügelt waren die Konzepte der Sicherheitsbehörden zum Schutz der besonders auf Reisen gefährdeten Repräsentanten der Staaten. Umso erstaunlicher sind die „Unachtsamkeit und Nachlässigkeit der Verantwortlichen“14 beim Besuch des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand und seiner Frau Sophie in Bosnien. Diese frühere Provinz des Osmanischen Reiches war zusammen mit der Region Herzegowina nach dessen Niederlage im Krieg gegen Russland aufgrund einer Regelung auf dem Berliner Kongress 1878 von Österreich-Ungarn militärisch besetzt und verwaltet, dann aber von der Doppelmonarchie 1908 in Eigenregie annektiert worden. Sie galt 1914 in Wien als einigermaßen stabilisiert, auch wenn der Stabilisierungsprozess durch die serbische Minderheit in Bosnien unterminiert wurde. Diese unterstützte die großserbischen Ziele der (allerdings nach dem Balkankrieg im Jahr zuvor vorsichtig agierenden) serbischen Regierung in Belgrad. Mit besonderem Nachdruck und clandestinen Mitteln wurden diese Ziele aber von einigen ultra-nationalistischen Gruppen im serbischen Militär verfolgt.

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I. Geiss, in: K. J. Gantzel/G. Kress/V. Rittberger (Anm. 11), S. 359. Lesenswert: J. Conrad, Der Geheimagent. Eine einfache Geschichte, S. Fischer, Frankfurt/M. 1963. Die englische Originalausgabe erschien 1907. 14 H. Münkler (Anm. 4), S. 31. 13

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Der Chef des serbischen Militärgeheimdienstes Dragutin Dimitrijevic´ („Apis“) und ein geheimer Offiziersbund mit dem schaurigen Namen „Schwarze Hand“ hatten schon 1910 ein Attentat auf den österreichisch-ungarischen Gouverneur und Militärinspektor in Bosnien vorbereitet, das allerdings erfolglos blieb. Im Frühjahr 1914 planten dieselben Verschwörer das Attentat auf den Thronfolger aus Wien. Zu diesem Zweck bedienten sie sich mehrerer junger bosnischer Serben, die dazu in Belgrad ausgebildet und auf ihre Tat vorbereitet wurden15. Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau trafen am Morgen des 28. Juni in Sarajewo ein. Beide waren schon in den Tagen vorher in Sarajewo gewesen. Der Erzherzog am 25. Juni, bevor er für zwei Tage zu Truppeninspektionen in der Umgebung unterwegs war. Die Herzogin war während dieser Zeit in einem Kurhotel in der Nähe von Sarajewo abgestiegen und nutzte die Gelegenheit zu Kurzbesuchen der Stadt, alles in entspannter sommerlicher Atmosphäre. Der 28. Juni war ein Sonntag mit strahlend blauem Himmel. Nur politisch war dieser Tag sozusagen vorbelastet, weil er nämlich der Jahrestag der serbischen Niederlage auf dem Amselfeld 1389 war, dem Veitstag, der für die Serben (übrigens bis heute) eine aggressiv-mythische Bedeutung hat. Das Thronfolger-Paar hatte ein paar vergleichsweise unbeschwerte Tage in Bosnien hinter sich. Davon gab es in ihrem Leben am Hof sonst nicht sehr viele. Am 28. Juni vor 14 Jahren hatte Kaiser Franz Joseph endlich seine Zustimmung zur morganatischen (weil nicht standesgemäßen) Heirat seines Neffen Franz Ferdinand mit der Gräfin Sophie Chotek gegeben. Das Hofprotokoll lastete schwer auf beiden. Auch aus politischen Gründen war der Thronfolger am Hof in Wien nicht sehr beliebt. Das alles, die entspannte Stimmung des Thronfolger-Paares und die achselzuckende Sorglosigkeit der Sicherheitsleute, mag mit den Ausschlag dafür gegeben haben, dass die allerdings etwas vage gebliebenen Warnungen vor einem Attentat, die es durchaus gab, nicht wirklich ernst genommen wurden. In der Formulierung von Christopher Clark haben an diesem Morgen die offiziellen Sicherheitsvorkehrungen durch Abwesenheit geglänzt. „Trotz der Warnungen, dass ein Terroranschlag wahrscheinlich sei, fuhren der Erzherzog und seine Frau im offenen Wagen an einer Menschenmenge vorbei, noch dazu auf einer Route, die alles andere als eine Überraschung war. Von einem Kordon aus Soldaten, der bei solchen Gelegenheiten für gewöhnlich am Randstein steht, war nichts zu sehen, so dass die Wagenkolonne praktisch ungeschützt an der dichten Menschenmenge vorbeifuhr. Sogar die eigene Leibwache fehlte: Ihr Chef war irrtümlich mit drei bosnischen Of-

15 Die hier knapp zusammengefasste Nacherzählung der Geschehnisse stützt sich vor allem auf Ch. Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, Deutsche Verlagsanstalt, München 2013, S. 475 – 518; H. Münkler, (Anm. 4), S. 28 – 33; C. Ponting, Thirteen Days. Diplomacy and Disaster – The Countdown to the Great War, Pimloco, London 2003 und insbesondere auf: A. Mombauer, Die Julikrise. Europas Weg in den Ersten Weltkrieg, C. H. Beck, München 2014, S. 26 – 34.

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fizieren in ein Auto gestiegen und hatte den Rest der Männer am Bahnhof zurückgelassen.“16 In der Tat – was für eine eigentlich unglaubliche Schlamperei! Die mit Pistolen und Bomben (sowie Zyankali zur Selbsttötung, falls gefasst) ausgestatteten Attentäter, insgesamt sechs, waren an diesem Morgen ebenfalls an der Wegstrecke vom Bahnhof zum Rathaus postiert. Der erste Attentäter, der in Aktion trat, zündete rechtzeitig die Bombe, aber er verfehlte sein Ziel. Die Bombe explodierte unter dem Wagen, der dem des Erzherzogs in der Kolonne folgte. Sie richtete dort Sach- und Personenschäden an, schlimm genug, aber beides hielt sich in Grenzen. In dem entstehenden Chaos bewahrte der Erzherzog die Ruhe und befahl schließlich die Weiterfahrt, nachdem die Verwundeten einigermaßen versorgt waren. Die Kolonne erreichte dann ohne weitere Zwischenfälle das Rathaus. Damit, schreibt Mombauer, hätte die Sache ein Ende haben können. „Ein gescheitertes Attentat von vielen; ein verhafteter Attentäter, der vielleicht Details des Komplotts verraten hätte; fünf verschreckte Mitverschwörer, die sich in alle Winde zerstreut hätten, Franz Ferdinand und seine Frau, noch einmal mit dem Schrecken davongekommen.“17 Aber es kam anders. Nach dem Besuch im Rathaus empfahl der für die Organisation des Besuchs verantwortliche österreichische Gouverneur in Bosnien, Oskar Potiorek, dem Erzherzog, alle weiteren Termine des Tages abzusagen, Sarajewo sofort zu verlassen und am Abend nach Wien zurückzukehren. Dem widersetzte sich Franz Ferdinand. Er wollte zunächst noch die beim Attentat Verwundeten im Garnisonskrankenhaus besuchen und dann das offizielle Programm fortsetzen. Immerhin einigte man sich darauf, die Fahrroute zu verändern. Und nun kommt das wirklich kaum Glaubliche: Dass die Kolonne auf dem Rückweg vom Rathaus einen anderen Weg nehmen sollte, diese Nachricht erreichte den Fahrer des Spitzenfahrzeugs der Kolonne nicht18. Er folgte der ursprünglich festgelegten Route. An einer breiten Straßeneinfahrt, als die Information schließlich doch noch vorne angekommen war, begann ein umständliches Wendemanöver. Der (offene) Wagen mit dem Erzherzog-Paar blieb eine Zeitlang stehen, was dem ganz in der Nähe wartenden Attentäter Gavrilo Princip alle Zeit der Welt ließ, seinen Mordplan auszuführen. Da er nicht wusste, ob die Zeit ausreichen würde, die an seine Hüfte gebundene Bombe loszumachen und zu zünden, zog er seine Pistole und schoss zweimal aus kurzer Entfernung auf Franz Ferdinand und Sophie. Diese starb noch im Wagen, der Erzherzog wenig später. Dieses Attentat war der Ausgangspunkt für alle folgenden Ereignisse, die am 2. August 1914 zu ersten Kriegshandlungen und dann in einen mehr als vier Jahre dauernden Weltkrieg führten. Zwar waren Attentate zur damaligen Zeit nichts Ungewöhnliches. Aber die Verlaufsgeschichte dieser Mordtat ist voller ungewöhnlicher 16

Ch. Clark (Anm. 15), S. 477. A. Mombauer (Anm. 15), S. 31 f. 18 Bei A. Mombauer (Anm. 15), S. 32, heißt es etwas (zu) salopp: „… und so kam es zum berühmtesten und wohl verhängnisvollsten Falschfahren in der Geschichte.“ 17

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Zufälle – wie aus einem schlechten Drehbuch für einen miserablen Film über Murphy’s Law. Der Ausgangspunkt des Ersten Weltkrieges ist, mit anderen Worten, ein politisches Zufalls-Ereignis, ein reines Kontingenz-Produkt. 2. Zeitdruck und Zeitvergeudung Bei der Nachzeichnung der Reaktionen auf das Attentat von Sarajewo fällt auf, dass es in den Hauptstädten der europäischen Großmächte ein Nebeneinander von spontaner Empörung und, man möchte fast sagen, kalkulierter Fehleinschätzung der durch das Attentat geschaffenen politischen Lage gab. In Wien kam dazu noch die wachsende Entschlossenheit, Serbien für die (erst noch offiziell nachzuweisende) Anstiftung des Attentats zu bestrafen. Die beiden Balkankriege von 1912 und 1913 hatten das Osmanische Reich gezwungen, die meisten seiner europäischen Territorien aufzugeben. Zugleich jedoch waren die ethnischen Machtkonflikte zwischen Bulgarien, Mazedonien, Griechenland, Rumänien und Serbien mit ungewöhnlich intensiver Brutalität eskaliert19. Als „interessierter Dritter“ und Unterstützer Serbiens mischte sich vor allem Russland mit diplomatischen Mitteln in diese Konflikte ein, was die Explosionsgefahr des „Pulverfasses Balkan“, so die schon damals gängige Metapher, bestimmt nicht minderte. Durch diese Kriege hatten sich die Nationalismen der verschiedenen Staaten auf dem Balkan weiter radikalisiert. Aus der Perspektive Wiens galten insbesondere die panslawistisch unterfütterten „groß-serbischen“ Ansprüche als lästig bis bedrohlich, so dass die „Falken“ am Hof auf eine rasche militärische „Bestrafung“ drängten. Der lautstärkste unter ihnen war der 1910 in den Freiherrenstand erhobene Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf. In der Einstellung des Generalstabschefs dominierten allerdings seine weltanschaulichen Gefühle20 alle professionellen Überlegungen – das österreichische Heer war nämlich zu diesem Zeitpunkt auf eine schnelle militärische Aktion überhaupt nicht vorbereitet. Als gewichtigster Gegner Conrads profilierte sich der ungarische Ministerpräsident István Tisza, der im gemeinsamen Ministerrat in Wien davor warnte, ohne vorherige diplomatische Schritte militärisch loszuschlagen21. Als erstes versuchte Wien, sich Gewissheit über die Verantwortung serbischer Regierungskreise für das Attentat 19

Über Parallelen zwischen den Balkankriegen von 1912 und 1913 und den Jugoslawienkriegen nach 1990 informiert u. a. W. Höpken, Performing Violence: Soldiers, Paramilitaries and Civilians in the 20th Century Balkan Wars, in: A. Lüdtke/B. Weisbrod (Hrsg.), No Man’s Land of Violence. Extreme Wars in the 20th Century, Wallstein-Verlag, Göttingen 2006, S. 211 – 249. 20 Conrad von Hötzendorf war Anhänger des Sozialdarwinismus. 21 Die ungarische Regierung hatte dem politischen Konzept des ermordeten Erzherzogs zur Befriedung der Nationalitätenspannungen in der Doppelmonarchie („Trialismus“ = Aufwertung der Stellung der slawischen Völker im Reich) skeptisch bis ablehnend gegenüber gestanden.

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zu verschaffen, was nicht schwer war und wenig Zeit brauchte. Als zweites versicherte sich Österreich der Rückendeckung des deutschen Kaiserreichs. Auch das war nicht schwer. Schon am 4. Juli wurde von Berlin signalisiert, dass Deutschland „auch in ernster Stunde“ an der Seite Österreich-Ungarns bleiben würde. Diese Erklärung heißt im allgemeinen Sprachgebrauch der Historiker „der Blankoscheck“. Auf ihn weisen alle Verfechter einer besonderen deutschen Verantwortung für den Kriegsausbruch hin, mit dem Argument, Berlin habe dadurch bewusst die Gefahr angeheizt, dass aus einem lokalen Konflikt eine gesamteuropäische militärische Konfrontation würde – zwischen Deutschland und Russland, aber auch zwischen Deutschland und Frankreich und unter Umständen auch zwischen Deutschland und England22. Das ist die Frage. Für Berlin erschien eine rasche militärische Reaktion Wiens erfolgversprechend, so lange diese in den Augen der Weltöffentlichkeit als direkte Antwort auf das scheußliche Attentat gesehen wurde. Dadurch könnte eben vermieden werden, dass sich Russland „aus einer Mischung von Machtinteresse und panslawischer Ideologie uneingeschränkt auf die serbische Seite stellen“ würde“23. Berlin erwartete deshalb ein zügiges Vorgehen Österreich-Ungarns, sah sich darin aber einem Irrtum ausgesetzt. Denn in Wien wurde jetzt erst einmal, aus der deutschen Perspektive gesehen, viel Zeit vergeudet. Der Text des Ultimatums an Belgrad war (erst) am 19. Juli ins Reine geschrieben, wurde aber auch dann noch nicht an den Adressaten übergeben, weil man abwarten wollte, bis der französische Ministerpräsident Poincaré seinen Staatsbesuch in Russland beendet haben würde. Am 23. Juli war es dann soweit, und das 48stündige Ultimatum wurde Belgrad übergeben. Wie erwartet, wurden die harten Forderungen Wiens dort zurückgewiesen, wenn auch in möglicherweise Kompromisse erlaubenden Worten. Aber jetzt hatten in Wien die Falken klar die Oberhand. Auch ein britischer Vermittlungsversuch schlug fehl. Es war also keineswegs so, „als sei ein zögerndes Österreich-Ungarn von Deutschland unter Zugzwang gesetzt worden“24. Aber dennoch, meint etwa Mombauer, spielte die Haltung des verbündeten Deutschland eine entscheidende Rolle im Denken der Regierung in Wien. Das mag wohl sein, wenn auch diese „entscheidende Rolle“ nicht bewirkt hat, dass Wien den Zeitbedarf für sein Ultimatum verkürzte. Das wäre aber notwendig gewesen, um den unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Attentat und dem Ultimatum zwingend hervortreten zu lassen. Am 25. Juli brach Österreich-Ungarn die diplomatischen Beziehungen zu Serbien ab und erklärte ihm drei Tage später den Krieg. Die Empörung in Europa über das Attentat war inzwischen wieder abgeflaut. Was nun folgte, war ein morbides Ballett

22 G. Henke-Bockschatz, Der Erste Weltkrieg. Eine kurze Geschichte, Reclam Verlag, Stuttgart 2014, S. 27; A. Mombauer (Anm. 15), S. 43. 23 H. Münkler (Anm. 4), S. 39. 24 A. Mombauer (Anm. 15), S. 39.

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von Mobilmachungen und Kriegserklärungen auf der Basis der Bündnisse Zweibund25 und französisch-russische Allianz26. III. Kriegserwartung und fragile Großmachtbalance Die Zeit zwischen 1870/71 und 1914 war alles andere als eine friedliche Epoche. Vielmehr wurden von den europäischen Großmächten bis zur Jahrhundertwende und danach zahlreiche Kolonialkriege geführt. Die meisten davon wurden mit besonderer Grausamkeit geführt, was von den Zeitgenossen nicht recht wahrgenommen wurde, weil der gängige Interpretationsrahmen von der kulturellen Überlegenheit und der zivilisatorischen Mission der Kolonialmächte kaum je in Frage gestellt wurde. Aber es kam außerdem auch zu etlichen, oft sehr bedrohlichen Konflikten und einem Krieg nahe kommenden Krisen zwischen den europäischen Mächten selbst27. Wenn sie es auch irgendwie hinbekamen, direkte militärische Konfrontationen zwischen ihnen zu vermeiden und lokale oder regionale Kriege wie die Balkankriege an horizontalen Eskalationen zu hindern, so wuchs doch in den meisten Hauptstädten die Kriegsfurcht immer weiter an. Oder genauer: die Erwartung, dass es zwischen ihnen demnächst tatsächlich zu einem großen Knall kommen werde. Das „Konzert der europäischen Mächte“, eingestimmt auf dem Wiener Kongress, wurde zunehmend dissonant und das europäische Kräftegleichgewicht zunehmend instabil. An seine Stelle trat „die Rivalität zweier labiler Bündnis- und Mächtegruppen, deren Strategien darauf abzielten, günstige Voraussetzungen für einen weithin als ,unvermeidlich‘ erachteten Krieg zu schaffen“.28 Diese Kriegserwartung war geprägt von einer tief sitzenden Ambivalenz. Einerseits wurde der Krieg nicht nur als so gut wie unvermeidbar, sondern geradezu als Erlösungskonzept für politische, soziale und kulturelle Stagnation angesehen. Dieses Grundgefühl ist auch in vielen Äußerungen aus bürgerlichen Kreisen und von Kulturschaffenden ausgedrückt29. Die militärischen Fachleute ihrerseits rechneten dauernd nach, wie sich das Kräfteverhältnis verändert und wann es am günstigsten wäre loszuschlagen. Des Bramarbasierens war in diesen Jahren kein Ende, womit auch ein öffentlicher Druck auf jene Politiker entstand, die sich von einem Krieg keine Vorteile versprachen. Andererseits waren sich dieselben Fachleute nicht einig, ob der 25 Der Zweibund wurde noch unter Bismarck zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn als (zunächst) geheimer Defensivvertrag abgeschlossen (1879). 26 Abgeschlossen 1894, auch als Defensivbündnis. 27 Eine gute Übersicht bietet der Sammelband von J. Dülffer/M. Kröger/R.-H. Wippich (Hrsg.), Vermiedene Kriege. Deeskalation von Konflikten der Großmächte zwischen Krimkrieg und Erstem Weltkrieg (1856 – 1914), Oldenbourg Verlag, München 1997. 28 E. Wolfrum, Krieg und Frieden in der Neuzeit. Vom Westfälischen Frieden bis zum Zweiten Weltkrieg, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2003, S. 79. 29 Zahlreiche Zeugnisse aus dem deutschsprachigen Raum finden sich dazu u. a. bei S. Bruendel, Zeitenwende 1914. Künstler, Dichter und Denker im Ersten Weltkrieg, F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung, München 2014.

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nächste Krieg eher rasch wieder zu Ende sein oder ob er in ein langes und mühevolles Ringen mit dem Gegner übergehen und die Kraft des ganzen Volkes beanspruchen würde. In diesem Sinne äußerte sich 1905 der jüngere Moltke (von 1906 bis September 1914 Chef des Großen Generalstabs) gegenüber dem Kaiser30. Aber solche Bedenken wurden vom Strom allgemeiner Kriegsillusionen bei militärischen Laien und Fachleuten gleichermaßen hinweggeschwemmt. Der französische Historiker Marc Ferro hat das so zusammengefasst: „Ebenso gefährlich (wie der während der verschiedenen Krisen vor 1914 immer wieder aufschießende Nationalismus) war die Annahme auf Seiten aller in den Konflikt verwickelten Mächte, dass man den Krieg um so schneller gewinnen könne, je eher er stattfände. Sicher sprachen nicht alle vom selben Krieg: Sollte es sich um einen lokalen Krieg oder um einen Kontinentalkrieg – mit oder ohne England – handeln? Nur in einem Punkt war man sich einig: Der Krieg würde kurz und siegreich sein. Niemand konnte sich vorstellen, dass er über das Schicksal dreier Monarchien und das Leben von 20 Millionen Menschen entscheiden sollte.“31 Betrachtet man sich die Kriegsplanungen der Hauptprotagonisten, dann kommt man zu dem überraschenden Urteil, dass sie unzureichend ausgearbeitet waren, dass sie ein rasches Losschlagen nicht erlaubten, dass es keine „irgendwie kohärente Gesamtkriegsplanung“ gab32. Den Krieg, den man so nachdrücklich für unvermeidbar ansah, hatte man schlecht oder gar nicht vorbereitet. Es spricht einiges dafür, dass das politische Zusammenspiel der fünf europäischen Großmächte mit dem Ziel, einen Krieg zwischen ihnen zu verhindern, nach 1910 vor allem auch deshalb immer schlechter funktionierte, weil der Niedergang des Osmanischen Reiches in Südosteuropa Nachfolgekonflikte anheizte, welche von den beiden am meisten „zuständigen“ Vormächten nicht einvernehmlich eingedämmt werden konnten. „Sowohl Österreich-Ungarn als auch Russland waren mit der unübersichtlichen und komplizierten Situation auf dem Balkan überfordert, und das nicht zuletzt deswegen, weil die komplexitätsreduzierende Rolle eines hegemonialen Akteurs im Juli 1914 nicht mehr griff und die beiden Regierungen die früher vorhandenen Spielräume für gemeinsame Arrangements nicht genutzt hatten. Ein über die serbische Regierung hinweg geschlossener Kompromiss zwischen Wien und St. Petersburg wäre unter diesen Umständen der eigentlich naheliegende Ausweg gewesen. Aber dazu hätte Wien mit den Russen Gespräche führen müssen, und das wollte die österreichische Regierung nicht, weil sie befürchtete, damit Serbien weiter aufzuwerten.“33 In dieser Passage Münklers wird ein interessanter Punkt angesprochen – die Probleme der Kommunikation. In mehrfacher Hinsicht ist der Erste Weltkrieg in 30

S. Förster, Im Reich des Absurden. Die Ursachen des Ersten Weltkrieges, in: B. Wegner (Hrsg.), Wie Kriege entstehen. Zum historischen Hintergrund von Staatenkonflikten, F. Schöningh Verlag, Paderborn 2000, S. 211 – 252, hier S. 249. 31 M. Ferro, Der Große Krieg 1914 – 1918, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1988, S. 90. 32 S. Förster (Anm. 30), S. 250. 33 H. Münkler (Anm. 4), S. 47.

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der Tat ein „Kommunikationsereignis“34, während seines Verlaufs sowieso (strenge Militärzensur, straffe Propaganda nach innen und außen, Einsatz von neuen Medien wie dem Film), aber in einem anderen Sinne auch schon während der Juli-Krise und beim Kriegsausbruch. Die verantwortlichen Politiker und Diplomaten redeten und kommunizierten zwar ausgiebig miteinander. Aber genau das taten sie dort nicht, wo es besonders wichtig gewesen wäre. Und außerdem beachteten sie die Regeln diplomatischer Kommunikation nur ungenügend. Entweder überbetonten sie die Eindeutigkeit ihrer Haltung („Blankoscheck“, „Nibelungentreue“) oder sie überbetonten genau im Gegenteil die Uneindeutigkeit ihrer Haltung (Englands Schwanken zwischen dem Sich-Einmischen und dem Sich-Heraushalten bei der Frage einer militärischen Konfrontation Zweibund/franko-russische Allianz). Beides hatte fatale Auswirkungen. Nur in Parenthese sei hier noch angemerkt, dass es trotz des von den damaligen Entscheidungsträgern immer und ausnahmslos verkündeten Primats der Außenpolitik überall, in einigen Staaten sehr heftige, in anderen nicht ganz so drängende innenpolitische Probleme gab, die mithilfe nationalistischer Phrasen und Appelle an die bedrohte Größe oder die nicht zugestandenen Rechte der eigenen Nation überspielt werden sollten. Auf diese Weise wurde eine Art identitätspolitischer „Druck von unten“ erzeugt, der den Handlungsspielraum der Entscheidungseliten nicht gerade erweiterte.

IV. Machtpolitik in den Hauptstädten35 1. Das Deutsche Reich ohne Bismarck Eine der Schwierigkeiten bei der Beurteilung der Kalküle (und Fehlkalküle) der Protagonisten in der Juli-Krise 1914 liegt darin begründet, dass sich ihre Positionen im Laufe der Kriegsereignisse bis 1918, die niemand von ihnen so vorhergesehen hatte36, je nach Lage der Dinge neue Kriegsziele anvisierend, veränderten und oft radikalisierten. Derartige Verschiebungen der Perspektiven auf den Kriegsausbruch 1914 oder die Zeit davor zurückzuprojizieren, ist aber methodisch unsauber und verzerrt die Analyse. Als jüngste europäische Großmacht, geostrategisch in einer schwierigen (Mittel-) Lage, war die Politik des Kaiserreichs zwar verbal ziemlich ungehobelt, vor allem 34 Ansatzweise dazu: S. Quandt/H. Schichtel (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg als Kommunikationsereignis, Justus-Liebig-Universität, Gießen 1993. 35 Eine der auch heute noch sehr eindrucksvollen Darstellungen des Kriegsausbruchs 1914 ist B. Tuchman, August 1914, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 1990 (die amerikanische Originalausgabe erschien 1962). Es mutet aber ein wenig eigenartig an, dass sie nur über vier der europäischen Großmächte schreibt, Österreich-Ungarn jedoch so gut wie ganz aus dem Blick lässt. 36 Insofern könnte man verkürzt sagen: Alle Kalküle der wichtigsten diplomatischen und militärischen Entscheidungsträger beruhten durch die Bank auf Fehlwahrnehmungen.

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wegen der vielen unsäglichen Sprüche Wilhelms II. Aber unterhalb dieser offensiven Rhetorik (à la der Bülow’schen Forderung nach einem „Platz an der Sonne“37) war die Außenpolitik vor allem auch von der Furcht bestimmt, den gerade errungenen Großmachtstatus wieder einzubüßen. In den Jahren zwischen 1911 und 1914, trotz der Balkankriege eigentlich eine Zeitspanne relativer politischer Entspannung in Europa38, drückte sich dies vor allem in zweierlei Hinsicht aus: Erstens in der Furcht vor einer markanten Schwächung des (einzigen39) Verbündeten ÖsterreichUngarn und zweitens in der Furcht davor, von Russlands und Frankreichs Truppen eingekesselt zu werden. Daraus folgten als logische, wenn auch problematische Handlungsoptionen die ostentative Unterstützung Österreich-Ungarns in dem Konflikt mit Serbien nach dem Attentat vom 28. Juni und die schon längerfristig gehegte Vorstellung, nur ein Präventivkrieg könne aus der Zwangslage der Einkreisung helfen, und zwar bevor Russland seine Heeresvergrößerung abgeschlossen und bevor Frankreich die 1912 beschlossene Verlängerung der Wehrpflicht von zwei auf drei Jahre umgesetzt haben und entsprechend militärisch gestärkt sein würde. Problematisch waren diese Optionen insofern, als das Risiko eines russischen Eingreifens in eine militärische Intervention Österreich-Ungarns durch die bedingungslose Unterstützung des Wiener Kriegskurses sich drastisch erhöhte. Ein zweites Risiko bestand darin, dass der Zweifrontenkrieg des Reiches, sofern es denn dazu kommen sollte, die Aussicht auf einen siegreichen Abschluss einbüßte, wenn England sich nicht heraushielt.40 Reichskanzler Bethmann Hollweg ließ, um das zu sondieren, nicht ganz aufrichtige Signale nach London schicken. Dort schwankte die Regierung und antwortete ebenfalls mit solchen uneindeutigen Signalen. Der Rüstungswettlauf bei der Ausrüstung der beiden Hochseeflotten schwächte zudem die Vertrauensbasis im bilateralen Verhältnis beider Mächte. Die deutschen Hauptakteure in der Juli-Krise 1914 ließen die Staatskunst des Fürsten Bismarck vermissen, nämlich eine sachangemessene Lagebeurteilung anzustellen und sie nüchtern in ein Handlungskalkül zu überführen, das, auch wenn es nicht ganz einfach umzusetzen wäre, die zivil-militärische Schieflage der europäischen Konstellation hätte stabilisieren können. Um ein in den Äußerungen über deutsche Außenpolitik der Gegenwart häufig auftauchendes Argument vom Kopf auf die

37 In der Reichstagsdebatte am 6. 12. 1897 sagte der damalige Staatssekretär des Auswärtigen Amtes: „Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch einen Platz an der Sonne.“ Das bezog sich auf die Kolonialpolitik und war mehr griffig als klug formuliert. Aber besonders aggressiv war dieser Satz auch wieder nicht. So wird er aber seither immer aufgefasst – als Metapher des deutschen Weltmachtstrebens. Und dieser rhetorische „Griff nach der Weltmacht“ geistert seither durch alle deutschland-kritischen und -selbstkritischen Darstellungen des Kaiserreichs. Ziemlich unfair! 38 H. Münkler (Anm. 4), S. 55. 39 Italien galt in Berlin, wie sich zeigte, mit einigem Recht, als unsicherer Kantonist und auf keinen Fall als echter Mitspieler auf der Ebene der Großmächte. 40 J. Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, C. H. Beck Verlag, München 2014, S. 95.

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Füße zu stellen: Damals mangelte es der deutschen Entscheidungselite an Realpolitik. 2. K. u. k. Wunschdenken Die k. u. k. Armee befand sich 1914 in einem nicht sehr guten Zustand. Der Mangel an gut ausgebildetem Personal und auch an Reservisten zwischen 20 und 40 Jahren hatte verschiedene Ursachen, konnte aber keinesfalls schnell behoben werden. „Militärisch war die Donaumonarchie also bereits im Juli 1914 eher eine regionale als eine europäische Macht. Ihre Armee reichte für einen Krieg auf dem Balkan aus, war aber nicht in der Lage, den Angriffen mehr als eines Gegners standzuhalten“41. Deshalb war aus der Wiener Perspektive die Unterstützung Deutschlands vor allem deshalb wichtig, damit es der Donaumonarchie, wie Hew Strachan es formuliert hat, den Rücken gegen Russland freihalten würde. Außerdem sollte Berlin entscheidend dabei helfen, Bulgarien als Verbündeten gegen Serbien zu gewinnen. Ob und wie Deutschland bei diesen beiden Zielen mitmachen würde, sollte der Kabinettschef des Außenministers, Alexander Graf von Hoyos, am 5./6. Juli in Berlin erkunden. Wenn man sich die deutsche Zusage, den berühmt-berüchtigten Blankoscheck, genauer ansieht, wird darin eigentlich nur zum Ausdruck gebracht, dass man in Berlin gewillt war, „Österreich-Ungarn bei einem Feldzug zu unterstützen, mit dem Serbien als politischer Machtfaktor auf dem Balkan ausgeschaltet werden sollte“42. Bei seiner Rückkehr nach Wien am 7. Juli stellte Hoyos die Berliner Zusage als ein Berliner Drängen zum Handeln dar. Es dauerte aber noch eine Woche, ehe auch der zögernde Ministerpräsident Graf István Tisza einem Militärschlag gegen Serbien zustimmte. Aber auch dann geschah noch nichts. Ein großer Teil der k. u. k. Armee war noch mit Ernteeinsätzen beschäftigt. Deswegen hätte Conrad von Hötzendorf, obwohl einer der lautesten Kriegsbefürworter, am liebsten noch bis Mitte August zugewartet. Als Kompromiss einigte man sich in Wien auf den 23. Juli als den Tag der Übergabe des harschen und kriegsbedachten Ultimatums an die serbische Regierung. Die Regierung in Wien fühlte sich nicht nur stärker, als sie, militärisch gesehen, eigentlich war. Sie interpretierte die deutsche Unterstützung vom 6. Juli auch als viel entschlossener und weiterreichend, als sie gemeint war. Außerdem verließen sich Berlin und Wien darauf, dass, wenn es denn doch zu einem Eingreifen Russlands kommen werde, der jeweils andere die Hauptlast dieses Kampfes tragen könnte und würde. Als dann Serbien am 25. Juli die Mobilmachung begann und Österreich-Ungarn am selben Tag eine Teilmobilmachung für den 28. Juli beschloss, reagierte die österreichische Öffentlichkeit nach dem Zeugnis von Zeitgenossen nicht gerade euphorisch. Zwar erhoffte man sich einen raschen Sieg über Serbien, aber zugleich herrschte auch schon eine allgemeine Furcht vor Weiterungen. Alle hofften aber, auch Con41

H. Strachan, Der Erste Weltkrieg. Eine neue illustrierte Geschichte, Wilhelm Goldmann Verlag, München 2014, S. 30 (die englische Originalausgabe stammt aus dem Jahr 2003). 42 H.-U. Thamer, Der Erste Weltkrieg. Europa zwischen Euphorie und Elend, Palm Verlag, Berlin 2017, S. 18.

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rad von Hötzendorf, der k- u. k. Generalsstabschef, dass solche Weiterungen ausbleiben würden. 3. Russlands Geheimnisse In der Politik zwischen Staaten hat es neben der offiziellen Diplomatie immer auch Versuche gegeben, mittels geheimer Kontakte und Spionage herauszubekommen, was die anderen Akteure „wirklich“ denken und zu tun beabsichtigen. Im 19. und 20. Jahrhundert sind diese Versuche systematisiert und institutionalisiert worden. Dies festzustellen, ist erheblich weniger riskant als anzugeben, welche Rolle solche Geheimdienste und ihre Erkenntnisse in bestimmten historischen Sequenzen gespielt haben. Denn erstens sind solche Erkenntnisse nur lückenhaft dokumentierbar, und zweitens muss in vielen Fällen die Frage offen bleiben, ob und wie sie in den Entscheidungsprozess eines Staates und seiner handelnden Politiker eingegangen sind. Es gibt spektakuläre Beispiele dafür, dass solche Erkenntnisse, obgleich den Entscheidungsträgern nahegebracht, von ihnen nicht akzeptiert wurden. Bekannt ist z. B. die Geschichte, wonach Stalin 1941 den ihm von einem kommunistischen Spion in Japan übermittelten Termin des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion nicht glaubte. Freilich kennen wir hier wie meist, wenn es um Spionage und Geheimdienstinformationen geht, nicht alle Hintergründe. Allzu oft muss bei historischen Analysen, wenn es um diese Grauzone von Politik und Diplomatie geht, spekuliert werden. Auch 1914 gab es zwischen den europäischen Mächten neben ihrer offiziellen diplomatischen Kommunikation eine Menge gegenseitiger Spionage. Freilich lässt sich die Frage, was die einzelnen Akteure von den Schachzügen ihrer Kontrahenten in der Juli-Krise vorab gewusst haben, nur über Indizien beantworten. McMeekin meint so eine ausreichende Zahl von Indizien dafür gefunden zu haben, dass die russische Regierung bereits vor der Übergabe des österreichisch-ungarischen Ultimatums an Serbien (23. Juli) dessen Inhalt gekannt habe. Auch hätten die Gespräche von Staatspräsident Poincaré und Ministerpräsident Viviani bei ihrem Staatsbesuch in St. Petersburg43 hauptsächlich dazu gedient, „das anstehende Ultimatum in allen Einzelheiten (zu diskutieren) und eine gemeinsame Antwort in irgendeiner Form“ vorzubereiten44. Diese Antwort bestand in einem Gegen-Ultimatum Russlands an Österreich-Ungarn, in dem die Forderungen aus Wien an Serbien zurückgewiesen wurden. Diese Antwort als reine Reaktion auf das Ultimatum aus Wien wäre schon ein Eskalationsschritt in Richtung auf Krieg. Als Ergebnis einer längeren russisch-französischen Absprache und Festlegung beider Regierung erscheint sie, vor allem in Verbindung mit der Teilmobilisierung Russlands am 25. Juli, als kühnes 43 Die Besucher aus Frankreich reisten am 21.7. per Schiff an und verließen St. Petersburg wieder am Abend des 23.7. Fast eine Woche später, am Vormittag des 29.7. trafen sie wieder in Frankreich ein, in Dünkirchen. 44 S. McMeekin, Russlands Weg in den Krieg. Der Erste Weltkrieg – Ursprung der Jahrhundertkatastrophe, Europa Verlag, Berlin 2014, S. 91.

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und risikoreiches Manöver, um Österreich-Ungarn in einen Krieg mit Russland zu zwingen, in den sich auch Deutschland einmischen würde. Diese Teilmobilisierung war im übrigen so angelegt, dass sie als Reaktion darauf die Mobilisierung der k.u.k. Armee nicht nur einen Krieg gegen Serbien, sondern eben auch gegen Russland auslösen musste, also genau jene Überziehung der militärischen Kräfte des Landes, die Conrad von Hötzendorf hatte vermeiden wollen. 4. Französische Kalküle Für Frankreich und sein Verhalten in der Juli-Krise spielt das Wissen von den Vorstellungen und Planungen in anderen europäischen Hauptstädten, insbesondere in Berlin, eine entscheidende Rolle. Die französischen Militärplaner hatten seit mehreren Jahren genaue Kenntnisse vom Schlieffenplan (seit April 1914 sogar eine Kopie der neuesten Version). Dieser Umstand, so die These von Rainer F. Schmidt, ermöglichte es Poincaré, „zwischen 1912 und 1914 eine gezielte Kriegsvorbereitungspolitik ins Werk zu setzen“45. Zu dieser Politik gehörten strategische Prioritätensetzungen wie die Konzentration französischer Streitkräfte westlich von Elsass und Lothringen und die weitgehende Entblößung der belgischen Nordflanke46 sowie die politische Festigung der Entente mit England (einschließlich Absprachen bei den Militärplänen) und nicht zuletzt die Ermutigung Russlands, sich auf einen raschen Angriff auf Deutschland vorzubereiten. Poincaré bemühte sich seit 1912 mit großem Nachdruck um eine Verbesserung der französisch-russischen Beziehungen. Den Franzosen war vor allem auch wichtig, die Zeitdifferenz zwischen der schnellen französischen und der langsamen russischen Mobilmachung zu reduzieren47. Damit verfolgten sie das Ziel, Deutschland von Anfang an in einen Zweifrontenkrieg zu verwickeln und zu verhindern, dass sich die deutschen Streitkräfte erst auf den Westen konzentrieren konnten und sich erst später an der Ostfront verstärken müssten. (Genau dies, nämlich dem Zweifrontenkrieg durch eine solche Zeitdifferenz vermeiden zu können, war ja die – illusionäre – Absicht, die mit dem Schlieffenplan verfolgt wurde.) Außerdem wurde Russland von Poincaré ermuntert, in der Serbien-Angelegenheit offensiver gegenüber Wien aufzutreten. Anlässlich des Staatsbesuchs vom 21. bis 23. Juli in St. Petersburg bekräftigte Poincaré das Versprechen unbedingter französischer Bündnissolidarität und militärischen Beistands für den Fall kriegerischer Verwicklungen und einer Konfrontation Russlands mit Österreich-Ungarn. Dieses Versprechen, gleichviel ob mit oder ohne Kenntnis des österreichisch-unga45 R. F. Schmidt, „Revanche pour Sedan“ – Frankreich und der Schlieffenplan, in: Historische Zeitschrift, Bd. 203/2016, S. 396. 46 Ersetzung des Aufmarschplans XVI durch den Plan XVII („offensive à outrance“). Mit diesem Plan sollte eine sofortige Intervention Englands zugunsten des bedrohten Frankreich sozusagen erzwungen werden. Französische Truppen durften sich nach diesem Kalkül nicht auf das Territorium Belgiens begeben, selbst nach der deutschen Verletzung von Belgiens Neutralität nicht. 47 R. F. Schmidt (Anm. 45), S. 406.

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rischen Ultimatums an Serbien auf dem bilateralen Treffen in St. Petersburg abgegeben, hat die russische Haltung gegenüber Wien deutlich selbstsicherer und aggressiver gemacht. 5. Britisches Schwanken Der eigentliche Zweck der englisch-französischen Entente von 1904 war es nicht gewesen, schreibt Strachan, eine Einheitsfront gegen Deutschland zu bilden, sondern die langjährige Rivalität beider Imperien in Nordafrika zu regeln48. Es mag auch an den zahlreichen europäischen Krisen in dem Jahrzehnt zwischen 1904 und 1914 gelegen haben, dass sich die englische Annäherung an Frankreich mehr und mehr zum gegen Deutschland gerichteten Bündnis entwickelte. Das ist, in Klammern gesagt, eine methodische Warnung an diejenigen zeitgenössischen und späteren Beobachter der Juli-Krise, die wegen der vielen „vermiedenen Kriege“ vor 1914 gemeint haben oder meinen, auch dieses Mal ließe sich solch ein Krieg leicht vermeiden oder, in der Retrospektive, hätte sich leicht vermeiden lassen. Unvermeidlich war er gewiss nicht. Aber die Aussichten, das „Europäische Konzert“ wieder harmonischer klingen zu lassen, hatten sich im Sommer 1914 drastisch verschlechtert. Und eben nicht nur infolge der kriegslüsternen Aktionen eines der beteiligten Akteure. Zwar gab es unter den Politikern und der Generalität diesseits und jenseits des Kanals entschlossene und auch sehr aktive Anhänger einer solchen Einheitsfront, aber zumal in London, wo 1914 gerade die Liberalen am Regierungsruder standen, regten sich auch andere Kräfte. Tatsächlich war die liberale Regierung in der Juli-Krise tief gespalten49. Sir Edward Greys Kommunikationspolitik einer „apparent indecision“ verfehlte ihr vielleicht nicht ganz aufrichtig verfolgtes Ziel, Deutschland und Frankreich von aus Englands Perspektive unbedachten Schritten abzuhalten. Grey gehörte eigentlich zu den Befürwortern einer englisch-französischen Entente als Eindämmungsinstrument gegen Deutschland. Mit etwas mehr diplomatischem Spürsinn hätte man dies auch in Berlin erkennen können. So wie der Entscheidungsprozess zum Kriegseintritt in London ablief, lässt sich jedenfalls nicht ernsthaft behaupten, der Hauptgrund für diesen Entschluss sei die deutsche Verletzung der belgischen Neutralität gewesen. Das ist aber im Übrigen bis heute noch eine weit verbreitete, wenn nicht sogar die vorherrschende Meinung in Großbritannien. V. Fazit: Fahrlässigkeit, Verhängnis, Verantwortung Fahrlässig haben die Protagonisten der Julikrise gehandelt, und zwar alle, weil sie zu wenig politische Phantasie entwickelten, um diese zivil-militärische Schieflage 48

H. Strachan (Anm. 40), S. 57. D. Newton, The Darkest Days. The Truth Behind Britain’s Rush to War, 1914, Verso, London 2015, S. 298 ff. 49

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zwischen ihnen erstens zu erkennen und zweitens zurechtzurücken. Das war nicht zuletzt ein Kommunikationsversäumnis. Verhängnisvoll war erstens, dass die lokal eingrenzbare Krise sich zur Befeuerung weiter ausgreifender Zielvorstellungen innerhalb der Großmächte-Rivalität anbot und die Vorstellung in Berlin, dass es nur noch ein sich bald schließendes Zeitfenster für militärische Aktionen gegen Frankreich und Russland gab, nicht mit diplomatischen Mitteln überspielt werden konnte. Aus diesem Grunde urteilt Mombauer, der Hauptteil der Verantwortung für den Kriegsausbruch läge in Wien und Berlin.50 Clark argumentiert, ohne die kriegerische und imperialistische Paranoia der österreichischen und deutschen Politiker kleinreden zu wollen, die Juli-Krise 1914 sei die Frucht einer gemeinsamen europäischen politischen Kultur gewesen, zudem „multipolar und wahrhaft interaktiv“51. Wir sollten diese Sichtweise, die vieles für sich hat, allerdings nicht soweit überdehnen, dass wir die Handlungen der Protagonisten allesamt auf die strukturellen Defizite der sozio-ökonomischen Konkurrenz von Imperialismen zurückführen. „Das System ist schuld“ – eine solche Aussage ist zu billig. Dennoch kann man sich bei der Nachzeichnung der Ereignisse und der Analyse der Handlungssequenzen auf der internationalen Bühne und den (zuweilen verborgenen) Handlungsmotiven der Protagonisten nicht des Eindrucks erwehren, dass, so auch die These von Stig Förster, die Männer, die den Krieg schließlich herbeiführten, sich in einem „Reich des Absurden“52 bewegten. Den berühmt (für manche berüchtigt) gewordenen Ausspruch des ehemaligen britischen Premierministers Lloyd George vom „Hineinschlittern“ in den Krieg53 sollte man vielleicht nicht so verstehen, als sei Europa sozusagen aus Versehen und ohne, dass jemand dafür verantwortlich gemacht werden könnte, in den Krieg gerutscht. Wenn Politiker, Diplomaten und hohe Militärs statt sich vom glatten Untergrund fernzuhalten, auf einer abschüssigen Eisbahn durchaus mutwillig zu schlittern beginnen, dann mögen sie Spaß daran gehabt haben, aber sie sind auf jeden Fall ein hohes Unfall-Risiko eingegangen, manche mehr, manche weniger. So macht der Ausdruck eher Sinn. Und auch Clark, will mir scheinen, benutzt eine nicht ganz treffende Metapher, wenn er die Protagonisten der Juli-Krise „Schlafwandler“ nennt, die zugleich „wachsam“ und „blind“ gewesen seien. Wachsame Schlafwandler gibt es nicht, und wenn diese Männer auch in gewissem Sinne blind waren für die Lage, in der sie sich befanden, so haben sie doch scharf kalkuliert, welche politischen Schritte sie unternehmen könnten. Scharf – aber oft falsch und unfähig, sich zu korrigieren. Eyes wide shut sozusagen.

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A. Mombauer (Anm. 15), S. 117. Ch. Clark (Anm. 15), S. 717. 52 S. Förster (Anm. 30), S. 213 53 „Europe slithered over the brink into the boiling cauldron of war.“

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Verhängnisvoll für den weiteren Verlauf der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert war aber zweitens, dass am Ende des furchtbaren Krieges alle Verantwortung dafür auf die Schultern Deutschlands geschoben wurde, das nunmehr zu einer Republik geworden war, die dadurch destabilisiert und auf den Weg des Revanchismus abgedrängt wurde. Anhang: Chronologie der Juli-Krise 1914 28. Juni: Tödliches Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie während eines Besuchs Bosniens in Sarajewo durch den serbisch-bosnischen Terroristen Gavrilo Princip. 5. Juli: Alexander Graf Hoyos, Mitarbeiter im Wiener Außenministerium, reist mit einem Memorandum zur Balkanpolitik und einem Schreiben von Kaiser Franz Joseph I. nach Berlin. Der Monarch bittet den deutschen Kaiser Wilhelm II. um Unterstützung im Kriegsfall mit Serbien. 6. Juli: Das Deutsche Reich sichert Österreich-Ungarn öffentlich uneingeschränkte Solidarität bei einer Aktion gegen Serbien zu („Blankoscheck“). 20. –23. Juli: Beim Besuch des französischen Präsidenten Raymond Poincaré in Russland sichern sich beide Staaten Unterstützung im Bündnisfall zu. 23. Juli: Die Regierung in Wien richtet ein schroff formuliertes 48 Stunden-Ultimatum mit mehreren Punkten an die serbische Regierung, von denen vor allem der letzte (österreichische Beamte sollen in Serbien bei der Untersuchung des Attentats mitwirken) von vornherein als „unannehmbar“ gilt (gelten soll). 24. Juli: Russland versichert der serbischen Regierung ihrer Unterstützung gegen aggressive Handlungen Österreich-Ungarns. 25. Juli: Serbien antwortet auf das Ultimatum aus Wien in gemäßigtem Ton. Die Bedingungen Österreich-Ungarns werden aber nicht alle akzeptiert. Serbische Teilmobilmachung. 26. Juli: Berlin droht mit der Mobilmachung, falls Russland seinerseits militärische Vorbereitungen dazu einleitet. 28. Juli: Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien. Teilmobilmachung Russlands. 29. Juli: Angriff Österreichs auf Serbien (Beschuss Belgrads); Sir Edward Grey gibt dem französischen Botschafter zu verstehen, dass England nicht neutral bleiben werde, wenn alle Bemühungen zum Erhalt des Friedens scheitern sollten. Russland dankt der Regierung in Paris für deren Waffenhilfe im Falle eines Krieges. 30. Juli: Bemühungen Deutschlands um Gespräche zwischen Wien und St. Petersburg.

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1. August: Französische Mobilmachung um 16.55 Uhr; Deutsche Mobilmachung um 17.00 Uhr; Deutsche Kriegserklärung an Russland 19.00 Uhr; Mobilmachung der britischen Flotte; 2. August: Deutscher Einmarsch ins neutrale Luxemburg; 3. August: Deutsche Kriegserklärung an Frankreich; Deutscher Einmarsch ins neutrale Belgien; Italien erklärt seine Neutralität. 4. August: England erklärt Deutschland wegen der Verletzung der belgischen Neutralität den Krieg. 6. August: Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Russland. 11./12. August: Kriegserklärungen Englands und Frankreichs an Österreich-Ungarn. * Abstract Wilfried von Bredow: Eyes Wide Shut. Causes and the Beginning of World War I (Eyes Wide Shut. Ursachen und Beginn des Ersten Weltkriegs), in: World War I and its Consequences for the Coexistence of Peoples in Central and Eastern Central Europe (Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa), ed. by Gilbert H. Gornig and Adrianna A. Michel (Berlin 2017), pp. 13 – 35. Till today, academic and public debates about the roots and the development of the great European War which became World War I are contaminated by the message of Article 231 of the Versailles Peace Treaty which blamed Germany and only Germany for the outbreak of the war. It reduces the complex fabric of political, diplomatic, economic, military and cultural relations between European states and societies to a simple narrative of the illegal and illegitimate German pursuit of hegemonic power which eventually failed because of the moral strength which was displayed by Germany’s military opponents. Recent international research by historians reveals a much more differentiated picture. The gross negligence of the German leadership can certainly not be painted in a friendly light. But from the day of the terrorist assassination of the Archduke and heir to the Austrian throne Franz Ferdinand and his wife Sophie (June 28) to the outbreak of military actions (August 2) the leadership of all involved countries acted according to their own political priorities and intentions. All of them included the risk of starting a war. Although certainly not unavoidable, World War I began as a consequence of the disharmony of the “European concert” and the proactive pessimism of European statesmen to be able to prevent a war. They were not “sleepwalkers” who “slithered into the war”, but they accepted to start a war without clear ideas and the slightest imagination about its dimensions and terrible intensity.

Das Kriegsrecht im Ersten Weltkrieg Von Justine Diebel I. Das Kriegsrecht zu Beginn des 20. Jahrhunderts 1. Vom Recht zum Krieg zum Gewaltverbot Wenngleich die Idee einer friedlichen Streitbeilegung kein Phänomen der Moderne ist, schuf die Charta der Vereinten Nationen 1945 eine neue völkerrechtliche Grundlage sowohl für das materiell-rechtliche Gewaltverbot als auch für seine kollektive Durchsetzung durch die Staatengemeinschaft. Artikel 2 Ziffer 4 der Charta untersagt den Mitgliedstaaten grundsätzlich jede Androhung oder Anwendung von Gewalt in ihren internationalen Beziehungen. Jede militärische Gewalt eines Staates gegen einen anderen Staat ist damit völkerrechtswidrig. Vorangegangen ist dem Verbot und der Ächtung der Gewalt der Briand-Kellogg Pakt vom 27. August 1928 mit seinem Kriegsverbot1 und Art. 11 Abs. 1 Satzung des Völkerbundes vom 28. Juni 19192, in dem ausdrücklich festgestellt wird, dass jeder Krieg und jede Bedrohung mit Krieg, mag davon unmittelbar ein Bundesmitglied betroffen werden oder nicht, eine Angelegenheit des ganzen Bundes ist und dass dieser die zum wirksamen Schutz des Völkerfriedens geeigneten Maßnahmen zu ergreifen habe. Damit war das Recht der souveränen Staaten, zum Kriege zu schreiten, abgeschafft worden. Zuvor wurde die Weltgeschichte geprägt von Kriegen und rudimentär geplanter kollektiver physischer Gewalt. Die wirtschaftliche Verflechtung von Staaten infolge zunehmender Globalisierung hat den Krieg zu ihrer Angelegenheit gemacht, um politische Motive und Ideologien durchzusetzen. Vor allem aber bewirkte die Ankoppelung des Krieges an die Staatsmacht eine Industrialisierung der Kriegstechnik. 2. Kodifikation kriegsrechtlicher Befugnisse Die einst defizitäre Rechtslage ist vor allem im Ersten Weltkrieg deutlich geworden. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich der Krieg zu einem Krieg der Massen, wodurch der Krieg total wurde und weitgehend an Rationalität verlor. Dennoch blieb die Einsicht der Kriegsführenden, dass mit zunehmender Möglichkeit 1

RGBl. 1929 II, S. 97; Th. Schweisfurth, Völkerrecht, 2006, S. 479. RGBl. 1919, S. 701 ff. Die Völkerbundsatzung ist Bestandteil aller fünf Pariser Vorortverträge (Versailler Vertrag, Staatsvertrag von St. Germain, Friedensvertrag von Trianon, Friedensvertrag von Neuilly, Friedensvertrag von Sèvres) von 1919 und 1920. 2

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der Ausschöpfung ihrer Zerstörungskapazitäten der Krieg einem bindenden Regelwerk unterliegen sollte. Die Notwendigkeit einer Kodifikation kriegsrechtlicher Befugnisse war somit unumgänglich. a) Kriegsrecht Unter Kriegsrecht im engeren oder eigentlichen Sinn versteht man diejenigen Beschränkungen, die das Völkerrecht den Kriegführenden auferlegt hinsichtlich der Anwendung der Mittel zur Überwindung und zur Wehrlosmachung des Gegners. Die Wehrlosmachung bildet das eigentliche Ziel des Krieges.3 Carl von Clausewitz, Heeresformer und Militärwissenschaftler bezeichnet in seinem Werk „Vom Kriege“ Krieg als eine Fortsetzung politischer Auseinandersetzung mit anderen Mitteln.4 Die für die Kriegsführung zur Verfügung stehenden Mittel werden folglich zum Vehikel politischer Machtausübung. Völkerrechtlich lässt sich Krieg als der Zustand der Beziehung zwischen zwei Staaten definieren, in dem das allgemeine Friedensrecht suspendiert ist.5 An die Stelle des Friedensrechts treten das Kriegsrecht sowie völkerrechtliche Verträge, die in Hinblick auf die Eventualität eines Krieges zwischen Staaten geschlossen wurden.6 Die Genfer Kriegsgefangenenkonvention von 1929 sah beispielsweise in Art. 83/III Treffen zwischen Vertretern der mit Kriegsgefangenenangelegenheiten betrauten Behörden der gegnerischen Seite nach Kriegsausbruch vor, um die gegenseitige Anwendung des geltenden Rechts abzusichern. Der Abschluss derartiger Kriegsverträge erfolgte formfrei, also regelmäßig mündlich und bedurfte, anders als dies sonst bei völkerrechtlichen Verträgen die Regel war, keiner Ratifikation ins nationale Recht.7 b) Humanisierung des Krieges Rechtliche Einschränkungen von Gewalt erfolgten im Völkerrecht auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Bevor das Kriegs- und Gewaltverbot völkerrechtlich kodifiziert wurde, galt es den Krieg zu „humanisieren“. Anstrengungen zur Eindämmung des Krieges im 17. Jahrhundert lagen der Forderung nach Führung eines „gerechten“ Krieges zugrunde, wenn das Völkerrecht eine militärische Austragung von Konflik-

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F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd., 1969, S. 61. C. von Clausewitz, Vom Kriege, 1832/1834, 1. Buch, 1. Kapitel, § 24, § 2; A. von Arnauld, Völkerrecht, 3. Aufl. 2016, S. 456; M. Scholze, Der neue Krieg. Die Veränderung des Krieges seit dem zweiten Weltkrieg aus soziologischer Perspektive, 2009, S. 7. 5 F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II Bd., 1969, S. 3. 6 F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II Bd., 1969, S. 3; Wolfgang Graf Vitzthum, Völkerrecht, 4. Aufl., 2007, S. 683. 7 P. Fauchille, L’evacuation des territoires occupes par l’Allemagne dans le Nord de la France, 1917, S. 320; F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd., 1969, S. 3. 4

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ten nicht zu verhindern imstande war.8 Für Grotius war der gerechte Krieg nur der, der mit gerechten Mitteln geführt wurde.9 Gegen den Feind, der ohne gerechten Grund Krieg führte, galten hingegen keine Regeln. Den Unterschied zwischen „Recht zum Kriege“, dem sog. ius ad bellum, und dem „Recht im Kriege“, dem ius in bello, kannte er nicht. Es gab aber auch Normen, die militärische Gewalt grundsätzlich untersagten bzw. nur in bestimmten Ausnahmefällen erlaubten. Grundsätzlich bestand aber ein Recht zum Krieg, ein ius ad bellum als Ausfluss staatlicher Souveränität. Wenn und soweit aber die Regeln einen Krieg oder einen bewaffneten Konflikt nicht verhindern konnten, galt das „Recht im Krieg“, das ius in bello, welches die bestehende Kriegsgewalt mit den Zügeln des Rechts zu bändigen versuchte und heute noch versucht.10 Es handelt sich beim Kriegsrecht nicht nur um Schranken bei der Gewaltanwendung, da Gewalt nicht das einzige Mittel ist, um den Gegner wehrlos zu machen. Auch List, Täuschung, Betrug, Propaganda, politische Aktionen sowie wirtschaftliche Sanktionen sind weit verbreitete Mittel. Da das Kriegsrecht Schranken für alle möglichen Arten von Kriegsmitteln enthält, ist die Beschränkung der Definition des Kriegsrechts auf Begrenzungen der Gewalt zu eng.11 Das Kriegsrecht begnügt sich nicht damit die Anwendung bestimmter Kriegsmittel als solche zu beschränken oder zu untersagen, sondern enthält auch Regeln über die zeitliche Begrenzung des Krieges, also über Kriegsbeginn, Kriegsbeendigung, Waffenstillstand, Waffenruhe, daneben Regeln über die räumliche Begrenzung der Anwendung von Kriegsmitteln, Regeln über die personelle Begrenzung der Anwendung von Kriegsmitteln, so insbesondere Rechte der Verwundeten, der Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung sowie schließlich Garantien dieser Rechtsregeln und Bestimmungen über die Folgen ihrer Verletzung wie über Kriegsrepressalien und Kriegsverbrechen.12 c) Kodifikation des Kriegsrechts Die Schwierigkeit der Kodifikation von Kriegsrecht ergab sich aus seinem transnationalen Charakter und dem Erfordernis der Schaffung eines Konsenses bei dessen 8 Th. Schweisfurth, Völkerrecht, 2006, S. 478; A. von Arnauld, Völkerrecht, 3. Aufl., 2016, S. 456; K. Ipsen, Völkerrecht, 6. Aufl., 2014, S. 1191. 9 H. Grotius, De iure belli ac pacis libri tres, III, 17 § 3. Vgl. Auch M. Bothe, Die Entwicklung des humanitären Völkerrechts, in: Handbuch des Deutschen Roten Kreuzes zum IV. Genfer Abkommen und zu den Zusatzprotokollen, 1984, S. 16; W. Graf Vitzthum, Völkerrecht, 4. Aufl., 2007, S. 683. Zum gerechten Krieg vgl. auch G. Gornig, Der „gerechte Krieg“, in: A. Herrmann-Pfandt (Hrsg.), Moderne Religionsgeschichte im Gespräch. Festschrift für Christoph Elsas, 2010, S. 470. 10 M. Krajewski, Völkerrecht, 1. Aufl., 2017, S. 235; M. Herdegen, Völkerrecht, 15. Aufl., 2016, S. 25; Th. Schweisfurth, Völkerrecht, 2006, S. 480; K. H. Ziegler, Zur Entwicklung von Kriegsrecht und Kriegsverhütung im Völkerrecht des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: AVR, 2004, S. 271 ff. 11 F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd., 1962, S. 61. 12 F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd., 1962, S. 62.

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Gestaltung und Anwendung. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden gleichwohl zahlreiche multilaterale Konventionen verfasst, die das ungeschriebene Kriegsrecht zum Teil verdrängten. Die primären Quellen des Kriegsrechts sind das Gewohnheitsrecht, das Vertragsrecht sowie die allgemeinen Rechtsgrundsätze.13 In der Folge ist die Entwicklung des ius in bello der Ersetzung des ius ad bellum durch ein Kriegsverbot vorausgeeilt. Nach vereinzelten vertraglichen Regelungen im 18. und 19. Jahrhundert setzte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine fortschreitende Kodifikation kriegsrechtlicher Regeln ein. Die St. Petersburger Erklärung über das Verbot bestimmter Geschosse von 1868 und die Brüsseler Erklärung von 1874 über Gesetze und Bräuche des Krieges waren Grundlage für die Verträge der Haager Friedenskonferenz von 1899 und 190714, von denen die Haager Landkriegsordnung besondere Bedeutung erlangte und unterdessen als Völkergewohnheitsrecht gilt. Sie zählen zu den wichtigsten Rechtsquellen des 19. und 20. Jahrhundert.15 Geregelt wurden dabei der Kombattantenstatus, die Behandlung von Kriegsgefangenen, die Zulässigkeit von Kriegsmitteln sowie die Behandlung von Spionen und die Rechte einer Besatzungsmacht. Die 1899 noch enthaltene Regelung betreffend die Internierung von Soldaten und Offizieren in neutralen Staaten wurde 1907 in eine gesonderte Konvention ausgelagert. Regelungen des ius in bello waren insbesondere in der Pariser Erklärung von 1856 über gewisse Seerechtsregeln in Kriegszeiten, auch Pariser Seerechtsdeklaration genannt, enthalten. Sie wurde am 16. April 1856 von sieben Staaten unterzeichnet; bis 13

F. A. Freiherr von Heydte, Völkerrecht, II, 1960, S. 221; F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd., 1962, S. 73. 14 Die Abkommen der zweiten Haager Friedenskonferenz lauten: I. Haager Abkommen betreffend die friedliche Erledigung von internationalen Streitfällen. II. Haager Abkommen betreffend die Nichtanwendung von Gewalt bei Eintreibung von Vertragsschulden. III. Haager Abkommen betreffend den Beginn der Feindseligkeiten (auch zur Neutralität und zur Form der Kriegserklärung). IV. Haager Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs (mit Haager Landkriegsordnung). V. Haager Abkommen betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Landkriegs.VI. Haager Abkommen über die Behandlung der feindlichen Kauffahrteischiffe beim Ausbruche der Feindseligkeiten. VII. Haager Abkommen betreffend die Umwandlung von Kauffahrteischiffen in Kriegs schiffe. VIII: Haager Abkommen betreffend die Legung von unterseeischen selbsttätigen Kon taktminen. IX. Haager Abkommen betreffend die Beschießung durch Seestreitkräfte in Kriegszeiten. X. Haager Abkommen betreffend die Anwendung der Grundsätze des Genfer Abkommens auf den Seekrieg. XI. Haager Abkommen über gewisse Beschränkungen des Beuterechts im Seekriege. XII. Haager Abkommen betreffend die Errichtung eines internationalen Prisenhofs (nicht in Kraft getreten). XIII. Haager Abkommen betreffend die Rechte und Pflichten der Neutralen im Falle eines Seekriegs. Die meisten der Haager Abkommen enthalten eine Allbeteiligungsklausel, wonach das betreffende Abkommen während eines Krieges nur gilt, wenn alle am Krieg beteiligten Staaten Vertragspartei des jeweiligen Abkommens sind. 15 Die St. Petersburger Erklärung wurde von 17 Staaten am 11. 12. 1868 unterzeichnet; D. Schindler/J. Toman, The Law of Armed Conflicts, 4. Aufl., 2004, S. 3; S. Vöneky, Der Lieber’s Code und die Wurzeln des modernen Kriegsvölkerrechts, in: ZaöRV, Bd. 62, 2002, S. 424 ff.; W. Graf Vitzthum, Völkerrecht, 4. Aufl., 2007, S. 683.

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1909 traten weitere 45 Staaten bei. Enthalten waren unter anderem das Verbot der Kaperei16 und der Schutz feindlicher Schiffsladungen mit Ausnahme kriegswichtiger Güter, die unter neutraler Flagge verschifft wurden.17 In Fällen, die nicht abschließend geregelt werden konnten, sollte die so genannte Martens’sche-Klausel, benannt nach dem russisch-estnischen Diplomaten Friedrich F. Martens, die Betroffenen vor der Willkür der kriegführenden Mächte schützen. Sie wurde in der Haager Friedenskonferenz formuliert.18 Sie gibt für Situationen in Kriegen Gebräuche, Gewissen und Menschlichkeit als Maßstäbe zur Bewertung von Handlungen und Entscheidungen vor. Die Klausel ist explizit in einer Reihe von völkerrechtlichen Verträgen enthalten und gilt darüber hinaus als Völkergewohnheitsrecht. Das Genfer Recht widmet sich schwerpunktmäßig dem Schutz von Konfliktopfern. Es umfasst Kodifizierungen der Ersten Genfer Konvention von 1864 über den Schutz der Verwundeten im Felde, ihre Neufassung von 1906, die beiden Zusatzprotokolle von 1929, die vier Genfer Konventionen von 194919 und die Zusatzprotokolle aus dem Jahre 1977 sowie das Dritte Zusatzprotokoll von 2005. Sämtliche Regelungen zur Humanisierung der Kriegsführung stellen heute das humanitäre Völkerrecht dar.20 Auch wenn der Grundstein des heutigen humanitären Völkerrechts, nämlich die Trennung zwischen dem Recht zum Krieg und dem Recht im Krieg, nicht mit dem Genfer Abkommen von 1864 gelegt wurde, wird das Abkommen von 1864 als Meilenstein bezeichnet, da es die Trennung zwischen Recht zum und Recht im Krieg stillschweigend voraussetzte und auf dieser Basis weitere Verhaltensregeln für den Kriegsfall schuf. Die bitteren Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, auf die noch einzugehen ist, ließen zahlreiche Unzulänglichkeiten des Kriegsrechts erkennen, obwohl es größtenteils erst kurz vor Kriegsausbruch kodifiziert wurde. Dies war sicherlich kausal 16

Unter Kaperei (bzw. Freibeuterei) versteht man Gewaltakte und Plünderungen auf See von dazu staatlich beauftragten privaten Seefahrern. Vom Mittelalter bis Anfang des 19. Jahrhunderts haben Staaten private Seefahrer beauftragt, unter ihrer Flagge Gewalt gegen feindliche Schiffe auszuüben und diese zu plündern. 17 D. Schindler/J. Toman, The Law of Armed Conflicts, 4. Aufl., 2004, S. 1055; N. Ronzitti, The Law of Naval Warfare, 1988, S. 64. 18 Klausel: „In Fällen, die von den geschriebenen Regeln des internationalen Rechts nicht erfasst sind, verbleiben Zivilpersonen und Kombattanten unter Schutz und der Herrschaft der Grundsätze des Völkerrechts, wie sie sich aus den feststehenden Gebräuchen, aus den Grundsätzen der Menschlichkeit und aus den Forderungen des öffentlichen Gewissens ergeben.“ W. Graf Vitzthum, Völkerrecht, 4. Aufl., 2007, S. 688; R. Schirks, Die Marten’sche Klausel, 2002, S. 78; R. Heinsch, Die Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts durch die Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda, 2007, S. 305. 19 Die Genfer Konvention „zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der Streitkräfte im Felde“ von 1864 wurde ergänzt und nach dem zweiten Weltkrieg 1949 überarbeitet durch: I. Genfer Abkommen betreffend Verwundete und Kranke der bewaffneten Kräfte im Felde, II. Genfer Abkommen betreffend Verwundete, Kranke und Schiffbrüchige der bewaffneten Kräfte zur See, III. Genfer Abkommen betreffend Kriegsgefangene und IV. Genfer Abkommen betreffend Zivilpersonen in Kriegszeiten. 20 W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, 6. Aufl., 2014, S. 1176.

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für staatliche und nichtstaatliche Bemühungen um eine Fortentwickelung des Kriegsrechts. d) Kriegsbeginn Der Beginn des Kriegszustands war gemäß Art. 1 des III. Haager Abkommens über den Beginn der Feindseligkeiten vom 18. Oktober 1907 an eine Kriegserklärung als einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung geknüpft.21 Die Notwendigkeit der Kriegserklärung ergibt sich daraus, dass dadurch geklärt ist, ob tatsächlich ein Krieg vorliegt und nicht nur eine Repressalie.22 Bei früheren kriegerischen Auseinandersetzungen im 18. und 19. Jahrhundert wurden von 117 nur noch 10 durch eine formelle Kriegserklärung eröffnet.23 Die Kriegserklärung wird in der Regel die Gründe für die gewaltsame Auseinandersetzung angeben. Diese werden aber meist propagandistisch formuliert oder gar frei erfunden sein und sind damit rechtlich bedeutungslos. Die Kriegserklärung ist formfrei, erfolgt aber in der Regel und zweckmäßigerweise durch eine schriftliche Note. Eine Frist zwischen Kriegserklärung und Eröffnung der Feindseligkeiten ist nicht vorgesehen. In der Praxis folgt manchmal die Kriegserklärung der Eröffnung der Feindseligkeiten nach. Ein Krieg kann aber auch ohne Kriegserklärung beginnen, unabhängig davon, ob damit gegen die III. Haager Konvention verstoßen wird oder nicht. Ein solcher „unerklärter Krieg“ zieht ebenfalls alle Rechtsfolgen des Krieges nach sich.24 Durch den Ausbruch des Krieges werden die beteiligten Staaten zu Kriegführenden und ihre vorangegangenen friedlichen Beziehungen werden beendet. Mit Kriegsausbruch wird nicht das gesamte völkerrechtliche Friedensrecht suspendiert, vielmehr bleiben diejenigen allgemeinen Prinzipien des Völkergewohnheitsrechts, die dem Kriegsrecht und dem Friedensrecht gemeinsam sind, wirksam.25 21

RGBl. 1910, S. 82 ff. F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd., 1962, S. 87. 23 Während des Ersten Weltkrieges wurden die meisten Kriegserklärungen abgegeben, wohingegen die Praxis während des Zweiten Weltkrieges schwankte. So erklärte beispielsweise weder Deutschland noch die Sowjetunion 1939 den Krieg gegen Polen, die Sowjetunion nicht gegen Finnland im Jahr 1939, Deutschland nicht gegen die Sowjetunion 1941, Japan nicht gegen die USA 1941, so F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd., 1962, S. 88; J. F. Maurice, Hostilities without Declaration of War, 1883, S. 12; F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd., 1962, S. 74. 24 Bereits in der Vorzeit wurden Übergriffe ohne formelle Kriegserklärung als heimtückisch empfunden. Bei den Römern war die Erklärung durch ein Organ, collegium fetialium, rechtlich formalisiert und vorgeschrieben. K.-H. Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 2. Aufl. 2007, § 9 II 5a. „Nullum bellum iustum habetur nisi denuntiatum“ prägte das Mittelalter, siehe A. Heuss, Die völkerrechtlichen Grundlagen der römischen Außenpolitik in republikanischer Zeit, 1933. 25 So treten aber, wenn durch den Kriegszweck erfordert und nicht durch die Regeln des Kriegsrechts verboten, die Unterlassungspflichten des auf Völkergewohnheitsrecht beruhen22

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e) Kriegsgebiet Als Kriegsgebiet wird derjenige Teil des Raumes verstanden, in dem Kriegshandlungen rechtlich zulässig sind. Das Kriegsgebiet umfasst das Staatsgebiet der kriegführenden Staaten, die Hohe See und jeden herrenlosen Raum auf der Erde und in der Luft.26 Der Kriegsschauplatz umfasst regelmäßig nur einen Teil des vollständigen Kriegsgebiets. Von militärischer, zuweilen auch von rechtlicher Bedeutung für den Landkrieg sind Gliederungen des Kriegsschauplatzes in Operationsgebiet und innere Zone, in eigentlicher Frontbereich und Verbindungszone, in Kampfzone und rückwärtiges Armeegebiet.27 f) Besatzungsrecht Die Vorschriften über die Besetzung feindlichen Staatsgebiets stellt die bedeutendste räumliche Schranke des Kriegsrechts dar. Das Besatzungsrecht ist Teil des Landkriegsrechts.28 Vor 1899 existierten nur gewohnheitsrechtliche Regeln über die kriegerische Besetzung, soweit nicht bilaterale Verträge einschlägig waren.29 Während des Ersten Weltkriegs galt trotz der Allbeteiligungsklausel (clausula si omnes)30 der III. Abschnitt der Haager Landkriegsordnung von 1907, da seine Bestimmungen sogleich als Ausdruck des geltenden Völkergewohnheitsrechts angesehen wurden.31 g) Kombattanten und Nichtkombattanten Die bewaffneten Kräfte der Kriegsparteien können sich gemäß Art. 3 HLKO aus Kombattanten und Nichtkombattanten zusammensetzen. Mit Kombattanten sind Angehörige der Streikräfte gemeint, die unmittelbar an militärischen Auseinandersetzungen, das heißt Kampfhandlungen, beteiligt sind.32 Nichtkombattanten sind Persoden internationalen Nachbarrechts im Verhältnis zur gegnerischen kriegführenden Partei mit dem Kriegsausbruch außer Kraft. 26 F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd., 1962, S. 116. 27 F. A. Freiherr von Heydte, Völkerrecht, II. Bd., 1960, S. 310 ff.; F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd., 1962, S. 116. 28 F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd., 1962, S. 122 f. 29 F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd., 1962, S. 123. 30 Die Allbeteiligungsklausel ist eine in Art. 24 der Genfer Konvention von 1906 sowie Art. 2 der Konvention zur Haager Landkriegsordnung und den meisten anderen Haager Abkom men von 1899 und 1907 enthaltene Regel, die zum Ausdruck bringt, dass diese Konventionen im Fall eines bewaffneten Konflikts nur gelten, wenn alle an diesem Konflikt beteiligten Staaten Vertragsparteien des jeweiligen Abkommens sind. 31 Text: Anlage zum Abkommen, betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs (IV. Haager Abkommen vom 18. 10. 1907), RGBl. 1910, S. 197 ff.; Martens, NRG, troisième série, Bd. 3, S. 461 ff.; F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd., 1962, S. 124. 32 F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd., 1962, S. 141.

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nen, die zwar zur Armee gehören und Uniform tragen, aber nicht zum Kampfe bestimmt sind, wie Beamte, Militärärzte, Sanitäter und Feldgeistliche.33 Diese nehmen regelmäßig nicht an Kampfhandlungen teil und dürfen auch nicht in direkte Kampfhandlungen verwickelt werden. Die Unterscheidung von Kombattanten und Nichtkombattanten wird aber auch noch anders gesehen: Kombattanten sind die aktiv am Kampf Beteiligten, zu den Nichtkombattanten zählt die nicht aktiv am Kampf teilnehmende Zivilbevölkerung. Zu den Kombattanten zählen die regulären Streitkräfte eines Staates, aber auch die nicht eingegliederten, aber von der Armee autorisierten Milizen und Freiwilligenkorps, ferner irreguläre aus eigenem Antrieb handelnde Soldaten, Partisanen, Widerstandskämpfer und Volkserhebungen.34 Nur diese dürfen Schädigungsobjekte sein. Dies folgt daraus, dass ein Krieg zwischen Staaten und nicht zwischen Völkern stattfindet. Die Organisation und Zusammensetzung von Streitkräften sowohl zu Friedens-, als auch zu Kriegszeiten liegt im Belieben des einzelnen Staates.35 Die Mitglieder von nicht zu den regulären Streitkräften gehörenden Milizen, Freiwilligenkorps und Widerstandsbewegungen müssen unter einer verantwortlichen Führung stehen, erkennbare Abzeichen tragen, ihre Waffen offen führen und die Normen des Kriegsrechts beachten. Unter der Voraussetzung, dass sie die Waffen offen tragen und die Normen des Kriegsrechts beachten, gehören auch die Angehörigen der Zivilbevölkerung eines nicht besetzten Staates zu den Kombattanten, wenn sie sich gegen den heranrückenden Feind wehren (levée en masse).36 h) Kriegsgefangene Die in die Hände der Streitkräfte gefallenen Kriegsgefangenen waren im Allgemeinen Beute der handelnden Soldaten.37 Der Schutz der Kriegsgefangenen war an die Erwartung von gegenseitiger Akzeptanz geknüpft. Die Kriegsgefangenschaft diente dabei nicht als Sanktion, sondern sollte aufgrund des präventiven Charakters von weiteren Kampfhandlungen abhalten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts setzten sich die Grundsätze des Verbots der Festhaltung von Kriegsgefangenen und deren Fesselung als Gewohnheitsrecht durch. Das Gewohnheitsrecht wurde erstmalig in Art. 23 der Brüsseler Erklärung von 1874, auf der ersten Haager Friedenskonferenz 1899 33 M. E. Kurt, Völkerrechtlicher Status der Gefangenen in Guantanamo Bay, in: ZRP 2002 9, S. 405. 34 F. A. Freiherr von Heydte, Völkerrecht, II. Bd., 1960, S. 343 ff.; F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd., 1962, S. 141. 35 F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd., 1962, S. 143; J. Stone, Legal Control of International Conflict, 1958, S. 568. 36 F. A. Freiherr von Heydte, Völkerrecht, II. Bd., 1960, S. 345 f. 37 Kriegsgefangene können Kombattanten sowie bestimmte, den Streitkräften angeschlossene Gruppen von Nichtkombattanten sein. Kombattanten geraten hingegen durch die Ergebung in den Status der rechtlich geregelten Kriegsgefangenschaft. Der Gegner ist an die Vorschriften der Konvention für die Menschlichkeit an Art. 13 III. GK gebunden.

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und danach auf der zweiten Haager Friedenskonferenz 1907 in der Landkriegsordnung kodifiziert, die einen eigenen Abschnitt über die Kriegsgefangenen enthält. Der zweite Absatz des Art. 4 der Haager Landkriegsordnung von 1899 bringt zum Ausdruck, dass die Kriegsgefangenen „mit Menschlichkeit behandelt werden“ sollen.38 Nach Beendigung der aktiven Feindseligkeiten sind Kriegsgefangene ohne Verzug freizulassen.39 Die Kriegsgefangenschaft endet zudem mit Tod des Kriegsgefangenen, mit Flucht aus dem Gewahrsamsstaat, mit Erreichung eines neutralen Gebiets, mit Freilassung auf Ehrenwort und Heimsendung.40 i) Kriegsende Ein Krieg konnte nach geltendem Völkerrecht durch Debellation – das heißt durch totale Unterwerfung und Beseitigung der staatlichen Existenz des Gegners, wodurch die Souveränität auf den Eroberer überging –, durch beiderseitige Einstellung und Wiederaufnahme der friedlichen Beziehungen und durch einen Friedensvertrag beendet werden.41 Bis in den ersten Weltkrieg hinein war die Auffassung vorherrschend, dass nach Beendigung eines Krieges das militärisch besetzte Gebiet dem ehemaligen Feindstaat zurückgegeben oder dem besetzenden Staat durch Abtretung in einem Friedensvertrag angegliedert werden konnte (Annexion).42 Heute muss die Debellation als rechtswidrige Form der Kriegsbeendigung unabhängig von der Frage angesehen werden, ob der Krieg auf legale oder illegale Weise entfesselt wurde. 43 Im Übrigen widerspräche die Vernichtung eines Staates dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, insbesondere könnte unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker das besiegte Volk sofort einen neuen Staat schaffen. 38 A. von Arnauld, Völkerrecht, 3. Aufl., 2016, S. 560; für die Entwicklung des Kriegsgefangenenrechts wird auf den Lieber Code von 1863 verwiesen. Dieser zu Zeiten von Abraham Lincoln von Francis Lieber verfasste Katalog war zwar nur ein Internum im Bürgerkrieg, wirkte sich allerdings auf die Art. 4 bis 20 HLKO aus, beispielsweise das Gebot der Menschlichkeit gegenüber Kriegsgefangenen sowie, dass Kriegsgefangene der Hoheitsgewalt des gegnerischen Staates unterstehen und nicht der desjenigen Soldaten, der die Gefangenschaft veranlasst hat. 39 A. von Arnauld, Völkerrecht, 3. Aufl., 2016, S. 562. 40 Vgl. Art. 120 und 121; L. F. L. Oppenheim, International Law, Bd. II, 7. Aufl., 1952, S. 730; F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II Bd., 1969, S. 153. 41 F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd., 1969, S. 99. A. Toppe, Militär und Kriegsvölkerrecht. Rechtsnorm, Fachdiskurs und Kriegspraxis in Deutschland 1899 – 1940. S. 139; ein Völkerrechtssubjekt ist aber so lange nicht untergegangen, so lange Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt nachweisbar sind. 42 A. Toppe, Militär und Kriegsvölkerrecht. Rechtsnorm, Fachdiskurs und Kriegspraxis in Deutschland 1899 – 1940. S. 139. 43 Art. 2 Nr. 4 UN-Charta; dennoch war die Debellation historisch eine besonders häufige Form der Kriegsbeendigung, vor allem in der vorchristlichen Geschichte Vorderasiens und des Mittelsmeers, so F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd., 1969, S. 100.

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II. Erster Weltkrieg Der Erste Weltkrieg ist gekennzeichnet von bestimmten Formen der Kriegsführung. 1. Grabenkrieg Die Kriegsführung des Grabenkriegs hatte im Ersten Weltkrieg ihren Höhepunkt. Allein in den Kämpfen vor der Festung von Verdun wurden vom 21. Februar 1916 bis zum 19. Dezember 1916 über 700.000 Soldaten getötet oder verletzt; gleichwohl stellte sich der Frontverlauf am Ende der Schlacht nahezu unverändert dar. Die Schlacht um Verdun war eine der bedeutendsten Schlachten des Ersten Weltkrieges an der Westfront zwischen Deutschland und Frankreich.44 Ein Grabenkrieg ist eine Form des Stellungskrieges, bei dem die Fronten aus einem System von Schützengräben bestehen. Im Ersten Weltkrieg erstreckte sich das Grabensystem von der Schweiz bis hin zur Nordsee.45 Gräben wurden niemals in gerader Linie gebaut, sondern immer in einem sägezahnartigen Muster. Die Hauptgräben waren durch Quergräben (Traversen) verbunden. Ein Soldat konnte dadurch kaum mehr als zehn Meter den Graben entlang sehen. Dadurch konnte bei feindlicher Besetzung vermieden werden, dass der gesamte Graben unter Feuer genommen wurde. Auch die Splitterwirkung einer Artilleriegranate, die im Graben landete, wurde so begrenzt.46 Dieser bezweckte Effekt ist bedeutend, wenn man sich statistisch vergegenwärtigt, dass genau das die Soldaten tötete. Die Seite des Grabens, die dem Feind zugewandt war, nannte man Parapet (Brustwehr). Auf dieser Seite befand sich außerdem eine Stufe, die es ermöglichte, über den Rand des Grabens zu schauen. Die abgewandte Seite hieß Parados und schützte die Soldaten vor Splittern, falls eine Granate hinter dem Graben einschlug. Die Seiten des Grabens wurden durch Sandsäcke, Holzbretter und Drahtgeflecht verstärkt; der Boden war mit Holzbrettern abgedeckt, unter denen sich ein Wasserabfluss befand.47 Um es den Soldaten zu ermöglichen, die gegnerischen Linien zu beobachten, ohne dafür den Kopf aus dem Graben zu heben, wurden Scharten in die Brustwehr gebaut. Dies konnte einfach eine Lücke zwischen den Sandsäcken sein, welche aber manchmal mit einer Stahlplatte geschützt wurde. Aufgrund der Tatsache, dass sich der Grabenkrieg zu einem Stellungskrieg entwickelt hatte, wurde auf den Einsatz von Gas gesetzt.48 44

http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/erster-weltkrieg-die-hoelle-von-verdun14080286. html. 45 O. Wolfien, Kriegstagebuch 1914/1915, 2009, S. 106. 46 O. Wolfien, Kriegstagebuch 1914/1915, 2009, S. 106. 47 O. Wolfien, Kriegstagebuch 1914/1915, 2009, S. 106 ff. 48 E. von Falkenhayn, Die Oberste Heeresleitung 1914 – 1916 in ihren wichtigsten Entscheidungen, 1920, S. 176.

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2. Gaskrieg Am Anfang des Krieges plante keiner der Kriegsparteien einen Einsatz chemischer Kampfstoffe. In der zweiten Jahreshälfte des Jahres 1914 schien es jedoch so, als ob man den Stellungskrieg mit konventionellen Waffen nicht gewinnen könne. Daher begann man sowohl auf deutscher als auch auf alliierter Seite über Alternativen nachzudenken. Julius Meyer, deutscher Major a. D. schrieb 1925 hierzu: „Erst vom Beginn dieses Stellungskrieges an zählen auch die deutschen Versuche, die Gaswaffe auszubilden und zu versuchen, damit den Gegner aus seinen Gräben und Deckung herauszuwerfen, um so wieder in den Bewegungskrieg übergehen zu können“.49 Zu Beginn des Stellungskrieges begann Frankreich mit der Produktion von Gasgranaten, die, da es zu dem Zeitpunkt an Brom mangelte, mit dem ähnlich wirkenden Chloraceton gefüllt waren. Bald jedoch stellte sich heraus, dass sowohl die ursprünglich für den Häuserkampf entwickelten Gasgewehrpatronen als auch die mit einer etwas größeren Menge Chloraceton gefüllten Gasgranaten im offenen Gelände nahezu wirkungslos waren, da die in ihnen enthaltene Gasmenge zu gering war.50 Die im Ersten Weltkrieg als Kampfstoffe verwendeten Substanzen waren aus der chemischen Industrie bereits bekannt. Deutschland war schon in der Vorkriegszeit führend in der Herstellung von Farbstoffen; 90 % der weltweit erzeugten Farben kamen aus deutscher Produktion. Daher verfügte die deutsche Industrie zu Beginn des Krieges über einen entscheidenden technologischen Vorsprung sowohl in Produktion und Handhabung chemischer Stoffe als auch in arbeitsmedizinischen Fragen. Der letzte Punkt spielte im Verlauf des Krieges für die Entwicklung von Gasschutzmaßnahmen und der Verbesserung der medizinischen Versorgung eine maßgebliche Rolle. Gegen Ende des Jahres 1914 war das deutsche Militär auf der Suche nach Alternativen für den Masseneinsatz von Gas. Fritz Haber, Leiter des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie in Berlin, hielt das Militär zum Einsatz von Chlorgas an. Der Einsatz von Chlorgas lag schon deswegen nahe, weil die deutsche Farbindustrie diesen Stoff innerhalb kürzester Zeit in großen Mengen herstellen konnte.51 Der Einsatz löst in der Lunge Verätzungen des Lungengewebes aus, da bei Kontakt mit Wasser Salzsäure abgespalten wird. Lungenödeme oder akute Atemnot bis hin zum Tod durch Ersticken können die Folge einer Intoxikation mit Chlorgas sein.52 Nicht 49

J. Meyer, Der Gaskampf und die chemischen Kampfstoffe, 1938, S. 41. D. Martinetz, Der Gaskrieg 1914 – 1918: Entwickelung, Herstellung und Einsatz chemischer Kampfstoffe, 1996, S. 171; teilweise wird auch der erste Einsatz von Gas durch die deutschen Truppen angenommen, vgl. F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd., 1969, S. 170. 51 G. Kapolnasi, Der chemische Krieg. Der Einsatz von Gas im ersten Weltkrieg, 2008, S. 5; J. Winter, in: M. Geyer/H. Lethen/K. Musner (Hrsg.), Zeitalter der Gewalt- Zur Geopolitik und Psychopolitik des ersten Weltkrieges, 2015, S. 118. 52 Ch. Gradmann, in: G. Hirschfeld, Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 2003, S. 139. 50

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nur aufgrund der physiologischen Wirkung war die Skepsis hinsichtlich des Einsatzes von Gasen vorhanden. General Karl von Einem schrieb am 23. April 1915 in sein Kriegstagebuch:„Ich fürchte, dass es in der Welt einen gewaltigen Skandal geben wird. Mit Ritterlichkeit hat der Krieg nichts mehr zu tun. Je höher die Kultur sich erhebt, desto niederträchtiger wird der Mensch.“53 Trotz der Bedenken wegen der Wirkung des Gases wurde der Einsatz teilweise aufgrund der Schutzmöglichkeiten durch Gasmasken als legitim angesehen.54 Zu den moralischen Bedenken traten auch völkerrechtliche. Die Haager Landkriegsordnung von 1899 und 1907, die auch von Deutschland ratifiziert wurde, enthält Beschränkungen bei der Wahl der eingesetzten Mittel im Krieg. In Art. 23 I a HLKO ist das Verbot der Anwendung von Giften, vergifteten Waffen und Geschossen, deren einziger Zweck es ist, giftige Gase zu verbreiten, und das Verbot des Gebrauchs von Waffen, Geschossen oder Stoffen, die geeignet sind, unnötige Leiden zu schaffen, kodifiziert.55 Ob der Einsatz von Gas einen Verstoß gegen die HLKO darstellte, hatte der parlamentarische Untersuchungsausschuss von 1927 durch Gesetzesauslegung versucht zu bestimmten. Das erste Verbot in Art. 23 a I HLKO, welches sich auf den Einsatz von Gift oder vergifteten Waffen bezog, wurde danach nicht als einschlägig betrachtet. Das Verbot der Verwendung von Gift wurde allgemein dahingehend ausgelegt, dass im Kriege „die Beimischung giftiger Stoffe in Nahrungsmittel, Wasser usw. zwecks Schädigung des Feindes untersagt ist“. Die „Verwendung giftiger Gase“ sei in jedem Falle nicht von diesem Verbot erfasst, da gleichzeitig eine andere völkerrechtliche Bestimmung, nämlich die Haager Erklärung, Giftgase besonders behandle. Der Begriff „vergiftete Waffen“ meine kein Giftgas, sondern „in erster Linie die vergifteten Geschosse, wie ehemals die vergifteten Pfeile der Indianer“. Weiterhin ergebe sich aus der Gegenüberstellung von „Gift“ und „vergifteten Waffen“, dass der Giftstoff nicht allein als vergiftete Waffe i.S.v. Art. 23 a) HLKO angesehen werden könne. Daher setze der Begriff einen „vergifteten Gegenstand voraus, der auch ohne Beifügung des Giftstoffes geeignet ist, als Waffe zu dienen.56 Ob das dritte Verbot, Art. 23 e) HLKO, auf den Gaskrieg angewendet werden kann, hängt von der Beurteilung ab, ob der Einsatz von Gas als Waffe, Geschoss oder Stoff einzustufen ist, wodurch unnötige Leiden verursacht werden. Zu beachten 53 K. von Einem, Ein Armeeführer erlebt den ersten Weltkrieg. Persönliche Aufzeichnungen des Generalobersten v. Einem, in: Junius Alter, 1938, S. 117. 54 F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd., 1969, S. 171; der Versailler Vertrag verbot Deutschland im Anschluss die Herstellung und Einfuhr von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen sowie von allen derartigen Flüssigkeiten, Stoffen oder Verfahrensarten mit der Begründung, dass ihr Gebrauch verboten sei, vgl. Art. 171 Abs. 2 des Versailler Vertrages. 55 Gift ist jeder Stoff, der, wenn einem Organismus zugeführt, das Leben oder das normale Funktionieren zerstört, so F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd., 1969, S. 170; J. Meyer, Der Gaskampf und die chemischen Kampfstoffe, in: Chemie und Technik der Gegenwart, Bd. 4, 1925, S. 273. 56 J. Bell/E. Fischer/B. Widmann (Hrsg.), Das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages 1919 – 1928, 1927, 1. Aufl., Bd. IV, S. 33.

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ist dabei zunächst, ob der Einsatz von Gas „unnötig“ im Sinne der Vorschrift war. Davon konnte ausgegangen werden, wenn die durch das Kampfmittel erzielten Erfolge militärisch bedeutungslos waren.57 Im Falle des Gaseinsatzes von Ypern wurde aber ein Verstoß mit der Begründung verneint, dass durch die Verwendung von Gaswolken der Feind aus einer bisher für uneinnehmbaren Stellung herausgetrieben werden konnte, wodurch die Kriegsnotwendigkeit des Gases bestätigt war. Zudem wurde vorgebracht, dass die Tötung durch Giftgas physiologisch nicht schmerzhafter sei, als eine „das ganze Nervensystem in Mitleidenschaft ziehende Zerreißung des Körpers durch ein Artilleriegeschoss“.58 Zur Debatte stand ferner, ob der Gaseinsatz einen Verstoß gegen die Haager Erklärung, betreffend das Verbot der Verwendung von Geschossen mit erstickenden oder giftigen Gasen, deren einziger Zweck dessen Verbreitung ist, vom 20. Juli 1899 darstellt. Nach Auslegung der Erklärung soll der „einzige Zweck“ dann nicht gegeben sein, wenn noch ein anderer Zweck, nämlich die Durschlags- oder Sprengwirkung gewöhnlicher Geschosse verfolgt wird.59 Kriegsnotwendigkeit und zu schützende Kriegsrechtsnormen verfolgten dabei gegensätzliche Ziele. Die Verfechter des Gaseinsatzes gingen davon aus, dass auf andere Weise ein Kriegsziel nicht erreicht werden könne und Kriegsräson Vorrang vor Kriegsmanier habe. Was sollte aber wirklich mit dem Gaskrieg erreicht werden? Der Soldat sollte gezwungen werden, seine Deckung zu verlassen, denn dann war er nicht nur dem Gas, sondern auch dem Beschuss durch alle anderen Waffen ausgesetzt. Der Einsatz von Gas brächte jede Hilfe zum Erliegen, weil alle schutzlos dem Gas ausgesetzt wären. Die Heeresleitung hatte sich daher für den Gaskrieg entschieden. Die Verbote der 57 J. Bell/E. Fischer/B. Widmann (Hrsg.), Das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages 1919 – 1928, 1. Aufl., Bd. IV, 1927, S. 34. 58 J. Bell/E. Fischer/B. Widmann (Hrsg.), Das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages 1919 – 1928, 1. Aufl., Bd. IV, 1927, S. 35; bei genügender Ausrüstung der Truppen mit Gasabwehrmitteln seien zudem nur drei bis vier Prozent der durch Gas verursachten Erkrankungen tödlich verlaufen. Mit ähnlicher Begründung wurde das Verbot der Zufügung von Verletzungen, die „unnötige Leiden“ verursachen, abgelehnt. Die geringe Todesrate sollte dabei die Humanität der Gaswaffe belegen. Nach Angaben der Befürworter chemischer Kampfmittel lag der Anteil der Todesopfer bei 3 bis 4 %. Mercier nennt für die französischen Truppen ganz andere Zahlen. Demnach starben nach Chlorgasangriffen 26 %, nach Angriffen mit erstickenden Geschossen 32,9 % und nach Angriffen mit Lost 8 % (die Stoffgruppe der Loste umfasst mehrere chlorierte organische schwefel- oder stickstoffhaltige Verbindungen und ist vor allem aufgrund des Einsatzes einiger dieser Substanzen als chemische Waffen bekannt) aller Gasgeschädigten. Den Anteil der Gasvergifteten an der Gesamtzahl der Verwundungen beziffert Mercier für das Jahr 1918 mit 25 %, vgl. R. Mercier, Der Soldat im Kampf mit den Gasen, in: Zeitschrift für das gesamte Schieß- und Sprengstoffwesen mit der Sonderabteilung Gasschutz, 25/1, 1930, S. 339 – 342. 59 J. Bell/E. Fischer/B. Widmann (Hrsg.), Das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages 1919 – 1928, 1. Aufl., Bd. IV, 1927, S. 37.

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Haager Landkriegsordnung wurden so interpretiert, dass der eigene Giftgaseinsatz legitim sei. Sie waren für keine der Kriegsparteien ein Hindernis, zumal Sanktionen nicht zu befürchten wären. Keine Kriegspartei hielt sich an das Abkommen, die Kriegsgegner wurden zwar öffentlich propagandistisch der Übertretung bezichtigt, aber amtlich wurde kein Protest eingelegt. 3. Luftkrieg Die Notwendigkeit der Kodifikation des Rechts im Luftkrieg ergibt sich daraus, dass die internationalen Lufträume als mögliches Kriegsgebiet anzusehen sind. Im Ersten Weltkrieg wurden die meisten der Luftkriegskonzepte entwickelt, die den Luftkrieg bis zum Vietnamkrieg und teilweise auch darüber hinaus bestimmten. Angesichts der technischen Entwickelung zur Zeit des Ersten Weltkrieges schien die Kodifikation des Luftkriegsrechts mit der Haager Deklaration IV von 1899 mit den Verboten von Werfen von Geschossen angemessen entwickelt.60 Dies änderte sich, als am 6. und 24. August 1914 Lüttich und Antwerpen von einem deutschen Zeppelin aus bombardiert wurden.61 Im Ersten Weltkrieg gab es zwei Arten von Flugzeugen: die Aufklärer und die Jäger. Die Kernaufgabe der Aufklärer bestand in der Erkundung von gegnerischen Militärbasen oder Truppenstandorten. Als entscheidender Erfolg der Luftaufklärung gelten die Meldungen des britischen Royal Flying Corps, die es möglich machten, den deutschen Vorstoß in Richtung der Marne abzufangen. Dies bewirkte, dass der Schlieffen-Plan62 nicht mehr umzusetzen war und der Krieg an der Westfront sich zu einem Stellungskrieg entwickelte. In den Jahren 1915/ 16 verlagerte sich der Einsatzschwerpunkt der Flugzeuge immer stärker von der Aufklärung auf die unmittelbare Kampftätigkeit. Die Jäger waren die Antwort auf die feindlichen Aufklärer, die als Geleitschutz der Bodentruppen eingesetzt wurden. Diese Verwendung sowie die wachsenden Kenntnisse über die Rolle der Luftstreitkräfte im Ringen um die Kriegsentscheidung veranlassten die Heeresleitung, die Fliegerkräfte in sicherem Tempo auszubauen. Dazu dienten das Hindenburg-Pro gramm von 1916, das so genannte Amerikaprogramm von 1917, das u. a. eine Verdoppelung der Jagdfliegerkräfte bis zum 1. März 1918 vorsah, sowie die Reorganisation der Führung.63 Die erste große alliierte Luftoffensive gegen deutsche Städte, die auch die Moral der Bevölkerung hätte brechen sollen, wurde nur durch den Waffenstillstand im November 1918 verhindert. 60

F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd., 1969, S. 179. P. Pietersen, Kriegsverbrechen der alliierten Siegermächte: terroristische Bombenangriffe auf Deutschland und Europa 1939 – 1945, 2006, S. 105. 62 Der Schlieffen-Plan ist benannt nach Generalfeldmarschall Alfred Graf von Schlieffen. Danach sollte ein Teil des deutschen Westheeres durch das neutrale Belgien bis Nordfrankreich marschieren. Dann sollten die französischen Truppen um Verdun und Metz geschlagen werden. 63 G. P. Neumann, Die gesamten deutschen Luftstreitkräfte im ersten Weltkrieg, 1. Aufl., 2011, S. 72. 61

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4. Seekrieg Der Seekrieg war zum einen aufgrund seiner Nähe zum Wirtschaftskrieg und der Möglichkeit, beträchtliche Zerstörungen der feindlichen Streitkräfte herbeizuführen, von besonderer Relevanz. Im Ersten Weltkrieg wurde der Seekrieg auf allen Weltmeeren ausgetragen, hatte seinen Schwerpunkt jedoch in der Nordsee.64 Das Seekriegsrecht basierte vor allem auf Völkergewohnheitsrecht, da die Londoner Seerechtskonferenz von 1908/1909 infolge des Widerstands des britischen Oberhauses nicht vom Vereinigten Königreich ratifiziert wurde.65 Auf der Ersten Haager Friedenskonferenz von 1899 wurden die Prinzipien der Genfer Konvention von 1864 auf das Seekriegsrecht übertragen; eine Erneuerung fand 1907 durch die X. Haager Konvention statt, wobei diese später durch die II. Genfer Konvention von 1949 abgelöst wurde.66 Im Seekrieg wird zwischen Kriegsschiffen, die primäres Kriegsziel der Gegner sind und der regulären Landarmee im Landkrieg entsprechen, privaten Hilfskreuzern, die dem Kapereiverbot nach der Pariser Seerechtsdeklaration von 1856 unterlagen, sowie Privatschiffen der Kriegsführenden und Privatschiffen der Neutralen unterschieden.67 Während des Krieges bleiben die Handelsbeziehungen zwischen dem kriegsführenden Staaten und Dritten grundsätzlich unberührt. Durch die fortlaufenden Handelsbeziehungen besteht aber das Risiko der Weitergabe von kriegswichtigen Gütern, was als Konterbande bezeichnet wird. Diese unterfällt dem Prisenrecht, wonach es den kriegsführenden Staaten gestattet ist, den neutralen Handelsverkehr außerhalb neutralen Gebiets zu kontrollieren.68 Das Prisenrecht schränkt also den Grundsatz der Freiheit der Meere ein. Zentrale Besonderheit des Prisenrechts gegenüber dem Landkriegsrecht ist das Recht, privates Eigentum zu erbeuten. Die Kriegsparteien können außerhalb von neutralen Gewässern ohne Vorwarnung angegriffen werden. Etwaige Besatzungsmitglieder haben nach der Londoner Seerechtserklärung von 1909 einen Anspruch auf den Kriegsgefangenenstatus. Zu beachten ist, dass die gegnerischen Handelsschiffe keine zulässigen militärischen Ziele darstellten. Als Kriegsmittel sind insbesondere die Bombardierung von Küstenstädten, das Legen von Seeminen sowie die Seeblockade zu nennen. Die Seeblockade bezeichnet die Sperrung des Zugangs zur feindlichen Küste durch Kriegsschif-

64 Im Zweiten Weltkrieg wurden insgesamt 600.000 Minen gelegt, davon 500.000 im Nordwesten von Europa. 65 F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd., 1969, S. 185; L. Kotzsch, „Blockade, kriegerische“, in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd I, 1960, S. 215. 66 F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd., 1969, S. 185. 67 F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd., 1969, S. 186 ff.; M. Bothe, in: W. Graf Vitzthum (Hrsg.) Völkerrecht, 4. Aufl., 2007, S. 702. 68 A. von Arnauld, Völkerrecht, 3. Aufl., 2016, S. 556.

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fe des Gegners mit dem Ziel der Ein- und Ausfahrtsperre.69 Das IX. Haager Abkommen von 1907 untersagte dabei, unverteidigte Städte, Dörfer und Gebäude zu beschießen, sofern es sich nicht um militärische Objekte handelte. Eine Einschränkung der Nutzung von Seeminen ergab sich aus Art. 1 der VIII. Haager Konvention von 1907, wonach unverankerte automatische Kontaktminen nicht gelegt werden dürfen, es sei denn, diese werden binnen einer Stunde nach Legung unschädlich.70 Viele Militärs und Entscheider maßen vor dem Jahr 1914 dem Krieg zur See eine große oder sogar entscheidende Rolle bei. Gleichwohl kam es im Ersten Weltkrieg nicht zur allseits erwarteten Entscheidungsschlacht, wenngleich die Skagerrak schlacht vor dem Skagerrak vom 31. Mai 1916 bis zum 1. Juni 1916 als „größte Seeschlacht der Weltgeschichte“ bezeichnet wurde, bei der die deutsche Hochseeflotte gegen die Grand Fleet der Royal Navy kämpfte.71 Die deutsche Flotte plante einen Vorstoß gegen die Handelsschiffe, wobei das Skagerrak ihr dabei einen Rückzugsweg in die Ostsee ermöglichte. Aufgrund vorheriger Informationsgewinnung durch den britischen Nachrichtendienst gelang es der Grand Fleet die deutsche Flotte einzuschließen. Der Seekrieg war wohl nicht entscheidend für den Ausgang des Ersten Weltkrieges, aber seine indirekten Wirkungen waren bedeutend. Die Blockade der Nordsee durch die Royal Navy um 1916 trug zur Erschöpfung der Mittelmäch te bei. Die britische Blockade und der uneingeschränkte U-Boot-Krieg der Mittelmächte verstießen gegen das Völkerrecht und richteten sich primär gegen die Zivilbevölkerung. Blockaden, die zu einer Beeinträchtigung der Zivilbevölkerung führten, waren wie die Hungerblockaden unzulässig.72 Unerwartet zeigte sich der U-Boot-Krieg als bedeutendste Facette des Seekrieges. Da das U-Boot als Waffe von allen Seiten unterschätzt wurde, war man auch auf den U-Boot-Krieg allgemein wenig vorbereitet. Deutsche U-Boote brachten daher die En tente vor allem in der ersten Jahreshälfte 1917 in ernsthafte Schwierigkeiten. Der UBoot-Krieg führte indirekt zum Kriegseintritt der Vereinigten Staaten und damit letztendlich zur Niederlage der Mittelmächte. Der Einsatzbefehl auf See wurde erst gegeben, als die Oberste Heeresleitung den Krieg verlorengegeben hatte, und führte zum Kieler Matrosenaufstand, der wiederum Auslöser der Novemberrevolution war.73

69 Die Blockade muss zudem formell erklärt werden, der neutralen Schiffsfahrt notifiziert sowie zur Rechtsgültigkeit „effektiv“ sein, vgl. F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd., 1969, S. 189; A. von Arnauld, Völkerrecht, 3. Aufl., 2016, S. 558. 70 F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Bd., 1969, S. 189; M. Bothe, in: Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.) Völkerrecht, 4. Aufl., 2007, S. 703; W. Heintschel v. Heinegg, in: D. Fleck, Handbuch Seerecht, 2004, S. 355. 71 http://www.faz.net/aktuell/skagerrak-die-groesste-seeschlacht-des-ersten-weltkriegs14260154.html; J. Prommersberger, Seeschlachten des 1. Weltkriegs – Die Schlacht am Skagerrak, 2015, S. 34. 72 A. von Arnauld, Völkerrecht, 3. Aufl., 2016, S. 556. 73 R. von Albertini, Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. VI, 1968, S. 169.

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III. Resümee und Ausblick Der Erste Weltkrieg begann als ein Krieg des 20. Jahrhunderts, und nach menschlichem Ermessen hätte er nach wenigen Monaten eigentlich vorbei sein müssen. Hätten die Herrschenden den Status quo ante bekräftigt, wäre die Büchse der Pandora nicht geöffnet worden. Erst der jahrelange Kampf der Groß- und Mittelmächte schuf die Rahmenbedingungen für den totalen Krieg, von dem die Zeitgenossen unter dem Eindruck der Ereignisse 1916 zum ersten Mal sprachen. Für die Gewaltgeschichte der Moderne ist bedeutend, dass sich während des Ersten Weltkrieges die Unterscheidung zwischen Kombattant und Nichtkombattant merklich verwischte. 40 Prozent aller Kriegstoten waren Zivilisten.74 Gewalt, Flucht, Vertreibung und Hunger erreichten neue Dimensionen – allen voran ist der Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich zu nennen. Aber auch im Westen gerieten Zivilisten ins Visier der Militärmaschinerie. Die Massenkriege zwischen Staaten und Allianzen, die das Zeitalter der beiden Weltkriege kennzeichneten, gehören heute der Vergangenheit an, darüber herrscht Einigkeit. Allerdings bestehen ganz unterschiedliche Vorstellungen darüber, welche Kriegsformen in der Zukunft vorherrschen werden. Sind es in Intensität und territorialer Ausdehnung verschiedenartige „kleine Kriege“, eine Mischung aus Guerillaaktionen mit punktueller Gewalt und politischer Propaganda oder werden die Kriege mit immer kostspieligeren Materialeinsätzen ohne direkte menschliche Beteiligung zum Kriegsmodell der Zukunft? Welche Rolle werden insbesondere Übergriffe durch terroristische Vereinigungen spielen oder wie werden die Staaten mit Formen anonymisierter Gewalt umgehen? Hat Prävention Vorrang vor der Repression? Wird es „Sternenkriege“ mit Raketen und Raketenabwehrsystemen geben, die dem Wort Luftschlacht eine ganz neue Bedeutung geben, oder Cyberkriege, die ganze Volkswirtschaften lahmlegen können! In Anbetracht der technischen Möglichkeiten sind die Bedrohungen andere. * Abstract Justine Diebel: Martial Law in World War I (Das Kriegsrecht im Ersten Weltkrieg), in: World War I and its Consequences for the Coexistence of Peoples in Central and Eastern Central Europe (Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa), ed. by Gilbert H. Gornig and Adrianna A. Michel (Berlin 2017), pp. 37 – 54. The First World War began as a war of the twentieth century, and he would have had to be over after a few months. If the rulers had confirmed the status quo ante, the Pandora’s box would not have been opened. It was only the long struggle of the Great and Central Powers that created the conditions for the total war, of which the contemporaries spoke for the first time under the influence of events in 1916. It is important to note that during the First World War, the distinc74

B. Ziemann, Gewalt im ersten Weltkrieg, 1. Aufl., 2013, S. 37.

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tion between combatant and noncombatant was perceptibly blurred. 40 per cent of all war victims were civilians. Violence, flight, expulsion and hunger reached new dimensions – first of all the genocide of the Armenians in the Ottoman Empire. But also in the West, civilians were the target of the military machinery. The mass wars between states and alliances, which characterized the age of the two world wars, now belong to the past. However, there are very different notions about which forms of war will prevail in the future. Are there different ”small wars” in intensity and territorial expansion, a mixture of guerrilla actions with point violence and political propaganda, or wars with ever more costly material inputs without direct human participation in the war model of the future? Will there be „star wars“ with missiles and missile defense systems that give the word air battle a whole new meaning, or cyber war, which can paralyze whole economies! In view of the technical possibilities, the threats are different.

Die Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg. Entstehung – Abschluss – Rechtswirkung Von Adrianna A. Michel I. Einleitung Die Pariser Friedenskonferenz vom 12. Januar 1919 bis zum 10. August 1920 bildete nach 1648 (Münster und Osnabrück), 1713 (Utrecht) und 1815 (Wien) die vierte große internationale Staatenkonferenz, die sich mit einer umfassenden politischen Neuordnung, nicht nur der europäischen, sondern auch der globalen Landkarte befasste.1 Die Kriegsbeteiligten hatten bereits am 3. November 1919 mit Österreich-Ungarn2 und am 11. November 1919 mit dem Deutschen Reich3 jeweils einen Waffenstillstand geschlossen. Der Waffenstillstandsvertrag von Compiègne zwischen Deutschland und den Alliierten vom 11. November 1918 hob den Frieden von Brest-Litowsk vom 3. März 19184 mit dem entsprechenden Zusatzvertrag wieder auf.5 Die Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs waren damit beendet, nicht aber der Kriegszustand, also der formale Zustand. Erst der am 28. Juni 1919 in Versailles unterzeichnete Friedensvertrag6 beendete den Kriegszustand zwischen den Alliierten des Ersten Weltkriegs und dem Deutschen Reich. Damit war der Erste Weltkrieg auch aus völkerrechtlicher Sicht beendet. Zugleich galt das Versailler Vertragswerk als Gründungsakt des Völkerbundes. Neben dem Versailler Friedensver1 R. Banken, Die Verträge von Sèvres 1920 und Lausanne 1923. Eine völkerrechtliche Untersuchung zur Beendigung des Ersten Weltkriegs und zur Auflösung der sogenannten „Orientalischen Frage“ durch die Friedensverträge zwischen den alliierten Mächten und der Türkei, 2014, S. 137. 2 Vgl. H. Scheuba-Lischka, in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 3, 1962, S. 457 ff. (457). 3 Frz. Text: H. Kraus/G. Rödiger, Urkunden zum Friedensvertrage von Versailles vom 28. Juni 1919, Erster Teil, 1920, Nr. 3 a), S. 11 – 18. 4 Dt. Text: G. F. von Martens, Nouveau Recueil Général de Traités, 3. Serie, Bd. 10, 3. Teilband, 1921, Nr. 220, S. 773 ff.; dt. Textauszug bei: H. K. G. Rönnefarth/H. Euler, Konferenzen und Verträge, Bd. 4, Teil II, 2. Aufl., 1959, S. 25 ff. Nach der Oktoberrevolution 1917 wurde zwischen den Mittelmächten unter Führung des Deutschen Reiches und Sowjetrussland zunächst im Dezember 1917 ein Waffenstillstand und am 3. März 1918 der Friedensvertrag von Brest-Litowsk geschlossen. Damit war der Erste Weltkrieg an der Ostfront beendet und Sowjetrussland schied als Kriegsteilnehmer aus. 5 Vgl. G. Schulz, Revolutionen und Friedensschlüsse 1917 – 1920, 1967, S. 163 f. 6 Text: RGBl. 1919, S. 688 ff.

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trag7, der mit dem Deutschen Reich abgeschlossen wurde, wurden während der Friedenskonferenz auch weitere Verträge seitens der Alliierten und assoziierten8 Siegermächte mit den Hauptverbündeten Deutsches Reich und Österreich-Ungarn sowie dem Osmanischen Reich und Bulgarien ausgehandelt und zum Abschluss gebracht. Zu diesen Verträgen zählen der Vertrag von Saint-Germain-en-Laye mit Österreich (danach Republik Österreich), der Vertrag von Neuilly-sur-Seine mit Bulgarien, der Vertrag von Trianon mit Ungarn und der Vertrag von Sèvres mit dem Osmanischen Reich9. Die Verträge werden unter den gemeinsamen Oberbegriff „Pariser Vorortverträge“ gefasst. Diese Bezeichnung rührt von dem Umstand her, dass jeder der Verträge an verschiedenen Orten im Umland von Paris, meist in ehemaligen Palästen, unterschrieben wurde. Die Verträge enthielten nicht nur für die jeweiligen Kriegsgegner spezifische Punkte, sondern auch jeweils die Satzung des Völkerbundes10 und der Internationalen Arbeitsorganisation. Eine bedeutende Folge der Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg war, dass sie die Landkarte Europas in erheblichem Maße veränderten. II. Die Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg 1. Der Versailler Friedensvertrag a) Der Weg zur Pariser Friedenskonferenz: Politischer Hintergrund Als sich am 3. Oktober 1918 die Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg abzeichnete, richtete die deutsche Regierung eine Note an den US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson11, in der der Präsident ersucht wurde, Maßnahmen zur Herstellung des Friedens zu ergreifen. In dieser Note nahm die deutsche Regierung das vom Präsidenten der Vereinigten Staaten in der Kongressbotschaft vom 8. Januar 1918 sowie in seinen späteren Kundgebungen, darunter die Rede vom 27. September 1918, aufgestellte Programm als Grundlage für die Friedensver7 Auch häufig als Versailler Vertrag oder Friede von Versailles bezeichnet. Im Folgenden wird die Bezeichnung Versailler Vertrag verwandt. 8 Die USA waren nur eine assoziierte Macht, da Wilson eine Sonderrolle der USA begründen wollte, die ihm potenziell eine Vermittlerrolle ermöglichen sollte. 9 Der Vertrag wurde am 24. 7. 1923 durch den Vertrag von Lausanne zugunsten der noch im selben Jahr gegründeten Türkei revidiert. 10 Text: F. Bleiber, Der Völkerbund. Die Entstehung der Völkerbundsatzung, 1939, S. 177 ff.; der Völkerbund nahm am 10. 1. 1920 seine Arbeit auf mit dem Ziel, den Frieden dauerhaft zu sichern. Vgl. S. Sierpowski, Narodziny Ligi Narodów. Powstanie, organizacja i zasady działania, 1984, S. 5; ein detaillierter Überblick zur Organisation und den Aufgaben des Völkerbundes findet sich in: O. Göppert, Der Völkerbund. Organisation und Tätigkeit des Völkerbundes, 1938. 11 Siehe zur Rolle Woodrow Wilsons: M. MacMillan, Die Friedensmacher. Wie der Versailler Vertrag die Welt veränderte, 2015, S. 29 ff.

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handlungen an.12 In der Kongressbotschaft verkündete US-Präsident Wilson seine „Vierzehn Punkte“13, in denen er sich mit verschiedenen Grenzfragen auseinandersetzte.14 Aus deutscher Sicht bedeuteten Wilsons „Vierzehn Punkte“ die Grundlage für den zunächst auf 36 Tage befristeten Waffenstillstand vom 11. November 1918. b) Entstehung: Organisation und Arbeitsweise des Friedenskonferenz Der Friedensvertrag von Versailles wurde bei der Pariser Friedenskonferenz im Schloss von Versailles von den Mächten der Triple Entente15 und ihren Verbündeten bis Mai 1919 ausgehandelt. Die Konferenz diente in der ersten Phase allein als Konferenz der Siegermächte zur Vorbereitung der Friedensverträge. Erst in der zweiten Konferenzphase traten die Siegermächte in einen Dialog mit den Besiegten ein. Als die einseitig von den Alliierten erarbeiteten Friedensbedingungen am 7. Mai 1919 an die deutsche Delegation überreicht wurden16, erklärte der französische Ministerpräsident Clemenceau, es werde keine mündlichen Verhandlungen geben und Bemerkungen müssten schriftlich vorgebracht werden.17 Die deutschen Bevollmächtigten hatten 14 Tage Zeit, um in französischer oder englischer Sprache ihre schriftlichen Bemerkungen zu überreichen.18 Nachdem infolge der deutschen Bemerkungen geringfügige Änderungen zugestanden worden waren, forderten die Alliierten in der Mantelnote vom 16. Juni 1919, dass sich die deutsche Delegation innerhalb von fünf Tagen, vom Datum dieser Mitteilung an, bereit erkläre, den Vertrag in seiner vorliegenden Form zu unterzeichnen.19 Der genannte Waffenstillstand wäre sonst beendet und die Alliierten und assoziierten Mächte würden diejenigen Schritte ergrei12

Vgl. G. Schulz (Anm. 5), Revolutionen und Friedensschlüsse, S. 173 f.; L. von Muralt, Der Friede von Versailles und die Gegenwart, 1947, S. 16. 13 Abgedruckt bei: L. von Muralt (Anm. 12), Der Friede von Versailles und die Gegenwart, S. 14 f.: siehe hierzu auch: H. Engelhardt, in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 3, 1962, S. 849 f. 14 Vgl. K. Schwabe, Woodrow Wilson und das europäische Mächtesystem in Versailles: Friedensorganisation und nationale Selbstbestimmung, in: G. Clemens (Hrsg.), Nation und Europa. Studien zum internationalen Staatensystem im 19. und 20. Jahrhundert. FS für Peter Krüger zum 65. Geburtstag, 2001, S. 89 ff. (96). 15 Die Entente bestand ursprünglich, bis 1914, nur aus Frankreich, Russland und dem Vereinigten Königreich. Im Kriegsverlauf stießen zahlreiche Staaten oder Nationalitätengruppen als Verbündete oder Assoziierte hinzu, Russland schied aus. 16 Vgl. G. Schulz (Anm. 5), Revolutionen und Friedensschlüsse, S. 222; L. von Muralt (Anm. 12), Der Friede von Versailles und die Gegenwart, S. 19. 17 Siehe hierzu: E. von Puttkammer, in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 3, 1962, S. 516 ff. (517); J. L. Kunz, Die Revision der Pariser Friedensverträge. Eine völkerrechtliche Untersuchung, 1932, S. 2. 18 Vgl. hierzu: W. Schwengler, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsverträge, 1982, S. 175 ff. 19 Siehe zum Vertragsabschluss: E. von Puttkammer, in: Encyclopedia of Public International Law, vol. IV (2000) S. 1278.

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fen, die sie zur Erzwingung ihrer Bedingungen für erforderlich hielten. Am 23. Juni 1919 erklärte schließlich die deutsche Regierung: „(…) Der übermächtigen Gewalt weichend, erklärt deshalb die Regierung der Deutschen Republik, dass sie bereit ist, die von den alliierten und assoziierten Regierungen auferlegten Friedensbedingungen anzunehmen und zu unterzeichnen“. c) Abschluss aa) Unterzeichnung Der am 28. Juni 1919 in Versailles zwischen dem Deutschen Reich einerseits, dem Vereinigten Königreich, Frankreich, Italien, Japan und den Vereinigten Staaten als den Alliierten und Assoziierten Hauptmächten sowie Bulgarien, Bolivien, Brasilien, Ecuador, Griechenland, Guatemala, Haiti, Hedschas, Honduras, Kuba, Liberia, Nicaragua, Panama, Peru, Polen, Portugal, Rumänien, dem Serbisch-kroatischen-slowenischen Staat, Siam, der Tschechoslowakei und Uruguay andererseits unterzeichnete Vertrag beendete formal den Ersten Weltkrieg. China wird zwar in der dem Vertragstext voran gestellten Aufzählung der Vertragsschließenden genannt, hat den Vertrag jedoch nicht unterzeichnet.20 Costa Rica, das sich ebenfalls mit dem Deutschen Reich im Kriegszustand befand, hat an den Pariser Friedensverhandlungen nicht teilgenommen. Der Kriegszustand wurde durch Dekret Costa Ricas vom 4. Februar 192021 und dem deutschen Gesetz vom 15. Mai 1921 für beendet erklärt. Australien, Kanada, die Südafrikanische Union, Neuseeland und Indien unterzeichneten den Versailler Vertrag innerhalb der britischen Delegation gesondert. bb) Ratifizierung und Inkrafttreten Der Vertrag war gemäß Art. 440 des Versailler Vertrages ratifikationsbedürftig. Hinsichtlich des Inkrafttretens bestimmte Art. 440, dass der Vertrag mit der Hinterlegung der Ratifikationsurkunden durch das Deutsche Reich einerseits, von drei Alliierten und Assoziierten Hauptmächten andererseits für die betreffenden Staaten in Kraft treten sollte. Das interne Zustimmungsverfahren wurde im Deutschen Reich bereits vor der Unterzeichnung eingeleitet. Die am 22. Juni 1919 in Weimar tagende Nationalversammlung stimmte mit 237 Ja-Stimmen bei 138 Nein-Stimmen, fünf Enthaltungen und einer ungültigen Stimme, für den Versailler Vertrag. Das Zustimmungsgesetz wurde am 9. Juli 191922 verabschiedet. Die Verkündung erfolgte durch das Gesetz 20 Stattdessen hat China am 20. 5. 1921 ein Separationsübereinkommen (vgl. Text: RGBl. 1921, S. 829 ff.) mit dem Deutschen Reich abgeschlossen, das am 15. 7. 1921 in Kraft getreten ist und den Kriegszustand formal beendete. Vgl. E. von Puttkammer (Anm. 17), in: K. Strupp/ H.-J. Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, S. 516. 21 Vgl. Text: RGBl. 1921, S. 691. 22 Dt. Text der deutschen Ratifikationsurkunde vom 9. 7. 1919: H. Kraus/G. Rödiger (Anm. 3), Urkunden, Nr. 103, S. 736 f.

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vom 16. Juli 191923, es trat am 12. August 1919 in Kraft. Der Vertrag war auf diese Weise bereits staatsrechtlich im Deutschen Reich in Kraft, bevor er schließlich auch völkerrechtlich wirksam wurde. Die Vereinigten Staaten, Ecuador und Hedschas24 ratifizierten den Vertrag nicht. Die Vereinigten Staaten schlossen vielmehr am 25. August 1921 einen besonderen Friedensvertrag mit dem Deutschen Reich. Ecuador hatte, ohne dem Deutschen Reich den Kriegszustand zu erklären, lediglich die diplomatischen Beziehungen abgebrochen und diese im Jahre 1932 ohne besonderen Vertrag wiederaufgenommen. Die Nichtratifizierung des Versailler Vertrages durch die Vereinigten Staaten verzögerte dessen Wirksamwerden, so dass der Vertrag erst am 20. Januar 1920 in Kraft trat.25 Unbeschadet der Tatsache, dass der Vertrag für die übrigen Signatarstaaten jeweils mit der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde wirksam wurde, gilt der 20. Januar 1929 gemäß Art. 440 als Zeitpunkt des Inkrafttretens für die Berechnung sämtlicher im Vertrag vorgesehener Fristen. d) Inhalt und Rechtsfolgen aa) Allgemein Das politische Programm der Friedensregelung war in Wilsons „Vierzehn Punkten“ und in dem Abkommen über den Waffenstillstand zwischen dem Deutschen Reich und den Alliierten vom 11. November 1918 vorgezeichnet. Das Vertragswerk konstatierte im Kern die alleinige Verantwortung Deutschlands und seiner Verbündeten für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und verpflichtete es zu Gebietsabtretungen, zur Abrüstung und zu Reparationszahlungen an die Siegermächte. Die Präambel stellt fest, dass die Kriegserklärungen Österreich-Ungarns an Serbien, des Deutschen Reiches an Russland und Frankreich sowie der deutsche Einfall in Belgien „Ursprung“ des Krieges gewesen seien. Sie erklärt den Kriegszustand durch den Vertrag für beendet. bb) Wichtigste Vertragsbestandteile (1) Territoriale Bestimmungen Das Reich musste zahlreiche Gebiete abtreten. Im Friedensvertrag von Versailles wurde die Unabhängigkeit Polens proklamiert. Die Siegermächte legten die neuen Grenzen in Osteuropa nach den bestehenden Bevölkerungsmehrheiten fest: der

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Text: RGBl. 1919, S. 687. Der Kriegszustand zwischen dem Deutschen Reich und dem Königreich Hedschas wurde förmlich erst nachdem Hedschas in Saudi-Arabien aufgegangen war durch den deutschsaudi-arabischen Friedensvertrag vom 26. 4. 1929 beendet. 25 Vgl. H. Boockmann, Deutsche Geschichte im Osten Europas. Ostpreußen und Westpreußen, 2. Aufl., 1992, S. 398. 24

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Großteil der Provinzen Westpreußen26 und Posen (bis 1793 als historische Landschaft Großpolen polnisch)27 sowie das oberschlesische Kohlerevier und kleinere Grenzgebiete Schlesiens und Ostpreußens gingen an den neuen polnischen Staat, jedoch ohne Danzig, das Abstimmungsgebiet Marienwerder, die Kreise Deutsch Krone, Flatow (Restkreis) und Schlochau; das Hultschiner Ländchen fiel an die neu gebildete Tschechoslowakei; im Westen ging das Gebiet des Reichslandes Elsass-Lothringen an Frankreich; Belgien erhielt das Gebiet Eupen-Malmedy (das Deutsche Reich musste die volle Souveränität Belgiens über Neutral-Moresnet anerkennen. Neutral-Moresnet kam am 10. Januar 1920 zum Gouvernement EupenMalmedy und änderte seinen Namen in Kelmis) mit einer ebenfalls überwiegend deutschsprachigen Bevölkerung; die Kolonie Neukamerun fiel wieder zurück an Frankreich; das Pachtgebiet Kiautschou in China wurde Japan als Mandat zugesprochen; die im Jahre 1899 von Spanien käuflich erworbenen Inselgruppen der Marianen (seit 1556 spanisch) und der Karolinen, fielen beide unter japanisches Mandat. Hinsichtlich des Übergangs der Gebiete, die nicht konkret im Vertrag bestimmt wurden, musste in Volksabstimmungen über deren Grenzregelungen entschieden werden. Nordschleswig stimmte mit einer Dreiviertelmehrheit für Dänemark, der Süden Schleswigs verblieb mit einer Mehrheit von 80 Prozent bei Deutschland. Eupen-Malmedy sowie das bisherige Neutral-Moresnet fielen an Belgien – ursprünglich ohne Abstimmung, eine spätere Abstimmung bestätigte die Zugehörigkeit zu Belgien. Der „Rat der Zehn“28 übertrug die Festlegung der künftigen polnischen Grenze einer besonderen „Commission des affaires polonaises“, die am 12. Februar 1919 ihre Tätigkeit aufnahm.29 Zu den Abstimmungsgebieten im Osten zählten das Abstimmungsgebiet Marienwerder in Westpreußen sowie das Abstimmungsgebiet Allenstein in den südlichen Kreisen Ostpreußens (südliches Ermland und Masuren) sowie die Abstimmungsgebiete in Teilen von Oberschlesien.

26 Bei Deutschland verblieben die rechts der Weichsel liegenden Kreise Elbing, Marienburg, Stuhm, Marienwerder und Rosenburg sowie die Kreise Flatow, Schlochau und weitere Kreisteile im Westen. Vgl. Art. 27 Nr. 7 Teil II (Deutschlands Grenzen) Versailler Vertrag; auch G. Rhode, Staatliche Entwicklung und Grenzziehungen, in: G. Rhode (Hrsg.), Die Ostgebiete des Deutschen Reiches, 4. Aufl., 1957, S. 121. 27 Nicht an Polen fiel ein schmaler Streifen Posens im Westen mit Fraustadt, Schwerin, Schönlanke und Schneidemühl. Vgl. Art. 27 Nr. 7 Teil II (Deutschlands Grenzen) Versailler Vertrag. 28 Der Rat der Zehn war das Entscheidungsgremium während der Pariser Vollversammlung, der sich aus mehr als 1000 Delegierten zusammensetzte. Der Rat bestand aus den Regierungschefs und Außenministern der Staaten, die später auch im Rat der Vier vertreten waren, sowie zwei japanischen Vertretern. Japan war mangels seines Interesses an europäischen Problemen im späteren Rat der Vier nicht mehr Mitglied. Der Rat der Vier hielt in drei Monaten 145 Sitzungen ab. Vgl. L. von Muralt (Anm. 12), Der Friede von Versailles und die Gegenwart, S. 23. 29 Vgl. W. Recke, Die polnische Frage als Problem der europäischen Geschichte, 1927, S. 324.

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Bei der Abstimmung in Masuren und Westpreußen am 11. Juli 1920 entschieden sich im Abstimmungsgebiet Masuren 363.209 Stimmberechtigte (97,8 Prozent) und im Gebiet Marienwerder 96.894 Stimmberechtigte (92,4 Prozent) für den Verbleib bei Deutschland.30 Trotz dieses eindeutigen Abstimmungsergebnisses31 sprach die Botschafterkonferenz am 12. August 1920 nicht die gesamten Abstimmungsgebiete Deutschland zu, sondern trennte vom Allensteiner Bezirk die drei Grenzdörfer Groschken, Klein Nappern und Klein Lobenstein und von Westpreußen fünf weitere Dörfer32 ab und sprach sie Polen zu.33 Insgesamt wurde Ostpreußen durch die Abtretungen an Polen als Enklave von Deutschland getrennt.34 Im Ermland stimmten etwa 6.000 Personen für den Verbleib bei Polen.35 Am 20. März 1921 fand die Volksabstimmung in Oberschlesien statt.36 Das Plebiszit brachte kein eindeutiges Ergebnis: Bei einer sehr hohen Wahlbeteiligung von 98 Prozent votierten 59,7 Prozent der wahlberechtigen Oberschlesier (707.554 Stimmen)37 für die Zugehörigkeit zu Deutschland, 40,3 Prozent der Einwohner (478.820 Stimmen) wollten zum polnischen Staat.38 Die Festlegung einer Grenze in Oberschlesien, die exakt dem Wahlergebnis entsprochen hätte, war nicht möglich. Diese hätte zu der Entstehung einer Vielzahl von Enklaven und damit zu einer vollständigen Lähmung der Wirtschaft und der Kommunikation der Region geführt. Entgegen dem Abstimmungsergebnis39 entschieden die Alliierten daher am 22. Oktober 30

Vgl, G. Rhode (Anm. 26), Staatliche Entwicklung, in: Rhode, Ostgebiete, S. 122; dazugehörige Tabelle, S. 154; P. Hoffmann, Die Volksabstimmung in Westpreußen am 11. 6. 1920. Vergleichende Darstellung der Abstimmungsergebnisse aufgrund des amtlichen Materials, 1920, S. 7. 31 Vgl. detaillierte Angaben zu den Ergebnissen der Volksabstimmungen, in: Göttinger Arbeitskreis (Hrsg.), Selbstbestimmung für Ostdeutschland. Eine Dokumentation zum 50. Jahrestag der ost- und westpreußischen Volksabstimmung am 11. 7. 1920 (erarbeitet und zusammengestellt von H. G. Marzian), 1970, S. 60 ff. 32 Darunter die Weichseldörfer Johannisdorf, Außendeich, Neuliebenau, Kramershof und Kleinfelde. 33 Vgl. B. Schumacher, Geschichte Ost- und Westpreußens, Sonderausgabe der 6. Aufl. 1977, 2002, S. 300. 34 Vgl. Z. M. Szaz, Die deutsche Ostgrenze. Geschichte und Gegenwart, 1960, S. 63. 35 G. Rhode (Anm. 26), Staatliche Entwicklung, in: G. Rhode, Ostgebiete, S. 123. 36 Vgl. H. Roos (Begr.)/M. Alexander, Geschichte der polnischen Nation 1918 – 1985. Von der Staatsgründung im Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, 4. Aufl., 1986, S. 91. 37 G. Rhode (Anm. 26), Staatliche Entwicklung, in: G. Rhode, Ostgebiete, S. 123. 38 Vgl. H. Roos (Begr.)/M. Alexander (Anm. 36), Geschichte der polnischen Nation, S. 91; D. Smolorz, Die deutsch-polnische Grenze in Oberschlesien 1922 – 1939, in: K. Gil/C. Pletzing (Hrsg.), Granica. Die deutsch-polnische Grenze vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, 2010, S. 75 – 86 (76). 39 Städte wie Kattowitz oder Königshütte, die sich eindeutig für die Zugehörigkeit zu Deutschland ausgesprochen hatten, fielen an Polen. Andererseits verblieb der Landkreis Groß Strehlitz deutsch, obwohl die Abstimmung zugunsten Polens ausfiel. Folglich stimmte die Entscheidung über die Aufteilung des Abstimmungsgebietes keine der beiden Seiten zufrieden.

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1921,40 dass Polen den kleineren, mit 75 Prozent seiner Industrieanlagen und 85 Prozent seiner Kohlevorkommen aber wirtschaftlich bedeutenderen Teil Oberschlesiens41 erhält.42 Aufgrund der räumlichen Heterogenität der Stimmenmehrheiten fielen mehrere Orte in der Folge entgegen der jeweiligen Stimmenmehrheit an Polen. Nach den Volksabstimmungen im Gefolge des Versailler Vertrags sind beim Deutschen Reich Südschleswig, der Westteil Oberschlesiens inklusive des dem Abstimmungsgebiet zugeschlagenen Teils des niederschlesischen Landkreises Namslau (zwei Drittel des Abstimmungsgebiets), neun Landkreise Westpreußens östlich und westlich des neuen polnischen „Korridors“ und der Südteil Ostpreußens (jedoch ohne Soldau, Kreis Neidenburg) verblieben. Das Saargebiet wurde dem Völkerbund unterstellt. Danzig mit Umgebung wurde als Freie Stadt43 unter der Kontrolle des Völkerbundes errichtet.44 Das Memelland wurde unter Kontrolle des Völkerbunds mit eigenem Staatsrat gestellt.45

40 Gemäß § 5 Satz 1 des Anhangs zu Art. 88 Versailler Vertrag sollte eine Interalliierte Abstimmungskommission, in der neben dem Vereinigten Königreich, Frankreich und Italien auch Japan vertreten waren, über die Frage Oberschlesiens entscheiden. Da diese Kommission aber keine Empfehlung abgab, wurde der Rat des Völkerbundes um ein Gutachten gebeten. Dieser wiederum beauftragte einen Ausschuss, dem ein Belgier, ein Chinese, ein Spanier und ein Brasilianer angehörten, die Stellungnahme des Rates vorzubereiten. Der Ausschuss empfahl schließlich die Aufteilung Oberschlesiens. Diese Empfehlung wurde in der Note vom 20. 10. 1921 umgesetzt. 41 Insbesondere der westliche Teil Oberschlesiens galt in der Volksrepublik Polen als ein Teil der sog. „Wiedergewonnenen Gebiete“. Diese Formulierung verdeutlichte das Geschichtsbild der Machthaber in Polen, nach dem es dem sozialistischen Staat mit Hilfe der Roten Armee gelungen sei, die mittelalterlichen Kernländer Polens in einem Akt historischer Gerechtigkeit zurückzuholen. Vgl. R. Ritter, Die Geschichtsschreibung über Abstimmungskämpfe und Volksabstimmung in Oberschlesien (1918 – 1921). Eine Auswahlbibliographie, 2009, S. 26. 42 Vgl. D. Smolorz (Anm. 38), Die deutsch-polnische Grenze in Oberschlesien, in: Gil/ Pletzing, Granica, S. 77. 43 Das Territorium der Freien Stadt Danzig wurde aus einem Teil des Regierungsbezirks Danzig der Provinz Westpreußen des Deutschen Reiches gebildet und umfasste ein Gebiet von 1.914 km2. Vgl. W. Ramonat, Der Völkerbund und die Freie Stadt Danzig 1920 – 1934, 1979, S. 14. 44 Vgl. K. Skubiszewski, Zachodnia granica Polski w s´wietle traktatów, 1975, S. 286. Die Bildung der Danziger Freistaat-Regierung wurde in den Art. 100 bis 108 des Versailler Vertrages geregelt. 45 Nachdem das Memelland am 10. 1. 1923 von Litauen besetzt wurde, wurde es im Jahre 1924 in der Memelkonvention des Völkerbundes als autonomes Gebiet unter litauische Staatshoheit gestellt. Vgl. G. H. Gornig, Das Memelland – gestern und heute. Eine historische und rechtliche Betrachtung, Bonn 1991.

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(2) Reparationen und allgemeine wirtschaftliche Folgen Der Kriegsschuldartikel (Art. 231 Versailler Vertrag)46 diente als Grundlage für Reparationsforderungen gegen das Deutsche Reich. Eine erste Rate von 20 Milliarden Goldmark – dies entsprach zum damaligen Zeitpunkt dem Wert von 7.000 Tonnen Gold – war bis April 1921 zu zahlen. Außerdem wurde die Verkleinerung der reichsdeutschen Handelsflotte festgeschrieben. Die großen deutschen Schifffahrtswege, namentlich Elbe, Oder, Donau und Memel, wurden für international erklärt. (3) Kriegsverbrechen Teil VI (Art. 214 bis 226) des Vertrages enthält sogenannte Strafbestimmungen für Kriegsverbrecher einschließlich der Anklage gegen den deutschen Kaiser und die Reichsregierung. Trotz dieser Ansätze einer völkerstrafrechtlichen Verurteilung der „Kriegsverursacher“ kam es später zu keiner einzigen Anklage. Insbesondere weigerten sich die Niederlande, den deutschen Kaiser, der dorthin ins Exil geflohen war, auszuliefern. (4) Völkerbund Der Vertrag sah ferner die Gründung des Völkerbundes vor, eines der erklärten Ziele von Präsident Wilson. Der Völkerbund war die Vorläuferorganisation der heutigen Organisation der Vereinten Nationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde. Teil I des Versailler Vertrages enthielt daher die Satzung des Völkerbundes47. Staaten, die den Versailler Vertrag ratifizierten, wurden automatisch Mitgliedstaat des Völkerbundes. Hiervon wurde das Deutsche Reich ausgenommen, sodass Deutschland bis zum Jahre 1926 kein Mitglied des Völkerbundes war. Diese Regelwidrigkeit, die nicht im Vertragstext festgeschrieben war, wurde damit begründet, dass es notwendig sei, dass sich Deutschland erst bewähren müsse, bevor es Mitglied in der internationalen Organisation werden könne. cc) Folgen des Versailler Vertrages für das Deutsche Reich Das Deutsche Reich wurde durch die territorialen Abtretungen in seiner Wirtschaftskraft erheblich geschwächt. Es verlor unter anderem 80 Prozent seiner Eisenerzvorkommen, 63 Prozent der Zinkerzlager, 28 Prozent seiner Steinkohleförderung und 40 Prozent seiner Hochöfen. Deutschland verlor insgesamt 1/7 seines Territori46 Im Art. 231 heißt es: „Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben“. 47 Text: F. Bleiber (Anm. 10), Der Völkerbund, S. 177 ff.; der Völkerbund nahm am 10. 1. 1920 seine Arbeit auf mit dem Ziel, den Frieden dauerhaft zu sichern. Vgl. S. Sierpowski, Narodziny Ligi Narodów. Powstanie, organizacja i zasady działania, 1984, S. 5; ein detaillierter Überblick zur Organisation und den Aufgaben des Völkerbundes findet sich in: O. Göppert, Der Völkerbund. Organisation und Tätigkeit des Völkerbundes, Stuttgart 1938.

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ums und seine Bevölkerung verringerte sich um sieben Millionen Menschen (circa 11 Prozent).48 Da das Deutsche Reich seine Armee nach Art. 159 ff. Versailler Vertrag auf eine Stärke von 115.000 Soldaten verkleinern musste, war es nicht mehr in der Lage, eine etwaige alliierte Invasion militärisch zu verhindern. e) Völkerrechtliche Würdigung des Versailler Friedensvertrages Aufgrund der Ablehnung der Bedingungen des Versailler Friedensvertrages wurden die Forderungen nach der Revision des Vertrages in den Jahren nach Vertragsabschluss in Deutschland immer lauter. So wurde insbesondere auch in der Rechtswissenschaft versucht, die Rechtswidrigkeit des Vertrages mit verschiedenen Begründungen zu untermauern. Zu den bedeutendsten und auch im Ansatz am ehesten nachvollziehbaren Revisionsgründen zählen die Rechtswidrigkeit des Vertrages wegen des ausgeübten Zwanges auf die deutsche Delegation bei Vertragsabschluss und die Nichtigkeit des Vertrages wegen des Verstoßes gegen den Vorfrieden. aa) Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht (1) Zwang gegen das Deutsche Reich Die fehlende Teilnahme des Deutschen Reiches in der ersten Phase der Pariser Friedenskonferenz wurde insbesondere von der nationalsozialistischen Regierung propagandistisch dahingehend ausgeschlachtet, den Bruch von Bestimmungen des Vertrages mit der Begründung zu rechtfertigen, dass der Vertrag kein Vertrag, sondern lediglich ein „Diktat“ sei. Jedoch stand es zur damaligen Zeit dem Sieger frei, unter Ausnutzung von Zwang vorteilhafte Bedingungen bei Friedensverträgen auszuhandeln, ohne dass dies die Wirksamkeit des Vertrages berührt hätte.49 Die Diskussion um die Rechtswidrigkeit von erzwungenen völkerrechtlichen Verträgen ist im Grunde erst mit Abschluss des Ersten Weltkriegs eröffnet worden.50 In der Zeit des klassischen Völkerrechts sprach sich nämlich die überwiegende Mehrheit der Autoren (darunter Bluntschli, Heffter, von Martens, de Vattel) für die Unerheblichkeit des Zwanges bei Abschluss von völkerrechtlichen Verträgen aus.51 Allerdings gab es vereinzelt auch Autoren, die zumindest aus moralischen Gründen for-

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Vgl. H. Róka, Trianon – Die Teilung Ungarns und deren Folgen, 2016, S. 30. Vgl. A. Zimmer, Friedensverträge im Völkerrecht, 1988, S. 96 f. 50 Vgl. F. Bleiber, Aufgezwungene Verträge im Völkerrecht, in: ZVölkR 19 (1935), S. 385 – 402 (385); W. Pasching, Allgemeine Rechtsgrundsätze über die Errichtung des völkerrechtlichen Vertrages, in: Zeitschrift für öffentliches Recht 14 (1934), S. 26 ff. (50). 51 Diese Ansicht wird sogar noch von F. K. Neubecker, Zwang und Notstand in rechtsvergleichender Darstellung, Bd. I. Grundlagen. Der Zwang im öffentlichen Recht, 1910, S. 160, vertreten. 49

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derten, dass Vertragsabschlüsse ohne die Einwirkung von Zwang durchgeführt werden müssten.52 Bluntschli begründet die rechtliche Unbeachtlichkeit des Zwanges bei Vertragsabschluss damit, dass die Willensfreiheit nicht aufgehoben sei, wenngleich der Staat in seiner Not und Schwäche sich genötigt sieht, den Vertrag mit den Bedingungen einzugehen, die ihm ein übermächtiger anderer Staat diktiert. Ansonsten gäbe es nämlich kein Ende des Völkerstreits und auch keinen gesicherten Friedensstand.53 Von Waldkirch formuliert ausdrücklich, dass Drohung und Zwang im Völkerrecht keine Rolle spielen würden.54 Der besiegte Staat könne nachträglich nicht geltend machen, er habe seine Zustimmung lediglich unter dem Einfluss von Gewalt erteilt,55 außer wenn gegenüber der Person seines Vertreters Gewalt angewendet worden wäre.56 De Vattel lehnt die Zulassung einer „Einrede der Furcht oder Gewalt“ beim Abschluss von Friedensverträgen grundsätzlich ab, da ansonsten die allgemeine Sicherheit der Nationen bedroht sei.57 Auch Fauchille spricht sich für eine Unerheblichkeit des Zwanges als Willensmangel aus und begründet dies damit, dass Willensmängel im Völkerrecht gerade nicht dieselbe Bedeutung wie im Zivilrecht haben könnten.58 Die Untersuchung der wissenschaftlichen Literatur verdeutlicht, dass im klassischen Völkerrecht die Rechtsverbindlichkeit von völkerrechtlichen Verträgen im 52 Hierzu zählt A. W. Heffter, Das europäische Völkerrecht der Gegenwart, 8. Aufl., 1888, S. 190. 53 J. C. Bluntschli, Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten als Rechtsbuch dargestellt, 2. Aufl., 1872, S. 233 f. § 408. 54 E. O. von Waldkirch, Das Völkerrecht in seinen Grundzügen dargestellt, 1926, S. 218. Auch Gareis verneint den Zwang als Anfechtungsgrund für Verträge. Vgl. K. Gareis, Institutionen des Völkerrechts, 2. Aufl., 1901, S. 208. 55 Die gleiche Position vertritt auch F. von Martens, Völkerrecht. Das internationale Recht der civilisirten Nationen, Bd. I, 1883, S. 404 § 109: „Bei Rechtsgeschäften zwischen Privatpersonen hebt Zwang stets die verbindliche Kraft des Vertrages auf, zwangsweise abgeschlossene internationale Verträge dagegen sind prinzipiell verbindlich, wie z. B. alle Friedensverträge. Dieser Satz beruht auf einer allgemeinen Präsumtion der Handlungsfreiheit der Staaten in ihrem Wechselverkehr. Der von einem andern besiegte und unter dem Druck seiner Niederlage einen Friedensvertrag acceptirende Staat ist in Wirklichkeit gewiss nicht vollkommen frei, formell genommen aber bleibt er es, da er die Wahl zwischen Fortsetzung des Krieges und Friedensschluss behält“. 56 Vgl. E. O. von Waldkirch (Anm. 54), 1926, S. 218. 57 E. de Vattel, Le Droit des Gens ou Principes de la Loi Naturelle. Appliqué à la Conduite et aux Affaires des Nations et des Souverains, 1758 (dt. Übersetzung von Wilhelm Euler 1959), S. 540 f. § 37. 58 P. Fauchille, Traité de droit international public, Bd. I 3, 1926, S. 297; und auch J. Hatschek, Völkerrecht im Grundriss, S. 114: „Der Zwang ist nicht ohne weiteres als Anfechtungsgrund im Völkerrecht anzusehen. Die meisten Friedensschlüsse sind auf einen Zwang der einen gegen die andere Kriegspartei zurückzuführen. Da die Gleichheit der Kontrahenten eine wesentliche Voraussetzung des rechtsgültigen Zustandekommens völkerrechtlicher Verträge ist, so ist der Zwang nur dort Anfechtungsgrund, wo er jene Gleichheit zerstört“.

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Vordergrund stand. Insbesondere Friedensverträge sollten gültig bleiben, da ansonsten die Sicherung des Friedens als bedroht angesehen werden konnte.59 Deutlich wird auch, dass die Grundsätze des Privatrechts, wonach Zwang bei Vertragsabschluss zur Anfechtung berechtigt, auf völkerrechtliche Verträge nicht als übertragbar angesehen wurden.60 Im Ergebnis hatte im klassischen Völkerrecht, das bis zum Ersten Weltkrieg und unmittelbar danach Geltung hatte, die Ausübung von Zwang und Drohung auf einen Staat keinen Einfluss auf die Rechtswirksamkeit von völkerrechtlichen Verträgen. Aus diesem Grunde war es auch rechtlich unerheblich, dass der Versailler Friedensvertrag einseitig der deutschen Delegation zur Unterzeichnung vorgelegt wurde und dass das Deutsche Reich als unterlegene Mittelmacht keine andere Wahl hatte, als die ihm vorgelegten Friedensbedingungen letztendlich zu akzeptieren. (2) Unvereinbarkeit mit dem Vorfrieden Bevor der deutschen Delegation das Versailler Vertragswerk vorgelegt wurde und noch bevor es zur ersten Phase der Friedenskonferenz kam, an der das Deutsche Reich nicht beteiligt war, fanden Vorverhandlungen statt. Die deutsche Reichsregierung und der US-amerikanische Präsident Woodrow Wilson einigten sich im Rahmen dieser Vorverhandlungen61, dass der Friedensvertrag mit dem Deutschen Reich auf der Grundlage der Erklärungen Wilsons abgeschlossen werden sollte, die vom Prinzip der nationalen Selbstbestimmung beherrscht wurden. So formulierte Wilson in seiner Botschaft an den Kongress vom 11. Februar 1918, die auch in diesen Vorfrieden Eingang gefunden hatte, „dass Völker und Provinzen nicht von einer Souveränität zur anderen verschachert werden dürften, gerade als ob sie bloße Gegenstände oder Steine in einem Spiele wären (…), sondern dass jede territoriale Regelung im Interesse und zugunsten der beteiligten Bevölkerungen getroffen werden muss (…)“. Hieraus ergab sich, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker bei jedem Gebietsübergang beachtet hätte werden müssen. Allein die Bevölkerung hätte über die territoriale Zugehörigkeit entscheiden müssen, wenn man den Wilson‘schen Grundsätzen gerecht werden wollte. Eine Abtrennung von Gebieten ohne Volksabstimmung stellte somit einen Verstoß gegen den Vorfrieden dar. Bedenken an der Rechtmäßigkeit des Versailler Friedensvertrages bestehen also, weil dieser Vertrag mit dem Vorfriedensvertrag nicht vereinbar ist.62 Jedoch könnte der Vorfriedensvertrag als vom Friedensvertrag konsumiert betrachtet werden. Dann stellt 59 Vgl. H. Weinschel, Willensmängel bei völkerrechtlichen Verträgen, in: ZVölkR 15 (1930), Heft Nr. 3, S. 446 ff. (450); F. K. Neubecker (Anm. 51), Zwang und Notstand, S. 160. 60 F. K. Neubecker (Anm. 51), Zwang und Notstand, S. 156 ff. 61 Diese Vorverhandlungen wurden auch als Vorfrieden bzw. als Vorfriedensvertrag bezeichnet und setzten sich konkret aus dem Notenwechsel zwischen der deutschen Regierung und der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika vom November 1918, in dem für das Deutsche Reich akzeptable Friedensbedingungen aufgestellt wurden, zusammen. 62 Siehe hierzu J. L. Kunz (Anm. 17), Die Revision der Pariser Friedensverträge, S. 226 ff.

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sich natürlich die Frage nach dem Sinn eines Vorfriedensvertrages. An der Rechtmäßigkeit des Versailler Friedensvertrages bestünden dann keine Zweifel. Wegen des unlösbaren Widerspruchs zwischen Vorfrieden und Frieden könnte der Versailler Friedensvertrag aber auch anfechtbar oder gar nichtig sein. Nichtig sind völkerrechtliche Verträge aber nur, wenn sie gegen zwingendes Völkerrecht verstoßen. Ein solcher Verstoß lag bei einer bloßen Unvereinbarkeit mit dem Vorfriedensvertrag aber nicht vor. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker zählte zum damaligen Zeitpunkt – im Gegensatz zu heute – nicht zum ius cogens, war nicht einmal völkergewohnheitsrechtlich anerkannt. Ein Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker konnte damit nicht die Nichtigkeit des Versailler Friedensvertrages begründen. Wegen des Verstoßes gegen den Vorfrieden war allein die Anfechtung des Versailler Friedensvertrages gegeben, die aber nie erfolgte. Das Deutsche Reich unterließ es, die Fehlerhaftigkeit des Versailler Friedensvertrages geltend zu machen und eine Revision zu fordern. Zwar wurden immer wieder Revisionsforderungen erhoben, jedoch nicht auf förmlichem Regierungswege. Schließlich spricht auch der Grundsatz „pacta sunt servanda“, wonach Verträge einzuhalten sind, gegen eine nachträgliche Unwirksamkeit. Die Rechtssicherheit des Vertragsabschlusses überwiegt die Unzufriedenheit über die Vertragsbedingungen und die äußeren Umstände des Vertragsabschlusses. Demnach verlor der Friedensvertrag nicht seine Rechtswirksamkeit. bb) Bedeutung für die Entwicklung des Völkerrechts In der Völkerrechtsgeschichte kommt dem Versailler Vertrag eine besondere Bedeutung zu. Der Friedensvertrag sollte nämlich nicht nur als ein Friedensvertrag im engeren Sinne aufgefasst werden, sondern vielmehr als völkerrechtlicher Vertrag der Neuordnung der Welt dienen.63 Im Gefüge der Pariser Vorortverträge hatte der Versailler Vertrag eine besondere Stellung inne, weil er als Mustervertrag für die übrigen Friedensverträge diente. Die Einbeziehung der Satzung des Völkerbundes als erster Vertragsteil bestätigt die umfassende Zielsetzung der politischen Neuordnung. Der Begriff der Reparationen nicht nur als Mittel der wirtschaftlichen Wiederherstellung, sondern auch als moralische Wiedergutmachung einer „Schuld“ des Deutschen Reiches wird zum ersten Mal Leitmotiv eines europäischen Friedensabschlusses. Der Versailler Vertrag weist ferner bedeutende Ansätze zur Entwicklung des modernen Völkerrechts auf, die zu dieser Zeit noch nicht einmal gewohnheitsrechtlich anerkannt waren. Hierzu zählt das Angriffsverbot, das in Art. 231 f. des Versailler Vertrages festgesetzt wurde, obwohl erst die Völkerbundsatzung von einem Verbot des Angriffskrieges ausgeht. Als weiteres Beispiel dient der Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Völker – insbesondere die Bestimmungen über die Plebiszite –, der wie bereits erläutert noch nicht zum zwingenden Völkerrecht zählte.

63 E. von Puttkammer (Anm. 17), in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, S. 519.

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Wichtige Ansätze, die erst am Anfang ihrer Entwicklung waren, lassen sich im Versailler Vertrag auch auf den Gebieten des Minderheitenrechts64 und des Besatzungsrechts wiederfinden. Aufgrund dieser völkerrechtlichen Entwicklungsformen kann der Versailler Vertrag als ein Grunddokument in der Geschichte des Völkerrechts gewertet werden. f) Bewertung des Versailler Vertrages Da die von der deutschen Delegation unterzeichneten Friedensbedingungen stark von den im Verlauf der vorherigen neun Monate diskutierten „annehmbaren“ territorialen Zugeständnissen im Osten abwichen, stießen sie in Deutschland auf enorme Kritik und Ablehnung.65 Die deutsche Nation fühlte sich insbesondere durch den Kriegsschuldartikel in ihrem Ehrgefühl getroffen. Dies diente daher auch als Rechtfertigung für die spätere gewaltsame Auflehnung.66 Auf unterschiedlichen Wegen versuchten alle Regierungen der Weimarer Republik die „Fesseln von Versailles abzuschütteln“, weshalb man von einem regelrechten „Weimarer Revisionssyndrom“ sprechen kann.67 Die Bevölkerung forderte daher die Revision des „Diktats von Versailles“ als oberstes außenpolitisches Ziel der deutschen Politik.68 Der Versailler Friedensvertrag wird daher zu Recht als eine Ursache für das Erstarken und die Macht der Nationalsozialisten in Deutschland gewertet. Ohne die revisionistischen Impulse und das andauernde Gefühl der als ungerecht empfundenen und aufgezwungenen Friedensbedingungen in der Bevölkerung ist fraglich, ob es zu der erneuten europäischen Katastrophe, dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, überhaupt gekommen wäre.

64 Als Beispiel dient hierbei Art. 86 des Versailler Vertrages, der die Verpflichtung des tschechoslowakischen Staates enthält, die Interessen der nationalen, sprachlichen und religiösen Minderheiten zu schützen. 65 Vgl. P. Hauser, Niemcy wobec perspektywy rozstrzygnie˛ c´ konferencji pokojowej w sprawie zachodnich granic Polski (paz´dziernik 1918-czerwiec 1919), in: C. Bloch/Z. Zielin´ski (Hrsg.), Powrót Polski na mape˛ Europy, 1995, S. 117 – 146 (144). 66 Vgl. G. Mann, Propyläen Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte, Neunter Band, 1991, S. 125. 67 Zahlreiche Historiker sehen in dem Vertrag daher eine wichtige Ursache für den Aufstieg des Nationalsozialismus. 68 Der Vertrag wurde erstmals 1935 mit der Wiedereinführung der Wehrpflicht und der massiven Aufrüstung und der Erweiterung der Wehrmacht gebrochen. Ein weiteres Mal im Jahre 1936 mit der Besetzung des entmilitarisierten Rheinlandes und 1938 mit der Annexion Österreichs.

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2. Der Vertrag von Saint-Germain-en-Laye a) Entstehung und Abschluss Im Mai 1919 reiste eine österreichische Delegation unter der Leitung von Karl Renner nach Saint-Germain-en-Laye. Eine direkte Teilnahme an den Gesprächen wurde ihr – so wie auch der deutschen Delegation – verweigert, sie konnte lediglich schriftliche Vorschläge unterbreiten. Der am 2. September 1919 den österreichischen Delegierten überreichte Vertrag wurde am 10. September 1919 im Schloss SaintGermain-en-Laye unterzeichnet. Zu den Signatarmächten zählten neben Österreich die USA, das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland, Frankreich, Italien und Japan sowie Belgien, China, Kuba, Griechenland, Nicaragua, Panama, Polen, Portugal, Rumänien, der serbisch-kroatisch-slowenische Staat, Siam und die Tschechoslowakei. Der Vertrag von Saint-Germain69 trat am 16. Juli 1920 förmlich in Kraft. b) Inhalt und Rechtsfolgen Der Vertrag regelte die Auflösung der österreichischen Reichshälfte ÖsterreichUngarns70 und die Bedingungen für die neue Republik Deutsch-Österreich. Er bestätigte damit die Auflösung Österreich-Ungarns auch völkerrechtlich. Ein großer Teil der Bestimmungen des Friedensvertrages von Saint-Germain stimmte teils wörtlich, teils sinngemäß mit denen des Friedensvertrages von Versailles überein. Übereinstimmende Regelungen finden sich in den Art. 1 bis 26 (Völkerbundsatzung) und etwa in den Art. 160 bis 170 zu den Kriegsgefangenen. Im Mittelpunkt des Vertrages standen die Gebietsabtretungen ohne Volksabstimmungen an die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Polen sowie die Abtretung Südtirols an Italien und die Anerkennung der Selbständigkeit Ungarns, der Tschechoslowakei, Polens und Jugoslawiens.71 Darüber hinaus regelte der Vertrag die Zahlung von Reparationen und die Abtretung der gesamten Kriegs- und Handelsflotte. Der Vertrag erkannte ferner die neue Republik Deutsch-Österreich, die durch die Nationalversammlung nach dem Zerfall der Donaumonarchie gegründet wurde, nicht an, sondern schuf eine neue Republik Österreich. Zu den wichtigsten territorialen Bestimmungen der 381 Artikel des Vertrages von Saint-Germain zählen die Abtretung von Böhmen, Mähren, Österreichisch-Schlesien und einigen Gemeinden Niederösterreichs (u. a. Feldsberg, der Bahnhof Gmünd 69 Poln. Text: J. Makowski, Zobowia˛zania mie˛ dzynarodowe Polski 1919 – 1929, 1929, Nr. 1 betreffend Österreich, S. 9 f.; frz. Text: H. Kraus, Das Recht der Minderheiten. Materialien zur Einführung in das Verständnis des modernen Minoritätenproblems, 1927, Nr. XI, S. 73 ff. 70 Vgl. C. A. Macartney, Hungary and her successors. The Treaty of Trianon and its consequences 1919 – 1937, 1965, S. 1. 71 Vgl. H. Róka (Anm. 48), Trianon, S. 31.

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und andere Gemeinden) an die neu gegründete Tschechoslowakei, die Abtretung Galiziens an Polen sowie Südtirols, Welschtirols und des Kanaltals und Istriens an Italien. Die Bukowina musste an Rumänien abgetreten werden. Dalmatien, Krain, Teile der Untersteiermark sowie das Kärntner Mießtal und das Seeland fielen an das neue Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Am 10. Oktober 1920 fand eine Volksabstimmung im Grenzgebiet Südkärntens statt, in welchem die slowenischsprachige Volksgruppe etwa 70 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte. Die Abstimmung ging mit 59,04 Prozent aller Stimmen zugunsten Österreichs aus.72 In der Volksabstimmung in Ödenburg und Umgebung vom Dezember 1921 wurde entschieden, dass die Stadt Ödenburg (ungarisch Sopron) und die umliegenden Dörfer bei Ungarn verbleiben. Westungarn73, das den Namen Burgenland74 erhielt, musste an Österreich abgetreten werden.75 Nach Abtrennung dieser Gebiete blieb von Österreich (Cisleithanien)76 ein Reststaat von etwa 6,5 Millionen Einwohnern. Schließlich wurde Österreich der Anschluss an das Deutsche Reich untersagt. Eine allgemeine Wehrpflicht wurde verboten und nur ein Berufsheer von 30.000 Mann erlaubt. c) Bewertung des Vertrages Die Republik Österreich wurde als kriegführende Macht angesehen, während die übrigen durch die Auflösung Österreich-Ungarns entstandenen Nachfolgestaaten, 72

Vgl. V. Miltschinsky, Kärntens hundertjähriger Grenzlandkampf, 1937, S. 118 f.; siehe hierzu auch C. Fräss-Ehrfeld, Geschichte Kärntens 1918 – 1920. Abwehrkampf – Volksabstimmung – Identitätssuche, Klagenfurt 2000. 73 Da sich Österreich und Ungarn hinsichtlich Westungarns und anderer Gebiete trotz Friedensvertrages nicht einig werden konnten, wurden nach langen Verhandlungen schließlich am 13. 10. 1921 die sog. Venediger Protokolle unterzeichnet. Hintergrund des Streites war, dass Österreich die Ansicht vertrat, dass die westungarische Frage bereits durch die Bestimmungen des Friedensvertrages geregelt sei und nur die Durchführung dieser Bestimmungen mit Ungarn verhandelt werden müsse. Die Ungarn hingegen stellten unter Hinweis auf die Mantelnote des Friedensvertrages die Notwendigkeit der Übergabe Westungarns an Österreich in Frage, vgl. E. Hochenbichler, Republik im Schatten der Monarchie. Das Burgenland, ein europäisches Problem, 1971, S. 9 ff. Die ungarische Regierung verpflichtete sich in den Venediger Protokollen, innerhalb von drei Wochen für den Abzug der bewaffneten Einheiten zu sorgen und das westungarische Gebiet den österreichischen Behörden ordnungsgemäß zu übergeben. Österreich wiederum willigte in die Abhaltung einer Volksabstimmung in Ödenburg ein. Vgl. das Protokoll unterzeichnet in Venedig am 13. 10. 1921, betreffend die Regelung der westungarischen Frage, abrufbar unter: http://www.verfassungen.de/at/burgenland/venedigerprotokoll.htm (zuletzt abgerufen am 11. 2. 2017) und abgedruckt bei: E. Hochenbichler, Republik im Schatten der Monarchie, S. 22 ff. 74 Der Name rührt von den vier altungarischen Komitaten Wieselburg, Eisenburg, Ödenburg und Pressburg – dann Bratislawa als Hauptstadt der Slowakei – her. Siehe zur Geschichte des Burgenlandes C. A. Macartney (Anm. 70), Hungary and her Successors, S. 43 ff. 75 Vgl. C. A. Macartney (Anm. 70), Hungary and her Successors, S. 47. 76 cis = diesseits, des Flüsschens Leitha, der andere Teil Transleithanien.

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mit Ausnahme von Ungarn, als Verbündete der Alliierten, somit als Kontrahenten der Republik Österreich im Friedensvertrag in Erscheinung traten.77 Die österreichische Nationalversammlung bezeichnete den Vertrag als „national ungerecht, politisch verhängnisvoll und wirtschaftlich undurchführbar“, jedoch blieb Österreich keine andere Wahl, als sich mit den Friedensbedingungen abzufinden.78 Hinzu kam die Kritik seitens Österreichs, dass etwa die Volksabstimmung in Ödenburg und Umgebung nicht ordnungsgemäß verlaufen sei. Die Österreicher bezeichneten die Volksabstimmung als Fälschung und beriefen sich zur Begründung dieser Vorwürfe auf das nach der Abstimmung erschienene Buch von Viktor Mitschinsky79. In diesem Buch behauptet der Autor unter anderem, dass die ungarischen Behörden die Wählerlisten gefälscht hätten. Die territorialen Fragen, so etwa hinsichtlich Deutschböhmens, des deutschen Teils von Schlesien und Mähren, des Beckens von Marburg/Drau (später Maribor) und Deutsch-Südtirols, wurden ohne Berücksichtigung der Nationalität der Bewohner der abzutretenden Gebiete geregelt.80 Durch die Gebietsabtretungen wurde Österreich ein kaum lebensfähiges Gebilde, das von Schulden überlastet war.81 3. Der Vertrag von Trianon a) Entstehung und Abschluss Bevor der Friedensvertrag von Trianon82 geschlossen wurde, schafften zahlreiche Sezessionen einen de facto-Zustand, der später durch den Vertrag de iure bestätigt wurde. So riefen die Tschechen und Slowaken, deren Nationalrat in Paris bereits am 2. Juli 1918 von den USA anerkannt wurde, am 28. Oktober 1918 die Tschechoslowakische Republik aus.83 Kroatien und Slawonien gründeten am 6. Oktober 1918 in Zagreb den Nationalrat der Serben, Kroaten und Slowenen und erklärten sich am 30. Oktober 1918 zum Teil des neuen Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen84.85 Die Rumänen Siebenbürgens (Transsylvaniens) sprachen sich am 1. Dezem77 Vgl. H. Scheuba-Lischka, Saint Germain-Friede von 1919, in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 3, 1962, S. 152. 78 Vgl. H. Scheuba-Lischka (Anm. 77), in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, S. 152. 79 V. Mitschinsky, Kärntens hundertjähriger Grenzlandkampf: eine zusammenfassende Darstellung, Wien 1937. 80 Vgl. H. Scheuba-Lischka (Anm. 77), in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, S. 152. 81 Vgl. J. L. Kunz (Anm. 17), Die Revision der Pariser Friedensverträge, S. 4. 82 Text: Die völkerrechtlichen Urkunden des Weltkrieges, Bd. 4. Jahrbuch des Völkerrechts 8 (1922), S. 471 ff. 83 Vgl. C. A. Macartney (Anm. 70), Hungary and her Successors, S. 79 ff. 84 Die offizielle Staatsbezeichnung wurde 1929 in Königreich Jugoslawien geändert („Jugo“ [kroatisch] heißt „Süd”).

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ber 1918 in den Karlsburger Beschlüssen (Alba Iulia) für die Vereinigung mit dem Königreich Rumänien aus.86 Die Volksversammlungen der Siebenbürger Sachsen (am 8. Januar 1919) und der Banater Schwaben (am 10. August 1919) entschieden sich ebenfalls für die Vereinigung ihrer Gebiete mit Rumänien.87 Ungarn erklärte am 31. Oktober 1918 den Austritt aus der Realunion mit Österreich. Damit war die Donaumonarchie de facto aufgelöst. Nachdem zwischen den Alliierten und Österreich-Ungarn am 3. November 1918 in Paris der Waffenstillstand geschlossen war, erklärte sich das Abgeordnetenhaus für aufgelöst. Die neue Regierung, an deren Spitze Michael Graf Károly stand, proklamierte am 16. November 1918 die Ungarische Republik.88 Die neue Regierung versuchte bereits zuvor mit den Alliierten ein selbständiges Waffenstillstandsabkommen zu schließen, die Verhandlungen scheiterten jedoch. Stattdessen wurde am 13. November 1918 kein Waffenstillstandsvertrag, sondern eine Militärkonvention geschlossen.89 Die ungarische Regierung wurde wegen innerer Unruhen nicht von den Alliierten anerkannt und daher auch nicht zu den Friedensverhandlungen eingeladen. Erst als sich eine neue Regierung auf Grundlage einer Wahlordnung unter Ministerpräsident István Friedrich konstituierte, erhielt die ungarische Regierung am 25. November 1919 eine Einladung seitens der Alliierten zur Entgegennahme des in Paris erarbeiteten Friedensvertragsentwurfs.90 Der Friedensvertrag wurde schließlich am 4. Juni 1920 im Schloss Grand Trianon in Versailles unterzeichnet. Miklós Horty, seit dem 1. März 1920 Staatsoberhaupt Ungarns, ratifizierte den Vertrag am 15. November 1920.91 Zu den Signatarmächten zählten das Vereinigte Königreich, Frankreich, Italien, Japan, Belgien, Siam, Griechenland, Nicaragua, Panama,

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Vgl. C. A. Macartney (Anm. 70), Hungary and her Successors, S. 363 f. Vgl. S. Fischer-Galati, Trianon and Romania, in: B. K. Király/L. Veszprémy (Hrsg.), Trianon and East Central Europe, 1995, S. 185 ff.; C. A. Macartney (Anm. 70), Hungary and her successors, S. 276 f.; E. Wagner, Geschichte der Siebenbürger Sachsen, 6. Aufl., 1990, S. 71; K. M. Reinerth, Zur politischen Entwicklung der Deutschen in Rumänien 1918 – 1928, 1993, S. 49 f. 87 Vgl. E. Wagner (Anm. 86), Geschichte der Siebenbürger Sachsen, S. 71 f.; W. Marin, Kurze Geschichte der Banater Schwaben, 1978, S. 146; A. Schenk, Deutsche in Siebenbürgen. Ihre Geschichte und Kultur, 1992, S. 168. Neben den Siebenbürger Sachsen und den Banater Schwaben entschieden auch die Sathmarer Schwaben und die Deutschen der Bukowina, dass ihre Gebiete an Rumänien angegliedert werden sollten. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs gab es fast 800.000 deutsche Volkszugehörige in Rumänien. 88 Vgl. H. Scheuba-Lischka (Anm. 2), in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, S. 457. 89 Vgl. M. Ormos, The Military Convention of Belgrade, in: B. K. Király/L. Veszprémy (Hrsg.), Trianon and East Central Europe, 1995, S. 55 ff.; H. Scheuba-Lischka (Anm. 2), in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, S. 458. 90 Vgl. H. Scheuba-Lischka (Anm. 2), in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, S. 457 ff. 91 Vgl. H. Scheuba-Lischka (Anm. 2), in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, S. 458. 86

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Polen, Portugal, Rumänien, das neu gebildete serbisch-kroatisch-slowenische Königreich und die neue Tschechoslowakei.92 b) Inhalt und Rechtsfolgen Wie die anderen Friedensverträge enthielt auch der Vertrag von Trianon in seinem ersten Teil die Bestimmungen der Satzung des Völkerbundes. Ein großer Teil der Vertragsbestimmungen stimmt im Wesentlichen mit denen des Friedensvertrages von Saint-Germain überein. So wie auch seine Verbündeten wird Ungarn im Vertrag als Kriegsanstifter angesehen. Vor dem Krieg besaß Ungarn ein Territorium von 325.000 m2, das durch den Trianon-Vertrag um zwei Drittel verkleinert wurde.93 Die Zahl der Bevölkerung ging von 20, 9 Millionen auf 7,6 Millionen zurück.94 Den territorialen Bestimmungen entsprechend fielen die heutige Slowakei und die Karpato-Ukraine an die Tschechoslowakei, Kroatien, Slawonien, Prekmurje, die Regionen Batschka und Süd-Baranya (Drávaköz) sowie Teile des Banats gingen an das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, Siebenbürgen mit dem Rest des Banats und mit Partium fiel an Rumänien. Die Freie Stadt Fiume (heute Rijeka) wurde Italien zugesprochen. Deutsch-Westungarn, das seit dem Jahre 1919 von den Österreichern als Burgenland bezeichnet wurde, sollte an Österreich angeschlossen werden. Darüber hinaus war im sogenannten Kriegsschuldparagraphen (Art. 161) die Zahlung von Reparationen als Wiedergutmachung vorgesehen, obwohl wiederum keine genaue Reparationssumme festgelegt wurde. Einen weiteren Schwerpunkt bildete zudem die Abrüstung. Die Streitkräfte wurden auf ein Berufsheer von 35.000 Mann beschränkt. c) Bewertung Der Vertrag von Trianon besiegelte im Jahre 1920 die bereits in den Jahren 1918/ 19 erfolgten Sezessionen aus dem Königreich Ungarn nach dem für die Doppelmonarchie verlorenen Krieg. Ungarn musste damit völkerrechtlich verbindlich zur Kenntnis nehmen, dass zwei Drittel seines Territoriums Nachbar- und Nachfolge-

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Die Vereinigten Staaten unterzeichneten den Vertrag nicht, schlossen aber stattdessen mit einem separaten Vertrag mit Ungarn den Frieden in Washington, D. C. Der Vertrag war inhaltlich an den Vertrag von Trianon angelehnt, jedoch ohne die Artikel zum Völkerbund, bei dem die USA nur Beobachterstatus hatten. 93 Vgl. F. Fodor, The Treaty of Trianon in the Light of Geography, in: C. A. Apponyi/ A. Berzeviczy u. a., Justice for Hungary. Review and Criticism of the Effect of the Treaty of Trianon, 1928, S. 327 ff. (334). 94 Vgl. R. Göllner/Z. K. Lengyel/J. von Puttkammer, Ungarn, in: H. Roth (Hrsg.), Studienhandbuch Östliches Europa, Bd. 1: Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas, 1999, S. 411 ff. (421).

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staaten zufielen.95 Die massiven territorialen Verluste führten dazu, dass die Mehrheit der Ungarn den Vertrag als ungerecht empfand.96 Das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker wurde auch im Trianon-Vertrag nicht umfassend beachtet, da zahlreiche Gebiete ohne Volksabstimmung abgetreten werden mussten. So wäre nämlich etwa eine Abstimmung im nördlichen Burgenland zugunsten Ungarns ausgefallen.97 4. Der Vertrag von Neuilly-sur-Seine a) Entstehung Bulgarien, Serbien, Griechenland und Montenegro schlossen sich im Jahre 1912 zum Balkanbund zusammen.98 Der Balkanbund griff im Ersten Balkankrieg das Osmanische Reich an. Ziel dieses Angriffs war die Eroberung des türkischen Makedoniens. Das Osmanische Reich musste als Verlierer den Großteil seines europäischen Gebietes abtreten. Wegen eines Streits um die Aufteilung Makedoniens begann Bulgarien, das die Hauptlast des ersten Krieges getragen hatte, im Jahre 1913 den Zweiten Balkankrieg gegen Serbien und Griechenland. Im Frieden von Bukarest vom 10. August 191399 verlor Bulgarien die zuvor gewonnenen Gebiete, mit Ausnahme von Westthrakien und musste die südliche Dobrudscha an Rumänien abtreten. Makedonien kam größtenteils an Serbien und Griechenland, Adrianopel (heute Edirne) zurück an das Osmanische Reich.100 Nach der Abkehr von der Entente näherte sich Bulgarien ab September 1915 dem Deutschen Reich an und nahm an der Seite der Zentralmächte am Ersten Weltkrieg teil.101 Die Kriegsziele Bulgariens wurden im Bündnisvertrag des Deutschen Reiches mit Bulgarien vom 6. September 1915 festgehalten.102 Ein Geheimabkommen, das man zusätzlich zum Bündnisvertrag schloss, enthielt territoriale Bestimmungen zur Vergrößerung Bulgariens.103 Damit wollte sich Bulgarien für die Gebietsverluste vom Sommer 1913 revanchieren und zumin95

Vgl. C. A. Macartney (Anm. 70), Hungary and her Successors, S. 1 f. Vgl. C. A. Macartney (Anm. 70), Hungary and her Successors, S. 480. 97 Vgl. C. A. Macartney (Anm. 70), Hungary and her Successors, S. 486. 98 Siehe hierzu K. J. Peeff, Balkanpakt und Balkanbund. Eine völkerrechtliche Studie, 1937; L. Trotzki, Die Balkankriege 1912 – 13, 1926, S. 81 ff. 99 Text: E. Bornemann, Der Frieden von Bukarest 1918, 1978, Anhang, S. 243 ff. 100 Vgl. H.-J. Härtel/R. Schönfeld, Bulgarien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 1998, S. 172 ff.; E. Bornemann (Anm. 99), Der Frieden von Bukarest, S. 73 ff. 101 Vgl. W. Bihl, Die Kaukasus-Politik der Mittelmächte, Bd. 1: Ihre Basis in der OrientPolitik und ihre Aktionen 1914 – 1917, 1975, S. 225. 102 Vgl. A. Despot, Amerikas Weg auf den Balkan zur Genese der Beziehungen zwischen den USA und Südosteuropa 1820 – 1920, 2010, S. 248; H.-J. Härtel/R. Schönfeld (Anm. 100), Bulgarien, S. 176. 103 In dem geheimen Vertrag waren die Kriegsziele Bulgariens beschrieben: Bulgarien bekam zahlreiche Gebiete zugesprochen, so etwa Gebiete Serbisch-Mazedoniens und Altserbiens bis zur Morava. 96

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dest einen Teil der Gebiete zurückerobern, die es im Zweiten Balkankrieg verloren hatte. Ab dem 15. September 1918 brach der Widerstand der bulgarischen Armee nach einem Durchbruch der Alliierten an der Salonikifront komplett zusammen, so dass die bulgarische Regierung um Waffenstillstand bat, der am 29. September in Thessaloniki unterzeichnet wurde.104 Der Erste Weltkrieg brachte Bulgarien als Verlierermacht erneut Verluste ein. b) Abschluss Der Vertrag von Neuilly-sur-Seine wurde zwischen dem Königreich Bulgarien auf der einen und den Vereinigten Staaten von Amerika, dem Vereinigten Königreich, Frankreich, Italien und Japan sowie weiteren mit diesen Hauptmächten alliierten Staaten auf der anderen Seite am 27. November 1919 abgeschlossen.105 Polen, China, Kuba und die USA unterzeichneten den Vertrag nicht.106 c) Inhalt und Rechtsfolgen Bulgarien musste nach den Bestimmungen des Vertrages zahlreiche Gebiete abtreten. Westthrakien mit der Hafenstadt Dedeagatsch (heute Alexandroupoli) kam unter die Administration der Siegermächte. Bulgarien verlor dadurch den Zugang zur Ägäis an Griechenland. Zaribrod (heute Dimitrovgrad in Serbien), ein paar Ortschaften entlang des Timok-Flusses und Strumiza (sogenannte Bulgarische Westgebiete) kamen an das neu gegründete Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, welches Bulgarien gleichzeitig auch anerkennen musste. Diese Gebietsabtretungen hatten zur Folge, dass die im Frieden von Bukarest festgelegte rumänisch-bulgarische Grenze von 1913 wiederhergestellt wurde. Infolge des Vertrages von Neuilly ging Bulgariens Staatsgebiet von 113.920 km2 auf 103.146 km2 zurück, so dass die territorialen Verluste vergleichsweise zu den anderen Friedensverträgen eher gering waren.107 Weiterhin musste Bulgarien Reparationen in Höhe von 400 Millionen Dollar leisten und die Armee auf 20.000 Mann beschränken.108 Obwohl Bulgarien infolge des Friedensvertrages keine erheblichen Gebietsverluste erlitt, waren auch für Bulgarien die Folgen des Ersten Weltkriegs verheerend. Die Wirtschaft des Lan-

104 Vgl. G. Schulz (Anm. 5), Revolutionen und Friedensschlüsse, S. 158; H.-J. Härtel/ R. Schönfeld (Anm. 100), Bulgarien, S. 177 f. 105 Siehe zum Hintergrund des Vertragsabschlusses während der Konferenz: P. M. Petkov, The United States and Bulgaria in World War I, 1991, S. 123 ff. 106 Vgl. H. Scheuba-Lischka, in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 2, 1961, S. 582 f. 107 Vgl. R. J. Crampton, A Concise History of Bulgaria, 1997, S. 148. 108 Vgl. H. Scheuba-Lischka (Anm. 106), in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, S. 582 f.

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des kam praktisch zum Stillstand. In der Industrie herrschte ein Mangel an Rohstoffen und für den Handel fehlten dringend benötigte Transportmittel.109 5. Der Vertrag von Sèvres 1920 a) Vorgeschichte Das Osmanische Reich kämpfte auf Grundlage des geheimen Deutsch-Türkischen Bündnisvertrages, der am 2. August 1914 geschlossen wurde, an der Seite der Mittelmächte. Das Geheimabkommen sah einen Kriegseintritt des Osmanischen Reiches an der Seite Deutschlands für den Fall von Feindseligkeiten mit Russland vor.110 Am 12. November 1914 erklärte die osmanische Regierung der Triple Entente formal den Krieg.111 Der Waffenstillstand von Mudros112, der am 30. Oktober 1918 unterzeichnet wurde, beendete die Feindseligkeiten zwischen dem Osmanischen Reich und der Entente am nahöstlichen Kriegsschauplatz des Ersten Weltkrieges.113 Große Gebiete des Osmanischen Reiches wurden unter den Siegermächten „aufgeteilt“.114 Auf diese Weise gewann auch Griechenland eine kurze Zeit währende Oberhand über das Osmanische Reich. Die Osmanen mussten auf ihr gesamtes Reich mit Ausnahme Anatoliens verzichten und alle ihre Stellungen in Hedschas, Jemen, Syrien, Mesopotamien, Tripolitanien und Cyrene aufgeben. Im Gegensatz zu den anderen Verträgen dauerten die Friedensverhandlungen mit dem Osmanischen Reich mehr als 16 Monate, weitere vier Monate vergingen bis zur Vertragsunterzeichnung. Auf diese Weise hatten die Türken die Möglichkeit, sich zu sammeln und Widerstand gegen das aufgezwungene „Friedensdiktat“ zu leisten. b) Abschluss Der Vertrag von Sèvres wurde durch Bevollmächtigte des osmanischen Sultans Mehmed VI. und der osmanischen Regierung unter Großwesir Damad Ferid Pascha unter heftigem Protest am 10. August 1920 unterzeichnet.115 Die Ratifizierung des 109

H.-J. Härtel/R. Schönfeld (Anm. 100), Bulgarien, S. 179. Vgl. A. Emin, Turkey in the World War, 1930, S. 67 f. 111 Vgl. F. G. Weber, Eagles on the Crescent. Germany, Austria, and the Diplomacy of the Turkish Alliance 1914 – 1918, 1970, S. 5 ff. 112 Text: C. M. Parry, Consolidated Treaty Series, Bd. 224 (1918 – 1919), S. 169 ff.; P. C. Helmreich, From Paris to Sèvres. The Partition of the Ottoman Empire at the Peace Conference of 1919 – 1920, 1974, Anhang A. 113 Vgl. G. Schulz (Anm. 5), Revolutionen und Friedensschlüsse, S. 159. 114 Zum Ende des Osmanischen Reiches siehe: M. MacMillan (Anm. 11), Die Friedensmacher, S. 485 ff. Zur Geschichte des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg siehe: P. M. Holt, Egypt and the Fertile Crescent 1516 – 1922, 1966, S. 262 ff. 115 Vgl. G. Schulz (Anm. 5), Revolutionen und Friedensschlüsse, S. 256 f.; P. C. Helmreich (Anm. 112), From Paris to Sèvres, S. 320 f. Siehe zur Lösung der orientalischen Frage 110

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Vertrags erfolgte aufgrund des Untergangs des Osmanischen Reiches und des Sturzes des letzten Sultans nicht mehr. Der Vertrag wurde zudem von der Nationalbewegung unter General Mustafa Kemal, genannt Atatürk, und der Bevölkerung der Türkei abgelehnt.116 c) Inhalt Der Vertrag von Sèvres ging mit seinen äußerst harten Bedingungen weit über das Maß des Vertrages von Versailles hinaus. Der Vertrag von Versailles schwächte das Deutsche Reich, aber der Vertrag von Sèvres stellte insgesamt die Existenz eines unabhängigen türkischen Staates in Frage. Die harten Bedingungen des Vertrags von Sèvres hatten mehrere Gründe, darunter der Völkermord an den Armeniern, die Erinnerung der Alliierten an die verlustreiche Dardanellenschlacht von 1915117, das Bestreben der Siegermächte, das Osmanische Reich aufzuteilen und das jahrhundertelange Vorhaben, die Türken aus Europa zu verdrängen. Wie die vorherigen Verträge enthielt auch der Vertrag von Sèvres in seinem ersten Teil die Völkerbundsatzung. Die neuen Grenzen der Türkei wurden in den Art. 27 bis 35 bestimmt. Sie folgten bestenfalls oberflächlich ethnographischen Gesichtspunkten und waren vorrangig an militärstrategischen Gesichtspunkten orientiert. Durch den Vertrag von Sèvres hätte das Osmanische Reich einen Großteil seines Territoriums verloren. In seinem dritten Teil (Art. 62 bis 64) regelte der Vertrag, dass der kurdischen Bevölkerung eine autonome Region118 innerhalb des Osmanischen Reiches zugesprochen werden sollte. Art. 64 enthielt darüber hinaus an die Kurden das Versprechen eines eigenen Staates, das allerdings nie verwirklicht werden sollte. Voraussetzung für die Errichtung eines eigenen Staates war, dass die Kurden innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten des Vertrages dem Völkerbund nachweisen sollten, dass die Mehrheit eine Unabhängigkeit von der Türkei möchte. Der Völkerbund hätte sodann entschieden, ob die kurdische Bevölkerung für eine Unabhängigkeit bereit ist. Bereits die Erfüllung dieser Bedingung war utopisch, weil die kurdische Bevölkerung es wohl niemals geschafft hätte, innerhalb eines Jahres eine legitime Vertretung an den Völkerbund zu entsenden. Ostthrakien (mit Ausnahme von Istanbul und seiner unmittelbaren Umgebung) sollte an Griechenland abgetreten werden (Art. 84 bis 87).119 Smyrna (Izmir) und das umliegende Gebiet wurden bei fortbestehender nomineller osmanischer Souveränität verwaltungsmäßig unter einem lokalen Parlament vom osmanischen Staat abW. Baumgart, Vom europäischen Konzert zum Völkerbund. Friedensschlüsse und Friedenssicherung von Wien bis Versailles, 1974, S. 56 ff. 116 Vgl. P. C. Helmreich (Anm. 112), From Paris to Sèvres, S. 315. 117 Siehe hierzu W. Bihl (Anm. 101), Die Kaukasus-Politik der Mittelmächte, S. 225 f. 118 Art. 62 bezog sich dabei auf diejenigen Gebiete mit einem dominierenden kurdischen Volkstum. 119 Westthrakien hatte Bulgarien im Vertrag von Neuilly-sur-Seine abtreten müssen.

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getrennt und griechischer Verwaltung und Besatzung unterstellt. Faktisch stand das Gebiet demzufolge unter der Gebietshoheit Griechenlands. Nach einer fünfjährigen Übergangszeit sollte sich die Möglichkeit einer Vereinigung mit dem Königreich Griechenland eröffnen, wenn die Mehrheit des Lokalparlamentes sich dafür aussprach. Das Königreich Hedschas120 wurde als neuer souveräner arabischer Staat anerkannt. Das Osmanische Reich verpflichtete sich auf alle Rechte und Titel in Hedschas zu verzichten, womit auch der Verlust der Heiligen Stätten Mekka und Medina einherging (Art. 98). In Art. 88 des Vertrages verpflichtete sich das Osmanische Reich, Armenien, wie es die alliierten Mächte getan haben, als einen freien und unabhängigen Staat anzuerkennen. In den Art. 94 bis 97 wurde geregelt, dass aus Syrien, Mesopotamien und Palästina jeweils Völkerbundmandate gebildet werden sollten, die schon vorab informell untereinander aufgeteilt wurden. Die Annexion Zyperns, die die britische Regierung gleichzeitig mit der Kriegserklärung am 5. November 1914 proklamiert hatte, wurde in Art. 115 des Vertrages de iure bestätigt. De facto war die Insel bereits seit dem Jahre 1878 im Wege einer Verwaltungszession in den britischen Machtbereich eingegliedert worden. Ebenfalls enthielt Art. 101 einen vollständigen Souveränitätsverzicht des Osmanischen Reiches auf Ägypten. Gleichzeitig wurde das britische Protektorat rückwirkend ab dem Zeitpunkt seiner Proklamation am 18. Dezember 1914 anerkannt. Die französischen Protektorate über Marokko und Tunesien wurden rückwirkend anerkannt (Art. 118 f.). Art. 121 enthielt den osmanischen Souveränitätsverzicht auf das italienische Protektorat über Libyen. Schließlich wurde in Art. 122 der formelle Verzicht des Osmanischen Reiches auf die seit dem Jahre 1912 von Italien besetzten Dodekanesinseln normiert. In den Folgeartikeln enthielt der Vertrag Bestimmungen zur Regelung der Staatsangehörigkeit, zum Schutz von Minderheiten, zur Verfolgung von Kriegsverbrechen, über die nahezu vollständige Auflösung der osmanischen Streitkräfte bis auf eine Ehrengarde des Sultans sowie Polizeikräfte, Demilitarisierung und Neutralisierung der Meerengen (Art. 37 bis 61). d) Bewertung Von allen Pariser Vorortverträgen hat sich der Vertrag von Sèvres als der zerbrechlichste erwiesen. Obwohl er niemals in Kraft getreten ist, ist er im kollektiven Gedächtnis der betroffenen Völker haften geblieben. Der Vertrag war nämlich mit lang ersehnten Hoffnungen und Vorstellungen verbunden.121 So hätte der im Vertrag geregelte Gebietszugewinn für die Griechen die Verwirklichung ihres Traums vom sogenannten „Griechenland der zwei Kontinente und fünf Meere“ bedeutet. Für Ar-

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Im Westen von Saudi Arabien gelegen. Zu den Zielen der Siegermächte siehe P. C. Helmreich (Anm. 112), From Paris to Sèvres, S. 10 ff. 121

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menier und Kurden hätte er die nationale Selbstverwirklichung bedeutet. Für die Türken steht der Vertrag hingegen mit ihrer nationalen Demütigung in Verbindung.122 e) Entwicklungen bis zum Vertrag von Lausanne Die Unterzeichnung des Vertrags von Sèvres durch seine Bevollmächtigten führte zu einer nachhaltigen Erschütterung des Ansehens und der Autorität des Sultans bei der türkischen Bevölkerung und legte den Grundstein für die spätere Abschaffung der Monarchie. Aufgrund der fehlenden Ratifizierung des Vertrags von Sèvres durch die Türken und der griechischen Expansionspläne beschloss die griechische Regierung, gegen das kriegsgeschwächte Osmanische Reich einen Feldzug zu starten. Ziel war die Annexion von Gebieten in Westanatolien und Thrakien mit hohen griechischen Bevölkerungsanteilen. Aber auch Konstantinopel (heute ˙Istanbul) sollte erobert werden. Die Belagerung durch griechische Truppen begann am 15. Mai 1919 in Smyrna. Zunächst waren die griechischen Soldaten siegreich. Parallel zu den militärischen Ereignissen wurden ab dem Jahre 1920 Anstrengungen zur Gründung der Großen Nationalversammlung in Ankara unternommen. Nach der Gründung der Nationalversammlung in Ankara am 23. April 1920 gab es im Land zwei verfeindete Regierungen: die de iure-Sultansregierung in Konstantinopel und die Widerstand leistende de facto-Regierung in Ankara. Dieser Zustand dauerte bis Ende des Jahres 1922. Mit der Unterzeichnung der Konvention von Ankara am 20. Oktober 1921 schied Frankreich aus dem Kreis der Gegner der türkischen Nationalregierung in Ankara aus, wobei Frankreich ausdrücklich betonte, dass das Abkommen keine Bedeutung für eine de iure-Anerkennung der de facto-Regierung in Ankara habe. Die Türken starteten am 26. August 1922 mit ihrer militärischen Gegenoffensive. In der Schlacht von Dumlupinar am 30. August 1922 waren sie schließlich siegreich. In der Folge dieser Niederlage mussten sich alle griechischen Truppen aus Anatolien zurückziehen. Seit diesem Tag wird der 30. August jedes Jahr in der Türkei als „Tag des Sieges“ gefeiert. In Griechenland wurde die Niederlage gegen die Türken als „Kleinasiatische Katastrophe“ wahrgenommen, aus türkischer Sicht handelt es sich dagegen um einen Sieg im „Türkischen Befreiungskrieg“. Die Folgen des verlorenen Krieges waren schwerwiegend, es kam zu Zwangsumsiedlungen und Vertreibungen großen Ausmaßes auf beiden Seiten.123 Die damaligen Ereignisse bedeuten für viele Türken und Griechen bis heute ein Trauma und sind eine Hauptursache für die teils bis heute schwelenden Ressentiments zwischen beiden Völkern, etwa auf Zypern. 122

R. Banken (Anm. 1), Die Verträge von Sèvres 1920 und Lausanne 1923, S. 131. Vgl. O. Ytldirtm, Repräsentation und Realität: Historiografie, nationale Meistererzählungen und persönliche Erfahrungen des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausches von 1923, in: U. Brunnbauer/M. G. Esch/H. Sundhausen (Hrsg.), Definitionsmacht, Utopie, Vergeltung: „Ethnische Säuberungen“ im östlichen Europa des 20. Jahrhunderts, 2006, S. 49 ff. 123

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6. Der Vertrag von Lausanne 1923 a) Vorgeschichte Da die Türkei die Ratifikation des Vertrags von Sèvres verweigert hatte, fanden zur Lösung der türkischen Frage zwischen den Jahren 1921 und 1923 mehrere Konferenzen statt, die zum Friedensvertrag von Lausanne führten. Ausgangspunkt für den Friedensvertrag war der Waffenstillstand von Mudanya vom 11. Oktober 1922124, eine Vereinbarung zwischen der Türkei auf der einen und Italien, Frankreich und dem Vereinigten Königreich auf der anderen Seite, um die Kampfhandlungen an der Westfront des Türkischen Befreiungskrieges zu beenden.125 Griechenland stimmte dem Vertrag am 14. Oktober 1922 zu. Mit dem Waffenstillstand endete der Erste Weltkrieg auf dem orientalischen Kriegsschauplatz. Lloyd George bezeichnete den Waffenstillstand von Mudanya zudem als „Rücktritt von Sèvres“.126 Die Alliierten besetzten anschließend die Dardanellen und den Bosporus, schließlich auch Istanbul. Am 2. November 1922 erklärte die Große Nationalversammlung in Ankara das Sultanat für abgeschafft. Somit war die Nationalregierung erst kurz vor Beginn der Lausanner Friedenskonferenz, zu der ursprünglich beide Regierungen eingeladen waren, alleinige Macht im Land.127 b) Abschluss Der Friedensvertrag von Lausanne und seine 16 dazugehörigen Dokumente wurden am 24. Juli 1923 zwischen der Türkei sowie dem Vereinigten Königreich, Frankreich, Italien, Japan, Griechenland, Rumänien und dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen geschlossen. Tagungsort der Konferenz, die seit dem 20. November 1920 tagte, war das Chateau d‘Ouchy in Lausanne.128 Die Große Nationalversammlung der Türkei ratifizierte das Abkommen bereits am 23. August 1923, um den alliierten Truppenabzug so schnell wie möglich umzusetzen.129 c) Inhalt Mit dem Vertrag von Lausanne konnte die Türkei nach ihrem Sieg im GriechischTürkischen Krieg die Bestimmungen des Vertrags von Sèvres teilweise nach ihren Vorstellungen revidieren. Der Vertrag beendete formal den Kriegszustand, der zwischen der Türkei und den Alliierten seit dem 5. November 1914 und zwischen der Türkei und Rumänien sowie Griechenland seit den Jahren 1916/17 bestanden hatte. 124

Text: G. F. von Martens, Nouveau Recueil Géneral (3), Bd. 13. S. 336 ff. R. Banken (Anm. 1), Die Verträge von Sèvres 1920 und Lausanne 1923, S. 409. 126 D. Lloyd George, The Truth about the peace treaties, Bd. II, 1938, S. 879. 127 Vgl. R. Banken (Anm. 1), Die Verträge von Sèvres 1920 und Lausanne 1923, S. 413. 128 R. Banken (Anm. 1), Die Verträge von Sèvres 1920 und Lausanne 1923, S. 417 ff. 129 R. Banken (Anm. 1), Die Verträge von Sèvres 1920 und Lausanne 1923, S. 423 f.

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Bereits in der äußeren Form unterscheidet sich der Lausanner Vertrag von den Pariser Vorortverträgen. Der Lausanner Frieden war kein einheitlicher Vertrag, sondern bestand aus zahlreichen völkerrechtlichen Dokumenten. Ein weiterer Unterschied zu dem Vertrag von Sèvres ist, dass die Türkei an den Friedensverhandlungen beteiligt war. Im Mittelpunkt stand für die Türkei die Garantie der Unabhängigkeit ihres Staates. Neben dem eigentlichen Friedensvertrag sind die beiden Zusatzprotokolle von großer Bedeutung, darunter die Meerengenkonvention und das Abkommen über den griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch. Das Abkommen legalisierte die bereits vollzogene Vertreibung von Griechen bzw. Türken nachträglich. Die Zwangsumsiedlung betraf etwa 1,25 Millionen Griechen und 500.000 Türken. Die aktuellen Grenzen der Türkei und Griechenlands haben ihren Ursprung in diesem Vertrag. Der Vertrag sah vor, dass der Türkei Ost- und Südostanatolien (Ostanatolien war im Vertrag von Sèvres für Armenien vorgesehen gewesen), Ostthrakien (seitdem der europäische Teil der Türkei) sowie Izmir zugesprochen wurde. Griechenland behielt Westthrakien. Zudem stimmte die Türkei der vom Vereinigten Königreich am 5. November 1914 proklamierten Annexion Zyperns zu, das bis zu dieser Zustimmung formal türkisches Staatsgebiet war. Des Weiteren wurde die italienische Besetzung rund um Antalya revidiert. Im Gegenzug erkannte der türkische Staat die italienische Souveränität über den Dodekanes und Libyen an, die als Ergebnis des Osmanisch-Italienischen Krieges an Italien gefallen waren. Darüber hinaus enthielt der Vertrag die Entmilitarisierung der Meerengen (Bosporus und Dardanellen) und die freie Durchfahrt für Handelsschiffe jeder Nationalität. Die Errichtung einer entmilitarisierten Pufferzone in Thrakien war Gegenstand eines weiteren Zusatzabkommens. Die Entmilitarisierung der europäischen Grenzen der Türkei diente dem Ziel, die Gefahr einer erneuten feindlichen Auseinandersetzung zwischen Griechenland, Bulgarien und der Türkei zu minimieren. Die Lösung des Kurdenproblems schien zwar mit der Errichtung eines eigenen Staates möglich, wegen innerer Gegensätze kam es jedoch zu keiner gesamtkurdischen Einigung. d) Bewertung Der Vertrag von Lausanne gilt bis heute als einer der langlebigsten Friedensverträge der Neuzeit. Der Hauptgrund für diese Stabilität ist, dass er dem seinerseits aktuellen Kräfteverhältnis entsprach und von keiner Seite als Diktat empfunden wurde.130 Für die Türkei war der Vertrag von Lausanne ein großer diplomatischer Sieg, der die Erfolge des Türkischen Befreiungskriegs auf eine völkerrechtliche 130 Vgl. beispielsweise F. Berber, Das Diktat von Versailles: Entstehung – Inhalt – Zerfall, eine Darstellung in Dokumenten, Essen 1939.

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Grundlage stellte. Die Türken erreichten durch den Vertrag ihr Ziel eines vollständig souveränen Staates. Die Entmilitarisierung der europäischen Grenzen der Türkei war ein großer Fortschritt im Kriegsvorbeugungsrecht. Erst im Jahre 1938, als sich Griechenland, Bulgarien und die Türkei von Italien bedroht sahen, einigten sie sich über die Aufhebung des Abkommens über die entmilitarisierte Pufferzone. Bis heute geblieben sind allerdings die Kurdenfrage, die zwischenstaatlichen Antipathien zwischen Griechen und Türken und die Uneinigkeit über den Status von Zypern, die der Vertrag nicht zu lösen vermochte. III. Fazit zum „System von Versailles“ Die Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg vermochten keine dauernde Friedensordnung zu schaffen. Sie haben zwar die politische Umgestaltung der Welt, die mit dem Weltkrieg begann, weitergeführt, aber sie erreichten keinen dauernden Ruhezustand. Die großen Bewegungen, die das gesamte Zeitalter durchzogen, waren nicht zum Stillstand gekommen. Die Sieger des Ersten Weltkriegs wollten eine dauerhafte Friedensordnung schaffen. Stattdessen vertieften sie die Spaltung Europas und legten so den Grundstein für den nächsten großen Krieg. Problematisch war insbesondere, dass die eigentliche Zielsetzung der Friedenskonferenz, nämlich die eines politischen Ausgleichs in Europa, nicht ausreichend umgesetzt werden konnte. Eine zentrale Ursache für das Scheitern der ursprünglichen Ziele der Pariser Friedenskonferenz war, dass die Vertragsverhandlungen stark von einem moralischen Element geprägt waren und daher die erforderliche Nüchternheit fehlte. Im Vordergrund einer zufriedenstellenden Friedensordnung stand die Bestrafung der Mittelmächte als Kriegsverursacher. Die Aggressoren sollten auf unterschiedliche Weise für ihr Handeln bezahlen. Die Schuld sollte nicht nur mit dem Verlust von Territorium, sondern auch mit hohen Reparationssummen beglichen werden. Der Fokus seitens der Siegermächte lag dabei auf dem Deutschen Reich, als dem „Hauptaggressor“, den es derart zu schwächen galt, damit er nicht mehr in der Lage wäre, erneutes Übel und Leid über Europa zu bringen. Bewirkt wurde hiermit das Gegenteil, denn es gibt nichts Schlimmeres als das kollektive Gefühl der Ungerechtigkeit, dem Wut und Rache folgen. Das Ergebnis der Pariser Friedensverhandlungen lastete nämlich im Bewusstsein vieler Deutscher als eine schwere Hypothek auf dem Gebäude der Weimarer Republik. Dies ist auch der Grund, warum in Deutschland der Nachkriegsjahre der Friedensvertrag mit dem Begriff „Diktat von Versailles“ gebrandmarkt wurde. Die deutsche öffentliche Meinung war sich einig, dass der Vertrag zu „harte“ Folgen für Deutschland hatte. In der Kritik standen die Größe und die Schwere der territorialen Verluste sowie die militärischen, finanziellen und wirtschaftlichen Belastungen. Die Proteste gegen die Friedensverträge wurden damit begründet, dass die Verträge im Widerspruch zu Wilson’s Vierzehn Punkten stehen würden und die Lasten

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untragbar seien.131 Die Nationalsozialisten nutzten diese Grundstimmung. Ein folgenschwerer Fehler der Alliierten war insbesondere, dass sie erst im Jahre 1932 einem Ende der deutschen Reparationszahlungen zustimmten. Zu diesem Zeitpunkt war die Weimarer Republik bereits an ihrem Tiefpunkt angelangt. Aber nicht nur in Deutschland war das System der Pariser Vorortverträge umstritten. Die anderen unterlegenen Staaten, Österreich, Ungarn, Bulgarien und die Türkei, waren ebenfalls um Revision ihrer Friedensverträge bemüht. Am erfolgreichsten war dabei die Türkei, die mit dem Lausanner Vertrag günstigere Vertragsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf ihr Staatsgebiet, aushandeln konnte. Es kann konstatiert werden, dass keiner der Pariser Vorortverträge seine Ziele erreichte. Vielmehr führten die Verträge wiederum zu neuen Konflikten und damit zu dauerhaften Unruhen in Europa. Obwohl das Selbstbestimmungsrecht der Völker immer wieder in den Mittelpunkt der Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg gerückt wurde, verdeutlichen die territorialen Bestimmungen in den Verträgen, dass dieser Grundsatz überwiegend nicht eingehalten wurde. Stattdessen verursachten sie Flucht und Vertreibung von Millionen Menschen, die nach den neuen Grenzziehungen auf fremdem Staatsgebiet leben mussten. So führte etwa der Vertrag von Trianon zu mehr ethnischen Konflikten, als er beseitigte. * Abstract Adrianna A. Michel: Peace Treaties after World War I. Development – Conclusion – Legal Effect (Die Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg. Entstehung – Abschluss – Rechtswirkung), in: World War I and its Consequences for the Coexistence of Peoples in Central and Eastern Central Europe (Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa), ed. by Gilbert H. Gornig, Hans-Detlef Horn, Adrianna A. Michel (Berlin 2017), pp. 55 – 85. The Paris Peace Conference from January 2, 1919 to August 10, 1920 constituted the fourth big international state conference after 1648 (Münster and Osnabrück), 1713 (Utrecht) and 1815 (Vienna), which dealt with a comprehensive political reorganisation, not only of the European, but also of the global map. Those having participated in the war concluded a respective ceasefire agreement with Austria-Hungary on November 3, 1919 and with the German Reich on November 11, 1919. Although the actions in World War I thus ended, the state of war, hence the formal situation, remained. Only the peace treaty signed in Versailles on June 28, 1919 ended the state of war between the Allies of World War I and the German Reich. Thus, World War I also ended from the perspective of international law. At the same time, the Treaty of Versailles was considered to be the founding act of the League of Nations. Apart from the Treaty of Versailles, concluded with the German Reich on June 28, 1919, the Allies and associated victorious powers negotiated and 131

Vgl. J. L. Kunz (Anm. 17), Die Revision der Pariser Friedensverträge, S. 6.

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concluded further treaties with the main allies of the German Reich and Austria-Hungary as well as with the Ottoman Empire and Bulgaria. These treaties also include the Treaty of Saint-Germaine-en-Laye with Austria (thereafter the Austrian Republic) dated September 10, 1919, the Treaty of Neuilly-sur-Seine with Bulgaria dated November 27, 1919, the Trianon Treaty with Hungary dated June 4, 1920 and the Treaty of Sèvres with the Ottoman Empire dated August 10, 1920. In the history of international law the Treaty of Versailles is of particular importance. It was not only intended to be a mere peace treaty in a stricter sense, but also to serve as international treaty of a new world order. In the framework of the Paris Suburb Contracts, the Treaty of Versailles was of particular relevance as it served as model contract for the other peace treaties. The inclusion of the statute of the League of Nations as first part confirms the comprehensive objective of political reorganisation. The term “reparations”, not only as a means of economic reconstruction, but also as a moral compensation for the “guilt” of the German Reich, became the leitmotif of a definite European peace for the first time. Furthermore, the Treaty of Versailles contains important approaches concerning the development of modern international law, which were not even recognised under customary law at that time. These include the aggression prohibition, determined in Art. 231 et. seqq. of the Treaty of Versailles, the prohibition of war of aggression only subsequently contained by the statute of the League of Nations. The principle of self-determination of peoples – especially the provisions concerning plebiscites – serves as another example, this principle, as already explained, not ranking among cogent international law. Among all Paris Suburb Contracts the Treaty of Sèvres proved to be the most fragile. Even though the Treaty never entered into force, it remained in the collective memory of the peoples concerned. For long-awaited hopes and ideas were tied to this treaty. The gain of territory regulated by the Treaty would have meant the realisation of the Greeks’ dream of the so-called “Greece of the two continents and five seas”. For the Armenians and the Kurds the treaty would have meant a national self-realisation. The Turks however associate national humiliation with the Treaty. Despite the Allies’ efforts, the peace treaties did not establish a lasting peace order after World War I. Even though continuing the transformation of the world, which commenced with the world war, they did not create a lasting state of pacification. The contract negotiations were heavily marked by a moral element and thus by a lacking but necessary sobriety. This was a central cause for the failure to achieve the original objectives of the Paris Peace Conference. The punishment of the Central Powers as originators of the war was paramount for an acceptable peace order. Not only the loss of territories, but also the payment of heavy reparations should satisfy their debts. Namely, the result of the Paris Peace Conference laid heavily on many Germans’ awareness as a considerable burden on the building of the Weimar Republic. This is the reason why the Treaty was stigmatised as “dictate of Versailles” in post-war Germany. The German public agreed that the consequences of the Treaty for Germany were too “harsh”. The extent and the severity of the territorial losses as well as the military, financial and economic burdens were criticised. But not only in Germany the system of Versailles was contentious. The other defeated states – Austria, Hungary, Bulgaria and Turkey – were eager to revise their peace treaties as well. Here, Turkey was most successful, which was able to negotiate more favourable terms by concluding the Lausanne Treaty. The National Socialists took advantage of this prevailing mood of the Ger-

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mans to assert their claim to power. Thus, the Treaty of Versailles can be seen as an important reason for World War II. Summarising, it can be stated that none of the Paris Suburb Contracts achieved their goal. Rather they led to new conflicts and thus to permanent turmoil in Europe. Although the peace negotiations focused on the self-determination of the peoples again and again after World War I, the territorial provisions of the treaties illustrate that this principle, to a great extent, was not complied with. Rather, they caused the flight and displacement of millions of people who had to live on foreign territory in accordance with the new demarcation.

Nord-Schleswig bei den Versailler Friedensverhandlungen Von Holger Kremser I. Einführung Das Schicksal von Nord-Schleswig im Gefolge des Versailler Vertrags ist ohne geschichtliche Grundkenntnisse über Schleswig-Holstein nicht zu verstehen. Historisch betrachtet ist der Untersuchungsgegenstand Nord-Schleswig, wie man schon an dem Bindestrichwort erkennen kann, eine künstlich geschaffene Entität. Das Gebiet Nord-Schleswig wurde aufgrund einer friedensvertraglich geschuldeten Volksabstimmung an Dänemark abgetreten. Bis 1920 war Nord-Schleswig ein Teil des alten Schleswig-Holsteins, das der Staats- und Völkerrechtlicher Herbert Krüger1 aufgrund seiner staats- und völkerrechtlichen Komplexität als ein „Monstrum“ bezeichnete. Neben der Deutschen Frage hatte auch „The Schleswig-Holstein Question“2 bzw. „La question du Slesvig“3 während eines langen Zeitraums eine sehr beachtliche internationale Relevanz. Der britische Kriegsminister, Außenminister und Premierminister Lord Palmerston äußerste sich wie folgt zur komplizierten Schleswig-Holstein Frage: „Nur drei Leute haben wirklich die Schleswig-Holstein Frage richtig verstanden, nämlich Prinz Albert, der verstorben ist, ein deutscher Professor, der verrückt wurde und ich, der alles darüber vergessen hat“.4 Damit all dies nicht eintritt, soll die geschichtliche Entwicklung von Schleswig-Holstein im Folgenden durch eine starke Konzentration auf das Wesentliche beleuchtet werden.

1 H. Krüger, Schleswig-Holstein, in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, 3. Bd., 2 Aufl. 1962, S. 210. 2 L. D. Steefel, The Schleswig-Holstein Question, 1932. 3 P. Verrier, La question du Slesvig, 1919. 4 Quellen: L. Strachey, Queen Victoria, 1921; C. Eskildsen, Die schleswigsche Grenzfrage in zeitgemäßer Beleuchtung, 1939 (Kopenhagen), S. 118; H. Hecker, Schleswig und die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts und Minderheitenschutzes, 1948 und 1995, S. 17; Schleswig-Holstein, Du dräuende Schönheit, Die Welt v. 18. 7. 2009.

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II. Geschichtliche Entwicklung Schleswig-Holsteins von 1460 bis zum Ersten Weltkrieg Die Landstände von Holstein und Schleswig wählten am 5. März 1460 in Ripen (dänisch Ribe) König Christian I. von Dänemark zum gemeinsamen Landesherrn.5 Dies geschah, weil Herzog Adolf VIII., zugleich Graf von Holstein und Storman sowie Herzog von Schleswig, keinen unmittelbaren Erben hinterließ, der Herrschaftsrechte in beiden Gebieten beanspruchen konnte.6 Der Vertrag von Ripen enthält die Zusage, dass Schleswig und Holstein für immer ungeteilt („Up ewig ungedeelt“) bleiben sollen. Holstein blieb ein deutsches und Schleswig ein dänisches Lehen.7 Auch nach der „tapferen Verbesserung“ vom 4. April 1460 sollen Schleswig und Holstein ewig ungeteilt bleiben („dat se bliven ewig tosamende ungedelt“). Staatsrechtlich bildeten Schleswig und Holstein aufgrund des „Riepener Privilegs“8 eine Realunion.9 Mit der dänischen Krone war die Realunion Schleswig und Holstein in Personalunion mit Dänemark verbunden.10 Der König von Dänemark war als Herzog von Schleswig und Holstein (letzteres wurde 1474 ebenfalls ein Herzogtum11) für das Reichsfürstentum Holstein Mitglied des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation.12 Entsprechend galt das auch für den Deutschen Bund. Im Jahr 1848 dekretierte Dänemark unter Verletzung der Vertragspflicht „Up ewig ungedeelt“ die Einverleibung Schleswigs in den dänischen Staatskörper, was auf deutscher Seite zu der Forderung führte, Schleswig in den Deutschen Bund aufzunehmen.13 Es kam in der Folgezeit zu einem Konflikt zwischen den Staaten Dänemark einerseits und dem Deutschen Bund, Österreich, Preußen und weiteren Bundesstaaten andererseits. Zudem griffen später auch das Vereinigte Königreich, Russland und Schweden ein.14 Durch das Zweite Londoner Protokoll von 1852 verpflichtete sich Dänemark, den staats- und verfassungsrechtlichen Sonderstatus von Schleswig und Holstein zu respektieren.15 Im November 1863 verkündete der neu im Amt be5

H. Hecker, Schleswig und die Entwicklung (Anm. 4), S. 19. R. Bohn, Geschichte Schleswig-Holsteins, 2006, S. 39. 7 H. Hecker, Schleswig und die Entwicklung (Anm. 4), S. 19. 8 D.-E. Khan, Die deutschen Staatsgrenzen, 2004, S. 352. 9 H. Krüger, Schleswig-Holstein (Anm. 1), S. 210. 10 Das entspricht zumindest der ganz herrschenden Meinung, so auch H. Hecker, Schleswig und die Entwicklung (Anm. 4), S. 19; D.-E. Khan, Staatsgrenzen (Anm. 8), S. 352; H. Krüger, Schleswig-Holstein (Anm. 1), S. 210; Hoog beschreibt demgegenüber das Verhältnis zwischen den Herzogtümern Schleswig und Holstein einerseits und Dänemark andererseits als das eines gegliederten Gesamtstaates, G. Hoog, AVR 1996, 482 (483). Er begründet dies damit, dass bis 1864 die holsteinischen und schleswigschen Schiffe die allgemeine Handelsflagge des dänischen Gesamtstaates führten, G. Hoog, Deutsches Flaggenrecht, 1982, S. 240. 11 D.-E. Khan, Staatsgrenzen (Anm. 8), S. 352. 12 H. Krüger, Schleswig-Holstein (Anm. 1), S. 210. 13 D.-E. Khan, Staatsgrenzen (Anm. 8), S. 357. 14 H. Krüger, Schleswig-Holstein (Anm. 1), S. 211. 15 D.-E. Khan, Staatsgrenzen (Anm. 8), S. 358. 6

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findliche dänische König Christian IX. unter dem Einfluss des dänischen Nationalismus eine umfassende Gesamtstaatsverfassung und die Inkorporierung Schleswigs in den dänischen Staat.16 Preußen und Österreich sahen darin einen Verstoß gegen die in London eingegangenen Verpflichtungen.17 Es kam zu einem Krieg zwischen Preußen und Österreich einerseits und Dänemark andererseits, der 1864 mit einer Niederlage Dänemarks endete. Dänemark trat im Wiener Frieden vom 30. Oktober 1864 seine Rechte an Schleswig und Holstein sowie Lauenburg an Österreich und Preußen gemeinsam ab. Daraufhin verwalteten Preußen und Österreich Schleswig-Holstein als völkerrechtliches Kondominium gemeinsam.18 In der Folgezeit nahmen die Verfeindungen zwischen Preußen und Österreich so stark zu, dass es 1866 zum österreichisch-preußischen Krieg kam. Im Prager Frieden vom 23. August 1866 übertrug Österreich seine Rechte an Schleswig und Holstein an Preußen, das sich die Herzogtümer 1867 einverleibte.19 Preußen erlangte durch den Prager Frieden die uneingeschränkte Souveränität an Schleswig und Holstein.20 In der Folgezeit gab es sowohl auf deutscher als auch auf dänischer Seite Pläne, Nord-Schleswig als Tauschobjekt zu benutzen.21 Die Äußerung Bismarcks, NordSchleswig könne einmal ein gutes Trinkgeld abgeben, ist allerdings nicht belegbar.22 III. Nord-Schleswig auf der Versailler Friedenskonferenz 1. Allgemeines Im Gefolge der militärischen Niederlage Deutschlands im Herbst 1918 setzte sich auch in Deutschland zögernd die Ansicht durch, dass die Regelung der nord-schleswigschen Grenzfrage aus der Zeit von 1864/66 nur provisorischen Charakter haben könne und dass eine Regelung unter Achtung des Selbstbestimmungsrechts der dänischen Bevölkerung gefunden werden müsse.23 Unter Hinweis auf den Kriegsverlauf und auf das von US-Präsident Woodrow Wilson im Februar 1918 proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker24 regte Deutschland im Oktober 1918 eine NordSchleswig Initiative an, und zwar mit dem Ziel, die Schleswig-Frage ausschließlich

16 H. Krüger, Schleswig-Holstein (Anm. 1), S. 211; M. Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2008, Rn. 1863. 17 H. Krüger, Schleswig-Holstein (Anm. 1), S. 211. 18 Ebenda. 19 Ebenda. 20 D.-E. Khan, Staatsgrenzen (Anm. 8), S. 364 Fn. 76. 21 H. Hecker, Schleswig und die Entwicklung (Anm. 4), S. 62. 22 So H. Hecker, Schleswig und die Entwicklung (Anm. 4), S. 62. 23 D.-E. Khan, Staatsgrenzen (Anm. 8), S. 380. 24 Siehe hierzu H. Hecker, Schleswig und die Entwicklung (Anm. 4), S. 71.

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zwischen Deutschland und Dänemark zu regeln.25 Dänemark und namentlich der nord-schleswigische Reichstagsabgeordnete Hansen erkannten allerdings zutreffend, dass die Verbindung der Schleswig-Frage mit den alliierten Friedenszielen auf der Versailler Friedenskonferenz und die Regelung der deutsch-dänischen Grenze im Rahmen des Versailler Vertrages für Dänemark im Vergleich zu einer bilateralen Regelung mit Deutschland einen Vorteil sichert.26 Der nord-schleswigsche Abgeordnete Hansen stellte die Nord-Schleswig-Frage auch in eine Verbindungslinie zur elsass-lothringischen und zur deutsch-polnischen Frage.27 Ende 1918 gründete sich der „Deutsche Ausschuss für das Herzogtum Schleswig“. Sein Ziel war die Vertretung der deutschen Interessen in Schleswig und die Lösung der Nord-SchleswigFrage im möglichst deutschen Interesse.28 Am 11. März 1919 protestierte der „Deutsche Ausschuss für das Herzogtum Schleswig“ „gegen jede Abtretung schleswigholsteinischen Bodens“ sowie gegen eine Abtretung im Wege des Selbstbestimmungsrechts der Völker in Schleswig, weil „die Voraussetzungen des Wilsonschen Programms dafür nicht vorliegen“.29 Zu dieser Schlussfolgerung gelangte der „Deutsche Ausschuss für das Herzogtum Schleswig“, weil er Schleswig als ein Mischgebiet ansah, das als wirtschaftliche und kulturelle Einheit nicht auseinander gerissen werden sollte.30 Wenn eine Volksabstimmung nicht zu vermeiden sei, sollte diese nach Ansicht des „Deutschen Ausschusses für das Herzogtum Schleswig“ im ganzen ehemaligen Herzogtum Schleswig durchgeführt werden.31 Falls die alliierten Siegermächte in Versailles eine Volksabstimmung auf Nord-Schleswig beschränken würden, sollte nach dem „Deutschen Ausschusses für das Herzogtum Schleswig“ gemeindeweise abgestimmt werden und die Abstimmung nur dann als für die Abtretung stimmend gezählt werden, wenn zwei Drittel für die Abtretung gestimmt hätten.32 Die Dänen und die nicht im „Deutschen Ausschuss für das Herzogtum Schleswig“ mitwirkende SPD33 forderten demgegenüber in Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts ein Recht auf Abstimmung für die Nord-Schleswiger.34 Dänemark war an den Friedensverhandlungen in Versailles hinsichtlich der SchleswigFrage ein Teilnahmerecht zugestanden worden, von dem es in umfassender Weise Gebrauch machte.35 Demgegenüber wurde Deutschland in das Konferenzgeschehen

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D.-E. Khan, Staatsgrenzen (Anm. 8), S. 381. Ebenda, S. 384. 27 Ebenda, S. 381 Fn. 144. 28 H. D. Lehmann, Der „Deutsche Ausschuss“ und die Abstimmung in Schleswig 1920, 1969, S. 302 ff. 29 Ebenda, S. 32. 30 H. Hecker, Schleswig und die Entwicklung (Anm. 4), S. 82. 31 H. D. Lehmann, Abstimmung in Schleswig (Anm. 28), S. 32. 32 Ebenda, S. 32 f. 33 Ebenda, S. 25. 34 H. Hecker, Schleswig und die Entwicklung (Anm. 4), S. 82. 35 D.-E. Khan, Staatsgrenzen (Anm. 8), S. 386. 26

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nicht einbezogen.36 Im Grunde genommen sind die Regelungen des Versailler Vertrags hinsichtlich der Schleswig-Frage – wie Ernst R. Huber37 zu Recht meint – ein „Frieden ohne Verhandlungen“. 2. Regelungen des Versailler Vertrags Der Versailler Friedensvertrag wurde am 28. Juni 1919 unterzeichnet. Die verfassunggebende deutsche Nationalversammlung erließ ein Zustimmungsgesetz zum Versailler Friedensvertrag, das am 16. Juli 1919 im Reichsgesetzblatt38 verkündet wurde. Völkervertraglich trat der Versailler Friedensvertrag erst mit dem Austausch der Ratifizierungsurkunden am 10. Januar 1920 in Kraft.39 Die Schleswig betreffenden Regelungen befinden sich im Abschnitt XII des Vertrags von Versailles. Es handelt sich um die Artikel 109 bis 114. Art. 109 Abs. 1 Versailler Vertrag regelt, dass die Grenze zwischen Deutschland und Dänemark „in Übereinstimmung mit dem Wunsche der Bevölkerung festgesetzt“ wird. Zusammengefasst kann man sagen, dass das Gebiet von der deutsch-dänischen Grenze bis zum Fluss Eider vom Versailler Vertrag als national strittig qualifiziert wurde.40 Das strittige Gebiet wurde in zwei Zonen aufgeteilt, nämlich Nord-Schleswig (1. Zone)41 und Mittel-Schleswig (2. Zone)42. Diese Regelung in Art. 109 Versailler Vertrag entspricht den Forderungen Dänemarks und ist wie Khan43 aufgrund seiner gründlichen Untersuchung zu den deutschen Staatsgrenzen zu Recht hervorhebt, eine machtpolitisch motivierte Entscheidung der Versailler Friedenskonferenz zu Lasten Deutschlands. Denn Art. 109 Versailler Friedensvertrag stellt keine dem Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts vollumfänglich Rechnung tragende Regelung dar.44 Sie berücksichtigt nicht, dass eine Bevölkerungsverschiebung in erster Linie die Städte und nicht den ländlichen Raum betraf.45 Ferner ordnete Art. 109 Versailler Vertrag an, dass mit dem Inkrafttreten des Vertrags „die deutschen Truppen und Behörden (einschließlich der Oberpräsidenten, Regierungspräsidenten, Landräte, Amtsvorsteher, Oberbürgermeister)“ das schleswigsche Abstimmungsgebiet zu räumen hatten. Die allgemeine Verwaltungsbefugnis wurde nach Art. 109 Versailler Vertrag einer internationalen 36

Ebenda. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, 1978, S. 1157 f., und auch D.-E. Khan, Staatsgrenzen (Anm. 8), S. 386. 38 RGBl. 1919, Nr. 140. 39 B. Schwensen/I. Adriansen, Von der deutschen Niederlage zur Teilung Schleswigs 1918 – 1920, 1995, S. 20. 40 H. Krüger, Schleswig-Holstein (Anm. 1), S. 211. 41 H. Hecker, Schleswig und die Entwicklung (Anm. 4), S. 106. 42 Ebenda, S. 107. 43 D.-E. Khan, Staatsgrenzen (Anm. 8), S. 390 f. 44 Ebenda, S. 390 unter Hinweis auf E. Hoffmann, Historische Voraussetzungen für die Herausbildung der heutigen deutsch-dänischen Staatsgrenze, in: ZSHG 106 (1981), 22 f. 45 E. Hoffmann (Anm. 44), S. 22 f. 37

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Kommission mit dem Namen „Commission Internationale de Surveillance du Plébiscite Slesvig“ – abgekürzt CIS – übertragen.46 Art. 109 Versailler Vertrag legt fest, wer an der Volksabstimmung in Schleswig teilnehmen durfte. Danach galten Personen als stimmberechtigt, die folgende Bedingungen erfüllten: Sie mussten am 10. Januar 1920 das 20. Lebensjahr vollendet haben. Ferner konnte nur abstimmen, wer im Abstimmungsgebiet geboren war oder dort vor dem 1. Januar 1900 Wohnsitz genommen hatte. Darüber hinaus waren auch diejenigen stimmberechtigt, die von deutschen Behörden ohne Beibehaltung des Wohnsitzes ausgewiesen worden waren.47 In Art. 111 Versailler Vertrag wurde festgelegt, dass ein Grenzausschuss mit Stimmenmehrheit die endgültige Grenzlinie zwischen Deutschland und Dänemark auf der Grundlage des Abstimmungsergebnisses bestimmt.48 Dem gemeinsamen Grenzausschuss gehörten Vertreter Dänemarks, Deutschlands, des Vereinigten Königreichs, Frankreichs, Italiens und Japans an.49 Nach Art. 111 Abs. 2 Satz 1 Versailler Vertrag konnte der gemeinsame Grenzausschuss mit einfacher Stimmenmehrheit entscheiden. „Seine Entscheidungen sind“ nach Art. 111 Abs. 2 Satz 2 Versailler Vertrag „für die Beteiligten bindend“. Art. 112 und Art. 113 Versailler Vertrag regeln die Staatsangehörigkeit hinsichtlich der Einwohner des an Dänemark zurückfallenden Gebietes. Diese Regelungen erlangten aufgrund der Volksabstimmungsergebnisse praktische Relevanz. IV. Die Volksabstimmungen von 1920 Die dem Versailler Vertrag geschuldeten Volksabstimmungen fanden 1920 statt. Den Auftakt bildete am 10. Februar 1920 die Volksabstimmung in der 1. Zone. Hier stimmten 74,2 % für Dänemark und 24,9 % für Deutschland.50 Bemerkenswert ist, dass bei dieser Abstimmung in den Städten Tondern, Apenrade, und Sonderburg und in dem Flecken Hoyer sowie in weiteren drei Dutzend nord-schleswigschen Gemeinden die Mehrheit für Deutschland stimmte.51 Gemäß Art. 109 Ziffer 3 Versailler Vertrag bestimmte sich allerdings das Wahlergebnis nach der Mehrheit der in der 1. Zone abgegebenen Stimmen. Zugespitzt formuliert waren die deutschen Mehrheiten in den zuvor genannten Städten und Gemeinden nach dem Versailler Vertrag als irrelevant anzusehen, weil die Stimmenmehrheit in der 1. Zone nicht gemeindeweise, sondern zonenweit en bloc zustande kommen musste. Deutschland konnte sich mit der Forderung nach der Aufrechterhaltung der deutschen Souveränität über die mehr-

46 Siehe hierzu: B. Schwensen/I. Adriansen (Anm. 39), S. 19 ff.; H. D. Lehmann, Abstimmung in Schleswig (Anm. 28), S. 221 ff. 47 B. Schwensen/I. Adriansen (Anm. 39), S. 28 und Fn. 55. 48 Ebenda, S. 65 ff. 49 K. Alnor, Handbuch zur schleswigschen Frage, Ergänzungsheft, 1934, S. 5. 50 H. Hecker, Schleswig und die Entwicklung (Anm. 4), S. 106. 51 B. Schwensen/I. Adriansen (Anm. 39), S. 34 f. m.w.N.

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heitlich für Deutschland abgestimmten Gebiete in der 1. Zone nicht durchsetzen.52 Aus heutiger Sicht wird gegen die deutsche Forderung nach der Berücksichtigung von 18.000 deutschen Stimmen im nördlichen Grenzgürtel – gemäß der TiedjeLinie nach dem deutschen Sachverständigen Johannes Tiedje – kritisch angemerkt, dass sie die ungleichmäßige Verteilung der deutschen Stimmen im sogenannten Tiedje-Gürtel nicht hinreichend beachtete.53 Am 14. März 1920 fand die Abstimmung in der 2. Zone statt; sie umfasste einen mittleren Streifen Schleswigs mit der Stadt Flensburg.54 In der 2. Zone wurde gemäß Art. 109 Ziffer 4 Versailler Vertrag das Abstimmungsergebnis gemeindeweise festgestellt. In Mittelschleswig stimmten 80,2 % für Deutschland und 19,8 % für Dänemark.55 In keiner Gemeinde stimmten über 50 % für Dänemark.56 Die Dänen richteten über 300 Protestschreiben an die Internationale Abstimmungskommission.57 Das französische Mitglied der Kommission machte sich die dänischen Argumente zu eigen.58 Der Vorsitzende der Internationalen Abstimmungskommission, der Brite Sir Charles Marling, bestritt allerdings die Berechtigung der dänischen Vorwürfe und vertrat die Ansicht, dass die Abstimmungsergebnisse „ziemlich wahrheitsentsprechend“ sind und dass Flensburg wirklich eine deutsche Stadt ist.59 V. Die Rechtsfolgen der Volksabstimmungen 1. Souveränitätswechsel Deutschland wurde durch Art. 110 Abs. 3 Versailler Vertrag verpflichtet, „endgültig zugunsten der alliierten Hauptmächte auf alle Souveränitätsrechte über die Gebiete Schleswigs zu verzichten, die … nördlich der festgesetzten Grenzlinie liegen“. Diese nördliche Grenzlinie wurde nach Art. 110 Abs. 1, 2. Halbsatz Versailler Vertrag unter Zugrundelegung des Volksabstimmungsergebnisses und unter der Berücksichtigung der „besonderen geographischen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Ortschaften“ festgelegt. Die endgültige rechtsverbindliche Grenzfestsetzung war nach Art. 110 Abs. 1, 1. Halbsatz Versailler Vertrag der Entscheidung der alli-

52 H. Hecker, Schleswig und die Entwicklung (Anm. 4), S. 106 f.; D.-E. Khan, Staatsgrenzen (Anm. 8), S. 392. 53 B. Schwensen/I. Adriansen (Anm. 39), S. 37. 54 E. Jäckel, Die Schleswig-Frage seit 1945: Dokumente zur Rechtsstellung der Minderheiten beiderseits der deutsch-dänischen Grenze, 1959, S. 11. 55 D.-E. Khan, Staatsgrenzen (Anm. 8), S. 392 Fn. 176; B. Schwensen/I. Adriansen (Anm. 39), S. 35. 56 H. Hecker, Schleswig und die Entwicklung (Anm. 4), S. 107. 57 H. D. Lehmann, Abstimmung in Schleswig (Anm. 28), S. 269. 58 Ebenda, S. 269 f. 59 Ebenda, S. 270, unter Hinweis auf British Documents X, Nr. 429, S. 595 – 597: Marling an Curzon am 2. 4. 1920.

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ierten und assoziierten Hauptmächte vorbehalten.60 Während der Zeit vom 16. Januar 1920 bis zum 15. Juni 1920 übte in Nord-Schleswig eine internationale Kommission die Hoheit aus.61 Die Ausübung der Souveränität durch eine internationale Kommission in Nord-Schleswig diente dazu, die Übergabe von Nord-Schleswig an Dänemark vorzubereiten.62 Dänemark konnte aufgrund der Abstimmung in Nord-Schleswig nach Art. 110 Abs. 3 Versailler Vertrag von den Alliierten verlangen, dass die Souveränität auf Dänemark im Wege einer Weiterzession übertragen wird.63 Dies geschah durch den am 5. Juli 1920 abgeschlossenen Zessionsvertrag zwischen Japan, Frankreich, Italien, dem Vereinigten Königreich und Dänemark.64 Die Souveränität hinsichtlich Nord-Schleswigs wurde mit Rückwirkung auf den 15. Juni 1920 auf Dänemark übertragen, um ein rechtliches Vakuum in den deutsch-dänischen Beziehungen zu verhindern.65 In Art. 2 des Zessionsvertrags66 verpflichtete sich Dänemark, das Gebiet Nord-Schleswig nur mit Zustimmung des Völkerbundrats abzutreten. 2. Verträge zwischen Deutschland und Dänemark a) Vorgeschichte und Allgemeines Die Einzelheiten des Übergangs der Souveränität hinsichtlich Nord-Schleswigs sollten an sich in einem Vertrag zwischen den Alliierten Dänemark und Deutschland geregelt werden. Dieses Vorhaben scheiterte allerdings.67 Folglich blieb nur der Weg bilateraler Verhandlungen und Verträge zwischen Dänemark und Deutschland, was im Interesse einer möglichst raschen Bereinigung der Beziehungen der beiden Staaten begrüßt wurde.68 Diese Verhandlungen führten am 10. April 1922 zum Abschluss des „Vertrags zwischen Deutschland und Dänemark, betreffend die Regelung der durch den Übergang der Staatshoheit in Nordschleswig auf Dänemark entstandenen Fragen“.69 Das Vertragswerk ist ein Mantelabkommen mit 18 Spezialverträgen und enthält überwiegend technische Vereinbarungen.

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D.-E. Khan, Staatsgrenzen (Anm. 8), S. 391. H. Hecker, Schleswig und die Entwicklung (Anm. 4), S. 109. 62 Ebenda. 63 D.-E. Khan, Staatsgrenzen (Anm. 8), S. 393. 64 H. Hecker, Schleswig und die Entwicklung (Anm. 4), S. 109; D.-E. Khan, Staatsgrenzen (Anm. 8), S. 393 f. 65 D.-E. Khan, Staatsgrenzen (Anm. 8), S. 393 f. 66 Abgedruckt in: H. Hecker, Schleswig und die Entwicklung (Anm. 4), S. 110. 67 K. Alnor, Handbuch (Anm. 49), S. 5. 68 Ebenda unter Hinweis auf H. Scavenius, Af de sidste Aars sönderjydske Politik, 1923, S. 83. 69 RGBl. 1922 II, S. 141 ff. 61

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b) Sicherstellung des Grenzzugs Das Spezialabkommen Nr. 1 des Mantelabkommens70 betrifft die Sicherstellung des Grenzverlaufs zwischen Deutschland und Dänemark und hat auch heute noch eine besondere praktische Bedeutung. Denn es legt fest, dass alle zehn Jahre (zuerst 1924) ein gemeinsamer „Grenzbegang“ durchzuführen ist.71 Die letzte Grenzbegehung war folglich 2014.72 c) Finanzielle Angelegenheiten Dänemark konnte Nord-Schleswig nach zähen und geschickten Verhandlungen durch die Zahlung einer Pauschalsumme in Höhe von 65 Millionen Goldmark schuldenfrei erwerben.73 Der dänische Unterhändler konnte am Ende der Verhandlungen in der Reparationskommission zu Recht darauf hinweisen, dass die zu zahlenden 65 Millionen Goldmark für Nord-Schleswig durch die übernommenen Aktiven voll gedeckt waren, weshalb keine Mittel in den dänischen Etat eingestellt werden mussten.74 d) Staatsangehörigkeitsverhältnisse Art. 112 Abs. 1 Versailler Vertrag enthält hinsichtlich der Staatsangehörigkeitsverhältnisse in Abtretungsgebieten an Dänemark folgende Regelung: Alle Einwohner des an Dänemark zurückfallenden Gebietes erwerben von Rechts wegen das dänische Bürgerrecht unter Verlust der deutschen Reichsangehörigkeit. Personen, die sich erst nach dem 1. Oktober 1918 in Nord-Schleswig niedergelassen hatten, konnten nur mit Genehmigung der dänischen Regierung das dänische Bürgerrecht erwerben. Gebürtige Nord-Schleswiger, die nicht durch Wohnsitz Dänen wurden, hatten nach Art. 113 Versailler Vertrag die Möglichkeit erhalten, für Dänemark zu optieren. Umgekehrt durften Deutsche, die von Rechts wegen Dänen geworden waren, für Deutschland optieren.75 Die zuvor genannten Regelungen entsprechen der Staatenpraxis bei Gebietsabtretungen in Europa. Sie waren allerdings bei den Verhandlungen in Versailles keineswegs selbstverständlich. Denn hinsichtlich der Bewohner in Elsass-Lothringen war es Deutschland nicht gelungen, ein gewünschtes Optionsrecht für die französische Staatsangehörigkeit durchzusetzen.

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RGBl. 1922 II, S. 146. Art. 3 Abs. 3 Grenzsicherungsabkommen. 72 D. Gauß, Die deutsch-dänische Grenze, Zeitschrift für Geodäsie, Geoinformation und Landmanagement 3/2009, 141, 146 (Vorschaubericht). 73 K. Alnor, Handbuch (Anm. 49), S. 31. 74 Ebenda, S. 32. 75 Ausführlich zum Wechsel der Staatsangehörigkeit und zum Optionsrecht Alnor, Handbuch (Anm. 49), S. 49 ff. 71

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VI. Schutz der deutschen Minderheit 1. Allgemeines Der Versailler Vertrag enthält keine Verpflichtung, wonach Dänemark rechtliche Regelungen zum Schutz der deutschen Minderheit in Nord-Schleswig erlassen muss. Bei den Versailler Friedensverhandlungen erklärte der dänische Gesandte Bernhoft, dass ein Minderheitenschutzvertrag hinsichtlich Nord-Schleswigs entbehrlich sei, weil die liberale dänische Gesetzgebung den besten Minderheitenschutz garantiere.76 Bei den Verhandlungen auf der Friedenskonferenz gaben die dänischen Delegierten folgende Erklärung ab: Die Delegierten sind sich darüber einig, dass die Vereinigung des dänischen Schleswig mit dem Königreich so vor sich gehen muss, dass alle zukünftigen Bürger des dänischen Staats nach denselben liberalen und demokratischen Grundsätzen behandelt werden und dieselben Rechte genießen. Daraus folgt, dass das natürliche Recht der deutschen Minderheit auf Gebrauch ihrer Sprache respektiert werden wird. Die Delegierten stellten vor allem fest, dass die freie Schule ein in der dänischen Gesetzgebung immer gewährleisteter Grundsatz ist.77 An diese Erklärung hielt sich Dänemark in der Folgezeit.78 Das dänische Nationalparlament (Folketing) bekannte sich im Jahr 1955 im Gefolge der Bonn-Kopenhagener Erklärungen noch einmal ausdrücklich dazu, dass sich die deutsche Minderheit zu ihrem Volkstum bekennen darf und dass die Angehörigen der deutschen Minderheit gleichberechtigte dänische Staatsbürger sind.79 Diese Erklärung hat zwar keine rechtliche, wohl aber eine politische Bindungswirkung. 2. Vertretung der deutschen Minderheit Ein effektives Mittel zur Wahrnehmung und Vertretung der Rechte einer nationalen Minderheit ist das Recht, eine politische Partei zu gründen, die die Interessen der Minderheit im parlamentarischen Raum vertritt. Die Schleswigsche Partei ist seit 1920 die politische Vertretung der deutschen Minderheit in Nord-Schleswig. Sie sichert auch heute noch nach ihrem Selbstverständnis die kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Interessen der deutschen Nord-Schleswiger, und zwar gegenüber den Kommunen, den Ämtern und gegenüber dem dänischen Nationalparlament (Folketing). Die Schleswigsche Partei ist in den Kommunalvertretungen der Gemeinden

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H. Hecker, Schleswig und die Entwicklung (Anm. 4), S. 136, unter Hinweis auf A. Tardieu, Le Slesvig et la Paix, 1928, S. 124. 77 K. Alnor, Handbuch (Anm. 49), S. 62 Fn. 1. 78 H. Hecker, Schleswig und die Entwicklung (Anm. 4), S. 136; B. Schwensen/I. Adriansen (Anm. 39), S. 70; siehe auch das Kopenhagener Protokoll vom 27. 10. 1949, in: E. Jäckel, Die Schleswig-Frage seit 1945 (Anm. 54), S. 70. 79 Dänische Bekanntmachung Nr. 24 vom 7. 6. 1955, eine deutsche Übersetzung ist abgedruckt in: E. Jäckel, Die Schleswig-Frage seit 1945 (Anm. 54), S. 75 f., und Bundesanzeiger Nr. 63 vom 31. 3. 1955, S. 5.

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Tondern, Aprenrade, Hadersleben und Sonderburg vertreten.80 Von 1920 bis 1943 und von 1953 bis 1964 war die Schleswigsche Partei trotz ihres Charakters als Regionalpartei mit einem Abgeordneten im Folketing vertreten.81 Dies ermöglichte eine besondere Regelung zugunsten von nationalen Minderheiten im dänischen Wahlrecht.82 Seit 1983 gibt es darüber hinaus ein staatlich gefördertes Sekretariat der deutschen Minderheit in Kopenhagen.83 3. Gebrauch der deutschen Sprache Hinsichtlich des Gebrauchs der deutschen Sprache bei den staatlichen Einrichtungen wurden Gesetze erlassen, die die größtmögliche Rücksicht auf die sprachlichen und die nationalen Verschiedenheiten in Nord-Schleswig nehmen.84 Im kirchlichen Bereich kam es zu der Gründung einer deutschen Freikirche, der „Nordschleswigschen Gemeinde“. Sie macht das kirchliche Leben der deutschen Minderheit in Nord-Schleswig von der dänischen Staatskirche unabhängig.85 In den Städten Aprenrade, Hadersleben, Sonderburg und Tondern gibt es deutschsprachige Geistliche der dänischen Volkskirche, die die deutsche Minderheit betreuen.86 4. Schulwesen In Nord-Schleswig gibt es für die 15.000 bis 20.000 Menschen starke deutsche Minderheit 15 deutsche Schulen, darunter ein deutsches Gymnasium in Apenrade mit einem Internat.87 Es handelt sich hierbei um Privatschulen, die vom dänischen Unterrichtsministerium anerkannt sind. 5. Zeitungswesen „Der Nordschleswiger“ ist der Name der deutschsprachigen Tageszeitung mit Hauptsitz in Apenrade und Lokalredaktionen in Hadersleben, Sonderburg, Tingleff und Tondern. „Der Nordschleswiger“ versteht sich als Sprachrohr der deutschen Minderheit und findet in den dänischen Medien und in der dänischen Öffentlichkeit große Beachtung.88 80

www.schleswigsche-partei.dk. Schleswigsche Partei – Nationales Parlament, in: Wikipedia-Enzyklopädie. 82 H. Hecker, Schleswig und die Entwicklung (Anm. 4), S. 156; E. Jäckel, Die SchleswigFrage seit 1945 (Anm. 54), S. 66. 83 Schleswigsche Partei – Vertretung der deutschen Minderheit, in: Wikipedia-Enzyklopädie. 84 K. Alnor, Handbuch (Anm. 49), S. 63 f. 85 Ebenda, S. 65 f. 86 Dänische Volkskirche – Deutschsprachige Gemeinden, in: Wikipedia-Enzyklopädie. 87 www.dssv.dk. 88 Der Nordschleswiger – Gegenwart, in: Wikipedia-Enzyklopädie. 81

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VII. Schlussbetrachtung Der Schutz der deutschen Minderheit in Nord-Schleswig ist vorbildlich. Die deutsche Minderheit in Nord-Schleswig besteht aus 15.000 bis 20.000 Menschen. Eine Gefahr für den Bestand dieser Minderheit könnte sich aus einem Bevölkerungsschwund ergeben. Ferner ist zu konstatieren, dass die jüngere Generation das kulturelle deutsche Angebot selbstverständlich gerne annimmt, aber möglicherweise kein hinreichendes Verständnis für eine politische Absicherung der Minderheitenrechte entwickelt.89 * Abstract Holger Kremser: North-Schleswig in the Peace Negotiations of Versailles (Nord-Schleswig bei den Versailler Friedensverhandlungen), in: World War I and its Consequences for the Coexistence of Peoples in Central and Eastern Central Europe (Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa), ed. by Gilbert H. Gornig and Adrianna A. Michel (Berlin 2017), pp. 87 – 98. The Versailles Peace Treaty of 1919 divided Schleswig into the zones of North Schleswig and Middle Schleswig with the city of Flensburg. In both zones the resident population was called upon to vote either for Germany or for Denmark. In North Schleswig 74.2 % voted for Denmark and 24.9 % for Germany. In Middle Schleswig 80.2 % voted for Germany and 19.8 % for Denmark. On the basis of the plebiscite the sovereignty in North Schleswig passed to Denmark in 1920. According to Article 110 section 1 of the Treaty of Versailles the victorious powers of the First World War were authorized to find a legally binding solution for the new German-Danish border. The German minority in North Schleswig enjoys a comprehensive and effective protection of minorities due to the liberal Danish legislation. In the Danish state church there are German-speaking pastors in North Schleswig. There is also a German free church in North Schleswig. The German schools in North Schleswig are recognized as private schools by the Danish Ministry of Education. As a German-language daily newspaper the “Nordschleswiger” is a medium of the German minority and is much respected by the Danish public.

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Deutsche Minderheit in Dänemark – Politik, in: Wikipedia-Enzyklopädie.

Elsass-Lothringen bei den Versailler Friedensverhandlungen Von Holger Kremser I. Geschichtliche Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg 1. Allgemeines Die heutigen Regionen Elsass und Lothringen sind allein schon aufgrund ihrer geographischen Lage von Einflüssen des germanischen und romanischen Kulturraums geprägt worden. Das Elsass wurde zunächst germanisiert und geriet seit der Neuzeit zunehmend unter französischen Einfluss. Namentlich nach dem Dreißigjährigen Krieg übernahm Frankreich die meisten elsässischen Territorien.1 Im Gefolge der Französischen Revolution wurde das Elsass ganz mit Frankreich verschmolzen.2 Lothringen wurde nach der Völkerwanderung von germanischen Stämmen erobert. Hier überlagerten sich germanische und romanische Einflüsse mit der Folge, dass es zu häufigen Teilungen und Wiedervereinigungen kam. Die Besitzverhältnisse änderten sich oft. 1766 gelangte Lothringen endgültig völkervertraglich abgesichert in französischen territorialen Besitzstand.3 Der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 endete mit dem Sieg der verbündeten deutschen Armeen am 2. September 1870 bei Sedan.4 Am 26. Februar 1871 wurde in Versailles ein Präliminarfrieden geschlossen, wonach Frankreich auf alle Ansprüche auf Lothringen mit Metz und das Elsass ohne Belfort verzichtete. Das Deutsche Reich sollte danach Elsass-Lothringen „für immer mit vollem Souveränitäts- und Eigentumsrechte besitzen“.5 Diese Verpflichtung wurde Bestandteil des am 10. Mai 1871 in Frankfurt/Main unterzeichneten Friedensvertrags, der am 20. Mai 1871 ratifiziert wurde.6 Dieser Vertrag legte den genauen Umfang der von Frankreich an das Deutsche Reich abgetretenen Gebiete fest.7 Faktisch standen das Elsass und

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Ausführlich hierzu: D.-E. Khan, Die deutschen Staatsgrenzen, 2004, S. 528 ff. En détail dargestellt in: D.-E. Khan, Staatsgrenzen (Anm. 1), S. 550 ff. 3 Ebenda, S. 518. 4 M. Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2008, Rn. 2006. 5 Ebenda, Rn. 2007 f. 6 Ebenda, Rn. 2009. 7 D.-E. Khan, Staatsgrenzen (Anm. 1), S. 66 Fn. 55. 2

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Lothringen bereits ab dem 14. August 1870 unter preußischer Verwaltung.8 Der Friedensvertag von Frankfurt/Main brachte nicht nur die völkerrechtliche Anerkennung der Abtretung von Elsass und Lothringen an Deutschland mit sich. Darüber hinaus hatte Frankreich das um die süddeutschen Staaten erweiterte Deutsche Reich, das bereits 1867 im Norddeutschen Bund Gestalt annahm, völkerrechtlich verbindlich anerkannt.9 Die wesensverschiedenen Territorien Elsass und Lothringen wurden im Deutschen Reich zu dem künstlichen Bindestrichland Elsass-Lothringen zusammengeführt.10 Diese Verbindung war aufgrund der unterschiedlichen historischen Entwicklungen von Elsass und Lothringen von Anfang an problematisch und wurde in der Nachschau als eine überaus willkürliche Verbindung qualifiziert.11 2. Die Eingliederung von Elsass-Lothringen in das Deutsche Reich Staatsrechtlich wurde Elsass-Lothringen erst am 28. Juni 187112 in das Deutsche Reich inkorporiert, und zwar durch das Gesetz betreffend die Vereinigung von Elsass und Lothringen mit dem Deutschen Reich.13 § 3 des zuvor genannten Gesetzes bestimmt: „Die Staatsgewalt in Elsass und Lothringen übt der Kaiser aus.“ Elsass-Lothringen erlangte somit nicht den Rechtsstatus eines autonomen Bundesstaates, sondern es wurde als „Reichsland“ in das Deutsche Reich eingegliedert. Das Motiv für die staatsrechtliche Sonderstellung von Elsass-Lothringen waren Zweifel hinsichtlich der Staatsloyalität der Bevölkerung des neu erworbenen Gebiets.14 Elsass-Lothringen war zwar als Reichsland ein integraler Bestandteil des Deutschen Reichs.15 Allerdings stand die Rechtsfigur des Reichslandes „in schroffem Widerspruch“ zur Reichsverfassung 1871, die das Deutsche Reich als einen Bundesstaat bestehend aus einzelnen Gliedstaaten konstituierte.16 Die Erwähnung von ElsassLothringen im Text der Reichsverfassung erfolgte erst mit dem Gesetz über die Verfassung Elsass-Lothringens vom 31. Mai 1911.17 40 Jahre war Elsass-Lothringen zumindest nach dem Text der Reichsverfassung ein Nullum.18 Denn erst durch den 1911 8

Ebenda, S. 66 Fn. 56. M. Kotulla, Verfassungsgeschichte (Anm. 4), Rn. 2009. 10 D.-E. Khan, Staatsgrenzen (Anm. 1), S. 519. 11 Ebenda. 12 D.-E. Khan, Staatsgrenzen (Anm. 1), S. 67. 13 RGBl. 1871, Nr. 25, S. 212. 14 R. Schwander/F. Jaffé, Die reichsländischen Regierungen und die Verfassung, in: G. Wolfram, Verfassung und Verwaltung von Elsass-Lothringen 1871 – 1918, 1936, S. 3. 15 So G. Meyer, Lehrbuch des Staatsrechts, 5. Aufl., 1899, S. 196. 16 So P. Laband, Deutsches Reichsstaatsrecht, 1912, S. 184, und ihm folgend D.-E. Khan, Staatsgrenzen (Anm. 1), S. 68. 17 M. Kotulla, Verfassungsgeschichte (Anm. 4), Rn. 2148. 18 So zu Recht M. Kotulla, a.a.O. 9

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neu eingefügten Art. 6a Reichsverfassung erhielt Elsass-Lothringen im Bundesrat Stimmen, die allerdings nicht in jedem Fall mitgezählt wurden, z. B. nicht bei Beschlussfassungen über Verfassungsänderungen (Art. 6a Abs. 2 Satz 2 Reichsverfassung). Immerhin hatte Elsass-Lothringen ab 1911 ein eigenes Parlament mit zwei Kammern. Allerdings blieb Elsass-Lothringen auch nach 1911 aufgrund der fortbestehenden Rechte des kaiserlichen Statthalters unter der Vormundschaft des Deutschen Reichs, was das Selbstgefühl der Bevölkerung in Elsass-Lothringen bitter erregte wie der letzte kaiserliche Statthalter Rudolf Schwander19 ausführte. 3. Die Republik Elsass-Lothringen Am 9. November 1918 wurde in Berlin die Republik ausgerufen und der deutsche Kaiser ging in die Niederlande ins Exil. Am 11. November 1918 trat der Waffenstillstand von Compiègne20 in Kraft. Danach hatten die deutschen Truppen unter anderem das Reichsland Elsass-Lothringen innerhalb von 15 Tagen zu räumen.21 Durch die Flucht des Kaisers ins niederländische Exil hatte das dem Kaiser unterstehende Reichsland Elsass-Lothringen faktisch sein Staatsoberhaupt verloren. Der Landtag von Elsass-Lothringen rief aus diesem Grund am 11. November 1918 die unabhängige Republik Elsass-Lothringen aus, die allerdings international nicht anerkannt wurde, weil nach den Kriegszielen der Alliierten Elsass-Lothringen an Frankreich angeschlossen werden sollte.22 Schon eine Woche nach der Ausrufung der Republik Elsass-Lothringen rückten nach und nach französische Truppen ein, die die kurze Phase der Unabhängigkeit von Elsass-Lothringen beendeten.23 Namentlich die aus dem übrigen Deutschen Reich nach Elsass-Lothringen zugezogenen Bürger hatten aus Furcht vor französischen Vergeltungsmaßnahmen ein unabhängiges ElsassLothringen favorisiert.24 II. Elsass-Lothringen auf der Versailler Friedenskonferenz 1. Allgemeines Wie bereits ausgeführt wurde, wurden die früheren Herzogtümer Elsass und Lothringen 1871 willkürlich zu einem gemeinsamen Land unter der Vorherrschaft des Deutschen Reichs vereinigt. Die die individuelle Entwicklung der Regionen Elsass und Lothringen negierende Grenzziehung im Jahr 1871 hatte zur Folge, dass 19

R. Schwander/F. Jaffé, Die reichsländischen Regierungen (Anm. 14), S. 78. Abgedruckt in: Deutsche Waffenstillstandskommission (Hrsg.), Drucksachen 1 – 12, Drucksache Nr. 1, Abkommen vom 11. 11. 1918, S. 5 ff. 21 Punkt III. Waffenstillstandsbedingungen der Alliierten vom 11. 11. 1918. 22 Republik Elsass-Lothringen – Geschichte, in: Wikipedia-Enzyklopädie. 23 Ebenda. 24 Ebenda. 20

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Deutschland nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg keine juristischen Rechtfertigungsgründe für die Bewahrung des territorialen Besitzstandes gegenüber Frankreich und den alliierten Siegermächten vortrug.25 Vielmehr war Elsass-Lothringen bereits vor dem Ende des Ersten Weltkriegs vom Deutschen Reich gegenüber den alliierten Siegermächten zur Verhandlungsmasse deklariert worden. Denn schon im Oktober 1918 hatte Reichskanzler Max von Baden eine unabhängige Republik Elsass-Lothringen angeboten, was die Alliierten allerdings ablehnten.26 Auf der Versailler Friedenskonferenz sah sich die deutsche Reichsregierung genötigt, der „allgemeinen Rechtsauffassung entsprechend zuzugeben, dass 1871 durch Unterlassung der Befragung des Volkes ein Unrecht begangen wurde“.27 Die Hinweise auf die deutsche Volkszugehörigkeit der Elsässer und zum Teil auch der Lothringer hatten bei den Friedensverhandlungen im Hinblick auf die geringe Integrationsbereitschaft eines großen Teils der Bevölkerung in das Deutsche Reich keine durchschlagende Überzeugungskraft.28 2. Regelungen des Versailler Vertrags a) Wiederherstellung des Grenzverlaufs vom 18. Juli 1870 Art. 27 Nr. 3 und Art. 51 Versailler Vertrag legen die Grenze zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich fest. Danach ist die Grenzführung vom 18. Juli 1870 von Luxemburg bis zur Schweiz wiederherzustellen. Art. 51 Satz 1 Versailler Vertrag legt ausdrücklich fest, dass das an Deutschland abgetretene Elsass-Lothringen „mit Wirkung vom Zeitpunkte des Waffenstillstandes vom 11. November 1918 ab unter französische Souveränität“ zurückfällt. Art. 51 Satz 2 Versailler Vertrag setzt die Bestimmungen der Verträge über die Grenzführung vor 1871 wieder in Kraft. Nach französischer Rechtsauffassung gelangte Elsass-Lothringen nicht im Wege einer Retrozession, sondern im Wege einer bloßen Reintegration bzw. einer Desannexion wieder in französischen Staatsbesitz. Denn mit der Kriegserklärung Deutschlands von 1914 sei die territoriale Zugehörigkeit Elsass-Lothringens zu Deutschland aufgehoben und der frühere territoriale Besitzstand wiederhergestellt worden wie er vor dem Frankfurter Frieden von 1871 bestanden habe.29 Diese von Frankreich bei den Verhandlungen in Versailles vertretene Rechtsauffassung ent-

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D.-E. Khan, Staatsgrenzen (Anm. 1), S. 524. A. Smoltczyk, Der letzte Mann, in: Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, SpiegelSpezial, 01/2004, 31. März 2004; zur deutschen Strategie von Elsass-Lothringen als neutralen Pufferstaat siehe F. Roth, Die Rückkehr Elsass-Lothringens zu Frankreich, in: G. Krumeich, Versailles 1919, 2001, S. 129. 27 Auswärtiges Amt (Hrsg.), Materialien betreffend die Friedensverhandlungen, Teil III, 1919, S. 40. 28 D.-E. Khan, Staatsgrenzen (Anm. 1), S. 524 Fn. 42. 29 Ebenda, S. 512 Fn. 2. 26

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sprach allerdings nicht dem damals geltenden Völkerrecht.30 Vielmehr wäre an sich eine Retrozession von Elsass-Lothringen durch Deutschland an Frankreich erforderlich gewesen. Deutschland nahm jedoch die französische Rechtsauffassung einer bloßen Desannexion schlussendlich unwidersprochen hin.Es führte lediglich aus, die französische Rechtsauffassung sei ungewöhnlich und unzweckmäßig.31 Die französische Rechtsauffassung einer Desannexion von Elsass-Lothringen fand nicht in den Versailler Vertrag Eingang.32 Nach dem Vorspruch zu Art. 51 Versailler Vertrag hat Deutschland anerkannt, dass es „sittlich“ – also nicht rechtlich! – verpflichtet ist, Unrecht wieder gut zu machen, das Deutschland durch die Abtrennung der elsasslothringischen Bevölkerung von ihrem Vaterland begangen hatte. Kritisch ist anzumerken, dass die juristische Begründung Frankreichs für die These einer Desannexion oder Reintegration von Elsass und Lothringen nicht haltbar ist. Denn ein Kriegsausbruch ist nicht geeignet, bestehende Verträge aufzulösen.33 Die französische Diplomatie hat sich mit der Argumentationsfigur der Desannexion von den allgemeinen Regeln des Völkerrechts entfernt, um möglichst günstig wieder in Besitz von Elsass-Lothringen zu kommen. Selbst die französische Rechtswissenschaft schreckte vor den Ergebnissen der Argumentationsfigur der Desannexion zurück.34 So trat beispielsweise der bekannte französische Völkerrechtler Louis Renault35 der Desannexionsthese ausdrücklich entgegen. Der gedankliche Fehler der Desannexions-Theorie liegt darin, dass die völkerrechtlich gültige Abtretung von Elsass-Lothringen an Deutschland nicht wieder ungeschehen gemacht werden konnte. Die Rechtsfolgen einer Gebietsabtretung können allein durch eine Retrozession durch actus contrarius mit Wirkung für die Zukunft beseitigt werden.36 Die Desannexionsthese der französischen Diplomatie führte zu technischen Auslegungsproblemen. Denn im Hinblick auf die Inkorporation von Elsass-Lothringen in den französischen Staat verweist der Versailler Vertrag auf die Grenzen Deutschlands zum Zeitpunkt des 18. Juli 1870. An diesem Stichtag existierte das Deutsche Reich allerdings noch nicht. Denn am 18. Juli 1870 bestand nur der Norddeutsche Bund, der räumlich nur teilidentisch mit dem Deutschen Reich ist. Das Deutsche Reich entstand erst 1871, indem sich der Norddeutsche Bund durch den Beitritt der süddeutschen Staaten erweiterte und in Deutsches Reich umbenannte.37 Der Versailler Vertrag nimmt folglich mit dem Stichtag 18. Juli 1870 auf das noch nicht voll30

Ebenda unter Hinweis auf McNair, Law of Treaties, 1961, S. 693 ff., insbesondere S. 704 ff. m. w. N. 31 D.-E. Khan, Staatsgrenzen (Anm. 1), S. 512 Fn. 2. 32 W. Schätzel, Die elsass-lothringische Staatsangehörigkeitsregelung und das Völkerrecht, 1929, S. 28. 33 Ebenda, S. 16. 34 Ebenda, S. 17. 35 Abgedruckt in: H. Triepel, Virtuelle Staatsangehörigkeit: ein Beitrag zur Kritik der Rechtsprechung des Französisch-Deutschen Gemischten Schiedsgerichtshofs, 1921, S 82 ff. 36 W. Schätzel, Staatsangehörigkeitsregelung (Anm. 32), S. 28. 37 G. Gornig, Territoriale Entwicklung und Untergang Preußens, 2000, S. 83.

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umfänglich existierende Deutsche Reich Bezug. Man wird den Versailler Vertrag folglich dahingehend auszulegen haben, dass er nicht an die Grenzen des Deutschen Reichs, sondern an die Grenzführung der am 18. Juli 1870 noch bestehenden souveränen süddeutschen Staaten Baden und Bayern (bayerische Pfalz) sowie an die Grenze des Norddeutschen Bundes gegenüber Frankreich anknüpft. Der Verweis des Versailler Vertrags auf die Grenzen Deutschlands vom 18. Juli 1870 von Luxemburg bis zur Schweiz erfordert mit anderen Worten eine Uminterpretation des Begriffs Deutschland durch Addition der fixierten Grenzlinien von Baden, Bayern (bayerische Pfalz) und dem Norddeutschen Bund zu Frankreich.38 Preußen unterstand bereits 1870 dem Norddeutschen Bund. Die Grenzverträge Preußens hinsichtlich der Grenzlinie zu Frankreich gelten allerdings nach den völkerrechtlichen Grundsätzen der Staatennachfolge für den Norddeutschen Bund fort. Art. 51 Satz 2 Versailler Vertrag nimmt auf die alten Grenzverträge aus der Zeit vor 1871 Bezug. Hierbei handelt es sich um die Pariser Verträge von 1814 und 1815.39 Eine Volksabstimmung in Elsass und Lothringen wurde von den verantwortlichen Politikern in Frankreich zu keiner Zeit erwogen.40 In Deutschland wurde eine Volksabstimmung in Elsass-Lothringen überwiegend befürwortet.41 b) Eigentumsübergang an den Rheinbrücken auf Frankreich Art. 66 Versailler Vertrag bestimmt hinsichtlich der Eigentumsverhältnisse der Rheinbrücken im deutsch-französischen Grenzbereich Folgendes: „Die Eisenbahnund anderen Brücken, die gegenwärtig im Bereich von Elsaß-Lothringen über den Rhein führen, werden in allen ihren Teilen und in ihrer ganzen Länge Eigentum des französischen Staates, dem ihre Unterhaltung obliegt.“ Durch diese Regelung wurde nur das zivilrechtliche Eigentum an den Rheinbrücken in französisches Staatseigentum überführt, ohne dass es zu einer Verschiebung der Staatsgrenze kam.42 Das bestätigt der deutsch-französische Grenzvertrag vom 14. August 1925.43 Dieser regelt in Art. 17 Abs. 1 Satz 1 hinsichtlich der Souveränitätsfrage im Bereich der Rheinbrücken Folgendes: „Auf den festen Rheinbrücken geht die Hoheitsgrenze zwischen Deutschland und Frankreich durch die Mitte der Gesamtlänge aller Hauptstromöffnungen.“ Gemäß Art. 17 Abs. 2 Satz 1 deutsch-französischer Grenzvertrag 1925 hat sich Frankreich dazu verpflichtet, die Hoheitsgrenze auf jeder Brücke im Einvernehmen mit den deutschen Behörden auf gemeinsame Kosten durch deutlich sichtbare Tafeln in den zwei Landessprachen zu kennzeichnen. Hinsichtlich der 38

So zutreffend D.-E. Khan, Staatsgrenzen (Anm. 1), S. 513. D.-E. Khan, a.a.O. m. w. N. 40 F. Roth, Die Rückkehr Elsass-Lothringens zu Frankreich (Anm. 26), S. 130. 41 Ebenda; W. Schätzel, Staatsangehörigkeitsregelung (Anm. 32), S. 11. 42 D.-E. Khan, Staatsgrenzen (Anm. 1), S. 512 Fn. 2; ausführlich hierzu F. Norden, Die Rechts- und Verkehrsverhältnisse der Rheinbrücken zwischen Baden und Elsass-Lothringen, 1921. 43 RGBl. 1927 II, S. 960. 39

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Rheinbrücken ist somit zu konstatieren, dass der staatliche Hoheitsbereich und die zivilrechtlichen Eigentumsverhältnisse nicht voll deckungsgleich sind. Das hebt auch Art. 18 Abs. 3 deutsch-französischer Grenzvertrag 1925 besonders hervor, in dem es heißt: „Der Grund und Boden unter den Brücken sowie zwischen und unter den Anlagen am östlichen Ufer wird vom Eigentum an den Brücken nicht umfasst.“ c) Finanzielle Angelegenheiten Nach Art. 56 Abs. 1 Versailler Vertrag ging alles Gut und Eigentum des Deutschen Reichs oder der deutschen Staaten in Elsass-Lothringen ohne Bezahlung oder Gutschrift in französischen Besitz über. Diese Regelung erging nach Art. 256 Abs. 3 Versailler Vertrag „in Anbetracht der Bedingungen, unter denen im Jahre 1871 Elsass-Lothringen an Deutschland abgetreten worden ist“. Die entschädigungslose Rückgabe von Elsass-Lothringen an Frankreich ist der französischen Rechtsauffassung geschuldet, wonach die Rückgabe dieses Gebiets eine Desannexion aus Gründen der Wiedergutmachung sei. Hier zeigt sich in besonderer Weise, dass Frankreich mit dem Begriff der Desannexion seine wirtschaftlich motivierten Machtziele auf Kosten Deutschlands durchsetzen konnte.44 d) Staatsangehörigkeitsverhältnisse Die Art. 53 – 54 und Art. 79 Versailler Vertrag sowie eine Anlage zum Versailler Vertrag enthalten Regelungen zur Staatsangehörigkeit der Bewohner von Elsass und Lothringen. Personen, die durch den deutsch-französischen Vertrag vom 10. Mai 1871 die französische Staatsangehörigkeit verloren hatten, erlangten mit Rechtswirkung vom 11. November 1918 von Rechts wegen die französische Staatsangehörigkeit wieder, wenn sie zwischenzeitig keine andere Staatsangehörigkeit als die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hatten.45 Deutsche mit Wohnsitz in Elsass-Lothringen konnten einen Anspruch auf die französische Staatsangehörigkeit geltend machen, wenn sie schon vor dem 15. Juli 1870 diesen Wohnsitz hatten.46 In ElsassLothringen geborene oder dort wohnende Deutsche konnten die französische Staatsangehörigkeit beanspruchen, wenn sie in den Reihen der alliierten oder assoziierten Heere gedient hatten, ebenso ihre Nachkommen.47 Im Übrigen konnten Deutsche, die im Elsass geboren waren oder dort ihren Wohnsitz hatten, die französische Staatsangehörigkeit nur im Wege der Einbürgerung erlangen, selbst wenn sie die elsass-lothringische Staatsangehörigkeit hatten.48 Deutschland hatte ohne Erfolg auf der Ver44

W. Schätzel, Staatsangehörigkeitsregelung (Anm. 32), S. 15. § 1 Nr. 1 Anlage zu Art. 79 Versailler Vertrag. 46 § 2 Nr. 3 Anlage zu Art. 79 Versailler Vertrag. 47 § 2 Nr. 4 Anlage zu Art. 79 Versailler Vertrag. 48 § 3 Anlage zu Art. 79 Versailler Vertrag.

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sailler Friedenskonferenz ein weitgehendes individuelles Optionsrecht verlangt, wie es in Europa seit über 200 Jahren üblich war.49 Kritisch bleibt anzumerken, dass die Versailler Regelungen zum Staatsangehörigkeitsrecht erhebliche Rechtsunsicherheiten und auch Ungerechtigkeiten mit sich brachten.50 Beispielsweise gab es Fälle, in denen vormals elsass-lothringische Staatsangehörige staatenlos wurden.51 III. Die Wiedereingliederung von Elsass-Lothringen in den französischen Staat 1. Vertreibungen und Ausweisungen Die Wiedereingliederung von Elsass-Lothringen in den französischen Staat ging mit Vertreibungen und Ausweisungen der deutschstämmigen Bevölkerung einher. Ab dem 14. Dezember 1919 wurden die Bewohner von Elsass-Lothringen nach ihrer Abstammung in vier Gruppen eingeteilt: 1. Klasse A: Altelsass-Lothringer als Vollfranzosen 2. Klasse B: Abkömmlinge aus Mischehen als Teilfranzosen 3. Klasse C: Ausländer 4. Klasse D: Deutsche52. Unter die Klasse D wurden alle Einwohner zusammengefasst, die selbst oder deren Eltern oder Großeltern aus dem übrigen Deutschen Reich oder aus Österreich-Ungarn stammten.53 Diese Personen wurden auch als Altdeutsche bezeichnet. Sie erhielten als neuen Personalausweis die berüchtigte Karte D und waren der Willkür durch die neuen französischen Machthaber ausgesetzt.54 Etwa 200.000 Altdeutsche wurden aus Elsass-Lothringen vertrieben.55 Nachdem US-Präsident Woodrow Wilson auf die französische Regierung Druck ausgeübt hatte, durfte die Hälfte der Vertriebenen wieder nach Elsass-Lothringen zurückkehren, so dass im Endergebnis von etwa 100.000 dauerhaften Vertreibungen auszugehen ist.56 Der deutsche Völkerrechtler Walter Schätzel57 hat in seiner umfangreichen Untersuchung zu den elsasslothringischen Staatsangehörigkeitsregelungen im Gefolge des Versailler Vertrags 49

W. Schätzel, Staatsangehörigkeitsregelung (Anm. 32), S. 31. Kritisch hierzu namentlich Schätzel, Staatsangehörigkeitsregelung (Anm. 32), passim. 51 Reichsgericht v. 22. 2. 1928 (RGZ, Bd. 120, S. 198), abgedruckt in ZaöRV 1929, 702 ff., mit einer Anmerkung von L. v. Schwartzkoppen. 52 W. Schätzel, Staatsangehörigkeitsregelung (Anm. 32), S. 11. 53 Reichsland Elsass-Lothringen – Vertreibungen, in: Wikipedia-Enzyklopädie. 54 F. Roth, Die Rückkehr Elsass-Lothringens zu Frankreich (Anm. 26), S. 133. 55 Reichsland Elsass-Lothringen – Vertreibungen, in: Wikipedia-Enzyklopädie. 56 Von 100.000 Ausweisungen geht auch aus: Roth, Die Rückkehr Elsass-Lothringens zu Frankreich (Anm. 26), S. 134. 57 W. Schätzel, Staatsangehörigkeitsregelung (Anm. 32), S. 14. 50

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ausgeführt, dass etwa 300.000 bis 400.000 Deutsche in Elsass-Lothringen keine französische Staatsangehörigkeit beanspruchen konnten und deshalb nach „Altdeutschland“ hätten verdrängt werden können. Dieser Personenkreis reduzierte sich um etwa 100.000 durch französische Einbürgerungen.58 Einige Deutsche gingen von sich aus, ohne auf die Ausweisung zu warten, was die französische Administration als „freiwillige Ausreise“ bezeichnete.59 Das Privateigentum der Ausgewiesenen wurde beschlagnahmt, zwangsverwaltet oder ausverkauft.60 Ausgewiesene Altdeutsche durften maximal 30 kg Gepäck, 200 Mark und Lebensmittel für zwei Tage mitnehmen.61 Frankreich verwies die Enteigneten wegen einer Entschädigung an die deutsche Regierung und war deshalb mit der Austeilung der französischen Staatsangehörigkeit in Elsass-Lothringen so sparsam wie irgend möglich.62 Von 1920 bis 1945 existierte in Frankfurt/Main das „Wissenschaftliche Institut der Elsass-Lothringer im Reich“. Der Zweck dieser Einrichtung bestand in der Pflege der gemeinsamen wissenschaftlichen und kulturellen Interessen der nach dem Ersten Weltkrieg vertriebenen oder freiwillig Ausgewanderten aus Elsass und Lothringen. Aus dem Institut der Elsass-Lothringer, das ab 1926 der Universität Frankfurt/Main angeschlossen war, ging 1961 die Erwin von Steinbach-Stiftung hervor, die wissenschaftliche Veröffentlichungen zur Geschichte von Elsass und (Deutsch-)Lothringen herausgibt.63 2. Wiedereingliederung in das französische Staatswesen a) Verwaltungssystem Die Wiedereingliederung des früheren Reichslands Elsass-Lothringen in das französische Verwaltungssystem erfolgte durch die Schaffung des Moseldepartements und die Gründung der Departements Oberelsass und Unterelsass. Die französischsprachigen Amtsbezeichnungen lauten „Haut-Rhin“ und „Bas-Rhin“; durch die Anknüpfung an den Rhein eliminierte man den Begriff Elsass. Die Einführung des Department-Systems brachte es mit sich, dass das Erbe von Elsass-Lothringen von Paris aus zunehmend zentralistisch verwaltet wurde.64 1972 erhielt Frankreich 21 Regionen, darunter auch die Region Elsass, die die Departments Ober- und Unterelsass umfasste. Durch diese Regionalisierung Frankreichs wurde auch im amtlichen französischen Sprachgebrauch die Bezeichnung „Alsace“ erstmals seit dem Ende des 58

Ebenda. F. Roth, Die Rückkehr Elsass-Lothringens zu Frankreich (Anm. 26), S. 133. 60 Ebenda. 61 Ebenda. 62 W. Schätzel, Staatsangehörigkeitsregelung (Anm. 32), S. 12 f. 63 Netzseite der Gesellschaft der Freunde und Förderer der Erwin von Steinbach-Stiftung e. V. 64 F. Roth, Die Rückkehr Elsass-Lothringens zu Frankreich (Anm. 26), S. 136 f. 59

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18. Jahrhunderts wieder ein Name des staatlichen Systems in Frankreich.65 Seit dem 1. Januar 2016 existiert eine neue größere Region, die die Gebiete Elsass, Champagne-Ardenne und Lothringen umfasst. Diese neue Region wurde zunächst als „Elsass-Champagne-Ardennen-Lothringen“ bezeichnet. Diese Bezeichnung wurde zum 1. Oktober 2016 durch den Namen „Grand Est“ („Großer Osten“) ersetzt.66 Nicht wenige der 978.000 deutschsprachigen Elsässer und Lothringer protestierten von Anfang an gegen die Verschmelzung ihrer Heimatregionen mit weiteren östlichen Regionen unter dem Oberbegriff „Großer Osten“67 In dieser Gebietseinheit mit 5 12 Millionen Einwohnern68 sind die Elsässer und Lothringer eine Minderheit, die von den anderen Bewohnern der östlichen Regionen leicht überstimmt werden können. b) Gesetzgebung Die Einführung französischer Gesetze, Verordnungen und Verfahrensregelungen geschah aus praktischen Gründen nicht in einem einmaligen Akt, sondern nur schrittweise.69 Bei der Rechtsangleichung musste der französische Gesetzgeber allerdings darauf Rücksicht nehmen, dass eine überwältigende Mehrheit der Bewohner von Elsass und Lothringen die als positiv erachteten Errungenschaften aus der deutschen Zeit bewahren wollte.70 So gelten auch heute noch u. a. die Gewerbeordnung und die Reichsversicherungsordnung in Elsass-Lothringen fort.71 Weitere rechtliche Besonderheiten in Elsass-Lothringen sind: die Nichtanwendung des französischen Laizismus-Gesetzes von 1905 auf im früheren Reichsland bestehende Religionsgemeinschaften; Priester, Pastoren und Rabbiner sind aufgrund des fortgeltenden Konkordats von 1801 staatliche Gehaltsempfänger; in öffentlichen Schulen wird Religionsunterricht erteilt und an der staatlichen Universität Straßburg gibt es theologische Fakultäten.72 Für die erst nach 1918 entstandenen Religionsgemeinschaften wie z. B. die Muslime gilt demgegenüber das Laizismus-Gesetz.73

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Geschichte des Elsass – Seit 1945: Zeitgeschichte, in: Wikipedia-Enzyklopädie. Grand Est, in: Wikipedia-Enzyklopädie. 67 R. de Vos, Staaten, Völker, Nationalitäten in: http://www.freiewelt.net/nachricht/staatenvoelker-nationalitaeten-10068823/ (abgerufen am 12. 10. 2016). 68 Grand Est – Basisdaten, in: Wikipedia-Enzyklopädie. 69 F. Roth, Die Rückkehr Elsass-Lothringens zu Frankreich (Anm. 26), S. 138. 70 Ebenda, S. 140. 71 Reichsland Elsass-Lothringen – Nachkriegszeit, in: Wikipedia-Enzyklopädie. 72 Ebenda. 73 Ebenda. 66

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IV. Minderheitenschutz Einen speziellen Minderheitenschutz für die deutschsprechende Bevölkerung in Elsass-Lothringen gibt es nicht. Zwar befürwortete Frankreich auf der Versailler Friedenskonferenz grundsätzlich den Abschluss von Minderheitenschutzverträgen. Diese sollten allerdings nach französischer Auffassung nur osteuropäischen Staaten auferlegt werden, damit sich diese Staaten immer mehr den westeuropäischen liberalen Ideen anschlössen.74 Aus praktischen Gründen musste die deutsche Sprache in Elsass-Lothringen in der Schule, in der Verwaltung und in der Justiz – zumindest in Form einer Übersetzung – lange Zeit beibehalten werden.75 1952 wurde per Dekret76 ein fakultativer Deutschunterricht in den Gemeinden eingeführt, wo der elsässische Dialekt die gebräuchliche Sprache darstellte.77 In den siebziger Jahren wurde in Elsass-Lothringen aufgrund der Reform Holderith in der Grundschule ein Deutschunterricht im größeren Umfang eingeführt.78 1990/91 erhielten 98 % der Schüler in Elsass-Lothringen einen Deutschunterricht.79 In der Folgezeit erlangte das Fach Deutsch auch in der Oberstufe des Gymnasiums einen höheren Stellenwert.80 In der jüngsten Vergangenheit gab es allerdings hinsichtlich des Deutschunterrichts in Elsass-Lothringen Rückschläge. Die Grundschulreform 2015 wurde dazu genutzt, den Deutschunterricht zu schwächen.81 Nach wie vor berichtet das Mitteilungsorgan der nach Deutschland geflüchteten beziehungsweise ausgewiesenen Elsass-Lothringer, dass der französische Staat die deutsche Sprache als Minderheitensprache systematisch bekämpft.82 Als Beleg hierfür wird zutreffend darauf hingewiesen, dass Frankreich die Charta der europäischen Minderheitensprachen immer noch nicht ratifiziert hat.83 Die 2015 beschlossene Einführung der französischen Sprache als zweite Amtssprache im Saarland ohne Gegenseitigkeit hinsichtlich der deutschen Sprache in Elsass und Lothringen hat nach der Ansicht des elsässischen Historikers Bern74 H. Hecker, Schleswig und die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts und Minderheitenschutzes, 1948 und 1995, S. 119. 75 F. Roth, Die Rückkehr Elsass-Lothringens zu Frankreich (Anm. 26), S. 142; ausführlich zum Gebrauch der deutschen Sprache in Elsass-Lothringen, J. Polakiewicz, Die rechtliche Stellung der Minderheiten in Frankreich, in: J. A. Frowein/R. Hofmann/St. Oeter, Das Minderheitenrecht europäischer Staaten, Teil 1, 1993, S. 135 f., 139 ff., 143 f., 145, 151 ff. 76 Journal Officiel vom 19. 12. 1952, S. 11673. 77 J. Polakiewicz, Die rechtliche Stellung der Minderheiten in Frankreich (Anm. 75), S. 151 f. 78 Ebenda, S. 152. 79 Ebenda. 80 Ebenda, S. 153. 81 B. Wittmann, Zweisprachigkeit – hier und dort, in: Der Westen, Mitteilungsblatt der Freunde und Förderer der Erwin Steinbach Stiftung (hervorgegangen aus dem Bund der Elsässer und Lothringer und dem Bund Vertriebener aus Elsass-Lothringen und den Weststaaten), Heft 3/4, 2015 (62. Jahrgang), S. 2 f. 82 Ebenda. 83 Ursächlich hierfür ist eine Blockadepolitik des von den Republikanern dominierten französischen Senats, Französische Sprachpolitik, in: Wikipedia-Enzyklopädie.

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hard Wittmann84 dazu geführt, dass in Frankreich das Französische als eine erobernde Sprache angesehen wird. Erschwerend komme aktuell hinzu, dass die Politik der deutschen Bundeskanzlerin zunehmend als eine „deutsche Politik im Stil Bismarcks“ bewertet werde, weshalb sich in Frankreich neuerdings eine heftige Deutsch-Feindlichkeit breit mache.85 Im Bereich der französischen Printmedien sind erhebliche Diskriminierungen der deutschen Sprache zu konstatieren. Von 1945 – 1984 musste der französischsprachige Anteil der Zeitungen und Zeitschriften mindestens 25 % betragen.86 Auch nach der Aufhebung der 25 % Klausel wurden deutschsprachige Publikationen systematisch durch Druckverweigerungen behindert.87 Aufgrund der repressiven französischen Sprachenpolitik musste 2012 die gedruckte deutschsprachige Ausgabe der Zeitung „Elsässische Neueste Nachrichten“ eingestellt werden.88 Im kirchlichen Bereich verzichtete der französische Staat auf rechtliche Regelungen zum Gebrach der Sprache. Faktisch ist der Gebrauch der deutschen Sprache in den Kirchen namentlich in den Städten und insbesondere in den katholischen Kirchen stark auf dem Rückzug.89

V. Schlussbetrachtung Es fällt auf, dass in Elsass-Lothringen im Gefolge des Ersten Weltkriegs, anders als zum Beispiel in Nord- und Mittelschleswig, keine Volksabstimmungen durchgeführt wurden. Ursächlich hierfür sind folgende Zahlen aus französischer Herkunft: 1919/1920 gab es 1.082.000 Altelsass-Lothringer, 183.000 Abkömmlinge aus Mischehen und 513.000 Altdeutsche.90 Eine Volksabstimmung in Elsass-Lothringen hätte zugunsten Deutschlands ausgehen können oder sie hätte unter internationaler Beobachtung das Bestehen einer starken deutschen Minderheit in Elsass-Lothringen amtlich manifestiert. Beides lag nicht im Interesse Frankreichs.91 Zwar konnten die nicht aus Elsass-Lothringen geflohenen und vertriebenen Deutschstämmigen gewisse Eigenheiten im französischen Staat bewahren. Ob diese Bewahrung auch nach der Eingliederung von Elsass-Lothringen in die neue Großregion „Großer Osten“ noch möglich sein wird, bleibt abzuwarten. Zu einer gewissen Hoffnung gibt die Partei „Unser Land – Le Parti Alsacien“ Anlass. Diese neue elsässische Regionalpartei 84

B. Wittmann, Zweisprachigkeit (Anm. 81), S. 2 f. Ebenda. 86 J. Polakiewicz, Die rechtliche Stellung der Minderheiten in Frankreich (Anm. 75), S. 143 f. 87 Ebenda, S. 144 m. w. N. 88 Dernière Nouvelles d’Alsace, in: Wikipedia-Enzyklopädie. 89 J. Polakiewicz, Die rechtliche Stellung der Minderheiten in Frankreich (Anm. 75), S. 145. 90 G. Ripert, Journal du droit international 1920, 25 (31). 91 W. Schätzel, Staatsangehörigkeitsregelung (Anm. 32), S. 12. 85

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wurde 2010 gegründet und tritt für eine größere Autonomie des Elsasses und für eine Zweisprachigkeit im Elsass ein. „Unser Land – Le Parti Alsacien“ wurde bei den Regionalwahlen Ende 2015 drittstärkste Partei nach dem Front National und den Republikanern und noch vor den Sozialisten.92 * Abstract Holger Kremser: Alsace-Lorraine in the Peace Negotiations of Versailles (Elsass-Lothringen bei den Versailler Friedensverhandlungen), in: World War I and its Consequences for the Coexistence of Peoples in Central and Eastern Central Europe (Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa), ed. by Gilbert H. Gornig and Adrianna A. Michel (Berlin 2017), pp. 99 – 111. As a result of the Franco-German War, Alsace and Lorraine became a German territory in 1871. According to Article 51 of the Treaty of Versailles Alsace-Lorraine returned to France on 11 November 1918. A plebiscite of the inhabitants of Alsace-Lorraine about their destiny was never considered by the responsible French politicians at any time. About 100,000 German nationals were permanently expelled from Alsace-Lorraine. Alsace and Lorraine were integrated into the French departmental system and are now governed centrally from Paris. Bit by bit almost all the German laws were replaced by French regulations. Some legal regulations from the German time still apply today, e. g. the trade regulations and the Reichsversicherungsordnung (Imperial assurance order). Nor is the French Laicism law applicable in Alsace-Lorraine, which is why there are, for example, theological faculties at the University of Strasbourg. There is no special protection of minorities for the German-speaking population in Alsace-Lorraine. The German language in Alsace and Lorraine is still discriminated against. Due to the restrictive French language policy there are no longer printed German-language daily newspapers in Alsace-Lorraine. In the churches the German language has declined sharply. In the regional elections in 2015, the political regional party “Unser Land – Le Parti Alsacien” (“Our country – The Alsatian Party”) became the third strongest party after the Front National and the Republicans, and even before the Socialists. “Unser Land – Le Parti Alsacien” advocates a greater autonomy of Alsace and a bilingualism in Alsace.

92 B. Bost, Erstmals Dritter im Elsass, Preußische Allgemeine Zeitung v. 2. 1. 2016, http:// www.preussische-allgemeine.de/nachrichten/artikel/erstmals-dritter-im-elsass.html (abgerufen am 19. 10. 2016).

Das Schicksal Danzigs vor und nach dem Versailler Friedensvertrag Auch ein Beitrag zu den Gebietsverlusten in Westpreußen Von Gilbert H. Gornig I. Geschichtlicher Rückblick Ein kurzer Rückblick auf die Geschichte der Stadt Danzigs und seine territoriale Zugehörigkeit ist erforderlich, weil Ansprüche auf das Gebiet von Danzig zu allen Zeiten auch mit historischen Argumenten begründet wurden. 1. Ursprünge Nach der Festigung der Herrschaft im späteren Ostpreußen bemühte sich der Deutsche Orden um die Ausdehnung nach Westen. Westlich der Weichsel war das von slawischen Stämmen, den Pomoranen (Kaschuben), besiedelte Herzogtum Pommerellen, dessen Fürsten aus dem Geschlecht der Samboriden ihren Sitz in Danzig hatten.1 Der deutschen Kaufmannssiedlung Danzig, die in der Gegend des heutigen Langen Marktes entstanden war, wurde um 1224 vom pommerellischen Herzog Swantopolk II. das Lübische Recht verliehen. Um 1295 verlieh der polnische König Przemysław II. der Stadt das Magdeburger Recht. Das Land war für die Einwanderung Deutscher geöffnet, so dass bald deutsche Kaufleute eine Stadtgemeinde in Danzig bildeten.2 Pommerellen war aber zwischen Brandenburg und der polnischen Krone umstritten, seit der letzte Herzog Mestwin 1269 sein Land den askanischen Markgrafen von Brandenburg, ein Jahr darauf aber seinem Vetter Boleslaw von Polen und 1282 dessen Neffen und Nachfolger Przemysław II. übertragen hatte.3 Der Deutsche Orden besetzte schließlich 1309 Danzig und Dirschau und ließ sich von Brandenburg ganz Pommerellen 1309 mit Ausnahme von Stolp und Schlawe abtreten. Um den Besitz des Landes wurde lange mit Polen gestritten. Der Streit wurde nach mehrfachen Entscheidungen der Kurie und einer bewaffneten Auseinandersetzung, der Schlacht bei Płowce am 27. September 1331, beigelegt. Polen musste dann 1

F. Gause, Ost- und Westpreußen, in: V. Aschenbrenner/E. Birke/W. Kuhn/E. Lemberg, Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn. Ein Handbuch, 1967, S. 168 ff., 171 f. 2 Vgl. F. Gause, Geschichte des Preusenlandes, 1966, S. 17. 3 Vgl. hierzu F. Gause (Anm. 2), S. 17 f.; G. Rhode, in: G. Rhode S. 102; H. Boockmann, Deutsche Geschichte im Osten Europas. Ostpreußen und Westpreußen, 1992, S. 155 f.

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durch Kasimir III., den Großen4, im Vertrag von Kalisch vom 8. Juli 13435 auf Pommerellen, das Kulmer und das Michelauer Land verzichten. Der Orden musste hingegen Kujawien und das Dobriner Land herausgeben.6 Im 14. Jahrhundert besaß der Orden unangefochten die späteren Provinzen Ostpreußen und Westpreußen.7 Am 22. April 1454 erklärte der polnische König dem Hochmeister des Deutschen Ordens den Krieg. Mit dem gleichzeitigen Aufstand des Preußischen Bundes8 begann eine dreizehnjährige Auseinandersetzung. Am 18. September 1454 brachte ein vom Orden aufgebautes Söldnerheer dem König Kasimir IV. von Polen in der Schlacht bei Konitz eine schwere Niederlage bei.9 Große Teile des Landes fielen wieder in die Gewalt des Ordens. Die Schwäche des Ordens war jedoch seine Finanzknappheit, so dass man nicht in der Lage war, die Söldner zu bezahlen. Die sich der Fremdherrschaft des Ordens widersetzenden Bürger trugen die großen Burgen in Thorn, Elbing und Danzig ab, da sie in ihnen Zwingburgen gegen ihre städtische Freiheit sahen. Man wollte aber auch verhindern, dass sie Zwingburgen eines neuen Landesherrn würden.10 2. Inkorporationsprivileg Die Stadt Danzig gehörte nie zum polnischen Staat. Im Jahre 1454 hatte die Stadt zwar mit dem Deutschen Orden gebrochen und sich dem polnischen König zugewandt und ihn als Schutzherrn auserkoren. Sie ist damit aber nicht Bestandteil Polens

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Kasimir III., der Große, König von Polen (1333 – 1370), war der letzte aus dem Hause der Piasten. Er verzichtete auch zugunsten Böhmens auf Schlesien, eroberte Wolhynien und Galizien mit Lemberg und vereinigte Kujawien mit Polen. 5 Der Vertrag von Kalisch war ein Friedensvertrag, der zwischen dem Königreich Polen unter König Kasimir III. und dem Deutschordensstaat unter HochmeisterLudolf König von Wattzau abgeschlossen wurde. Text: W. Hubatsch, Albrecht von Brandenburg-Ansbach. Deutschordens-Hochmeister und Herzog in Preußen 1490 – 1568, 1960, S. 140; vgl. auch F. Gause (Anm. 1), in: V. Aschenbrenner/E. Birke/W. Kuhn/E. Lemberg, S. 173; B. Schumacher, Geschichte Ost- und Westpreußens, 6. Aufl. 1977, S. 53. 6 Vgl. auch F. Gause (Anm. 2), S. 18; W. Epp, Danzig. Schicksal einer Stadt, 1983, S. 46. 7 Vgl. G. Rhode (Anm. 3), in: G. Rhode S. 103. 8 Der Preußische Bund, der eigentlich „Bund vor Gewalt und Unrecht“ hieß, wurde am 14. März 1440 in Marienwerder gegründet. Ihm schlossen sich 53 Adlige und 19 Städte an, darunter Danzig, Thorn, Culm, Elbing und die Altstadt Königsberg, um gegen die Willkür des Deutschen Ordens „getreulich einander beizustehen, … die Gewalt und das Unrecht, das ihnen in früheren Zeiten geschehen, abzuwerfen.“ M. Biskup, Der preußische Bund 1440 – 1454. Geschichte, Struktur, Tätigkeit und Bedeutung in der Geschichte Preußens und Polens, in: K. Fritze/E. Müller-Mertens/J. Schildhauer (Hrsg.), Bürgertum, Handelskapital, Städtebünde, 1975, S. 210 ff. 9 Vgl. F. Gause, Deutsch-slavische Schicksalsgemeinschaft. Abriss einer Geschichte Ostdeutschlands und seiner Nachbarländer, 3. Aufl. 1967, S. 108. 10 F. Gause (Anm. 2), S. 33.

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geworden.11 Wenn man sich einer Schutzmacht unterstellt, ist man nicht der territorialen Souveränität der Schutzmacht unterworfen, wie es unzählige Beispiele der Geschichte und Zeitgeschichte belegen. Der polnische König hatte am 6. März 1454 unter Verletzung der vorangegangenen mit dem Orden geschlossenen Friedensverträge das sog. Inkorporationsprivileg ausgefertigt. Nach dem Wortlaut des Inkorporationsprivilegs forderte der König die Unterwerfung des preußischen Landes und fügte es dem Königreich Polen an. Die preußischen Stände sprachen dagegen in ihrer Gegenurkunde entsprechend den Ergebnissen des Verhandlungsverlaufs und der dem König unterbreiteten Angebote von der Einverleibung in den Titel der Krone Polen.12 Die Stadt Danzig verhandelte nicht als Gebietsteil des Deutschen Ordens, nicht als Untertan Polens, zu dem es nicht gehörte, und nicht für den Preußischen Bund, sondern für sich selbst als freier Partner seiner Rechtsbeziehungen.13 Danzig hatte sich aus freien Stücken der Krone Polen unterstellt, aber nur unter der Bedingung einer weitestgehenden Unabhängigkeit. Danzig wollte nicht sein altes Joch abschütteln und gegen ein neues eintauschen, vielmehr erwartete die Stadt seine soeben gewonnene freiheitliche Stellung zu sichern und auszubauen. Danzigs Bemühen war erfolgreich, da es im Rahmen einer ausgehandelten Schutzbeziehung zur Krone Polen weitgehend selbständig wurde und außerhalb des polnischen Königreichs als deutscher Stadtstaat eine starke Stellung errang, die es unter der Herrschaft des Deutschen Ordens nicht inne hatte. Die wesentlichen Danzig zustehenden Rechte14 waren Selbständigkeit der auswärtigen Politik und Kriegsführung, eigenes Gesandtschaftsrecht, Verteidigungshoheit mit eigenen Truppen und Befestigungsrecht der Stadt, freies Verfügungsrecht über den Hafen ohne polnische Mitwirkung, Gesetzgebungsrecht, Finanzhoheit, Steuer- und Zollhoheit, Münzrecht, Gerichtsbarkeit, eigene Flagge. Als Zeichen seiner Souveränität und Machtstellung erhielt Danzig das Recht, mit rotem Wachs zu siegeln und in das Wappen eine goldene Krone aufzunehmen. Die dem König vorbehaltenen Rechte waren 11

Vgl. dazu auch G. Gornig, Schlußbemerkungen – zugleich ein Beitrag zur Geschichte Danzigs, in: G. Gornig (Hrsg.), Deutsch-polnische Begegnung zu Wissenschaft und Kultur. Societas Physicae Experimentalis. Schriften der Danziger Naturforschenden Gesellschaft, Band 2, 1998, S. 122 ff.; ders., Schlussbemerkungen – auch ein Beitrag zum Status Danzigs zwischen 1454 und 1793, in: G. Gornig (Hrsg.), Deutsch-polnische Begegnung zu Wissenschaft und Kultur. Societas Physicae Experimentalis. Schriften der Danziger Naturforschenden Gesellschaft, Band 6, 2004, S. 214 ff. 12 E. M. Wermter, Das Königliche Preußen (Preußen königlich-polnischen Antheils) 1454 bis 1569 mit dem Hochstift Ermland und den drei großen Städten Danzig, Elbing, Thorn. Innerer Aufbau und das Verhältnis zur Krone Polens, in: P. Baumgart (Hrsg.), Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preußen. Veröffentlichung der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 55, 1983, S. 130 ff. (131). 13 H. V. Böttcher, Die Freie Stadt Danzig. Wege und Umwege in die europäische Zukunft, 3. Aufl. 1999, S. 36. 14 Vgl. dazu K.-J. Kaufmann, Das staatsrechtliche Verhältnis Danzigs zu Polen von 1454 – 1793 und 1807 – 14, in: Schriftenreihe der Stadt Danzig, Heft 5, Danzig 1920, S. 9.

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auf die mit der Schutzhoheit zusammenhängenden Kompetenzen beschränkt. Er musste Schutz und Beistand gewähren und konnte seinerseits Rat und Hilfe verlangen. Aus dem Kreis von acht dem König vom Rat benannten Danziger Ratsherren durfte er einen Stellvertreter, den Burggrafen, ernennen.15 Dieser übte für den König das Recht aus, Todesurteile des Schöffengerichts zu bestätigen oder abzuändern. Die Stadt hatte eine jährliche Rente an den König zu entrichten. Ein Königschloss wurde nicht gebaut, da der König im Umkreis von acht deutschen Meilen um die Stadt kein Schloss errichten durfte. Danzig war somit aufgrund der Verhandlungsergebnisse eine souveräne deutsche Stadtrepublik unter Gewährung bestimmter festgelegter königlicher Herrschaftsrechte. Sie bildete keine Realunion mit Polen, der polnische König war nicht Landesherr der Stadt, er übte nur die Schutzhoheit über das sich im Übrigen selbständig und unabhängig regierende Danzig aus16. Danzig war nicht in die staatliche Organisation Polens einbezogen und war trotz wiederholter Aufforderung, am polnischen Reichstag regelmäßig teilzunehmen, nur als Repräsentant der preußischen Stände ausnahmsweise vertreten, wenn von der polnischen Politik abweichende Positionen begründet werden mussten.17 Am 21. Juli 1526 bestätigte der polnische König Danzigs Privilegien.18 3. Zweiter Thorner Frieden vom 19. Oktober 1466 Schließlich brach der Orden endgültig zusammen. Vorausgegangen war ein Aufstand der preußischen Stände, die sich gegen das tyrannisch herrschende Regiment des Ordens auflehnten, zumal dessen Mitglieder nicht aus Preußen, sondern aus dem Reich stammten. In diesem Bürgerkrieg fanden die Preußen die Unterstützung des polnischen Königs. Jedoch nicht dessen Militärhilfe war kriegsentscheidend, sondern die Zähigkeit und Finanzkraft der Städte Danzig und Thorn.19 Im Zweiten Thorner Frieden vom 19. Oktober 146620 musste der Orden herbe Gebietsverluste hinnehmen. Preußen wurde gespalten und der westliche Teil – gemeint ist das Kulmerland, 15

H. V. Böttcher (Anm. 13), Die Freie Stadt Danzig, S. 38. Vgl. Th. Schweisfurth, Danzig, in: Encyclopedia of Public International Law, Bd. 12, 1990, S. 83 f. 17 H. V. Böttcher (Anm. 13), Die Freie Stadt Danzig, S. 38. 18 Vgl. dazu insgesamt auch G. Gornig (Anm. 11), Beitrag zum Status Danzigs zwischen 1454 und 1793, in: G. Gornig, Deutsch-polnische Begegnung zu Wissenschaft und Kultur, Band 6, 2004 (Anm. 21), S. 214 ff. 19 W. Wippermann, Preußen und Polen, in: M. Schlenke, Preußen-Ploetz. Eine historische Bilanz in Daten und Deutungen, 1983, S. 98. 20 Text: E. Weise, Die Staatsverträge des Deutschen Ordens in Preußen im 15. Jahrhundert, Bd. 2, 1955, Nr. 403, S. 262 ff.; G. Gornig, Das nördliche Ostpreußen. Gestern und heute. Eine historische und rechtliche Betrachtung, 2. Aufl. 1996, Dokument I.7., S. 244 ff. Vgl. zum Thorner Frieden: E. Weise, Die staatsrechtlichen Grundlagen des Thorner Friedens und die Grenzen seiner Rechtmäßigkeit, in: Zeitschrift für Ostforschung, 1955, Heft 3, S. 1 ff.; K. Neitmann, Zweiter Thorner Friede, in: Kulturstiftung der Deutschen Vertriebenen (Hrsg.), Ostdeutsche Gedenktage 1991, 1990, S. 243 ff.; B. Schumacher (Anm. 5), S. 137 f.; L. Dralle, Der Staat des Deutschen Ordens in Preußen nach dem II. Thorner Frieden, 1975, S. 9. 16

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Pomerellen, die Michelau und die Gebiete Christburg, Marienburg,21 Stuhm und Elbing sowie das Bistum Ermland22 – an die Krone Polens abgetreten. Die Landesteile wurden autonome Gebiete der Krone Polens.23 Dem Deutschen Orden verblieb damit das spätere Ostpreußen, jedoch ohne die Marienburg, Elbing und das Ermland. Die westlichen Teile des „Deutschordensstaates in Preußen“ wurden dem König von Polen als Königliches Preußen unterstellt, wobei die Stadtrepubliken Danzig, Thorn und Elbing eine weitgehende politische, wirtschaftliche und kulturelle Auto nomie erhielten. Der Deutsche Orden war damit von Deutschland durch einen „polnischen Korridor“ getrennt.24 Der Vertrag erlangte aber niemals volle Rechtswirksamkeit. Der Hochmeister hätte höchstens in seiner Eigenschaft als Ordens-Landmeister in Preußen einen solchen Vertrag eingehen dürfen. Da er ihn jedoch als Hochmeister abschloss, hätte er dazu der Einwilligung des Deutschmeisters und des Meisters in Livland benötigt. Beide versagten aber die Zustimmung. Erst recht weigerte sich die Kurie, den Vertrag zu akzeptieren. Auch Kaiser Friedrich II. und Papst Paul II. weigerten sich, den Thorner Frieden anzuerkennen. Vom deutschen Kaiser wurde die Auffassung vertreten, Danzig gehöre seit seiner Zugehörigkeit zum Deutschen Orden im Jahre 1309 wegen Nichtanerkennung des Zweiten Thorner Friedens vom 19. Oktober 146625 auch nach 1466 zu Kaiser und Reich.26 Nach dieser Auffassung stand Danzig auch nach dem Abfall vom Orden in einer rechtlichen Beziehung zu Kaiser und Reich. Wie brüchig der Vertrag auch nach Ansicht Polens war, zeigt sich daran, dass der Hochmeister ausdrücklich darauf verzichten musste, die Gültigkeit des Vertrages mit den Argumenten anzufechten, der Vertrag sei aus Furcht geschlossen worden, alle Territorien zu verlieren, er sei ohne Zustimmung des Papstes, dem der Orden unmittelbar unterstand, sowie ohne Beiziehung und Zustimmung des Deutschmeisters und des livländischen Landmeisters sowie gegen die Statuten des Ordens geschlossen worden.27 Auf dem Trierer Reichstag des Jahres 1512 ließ Hochmeister Albrecht dann auch die Meinung vertreten, dass der Thorner Frieden von Anfang

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In die Marienburg zogen polnische Verwaltungsbeamte ein, vorübergehend auch polnische Könige. Schließlich verfielen die Gebäude. 22 Das Bistum schied damit aus dem Schutzbereich des Deutschen Ordens aus. Es bewahrte aber seine Selbständigkeit und sein Deutschtum. 23 Vgl. W. Hubatsch (Anm. 5), S. 30; F. Gause (Anm. 2), S. 34; H. Boockmann (Anm. 3), S. 218 ff. 24 Vgl. F. Gause (Anm. 2), S. 34; G. Rhode (Anm. 3), in: G. Rhode S. 104. 25 Text: E. Weise (Anm. 20), Die Staatsverträge des Deutschen Ordens in Preußen im 15. Jahrhundert, Band 2, 1955, Nr. 403, S. 262 ff.; G. Gornig (Anm. 20), Das Nördliche Ostpreußen, S. 244 ff. 26 E. M. Wermter, Die Reichsacht gegen Danzig und Elbing (1497 – 1515). Städtische Handelspolitik im Spiel der Großmächte, in: B. Jähnig/H.-J. Schuch (Hrsg.), Elbing 1237 – 1987. Quellen und Darstellungen zur Geschichte Westpreußens, Nr. 25, 1991, S. 75 ff., 78, 88 ff., 94 f.; G. Gornig, Territoriale Entwicklung und Untergang Preußens, 2000, S. 47 f. 27 W. Hubatsch (Anm. 5), S. 31; vgl. auch H. Boockmann (Anm. 3), S. 219.

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an ungültig gewesen sei.28 Der Streit, der in unserer Zeit vorwiegend unter nationalen Gesichtspunkten bewertet wird, war in erster Linie von ständischen und territorialen Interessen beherrscht. Die verfassungsrechtliche Lage ändert nichts daran, dass der Zweite Thorner Frieden für 300 Jahre die Teilung des Preußenlandes bedeutete und an die Stelle des Kaisers der König von Polen trat. Der Thorner Frieden hatte aber auf die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung keine Auswirkung. Mehrheitlich29 war das Gebiet mit Deutschen besiedelt.30 Sprache, Kleidung, Sitte, Recht und Lebensart waren deutsch.31 Der Orden holte Polen aus Masowien und Litauer in das Land, um die Wildnis zu besiedeln. Es kamen auch politische Flüchtlinge, da der Orden die Auslieferung solcher Flüchtlinge als unmenschlich ablehnte. Diese Menschen fügten sich der Ordnung des Staates, in dem sie – im Gegensatz zu ihrer Heimat – Freiheit genossen, und wurden zu Preußen.32 4. Lubliner Dekret Mit dem Erlass des Lubliner Dekrets am 16. März 1569, das als Interpretation des Inkorporationsprivilegs von 1454 gewertet werden kann, wurde allerdings die Selbständigkeit der preußischen Städte unter Verletzung des Vertrags von 1454 beseitigt. Der polnische König Sigismund II. August wandte sich wieder gegen Danzig. So wurden Danziger Bürgermeister und Ratsherren ohne Begründung verhaftet und gefangen gehalten. Die von einer Kommission entworfene „Statuta Karnkowiana“, die die Stadt in eine Abhängigkeit von der Krone bringen sollte, wurde zwar von König Sigismund II. August am 20. Juli 1570 zum Gesetz erhoben, kam allerdings nicht zur Umsetzung, da sich die Danziger dagegen wehrten. Vom neu gewählten König Stephan Bathory, ein Ungar, verlangte der Rat die Bestätigung der Rechte der Stadt Danzig, bevor man ihm huldigen33 wollte. Aus diesem Grunde verhängte der König am 24. September 1576 gegenüber Danzig die Acht und griff mit einem großen Heer die stark befestigte Stadt an. Nach ersten kriegerischen Auseinandersetzungen versuchte man zu verhandeln, es wurden jedoch die Danziger 28

H. Boockmann (Anm. 3), S. 227. Es gab eine kaschubische, polnische und pruzzische Minderheit; vgl. R. Ruhnau, Danzig. Geschichte einer deutschen Stadt. 1971, S. 33. 30 Vgl. W. Krallert (Bearb.), Atlas zur Geschichte der deutschen Ostsiedlung, 1958, S. 10 f.; vgl. auch W. Kuhn, Der Gang der deutschen Besiedlung, in: G. Rhode (Hrsg.), Die Ostgebiete des deutschen Reiches, 1956, S. 27 ff. (40 ff.). 31 So R. Ruhnau (Anm. 29), S. 33. 32 F. Gause (Anm. 2), S. 34. 33 Bei der Huldigung (lat. homagium) handelt es sich um ein Treueversprechen im mittelalterlichen Lehnswesen. Der Lehnsnehmer war verpflichtet, seinem Lehnsherrn Gefolgschaft und Treue zuzusichern. Der Lehnsherr sicherte dem Vasallen im Gegenzug ebenfalls Treue und darüber hinaus Schutz sowie die Wahrung seiner Rechte zu. Huldigung durch Fremde heißt nicht, dass man sich dem Staatsverband des Gehuldigten anschließt. 29

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Abgesandten widerrechtlich verhaftet. Am 11. Februar 1577 verhängte der König erneut die Acht und setzte die Danziger Gesandten für sieben Monate fest. Das polnische Heer besetzte die Halbinsel Hela und fügte den Danzigern eine Niederlage bei Dirschau zu. Diese verteidigten aber sodann ihre belagerte Stadt erfolgreich und zwangen die Polen zum Abzug. Auch eine zweite polnische Belagerung mit 17.000 Mann musste nach für Danzig siegreich verlaufenden Kämpfen abgebrochen werden. Der König zog sich nach Marienburg zurück, Danzig hatte sich somit behauptet. Durch Vermittlung des Kurfürsten von Sachsen kam es am 12. September 1577 zum Friedensschluss. Gegen Geldzahlung hob König Stephan Bathory die Acht auf, bestätigte alle Privilegien und sicherte die Ausübung des protestantischen Bekenntnisses zu. Im Pfahlgeldvertrag (Pfahlgeld sind Hafengebühren) vom 26. Februar 1585 wurden die städtischen Rechte nochmals bestätigt und der König nahm die Statuta Karnkowiana zurück. Danzig erhielt so weitgehende Vorrechte, dass seine Stellung an der Weichselmündung der einer der hansischen Reichsstädte im Heiligen Römischen Reich vergleichbar wurde. Nachdem die Beziehungen zur Krone Polen befriedet und gefestigt waren, erlebte Danzig, das nun etwa 50.000 Einwohner zählte, einen beachtenswerten wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung. Faktisch gelang es also der Stadt Danzig in Anerkennung der Schutzhoheit des polnischen Königs seinen weitgehend unabhängigen Status als deutsche Stadtrepublik durchzusetzen und alle polnischen Einflussversuche abzuwehren. 5. Teilungsvertrag Im Teilungsvertrag vom 23. Januar 1793 erhielt Preußen die Kontrolle über Danzig und Thorn sowie über Großpolen und Teile Masowiens, welche zur neuen Provinz Südpreußen zusammengefasst wurden.34 Im Rahmen der Polnischen Teilung nahm Friedrich der Große das Gebiet um Danzig mit dem Hafengelände an der Weichselmündung mit Neufahrwasser und der durch Anschwemmungen und Aufschüttungen aus zwei kleinen Inseln entstandenen Halbinsel Westerplatte in Besitz. Danzig sträubte sich aber auch gegen einen Anschluss an Preußen und wünschte seine unabhängige Stellung zu erhalten. Entscheidend für seine Umorientierung war schließlich die Erkenntnis, dass die Schutzbeziehung zur Krone Polen ihre Wirkung und ihre Bedeutung für die weitere Lebens- und Entwicklungsfähigkeit der Stadtrepublik Danzig verloren hatte und dass unter dem wachsenden Druck der Danzig umgebenden preußischen Gebiete die Existenzgrundlagen der Stadt nicht mehr sicherzustellen waren. Am 11. März 1793 beschlossen Rat und Bürgerschaft die Angliederung der Stadt an Preußen.35 Auf diese Weise endete nun die Schutzbeziehung zum König 34

Das russische Territorium erweiterte sich um ganz Weißrussland sowie weite Gebiete Litauens und der Ukraine. Vgl. insgesamt A. Michel, Polens Staatlichkeit in sieben Jahrhunderten. Eine völkerrechtliche Analyse zur Staatensukzession, 2014, S. 62 ff., 345 ff. 35 Damit ist die Darstellung, Danzig sei durch die zweite Teilung Polens im Petersburger Vertrag vom 23. 1. 1793 zu Preußen gekommen oder gar von Polen an Preußen abgetreten worden, nicht zutreffend.

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von Polen, die dieser ohnehin nicht mehr ausübte und nicht mehr auszuüben gedachte. Am 4. April rückten preußische Truppen ohne Störungen vereinbarungsgemäß in die Stadt ein. 6. Frieden von Tilsit Nach den Niederlagen der Preußen unter dem greisen Herzog Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig gegen die Franzosen bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806, dem unentschiedenen Schlachtausgang von Preußisch-Eylau vom 7./ 8. Februar 1807 zwischen einem preußischen Heer und den Franzosen und der Niederlage des russischen Heeres bei Friedland vom 14. Juni 1807 wurde am 7. Juli 1807 der Frieden von Tilsit 36 geschlossen, in dem sich Frankreich und Russland verständigten. In einem – anderen – Frieden von Tilsit vom 9. Juli 180737 musste Preußen seine Erwerbungen aus der zweiten und dritten polnischen Teilung und den Netzedistrikt bis auf einen schmalen nordwestlichen Streifen38 abtreten (Art. 13). Aus ihnen wurde ein „Herzogtum Warschau“39 (Art. 15) unter dem König von Sachsen, Friedrich August, gebildet.40 Mit Art. 14 verlor Preußen die Stadt Danzig. Sie wurde gemäß Art. 19 Freie Stadt unter französischer Besetzung. Der größte Teil Westpreußens, allerdings ohne Thorn und Kulm, blieb bei Preußen. 7. Wiener Kongress Die Beschlüsse des Wiener Kongresses 1814/1815 nach dem endgültigen Sieg über Napoleon haben die Zugehörigkeit Danzigs zu Preußen und damit zu Deutschland nicht in Zweifel gezogen.41

36 Text: C. Parry (ed.), The Consolidated Treaty Series, vol. 59 (1806 – 1809), 1969, S. 255 ff. 37 Text: C. Parry (ed.), The Consolidated Treaty Series, vol. 59 (1806 – 1808), 1969, S. 225 ff.; G. Gornig (Anm. 3), Das Nördliche Ostpreußen, Dokument III.6., S. 276 ff. Der Vertrag galt bis zum Vertrag von Kalisch vom 26./27. 2. 1813, Text: G. Fr. de Martens, Nouveau Recueil des traités depuis 1808 jusqu’à présent (1839), tome III, S. 234 ff. 38 Dieser nordwestliche Streifen ist derselbe Teil des Netzedistrikts, der 1815 bei der Provinz Westpreußen verblieb, während der Rest an die Provinz Posen fiel. 39 Es bestand aus Südpreußen, Neuostpreußen, Warschau, Kulmerland, Netzedistrikt. Dazu vgl. A. Michel (Anm. 34), Polens Staatlichkeit in sieben Jahrhunderten, S. 75 ff. 40 Vgl. H. Marzian, Die Rolle Brandenburg-Preußens in der europäischen Ostpolitik 1648 – 1815, in: Göttinger Arbeitskreis (Hrsg.), Das östliche Deutschland. Ein Handbuch, 1959, S. 296 f.; ferner: H. Boockmann (Anm. 3), S. 339. 41 Dazu vgl. A. Michel (Anm. 34), Polens Staatlichkeit in sieben Jahrhunderten, S. 77 ff., 450.

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8. Resümee Stets hat sich die Stadt Danzig durch die ihr verliehenen bzw. von ihr ausbedungenen Privilegien eine besondere Position zu bewahren gewusst. Zwar musste Danzig wiederholt um die Aufrechterhaltung seiner Sonderposition kämpfen, wobei die Stadt auch kriegerische Auseinandersetzung nicht scheute, aber immer wusste sie ihre Selbstständigkeit zu bewahren. Alle diese Ereignisse spielen allerdings für den völkerrechtlichen Status der Stadt Danzig keine Rolle, so dass die damaligen historischen Ereignisse unvoreingenommen aufgearbeitet werden können. Selbst wenn man der geschichtlich nicht haltbaren Meinung folgen würde, dass die deutsche Stadt Danzig in den Staatsverband des Königreichs Polen integriert worden sei, können daraus keine Schlussfolgerungen für die heutige Rechtslage abgeleitet werden. Die Begründungsversuche Skubiszewskis42, der unter Missachtung historischer Tatsachen die deutsche Hansestadt Danzig als Bestandteil des polnischen Königreiches vor ihrem Anschluss an Preußen im Jahre 1793 betrachtet und wiederum unter Verkennung historischer Tatsachen davon spricht, dass Danzig den polnischen Staat verteidigt habe – in Wirklichkeit erfüllte Danzig seine Vertragspflichten gegenüber dem polnischen Wahlkönig – können unberücksichtigt bleiben, da sich aus diesen historischen – zumal auch falschen – Darlegungen keine territorialen Ansprüche herleiten lassen43. II. Erster Weltkrieg und Versailler Friedensvertrag 1. Gebietsverluste in Westpreußen Bereits nach dem Ersten Weltkrieg forderte Polen neben Westpreußen, Ostpreußen und Oberschlesien auch Danzig.44 Dabei wurde von Polen immer wieder die unbegründete Behauptung aufgestellt, der wesentliche Teil der Bevölkerung jener Gebiete sei polnisch.45 Vielmehr überwog die deutsche Bevölkerung in fast allen Teilen der Provinz Westpreußen erheblich.46 42

K. Skubiszewski, Die Westgrenze Polens, 1975, S. 285. Vgl. H. V. Böttcher (Anm. 13), Die Freie Stadt Danzig, S. 180 ff.; H. Kraus, Der völkerrechtliche Status der deutschen Ostgebiete innerhalb der Reichsgrenzen nach dem Stande vom 31. Dezember 1937, S. 44 ff.; S. Krülle, Die völkerrechtlichen Aspekte des Oder-NeißeProblems 1970, S. 295 ff. 44 Vgl. F. Faust, Das Potsdamer Abkommen und seine völkerechtliche Bedeutung, 4. Aufl. 1969, S. 130; G. Gornig, Das Memelland. Gestern und heute. Eine historische und rechtliche Betrachtung, 1991, S. 29 f.; F. Gause (Anm. 3), S. 80. 45 Vgl. auch G. Rhode (Anm. 3), in: G. Rhode, S. 120. 46 Vgl. E. Keyser, Die Bevölkerung der östlichen Provinzen des Preußischen Staates von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Jahre 1939, in: G. Rhode (Hrsg.), Die Ostgebiete des Deutschen Reiches, 3. Aufl. 1956, S. 54 ff. (79 ff.). 43

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Am 28. Juni 1919 wurde im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles der Friedensvertrag von Versailles47 unterzeichnet. Darin musste Deutschland und insbesondere Preußen erhebliche Gebietsverluste hinnehmen.48 An Polen fiel der Hauptteil von Posen.49 Der mit 15.864,5 km2 mit 965.000 Einwohnern größere, westlich der Weichsel liegende Teil von Westpreußen wurde ohne Abstimmung Polen zugesprochen.50 Das westpreußische Danzig wurde als Freie Stadt unter den Schutz des Völkerbundes gestellt und dem polnischen Zollgebiet eingegliedert.51 Danzig war 1914 km2 groß. Es lebten im Gebiet 331.000 Einwohner, davon waren zwischen 1920 und 1934 stets weniger als 5 % polnische Staatsangehörige und polnisch sprechend.52 Im westpreußischen Bezirk Marienwerder – und im ostpreußischen Bezirk Allenstein53 – waren Volksabstimmungen vorgesehen.54 Betroffen waren die westpreußischen Kreise Stuhm und Rosenberg und der Teil des Kreises Marienburg östlich der Nogat sowie der Teil des Kreises Marienwerder östlich der Weichsel.55 In den Abstimmungsgebieten war die deutsche Regierung nur durch Reichskommissare vertreten. Die deutsche Verwaltung ging an interalliierte Kommissionen über. Trotz der Möglichkeit, sich bei der Abstimmung für den Übergang in einen neuen, auf Seiten der Siegermächte stehenden und von diesen wirtschaftlich geförderten Staat auszusprechen, entschieden sich bei der Abstimmung in Westpreußen und Masuren im Abstimmungsgebiet Marienwerder 96.894 Stimmberechtigte oder 92,4 % und in Masuren 363.209 Stimmberechtigte oder 97,8 %56 für den Verbleib bei Deutschland.57 Im 47 Text: RGBl. 1919, S. 688 ff.; G. Gornig (Anm. 20), das Nördliche Ostpreußen, Dokument V.2., S. 288 ff. 48 Neben den im Folgenden erwähnten Gebieten erhielt Polen Teilstücke von Pommern (9,6 km2), Brandenburg (0,05 km2) und Niederschlesien (511 km2). 49 Es war 26.041,8 km2 groß. 50 Vgl. Art. 27 Nr. 2 Versailler Vertrag, der die Grenze mit Polen festlegte. Vgl. ferner Art. 87 Versailler Vertrag. Vgl. auch G. Rhode (Anm. 3), in: G. Rhode S. 120 f.; P. Barandon, Der Vertrag von Versailles in seiner Bedeutung für Deutschlands Osten und die Nachbarstaaten, in: Göttinger Arbeitskreis (Hrsg.), Das östliche Deutschland. Ein Handbuch, 1959, S. 429 ff. (443). 51 Vgl. Art. 100 – 108 Versailler Vertrag. 52 Vgl. J. F. D. Morrow/L. M. Sieveking, The Peace Settlement in the German Polish Borderlands, 1936, S. 109. 53 Betroffen war das ostpreußische Gebiet zwischen der West- und Nordgrenze des Regierungsbezirks Allenstein bis zu ihrem Schnittpunkt mit der Grenze zwischen den Kreisen Oletzko und Angerburg, von dort die Nadgrenze des Kreises Oletzko bis zu ihrem Schnittpunkt mit der alten Grenze Ostpreußens und der südlichen Grenze Ostpreußens (vgl. Art. 96 Versailler Vertrag; vgl. auch G. Rhode (Anm. 3), in: G. Rhode, S. 121). Es handelte sich um die Kreise Neidenburg ohne Soldau, Osterode, Ortelsburg, Johannisburg, Sensburg, Lyck, Oletzko, Lötzen, Allenstein-Stadt, Allenstein-Land und Rößel (vgl. Art. 99, 28 Versailler Vertrag). 54 Vgl. Art. 27 Versailler Vertrag; vgl. auch G. Rhode (Anm. 3), in: G. Rhode, S. 121. 55 Vgl. Art. 96 Versailler Vertrag; vgl. auch G. Rhode (Anm. 3), in: G. Rhode, S. 121. 56 Vgl. M. Worgitzki, Geschichte der Abstimmung in Ostpreußen, 1921; vgl. dort die Tabelle S. 142; ferner: P. Hoffmann, Die Volksabstimmung in Westpreußen am 11. Juni 1920.

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Ermland58 stimmten etwa 6.000 Personen für Polen, obwohl im Jahre 1910 von der Bevölkerung 41.527 Personen polnisch als ihre Muttersprache angegeben hatten, was einer Stimmberechtigtenzahl von 22.000 entsprochen hätte.59 Im westpreußischen Abstimmungsgebiet sprachen sich 7.947 Stimmen für Polen aus, obwohl 22.194 Personen im Jahre 1910 polnisch als Muttersprache angegeben hatten.60 Damit war bewiesen, dass die polnische Propaganda vom polnischen Charakter der Gebiete nicht der Wahrheit entsprach. Trotz des eindeutigen Ergebnisses für einen Verbleib bei Deutschland sprach die Botschafterkonferenz nicht die ganzen Abstimmungsgebiete Deutschland zu.61 Im Übrigen zog man die Grenzlinie an der Weichsel nicht in der Strommitte, sondern auf dem rechten Ufer, so dass Ostpreußen nur einen einzigen – vier Meter breiten – Zugang zur Weichsel62 erhielt. Nur kleine Randgebiete von Westpreußen, nämlich die Stadt Elbing und ihr Landkreis, ferner die Kreise Deutsch-Krone, Flatow und Schlochau, die beiden letzteren allerdings verkleinert, blieben bei Deutschland, ebenso drei schmale räumlich nicht einmal zusammenhängende westliche Streifen der Provinz Posen einschließlich der Stadt Schneidemühl. Aus den westpreußischen Teilen, die zu Polen kamen,63 wurde die deutsche Bevölkerung vertrieben.64 Die territorialen Verluste Preußens 1919/20 beliefen sich auf 56.058 km2. Der Bestand am 1. November 1918 betrug 348.780 km2, ohne die größeren Wasserflächen. Demnach hatte Preußen rund 16 % seiner Fläche abgeben müssen.65 Diese erhebli-

Vergleichende Darstellung der Abstimmungsergebnisse aufgrund des amtlichen Materials, 1920, S. 7; G. Rhode (Anm. 3), in: G. Rhode, S. 122; 154. 57 An den Abstimmungen hatten auch insgesamt 152.000 Personen teilgenommen, die in den Abstimmungsgebieten geboren, aber inzwischen abgewandert waren. Die nach 1905 Zugezogenen waren jedoch nicht stimmberechtigt, um so jede Verschiebung zugunsten Deutschlands, etwa durch Beamte, zu vermeiden. 58 Stadt- und Landkreis Allenstein und Kreis Röfel. 59 G. Rhode (Anm. 3), in: G. Rhode, S. 123. 60 G. Rhode (Anm. 3), in: G. Rhode, S. 123. 61 Vielmehr wurden vom Regierungsbezirk Allenstein drei, vom Regierungsbezirk Marienwerder fünf Dörfer an Polen gegeben, vgl. G. Rhode (Anm. 3), in: G. Rhode, S. 123. 62 Bei Kurzebrack. 63 Die Kreise westlich des Korridors, Deutsch-Krone, Flatow und Schlochau blieben bei Deutschland und bildeten zusammen mit Teilen der ehemaligen Provinz Posen die Grenzmark Posen-Westpreußen. Danzig wurde als Freistaat konstituiert. 64 P. Barandon (Anm. 50), in: Göttinger Arbeitskreis, S. 445. 65 Neben den 501 km2 Ostpreußen, 15.864 km2 Westpreußen und 1894 km2 Danzig verlor Preußen auch über 9000 km2 schlesisches Gebiet, 26.041 km2 Posener Gebiet, 9 km2 pommersches Gebiet, 0,05 km2 brandenburgisches Gebiet, 3800 km2 schleswig-holsteinisches Gebiet, 1036 km2 der Kreise Eupen und Malmedy und über 6 km2 Moresnet. Die meisten Gebiete fielen an Polen. An die Tschechoslowakei kam das oberschlesische Hultschiner Ländchen. Nordschleswig mit den Inseln Aalsen und Röm/Romö fiel an Dänemark und Eupen/Malmedy an Belgien. Außerdem wurde von der Rheinprovinz ein Teil des Saargebietes abgetrennt und nach 1935 nicht wieder eingegliedert. Die Verluste, die der Versailler Frie-

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chen Gebietsverluste bedeuteten jedoch nicht den Zusammenbruch Preußens und den Untergang als Staat. 2. Insbesondere: Danzigs Schicksal nach dem Versailler Vertrag Nach Art. 100 Versailler Vertrag verzichtet Deutschland „zugunsten der alliierten und assoziierten Hauptmächte auf alle Rechte und Ansprüche auf das Gebiet innerhalb folgender Grenzen: von der Ostsee nach Süden bis zu dem Punkte, wo sich die Hauptschiffahrtswege der Nogat und der Weichsel treffen; die Grenze Ostpreußens, wie sie im Artikel 28 des Teiles II (Grenzen Deutschlands) des vorliegenden Vertrages beschrieben ist; von hier den Hauptschiffahrtsweg der Weichsel stromabwärts bis zu einem Punkte, der ungefähr 6 1/2 km nördlich der Brücke bei Dirschau liegt; von hier nach Nordwesten bis zur Höhe 5, die 1 1/2 km südöstlich der Kirche von Güttland liegt, eine im Gelände festzulegende Linie; von hier nach Westen bis zu dem Vorsprung, den die Grenze des Kreises Berent 812 km nordöstlich von Schöneck bildet, eine im Gelände festzulegende Linie, die zwischen Mühlbanz im Süden und Rambeltsch im Norden verläuft; von hier nach Westen die Grenze des Kreises Berent bis zu der Einbuchtung, die sie 6 km nordnordwestlich von Schöneck bildet; von hier bis zu einem Punkte auf der Mittellinie des Lonkenersees eine im Gelände festzulegende Linie, die nördlich von Neu-Fietz und Schatarpi und südlich von Bärenhütte und Lonken verläuft; von hier die Mittellinie des Lonkener Sees bis zu seinem Nordende; von hier bis zu dem Südende des Pollenziner Sees eine im Gelände festzulegende Linie; von hier eine Linie durch die Mitte des Pollenziner Sees bis zu seinem Nordende; von hier nach Nordosten bis zu dem Punkte ungefähr 1 km südlich der Kirche von Koliebken, wo die Eisenbahn Danzig-Neustadt einen Bach überschreitet, eine im Gelände festzulegende Linie, die südöstlich von Kamehlen, Krissau, Fidlin, Sulmin (Richthof), Mattem, Schäferei und nordwestlich von Neuendorf, Marschau, Czapiolken, Hoch- und Klein-Kelpin, Pulvermühle, Renneberg und den Städten Oliva und Zoppot verläuft; von hier den Lauf des obenerwähnten Baches bis zur Ostsee. Die vorstehend beschriebenen Grenzen sind auf einer deutschen Karte im Maßstab 1:100000 eingezeichnet, die dem vorliegenden Vertrage unter Nr. 4 beigefügt ist.

Nach Artikel 102 verpflichteten sich die alliierten und assoziierten Mächte, die Stadt Danzig nebst dem im Artikel 100 bezeichneten Gebiet zur freien Stadt zu erklären. Die Freie Stadt Danzig bestand damals aus den Städten Danzig und Zoppot

densvertrag dem Reich auferlegte, waren somit ausschließlich preußische Verluste, sieht man von Elsass-Lothringen ab.

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sowie den kleineren Städten Tiegenhof, Praust, Neuteich, Oliva und Ohra, wobei Neuteich und Tiegenhof im Danziger Werder bzw. im Kreis Großes Werder lagen. Danzig wurde unter den Schutz bzw. die Aufsicht des Völkerbundes gestellt. Polnische und britische Truppen hatten die Aufgabe, den neuen Status der Stadt zu gewährleisten. Da die Entscheidung über den Status der Stadt nicht von einer Volksabstimmung abhängig gemacht wurde, sah man damit das vom US-Präsidenten Woodrow Wilson in seinem Vierzehn Punkte-Programm proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker verletzt. Die Verfassung der freien Stadt Danzig wurde nach Art. 103 Versailler Vertrag im Einvernehmen mit einem Oberkommissar des Völkerbundes von ordnungsmäßig ernannten Vertretern der freien Stadt ausgearbeitet. Sie wurde unter die Gewährleistung des Völkerbundes gestellt. Der Oberkommissar wurde ferner beauftragt in erster Instanz über alle Streitigkeiten zu entscheiden, welche sich zwischen Polen und der freien Stadt über den gegenwärtigen Vertrag oder die ergänzenden Abmachungen und Vereinbarungen ergaben. Nach Art. 104 Versailler Vertrag sollte ein Abkommen zwischen der polnischen Regierung und der genannten in Aussicht genommenen freien Stadt getroffen werden: „1. um die freie Stadt Danzig. in das polnische Zollgebiet aufzunehmen und eine Freizone im Hafen einzurichten; 2. um Polen ohne jede Einschränkung den freien Gebrauch und die Benutzung der Wasserstraßen, Docks, Hafenbecken, Kais und sonstigen Anlagen im Gebiet der freien Stadt zu sichern, welche für die Einfuhr und Ausfuhr aus Polen notwendig sind;

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3. um Polen die Überwachung und Verwaltung der Weichsel und des gesamten Eisenbahnnetzes im Gebiete der freien Stadt zu sichern, abgesehen von den Straßenbahnen und anderen Bahnen, die in erster Linie den Bedürfnissen der freien Stadt dienen, ebenso wie die Überwachung und Verwaltung des Post-, Telegraphen- und Telephonverkehrs zwischen Polen und dem Hafen von Danzig; 4. um Polen das Recht des Ausbaues und der Verbesserung der Wasserstraßen, Docks, Hafenbecken, Kais, Eisenbahnen und sonstiger, vorbezeichneter Anlagen und Verkehrsmittel zu sichern und zu angemessenen Bedingungen die hierzu notwendigen Grundstücke und anderes Eigentum zu mieten oder zu kaufen; 5. um dafür zu sorgen, daß in der freien Stadt Danzig kein benachteiligender Unterschied zum Schaden polnischer Staatsangehöriger oder anderer Personen polnischer Abstammung oder Sprache gemacht wird; 6. um die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten der freien Stadt Danzig durch die polnische Regierung zu sichern, ebenso wie den Schutz ihrer Staatsangehörigen im Auslande.“

Von dem Inkrafttreten des Versailler Vertrages an verloren nach Art. 105 die deutschen Reichsangehörigen, die das im Artikel 100 bezeichnete Gebiet bewohnten, ohne weiteres (ipso facto) die deutsche Reichsangehörigkeit, da sie Staatsangehörige der freien Stadt Danzig wurden. Die polnische Minderheit besaß eigene Schulen und ein Vereinswesen, außerdem lebten in Danzig Kaschuben und Russen. Unter den Einwohnern fanden sich auch zahlreiche Juden. Bei der Volkszählung vom 1. November 1923 gaben 95 Prozent der Bürger Deutsch und drei Prozent Polnisch bzw. Kaschubisch als Muttersprache an. Während zweier Jahre vom Inkrafttreten des Vertrages an durften nach Art. 106 die deutschen Reichsangehörigen von über 18 Jahren, die ihren Wohnsitz in dem im Artikel 100 bezeichneten Gebiete hatten, für die deutsche Reichsangehörigkeit optieren. Die Option des Ehegatten schloss die der Ehefrau, die Option der Eltern die der Kinder unter 18 Jahren ein. Personen, welche das vorerwähnte Recht der Option ausgeübt hatten, mussten innerhalb der darauffolgenden zwölf Monate ihren Wohnsitz nach Deutschland verlegen. Sie konnten ihren Grundbesitz, den sie im Gebiet der freien Stadt Danzig hatten, behalten. Sie konnten ihr bewegliches Eigentum jeder Art mitnehmen. Es wird ihnen hierfür kein Zoll, weder für die Einfuhr noch für die Ausfuhr, auferlegt. Alles Eigentum des Deutschen Reichs oder der deutschen Staaten, das in dem Gebiet der freien Stadt Danzig gelegen ist, ging gemäß Art. 17 Versailler Vertrag auf die alliierten und assoziierten Hauptmächte über. Diese konnten es, wie sie es für recht und billig fanden, an die freie Stadt oder den polnischen Staat abtreten. Art. 105 und Art. 106 des Versailler Vertrages sahen den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit und den Erwerb einer neu zu schaffenden Danziger Staatsangehörigkeit durch die Bewohner der Stadt vor66.

66 Vgl. W. Schätzel, Der Wechsel der Staatsangehörigkeit infolge der deutschen Gebietsabtretungen, Berlin 1921, S. 83 ff., und Nachtrag, 1922, S. 135 ff.

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3. Politische und wirtschaftliche Aspekte Die Freie Stadt Danzig hatte nach einem anfänglichen Wirtschaftsaufschwung erhebliche wirtschaftliche Probleme, da nun Zollgrenzen Danzig vom Deutschen Reich trennten. Aber auch die globale Wirtschaftskrise nach dem Ersten Weltkrieg und eine wenig entwickelte Industrie machten der Stadtrepublik zu schaffen.67 Die Probleme waren Anlass für Beschwerden der Freien Stadt Danzig an den Völkerbund, die jedoch kaum Beachtung fanden. Auch wurden durch die Probleme in der Region die Ressentiments gegen Polen geschürt. Zuwanderer aus den ehemals deutschen Gebieten um Posen, die unter Diskriminierungen zu leiden hatten, verstärkten diese. Im Jahr 1933 kamen auch in Danzig die Nationalsozialisten (NSDAP) an die Macht68. Während Hermann Rauschning 1933/34 als Senatspräsident eine Entspannung mit Polen anstrebte69, ging sein Nachfolger Arthur Greiser zu Polen auf Distanz und führte die Freie Stadt Danzig in die Abhängigkeit zum Deutschen Reich. Im Sommer 1939 nahmen die Spannungen zwischen Polen und Danzig zu, als Polen die militärische Besatzung auf der Westerplatte von ursprünglich durch den Völkerbund genehmigten 88 Soldaten auf 240 sowie die Anzahl der Zollbeamten von 6 auf 110 erhöhte.70 Ende August 1939 ließ sich Gauleiter Albert Forster zum Staatsoberhaupt der Freien Stadt Danzig ernennen und verfügte am 1. September 1939, nachdem reichsdeutsche Streitkräfte das polnische Munitionsdepot auf der Westerplatte angegriffen hatten71, die Wiedervereinigung Danzigs mit dem Deutschen Reich.72 III. Eingliederung der Freien Stadt Danzig durch das Deutsche Reich 1. Fakten Am 23. August 1939 unterzeichneten von Ribbentrop und Molotow in Moskau den Hitler-Stalin-Pakt73 und anschließend die ergänzenden Geheimabkommen

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Dazu W. Epp (Anm. 6), S. 187 ff. Vgl. auch H. A. Harder, Danzig, Polen und der Völkerbund. Eine politische Studie, 1928. 68 Dazu W. Epp (Anm. 6), S. 207 ff. 69 Dazu W. Epp (Anm. 6), S. 209. 70 Vgl. W. Epp (Anm. 6), S. 203. 71 Der deutsche Angriff auf die Westerplatte wird als Beginn des Zweiten Weltkrieges in Europa gesehen. 72 Vgl. dazu den Text einer nationalsozialistischen Propagandaschrift: https://www. wintersonnenwende.com/scriptorium/deutsch/archiv/reichsgaudanzigwp/nrdw05.html. 73 Hierzu vgl. G. Gornig, Der Hitler-Stalin-Pakt. Eine völkerrechtliche Studie, 1990.

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vom 23. August 1939 und vom 28. September 1939.74 Schon am 1. September 1939 begann der von Adolf Hitler befohlene Einmarsch in Polen und in Danzig, unterstützt von deutschen und Danziger Verbänden. Im Laufe des ersten Kriegstages wurde durch eine Reihe staatlicher Akte die Eingliederung der Freien Stadt Danzig in das Deutsche Reich vollzogen. Forster, der zum Staatsoberhaupt der Freien Stadt Danzig als Führer der NSDAP des Gaues Danzig ernannt wurde, erließ am 1. September 1939 das Staatsgrundgesetz75 mit dem die Verfassung der Freien Stadt Danzig aufgehoben, alle gesetzgebende und vollziehende Gewalt dem Staatsoberhaupt übertragen und die Freie Stadt Danzig zum Bestandteil des Deutschen Reiches erklärt wurde. Dort heißt es in Art. III, dass die Freie Stadt Danzig mit sofortiger Wirkung mit ihrem Gebiet und mit ihrem Volk einen Bestandteil des Deutschen Reiches bildet.76 Im deutschen Gesetz über die Wiedervereinigung der freien Stadt Danzig mit dem Deutschen Reich vom 1. September 193977 wird gemäß § 1 das vom Staatsoberhaupt der Freien Stadt Danzig erlassene Staatsgrundgesetz über die Wiedervereinigung Danzigs mit dem Deutschen Reich Reichsgesetz. Die Staatsangehörigen der bisherigen freien Stadt Danzig werden deutsche Staatsangehörige nach Maßgabe von § 2 dieses Gesetzes. Nach einem Monat wurde die militärische Verwaltung beendet und Danzig als „Reichsgau Westpreußen“78, später „Reichsgau Danzig Westpreußen“79 mit den Regierungsbezirken Danzig, Marienwerder und Bromberg, in die Verwaltungsgliederung des Deutschen Reiches einbezogen. 2. Völkerrechtliche Beurteilung Die Wiedervereinigung am 1. September 1939 führte weder in vertraglicher Hinsicht, noch als einseitige deutsche Maßnahme zur rechtswirksamen Eingliederung der Freien Stadt Danzig in das Deutsche Reich. Zum einen war der Inkorporationsvertrag nicht wirksam zustande gekommen, weil der Danziger Staat als Vertragspartner völkerrechtlich nicht rechtswirksam vertreten war. Für den Danziger Staat handelte nämlich das sog. Staatsoberhaupt Forster, dessen Ernennung durch den Senat verfassungswidrig war, da ein Staatsoberhaupt als 74 Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918 – 1945 aus dem Archiv des Deutschen Auswärtigen Amtes, Serie D (1937 bis 1945) (ADAP), Bd. VII: Die letzten Wochen vor Kriegsausbruch, August bis September 1939, 1956, Nr. 229, S. 206 f., und Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918 – 1945 aus dem Archiv des Deutschen Auswärtigen Amtes, Serie D (1937 bis 1945) (ADAP), Bd. VIII: Die Kriegsjahre. Erster Band, September 1939 bis März 1940, 1961, Nr. 159, S. 129. 75 Text: Danziger Gesetzblatt 1939, S. 435 ff. 76 Danziger Gesetzblatt 1939, S. 435. 77 RGBl. 1939 I, S. 1547. 78 Erlass über die Gliederung und Verwaltung der Ostgebiete vom 8. 10. 1939, RGBl. 1939 I, S. 2042, in Kraft getreten am 26. 10. 1939, RGBl. I, S. 2057. 79 Erlass vom 2. 11. 1939, RGBl. 1939 I, S. 3135.

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Person in der Danziger Verfassung nicht vorgesehen war. Seine Ernennung, mit der die Einheit von Partei und Staat proklamiert wurde, stützte sich auf das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Staat vom 23. Juni 193380 und das Verlängerungsgesetz vom 5. Mai 193781. Forster war somit nicht rechtmäßiges Verfassungsorgan des Danziger Staates. Auch das gesetzlich festgelegte parlamentarische Verfahren wurde nicht beachtet. Die völkerrechtliche Wirkung eines verfassungswidrigen Vertrages entfaltet sich zwischen den beiden Extremen der absoluten Irrelevanz (Irrelevanztheorie) und der absoluten Relevanz (Relevanztheorie) des innerstaatlichen Verfassungsrechts. Eine vermittelnde Ansicht versucht beide Extreme aneinander anzugleichen, indem sie, im Grundsatz von der Relevanztheorie ausgehend, eine Verletzung innerstaatlicher Kompetenznormen nur dann für den internationalen Bereich eine Bedeutung zukommen lässt, wenn diese offenkundig war und eine innerstaatliche Rechtsvorschrift von grundlegender Bedeutung betraf (Evidenztheorie). Von einer solchen Offenkundigkeit kann hier zum Nachteil des Deutschen Reiches ausgegangen werden. Nicht aber allein aus formellen Gründen ist das rechtswirksame Zustandekommen des Eingliederungsvertrages zu bezweifeln. Die Bedenken beziehen sich außerdem auf die Nichtvereinbarkeit des Vertrages mit völkerrechtlichen Vereinbarungen, die sowohl für das Deutsche Reich als auch für die Freie Stadt Danzig verbindlich waren. Beide Vertragsparteien verstießen nämlich gegen völkerrechtliche Verpflichtungen, denen sie aufgrund des Versailler Vertrages sowie der Folgeverträge, insbesondere der vereinbarten internationalen Schutzbeziehung für den Bestand der Freien Stadt Danzig, unterlagen. Der einseitige Eingliederungsakt war eine Annexion, die als Erwerbstitel nicht mehr anerkannt und damit völkerrechtswidrig war und zwar unabhängig von der Frage, ob es sich um eine kriegerische oder um eine nicht kriegerische Annexion handelte. Das völkerrechtswidrige Verhalten des Deutschen Reiches hatte daher nicht eine rechtswirksame Eingliederung Danzigs und nicht den Untergang des Danziger Staats zur Folge. IV. Eingliederung der Freien Stadt Danzig durch die Republik Polen 1. Besetzung Die Besetzung der Freien und Hansestadt Danzig durch Truppen des Deutschen Reiches fand sein Ende mit der Eroberung des Gebietes durch die sowjetischen Truppen und die mit ihnen verbündeten polnischen Streitkräfte. Damit hörte jedoch der Freistaat Danzig nicht auf zu existieren. Der Freistaat war nun ein besetzter Staat, da 80

Danziger Gesetzblatt 1933, S. 273. Danziger Gesetzblatt 1937, S. 358. Vgl. auch Verordnung betreffend das Staatsoberhaupt der Freien Stadt Danzig vom 23. 08. 1939, Text: Danziger Gesetzblatt 1939, S. 413. 81

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die sowjetischen und polnischen Streitkräfte als Besatzungsmächte zu betrachten sind. Allerdings hatten die Regierung der Sowjetunion und die kommunistische polnische Exilregierung, die vorerst in der Sowjetunion (Lublin) beheimatet war, in einem Geheimabkommen vom 27. Juli 194482 schon die Frage der künftigen Grenzen zwischen der UdSSR und Polen geregelt. In diesem Geheimabkommen war vorgesehen, dass Südostpreußen und das Gebiet von Danzig mit Stadt und Hafen an Polen fallen sollten. Mit Beschluss des sowjetischen Staatskomitees für Verteidigung Nr. 7558 vom 20. Februar 194583 übertrug die Sowjetunion die deutschen Ostgebiete sowie Danzig gemäß dem Grenzabkommen vom 27. Juli 1944 den Polen zur Verwaltung. In diesem Beschluss wurde jedoch der ausdrückliche Vorbehalt gemacht, dass die polnische Verwaltung der deutschen Ostgebiete und der Freien Stadt Danzig sich vorerst auf die Zeit bis zur endgültigen Festlegung der Grenzen Deutschlands beschränken sollte. Auf der Potsdamer Konferenz der Siegermächte, die im Juli/August 1945 in Potsdam stattfand und mit dem sogenannten Potsdamer Abkommen84 abgeschlossen wurde, wurde die zwischen der Regierung der Sowjetunion und der polnischen Lubliner Exilregierung in ihrem Geheimabkommen vom 27. Juli 1944 vereinbarte Grenzregelung bestätigt, das heißt, die Freie Stadt Danzig verblieb in dem Gebiet, das den Polen zur Besetzung und vorläufigen Verwaltung übergeben worden war. 2. Polnische Annexion Schon vor Beendigung des Zweiten Weltkrieges, am Tage der Besetzung durch sowjetische und polnische Truppen, wurde „die ehemalige Freie Stadt Danzig“ durch Dekret des polnischen Ministerrates vom 30. März 194585 als Wojewodschaft (Provinz) Danzig dem polnischen Staat eingegliedert86. Das Dekret wurde vom Prä82 In den drei ersten Artikeln des Geheimabkommens vom 27. Juli 1944 wurden der exakte Verlauf der polnisch-sowjetischen Grenze und die Angliederung des nördlichen Ostpreußens einschließlich der Stadt Königsberg an die UdSSR festgeschrieben. Den übrigen Teil von Ostpreußen und die Stadt Danzig sprach Stalin Polen zu. Vgl. dazu BT-Drs. 11/6945 vom 204.1990. 83 Beschluss des Staatlichen Komitees für Verteidigung der UdSSR über die vorläufige Festlegung der westlichen Staatsgrenze Polens und die Tätigkeit der polnischen Verwaltung auf dem gesamten befreiten Territorium Polens, Nr. 7558 vom 20. Februar 1945, Text: J. Foitzik (Hrsg.), Sowjetische Kommandanturen und deutsche Verwaltung in der SBZ und frühen DDR, 2015, III. Dokument Nr. 1. 84 Text: Amtsblatt des Kontrollrates in Deutschland. Ergänzungsblatt Nr. 1, S. 13 ff. 85 Dziennik Ustaw Rzeczypospolitej Polskiej Nr. 11, Pos. 57, deutscher Text: Bundesministerium für Vertriebene (Hrsg.), Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus OstMitteleuropa I. Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, Bd. 3, 1984, Nr. 15, S. 49 ff.; vgl. auch H. V. Böttcher, Die völkerrechtliche Lage der Freien Stadt Danzig seit 1945, 1958, S. 128, 176. 86 Vgl. auch H. V. Böttcher (Anm. 13), Die Freie Stadt Danzig, S. 140.

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sidenten des Landesnationalrates bestätigt und trat gemäß Art. 5 mit dem Tage seiner Verkündung, am 7. April 1945, in Kraft.87 Die im Gebiet der ehemaligen Freien Stadt Danzig bisher geltende Rechtsordnung wurde gemäß Art. 3 des Dekrets als mit der Verfassung des polnischen demokratischen Staats unvereinbar außer Kraft gesetzt und durch die im übrigen Teil der Wojewodschaft Danzig gültige polnische Gesetzgebung ersetzt. In der Präambel der Verfassung Polens vom 22. Juli 1952 hieß es: Die wiedergewonnenen Gebiete sind für ewige Zeiten an Polen zurückgekehrt88. Dieser Einverleibungswille hinsichtlich der sog. „wiedergewonnenen Gebiete“ bezieht sich auch auf das Gebiet der Freien Stadt Danzig. Durch Gesetz vom 11. Januar 194989 über die Vereinigung der wiedergewonnenen Gebiete mit der allgemeinen Staatsverwaltung wurde das am 13. November 1945 eingerichtete Sonderministerium für die polnischen Westgebiete wieder aufgelöst. Damit galt Danzig endgültig als Bestandteil Polens.90 Spätestens durch das Dekret vom 30. März 1945 brachte die polnische Regierung ihren Willen zum Ausdruck, Danzig annektieren zu wollen. Sie bestätigte diese Annexionsabsicht durch weitere Maßnahmen, die danach von ihr getroffen wurden. 87

Vgl. zur Problematik auch G. Gornig, Das rechtliche Schicksal der Danziger Kulturgüter seit 1939/45 am Beispiel der Naturforschenden Gesellschaft zu Danzig. Ein Rechtsgutachten, 1999, S. 64 ff. 88 Vgl. Deutsches Institut für Rechtswissenschaft (Hrsg.), Die Verfassungen der europäischen Länder der Volksdemokratie, S. 92, 95. 89 Dziennik Ustaw Rzeczypospolitej Polskiej Nr. 4, Pos. 22, deutscher Text: Bundesministerium für Vertriebene (Hrsg.), Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus OstMitteleuropa I. Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, Bd. 3, 1984, Nr. 15, S. 49; deutscher Text: Bundesministerium für Vertriebene (Anm. 8), Nr. 125, S. 488. 90 Einzelne deutsche Autoren bezweifeln die Kontinuität der Freien Stadt Danzig. H.-J. Jellinek begründet seine Auffassung vom Untergang des Danziger Staates mit dem Fehlen einer handlungsfähigen Regierung und des Danziger Staatsvolkes, das „in alle Winde zerstreut“ worden sei (vgl. H.-J. Jellinek, Der automatische Erwerb nach Verlust der Staatsangehörigkeit durch völkerrechtliche Vorgänge. Zugleich ein Beitrag zur Lehre von der Staatensukzession, 1951, S. 213 f.). Andere Autoren bestreiten zwar eine rechtswirksame Einverleibung Danzigs durch Polen, halten aber einen etwaigen Fortbestand des Danziger Staates für eine Fiktion (vgl. W. Schätzel, Der heutige Stand des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts, in: AöR, Bd. 74 [1948], S. 273 ff. [295 ff.]; G. Crusen, Zur gegenwärtigen staatsangehörigkeitsrechtlichen Lage von Staatsangehörigen der Freien Stadt Danzig, in: DRiZ 1949, S. 499; A. N. Makarov, Zur Behandlung von deutschen Zwangseinbürgerungen 1938 – 1945, in: JZ 1952, S. 403 ff. [405]). Menzel bejaht die Wirkungskraft des Kontinuitätsprinzips gegenüber dem die Völkerrechtsordnung sonst beherrschenden Grundsatz der Effektivität auch dann noch, wenn der alte Rechtszustand zur bloßen Fiktion geworden ist. Er hält den Staat erst dann für erloschen, wenn mit einer Rückkehr zum alten Rechtszustand nicht mehr zu rechnen ist (vgl. E. Menzel, Völkerrecht, 1962, S. 218 f.). Obwohl die Staatsgewalt als das wesentliche Element des Staatsbestandes gesehen wird, war für den Fortbestand und für das Wiederaufleben der besetzten und einverleibten Staaten – wie die Staatenpraxis zeigt – das Vorhandensein einer Exilregierung nicht entscheidende Voraussetzung (vgl. E. Menzel, Deutschland. – Ein Kondominium oder Koimperium? Eine Auseinandersetzung mit den Thesen von Prof. Dr. Hans Kelsen, in: JIR, Bd. 1 [1948], S. 43).

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Dass die polnische Regierung dennoch einen Unterschied zwischen den von Polen – ebenfalls völkerrechtswidrig – annektierten deutschen Ostgebieten einerseits und dem Gebiet des Freistaates Danzig andererseits machte, wird daraus ersichtlich, dass in vielen polnischen Dekreten, wie z. B. dem vom 8. März 194691, vom 6. Dezember 194692 und vom 28. Oktober 194793 sowie im Gesetz vom 30. Januar 194894 ausdrücklich nebeneinander von „den wiedergewonnenen Gebieten“ und von „der ehemaligen Freien Stadt Danzig“ die Rede ist. 3. Vertreibung der Danziger Bevölkerung Nach der Eroberung Danzigs durch sowjetische und polnische Truppen und Einführung der polnischen Rechtsordnung durch Dekret vom 30. März 194595 begann Polen die Danziger aus ihrer Heimat zu vertreiben und in den frei werdenden Raum polnische Bevölkerung aus Ostpolen umzusiedeln96. Die Vertreibung erfolgte also noch während des Krieges vor dem Abschluss des Potsdamer Abkommens. Mit der völkerrechtswidrigen Vertreibung verbunden war die völkerrechtswidrige entschädigungslose Enteignung der Vertriebenen.97

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Deutscher Text: Bundesministerium für Vertriebene (Hrsg.), Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa I. Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, Bd. 3, 1984 (Anm. 8), Nr. 38, S. 126 ff. 92 Deutscher Text: Bundesministerium für Vertriebene (Hrsg.), Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa I. Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, Bd. 3, 1984 (Anm. 8), Nr. 86, S. 339 ff. 93 Deutscher Text: Bundesministerium für Vertriebene (Hrsg.), Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa I. Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, Bd. 3, 1984 (Anm. 8), Nr. 117, S. 442 ff. 94 Deutscher Text: Bundesministerium für Vertriebene (Hrsg.), Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa I. Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, Bd. 3, 1984 (Anm. 8), Nr. 120, S. 454 ff. 95 Dziennik Ustaw Rzeczypospolitej Polskiej Nr. 11, Pos. 57, deutscher Text: Bundesministerium für Vertriebene (Hrsg.), Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus OstMitteleuropa I. Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, Bd. 3, 1984 (Anm. 8), Nr. 15, S. 49. 96 H. V. Böttcher (Anm. 13), Die Freie Stadt Danzig, S. 143. 97 Vgl. G. Gornig, Eigentum und Enteignung im Völkerrecht unter besonderer Berücksichtigung von Vertreibungen, in: Schriftenreihe Geschichte, Gegenwart und Zukunft der altösterreichischen deutschen Minderheiten in den Ländern der ehemaligen Donaumonarchie, Band 6, hrsg. vom Felix Ermacora Institut, 2010, passim; ders., Eigentum und Enteignung im Völkerrecht unter besonderer Berücksichtigung von Vertriebenen, in: G. Gornig/H.-D. Horn/ D. Murswiek (Hrsg.), Eigentumsrecht und Enteignungsunrecht. Analysen und Beiträge zur Vergangenheitsbewältigung, Teil 1, Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Band 25/1, 2008, S. 19 ff.

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4. Rechtfertigungsversuche Polens Von polnischer Seite werden mehrere Begründungen für den von Polen seit 1918 erhobenen Anspruch auf Danzig und die im Jahre 1945 vollzogene Annexion vorgetragen. Es handelt sich hierbei um historische, rechtliche, ethnische sowie moralische Argumente. Diese Argumente sind jedoch entweder nicht stichhaltig, rechtlich unhaltbar oder beruhen auf einer Täuschung über ethnische Gegebenheiten. Dies gilt sowohl für die polnische Argumentation in den Jahren 1918/1919 als auch für jene seit 1944. a) Danzig als souveränitätsfreies herrenloses Gebiet Skubiszewski bemühte sich, die Einverleibung Danzigs in Polen 1945 zu rechtfertigen. Er vertritt die These, die Freie Stadt Danzig sei kein Staat gewesen, lediglich eine „staatsähnliche Korporation“98. Diese staatsähnliche Korporation habe folglich keine Souveränität gehabt. Aufgrund des Versailler Vertrages sei die territoriale Souveränität über das Danziger Gebiet auf die alliierten und assoziierten Hauptmächte übergegangen und dann aber mit der Errichtung der Freien Stadt Danzig erloschen. Danach habe es keine Souveränität über das Danziger Gebiet mehr gegeben. Polen sei berechtigt gewesen, seine territoriale Souveränität auf das souveränitätsfreie herrenlose Gebiet des von der Sowjetunion und von Polen kriegsbesetzten Danzig auszudehnen99. Zur Zeit des Potsdamer Abkommens sei dieser Akt bereits vollendet gewesen. Anders als für die Oder-Neiße-Gebiete sei im Potsdamer Abkommen auch keine Regelung zu Danzig getroffen worden. Danzig habe zu dieser Zeit bereits zu Polen gehört. Von den Alliierten sei diese Lösung anerkannt worden.100 Dem von polnischer Seite behaupteten Anspruch des Zugriffs auf herrenloses, souveränitätsfreies Danziger Gebiet101 kann schon deshalb nicht gefolgt werden,102 weil die Freie Stadt Danzig über staatliche Souveränität verfügte, betrachtete man die Wiedervereinigung der Freien Stadt Danzig mit dem Deutschen Reich als völkerrechtswidrig. War die Wiedervereinigung mit dem Reich jedoch völkerrechtsgemäß, so konnte dieses Gebiet erst recht nicht mehr als souveränitätsfrei bezeichnet werden. Im Übrigen ist kaum zu vertreten, dass eine staatsähnliche, nach staatlichem Muster organisierte Korporation mit eigenen Regierungsorganen, mit einer eigenen Staatsangehörigkeit und von anderen Staaten respektiert dem Zugriff eines fremden Staats, nämlich Polen, ausgesetzt sein könnte. Schließlich ist nicht zu verstehen, dass Skubiszewski die deutsche Einverleibung des seiner Ansicht nach souveränitätsfreien 98 So K. Skubiszewski (Anm. 42), S. 291; vgl. hierzu H. V. Böttcher (Anm. 13), Die Freie Stadt Danzig, S. 182 ff. 99 Vgl. K. Skubiszewski (Anm. 42), S. 291 f., 312. 100 Vgl. K. Skubiszewski (Anm. 42), S. 310 ff. 101 Vgl. K. Skubiszewski (Anm. 42), S. 309 ff. 102 Vgl. auch H. V. Böttcher (Anm. 13), Die Freie Stadt Danzig, S. 184.

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Gebiets der Freien Stadt als rechtswidrig betrachtete,103 die polnische Einverleibung Danzigs 1945 aber als rechtmäßig.104 b) Keine Rechtfertigung durch das Potsdamer Abkommen aa) Keine völkerrechtliche Bindung an das Potsdamer Abkommen Die Polen vertraten nun die Auffassung, die Freie Stadt Danzig sei durch das Potsdamer Abkommen an Polen abgetreten worden105. Zur Rechtfertigung territorialer Veränderungen stützt sich Polen auf die Kriegskonferenzen und versucht, die dort erfolgten Absichtserklärungen durch Auslegung des Erklärungswillens der Konferenzteilnehmer zu begründen. In dieser Konsequenz sieht Polen die Ergebnisse der faktischen Festlegungen im Potsdamer Abkommen als verbindliche Bestätigung der vorher politisch erzielten Einigungen an. Nun war das Potsdamer Abkommen kein Danzig oder das Deutsche Reich bindender völkerrechtlicher Vertrag. Die Deutschland und Danzig betreffenden Bestimmungen des Potsdamer Abkommens konnten somit nach herrschender Lehre als res inter alios gesta keine rechtsverbindlichen Gebietsveränderungen erzwingen. Ferner konnte die Freie Stadt Danzig nicht ohne ihre Beteiligung an einem völkerrechtlichen Vertrag zum Anschluss an Polen gezwungen werden. Im Übrigen kann sich auch Polen nicht auf das Potsdamer Abkommen berufen, weil es nicht Partner des Potsdamer Abkommens gewesen ist. bb) Widersprechender Wortlaut des Potsdamer Abkommens Der eindeutige Wortlaut des Potsdamer Abkommens widerspricht ferner den von Polen vorgenommenen Auslegungen. Es war nämlich klargestellt, dass die endgültige Grenzziehung einem Friedensvertrag vorbehalten bleiben solle106. Im Potsdamer Abkommen wird die Freie Stadt Danzig erstmals in einer Vereinbarung der Alliierten in Abschnitt IX b Absatz 2 angesprochen und einer Besatzungsregelung unterworfen, und zwar soll das Gebiet „der früheren Freien Stadt Danzig“ ebenfalls „unter die Verwaltung des polnischen Staats kommen“.107 Durch die Einbeziehung Danzigs in die vorläufige Verwaltungsregelung wurde aber auch die endgültige Regelung der Danziger Frage gemäß Kapitel IX b Absatz 1 „bis zu der Friedenskonferenz zurückgestellt“.108 Von Danzig war in Kapitel IX b Absatz 1 deshalb 103

K. Skubiszewski (Anm. 42), S. 304. Vgl. K. Skubiszewski (Anm. 42), S. 310 ff. 105 Vgl. S. Krülle (Anm. 43), S. 154, Anm. 21; H. V. Böttcher (Anm. 13), Die Freie Stadt Danzig, S. 150. 106 Vgl. H. Kraus (Anm. 43), S. 33. 107 Vgl. S. Krülle (Anm. 43), S. 161; H. V. Böttcher (Anm. 13), Die Freie Stadt Danzig, S. 154. 108 Abschnitt IX des Potsdamer Abkommens. 104

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nicht die Rede.109 Die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges haben sich damit jeder gebietsändernden Entscheidung über Danzig enthalten. Auch für Danzig wurden die territorialen Entscheidungen aufgeschoben, das entsprach dem für Danzig schon vorher von der Sowjetunion getroffenen Geheimbeschluss vom 20. Februar 1945110. Die polnische Deutung, die Rückstellung bis zum Friedensvertrag habe lediglich Gelegenheit geben wollen, die Delimitation als formelle Absteckung der endgültigen Grenze nachzuholen, ist nicht haltbar111. Für Danzig ist dieses Argument schon deshalb nicht zu gebrauchen, weil es zur Eingliederung Danzigs durch Polen keiner Grenzfeststellungen zwischen Deutschland und Polen bedurfte, betrachtete man die Einverleibung der Freien Stadt durch das Deutsche Reich 1939 als rechtswidrig. Mit Blick auf die vorstehenden Ausführungen kann Polen auch nicht mit der Behauptung gehört werden, das für die Verwaltung verwendete Wort „administration“ sei mit „government“ als Ausübung territorialer Souveränität gleichzusetzen112. cc) Fehlende Kompetenz der Siegermächte und Polens Die Alliierten waren ferner rechtlich nicht in der Lage, durch Zession die territoriale Souveränität der Freien Stadt Danzig an Polen zu übertragen oder eine Inkorporation Danzigs in die Volksrepublik Polen herbeizuführen und somit den Untergang des Danziger Staats herbeizuführen. Da bei Abschluss und Durchführung des Potsdamer Abkommens Staatsorgane des Danziger Staatsvolkes faktisch nicht existierten, haben sich die drei West-Alliierten im Rahmen ihrer Schutzverantwortung und im Sinne dieses Vertragssystems zusammen mit der Sowjetunion der Stadt Danzig angenommen. Die territoriale Souveränität des Danziger Staats ist aber hierdurch nicht an die Alliierten übertragen worden. Sie haben gemeinsame Fremdherrschaft über das Gebiet der Freien Stadt Danzig als Koimperium übernommen113 und die Befugnis zur vorläufigen Ausübung 109 Die Freie Stadt Danzig war nicht Kriegsgegner der Alliierten. Das Danziger Territorium war aber von Deutschland zum Kriegsschauplatz gemacht, seine Bevölkerung war von der Sowjetunion und Polen vertrieben worden, und die Sonderrechte Polens in Danzig zur Sicherung des Zugangs zur Ostsee bedurften im Hinblick auf die eingetretenen Veränderungen einer Neuregelung. Wegen dieser Zusammenhänge lag es nahe, die Danzig betreffenden Probleme im Rahmen einer Friedenskonferenz zu regeln; vgl. H. V. Böttcher (Anm. 13), Die Freie Stadt Danzig, S. 163. 110 Beschluss des Staatskomitees für Verteidigung der UdSSR Nr. 7558. Text: A. Uschakow, Geheimdokumente der UdSSR und des Lubliner Komitees 1944/45 zur Oder-NeißeLinie, in: H. V. Böttcher, Materialien zur Deutschlandfrage. Politiker und Wissenschaftler nehmen Stellung 1988/89, 1989, S. 473 ff. (475 ff.). 111 Vgl. Nachweise bei H. Kraus (Anm. 43), S. 25 f., sowie ausführlich: H. V. Böttcher (Anm. 13), Die Freie Stadt Danzig, S. 187. 112 A. Klafkowski, Die Rechtsgrundlagen der Oder-Neiße-Linie, in: Instytut Zachodni, Die polnischen Westgebiete, 1960, S. 86 ff. (110 ff.). 113 Vgl. E. Menzel, Deutschland. – Ein Kondominium oder Koimperium? Eine Auseinandersetzung mit den Thesen von Hans Kelsen, in: JIR, Bd. 1 (1948/49), S. 75 ff.; H. V. Böttcher (Anm. 13), Die Freie Stadt Danzig, S. 158.

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dieser Fremdherrschaft durch Verwaltung des Danziger Gebietes an Polen übertragen. Damit haben die Alliierten die Ausübung der Staatsgewalt, nicht jedoch die Staatsgewalt übertragen114. Polen hat damit die Aufgabe übernommen, seine Verwaltung im Sinne des Vertragszweckes wahrzunehmen und eine treuhänderische, pflegerische Aufgabe übernommen mit dem Ziele, die occupatio bellica sobald wie möglich durch einen Friedensvertrag zu beenden. Das im Gebiet der Freien Stadt Danzig gelegene öffentliche Eigentum durfte vom Verwalterstaat unentgeltlich benutzt werden. Die Eingriffe in das Privateigentum waren vom Verwaltungsauftrag nicht gedeckt. Sie waren unabhängig von den Verletzungen der Art. 46 und 47 Haager Landkriegsordnung völkerrechtswidrig115. Die Staatsangehörigkeit der Danziger wurde nicht angetastet. Die Vertreibung des Danziger Staatsvolkes war aber durch den Verwaltungsauftrag nicht gedeckt. Außerdem überschritt Polen mit den Massen-Neuansiedlungen polnischer Bürger im Danziger Raum die Grenzen des Verwaltungsauftrags116. Über das Staatsgebiet durfte der Verwalterstaat also nicht verfügen, er war allerdings verpflichtet, eine ordnungsgemäße Verwaltung sicherzustellen und alles zu unterlassen, was die territoriale Souveränität gefährdete und die Ermessensfreiheit künftiger völkerrechtlicher Lösungen einschränkte. V. Keine Anerkennung durch Deutschland Nach der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Einverleibung der Freien Stadt Danzig durch den polnischen Staat stellt sich die Frage, ob die Bundesrepublik Deutschland diese Annexion anerkannt hat und falls dies der Fall sein sollte, ob eine solche Anerkennung rechtmäßig ist.117 1. Moskauer Vertrag Im Moskauer Vertrag vom 12. August 1970118 wird zur Frage der Freien Stadt Danzig nicht Stellung genommen. Bei diesem Vertrag, in dem die Vertragspartner künftig die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich betrachten, wie sie am Tage der Unterzeichnung dieses Vertrages verlaufen, einschließlich der OderNeiße-Linie, die die Westgrenze der Republik Polen bildet, handelt es sich nicht um einen Grenzanerkennungsvertrag.119 Die nicht souveräne Bundesrepublik 114

Vgl. auch A. von Verdross, Völkerrecht, 1937, S. 214 f. Vgl. D. Blumenwitz, Das Offenhalten der der Vermögensfrage in den deutsch-polnischen Beziehungen, 1992, S. 49. 116 Vgl. D. Blumenwitz (Anm. 115), S. 49. 117 Vgl. zur Problematik auch G. Gornig, Das rechtliche Schicksal der Danziger Kulturgüter, S. 69 ff. 118 Text: BGBl. 1972 II, S. 354 f. 119 Vgl. auch G. Gornig (Anm. 20), Das Nördliche Ostpreußen, S. 148 ff. 115

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Deutschland konnte sich nicht einmal bezüglich der eigenen Grenzen Deutschlands von 1937 rechtlich binden. Aus diesem Grunde wurde der Vertrag lediglich als Gewaltverzichtsvertrag qualifiziert120. Für eine Danzig betreffende Regelung waren zudem weder die Bundesrepublik Deutschland noch die Sowjetunion rechtlich zuständig.. 2. Warschauer Vertrag Der Warschauer Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen vom 7. Dezember 1970121 bezieht sich ebenfalls nicht auf die Freie Stadt Danzig. Auch hierbei handelt es sich um einen Gewaltverzichtsvertrag.122 Eine Regelung des Status der Freien Stadt Danzig hätte die Kompetenz der Vertragspartner überschritten. 3. Zwei-Plus-Vier-Vertrag Die im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung geschlossenen Verträge123 enthalten keine Regelungen des Schicksals der Freien Stadt Danzig. Der mit den VierMächten, der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik geschlossene Zwei-Plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990124 enthält keine Regelung der völkerrechtlichen Fragen der Freien Stadt Danzig. Die Vertragspartner beziehen sich in der Präambel auf die „Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier-Mächte in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes“. Im Vorspruch und in Art. 7 wird außerdem hervorgehoben, dass „die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier-Mächte in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes ihre Bedeutung verlieren“ und deshalb beendet sind. Es wird damit deutlich, dass die Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf die Freie Stadt Danzig nicht berührt werden. Insgesamt fehlt damit bislang eine vertragliche Lösung der völkerrechtlichen Probleme der Freien Stadt Danzig125.

120 Vgl. die Entschließung des Deutschen Bundestags zum Moskauer und Warschauer Vertrag vom 10. 5. 1972, Stenografische Berichte, 6. Wahlperiode, 187. Sitzung, 10. 5. 75, S. 10960. Vgl. auch G. Gornig, Die deutsch-polnische Grenzregelung, in: Göttinger Arbeitskreis (Hrsg.), Deutschland im weltpolitischen Umbruch, 1993, S. 163 ff. (178 ff.); ders. (Anm. 20), Das Nördliche Ostpreußen, S. 148 ff. 121 Text: BGBl. 1972 II, S. 362 f. 122 Vgl. auch G. Gornig (Anm. 58), in: Göttinger Arbeitskreis, S. 178 ff. 123 Dazu G. Gornig, Der völkerrechtliche Status Deutschlands zwischen 1945 und 1990. Auch ein Beitrag zu Problemen der Staatensukzession, 2007, passim. 124 Text: BGBl. 1990 II, S. 1318 ff. 125 Vgl. G. Gornig, Der Zwei-plus-vier-Vertrag unter besonderer Berücksichtigung gebietsbezogener Regelungen, in: ROW 1991, S. 183 Anm. 111.

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4. Partnerschaftsverträge Weder der deutsch-sowjetische Partnerschaftsvertrag126 noch die beiden deutschpolnischen Verträge, nämlich der Grenzbestätigungsvertrag vom 14. November 1990127 und der Nachbarschaftsvertrag vom 17. Juni 1991128, enthalten Anhaltspunkte für eine Regelung der territorialen Souveränität der Freien Stadt Danzig. Vermögensrechtliche Probleme werden im Nachbarschaftsvertrag ebenfalls nicht aufgearbeitet. Im Brief zum Nachbarschaftsvertrag129 wird in Ziffer 5 von beiden Seiten übereinstimmend erklärt: „Dieser Vertrag befasst sich nicht mit Fragen der Staatsangehörigkeit und nicht mit Vermögensfragen“130, also erst recht nicht mit solchen die Freie Stadt Danzig betreffenden Fragen. VI. Wiedergutmachung Jede Rechtsverletzung verpflichtet auch im Völkerrecht den Verursacher dieser Rechtsverletzung zur Wiedergutmachung des von ihm verübten Unrechts. Da sowohl das Deutsche Reich als auch die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges in völkerrechtswidriger Weise gegen die Freie Stadt Danzig vorgegangen sind und ihr Schäden zugefügt haben, sind sie somit verpflichtet, eine Wiedergutmachung zu leisten. VII. Verantwortung internationaler Institutionen 1. Völkerbund Der Völkerbund nahm nicht offiziell zur Wiedereingliederung Danzigs in das Deutsche Reich Stellung. Weder die im Völkerbund vertretenen Großmächte noch der Völkerbund selbst protestierte formell bei der Regierung des Deutschen Reiches gegen die Wiedervereinigung Danzigs mit dem Deutschen Reich.131 Die Auffassung des Völkerbundes, dass die Freie Stadt Danzig nach den Eingliederungsakten im Jahr 1939 und 1945 fortexistierte, kommt allerdings in den Publikationen zum Ausdruck, mit denen der Völkerbund seine Aufgaben auf die Vereinten Nationen überleitete.132 In einer im Juli 1944 herausgegebenen Broschüre mit einer Liste aller sich aus inter-

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Text: BGBl. 1991 II, S. 703 ff. Text: BGBl. 1990 II, S. 1329. 128 Text: BGBl. 1991 II, S. 3315. 129 Text: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung 1991, S. 547. 130 Zur rechtlichen Qualifizierung des Briefes vgl. S. Wenk, Das konfiszierte deutsche Privatvermögen in Polen und der Tschechoslowakei, 1993, S. 20 f. 131 Vgl. dazu ausführlich H. V. Böttcher (Anm. 13), Die Freie Stadt Danzig, S. 199 f. 132 Dazu vgl. H. Lotze, Das territoriale Erbe des Völkerbundes, Diss. Dortmund, 1970, S. 99 ff. 127

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nationalen Verträgen ergebenden Zuständigkeiten des Völkerbundes133 und einer im Anschluss daran im September erschienenen 160 Seiten umfassenden Darstellung der Rechtsquellen dieser Kompetenzen sind alle Verantwortlichkeiten bezüglich der Freien Stadt Danzig aufgelistet. In einer Studie des britischen Außenministeriums vom 19. Februar 1945, die eine Zusammenstellung der rechtlich noch bestehenden Verantwortlichkeit des Völkerbundes enthält, wurde bei Unterscheidung der rechtlich und tatsächlich noch ausübbaren Funktionen nach „politischen“ und „nicht politischen“ Aufgaben der Schutz Danzigs bei den speziell politischen Funktionen ausdrücklich erwähnt.134 Es ist also davon auszugehen, dass der Völkerbund vom Fortbestehen der Freien Stadt Danzig ausging. Daraus ist zu schließen, dass die Freie Stadt Danzig nach der deutschen, aber auch nach der polnischen Annexion als fortbestehend zu qualifizieren ist.135 Der Schutz der Freien Stadt Danzig gehörte also zu den Aufgaben des Völkerbundes. Dieser war aber nach 1939 nicht mehr in der Lage, Danzig tatsächlich Schutz zu gewähren. 2. Vereinte Nationen Nach dem Zweiten Weltkrieg traten an die Stelle des Völkerbundes die Vereinten Nationen. Diese verstanden sich zwar nicht als die Nachfolgeinstitution des Völkerbundes, dennoch waren sie zum Teil mit der Übernahme und Weiterführung der Aufgaben, die in der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg dem früheren Völkerbund auferlegt worden waren, betraut.136 Die Vorbereitungskommission für die Vereinten Nationen vertrat die Meinung, dass die sogenannten „politischen Funktionen“, die der frühere Völkerbund zu erfüllen hatte, nicht erloschen seien, sondern rechtlich fortbestünden und für eine Übertragung auf die neue Weltorganisation in Betracht kämen. Die Vorbereitungskommission hat bei der Auflistung dieser „politischen Funktionen“ des früheren Völkerbundes auch die Aufgaben, die dem Völkerbund in Bezug auf die Freie Stadt Danzig auferlegt waren, ausdrücklich berücksichtigt. Ob Funktionen des Völkerbundes von den Vereinten Nationen übernommen und weitergeführt werden sollen, muss in jedem Einzelfall auf Antrag der Interessenten von der dafür zuständigen Instanz der Vereinten Nationen entschieden werden. Die Vereinten Nationen können aber auch von sich aus den Beschluss fassen, Aufgaben des früheren Völkerbundes zu übernehmen. In der Regel gehen aber die Verantwort133

„Compétences attribuées à la Société des Nations par les traités internationaux“, in: SdN RT, Offizielle Nr. C.3.M.3.1944.V/Publikationsnr. „V Questions juridiques (V Legal) 1944.V.1“. 134 Hierzu vgl. H. Lotze (Anm. 132), S. 106. 135 So auch H. V. Böttcher (Anm. 13), Die Freie Stadt Danzig, S. 201 f.; F. Klein, Gutachten zur Frage: Sind Verantwortlichkeiten des Genfer Völkerbundes hinsichtlich der Freien Stadt Danzig auf die Organisation der Vereinten Nationen übergegangen? 1970, S. 59 f. 136 In diesem Zusammenhang sei besonders auf Kapitel XII der Satzung der Vereinten Nationen, das den Titel „Das internationale Treuhandsystem“ trägt, hingewiesen. In Artikel 77 Absatz 1 sub a wird von Mandatsgebieten gesprochen, eine Bezeichnung, die aus der Ära des Völkerbundes stammt und auch in die Satzung der Vereinten Nationen Eingang gefunden hat.

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lichkeiten einer aufgelösten auf eine neu gebildete internationale Organisation ungeachtet und unabhängig vom Willen beider Organisationen auch dann über, wenn die Weiterführung der Funktionen der aufgelösten Organisation notwendig für den Fortbestand (von ihr überwachter geschützter und kontrollierter) internationaler Institutionen, insbesondere eines internationalen Status, ist. Voraussetzung ist aber, dass die neu gebildete Organisation ein Organ besitzt, das gleiche oder zumindest ähnliche Aufgaben erfüllen und daher die Aufgaben der aufgelösten Organisation übernehmen kann („automatic succession“). Damit gingen der internationale Schutz und die internationale Kontrolle als wesensnotwendige Bestandteile des Status der Freien Stadt Danzig auf die Vereinten Nationen über.137 Bis jetzt haben die Vereinten Nationen hinsichtlich Danzig weder die „politischen Funktionen“ des früheren Völkerbundes in Bezug auf die Freie Stadt Danzig übernommen, noch eine eigene Initiative entwickelt. Von einem automatischen Übergang der Aufgaben des Völkerbundes in Bezug auf Danzig auf die Vereinten Nationen kann also nicht die Rede sein. Im Falle Danzigs bedeutet dies, dass eine Danziger Exilregierung138 durchaus berechtigt ist, sich mit einem diesbezüglichen Gesuch an die Vereinten Nationen zu wenden, um den Status Danzigs als Freie Stadt wiederherzustellen. Artikel 77 Absatz 1 UN-Charta gibt eine Auflistung der Fälle, in denen das internationale Treuhandsystem Anwendung finden kann, und erwähnt diesbezüglich: a) gegenwärtig bestehende Mandatsgebiete; b) Hoheitsgebiete, die infolge des Zweiten Weltkrieges von Feindstaaten abgetrennt werden; c) Hoheitsgebiete, die von den für ihre Verwaltung verantwortlichen Staaten freiwillig in das System einbezogen werden.

Artikel 77 Absatz 2 lautet: „Die Feststellung, welche Hoheitsgebiete aus den genannten Gruppen in das Treuhandsystem einbezogen werden und welche Bestimmungen hierfür gelten, bleibt einer späteren Übereinkunft vorbehalten.“

Dass die Bestimmung des Artikel 77 Absatz 1 lit. a UN-Charta keine unmittelbare Anwendung auf die Freie Stadt Danzig finden kann, ist ersichtlich, da die Freie Stadt Danzig kein Mandatsgebiet des Völkerbundes war. Artikel 77 Absatz 1 lit. a UNCharta bezieht sich also nicht auf Danzig. Aber auch Artikel 77 Absatz 1 lit. b UN-Charta kann keine Anwendung auf die Freie Stadt Danzig finden, denn Danzig gehörte am 1. September 1939 nicht zum Hoheitsgebiet des Deutschen Reiches, sondern bildete einen eigenen, selbstständi137

F. Klein (Anm. 135), Sind Verantwortlichkeiten des Genfer Völkerbundes hinsichtlich der Freien Stadt Danzig auf die Organisation der Vereinigten Nationen übergangen?, S. 59 ff. 138 Vgl. zur Exilregierung grundsätzlich A. Koberg, Die Exilregierung im Völkerrecht. Eine Untersuchung ihrer rechtlichen Klassifikation, 2005, passim.

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gen Staat, der zwar am ersten Tag des deutsch-polnischen Krieges mit Krieg überzogen und von deutschen Truppen besetzt wurde, aber selbst keine Partei in diesem Kriege war und daher ausschließlich als Opfer dieses Krieges zu betrachten ist. Polen war 1945 genauso wenig berechtigt, das Gebiet der Freien Stadt Danzig zu annektieren, wie es dem Deutschen Reich zustand. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass es nicht einmal die Regierung der Bundesrepublik Deutschland wagte, im Rahmen ihrer sogenannten Ostpolitik das Gebiet der Freien Stadt Danzig in ihre Verträge mit Polen einzubeziehen. Die Anwendung des Art. 77 Absatz 1 lit. c UN-Charta auf das Danziger Gebiet wäre denkbar, aber erfahrungsgemäß ist nicht zu erwarten, dass die polnische Regierung bereit sein wird, das von Polen widerrechtlich annektierte Gebiet der Freien Stadt Danzig freiwillig herauszugeben, um die Wiederherstellung Danzigs als Freistaat zu ermöglichen. Aus diesem Grund wird es daher notwendig sein, ein Sonderverfahren einzuleiten, das als Analogverfahren des Art. 77 Absatz 1 lit. c UN-Charta auf das Danziger Gebiet angewandt wird mit dem Ziel, den Status Danzigs als Freie Stadt wieder herzustellen und sie als Freie Stadt Danzig in ihre Rechte wieder einzusetzen. Unter Umständen erfolgt dies nur deswegen, um zu einer völkerrechtskonformen Lösung zu kommen. Die Danziger Exilorgane Rat der Danziger (Parlament) und Vertretung der Freien Stadt Danzig (Exekutive) haben bereits zahlreiche Eingaben bei den Vereinten Nationen gemacht mit dem Ziel, eine Befassung mit den ungelösten völkerrechtlichen politischen Fragen der Danziger zu erreichen.139 Ein Antrag wurde am 22. April 1995 an den Generalsekretär der Vereinten Nationen Boutros Boutros-Ghali gerichtet. In diesem Antrag ersuchte die Danziger Vertretung die Vereinten Nationen, sich mit der Danziger Frage zu befassen, um eine noch ausstehende völkerrechtsgemäße Lösung für die Danziger herbeizuführen. Zu diesem Zwecke sollten so bald wie möglich die erforderlichen Schritte eingeleitet werden und hierbei die Exilorgane der Danziger beteiligt werden.140 Die Danziger im Exil weisen darauf hin, dass ihre Ziele im Sinne der friedenserhaltenden Aufgaben der Vereinten Nationen erfolgen und ihre Vorschläge mit der Friedensordnung der Welt und Europas in Einklang stehen. Sie betonen, dass sie die Interessen aller Beteiligten berücksichtigen werden. Sie bringen die Überzeugung zum Ausdruck, dass die Verwirklichung ihrer Zielsetzungen dem Frieden dienen wird. In dem Antrag schlägt die Vertretung vor, eine Kommission einzusetzen, zu deren Sitzungen neben der Vertretung der Freien Stadt Danzig die Republik Polen und die Bundesrepublik Deutschland eingeladen werden sollten. Weitere Eingaben der Danziger Exilorgane erfolgten an die Republik Polen sowie an die Bundesrepublik Deutschland, aber auch an den Generalsekretär des Europarates, den Präsidenten der Europäischen Kommission, den Präsidenten des Europäischen Parlaments und an den Generalsekretär der OSZE.141 Schließlich erfolgten noch eine Pe139

Vgl. hierzu H. V. Böttcher (Anm. 13), Die Freie Stadt Danzig, S. 317 ff. Text des Antrags: H. V. Böttcher (Anm. 13), Die Freie Stadt Danzig, S. 323 f. 141 Vgl. hierzu H. V. Böttcher (Anm. 13), Die Freie Stadt Danzig, S. 324 – 328. 140

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tition an die Alliierten, Eingaben an die Vereinten Nationen, Schreiben an die Republik Polen und die Bundesrepublik Deutschland, an den Europarat und an weitere europäische Organisationen sowie an die baltischen Staaten.142 Bemerkenswert ist die Antwort der Bundesrepublik Deutschland, die darauf hinweist, dass der deutsch-polnische Vertrag vom 14. November 1990 die bestehende Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen bestätigt habe. Außerdem hätten beide Vertragspartner erklärt, dass sie gegeneinander keinerlei Gebietsansprüche haben und solche in Zukunft nicht erheben werden. Mit dem Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland vom 12. September 1990 habe sich nach Einschätzung der beteiligten Mächte auch die Frage einer weiteren friedensvertraglichen Regelung erledigt. Die Argumentation der Bundesrepublik Deutschland geht völlig an der Rechtsfrage vorbei und zeugt von deren Unkenntnis. Hier geht es nicht um die deutsch-polnische Grenze – es sei denn die Bundesregierung betrachtete die Einverleibung Danzigs 1939 als rechtswirksam – und um einen deutsch-polnischen Ausgleich, sondern um einen dritten Staat, die Freie Stadt Danzig, deren Einwohner nun großenteils Einwohner und Staatsangehörige der Bundesrepublik Deutschland sind, und sein Verhältnis zu Polen. Die Danziger wenden sich an ihren Wohnsitzstaat, um Unterstützung bei einer völkerrechtlichen Regelung des Status der Freien Stadt Danzig zu erhalten. So, wie mit Deutschland im Zwei-Plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990 eine abschließende Regelung zahlreicher Fragen erreicht worden ist, muss es auch möglich sein, bezüglich des Status Danzigs eine abschließende Regelung zu erreichen.143 Die Danziger weisen im Schreiben an Polen auch darauf hin, dass die Republik Polen an einer völkerrechtlichen Lösung für Danzig interessiert sein müsste.144 Die Danziger Frage ist also immer noch nicht gelöst, Danzig ist – völkerrechtlich betrachtet – nach wie vor ein von einer fremden Macht besetzter Staat, der von der besetzenden Macht darüber hinaus auch noch annektiert worden ist, was ein weiterer Verstoß gegen geltendes, Völkerrecht ist. Um etwas zu bewirken, müssten die Vereinigten Staaten von Amerika, das Vereinigte Königreich und Russland dazu bewegt werden, von der in der sogenannten Potsdamer Erklärung vom 2. August 1945 von ihren Regierungen verfügten „vorläufigen polnischen Verwaltung“ des Gebietes der „ehemaligen Freien Stadt Danzig“ Abstand zu nehmen. Sollten die Regierungen nicht bereit sein, den von ihnen verlangten ersten Schritt zu tun, um den Weg zur Wiederherstellung der Freien Stadt Danzig frei zu machen, obliegt es den freigewählten Vertretern der seit 1945 im

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Texte bei H. V. Böttcher (Anm. 13), Die Freie Stadt Danzig, S. 328 – 333. Vgl. hierzu auch die Petition an die Alliierten vom 18. 2. 1998, Text: H. V. Böttcher (Anm. 13), Die Freie Stadt Danzig, S. 328 f. 144 Vgl. hierzu Schreiben an die Republik Polen, Text: Böttcher, Die Freie Stadt Danzig (Anm. 9), S. 330 f.; zur Überleitung der Völkerbundsaufgaben auf die Vereinten Nationen vgl. auch H. V. Böttcher (Anm. 13), Die Freie Stadt Danzig, S. 287 ff. 143

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Exil lebenden Danzigern bzw. einer zu bildenden Danziger Exilvertretung145, den Versuch zu unternehmen, sich unmittelbar an die Vereinten Nationen zu wenden und dort für die Rechte der Freien Stadt Danzig einzutreten. Ziel aller ihrer Anstrengungen müsste die Wiederherstellung Danzigs als Freie Stadt sein, ein Rechtszustand, wie er am 31. August 1939 bestand. Die Chancen sind realistisch gesehen schlecht und die Frage stellt sich, ob die Danziger das überhaupt wollen! Jedenfalls könnte man auf diese Weise dazu beitragen, eine völkerrechtskonforme Lösung herbeizuführen. Die Freie Stadt Danzig hat Rechtsansprüche sowohl an das Deutsche Reich als auch an die Republik Polen für alle Schäden, die durch und in unmittelbarem Zusammenhang mit dem am 1. September 1939 auch über die Freie Stadt Danzig gekommenen Krieg entstanden sind. Polen hat in angemessener Weise eine Entschädigung an die im Zusammenhang mit den drohenden Kriegsgefahren seit 1944 aus Danzig geflüchteten und vertriebenen Menschen nicht polnischer Staatsangehörigkeit nach völkerrechtlichem Fremdenrecht zu entrichten. VIII. Resümee Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Danzig unter den Schutz bzw. die Aufsicht des Völkerbundes gestellt. Polnische und britische Truppen hatten die Aufgabe, den neuen Status der Stadt zu gewährleisten. Da die Entscheidung über den Status der Stadt nicht von einer Volksabstimmung abhängig gemacht wurde, wurde damit das vom US-Präsidenten Woodrow Wilson in seinem Vierzehn Punkte-Programm proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker verletzt. Die Verfassung der freien Stadt Danzig wurde nach Art. 103 Versailler Vertrag im Einvernehmen mit einem Oberkommissar des Völkerbundes von ordnungsmäßig ernannten Vertretern der freien Stadt ausgearbeitet. Sie wurde unter die Gewährleistung des Völkerbundes gestellt. Nach Art. 104 Versailler Vertrag sollte ein Abkommen zwischen der polnischen Regierung und der genannten in Aussicht genommenen freien Stadt getroffen werden, um die freie Stadt Danzig in das polnische Zollgebiet aufzunehmen und eine Freizone im Hafen einzurichten. Von dem Inkrafttreten des Versailler Vertrages an verloren nach Art. 105 die deutschen Reichsangehörigen, die das im Artikel 100 bezeichnete Gebiet bewohnten, ohne weiteres (ipso facto) die deutsche Reichsangehörigkeit, da sie Staatsangehörige der freien Stadt Danzig wurden. Während zweier Jahre vom Inkrafttreten des Vertrages an durften nach Art. 106 die deutschen Reichsangehörigen von über 18 Jahren, die ihren Wohnsitz in dem im Artikel 100 bezeichneten Gebiete hatten, für die deutsche Reichsangehörigkeit optieren. Die Option des Ehegatten schloss die der Ehefrau, die Option der Eltern die der Kinder unter 18 Jahren ein. Personen, welche 145 Zur unechten Exilregierung vgl. A. Koberg (Anm. 138), Die Exilregierung im Völkerrecht, S. 276 ff. (278).

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das vorerwähnte Recht der Option ausgeübt hatten, mussten innerhalb der darauffolgenden zwölf Monate ihren Wohnsitz nach Deutschland verlegen. Sie konnten ihren Grundbesitz, den sie im Gebiet der freien Stadt Danzig hatten, behalten. Sie konnten ihr bewegliches Eigentum jeder Art mitnehmen. Danzig gehörte, als der Zweite Weltkrieg ausbrach (1. September 1939), nicht zum Deutschen Reich. Die Tatsache, dass die deutsche Wehrmacht am 1. September 1939 in das Danziger Gebiet einmarschierte und am selben Tag dieses Gebiet – in völkerrechtswidriger Weise – dem Deutschen Reich wieder eingliederte, bei dem es sich völkerrechtlich gesehen um eine vollzogene Annexion handelte, gibt Polen nicht das Recht, sich nun auch seinerseits über den Status des Freistaates Danzig hinwegzusetzen und das seit März 1945 von ihm besetzt gehaltene Gebiet des Freistaates Danzig zu annektieren. Die ehemalige Sowjetunion unterstützte Polen insoweit aktiv und die westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkrieges billigten das Vorgehen, zumindest stillschweigend, obwohl Polen, nicht anders als das Deutsche Reich, zahlreiche Normen des Völkerrechts verletzte. Die von Polen nach dem Zweiten Weltkrieg vorgenommene Annexion der Freien Stadt Danzig ist also ebenfalls rechtswidrig. Die Sowjetunion, die mit ihrer Roten Armee 1945 bis weit in Mitteleuropa vorgedrungen war, übertrug neben den zum Deutschen Reich gehörenden Gebieten jenseits von Oder und Neiße auch das Gebiet der Freien Stadt Danzig den Polen zur Besetzung und vorläufigen Verwaltung. Dabei war aber ausdrücklich der Vorbehalt gemacht worden, dass die endgültige Festlegung der Grenzen Deutschlands einem Friedensvertrag vorbehalten bleiben würde. Da die Freie Stadt Danzig 1945 nicht zum Deutschen Reich gehörte und Danzig während des Zweiten Weltkrieges auch keine kriegführende Partei gewesen war, hätten die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, hier besonders die Sowjetunion, die Besetzung der Freien Stadt Danzig so schnell wie möglich wieder aufheben und die staatliche Integrität des Freistaates Danzig wiederherstellen müssen. Stattdessen stellten die Siegermächte während der Dreimächtekonferenz von Berlin (Potsdam, 17. Juli – 2. August 1945) auch das Gebiet der Freien Stadt Danzig unter die Verwaltung des polnischen Staates (sog. Potsdamer Abkommen, IX. Polen, unter b), auch hier mit der ausdrücklichen Bestimmung, dass die endgültigen Grenzen Deutschlands erst in einem Friedensvertrag festgelegt werden. Mit ihrer in Bezug auf Danzig getroffenen Entscheidung hatten die Siegermächte ihre Befugnisse weit überschritten, weil sie die Freie Stadt Danzig nicht als zum Deutschen Reich gehörend hätten betrachten dürfen. Die Siegermächte hätten dem rechtlichen Status Danzigs als Freier Stadt Rechnung tragen müssen. Sie hatten sogar die Pflicht, dafür Sorge zu tragen, dass der Verletzung der Rechte des Freistaates Danzig baldmöglichst ein Ende gesetzt wird. Wenn sie sich selbst dazu nicht in der Lage sahen, wäre es wohl der beste Weg gewesen, die Schutzpflicht, die dem Völkerbund oblag, nach der Auflösung dieser Organisation am 18. April 1946 auf die Vereinten Nationen zu übertragen. Zwar sind die Vereinten Nationen nicht ohne weiteres als die Nachfolgeorganisation des Völkerbundes zu betrachten, aber die Zielsetzung der beiden Weltorgani-

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sationen tendiert in dieselbe Richtung – nämlich Schaffung einer dauerhaften, friedlichen Weltordnung auf der Grundlage kollektiver Sicherheit. Eine endgültige völkerrechtliche Lösung blieb bis zu einer friedensvertraglichen Regelung aufgeschoben. Polen hatte unter Verletzung dieser treuhänderischen Aufgabe das Danziger Staatsgebiet als Ganzes seinem Territorium einverleibt, das Staatsvolk vertrieben und das widerrechtlich vertriebene Staatsvolk ausgesperrt und durch Neuansiedlung polnischer Bevölkerung vollendete Tatsachen zu erreichen versucht. Das Deutsche Reich wurde nach der Niederlage des Deutschen Reiches im Jahre 1945 für sein völkerrechtswidriges Vorgehen zur Verantwortung gezogen und bestraft. Polen dagegen, obwohl es sich während des Zweiten Weltkrieges nicht weniger völkerrechtswidrig verhielt und sein rechtswidriges Verhalten bis zum heutigen Tage fortsetzt, nicht. Polen übt völkerrechtlich gesehen, ohne, dass es von einem anderen Staat oder von den Vereinten Nationen daran gehindert wird, in dem Freistaat Danzig ein widerrechtliches Besatzungsregime aus. Man mag nun einwenden, dass das alles keinen Menschen mehr interessiere, aber in einer völkerrechtlichen Betrachtung ist die Rechtslage zu beleuchten, der Zeitgeist oder politische oder gar ideologische Überlegungen spielen keine Rolle. Die Moral sagt uns, dass die Vernichtung eines Staates, Vertreibung und Enteignung Unrecht sind. Das moderne Völkerrecht basiert auf moralischen Überlegungen und Wertungen, mehr als manche innerstaatliche Rechtsordnung. Es verurteilt Vertreibungen und entschädigungslose Enteignungen genauso wie die Annexion eines Staates. * Abstract Gilbert H. Gornig: The Fate of Gdansk before and after the Peace Negotiations of Versailles. Also an Article Concerning the Territorial Losses in West-Prussia (Das Schicksal Danzigs vor und nach dem Versailler Friedensvertrag. Auch ein Beitrag zu den Gebietsverlusten in Westpreußen), in: World War I and its Consequences for the Coexistence of Peoples in Central and Eastern Central Europe (Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa), ed. by Gilbert H. Gornig and Adrianna A. Michel (Berlin 2017), pp. 113 – 147. After the First World War, Gdansk was placed under the protection and supervision of the League of Nations. Polish and British troops had the task to ensure the new status of the city. Since the decision on the status of the city was not made dependent on a popular vote, the selfdetermination right of the peoples, proclaimed by US President Woodrow Wilson in his Fourteen Point Program, was violated. The Constitution of the Free City of Gdansk was drawn up by a properly appointed representative of the Free City in accordance with Article 103 of the Treaty of Versailles, in agreement with a commissioner of the League of Nations. It was placed under the guarantee of the League of Nations. Under Article 104 of the Treaty of Versailles, an agreement was supposed to

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be concluded between the Polish Government and the Free City to take the Free City of Gdansk into the Polish customs territory and to set up a free zone in the port. Upon the Treaty of Versailles’ entry into force, the German members of the Reich, who lived in the territory referred to in Article 100, lost the German Reich membership directly (ipso facto) when they became citizens of the Free City of Gdansk. The Polish minority had its own schools and an association, and there were Kashubians and Russians in Gdansk. For a period of two years following the Treaty’s entry into force of the Treaty, the German members of the Reich who exceeded the age of 18 and who were domiciled in the territory referred to in Article 100 were allowed to opt for German Reich membership. The option of the spouse included that of the wife, the option of the parents that of the children under the age of 18. Persons who exercised the aforementioned right of the option had to move to Germany within the next twelve months. They were allowed to keep their land possessions, which they had in the Free City of Gdansk and were permitted to take any kind of movable property with them. In accordance with Article 17 of the Versailles Treaty, all property belonging to the German Reich or the German States, situated in the territory of the Free City of Gdansk, was transferred to the Allies and Associated Principal Powers. Believing the following be justified, this property was surrendered to the Free City or the Polish state. Gdansk did not belong to the German Reich when World War II started (1 September 1939). The fact that the German Armed Forces marched into Gdansk territory on 1 September 1939 and that, on the same day, this territory was – in violation of international law – re-incorporated into the German Reich, this (from the perspective of international law) involving the execution of an annexation, does not give Poland the right to also disregard the status of and to annex the free state of Gdansk, having occupied its territory since March 1945. In this respect, the former Soviet Union supported Poland actively and the main victorious powers of World War II, at least tacitly, approved of this initiative, despite the fact that Poland, like the German Reich, infringed numerous norms of international law. The annexation of the free city of Gdansk carried out by Poland after World War II thus is unlawful as well. The Soviet Union, which encroached on Central Europe with its Red Army in 1945, also, apart from the territory of the German Reich beyond the Oder Neisse border, transferred the territory of the free city Gdansk to Poland for occupation and provisional administration. In doing so however, the explicit reservation was made that the final determination of borders of Germany would be laid down in a peace treaty. As the free city of Gdansk was no part of the German Reich in 1945 and because Gdansk was no belligerent party in World War II, the victorious powers of World War II, especially the Soviet Union, would have had to stop the occupation of the free city of Gdansk as soon as possible and restore the state integrity. Instead, the victorious powers, during the Tripartite Conference of Berlin (Potsdam, 17 July – 2 August 1945), also placed the territory of the free city of Gdansk under the administration of the Polish State (so-called Potsdam Agreement, IX. Poland, under b), here again with the explicit provision to only finally determine the borders of Germany in a peace treaty. With the decision taken by the victorious powers concerning Gdansk, they exceeded their powers by far, as they should not have had regarded Gdansk as a part of the German Reich. The victorious powers should have had taken the legal status of Gdansk as a free city into account. As a matter of fact, they even had the duty to end the infringement of rights of the free state of Gdansk as soon as possible. If they did not feel able to do so, it would have been the best choice to transfer the League of Nations’ protection obligation to the United Nations after the dissolution of the organisation on 18 April 1946. Indeed, the United Nations cannot be considered as the successor organisation of the League of Nations just like that; however,

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the objectives of both world organisations tend towards the same direction – namely, the creation of a peaceful and lasting world order based on a collective security. A final solution under international law remains postponed until the introduction of a regulation in a peace treaty. Poland, in breach of this fiduciary role, has annexed the Gdansk territory as a whole, has driven the people out and has unlawfully locked them out and, by means of resettlement of the Polish population, attempted to achieve a faits accompli. After its defeat in 1945, the German Reich was held accountable for its breaches of international law and was punished. In contrast, Poland, not having acted less contrary to international law in World War II and still upholding its unlawful conduct to the present day, was not. In terms of international law, Poland, without being prevented to do so by another state or by the United Nations, exercises an unlawful occupation regime in the free state of Gdansk. One may argue that no one cares about this anymore, but from the view of international law this legal situation must be examined, the Zeitgeist, political or even ideological considerations are irrelevant. Morality tells us that the destruction of a state, that displacement and expropriation are wrong. Modern international law is based on moral considerations and values, more so than some domestic legal systems. It condemns displacement and expropriation without compensation just like the annexation of a state.

Das Schicksal des Memellandes seit dem Versailler Friedensvertrag Von Gilbert H. Gornig* I. Begriff Unter „Memelgebiet“ versteht man den Teil der preußischen Provinz Ostpreußen, der aufgrund des Art. 99 des Versailler Friedensvertrages1 vom 28. Juni 1919 vom Deutschen Reich abgetrennt worden ist. Das Memelgebiet wird begrenzt durch die ehemalige deutsch-russische Grenze im Norden, die Ostsee im Westen und einer Linie im Süden, die sich von der Westküste bis zur Ostküste der Kurischen Nehrung – etwa 4 km südwestlich von Nidden – zieht; von dort läuft die Abgrenzung entlang einer geraden Linie durch das Kurische Haff nach Osten bis zum Skierwietharm des Deltas. Weiter zieht sich die Linie den Skierwietharm entlang zur Memel und dann entlang der Hauptfahrrinne der Memel aufwärts bis zur ehemaligen deutsch-russischen Grenze, die etwas östlich von Schmalleningken beginnt. Das Gebiet umfasst die früheren preußischen Kreise Memel und Heydekrug sowie die an dem nördlichen Ufer der Memel liegenden Teile der Kreise Tilsit und Ragnit.2 Es ist 2708 qkm groß und hat damit ungefähr die Größe Luxemburgs.3

* Vgl. auch G. Gornig, Das Memelland – vergessenes Land im Osten. Eine völkerrechtliche und staatsrechtliche Betrachtung, in: G. Gornig (Hrsg.), Liber discipulorum. Festgabe für Dieter Blumenwitz, 1989, S. 73 – 98 (auszugsweise abgedruckt in: Materialien zu Deutschlandfragen. Politiker und Wissenschaftler nehmen Stellung, 1989 – 91, 1991, S. 377 – 381); ders., Das Memelland – gestern und heute. Eine historische und rechtliche Betrachtung, 1991; ders., Das Memelland. Kulturelle Arbeitshefte, Band 31, 3. Aufl. 1994. 1 Text: RGBl. 1919, S. 687 ff. 2 Vgl. H. Hecker, Deutschland, Litauen und das Memelland, Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg, Band VI, 1955, S. 228 ff. 3 E. Schwertfeger, Memelland – Land in Fesseln. Schicksal an deutschen Grenzen, Teil I, 1935, S. 24, spricht von 2657 qkm.

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II. Bevölkerung Die Ureinwohner des Memelgebietes4 gehörten wahrscheinlich zur baltischen Volksgruppe. Cornelius Tacitus nennt sie in seinem Bericht über Germanien5 „Aestier“. Es handelte sich hierbei möglicherweise um Schalauer und Kuren. Nördlich und östlich von ihnen lebten die Schamaiten. Südlich des Memelflusses siedelten die Pruzzen, östlich der Pruzzen wohnten die Sudauer und weiter östlich die Litauer. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts bewohnten den nördlichen Teil des Memelgebietes in erster Linie die Kuren, während im südlichen Teil die Pruzzen lebten. Das Land war aber sehr dünn besiedelt und größtenteils unbebaut. Eine litauische Urbevölkerung ist für jene Zeit nicht nachweisbar.6 Erst im Laufe des 13. Jahrhunderts und im 14. Jahrhundert wanderten wenige Litauer ins Memelgebiet ein. Es waren Flüchtlinge, die wegen ihres christlichen Glaubens aus Litauen vertrieben wurden. Um das Jahr 1450 erfolgte dann eine stärkere Einwanderung von Litauern, die bis ins 17. Jahrhundert andauerte.7 Nach dem Schwedeneinfall im Jahre 1626 kamen auch immer mehr deutsche Siedler ins Land. Friedrich Wilhelm I., König von Preußen, bot im Jahre 1732 17.000 Salzburgern, die ihres Glaubens wegen aus ihrer Heimat vertrieben wurden, in Ostpreußen eine neue Heimat. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wanderten etwa 1000 Protestanten aus der Schweiz, Hugenotten aus Frankreich, über 130.000 Siedler aus Mittel- und Süddeutschland, etwa 3.000 Mennoniten aus Kulm und über 5.000 Holländer, Polen, Schotten und Engländer in Ostpreußen ein und ließen sich zum Teil auch im Memelgebiet nieder.8 Im Laufe des 19. Jahrhunderts nahmen viele Litauer des Memelgebietes die deutsche Kultur und Sprache an. Sie unterschieden sich damit immer mehr von den Litauern jenseits der preußischen Grenze, die unter russischer Herrschaft standen. Sie 4

Zur Besiedlung vgl. B. Schumacher, Geschichte Ost- und Westpreußens, 6. Aufl. 1977, S. 1 ff., 12 ff.; H. Mortensen/G. Mortensen, Die Besiedlung des nordöstlichen Ostpreußen bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts, Teil I: Die preußisch-deutsche Siedlung am Westrand der Großen Wildnis um 1400, 1937. Ferner: M. Gimbutas, Die Balten, 1983; G. Biegel/J. Jaskanis (Hrsg.), Die Balten. Die nördlichen Nachbarn der Slawen, 1987. 5 C. Tacitus, De Germania, Rdnr. 45, in: A. Heine (Hrsg.), Caesar – Tacitus, Berichte über Germanen und Germanien, 1986, S. 15 ff. (47). 6 Vgl. etwa A. Katschinski, Das Schicksal des Memellandes. Eine vergleichende und zusammenfassende Heimatgeschichte, 1923, S. 16; E. Friesecke, Das Memelgebiet, 1923, S. 9; R. Schierenberg, Die Memelfrage als Randstaatenproblem, 1925, S. 9 ff., 15; F.-H. Deu, Das Schicksal des deutschen Memelgebietes. Seine wirtschaftliche und politische Entwicklung seit der Revolution, 1927, S. 17; B. Schumacher (Anm. 4), S. 12 ff. 7 So suchte der Orden unter den christlich gewordenen Litauern jenseits der Grenzen Neuansiedler. Im 16. Jahrhundert holten die Preußen Litauer ins Land, um die Lücken zu schließen, die durch die Pest geschlagen wurden. 8 Vgl. die Tabelle der Einwanderer bei: A. Katschinski (Anm. 6), S. 23. Die von Katschinski gegebenen Zahlen werden von F. Arvydas, Das Memelland, ist es wirklich deutsches Land? Die Anrechte Litauens im Spiegel der Geschichte, 1934, S. 35, als ungenau und oberflächlich angegriffen. Vgl. auch W. S. Vìdunas, Litauen in Vergangenheit und Gegenwart, 1916, S. 32 ff.

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waren zudem in der Regel evangelisch, während die unter russischer Oberhoheit lebenden Litauer katholisch waren.9 Im Jahre 1905 betrug die Gesamtbevölkerung 139.738 Menschen.10 Nach der Volkszählung vom 1. Dezember 1919 wohnten 140.675 Personen im Memelgebiet, davon sprachen 71.114 deutsch, 66.686 litauisch, 69 polnisch, 7 masurisch und 487 eine andere Sprache.11 Nach der Volkszählung vom 30. September 1920 lebten 140.746 Einwohner im Memelgebiet, von denen 71.156 deutsch, 67.259 litauisch, 126 polnisch und 8 masurisch zur Muttersprache hatten.12 Die meisten Bewohner des Memelgebietes mit nichtdeutscher Muttersprache waren allerdings auch der deutschen Sprache mächtig. Deutsche und Litauer lebten friedlich miteinander und nationale Fragen spielten keine nennenswerte Rolle. III. Historische und rechtliche Betrachtung des Schicksals des Memellandes 1. Geschichte bis zum Friedensvertrag von Versailles Im Jahre 1226 wurde der Deutsche Orden von Herzog Konrad von Masowien gegen die zu den Balten zählenden heidnischen Pruzzen zu Hilfe gerufen.13 Er erhielt für seine Unterstützung das Culmerland und unterwarf von hier aus bis zum Jahre 1283 das ganze, nur dünn besiedelte Preußenland, das durch Ansiedlung deutscher Bauern und zahlreiche Städtegründungen dichter bevölkert wurde. Im Jahre 1237 vereinigte sich der Deutsche Ritterorden mit dem Schwertritterorden, der zunächst die Eroberung Livlands durchführte. Ziel des vereinigten Ordens war, die livländische Ordensprovinz im Norden mit der preußischen Ordensprovinz im Süden zu verbinden, denn noch lag ein breiter Streifen zu erobernden Landes zwischen den beiden Gebieten des Ordens.14

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Vgl. E.-A. Plieg, Das Memelland 1920 – 1939. Das Ende Ostmitteleuropas?, 1989, S. 244; J. Ganß, Die völkischen Verhältnisse des Memellandes, 1925, S. 57, 132. 10 Vgl. A. Katschinski (Anm. 6), S. 30. 11 Vgl. F.-H. Deu (Anm. 6), S. 3. Die Zahlen von J. Ganß, Das Memelland. Taschenbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums, 1929, Heft 16 a, S. 3, unterscheiden sich unwesentlich davon. Ganß spricht von 141.238 Bewohnern, von denen 73.809 (52,4 %) die deutsche, 67.124 (47,5 %) die litauische Muttersprache besaßen. 12 Vgl. F.-H. Deu (Anm. 6), S. 3 f.; E. Friesecke (Anm. 6), S. 9. Zu den Memellitauern und den Memeldeutschen vgl. V. Zalys, Ringen um Identität. Warum Litauen zwischen 1923 und 1939 im Memelgebiet keinen Erfolg hatte, 1993, S. 11 ff. Seiner Ansicht nach war der Memellitauer in der Politik traditionsgemäß mehr auf das deutsche Element sowie auf die deutschen Strukturen hin orientiert, wie er am Beispiel der Wahlergebnisse nachzuweisen versucht. 13 Zur Geschichte des Memelgebietes vgl. G. Gornig, Das Memelland. Gestern und heute. Eine historische und rechtliche Betrachtung, 1991, S. 23 ff. 14 Vgl. auch R. Schierenberg (Anm. 6), S. 9 f.

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Im Jahre 1252 bauten Eberhard von Seyn und Bischof Heinrich von Kurland an der Stelle des lettischen Dorfes Klaipeda15 eine hölzerne Burg und nannten sie nach dem Memelfluss „Mummelburgk“. Die Gründung von Memel16 erfolgte durch den Schwertritterorden, um die beiden Zweige des Deutschen Ordens zu vereinen. Memel eröffnete für den Orden die Aussicht, über diesen Pfeiler die Brücke vom Norden nach dem Süden zu schlagen und damit ein territorial zusammenhängendes Gebiet zu schaffen. In der Nähe der Burg entstand eine Siedlung, die spätere Stadt Memel, die älteste deutsche Ansiedlung in Ostpreußen.17 Die ersten Bewohner kamen aus Lübeck, es wurden vom livländischen Landmeister aber auch Kuren und Liven angesiedelt. Eine gewisse Zeit dachte der Orden daran, die sich entwickelnde Handelsstadt unter Dortmunder Recht zu stellen und die Stadt Neu-Dortmund zu nennen. Im Jahre 1257 bekam die Stadt jedoch lübisches Recht. Als Grenze zwischen der preußischen und der livländischen Ordensprovinz galt die Memel. Nach Unterwerfung der Schalauer wurde schließlich über einen schmalen Küstenstreifen eine Landverbindung zwischen dem nördlichen und südlichen Ordensgebiet hergestellt. Im Hinterland behaupteten sich zwischen dem Memelland und Kurland nach wie vor die Schamaiten. Im Jahre 1328 traf der Deutsche Orden eine für das Schicksal des Memellandes bedeutsame Regelung. Die Grenze zwischen der preußischen und der livländischen Ordensprovinz, die durch die Memel bestimmt war, wurde nach Norden verlegt. Das Memelland wurde von der livländischen Ordensprovinz losgelöst und mit der preußischen vereinigt. Die Grenze zwischen Preußen und Kurland verlief nun an der Heiligen Aa und der Minge von Westen nach Osten, so dass Polangen nördlich der Memel noch zum Memelland gehörte. Mit der Übernahme der Oberhoheit durch den Deutschen Orden im Jahre 1328 begann eine neue Siedlungstätigkeit. Auch der livländische Orden bemühte sich, in diesem Gebiet Deutsche anzusiedeln. Da aber nur wenige deutsche Bauern in das entlegene Gebiet kamen, wurden Kuren herangezogen und germanisiert. Die wenigen Litauer, die im 13. und 14. Jahrhundert ins Memelgebiet einwanderten, waren Flüchtlinge, die wegen ihres Übertritts zum christlichen Glauben aus Litauen vertrieben wurden.18 Gegen die Übermacht der seit 1386 vereinigten Polen und Litauer verlor der Deutsche Orden am 15. Juli 1410 die Schlacht bei Tannenberg und trat im Ersten Thorner Frieden vom 1. Februar 141119 Schamaiten ab, Memel und seine Umgebung blieben

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Der Name „Klaipeda“ ist lettisch-kurisch und bedeutet so viel wie „flache Gegend“. Zur Gründung der Stadt Memel vgl. J. Sembritzki, Geschichte der Königlich-preußischen See- und Handelsstadt Memel, 2. Aufl. 1926; A. Ambrassat, Die Provinz Ostpreußen, 2. Aufl. 1912, S. 288 ff. 17 R. Schierenberg (Anm. 6), S. 9 ff.; W. Schätzel, Das Reich und das Memelland. Das politische und das völkerrechtliche Schicksal des deutschen Memellandes bis zu seiner Heimkehr, 1943, S. 27; F.-H. Deu (Anm. 6), S. 15. 18 Vgl. G. Gornig (Anm. 13), S. 23 f.; F.-H. Deu (Anm. 6), S. 15 ff. 19 Text: E. Weise (Hrsg.), Die Staatsverträge des Deutschen Ordens in Preußen im 15. Jahrhundert, Bd. 1, 2. Aufl. 1970, S. 82 ff.; G. Gornig (Anm. 13), S. 139 ff. 16

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allerdings beim Orden.20 Ein weiterer Krieg mit Polen und Litauen endete im Jahre 1422 mit dem Frieden am Melno-See21, der von den Siegerstaaten diktiert wurde. In diesem Frieden wurde die nördliche und östliche Grenze Preußens festgelegt, wie sie bis zum Jahre 1919 Bestand hatte. Von diesem Zeitpunkt an gehörte das Memelland unbestritten 500 Jahre zu Preußen.22 Die gezogene Grenzlinie war gleichzeitig die Scheidelinie zwischen dem Protestantismus im Memelland und dem Katholizismus in Schamaiten und Litauen. 2. Friedensvertrag von Versailles a) Ereignisse aa) Vorfriedensvertrag Am 3. Oktober 1918, als sich Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg abzeichnete, richtete die deutsche Regierung eine Note23 an den US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, in der der Präsident ersucht wurde, die Herstellung des Friedens in die Hand zu nehmen. In dieser Note nahm die deutsche Regierung das vom Präsidenten der Vereinigten Staaten in der Kongressbotschaft vom 8. Januar 1918 und in seinen späteren Kundgebungen24, namentlich der Rede vom 27. September 191825, aufgestellte Programm als Grundlage für die Friedensverhandlungen an. In der Kongressbotschaft vom 8. Januar 1918 verkündete Präsident Wilson seine „Vierzehn Punkte“, in denen er sich mit verschiedenen Grenzfragen auseinandersetzte. Von einer Abtretung des Memellandes war dort ebenso wenig die Rede wie von einen freien Zugang zum Meer für Litauen. Auch im Vorfriedensabkommen26 war nicht vereinbart worden, dass das Memelland vom Deutschen Reich abgetreten werden sollte. 20 Zwar forderte der litauische König Vyautas im Jahre 1414 einen Teil des Memelgebiets, er hatte jedoch mit seinem Begehren keinen Erfolg. Zwischen 1414 und 1914 wurde dann niemals mehr eine solche Forderung erhoben; vgl. Th. W. Kalijarvi, Die Entstehung und rechtliche Natur des Memelstatus und seine praktische Auswirkung bis zum heutigen Tag, 1937, S. 17. 21 Text: E. Weise (Anm. 19), S. 150 ff., 157 ff.; G. Gornig (Anm. 13), S. 141 ff. Im Frieden vom Melno-See erlangte Litauen zum ersten Mal in der Geschichte Zugang zum Meer. Polangen, das bislang zum Memelland gehörte, fiel an Litauen. 22 Zur weiteren Entwicklung vgl. G. Gornig (Anm. 13), S. 25 f. 23 Text: J. Hohlfeld (Hrsg.), Dokumente der deutschen Politik von 1848 bis zur Gegenwart, Bd. II: Das Zeitalter Wilhelms II. 1890 – 1918, o. J., S. 397. 24 Texte: J. Hohlfeld (Anm. 23), S. 393 ff. 25 Text: A. Link (ed.), The Papers of Woodrow Wilson, vol. 51, September 14 – November 8, 1918, 1985, S. 127 ff. 26 Nach einem Notenwechsel der US-amerikanischen Regierung mit der deutschen Regierung (Text: J. Hohlfeld [Anm. 23], S. 397 ff.) wurde am 5. 11. 1918 der deutschen Regierung eine Note (Text: J. Hohlfeld [Anm. 23], S. 404) überreicht, die ein Memorandum der alliierten Regierungen enthielt.

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bb) Bestrebungen Litauens und Polens Gleich nach der Revolution im November 1918 gründete sich in Litauen eine Bewegung, die sich zum Ziele setzte, das Memelgebiet von Preußen loszureißen und mit Russisch-Litauen zu einem Staat zusammenzufügen. Am 28. März 1919 sandten die Litauer eine Note an den französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau, in der sie eine Vereinigung mit Polen ablehnten, ihre Unabhängigkeit forderten und Ansprüche auf den Fluss Memel mit der Stadt Memel stellten, um Litauen einen Zugang zum Meer zu verschaffen.27 Der Anschluss des Memellandes an Litauen wurde auch mit dem Argument untermauert, dass die Bevölkerung dies wünsche und das Memelland seit jeher litauisch gewesen sei.28 Polen machte ebenfalls Ansprüche auf das Memelgebiet geltend. Am 25. Februar 1919 schlug Polen sogar vor, ganz Ostpreußen, einschließlich Memel, Polen zu überlassen. Es wurde zwar eingeräumt, dass die Bevölkerung des Gebietes deutsch sei, man argumentierte aber, dass Ostpreußen geographisch einen Teil Polens darstelle. Zudem stagniere das Gebiet wirtschaftlich und sei in sozialer Hinsicht mittelalterlich.29 Polen wollte durch den Anschluss des Memelgebietes den polnischen Gürtel um Ostpreußen schließen und erhoffte damit, auf längere Sicht auch Ostpreußen einverleiben zu können.30 Im Memelgebiet erhob sich aber starker Widerstand gegen die Tendenzen, das Gebiet vom Deutschen Reich abzutrennen.31 cc) Abschluss des Versailler Friedensvertrages Am 7. Mai 1919 wurden der deutschen Friedensdelegation32 die Friedensbedingungen bekanntgegeben, in denen die Abtretung des Memelgebietes gefordert und damit den getroffenen Abreden nicht entsprochen wurde. In einer Note vom 13. Mai 191933 betonte die deutsche Regierung, dass sie nicht bereit sei, Gebiete des Reiches abzutreten, „die nicht unzweifelhaft von einer Bevölkerung fremden Stammes bewohnt“ würden. Am 14. Mai 1919 begab sich eine Delegation aus dem nördlichen Teil des Memelgebietes zu Reichspräsident Friedrich Ebert, um die Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reich zu erbitten, da 90 % der Bevölkerung deutsch seien und das Land durch mehr als 600jährige Zusammengehörigkeit, 27 Vgl. F. Janz, Die Entstehung des Memelgebietes. Zugleich ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Versailler Vertrages, 1928, S. 17 ff.; Th. W. Kalijarvi (Anm. 20), S. 26 f.; G. Gornig (Anm. 13), S. 28 f. 28 Vgl. J. Ganß (Anm. 9), S. 78. 29 Vgl. hierzu die Denkschrift, die Roman Durowski dem Präsidenten der Vereinigten Staaten am 8. 10. 1918 vorgelegt hatte. Sie wurde auch der „Commission des Affaires Polonaises“ am 25. 2. 1919 von der polnischen Delegation als offizielle Stellungnahme überreicht. Der Text ist auszugsweise abgedruckt bei F. Janz (Anm. 27), S. 29 ff. 30 Vgl. F. Janz (Anm. 27), S. 29 ff.; G. Gornig (Anm. 13), S. 29 f. 31 Vgl. Th. W. Kalijarvi (Anm. 20), S. 27 f.; F. Janz (Anm. 27), S. 61 ff. 32 Text: H. Kraus/G. Rödiger (Hrsg.), Urkunden zum Friedensvertrage von Versailles vom 28. Juni 1919, 1. Teil, 1920, S. 205 ff.; G. Gornig (Anm. 13), S. 144 ff. 33 Text: H. Kraus/G. Rödiger (Anm. 32), S. 242 ff.

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gemeinsame Kultur und wirtschaftliche Interessen mit Deutschland verbunden sei.34 Am 29. Mai 191935 nahm die deutsche Friedensdelegation zum Vertragsentwurf über die Friedensbedingungen Stellung. Dabei wurde die Abtretung des Memelgebietes mit der Begründung abgelehnt, die Bevölkerung wünsche nicht die Loslösung vom Reich. Deutschland erklärte sich allerdings bereit, Polen durch Einräumung von Freihäfen in Danzig, Königsberg und Memel freien und sicheren Zugang zum Meere unter internationaler Garantie zu gewähren. In der Note vom 16. Juni 191936 teilte Clemenceau mit, dass die alliierten und assoziierten Mächte entschieden hätten, das Memelgebiet Deutschland wegzunehmen. Die Mehrheit der Bevölkerung sei ihrem Ursprung nach litauisch und die Tatsache, dass die Stadt Memel selbst deutsch sei, rechtfertige nicht das Verbleiben des ganzen Gebietes unter deutscher Hoheit, insbesondere deswegen nicht, weil der Memeler Hafen Litauens einziger Zugang zum Meer sei. Es sei bestimmt worden, dass Memel und das benachbarte Gebiet den alliierten und assoziierten Mächten überlassen werde.37 Am 23. Juni 191938 entschloss sich die deutsche Regierung zur vorbehaltlosen Annahme der Friedensbedingungen. Die Unterzeichnung des Friedensvertrages fand am 28. Juni 1919 in Versailles statt. Art. 99 des Friedensvertrages lautet39: „Deutschland verzichtet zugunsten der alliierten und assoziierten Hauptmächte auf alle Rechte und Ansprüche auf die Gebiete zwischen der Ostsee, der in Art. 28 Teil II (Deutschlands Grenzen) des gegenwärtigen Vertrages beschriebenen Nordostgrenze Ostpreußens und den alten deutsch-russischen Grenzen. Deutschland verpflichtet sich, die von den alliierten und assoziierten Hauptmächten hinsichtlich dieser Gebiete, insbesondere über die Staatsangehörigkeit der Einwohner getroffenen Bestimmungen anzuerkennen.“

Art. 28, der Deutschlands Grenzen beschreibt, lautet das Memelland betreffend: „… von dort die alte russische Grenze bis östlich Schmalleningken, dann die Hauptfahrrinne der Memel (des Njemen) abwärts, dann der Skierwietharm des Deltas bis zum Kurischen Haff; von dort eine gerade Linie bis zum Schnittpunkt der Ostküste der Kurischen Nehrung mit der Verwaltungsgrenze etwa 4 km südwestlich von Nidden; von dort diese Verwaltungsgrenze bis zum Westufer der Kurischen Nehrung.“

Zu Art. 99 trat ergänzend Art. 256, wonach die Mächte, in deren Besitz deutsches Gebiet überging, gleichzeitig alles Gut und Eigentum des Deutschen Reiches und der 34

Vgl. F.-H. Deu (Anm. 6), S. 4; F. Janz (Anm. 27), S. 63. Text: H. Kraus/G. Rödiger (Anm. 32), S. 433 ff. 36 Text: H. Kraus/G. Rödiger (Anm. 32), S. 555 ff.; G. Gornig (Anm. 13), S. 150. 37 Zu den deutschen Bemühungen, die Abtretung des Gebietes zu verhindern vgl. G. Gornig (Anm. 13), S. 31 f. 38 Text: H. Kraus/G. Rödiger (Anm. 32), S. 699 f. 39 Zitiert nach: RGBl. 1919, S. 687 ff. 35

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deutschen Staaten erwerben, das in den Gebieten gelegen war. Art. 377 enthielt die Abtretung der Eisenbahnlinien und -einrichtungen. Die Memel wurde – ebenso wie Elbe, Oder und Donau – gemäß Art. 331 – 445 des Versailler Friedensvertrages internationalisiert. Art. 433 sah vor, dass so lange deutsche Truppen in den zu räumenden Gebieten verbleiben sollten, bis die alliierten und assoziierten Mächte unter Berücksichtigung der internationalen Ordnung den Abzug gebieten. b) Übertragung der territorialen Souveränität und Gebietshoheit Nach Art. 99 des Versailler Friedensvertrages40 verzichtete Deutschland zugunsten der alliierten und assoziierten Hauptmächte auf alle Rechte und Ansprüche hinsichtlich des Memellandes.41 Es handelt sich hierbei um einen Fall der Staatensukzession. Die Übertragung der territorialen Souveränität42 über das Memelgebiet erfolgte mit dem Inkrafttreten des Versailler Friedensvertrages. Dieser war allerdings nicht mit der Unterzeichnung wirksam geworden. Vielmehr hieß es in den Schlussbestimmungen43, dass von der Aufstellung des ersten Protokolls über die Niederlegung der Ratifikationsurkunden an der Vertrag für die Hohen vertragschließenden Parteien, die ihn ratifiziert haben, in Kraft tritt. Die Errichtung des ersten Protokolls fand in Paris am 10. Januar 1920 statt, so dass an diesem Tage die Abtretung des Memelgebietes erfolgte. Aus der Tatsache, dass die Vereinigten Staaten von Amerika den Versailler Friedensvertrag nicht ratifiziert hatten, folgt, dass sie durch ihn auch nicht berechtigt und verpflichtet werden konnten. Die Rechte und Pflichten der Vereinigten Staaten von Amerika bezüglich des Memelgebietes gingen auf die anderen vier Hauptmächte, das Vereinigte Königreich, Frankreich, Japan und Italien über. Die Gebietshoheit erlangt der Erwerber grundsätzlich aufgrund effektiver Besitzübernahme.44 Die effektive Besitzübernahme des Memelgebietes durch die alliierten und assoziierten Mächte erfolgte nicht am Tage des Inkrafttretens des Versailler Friedensvertrages, also nicht am 10. Januar 1920. Aufgrund einer besonderen Vereinbarung vom 9. Januar 192045 sollte vielmehr an einem Tage, der entsprechend dem Zeit40 Zur völkerrechtlichen Würdigung des Versailler Friedensvertrags wegen Zwangs gegen das Reich und Unvereinbarkeit mit dem Vorfriedensvertrag vgl. A. A. Michel, Die Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg. Entstehung – Abschluss – Rechtswirkung, in diesem Band. 41 Vgl. hierzu ausführlich G. Gornig (Anm. 13), S. 66 ff. 42 Zur territorialen Souveränität und Gebietshoheit: G. Gornig, Territoriale Souveränität und Gebietshoheit als Begriffe des Völkerrechts, in: G. Gornig/H.-D. Horn (Hrsg.), Territoriale Souveränität und Gebietshoheit. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 30, 2016, S. 35 ff., 39. 43 Vgl. Art. 440 Abs. 6 und 7. 44 Vgl. E. von Ullmann, Völkerrecht, 1908, S. 318; F. von Liszt/M. Fleischmann, Das Völkerrecht, 12. Aufl. 1925, S. 277. 45 Text: H. Kraus/G. Rödiger (Anm. 32), S. 869 f.

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punkt der Ankunft der alliierten Streitkräfte festgesetzt und der deutschen Delegation spätestens am 12. Januar 1920 mitgeteilt werden sollte, die Übergabe des Gebietes erfolgen. Da allerdings eine Verzögerung eintrat, wurde in der Zwischenzeit das Memelgebiet weiterhin von einem deutschen Reichskommissar verwaltet, der am 26. August 1919 von der deutschen Regierung eingesetzt wurde. Erst am 11. und 12. Februar 1920 verließen die letzten deutschen Truppen Memel, während gleichzeitig englische und französische Torpedoboote in den Hafen einliefen. Am 13. Februar 192046 trafen zwei Bataillone französischer Soldaten mit Sonderzügen in Memel ein und besetzten das Gebiet. Am 15. Februar 1920 schließlich übergab Reichskommissar Georg Graf Lambsdorff dem Vertreter der alliierten und assoziierten Mächte, General Dominique-Joseph Odry, das Gebiet.47 Obwohl die Macht im Memelgebiet dem französischen General Odry übergeben wurde, erlangte Frankreich nicht allein die Gebietshoheit. Frankreich übernahm das Gebiet vielmehr als Vertreter der alliierten und assoziierten Hauptmächte. Gebietshoheit besaßen somit neben Frankreich auch das Vereinigte Königreich, Italien und Japan, nicht aber die Vereinigten Staaten von Amerika. Die die territoriale Souveränität innehabenden Staaten übten somit – spätestens seit dem 16. Februar 1920 – auch die Gebietshoheit aus. 3. Verwaltung des Memelgebietes durch die Alliierten a) Ereignisse General Odry schuf für das Memelgebiet eine neue Regierungs- und Verwaltungsorganisation. Die Gesetzgebung und oberste Leitung lag allein in den Händen des Gouverneurs. Aufgrund seiner Gesetzgebungskompetenz erließ dieser am 21. September 1920 eine Verordnung über die Neugestaltung der Landesverwaltung.48 Die Verwaltung oblag danach einem Landesdirektorium, das sich aus sechs bis acht Mitgliedern zusammensetzte. Als beratende Körperschaft wurde der Staatsrat geschaffen, der aus 20 Mitgliedern bestand. Ein Verwaltungsgericht wurde errichtet.49 Der Zivilkommissar übernahm die oberste Leitung der Zivilverwaltung.50 Das ganze Gebiet wurde in drei Landkreise – Memel, Heydekrug und Pogegen – eingeteilt, an deren Spitze ein Landrat stand. Die Zollgrenze gegenüber dem Deutschen Reich wurde am 27. April 1920 errichtet. Seitdem war das Memelgebiet ein 46 Vgl. Th. W. Kalijarvi (Anm. 20), S. 40. F. Janz (Anm. 27), S. 84, spricht vom 14. 2. 1920, R. Schierenberg (Anm. 6), S. 67, vom 15.2. 47 Vgl. Bekanntmachung des Generals vom 15. 2. 1920, Text: Amtsblatt des Memelgebiets 1920, Nr. 1, S. 1; A. Katschinski (Anm. 6), S. 39; Th. W. Kalijarvi (Anm. 20), S. 40; F.-H. Deu (Anm. 6), S. 3; G. Gornig (Anm. 13), S. 73 f. 48 Text: Amtsblatt des Memelgebietes 1920, Nr. 41, S. 347; G. Gornig (Anm. 13), S. 155 ff. 49 Vgl. Amtsblatt des Memelgebietes 1920, Nr. 41, S. 348. 50 Vgl. Amtsblatt des Memelgebietes 1920, Nr. 14, 105.

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eigenes Zollgebiet. Der Fluss Memel wurde zur Zoll-, Pass-, Aus- und Einfuhrgrenze zwischen dem Deutschen Reich und dem Memelgebiet.51 Die Reichsbank wurde am 18. November 1920 durch die alliierten Hauptmächte zur Weiterführung der Geschäfte im Memelgebiet veranlasst.52 Es bestand somit ein gemeinsames Währungsgebiet Deutsches Reich–Memelgebiet. Das ganze Memelgebiet wurde zu einem Landgerichtsbezirk zusammengefasst. Der Wegfall der höheren Instanzen des Oberlandesgerichts Königsberg und des Reichsgerichts wurde durch die Errichtung eines gemeinsamen Danzig-Memelländischen Obergerichts in Danzig am 30. August 1920 ausgeglichen.53 Den Eisenbahnverkehr im Memelgebiet führte die Reichsbahn auf Rechnung des Reiches durch. Die Post wurde selbständig. Die Polizei wurde von der Besatzungsmacht gestellt. General Odry verlieh im April 1920 der Stadt Memel ein eigenes Wappen54. Das Memelgebiet führte eine eigene Flagge: gelb-rot mit dem Memeler Stadtwappen in der oberen Ecke am Flaggenstock. Am 1. April 1921 verließ Gouverneur Odry das Memelgebiet. An die Spitze der Verwaltung trat nun auf Beschluss der Botschafterkonferenz mit den Befugnissen des Vertreters der Hauptmächte der französische Präfekt Gabriel Petisné als „Oberkommissar“.55 Die Bevölkerung war mit diesen Maßnahmen nicht einverstanden. Im November 1921 wurde, da eine Rückkehr zum Reich illusorisch erschien, eine „Arbeitsgemeinschaft für den Freistaat Memel“ gegründet, in der man sich für die Unabhängigkeit des Memellandes einsetzte. Im Frühjahr 1922 führte diese Vereinigung eine Unterschriftensammlung der über 20 Jahre alten Bewohner des Memellandes durch. Von 56.000 Stimmberechtigten bekannten sich 54.429 Personen zum Freistaat.56 Litauer und Polen bemühten sich unterdessen weiterhin um den Anschluss des Memelgebietes an ihren Heimatstaat.57 Die litauische Bevölkerung im Memelgebiet stützte die Forderung nach Anschluss des Gebiets an Litauen darauf, dass die Siegermächte in ihrer Note an die deutsche Friedensdelegation vom 16. Juni 1919 die Vereinigung des Gebietes mit Litauen vorgesehen hatten.58 Am 21. Februar 1920 fasste die preußisch-litauische Volksvertretung, die Taryba, den Beschluss, bei den Regierungen 51

Vgl. Amtsblatt des Memelgebietes 1920, Nr. 9, S. 37. Erst mit der Verordnung betreffend die Einführung der litauischen Währung und die Übernahme der Zollverwaltung sowie der Eisenbahn-, Post- und Telegraphenanstalten vom 28. 2. 1923 (Text: Amtsblatt des Memelgebietes 1923, Nr. 23, S. 170), wurde im Memelgebiet der litauische Litas neben der deutschen Mark als gesetzliches Zahlungsmittel eingeführt. Mit der Verordnung über die Einführung der Litaswährung vom 30. 5. 1923 (Text: Amtsblatt des Memelgebietes 1923, Nr. 59, S. 483) wurde der Litas vom 10. 6. 1923 ab alleiniges gesetzliches Zahlungsmittel im Memelgebiet. 53 Vgl. Amtsblatt des Memelgebietes 1920, Nr. 35, S. 307 ff. 54 Vgl. Amtsblatt des Memelgebietes 1920, Nr. 8, S. 28 f. 55 Vgl. Amtsblatt des Memelgebietes 1921, Nr. 49, S. 414. 56 Vgl. J. Ganß (Anm. 9), S. 116. Vgl. auch E.-A. Plieg (Anm. 9), S. 16 f., der etwas andere Zahlen nennt. 57 Vgl. G. Gornig (Anm. 13), S. 38 ff. 58 Text: H. Kraus/G. Rödiger (Anm. 32), S. 555; G. Gornig (Anm. 13), S. 150. 52

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der Entente den Anschluss an Litauen zu fordern.59 Am 11. November 1921 nahm der litauische Sejm eine Entschließung über das Memelgebiet an, in der die Angliederung des Memelgebiets an Litauen gefordert wurde.60 Die nationalen litauischen Vereinigungen hatten im Memelgebiet allerdings nur wenige Anhänger. Sie waren aber finanziell stark, weil sie von den in die Vereinigten Staaten von Amerika ausgewanderten Litauern unterstützt wurden.61 b) Völkerrechtliche Würdigung der Herrschaft der alliierten und assoziierten Hauptmächte Das Völkerrecht kennt durchaus Fälle, in denen die endgültige Verfügungsgewalt über ein Gebiet nicht von einem Staat allein, sondern nur gemeinsam mit einem anderen Staat oder mehreren anderen Staaten ausgeübt werden kann. Es handelt sich hierbei um ein Kondominium62. Auch das Memelgebiet war seit 1920 ein solches Kondominium der vier Staaten Frankreich, Vereinigtes Königreich, Italien und Japan.63 Da diese Staaten das Memelgebiet mit der Verpflichtung übernahmen, die territoriale Souveränität unter Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechts weiterzuübertragen, hatten die Alliierten auch die Treuhänderschaft über das Gebiet inne. Das Deutsche Reich oder die Bevölkerung des Memelgebietes kommen grundsätzlich als Treugeber in Betracht.64 Die territoriale Souveränität der alliierten und assoziierten Hauptmächte widerspricht keineswegs einer solchen Stellung als Treuhänder, sie kann vielmehr als rechtliche Grundlage der Treuhänderschaft betrachtet werden. Der Verpflichtung, nach einer Übergangszeit über das Gebiet weiterzuverfügen, die sich aus Art. 99 Abs. 2 Versailler Vertrag ergibt und auch dem Vertrag vom 9. Januar 1920 zu entnehmen ist, konnten nämlich die Siegermächte nur nachkommen, wenn sie vorher selbst die territoriale Souveränität innehatten.

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Vgl. F.-H. Deu (Anm. 6), S. 21; E. Friesecke (Anm. 6), S. 28. Vgl. Ministère des Affaires étrangères de la République de Lithuanie. Documents diplomatiques. Question de Memel, vol. I, 1923, S. 20 f.; auch G. Gornig (Anm. 13), S. 158. Auch bei der Botschafterkonferenz in Paris forderte die litauische Delegation den Anschluss des Memellandes, vgl. Ministère des Affaires étrangères de la République de Lithuanie. Documents diplomatiques. Question de Memel, vol. I, 1923, S. 19 f., 22 ff.; G. Gornig (Anm. 13), S. 159 ff. 61 Vgl. W. S. Vídunas, Litauen in Vergangenheit und Gegenwart, 1916, S. 123; Th. W. Kalijarvi (Anm. 20), S. 22 f., 46 f.; V. Zalys (Anm. 12), S. 21. 62 Zum Kondominium vgl. G. Gornig, Schleswig-Holstein als Kondominium und Koimperium, in: G. Gornig/U. Kramer/U. Volkmann (Hrsg,), Staat – Wirtschaft -– Gemeinde. Festschrift für Werner Frotscher, 2007, S. 165 ff.; ders. (Anm. 42), in: G. Gornig/H.-D. Horn, S. 35 ff., 37 ff. 63 Andere Ansicht: E. Friesecke (Anm. 6), S. 21; für ihn handelt es sich um ein Koimperium, also um die gemeinsame Ausübung der Gebietshoheit. 64 Vgl. Th. W. Kalijarvi (Anm. 20), S. 41; E.-A. Plieg (Anm. 9), S. 13; W. Schätzel (Anm. 17), S. 96, 100, 101; a. A.: E. Friesecke (Anm. 6), S. 21. 60

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Mit der Kennzeichnung der Herrschaft als Kondominium ist noch nicht die Frage beantwortet, ob das Memelland einen eigenen Staat bildete. Ein Gebilde muss gemäß der Drei-Elemente-Lehre65 drei Wesensmerkmale aufweisen, um als Staat im Sinne des Völkerrechts zu gelten. Es muss ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk und eine Staatsgewalt, die sich effektiv durchgesetzt hat, vorhanden sein. Ein Gebiet, das als Staatsgebiet gelten könnte, lag vor, nämlich das Memelgebiet, wie es in Art. 28 Versailler Vertrag umschrieben ist. Die Einwohner dieses Gebietes können als Staatsvolk bezeichnet werden. Problematisch ist aber, ob das Memelgebiet eine eigene Staatsgewalt hatte. Auch eine in fremden Händen liegende Staatsgewalt könnte die Existenz bzw. Fortexistenz eines Staates garantieren. Ein Wille der die Gebietshoheit in Vertretung der alliierten und assoziierten Mächte ausübenden Franzosen, memelländische Staatsgewalt auszuüben, lässt sich jedoch nicht nachweisen. Das Memelland war also mangels Vorliegens einer memelländischen Staatsgewalt kein Staat.66 Da das Memelgebiet kein Staat war, konnte es auch kein völkerrechtliches Protektorat darstellen. Aber auch ein koloniales Protektorat kommt nicht in Betracht, da die Bewohner des Memellandes nicht als Stamm oder eigenes Volk anzusehen waren. Sie waren Deutsche und Litauer. Sollte das Memelgebiet Provinz gewesen sein, dann hätte es zu einem Staate gehören müssen. Das Memelgebiet wurde aber im Versailler Friedensvertrag von Deutschland abgetreten und keinem anderen Staat angegliedert. Es war damit weder eine Provinz Litauens oder Polens noch der alliierten und assoziierten Mächte. Das Memelland war also weder ein Staat noch ein Protektorat, noch eine Provinz eines oder mehrerer anderer Staaten, sondern ein Gebilde, das man als Staatsfragment bezeichnen kann. Das Memelland war ein Gemeinwesen sui generis, ein Provisorium für eine Übergangszeit unter der Treuhänderschaft der alliierten und assoziierten Hauptmächte, die als Inhaber der territorialen Souveränität über das Memelgebiet ein Kondominat ausübten.67

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Vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1984, S. 394 ff. Vgl. auch E. Friesecke (Anm. 6), S. 24; G. Gornig (Anm. 13), S. 76 f.; ders., Das Memelland – vergessenes Land im Osten. Eine völkerrechtliche und staatsrechtliche Betrachtung, in: G. Gornig (Hrsg.), Liber discipulorum, Festgabe für Blumenwitz, 1989, S. 73 ff. (81 ff.). Anders war es 1945 bezüglich Deutschland als Ganzes: nach der Berliner Erklärung vom 5. 6. 1945 (Text: Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Ergänzungsblatt Nr. 1, S. 7 ff.) übernahmen die Siegermächte die „supreme authority“ und übten damit deutsche Staatsgewalt aus. 67 Vgl. G. Gornig (Anm. 13), S. 78; J. Wallat, Die völkerrechtliche Stellung des Memelgebietes, 1990, S. 18 ff. 66

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4. Eroberung des Memelgebietes durch litauische Freischärler a) Ereignisse Litauen, das seit dem 20. Dezember 1922 von den alliierten und assoziierten Hauptmächten de iure anerkannt war, entschloss sich im Jahre 1923 zu einer gewaltsamen Maßnahme: Am 10. Januar 1923 überschritten litauische Freischärler die Grenze zum Memelland bei Laugszargen im Südosten und Deutsch-Krottingen im Norden und drangen in das Gebiet ein. Es handelte sich um als Zivilisten getarnte litauische Soldaten.68 Am 15. Januar 1923 rückten die Freischärler in die Stadt Memel ein und besetzten bald das ganze Land, so dass die Franzosen jeden Widerstand einstellten.69 Die Litauer versuchten, durch den Einmarsch die Botschafterkonferenz in Paris, die sich mit dem Schicksal des Memellandes zu beschäftigen hatte, vor vollendete Tatsachen zu stellen, da sie befürchteten, dass ihrer Forderung nach Anschluss des Memelgebietes nicht entsprochen würde. Die Franzosen verzichteten auf jede Gegenwehr, da ihnen die litauische Aktion nicht ungelegen kam. Frankreich wollte nämlich Deutschland so weit wie möglich schwächen. Auch hoffte Frankreich, dass die Vereinigung des Memellandes mit Litauen zu einem schnelleren Zusammenwirken Polens mit Litauen gegen Deutschland führen würde. Im Übrigen mussten die Franzosen wegen ihres Einmarsches im Ruhrgebiet Abstand von Protesten nehmen. Aber auch Deutschland kam wohl der Einmarsch nicht ganz ungelegen.70 Den Vorwürfen der Alliierten entgegnete Litauen, es handele sich um eine Erhebung der im Memelland unterdrückten Litauer, mit der man nichts zu tun habe.71 Am 1. Februar 1923 sandten die alliierten Regierungen eine Note an Litauen, in der ihre Überzeugung zum Ausdruck kam, dass die Freischärler von Litauen vorbereitet wurden 68 Vgl. etwa W. Schätzel (Anm. 17), S. 123; E. Friesecke (Anm. 6), S. 32; E.-A. Plieg (Anm. 9), S. 20; F.-H. Deu (Anm. 6), S. 25. Zur – kaum nennenswerten – Mitwirkung der memelländischen Litauer vgl. V. Zalys (Anm. 12), S. 21 ff., 27. 69 Vgl. E.-A. Plieg (Anm. 9), S. 20 f.; E. Friesecke (Anm. 6), S. 32; F.-H. Deu (Anm. 6), S. 25; V. Zalys (Anm. 12), S. 31; G. Gornig (Anm. 13), S. 42 f. 70 P. Sweet/M. Lambert/M. Baumont (Hrsg.), Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918 – 1945, Serie D (1937 – 1945), Bd. VII: Die letzten Wochen vor Kriegsausbruch, 9. August bis 3. September 1939, 1956 (ADAP VII), Nr. 36; J. Tauber, Die Memelfrage im Rahmen der deutsch-litauischen Beziehungen 1919 – 1939, in: N. Angermann/J. Tauber (Hrsg.), Deutschland und Litauen. Bestandsaufnahmen und Aufgaben der historischen Forschung, 1995, S. 109, verweist – ohne nähere Angaben – auf Zalys, der nachgewiesen habe, dass auch Deutschland mit dem Einmarsch einverstanden gewesen sei. 71 Vgl. Ministère des Affaires étrangères de la République de Lithuanie. Documents diplomatiques. Question de Memel, vol. I, 1923, S. 65 f., 67, 68 f.; vgl. hierzu auch Th. W. Kalijarvi (Anm. 20), S. 53 f.; F.-H. Deu (Anm. 6), S. 25; G. Gornig (Anm. 13), S. 42 ff. Zu den weiteren Maßnahmen der alliierten und assoziierten Hauptmächte vgl. Ministère des Affaires étrangères de la République de Lithuanie. Documents diplomatiques. Question de Memel, vol. I, 1923, S. 71 ff.; ferner G. Gornig (Anm. 13), S. 44 ff.

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und auf Anweisung der litauischen Regierung handelten. Litauen wurde aufgefordert, innerhalb von sieben Tagen den Rückzug aller aus Litauen kommenden bewaffneten Elemente zu veranlassen sowie die bewaffneten Banden im Memelgebiet aufzulösen. Auch wurde mit dem Abbruch diplomatischer Beziehungen gedroht.72 Am 4. Februar 1923 schickten die Alliierten jedoch eine versöhnliche Note an Litauen, in der es hieß, es sei sicher, dass die Entscheidung der alliierten und assoziierten Mächte dahingehen werde, Litauen unter der Bedingung der Autonomie und der freien Ausübung des Fluss- und Seeverkehrs die Souveränität über Memel einzuräumen.73 Am 16. Februar 1923 beschloss die Botschafterkonferenz, die Souveränität über das Memelland an Litauen zu übertragen, wenn unter anderem Litauen dort eine autonome Regierung garantiere, die Freiheit des Durchgangsverkehrs ermögliche und im Hafen von Memel eine Freihafenzone einrichte.74 Die Bedingung des freien Transits war für Litauen wegen des polnisch-litauischen Konflikts aber nicht annehmbar,75 so dass Litauen es vorzog, auf den Vorschlag nicht zu antworten. Am 6. März 1923 legte die nach Memel entsandte Kommission ihren Bericht an die Botschafterkonferenz76 vor. Sie stellte sich dabei auf den Standpunkt, dass die litauische Diplomatie und Propaganda die Memelangelegenheiten absichtlich verdunkelt und verfälscht habe und der Aufstand von Litauen geplant, vorbereitet und in die Tat umgesetzt worden sei. Man stellte fest, dass Memel niemals zu Litauen gehört habe und sich die Memelgrenze seit 500 Jahren nicht verändert habe. Die östliche Grenze Memels sei tatsächlich die Grenze zwischen Asien und Europa. Am 24. Februar 1923 gab der neu ernannte Oberste Bevollmächtigte der litauischen Regierung gleichwohl für das Memelgebiet unter Bezug auf die ihm vom Staatspräsidenten der litauischen Republik erteilte Vollmacht im Namen der litauischen Regierung bekannt, dass er von diesem Tag an im Memelland die Funktionen der Staatsgewalt übernehme. Wenige Tage später führte Litauen durch Verordnung vom 28. Februar 1923 die litauische Währung, den Litas, neben der deutschen Währung ein.77 Die Alliierten bestritten die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahmen, weil die Souveränität über das Land noch nicht auf Litauen übergegangen sei.78 Am 7. Mai 72 Vgl. Ministère des Affaires étrangères de la République de Lithuanie. Documents diplomatiques. Question de Memel, vol. I, 1923, S. 82 f.; G. Gornig (Anm. 13), S. 170. 73 Vgl. Ministère des Affaires étrangères de la République de Lithuanie. Documents diplomatiques. Question de Memel, vol. I, 1923, S. 83 f; G. Gornig (Anm. 13), S. 171. 74 Vgl. Ministère des Affaires étrangères de la République de Lithuanie. Documents diplomatiques. Question de Memel, vol. I, 1923, S. 91 ff.; League of Nations. Official Journal 1924, S. 122 f.; G. Gornig (Anm. 13), S. 172 ff. 75 Vgl. Th. W. Kalijarvi (Anm. 20), S. 65. 76 Vgl. Ministère des Affaires étrangères de la République de Lithuanie. Documents diplomatiques. Question de Memel, vol. I, 1923, S. 105 ff.; League of Nations. Official Journal 1924, S. 127 ff.; G. Gornig (Anm. 13), S. 177 ff. 77 Vgl. Amtsblatt des Memelgebietes 1923, Nr. 23, S. 170. 78 Vgl. das Schreiben von Poincaré, des Präsidenten der Botschafterkonferenz, vom 28. 3. 1923 an die litauische Delegation, League of nations. Official Journal, 1924, S. 152, Annex B;

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1923 ließ Litauen durch den Ministerpräsidenten Ernestas Galvanauskas schließlich die vorläufige Autonomie des Gebietes verkünden.79 Die alliierten und assoziierten Hauptmächte erkannten jedoch die Autonomieerklärung Litauens nicht an und erklärten sie für „null und nichtig“.80 Praktische Bedeutung erhielt die Autonomieerklärung daher nicht. Ab dem 10. Mai 1923 wurde der Litas alleiniges Zahlungsmittel.81 Alle amtlichen Vordrucke wurden nur noch in litauischer Sprache herausgebracht, deutsche Ortsund Straßennamen wurden litauisiert, in staatlichen Betrieben wurde die deutsche Sprache verboten.82 b) Völkerrechtliche Würdigung der Eroberung des Memelgebietes durch litauische Freischärler Der Einmarsch der litauischen Freischärler ist völkerrechtlich dem Staate Litauen zuzurechnen, da er im Auftrag und mit Unterstützung Litauens erfolgte.83 Das Memelgebiet war für Litauen fremdes Territorium und damit taugliches Objekt einer Annexion. Die Litauer schafften es aber nicht, die alliierte Staatsgewalt endgültig zu verdrängen. Auch fehlte es an einer ausdrücklichen Annexionserklärung oder einer gleichwertigen Handlung, aus der ersichtlich wäre, dass die Inbesitznahme des Gebietes als Annexion gewollt war. Vielmehr erklärte Litauen auf den Protest der Alliierten, dass es mit dem Einfall nichts zu tun habe. Es negierte damit ausdrücklich einen Annexionswillen. Es handelte sich beim Einmarsch der Litauer vielmehr um einen Fall der kriegerischen Besetzung. Sie hatte zur Folge, dass die Hoheitsgewalt der Alliierten suspendiert worden war. Völkerrechtlich hatte Litauen das Memelgebiet durch den Einmarsch also nicht erworben. Die Inbesitznahme schaffte keine völkerrechtlichen Rechtstitel und führte keine völkerrechtliche Nachfolge herbei. Mit der Übernahme der Funktionen der Staatsgewalt durch den Obersten Bevollmächtigten der litauischen Republik am 24. Februar 1924 übte Litauen zwar die tatsächliche Gewalt aus, erlangte jedoch nicht die territoriale Souveränität im Memelland. Diese verblieb bei den Alliierten.

Ministère des Affaires étrangères de la République de Lithuanie. Documents diplomatiques. Question de Memel, vol. I, S. 129 f. 79 Text: Ministère des Affaires étrangères de la République de Lithuanie. Documents diplomatiques. Question de Memel, vol. I, S. 165 ff.; G. Gornig (Anm. 13), S. 185 ff. 80 Text: Ministère des Affaires étrangères de la République de Lithuanie. Documents diplomatiques. Question de Memel, vol. I, S. 173; League of nations. Official Journal, 1924, S. 152. 81 Vgl. Amtsblatt des Memelgebietes 1923, Nr. 59, S. 483. 82 Vgl. etwa Schwertfeger (Anm. 3), S. 53; E.-A. Plieg (Anm. 9), S. 28. 83 Vgl. G. Gornig (Anm. 13), S. 87.

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5. Memelkonvention a) Entstehung Am 8. Mai 1924 wurde in Paris die Konvention über das Memelgebiet84 zwischen Litauen und den Staaten Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland, Frankreich, Italien und Japan verabschiedet. Das Deutsche Reich war nicht Vertragspartei der Memelkonvention, da es sich durch Art. 99 des Versailler Vertrages sowie den Ausführungsvertrag vom 9. Januar 192085 nicht nur seiner Hoheitsrechte, sondern „aller Rechte und Ansprüche“ auf das Memelgebiet begeben und das weitere Schicksal desselben in die Hände der alliierten und assoziierten Hauptmächte gelegt hatte. b) Inhalt aa) Memelkonvention Die Memelkonvention besteht aus der eigentlichen Konvention und drei Anhängen, nämlich dem Statut des Memelgebietes in Anhang I, Normen zum Memeler Hafen in Anhang II und den Regelungen zum Transitverkehr in Anhang III. Die Anhänge bilden einen integrierenden Bestandteil der Konvention, die einzelnen Bestimmungen sind aber selbständig abänderbar. In Art. 1 regelte die Memelkonvention die Bedingungen, unter denen die Souveränität von den alliierten und assoziierten Hauptmächten an Litauen übertragen wird. Gemäß Art. 2 bildete das Memelgebiet unter der Souveränität Litauens eine Einheit, die in Gesetzgebung, Rechtsprechung, Verwaltung und Finanzen innerhalb der Schranken des in Anhang I aufgestellten Memelstatuts Autonomie genoss. Nach Art. 15 konnten Souveränitätsrechte über das Memelgebiet oder ihre Ausübung nicht ohne Zustimmung der vertragschließenden Teile übertragen werden. Das im Memelgebiet gelegene und am 10. Januar 1920 dem Deutschen Reich oder einem deutschen Staat gehörende Eigentum wurde nach Art. 5 der Memelkonvention unter Beachtung weiterer Voraussetzungen auf die Republik Litauen übertragen. Da der Art. 256 des Versailler Vertrages, den Art. 5 der Memelkonvention anrief, von „allem Gut und Eigentum“ des Deutschen Reiches sprach, war als Objekt des Übergangs nicht nur der „domaine public“, also das öffentliche Eigentum zu verstehen, sondern auch der „domaine privé“, Sachen also, die dem Staat wie einem privaten Rechtssubjekt gehören. Zum aktiven Staatsvermögen gehören auch Ansprüche des Fiskus und der Staatsverwaltung, die entweder öffentlich-rechtlicher oder privatrechtlicher Natur sind. Nach Art. 5 Abs. 2 der Memelkonvention wurde dann dieses Eigentum von der litauischen Regierung an die Behörden des Memelgebietes zurückübertragen. Eine Ausnahme statuierte der Absatz 2 insoweit, als er einen Teil 84 Text: League of Nations. Treaty Series, vol. 29, S. 85 ff.; G. Gornig (Anm. 13), S. 200 ff. Zu den Verhandlungen vgl. G. Gornig (Anm. 13), S. 48 ff. 85 Text: G. Gornig (Anm. 13), S. 152 f.

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des Staatseigentums, und zwar die Eisenbahn, die Post, die Telegraphen- und Telefonanlagen, die Zollgebäude und das zum Hafen und seiner Ausrüstung gehörige Staatseigentum, zu litauischem Eigentum machte. Bezüglich der Staatsschulden bestimmte Art. 6 der Memelkonvention, dass Litauen sowohl für sich selbst als auch für das Memelgebiet die Last der Verpflichtungen zu übernehmen hatte, die sich für die Mächte, denen deutsches Gebiet abgetreten wurde, aus den Bestimmungen der Art. 254 und 256 des Versailler Vertrages ergaben. bb) Insbesondere: das Memelstatut Der Anhang I der Memelkonvention enthielt das Memelstatut86, das die Verfassung des Memelgebietes darstellte. Das Statut diente laut seiner Präambel dazu, dem Memelgebiet Autonomie zu gewähren und die überlieferten Rechte und die Kultur seiner Bewohner zu sichern. Gemäß Art. 1 des Memelstatuts bildete das Memelgebiet unter der Souveränität Litauens eine Einheit, die auf demokratischen Grundsätzen aufgebaut war und in Gesetzgebung, Rechtsprechung, Verwaltung und Finanzen innerhalb der in dem Statut beschriebenen Grenzen Autonomie genoss. Art. 5 des Memelstatuts umriss diese Grenzen. Danach gehörten zum Geschäftsbereich der lokalen Gewalten in der Hauptsache die Organisation und die Verwaltung der Gemeinden und Kreise, das Religions-, Unterrichts-, Wohlfahrts- und Gesundheitswesen, die Arbeits- und Sozialgesetzgebung, die Gesetzgebung auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts, des Strafrechts, des Landwirtschafts-, Forst- sowie Handels- und Gewerberechts. Ferner gehörten zu den Aufgaben des Memelgebietes die Gerichtsverfassung, die Gesetzgebung für direkte und indirekte Steuern (ohne Zölle, Monopole, Akzise und Verbrauchssteuern), die Polizei, die Land- und Wasserstraßen sowie die Lokalbahnverwaltung, schließlich die Gesetzgebung über den Erwerb des Rechtes als Bürger des Memelgebietes und die Regelung des Aufenthalts von Ausländern im Memelgebiet. Diejenigen Angelegenheiten, die nicht in den Kompetenzbereich des Memelgebietes gehörten, unterlagen gemäß Art. 7 ausschließlich den Organen der Republik Litauen. Die in den Art. 4 bis 7 des Memelstatuts vorgenommene Zuständigkeitsverteilung gab Litauen also eine überragende Machtstellung. Litauen blieb die gesamte auswärtige Politik einschließlich der völkerrechtlichen Vertretung überlassen, hatte die Militärhoheit im Memelgebiet und war zuständig für die Eisenbahn – mit Ausnahme der Lokalbahnen – und die Post. Die Organe und Behörden des Memelgebietes waren der Gouverneur, der Landtag, das Landesdirektorium und der Wirtschaftsrat.

86 Vgl. hierzu Th. W. Kalijarvi (Anm. 20) sowie die die Kommentierungen bei A. Rogge, Die Verfassung des Memelgebietes. Ein Kommentar zur Memelkonvention 1928; J. Robinson, Kommentar der Konvention über das Memelgebiet vom 8. Mai 1924, Bd. I, 1934.

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c) Ereignisse nach Inkrafttreten Litauen war mit dem Ergebnis der Verhandlungen nicht zufrieden und fuhr mit der Litauisierung des Memelgebietes fort, ohne auf die Interessen der Bevölkerung einzugehen. Die litauische Politik im Memelgebiet war vom Wunsche geprägt, die deutsche Kultur und Sprache zu verdrängen. Auch der deutsche Einfluss auf die Verwaltung sollte beseitigt werden. So wurden deutsche Beamte aus politischen Motiven entlassen.87 Insgesamt betrachteten die Litauer die Autonomie des Memellandes nur als Etappe bis zur vollständigen Integrierung des Landes in den litauischen Staat.88 Nach Art. 37 des Memelstatuts hätten sechs Wochen nach dem Inkrafttreten des Memelstatuts für Litauen die ersten Wahlen zum Landtag stattfinden müssen. Ein Wahlgesetz wurde aber von Litauen nicht erlassen. Die freien Wahlen wurden hinausgeschoben, um die Auswanderung möglichst vieler Deutscher abzuwarten, was zur Folge haben würde, dass weniger Stimmen für die deutschgesinnten Parteien anfielen. Aufgrund des Drängens des Vereinigten Königreichs wurde schließlich ein Wahlgesetz eingebracht und verabschiedet und der Wahltermin auf den 19. Oktober 1925 festgelegt. In dem schließlich gemäß den Bestimmungen des Memelstatuts gewählten Landtag waren von 29 Abgeordneten 2 Litauer.89 Bei den späteren Wahlen im Jahre 1932 und 1935 stieg der Anteil der litauischen Stimmen wegen der großen Anzahl litauischer Zuwanderer an.90 Die litauische Politik gegenüber dem Memelgebiet verschärfte sich zunächst. Erst als Hitler am 15. September 1935 vor dem Reichstag Litauen warnte91, stellten sich im Memelland wieder verfassungsmäßige Verhältnisse ein.92

87 Vgl. R. Pregel, Die litauische Willkürherrschaft im Memelgebiet, 1934, S. 16 ff., 32 ff., 36 ff.; F.-H. Deu (Anm. 6), S. 51 ff.; W. Hubatsch, Die Memelkonvention und ihre Auswirkungen, 1953, S. 31 f., 33. 88 Vgl. V. Zalys (Anm. 12), S. 35. 89 Vgl. E.-A. Plieg (Anm. 9), S. 33 ff.; F.-H. Deu (Anm. 6), S. 65 ff., 70; G. Gornig (Anm. 13), S. 51. 90 Vgl. die Tabelle bei G. Gornig (Anm. 13), S. 54 Fn. 247. Vgl. auch V. Zalys (Anm. 12), S. 71. 91 Text: Verhandlungen des Deutschen Reichstages, IX. Wahlperiode 1933, Stenographische Berichte, Band 458, 6. Sitzung, S. 58. 92 Vgl. auch die Überreichung einer Beschwerdeliste der Deutschen an Litauen und die litauische Reaktion: P. Sweet/M. Lambert/M. Baumont (Hrsg.), Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918 – 1945, Serie D (1937 – 1945), 1953, Bd. V: Polen, Südosteuropa, Lateinamerika, Klein- und Mittelasien, Juni 1937 bis März 1939 (ADAP, Bd. V), Nr. 340, S. 372 f.; Nr. 359, S. 397 f.

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d) Rechtsstatus des Memelgebietes Das Memelgebiet war weder ein Staat noch eine Provinz oder ein Gliedstaat Litauens.93 Es hatte vielmehr die Stellung inne, die zwischen der eines Staates und einer Provinz liegt, ähnlich seinem Status unter der Herrschaft der alliierten und assoziierten Hauptmächte. Das Memelgebiet war ein autonomes Gebiet innerhalb Litauens.94 Die Richtigkeit der Qualifizierung als autonomes Gebiet belegt die Note vom 16. Februar 192395, in der gesagt wurde, dass die Souveränität über Memel an Litauen unter der Bedingung übertragen werden soll, dass eine „autonome Regierung und Volksvertretung“ im Memelgebiet errichtet wird. Art. 2 der Memelkonvention schließlich beschrieb das Memelgebiet als eine Einheit unter der Souveränität Litauens, die in Gesetzgebung, Rechtsprechung, Verwaltung und Finanzen Autonomie genießt. Die Präambel und Art. 1 des Memelstatuts bestätigen diese Würdigung. Die Besonderheit liegt hier darin, dass der Autonomiestatus nicht auf innerstaatlichem, sondern internationalem Recht beruht. Für das Vorliegen einer autonomen Einheit spricht auch, dass die litauische Verfassung vorsah, aus einzelnen Gebietsteilen Litauens autonome Einheiten zu bilden, deren Grenzen und Rechte das Gesetz bestimmt. Eine solche autonome Einheit war das Memelgebiet. Selbst die Bezeichnung „autonome Einheit“ in der Originalsprache der Verfassung stimmt mit derjenigen der Konvention überein. Die Tatsache, dass die Memelkonvention keinen Anlass gab, die litauische Verfassung abzuändern, deutet darauf hin, dass sich die Memelkonvention insoweit an der litauischen Verfassung orientiert hat. Auch mit den Kompetenznormen des Memelstatuts lässt sich der autonome Charakter des Memelgebietes belegen, da darin den Behörden des Memelgebietes in beschränktem Maße die Organisation einer eigenen inneren Verwaltung, einer Finanzverwaltung sowie einer eingeschränkten Rechtsetzungsbefugnis und Gerichtsbarkeit zugebilligt wurde. 6. Abtretung des Memelgebietes von Litauen an das Deutsche Reich a) Ereignisse Die im Jahre 1938 nach dem Ablauf der dreijährigen Legislaturperiode im Memelland fälligen Landtagswahlen wurden bewusst zu einer Schicksalswahl für das Memelgebiet hochstilisiert.96 Alle deutschen Parteien hatten sich zu einer Einheits93

Vgl. G. Gornig (Anm. 13), S. 94 ff. Vgl. J. Hallier, Die Rechtslage des Memelgebiets. Eine völker- und staatsrechtliche Untersuchung der Memelkonvention, 1933, S. 156; G. Gornig (Anm. 13), S. 100 f.; M. Riomeris, Lietuvos konstitucines teises paskaitos, 1990, S. 178 f.; zitiert nach V. Zalys (Anm. 12), S. 33. 95 Text: A. Rogge (Anm. 86), S. 22 ff.; G. Gornig (Anm. 13), S. 172 ff. 96 Vgl. auch die Reden Hitlers vom 21. 5. 1935 und 15. 9. 1935, Texte: Verhandlungen des Deutschen Reichstages. IX. Wahlperiode 1933, Stenographische Berichte, Bd. 458, 6. Sitzung, S. 58; G. Gornig (Anm. 13), S. 229 ff. 94

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liste zusammengeschlossen, die von Ernst Neumann als dem „Führer“ der Memeldeutschen angeführt wurde. Ihr Wahlkampf stand unter der Parole „Heim ins Reich“. Auch im Ausland wurde die Wahl unter diesem Aspekt gesehen.97 Kurz vor der Wahl, in der Nacht vom 31. Oktober zum 1. November 1938, wurde der seit 1926 herrschende Kriegszustand98 im Memelland aufgehoben. Die Folge war ein durchaus spontanes Bekenntnis der Memelländer zu Deutschland. Die am 11. Dezember 1938 durchgeführten Wahlen brachten bei einer Wahlbeteiligung von 97 % eindeutig den Willen der Memelbevölkerung zum Ausdruck, sich wieder dem Deutschen Reich anzuschließen, da 87,2 % der Wähler die deutsche und 12,8 % die litauischen Listen gewählt hatten. Von den 29 Abgeordneten waren 25 deutsch und 4 litauisch.99 Das 1923 begonnene Bemühen Litauens, das Memelland endgültig und fest im litauischen Staat zu verankern, war erfolglos geblieben.100 Gegen Ende des Jahres 1938 zeigten sich deutliche Anzeichen, dass Litauen bereit war, mit dem Deutschen Reich über das Memelland zu sprechen.101 Damit kommt aber nicht die Bereitschaft Litauens zum Ausdruck, das Memelland an Deutschland abzutreten. Der litauische Außenminister Juozas Urbsys erklärte am 31. Dezember 1938 vielmehr, dass Litauen es als Anschlag auf die litauische Unabhängigkeit und deren territoriale Gesamtheit betrachtete und sich mit allen verfügbaren Mitteln verteidigen würde, sollte Deutschland den status quo verändern.102 Als Urbsys dem deutschen Gesandten Erich W. Zechlin am 20. November 1938 erklärte, die litauische Regierung sei zu Verhandlungen über alle schwebenden Fragen in Berlin bereit, lehnte dies die Reichsregierung am 24. November 1938 noch ab,103 da ihr Verhandlungen zu jener Zeit unerwünscht waren. Am 17. März 1939 sagte der Präsident Wilhelm Bertuleit, der an der Spitze des das Memelland regierenden Direktoriums stand, englischen Journalisten, dass die memelländische Bevölkerung den Anschluss erwarte. Er hoffe, die litauische Regierung werde das Memelgebiet freigeben. Bertuleit distanzierte sich aber von jeder Gewaltanwendung und betonte, dass man im Memelgebiet keine Feindschaft gegenüber dem litauischen Volk empfinde.104 Die litauische Regierung wandte sich wegen der Memelfrage an die britische und französische Re97 Vgl. R. Pinon, L’Allemagne et l‘ Europe orientale, in: Revue des deux Mondes, vol. 49 (1939), S. 230 ff. (232). 98 Vgl. hierzu W. von Tabouillot, Der Kriegszustand und die Autonomie im Memelgebiet, in: Deutsche Justiz 1938, S. 1066 ff. 99 Vgl. W. Schätzel (Anm. 17), S. 238; G. Gornig (Anm. 13), S. 54 Fn. 247. 100 Nach Ansicht von V. Zalys (Anm. 12), S. 89, dürfe man bei der Analyse der Gründe der Misserfolge Litauens im Memelgebiet nicht alles nur auf ständige Einmischungen Deutschlands oder auf den Terror der Nazis zurückführen, vielmehr lägen die Ursachen des Scheiterns „im sozialen, politischen, Traditions- und sogar im psychologischen Bereich“. 101 Vgl. Memeler Dampfboot vom 15. 11. 1938; E.-A. Plieg (Anm. 9), S. 195; V. Zalys (Anm. 12), S. 85. 102 Vgl. 1938. 12. 31. J. Urbsio aplinkrastis Lietuvos generaliniam konsului Kionigsberge L. Dymsai. Lietuvos Valstybinis Archyvas, F. 383, Ap. 7, B. 2048, S. 3. 103 Vgl. ADAP, Bd. V (Anm. 92), Nr. 365, S. 407. 104 Vgl. E.-A. Plieg (Anm. 9), S. 205 f.; G. Gornig (Anm. 13), S. 58.

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gierung. Die britische Regierung erklärte, es sei nicht wahrscheinlich, dass die britische Regierung Litauen bei der Abtretung des Memelgebietes der Verletzung der Memelkonvention bezichtigen werde.105 Die französische Regierung bemerkte, Frankreich habe keine Garantie für das Memelgebiet ausgesprochen und werde keine Maßnahmen im Falle eines deutschen Vorgehens treffen. Gemeinsame französisch-britische Aktionen würden nicht erwogen.106 Am 20. März 1939 traf der deutsche Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop mit dem litauischen Außenminister Urbsys zusammen und stellte dabei fest, dass das Memelland zu Deutschland zurück wolle. Von Ribbentrop legte dem litauischen Außenminister zwei Regelungsmöglichkeiten dar. Die friedliche Lösung würde ein freundschaftliches Verhältnis zwischen den beiden Ländern zur Folge haben. Deutschland würde sich dann in wirtschaftlicher Hinsicht großzügig zeigen, da sich die beiden Länder vorteilhaft ergänzen könnten. Sollte sich jedoch Litauen zu diesem Wege nicht bereitfinden, sollten insbesondere im Memelgebiet Unruhen auftreten, so würden die Militärs die Situation bestimmen. Von Ribbentrop warnte vor einer Haltung, die auf Hilfe von außen hoffte, und erklärte sich bereit, bevollmächtigte Vertreter der litauischen Regierung zu empfangen, um eine vertragliche Regelung zu finden.107 Urbsys erwiderte, er sei nicht allein zuständig, er werde aber nach Kowno abreisen und am nächsten Tage sofort seine Regierung informieren. Die Frage nach einer Zwischenlösung wurde von von Ribbentrop verneint, da die Zeit dränge.108 Er bemerkte: „Sollten erst einmal Reibungen oder Straßenkämpfe eintreten, so sei es zu spät. Der Führer würde das nicht dulden.“109 Am 21. März 1939 gab der litauische Ministerrat nach dem Bericht des Außenministers Urbsys die Zustimmung zur Rückgabe des Memelgebietes an Deutschland. Am gleichen Tag wurde dieser Beschluss dem litauischen Parlament, dem Sejm, zugeleitet,110 das ebenfalls seine Zustimmung erklärte. Am 22. März 1939 begannen schließlich die Verhandlungen um den Abschluss des deutsch-litauischen Vertrages unter dem Vorsitz von Staatssekretär Ernst von Weizsäcker. Am 23. März um 1 Uhr früh unterzeichnete Urbsys den Vertrag „halb freiwillig, halb unfreiwillig“, wie in den Memoiren des Staatssekretärs von Weizsäcker zu lesen ist.111 In dem Vertrag112 heißt es, dass das Deutsche Reich und Litauen übereingekommen sind, „durch einen Staatsvertrag die Wiedervereinigung des Memelgebietes mit dem Deutschen Reich 105 Vgl. E. L. Woodward/R. Butler (ed.), Documents on British Foreign Policy 1919 – 1939, third series, vol. IV, Nr. 413, S. 378 Anm. 1. 106 Vgl. E. L. Woodward/R. Butler (Anm. 113), Nr. 393, S. 363 f.; vgl. auch V. Zalys (Anm. 12), S. 85. 107 Vgl. ADAP, Bd. V (Anm. 92), Nr. 399, S. 435 f.; G. Gornig (Anm. 13), S. 238 f. 108 Vgl. G. Gornig (Anm. 13), S. 58 f. 109 Zitiert nach: ADAP, Bd. V (Anm. 92), Nr. 399, S. 436. 110 Vgl. ADAP, Bd. V (Anm. 92), Nr. 401, S. 437 f. 111 E. von Weizsäcker, Erinnerungen, 1950, S. 219. 112 Text: RGBl. 1939 II, S. 608 f.; G. Gornig (Anm. 13), S. 242 ff.

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zu regeln“. Litauen erhielt dafür für 99 Jahre einen Freihafen im Memeler Hafenbezirk.113 Der Vertrag trat mit der Unterzeichnung, also nicht erst mit der Ratifikation, in Kraft. Durch Reichsgesetz vom 23. März 1939114 wurde dann das Memelland mit Wirkung ab 22. März 1939 Bestandteil des Deutschen Reiches und „in das Land Preußen und in die Provinz Ostpreußen eingegliedert“. Mit dem 22. März 1939 galt die deutsche Währung im Memelland, auch wurde das gesamte Reichsrecht übernommen.115 Schließlich wurde das Memelland in das deutsche Zollgebiet eingegliedert.116 Am 30. März 1939 wurde der deutsch-litauische Vertrag vom litauischen Sejm einstimmig und ohne Stimmenthaltung angenommen.117 b) Völkerrechtliche Würdigung der Abtretung des Memelgebietes von Litauen an das Deutsche Reich aa) Rechtmäßigkeit des Abtretungsvertrages Der Abtretungsvertrag vom 22. März 1939 war ein verhältnismäßig kurz gefasster Rahmenvertrag, der alle mit der Gebietsabtretung zusammenhängenden Fragen einer späteren Lösung vorbehielt. Völkerrechtlich handelte es sich bei der Abtretung des Memelgebietes um eine Zession118. Es bestehen Bedenken, ob diese Abtretung mit der Memelkonvention vereinbar war. Nach Art. 15 der Memelkonvention konnten nämlich Souveränitätsrechte über das Memelgebiet oder ihre Ausübung „ohne Zustimmung der Hohen Vertragschließenden Teile nicht übertragen werden“. Auch könnte die Abtretung wegen einer Anwendung von Gewalt völkerrechtswidrig gewesen sein. Entscheidend für die Frage der völkerrechtlichen Wirksamkeit der Abtretung ist zum einen, ob eine Zustimmung der alliierten Hauptmächte erfolgte und, sollte man dies verneinen, welche Auswirkungen die fehlende Zustimmung auf die Rechtswirksamkeit des deutsch-litauischen Abtretungsvertrages hat. Als „Hohe Vertragschließende Teile“ der Memelkonvention, deren Zustimmung relevant war, kommen Litauen sowie das Britische Reich, Frankreich, Italien und Japan in Betracht, nicht aber das Deutsche Reich, das nicht Vertragspartei der Memelkonvention war. Eine Zustimmung Litauens lag vor. Sie ist im deutsch-litauischen Abtretungsvertrag zu sehen. Das Vereinigte Königreich erteilte die Zustimmung ausdrücklich. In der britischen Note vom 15. Mai 1939119 an die deutsche Reichsregierung wurde die Inbesitznahme Memels de iure anerkannt und ein Vizekonsul in Memel ernannt. Der Britische Hohe Kommissar in Bonn bestätigte im Jahre 1955 aufgrund einer privaten Anfrage „die am 15. Mai 1939 stattgefundene de iure113

Am 20. 5. 1939 wurde der Freihafenvertrag geschlossen, Text: RGBl. 1940 II, S. 16 ff. Text: RGBl. 1939 I, S. 559 f. 115 Vgl. Verordnung vom 23. 3. 1939, Text: RGBl. 1939 I, S. 565. 116 Vgl. Verordnung vom 28. 3. 1939, Text: RGBl. 1939 I, S. 654. 117 E.-A. Plieg (Anm. 9), S. 212. 118 Vgl. J. Wallat (Anm. 67), S. 41 ff. 119 Text: G. Gornig (Anm. 13), S. 244. 114

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Anerkennung“ durch die britische Regierung ausdrücklich.120 Italien und Japan waren aus dem Völkerbund ausgetreten. Es kann daher argumentiert werden, dass beide Staaten sich der ihnen aufgrund der Memelkonvention zustehenden Rechte begeben hatten. Sie legten zudem gegen die Zession keinen Einspruch ein. Auch Frankreich äußerte sich zum Zessionsvertrag nicht weiter. Es ist daher entscheidend, wie das Schweigen der Signatarstaaten völkerrechtlich zu würdigen ist. Im Völkerrecht gilt seit jeher, dass ein Staat einen behaupteten Anspruch nicht mehr geltend machen kann, wenn er es versäumt hat, rechtzeitig einen durch die Sachlage gebotenen Protest zu erheben: „Qui tacet consentire videtur si loqui debuisset ac potuisset.“ Auch genügt in der Regel nicht einmal ein förmlicher Protest, vielmehr muss mit Nachdruck ein Anspruch vertreten und gegebenenfalls wiederholt werden. Das Unterlassen eines Protestes gegen die Zession des Memelgebietes kann daher als stillschweigende Zustimmung gewertet werden,121 da von den Unterzeichnern der Memelkonvention eine Reaktion zu erwarten war, als Litauen ohne deren Zustimmung das Memelgebiet an das Deutsche Reich abtrat. Ginge man davon aus, dass eine Zustimmung aller Signatarmächte fehlte, so stellte sich die Frage, wie völkerrechtlich zu würdigen wäre, dass der Abtretungsvertrag zwischen Deutschland und Litauen einem vorhergehenden multilateralen Vertrag, der Memelkonvention, an dem Litauen, nicht aber Deutschland beteiligt war, widersprach. Enthielte die Memelkonvention bereits zwingendes Recht, dann wäre ein widersprechender späterer Vertrag völkerrechtliches Unrecht und damit nichtig. Beim Zustimmungserfordernis handelt es sich jedoch nur um eine vertragliche Verpflichtung, nicht aber um Völkergewohnheitsrecht und damit erst recht nicht um ius cogens. Es handelt sich vielmehr um den Fall einer Konkurrenz eines späteren bilateralen mit einem früheren multilateralen Vertrag, in dem die allgemeinen Regeln des Völkerrechts gelten. Der spätere widersprechende Vertrag ist infolge des Widerspruchs keineswegs nichtig, da das Völkerrecht – abgesehen vom ius cogens – keine Rangunterschiede kennt. Derjenige, der den Vertrag verletzt, macht sich aber schadenersatzpflichtig. Litauen hätte also entweder versuchen müssen, in den Vereinbarungen mit Deutschland den Vorbehalt der Zustimmung der alliierten Hauptmächte aufzunehmen, wenn es diese nicht schon vorher eingeholt hatte, oder die Memelkonvention zu ändern und die Klausel des Art. 15 zu streichen. Die fehlende Zustimmung berührt jedenfalls die Wirksamkeit des deutsch-litauischen Vertrages nicht. Das Deutsche Reich als an der Memelkonvention nicht beteiligter Drittstaat musste vertragliche Regelungen anderer Staaten, wie etwa hier eine vertragliche Beschränkung der Handlungsfreiheit Litauens, grundsätzlich nicht gegen sich gelten lassen.122 120 121

S. 68.

Text: Memeler Dampfboot vom 20. 8. 1955, S. 3. Vgl. D. Blumenwitz, Die Grundlagen eines Friedensvertrages mit Deutschland, 1966,

122 Es ist deshalb nur schwer zu verstehen, dass Litauen dem Deutschen Reich eine Verletzung der Memelkonvention vorhielt; vgl. ADAP, Bd. V (Anm. 92), Nr. 403, Anm. 2. Vgl. auch G. Gornig (Anm. 13), S. 106 ff., insb. S. 108.

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Bedenken gegen die Wirksamkeit der Zession bestehen aber dann, wenn die Abtretung durch Androhung von Gewalt erzwungen worden wäre.123 Die Ankläger vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg betrachteten nämlich die Wiedereingliederung des Memelgebietes als eine Zwangsmaßnahme. So erklärte der Hauptankläger des Vereinigten Königreichs, Generalstaatsanwalt Sir Hartley Shawcross, am 4. Dezember 1945:124 „Jetzt zum erstenmal rissen sie, ihren feierlichen, gegenteiligen Zusicherungen zum Hohne, nicht-deutsches Gebiet und nicht-deutsche Bevölkerung an sich. Diese Erwerbung der gesamten Tschechoslowakei mit der ebenso widerrechtlichen Besetzung des Memellandes am 22. März 1939 führte zu einer ungeheuren Stärkung der deutschen Lage, sowohl in politischer als auch in strategischer Hinsicht …“. Der Hilfsankläger des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland, Oberstleutnant J.M.G. Griffith-Jones, nahm am 6. Dezember 1945 vor dem Gerichtshof Stellung zum Memelgebiet. Er bezog sich auf die Unterredung zwischen dem deutschen Außenminister von Ribbentrop und dem litauischen Außenminister Urbsys, vom März 1939:125 „Diese Besprechung fand am 21. März statt. Es dauerte nicht lange, bis die Welt erfuhr, worin die Lösung der Memelfrage bestand. Am nächsten Tag marschierten die deutschen Streitkräfte ein.“Auf die Erklärung des ehemaligen Reichsaußenministers von Ribbentrop, dass die Abtretung des Memelgebietes durch Vertrag erfolgte,126 ging man nicht ein. Der Gerichtshof folgte im Ergebnis den Anklägern und befand, dass die Wiedereingliederung des Memelgebietes eine Verletzung des Art. 99 des Versailler Friedensvertrages, nicht aber einen Verstoß gegen ein Gewaltanwendungs- oder Kriegsverbot darstelle.127 Die früher nahezu einhellig vertretene Ansicht128 ging dahin, dass eine Drohung gegenüber dem Staat nicht rechtserheblich sei. So war und ist es im völkerrechtlichen 123

So vertritt B. T. Dirmeikis, Lithuanie and the Loss of Memel, in: Baltic and Scandinavian Countries, vol. 5, 1939, S. 184 f., die Auffassung, dass Litauen gar keine andere Wahl gehabt habe, als den deutschen Forderungen nachzugeben, da ansonsten die deutschen Truppen eingegriffen hätten. 124 Internationaler Militärgerichtshof (Hrsg.), Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg, 14. November 1945 bis 1. Oktober 1946, Bd. III: Verhandlungsniederschriften 1. Dezember 1945 bis 14. Dezember 1945, 1947, S. 137. 125 Internationaler Militärgerichtshof, Bd. III (Anm. 124), S. 244. 126 Internationaler Militärgerichtshof (Hrsg.), Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg, 14. November 1945 bis 1. Oktober 1946, Bd. X, Verhandlungsniederschriften 25. März 1946 bis 6. April 1946, 1947, S. 316. 127 Vgl. Internationaler Militärgerichtshof (Hrsg.), Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg, 14. November 1945 bis 1. Oktober 1946, Bd. I, Einführungsband, 1947, S. 93, 242 f. 128 Vgl. u. a.: E. von Ullmann (Anm. 44), S. 263; J. Hatschek (Anm. 41), S. 114; A. HoldFerneck, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. II, 1932, S. 151; Ch. Ch. Hyde, International Law, chiefly interpreted and applied by the United States, vol. II, 2nd ed., 1947, S. 1380; P. Fauchille, Traité de Droit International Public, tome premier troisième partie 1926, S. 298, bei ihm heißt es: „On peut dire qu’ alors le traité est susceptible d’ètre réputé nul. Il suffit au governement qui a délégué le diplomate de ne pas ratifier le traité: le ratifier, ce serait couvrir

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Verkehr durchaus üblich, mittels diplomatischen Drucks ein günstiges Verhandlungsergebnis zu erzielen.129 Sogar Drohung mit militärischem Zwang bedeutete nicht die Nichtigkeit des Vertrages. Nur wenn sich der Zwang unmittelbar gegen die vertragsschließenden Personen richtet, war eine Anfechtung möglich. Der Briand-Kellogg-Pakt vom 27. August 1928130 verbot nur den Krieg als solchen.131 Ein ausdrückliches Verbot, mittels Kriegsdrohung politische Ziele zu erreichen, enthält der Pakt genauso wenig132 wie eine Regelung über die Gültigkeit von Verträgen, die ein Angreiferstaat dem Besiegten auferlegt. Indiz dafür, dass im Jahre 1938 die Androhung von Gewalt noch nicht zur Nichtigkeit eines damit im Zusammenhang stehenden Vertragsschlusses führte, ist die Rechtsprechung des Alliierten Militärgerichtshofes, der im Gegensatz zur Anklage nicht zur Auffassung gelangte, dass das Münchner Abkommen wegen Drohung mit militärischer Gewalt nichtig sei.133 Ein vom Deutschen Reich auf Litauen ausgeübter Druck134 kann den Abtretungsvorgang also nicht in seiner Wirksamkeit beeinträchtigen.135 Es bestünde allenfalls eine Anfechtungsmöglichkeit. Eine Anfechtung durch Litauen erfolgte jedoch nicht. Vielmehr stimmte das litauische Parlament dem Vertrag einstimmig und ohne Vorbehalt zu.136 Im Übrigen darf auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht unberückle vice et reconnaítre que la violence exercée n’a pas eu de résultat réel.“ Anderer Ansicht: A. von Verdross, Völkerrecht, 1937, S. 88. 129 Man denke auch an den Abschluss von zivilrechtlichen Verträgen, bei denen ebenfalls häufig die stärkere Stellung ausgenützt wird, ohne dass der Vertrag ungültig werden würde. 130 Text: RGBl. 1929 II, S. 97. 131 Vgl. H. Wehberg, Krieg und Eroberung im Wandel des Völkerrechts, 1953, S. 43. 132 Vgl. H.-G. Mähler, Die völkerrechtliche Bedeutung des Kriegs- und Gewaltverbots durch Kellogg-Pakt und UNO-Satzung, Diss. jur. München, 1965, S. 107 ff., mit weiteren Nachweisen. 133 Vgl. hierzu H. Raschhofer, Die Sudetenfrage – ihre völkerrechtliche Entwicklung vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, 1953, S. 191. Anders allerdings die Entscheidung des niederländischen Raad voor het Rechtsherstel vom 29. 6. 1956, JIR, Bd. 8 (1959), S. 277 ff. (279); vgl. hierzu die kritische Anmerkung von B. V. A. Röling, in: JIR, Bd. 8, S. 283 ff. (286 ff.). 134 Völlig unerheblich für die völkerrechtliche Würdigung sind interne Äußerungen von Diplomaten und Mitarbeitern der Regierung. Eine Äußerung derart, man werde dem Partner „die Pistole auf die Brust setzen“, würde auch heute die Gültigkeit eines Vertrages nicht beeinträchtigen. 135 Auch das Münchner Abkommen vom 29. 9. 1938 (Text: D. Blumenwitz, Der Prager Vertrag, 1985, S. 100 ff.) wird trotz des auf die Vertragspartner ausgeübten Drucks nicht als nichtig qualifiziert. In Art. I des Vertrages über die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechoslowakischen Republik vom 11. 12. 1973 (Prager Vertrag) (Text: BGBl. 1974 II, S. 990 ff.) wird das Münchner Abkommen lediglich ex nunc als nichtig betrachtet. Vgl. D. Blumenwitz (a.a.O.), S. 26 ff. Auch der Versailler Friedensvertrag, der Deutschland aufoktroyiert wurde, war nicht nichtig. 136 Vgl. hingegen die – rechtlich allerdings bedeutungslose – Stellungnahme der tschechoslowakischen Regierung zum Münchner Abkommen vom 30. 9. 1938, in der die tschechoslowakische Regierung „Einspruch vor der ganzen Welt“ erhebt. Text: D. Blumenwitz (Anm. 136), S. 104.

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sichtigt bleiben, dem mit dem Anschluss Genüge getan wurde, auch wenn es sich noch nicht als Völkergewohnheitsrecht durchgesetzt hatte. bb) Deutsche Ausführungsvorschriften Die deutsche Reichsregierung erließ am 23. März 1939 das „Gesetz über die Wiedervereinigung des Memellandes mit dem Deutschen Reich“137. Nach § 1 des Wiedervereinigungsgesetzes wurde das Memelgebiet wieder Bestandteil des Deutschen Reiches. Der § 2 gliederte das Memelland in das Land Preußen und in die Provinz Ostpreußen ein. Es wurde dem Regierungsbezirk Gumbinnen zugeteilt. Von den drei Landkreisen wurden die Kreise Memel und Heydekrug aufrechterhalten, während der Kreis Pogegen mit dem Kreis Tilsit vereinigt wurde. Nach dem Wiedervereinigungsgesetz traten am 1. Mai 1939 das gesamte Reichsrecht und das gesamte preußische Landesrecht in Kraft. Von diesem Zeitpunkt ab waren endgültig sämtliche litauischen Gesetzesbestimmungen außer Kraft gesetzt. Allerdings blieb es den zuständigen Reichsministern und der preußischen Landesregierung überlassen, Ausnahmebestimmungen zu treffen. Das Memelland wurde mit dem 23. März 1939 wieder in die deutsche Zolleinheit aufgenommen. Am gleichen Tage wurde die deutsche Reichsmark unter Umwechslung der litauischen Währung eingeführt. Im Reichstag war das Memelland durch zwei Abgeordnete vertreten, die von Adolf Hitler ernannt wurden.138 Weiterhin schlossen Deutschland und Litauen am 8. Juli 1939 einen Staatsangehörigkeitsvertrag139, der zur Regelung der Staatsangehörigkeit der Bewohner des Memelgebietes im Wesentlichen an die ehemalige deutsche Reichsangehörigkeit vor 1919 anknüpfte. 7. Entwicklungen im Memelland bis zum heutigen Tage Nach zwanzigjähriger Unterbrechung wurde im Jahre 1939 das Memelland, das über 600 Jahre lang zum deutschen Sprach- und Kulturraum gehörte, wieder Teil Deutschlands, allerdings nur für sechs weitere Jahre, nämlich bis zu den Ereignissen der Abschlussphase des Zweiten Weltkrieges. Am 28. Januar 1945 eroberte die Rote Armee die Stadt Memel und das umliegende Gebiet. Am 7. April 1948 wurde das Land als „Provinz Klajpeda“ der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik dem sowjetischen Staatsverband de facto eingegliedert.140 Geht man davon aus, dass das Memelland durch den deutsch-litauischen Vertrag Bestandteil des Deutschen Reiches geworden war, ist festzustellen, dass es bis zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten durch keine völkerrechtskonforme Maß137

Text: RGBl. 1939 I, S. 559. Vgl. RGBl. 1939 I, S. 763. 139 Text: RGBl. 1939 II, S. 1000. 140 Vgl. G. Gornig (Anm. 13), S. 62.

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nahme vom – insoweit handlungsunfähigen – Deutschen Reich wieder abgetreten wurde.141 Erst durch den „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“142 (sog. „Zwei-plus-vier-Vertrag“) gab das vereinte Deutschland die territoriale Souveränität über Gebiete außerhalb der Grenzen der Bundesrepublik Deutschlands, der DDR und Berlins auf.143 Somit fiel das Memelland dem dort bereits die Gebietshoheit ausübenden Staat zu.144 Bejaht man die Unabhängigkeit Litauens145 von der Sowjetunion am Tage des Wirksamwerdens des Vertrages, dann erhielt Litauen auch die territoriale Souveränität über das Memelgebiet.146 Die Stadt Memel wurde nach 65 %er Zerstörung im Zweiten Weltkrieg nach alten Plänen von den jetzigen Bewohnern wiederaufgebaut. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Stadt Memel (Klaipeda) von 50.000 auf 200.000 Einwohner gewachsen und ist heute die drittgrößte Stadt Litauens und wichtigster Hafen des Landes. IV. Zusammenfassung Unter „Memelgebiet“ versteht man den Teil der preußischen Provinz Ostpreußen, der aufgrund des Art. 99 des Versailler Friedensvertrages vom 28. Juni 1919 vom Deutschen Reich abgetrennt worden ist. Das Gebiet umfasst die früheren preußischen Kreise Memel und Heydekrug sowie die an dem nördlichen Ufer der Memel liegenden Teile der Kreise Tilsit und Ragnit. Es ist 2708 qkm groß und hat damit ungefähr die Größe Luxemburgs. Nach Art. 99 des Versailler Friedensvertrages verzichtete Deutschland zugunsten der alliierten und assoziierten Hauptmächte auf alle Rechte und Ansprüche hinsichtlich des Memellandes. Es handelt sich hierbei um einen Fall der Staatensukzession. Die Übertragung der territorialen Souveränität über das Memelgebiet erfolgte mit dem Inkrafttreten des Versailler Friedensvertrages. Am 15. Februar 1920 übergab Reichskommissar Lambsdorff dem Vertreter der alliierten und assoziierten Mächte, General Odry, das Gebiet. Frankreich übernahm das Gebiet als Vertreter der alliierten 141 Vgl. auch D. Blumenwitz, Die territorialen Folgen des Zweiten Weltkrieges für Deutschland, in: Archiv des Völkerrechts, Band 23 (1985), S. 1 ff. (14). 142 Text: BGBl. 1990 II, S. 1317 ff. 143 Die Würdigung dieser Maßnahme ist unterschiedlich: Neben der Aufgabe der Gebiete und einer Anerkennung einer Annexion wird auch eine Außerstreitstellung der Grenzfrage angenommen. Man könnte den Vertrag aber auch so verstehen, dass sich die Bundesrepublik Deutschland so behandeln lassen müsse, als ob damit die Ostgebiete abgetreten worden wären. Vgl. G. Gornig, Der Zwei-plus-vier-Vertrag unter besonderer Berücksichtigung grenzbezogener Regelungen, in: ROW 1991, S. 97 ff.; ders., Das Nördliche Ostpreußen. Gestern und heute. Eine historische und rechtliche Betrachtung, 1995, S. 161. 144 Vgl. G. Gornig (Anm. 13), S. 136. 145 Vgl. hierzu A. Graudin, Mobilisierung für Gerechtigkeit – Sajudis führte Litauen in die Souveränität, in: Mare Balticum 1995, S. 49 ff. (51). 146 Nicht entscheidend ist die Unabhängigkeitserklärung Litauens am 11. 3. 1990. Die Unabhängigkeit musste sich erst in der Staatenpraxis durchsetzen.

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und assoziierten Hauptmächte. Territoriale Souveränität und Gebietshoheit besaßen somit neben Frankreich auch das Vereinigte Königreich, Italien und Japan. Das Memelgebiet war somit seit 1920 ein Kondominium dieser vier Staaten. Da diese Staaten das Memelgebiet mit der Verpflichtung übernahmen, die territoriale Souveränität unter Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechts weiterzuübertragen, hatten die Alliierten auch die Treuhänderschaft über das Gebiet inne. Das Deutsche Reich oder die Bevölkerung des Memelgebietes kommen grundsätzlich als Treugeber in Betracht. Das Memelland war also weder ein Staat noch ein Protektorat, noch eine Provinz eines oder mehrerer anderer Staaten, sondern ein Gebilde, das man als Staatsfragment bezeichnen kann. Am 10. Januar 1923 überschritten litauische Freischärler die Grenze zum Memelland bei Laugszargen im Südosten und Deutsch-Krottingen im Norden und drangen in das Gebiet ein. Es handelte sich um als Zivilisten getarnte litauische Soldaten. Am 15. Januar 1923 rückten die Freischärler in die Stadt Memel ein und besetzten bald das ganze Land, so dass die Franzosen jeden Widerstand einstellten. Die Litauer versuchten, durch den Einmarsch die Botschafterkonferenz in Paris, die sich mit dem Schicksal des Memellandes zu beschäftigen hatte, vor vollendete Tatsachen zu stellen, da sie befürchteten, dass ihrer Forderung nach Anschluss des Memelgebietes nicht entsprochen würde. Der Einmarsch der litauischen Freischärler ist völkerrechtlich dem Staate Litauen zuzurechnen, da er im Auftrag und mit Unterstützung Litauens erfolgte. Das Memelgebiet war für Litauen fremdes Territorium und damit taugliches Objekt einer Annexion. Die Litauer schafften es aber nicht, die alliierte Staatsgewalt endgültig zu verdrängen. Auch fehlte es an einer ausdrücklichen Annexionserklärung oder einer gleichwertigen Handlung, aus der ersichtlich wäre, dass die Inbesitznahme des Gebietes als Annexion gewollt war. Vielmehr erklärte Litauen auf den Protest der Alliierten, dass es mit dem Einfall nichts zu tun habe. Es negierte damit ausdrücklich einen Annexionswillen. Am 8. Mai 1924 wurde in Paris die Konvention über das Memelgebiet zwischen Litauen und den Staaten Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland, Frankreich, Italien und Japan verabschiedet. Das Deutsche Reich war nicht Vertragspartei der Memelkonvention, da es sich durch Art. 99 des Versailler Vertrages sowie den Ausführungsvertrag vom 9. Januar 1920 nicht nur seiner Hoheitsrechte, sondern „aller Rechte und Ansprüche“ auf das Memelgebiet begeben und das weitere Schicksal desselben in die Hände der alliierten und assoziierten Hauptmächte gelegt hatte. Die Memelkonvention besteht aus der eigentlichen Konvention und drei Anhängen, nämlich dem Statut des Memelgebietes in Anhang I, Normen zum Memeler Hafen in Anhang II und den Regelungen zum Transitverkehr in Anhang III. Die Anhänge bilden einen integrierenden Bestandteil der Konvention, die einzelnen Bestimmungen sind aber selbständig abänderbar. In Art. 1 regelte die Memelkonvention die Bedingungen, unter denen die Souveränität von den alliierten und assoziierten Hauptmächten an Litauen übertragen wird. Gemäß Art. 2 bildete das Memelgebiet unter der Souveränität Litauens eine Einheit, die in Gesetzgebung, Rechtsprechung, Verwaltung und Finanzen innerhalb der Schranken des in Anhang I aufgestellten Memelsta-

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tuts Autonomie genoss. Nach Art. 15 konnten Souveränitätsrechte über das Memelgebiet oder ihre Ausübung nicht ohne Zustimmung der vertragschließenden Teile übertragen werden. Der Anhang I der Memelkonvention enthielt das Memelstatut, das die Verfassung des Memelgebietes darstellte. Das Statut diente laut seiner Präambel dazu, dem Memelgebiet Autonomie zu gewähren und die überlieferten Rechte und die Kultur seiner Bewohner zu sichern. Gemäß Art. 1 des Memelstatuts bildete das Memelgebiet unter der Souveränität Litauens eine Einheit, die auf demokratischen Grundsätzen aufgebaut war und in Gesetzgebung, Rechtsprechung, Verwaltung und Finanzen innerhalb der in dem Statut beschriebenen Grenzen Autonomie genoss. Das Memelgebiet war ein autonomes Gebiet innerhalb Litauens. Der Abtretungsvertrag betreffend das Memelgebiet zwischen dem Deutschen Reich und Litauen vom 22. März 1939 war ein verhältnismäßig kurz gefasster Rahmenvertrag, der alle mit der Gebietsabtretung zusammenhängenden Fragen einer späteren Lösung vorbehielt. Völkerrechtlich handelte es sich bei der Abtretung des Memelgebietes um eine Zession. Es bestehen Bedenken, ob diese Abtretung mit der Memelkonvention vereinbar war. Nach Art. 15 der Memelkonvention konnten nämlich Souveränitätsrechte über das Memelgebiet oder ihre Ausübung „ohne Zustimmung der Hohen Vertragschließenden Teile nicht übertragen werden“. Entscheidend für die Frage der völkerrechtlichen Wirksamkeit der Abtretung ist, ob eine Zustimmung der alliierten Hauptmächte erfolgte. Als „Hohe Vertragschließende Teile“ der Memelkonvention, deren Zustimmung relevant war, kommen Litauen sowie das Britische Reich, Frankreich, Italien und Japan in Betracht, nicht aber das Deutsche Reich, das nicht Vertragspartei der Memelkonvention war. Eine Zustimmung Litauens lag vor. Sie ist im deutsch-litauischen Abtretungsvertrag zu sehen. Das Vereinigte Königreich erteilte die Zustimmung ausdrücklich. In der britischen Note vom 15. Mai 1939 an die deutsche Reichsregierung wurde die Inbesitznahme Memels de jure anerkannt und ein Vizekonsul in Memel ernannt. Der Britische Hohe Kommissar in Bonn bestätigte im Jahre 1955 aufgrund einer privaten Anfrage „die am 15. Mai 1939 stattgefundene de jure-Anerkennung“ durch die britische Regierung ausdrücklich. Italien und Japan waren aus dem Völkerbund ausgetreten. Es kann daher argumentiert werden, dass beide Staaten die ihnen aufgrund der Memelkonvention zustehenden Rechte aufgegeben hatten. Sie legten zudem gegen die Zession keinen Einspruch ein. Das Unterlassen eines Protestes gegen die Zession des Memelgebietes kann daher als stillschweigende Zustimmung gewertet werden, da von den Unterzeichnern der Memelkonvention eine Reaktion zu erwarten war, als Litauen ohne deren Zustimmung das Memelgebiet an das Deutsche Reich abtrat. Geht man davon aus, dass das Memelland durch den deutsch-litauischen Vertrag Bestandteil des Deutschen Reiches geworden war, ist festzustellen, dass es bis zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten durch keine völkerrechtskonforme Maßnahme vom – insoweit handlungsunfähigen – Deutschen Reich wieder abgetreten wurde. Erst durch den „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ (sog. „Zwei-plus-vier-Vertrag“) gab das vereinte Deutschland die territoriale Souveränität über Gebiete außerhalb der Grenzen der Bundesrepublik

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Deutschlands, der DDR und Berlins auf. Somit fiel das Memelland dem dort bereits die Gebietshoheit ausübenden Staat zu. Bejaht man die Unabhängigkeit Litauens von der Sowjetunion am Tage des Wirksamwerdens des Vertrages, dann erhielt Litauen auch die territoriale Souveränität über das Memelgebiet. * Abstract Gilbert H. Gornig: The Fate of the Memel Territory since the Treaty of Versailles (Das Schicksal des Memellandes seit dem Versailler Friedensvertrag), in: World War I and its Consequences for the Coexistence of Peoples in Central and Eastern Central Europe (Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa), ed. by Gilbert H. Gornig and Adrianna A. Michel (Berlin 2017), pp. 149 – 180. The “Memel region” describes the part of the Prussian province East Prussia, which was separated from the German Reich due to Art. 99 of the Versailles Treaty dated 28 June 1919. The region includes the early Prussian districts Memel and Heydekrug as well as the parts of the districts Tilsit and Ragnit located at the northern bank of Memel. Its total area is 2708 square kilometres; thus, it has approximately the size of Luxemburg. According to Art. 99 of the Versailles Treaty, Germany relinquished all rights and claims over the Memel Territory in favour of the allied and associated main powers. This depicts a case of state succession. The transfer of territorial sovereignty over the Memel Territory occurred with the Versailles Treaty’s entry into force. On 15 February 1920 Reichskommissar Lambsdorff handed over the territory to the representative of the allied and associated powers, General Odry. France took over the territory as representative of the allied and associated main powers. Thus, not only France, but also the United Kingdom, Italy and Japan possessed the territorial sovereignty and jurisdiction. The Memel Territory thus has been a condominium of these four states since 1920. As these states took over the Memel Territory with the obligation to transfer the territorial sovereignty in consideration of the right of self-determination, the Allies also held the trusteeship over the territory. In general, the German Reich or the population of the Memel Territory can be considered as trustor. The Memel Territory thus neither was a state or a protectorate, nor a province of one or more other states, but an entity which can be referred to as fragment of a state. On 10 January 1923 Lithuanian irregulars crossed the border of the Memel Territory near Laugszargen in the Southeast and near Deutsch-Krottingen in the North and intruded the territory. These turned out to be Lithuanian soldiers disguised as civilians. On 15 January 1923 the irregulars marched into the city of Memel and soon occupied the whole territory with the result that the French gave up every resistance. The Lithuanians tried to present the conference of ambassadors in Paris, which dealt with the fate of the Memel Territory, with faits accompli by invading the territory, as they feared that their claim for the connection of the Memel Territory to their own would not be met. The invasion of the Lithuanian irregulars is, under international law, attributable to the Lithuanian state, as it took place on behalf of and with the support of Lithuania. The Memel Territory was foreign territory for Lithuania and thus an object suitable for an annexation. However, the Lithuanians did not accomplish to drive out the allied state authority for good. Furthermore, an explicit declaration of annexation or an equivalent act,

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showing that the occupation of the territory was intended to constitute an annexation, lacked. Rather, Lithuania, in response to protests by the Allies, declared that it had nothing to do with the invasion. It thus expressly denied an intention of annexation. On 8 May 1924, the convention in Paris on the Memel Territory was adopted by Lithuania and the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland, France, Italy and Japan. The German Reich was no contracting party of the Memel Convention, because it not only surrendered its sovereign rights through Art. 99 of the Versailles Treaty and through the Implementation Treaty dated 9 January 1920, but also abandoned “all rights and claims” to the Memel Territory, thus placing the fate of it in the hands of the allied and associated main powers. The Memel Convention includes the actual convention and three annexes, namely the Statute of the Memel Territory in annex I, the norms concerning the Memel harbour in annex II and the regulations regarding the transit traffic in annex III. The annexes form an integral part of the convention, while the individual provisions are alterable independently. In Art. 1 the Memel Convention regulates the provisions by which the sovereignty of the allied and associated main powers is to be transferred to Lithuania. According to Art. 2, the Memel Territory constituted a unit under the sovereignty of Lithuania, which enjoyed autonomy in legislation, jurisdiction, administration and finance within the limits of annex I of the Memel Statute. According to Art. 15, the sovereign rights to the Memel Territory or their exercise could not be transferred without the consent of the contracting parties. Annex I of the Memel Convention contained the Memel Statute that depicted the constitution of the Memel Territory. According to its preamble the Statute served as a guarantee for the autonomy of the Memel Territory and had the objective to secure the passed-on rights and the culture of its population. Art. 1 of the Memel Statute implies that the Memel Territory constitutes a unit under the sovereignty of Lithuania, which was built on democratic principles and enjoyed autonomy in legislation, jurisdiction, administration and finance within the limits described in the Statute. The Memel Territory was an autonomous territory within Lithuania. The assignment contract dated 22 March 1939 concerning the Memel Territory and concluded between the German Reich and Lithuania was a relatively brief framework contract which reserved all questions concerning the assignment of territory for a future solution. Under international law the assignment of the Memel Territory constituted a cession. There are concerns whether this assignment was compatible with the Memel Convention. Because according to Art. 15 of the Memel Convention, sovereign rights over the Memel Territory or their exercise were not able to “be transferred without the consent of the high contracting parties”. It is decisive for the effectiveness of an assignment under international law whether a consent of the allied main powers was made or not. Lithuania as well as the British Empire, France, Italy and Japan come into question as “high contracting parties” of the Memel Convention, but not the German Reich which was no party of the Memel Convention. The consent of Lithuania existed. It can be found in the German-Lithuanian Assignment Contract. The United Kingdom expressly gave its approval. Within the British Note dated 15 May 1939 and submitted to the government of the German Reich, the occupation of Memel was recognised as legitimate and a vice consul was appointed in Memel. In 1955, due to a private enquiry, the British high commissioner in Bonn expressly confirmed “the de jure-recognition on 15 May 1939” by the British government. Italy and Japan had left the League of Nations. Hence one could argue that both states had renounced the rights given to them by the Memel Convention. Furthermore, they did not raise objections against the cession. The omission of a protest against the cession of the Memel Territory thus may be considered as a tacit consent, as one could have expected a reaction by the

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signatories of the Memel Convention when Lithuania assigned the Memel Territory to the German Reich without their consent. If one assumes that the Memel Territory had become a part of the German Reich through the German-Lithuanian Contract, one can determine that, until the reunification of the two German states, it was not ceded by the German Reich –to that extent having been capable of acting – by any measure compatible with international law. Only by concluding the “Treaty on the Final Settlement with respect to Germany” (so-called “Two-Plus-Four Treaty”) reunified Germany surrendered the territorial sovereignty over the territories beyond the borders of the Federal Republic of Germany, the GDR and Berlin. Thus, the Memel Territory became a part of the state which already exercised territorial jurisdiction there. If one assumes the independence of Lithuania from the Soviet Union on the day when the contract became effective, then Lithuania also gained territorial sovereignty over the Memel Territory.

Deutschland, die Alliierten und die Ahndung von Kriegsverbrechen nach dem Ersten Weltkrieg Von Wolfgang Form I. Einführung Über viele Jahrhunderte hatten Kriegsgräuel kaum strafrechtliche Folgen. Sie wurden als Begleiterscheinungen von bewaffneten Konflikten in Kauf genommen. Zur Verantwortung zog man, wenn überhaupt, Verstöße gegen die Disziplin der Truppe. Obgleich es seit dem 17. Jahrhundert Regelungen über das Recht auf Kriegsführung gab (Westfälischer Frieden), sollte es noch gut 200 Jahre dauern, bis transnationale Bemühungen sich zu ersten zwischenstaatlichen Regelungen zur Verhütung von Kriegen und Kriegsverbrechen verdichteten. Die Grundlage für die Staatenpraxis bis zum Ersten Weltkrieg ging auf den Westfälischen Frieden von 1648 zurück.1 Bis dahin gab es im Grunde kein ausgewiesenes Recht im Krieg (ius in bello).2 Fragen zur Schonung von Zivilisten und Kombattanten wurden nicht geregelt.3 Der Westfälische Frieden als erster zwischenstaatlicher Vertrag in Europa führte das völkerrechtliche Prinzip der staatlichen Souveränität ein.4 Von zeitgenössischen Kommentatoren5 wurden kriegsrechtliche Traditionen und Gewohnheitsrechte zu einem Rechtskorpus, der bis in das moderne Völkerrecht hineinwirkte, zusammengefasst.6 Darunter fielen bereits die ersten Ansätze zum Schutz der Zivilbevölkerung.7 Vor allem wurde geregelt, dass der Herrscher einer Nation ein Recht auf Kriegsführung hatte (ius ad bellum). Wichtige weitere Aspekte des Westfälischen Friedens waren die Zahlung von Reparationen, die Immunität für Staatsoberhäupter und Amnestien für beide kriegsführende Seiten.8 Kein Soldat oder Of-

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Beaulac (2004) [Ein Literaturverzeichnis befindet sich am Ende]. Meron (1993), S. 125. 3 Meron (1993), S. 209. 4 Meron (1993), S. 211. 5 Hugo Grotius; vgl. Konegen (2005). 6 Meron (1993), S. 212 f. 7 So wandte sich Gentili zu Beginn des 17. Jahrhunderts bereits Vergewaltigungen als Vergeltung während und nach kriegerischen Auseinandersetzungen zu. Vgl. Askin (1997), S. 26 f.; Meron (1993), S. 112. 8 Siehe Dickmann (1998). 2

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fizier musste sich für begangene Grausamkeiten verantworten. Diese Grundsätze prägen Postkonfliktzeiträume für die weiteren 250 Jahre. Im Jahr 1859 wurde Henry Dunant Zeuge der Schlacht von Solferino, bei der 300.000 österreichische und französische Soldaten gegeneinander kämpften und 40.000 Verwundete und Gefallene auf dem Schlachtfeld unversorgt blieben. „Da den Verwundeten jede Wartung und Pflege abging, starben Tausende, die sonst leicht hätten gerettet werden können, nach schwerem Leiden auf dem Schlachtfeld oder wurden gar lebendig begraben.“9 Seine Eindrücke schildert Dunant im Buch „Erinnerungen an Solferino“. Er suchte und fand Gleichgesinnte mit denen er die erste Genfer Konferenz initiierte. Zwar hatte es auch vor 1859 blutige und grausame Schlachten gegeben, aber erst die Verbreitung humanistischer Ideen schuf die Grundlage, das Leid des Krieges mildern zu wollen. Die Genfer Konferenz fand vom 26. bis zum 29. Oktober 1863 statt. Es ging darum, zu kodifizieren, Verwundete, Ärzte, Spitäler usw. für neutral zu erklären und von den Kriegshandlungen auszunehmen. Ärzte und ihre Helfer sollten einheitliche, gut sichtbare Kennzeichen erhalten, um sie klar erkennbar zu machen. Die Konferenz blieb aber, nicht zuletzt wegen ihres inoffiziellen Charakters, folgenlos, erregte allerdings Aufsehen und der Samen für eine „Humanisierung“ des Kriegsgeschehens keimte. Nicht zu vergessen ist im Gesamtkontext der US-amerikanische Lieber Code vom April 1863.10 Im Jahr 1864 lud die Schweizer Regierung zu einer diplomatischen Konferenz ein, um die Ideen der Genfer Konferenz von 1863 auf staatlicher Ebene zu diskutieren. Resultat war die Genfer Konvention zur Verbesserung des Schicksals der verwundeten Soldaten der Armeen im Felde. Deren Kernartikel lautete: „Ambulances and military hospitals shall be recognized as neutral, and as such, protected and respected by the belligerents as long as they accommodate wounded and sick. Neutrality shall end if the said ambulances or hospitals should be held by a military force“ (Artikel 1). Die Genfer Konvention wurde 1949 erweitert. Vor allem betraf die Erweiterung am Konflikt beteiligte Personen: „Personen, die nicht direkt an den Feindseligkeiten teilnehmen, einschließlich der Mitglieder der bewaffneten Streitkräfte, welche die Waffen gestreckt haben, und der Personen, die infolge Krankheit, Verwundung, Gefangennahme oder irgendeiner anderen Ursache außer Kampf gesetzt wurden, sollen unter allen Umständen mit Menschlichkeit behandelt werden, ohne jede Benachteiligung aus Gründen der Rasse, der Farbe, der Religion oder des Glaubens, des Geschlechts, der Geburt oder des Vermögens oder aus irgendeinem ähnlichen Grunde“ (Art. 3 II Genfer Abkommen I-IV, 1949).11

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Nussbaum (1960), S. 249. Lieber Code (Instructions for the Government of Armies of the United States in the Field). Vgl. Burrus (1998), S. 213 – 231. 11 https://ihl-databases.icrc.org/applic/ihl/ihl.nsf/Treaty.xsp?documentId=477CEA122D7B7 B3DC12563CD002D6603/action=openDocument (Zugriff 31. 12. 2016). 10

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Ideelle Grundlagen für Veränderungen wurden nicht nur durch den Humanismus und verwandte philosophische Ideen gelegt. Denn „mit der weitgehenden Durchsetzung von Grenzen um Territorialstaaten, oft mit nationaler Identität, der Ablösung der Lehre des bellum iustum zum allgemeinen Kriegsführungsrecht souveräner Staaten und den Zerstörungswirkungen moderner Kriege wuchs im 19. Jahrhundert das Bedürfnis zu verbindlichen internationalen Regelungen der Vorgänge im Krieg“.12 Die durch die Genfer Konvention angestoßenen Dynamiken setzten sich 1874 in der Brüsseler Kriegsrechtsdeklaration fort. Staatsrechtler versuchten in 56 Artikeln einen Kodex über „Rechte und Gebräuche im Krieg“ zu verfassen. Er wurde zwar von 15 europäischen Staaten verabschiedet, aber nicht ratifiziert. Dennoch darf man seine Wichtigkeit nicht unterschätzen: er wurde im Weiteren ausgearbeitet und ging schließlich in der Haager Landkriegsordnung von 1907 auf. Im so genannten Zeitalter des Imperialismus begannen alle europäischen Großmächte ihre Rüstungsausgaben immens zu steigern. Am 24. August 1898 kamen auf Einladung von Zar Nikolaus II. alle in St. Petersburg akkreditierten Staaten zu einer allgemeinen Abrüstungskonferenz zusammen. Die Gründe waren sowohl „Einsicht in die Widersinnigkeit eines modernen Krieges“13 als auch und vor allem die überbordenden Ausgaben für neue Rüstungsprojekte. Allerdings war keine der Großmächte wirklich an Abrüstung interessiert. Aus der Konferenz ging vielmehr ein Programm für eine Friedenskonferenz hervor, die zum einen die Erweiterung von friedenserhaltenden Maßnahmen und zum anderen neue völkerrechtliche Impulse für den Kriegsfall verabschieden sollte. Die Initiativen bereitete die bereits erwähnte Haager Landkriegsordnung von 1907 vor, die in vier Hauptkategorien der völkerrechtlichen Verpflichtungen im Krieg unterteilt war (siehe Übersicht 1) und deren generelle Prämisse es war, die Reduzierung tödlicher Gewaltanwendung „auf einen Kern des Krieges zu beschränken“14. Kriegsführung wurde an sich nicht verboten – auch nicht der Angriffskrieg. Krieg blieb ein legitimes Mittel staatlicher Politik. In diesem Kontext muss auch die Tatsache, dass die Strafverfolgung von Kriegsverbrechern nicht geregelt wurde, gesehen werden. Dementsprechend finden sich keine Sanktionsmöglichkeiten durch die Völkergemeinschaft. Es ging um die Rechte von Verwundeten und Kriegsgefangenen, nicht jedoch um weitergehende Richtlinien und Gebote für die Kriegsführung an sich. Übersicht 1 Hauptkategorien der Haager Landkriegsordnung 1. Waffenverbote wie Dum-Dum Geschosse, Gaskrieg etc. 2. Der Schutz neutraler Staaten.

12

Dülffer (2001), S. 38. Ebenda, S. 79. 14 Ebenda, S. 39.

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3. Die Definitionen verschiedener Kombattantenmodi sowie die Kennzeichnung von Militärpersonen zur Unterscheidung von Zivilbevölkerung. 4. Das Versehen von nicht mehr Kämpfenden mit Rechten und Ansprüchen (Verwundete, Kriegsgefangene), wobei hier auf die Genfer Konvention verwiesen wird.

Man machte sich aber bereits im Vorfeld der Haager Landkriegsordnung Gedanken, was als Verbrechen in deren Sinn zu verstehen sei. Denn wenn der Krieg unter die Norm der Gerechtigkeit gestellt wird, dann muss es auch unweigerlich strafrechtliche Bestimmungen für die Verletzung des Kriegsrechts geben.15 Neu war ein Universalitätsanspruch, abgekoppelt von einem „Sieger – Verlierer – Schema“. Die Regelungen galten im Krieg, egal wer ihn anfangen bzw. gewinnen würde. Die internationalen Regeln galten demnach deklaratorisch, aber es gab bereits wichtige Ansätze zu weitergehenden Überlegungen. Praktisch in letzter Minute, am Vorabend der Haager Landkriegsordnung, führte der britische Militärjurist Captain Harold Oppenheim 1906 den Begriff des Kriegsverbrechens mit einer Hand voll Deliktgruppen ein.16 Zusätzlich stellte er erstmalig eine Liste von 20 Kriegsrechtsverletzungen zusammen, die er als „Kriegsverbrechen“ einstufte.17 Oppenheims Ausführungen waren revolutionär. Seine Ansichten fanden letztendlich Eingang in viele nationale Militärhandbücher:18 So entspricht das englische „Manual of Military Law“ den amerikanischen „Rules of Land Warfare“ in materieller und prozessualer Hinsicht.19 II. Erster Weltkrieg Weil dieser Aspekt der Geschichte des Völkerstrafrechts bisher nicht ausreichend eine größere Öffentlichkeit gefunden hat – ganz bestimmt in weitaus geringerem Maß als z. B. die Nürnberger Prozesse nach dem Zweiten Weltkrieg, soll die Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg beleuchtet werden. Nur wenige Jahre nach der ungebrochenen Fortentwicklung des humanitären Völkerrechts brachte der Erste Weltkrieg herbe Rückschläge. Es war das erste Mal in der Geschichte, dass von einem weltweiten kriegerischen Ereignis gesprochen wurde. Krieg wurde auf eine bislang nicht gekannte Art und Weise internationalisiert, und blickt man auf die Weltkarte, so war kaum ein Land nicht involviert. Vor allem änderte sich die 15

Vgl. Theologische Realenzyklopedie (C.-J. Thornton u. a.). Oppenheim (1906), S. 264 ff. (Conception of War Crimes). 17 Ebenda; vgl. Oppenheim (1937), S. 452 – 460 (Punishment of War Crimes). 18 Edmonds/Oppenheim, Land Warfare, S. 94 – 97. Das „Manual of Military Law“, das englische Handbuch des Kriegsrechts, wurde erstmals 1904 im Auftrag des War Office herausgegeben. Es enthielt einen Kernbereich strafbarer Kriegshandlungen und erstreckte die Bestrafung des Täters auf alle Zivil- oder Militärpersonen, aus dem eigenen Staat wie auch aus fremden Staaten, ohne auf den Zeitpunkt der Tatbegehung abzustellen. Es bot außerdem erstmals die Möglichkeit der Bestrafung nicht nur nach nationalem Recht, sondern unmittelbar nach völkerrechtlichem Kriegsbrauch. Allerdings war es keine Rechtsgrundlage, sondern lediglich ein Hilfsmittel. Vgl. dazu Hankel, Die Leipziger Prozesse (2003), S. 163. 19 Hankel (2003), S. 164. 16

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Art der Kriegsführung. Neue Technologien kamen zum Einsatz: Unterseeboote, Flugzeuge, Panzer, überhaupt Motorfahrzeuge und nicht zuletzt die chemische Kriegsführung (Giftgas). Mit dem Kriegsende am 11. November 1918 (Unterzeichnung des Waffenstillstandes von Compiègne20) hatten mehr als acht Millionen Soldaten den Tod gefunden.21 Nicht zuletzt das Ausmaß an Brutalität schärfte bei den Alliierten die Forderung nach strafrechtlichen Konsequenzen.22 Aus heutiger Perspektive war die Forderung nach strafrechtlicher Verfolgung von Kriegsverbrechen eine eher unspektakuläre sog. Transitional Justice23-Reaktion. Am Ende der 1910er Jahre allerdings war es eine völlig neuartige Forderung, denn bislang kam es kaum zu individuellen strafrechtlichen Konsequenzen – Soldaten wurden nur vereinzelt und Staatsoberhäupter in keinem Fall zur Verantwortung gezogen.24 Der wohl erste dokumentierte Fall eines besonderen Strafgerichts für die Aburteilung von Kriegsverbrechen fand aber bereits 1473 in Breisach statt. Peter von Hagenbach wurde von einem Gremium von 27 (sic!) Richtern wegen Mordes, Vorgesetztenverantwortung und rechtswidriger Requirierung von Eigentum zum Tode verurteilt.25 Schon zu Beginn des Ersten Weltkrieges gab es Stimmen, die die Bestrafung von deutschen Kriegsverbrechen forderten.26 Es erwies sich allerdings als schwierig, eine gemeinsame (internationale) Vorgehensweise in einem administrativen Rahmen zu fassen. Zu unterschiedlich waren die nationalen Rechtsgrundlagen und Vorstellungen, welche Personengruppen eine Strafverfolgung treffen sollte.27 Im Fortschreiten des Krieges gab es vor allem auf französischer und britischer Seite Überlegungen zu nationalen und internationalen Ahndungsstrategien.28 Nach dem Waffenstillstand 1918 erklärte der britische Marineminister Winston Churchill, dass Personen, die des Verstoßes gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges beschuldigt würden, insbesondere solche, die Grausamkeiten gegen hilflose Gefangene begangen hätten, vor Gericht gestellt werden müssten. Wenn sie sich schuldig gemacht hätten, wären sie so zu bestrafen, wie sie es verdient hätten – egal um welchen militärischen Rang es sich handeln würde.29 Churchills Forderungen erfuhren in den Reihen der Alliierten breite Zustimmung und so wurde die Frage nach einer definitorischen Klärung von Kriegsverbrechen wieder aufgenommen und 20

Marhefka (1928). Salewski (2000), S. 993; Berghahn (2006), S. 10. Schätzungen gehen von 17 Millionen Toten insgesamt aus. Siehe Lacina (2009), S. 48. 22 Siehe Horne/Kramer (2001 English, 2004 German). 23 Zu Transitional Justice siehe Teitel (2000). 24 Vgl. Neubacher (2008), S. 23 – 49. 25 Vgl. Leonard (2005), S. 5; Askin (1997), S. 28 f.; Neuffer (2002), S. 67; Vöneky (2002), S. 450. 26 Horne/Kramer (2004), S. 482 f. 27 Ebenda. 28 Willis (1982), S. 50 ff., 77 – 82; Segesser (2006), S. 221. 29 James (1974), S. 2645. Vgl. Hankel (2003), S. 26. 21

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erfolgreich weiter gesponnen. In die gleiche Richtung zielte die französische Regierung in einem Statement vom 5. Oktober 1918: „… acts so contrary to International Law, and to the very principles of human civilisation, should not go unpunished“.30 Im Jahr 1919 riefen die Alliierten zu einer Friedenskonferenz in Paris auf, die die Modalitäten eines Friedensvertrages verhandeln sollten.31 „At one of the earliest sittings of that commission in Paris, on 7th February, 1919, British delegates pointed out, unless immediate steps were taken to arrest War Criminals, the labours of the commission might prove fruitless.“32 Eine Kommission der Verhandlungsparteien sollte einen Weg finden, viele der aufgelaufenen Fragen rund um ein originäres Völkerstrafrecht zu diskutieren.33 Im Verlauf der nicht ohne Spannungen stattfindenden Kommissionssitzungen34 und nach dem Studium einer großen Anzahl von Dokumenten35 entstand eine 32 Punkte umfassende Liste von Kriegsverbrechen,36 die in vielen Punkten heute noch höchst aktuell ist.37 Kriegsverbrechen38 1.

Murder and massacres, systematic terrorism

2.

Putting hostages to death

3.

Torture of civilians

4.

Deliberate starvation of civilians

5.

Rape

6.

Abduction of girls and women for the purpose of enforced prostitution

7.

Deportation of civilians

8.

Internment of civilians under inhuman conditions

9.

Forced labour of civilians in connection with the military operations of the enemy 30

Mullins (1921), S. 5; siehe ebenfalls Schwengler (1982), S. 72 ff. Zum War Crimes Commission Report siehe American Journal of International Law (AJIL), Bd. 14 (1920), S. 95 – 154. Vgl. ebenso Schwengler (1982), S. 71 – 124. 32 Mullins (1921), S. 6. 33 Die „Commission des responsabilités des auteurs de la guerre et sanctions“ bestand aus 15 Mitgliedern unter dem Vorsitz des U.S.-Außenministers Lansing. Scott (1921), S. 232 f. 34 Zu den Auseinandersetzungen zwischen den USA und der französischen Delegation siehe Willis (1982), S. 70 f. Im Weiteren kann auf die internen Auseinandersetzungen – z. B. um die Frage eines internationalen Tribunals – nicht näher eingegangen werden. Siehe hierzu Horne/Kramer (2004), S. 484 ff. 35 AJIL, Bd. 14 (1920), S. 112. 36 Für die Auflistung wurden Gräueltaten vieler Kriegsschauplätze herangezogen. So u. a. in Belgien, Frankreich, Griechenland, Serbien sowie aus polnischen und serbischen Memoranden. AJIL, Bd. 14 (1920), S. 112 f. „In spite of the explicit regulation, of established customs, and of the clear dictates of humanity, Germany and her allies have piled outrage upon outrage. […] it is impossible to imagine a list of cases so diverse and so painful.“ Ebenda. 37 Vgl. Askin (1997), S. 45; Schabas (2000), S. 17; Tillman (1961), S. 312. 38 US National Archives (NARA) Microfilm Series M-1891, Rolle 1. Vgl. auch AJIL, Bd. 14 (1920), S. 114 f.; UNWCC History (1948), S. 34 f.; Wiggenhorn (2005), S. 18 f. 31

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Kriegsverbrechen 10. 11.

Usurpation of sovereignty during military occupation Compulsory enlistment of soldiers among the inhabitants of occupied territory

12.

Attempts to denationalize the inhabitants of occupied territory

13.

Pillage

14.

Confiscation of property

15.

Exaction of illegitimate or of exorbitant contributions and requisitions

16.

Debasement of the currency, and issue of spurious currency

17.

Imposition of collective penalties

18.

Wanton devastation and destruction of property

19.

Deliberate bombardment of undefended places

20.

Wanton destruction of religious, charitable, educational, and historic buildings and monuments

21.

Destruction of merchant ships and passenger vessels without warning and without provision for the safety of passengers or crew

22.

Destruction of fishing boats and of relief ships

23.

Deliberate bombardment of hospitals

24.

Attack on and destruction of hospital ships

25.

Breach of other rules relating to the Red Cross

26.

Use of deleterious and asphyxiating gases

27.

Use of explosive or expanding bullets, and other inhuman appliances

28.

Directions to give no quarter

29.

Ill-treatment of wounded and prisoners of war

30.

Employment of prisoners of war on unauthorized works

31.

Misuse of flags of truce

32.

Poisoning of wells

In ihrer Begründung haben die 15 Bearbeiter angeführt: „Violations of the rights of combatants, of the rights of civilians, and of the rights of both, are multiplied in this list of most cruel practices which primitive barbarism, aided by all the resources of modern science, could devise for the execution of a system of terrorism carefully planned and carried out to the end.“39 Entsetzt konstatierte die Kommission, dass nicht einmal vor Frauen und Kindern halt gemacht wurde, um mit Terror und Härte jeden Widerstand in den besetzen Gebieten zu brechen: „Murders and massacres, tortures, shields formed of living human beings, collective penalties, the arrest and execution of hostages, the requisitioning of services for military purpose […] the destruction of merchant ships without previous visit and without any precautions for the safety of passengers and crew, […] attacks on hospital ships, the poisoning of springs and wells, […] deliberate destruction of industries with no other object 39

AJIL, Bd. 14 (1920), S. 113.

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than to promote German economic supremacy after the war, constitute the most shame of those who committed them.“40 Es wurde vor dem Hintergrund der vielfältigen Verbrechen angeregt, eine spezielle Kommission zur umfänglichen Erfassung von Kriegsverbrechen zu etablieren.41 „A commission should be created for the purpose of collecting and classifying systematically all the information already had or to be obtained, in order to prepare as complete a list of facts as possible concerning the violation of the laws and costumes of war committed by the forces of the German Empire and its Allies, on land, on sea and in the air, in the course of the present war.“42 So wie die Empfehlung formuliert war, sollte es sich um eine internationale Kommission handeln, denn anders hätte dieses Unterfangen nicht umgesetzt werden können. Zur lückenlosen Dokumentation aller Kriegsgräuel wäre jeder betroffene Staat in die Pflicht zu nehmen gewesen. Dazu ist es nicht gekommen. Aber die Idee an sich blieb im „kollektiven diplomatischen Gedächtnis“ verhaftet. Während des Zweiten Weltkrieg griffen die Alliierten und die Exilregierungen der von Deutschland besetzen Staaten den Faden wieder auf und gründeten die United Nations War Crimes Commission (UNWCC) 1943 in London.43 Die von der der Pariser Friedenskonferenz einberufene Kommission war noch für weitere Aufgaben zuständig. Unter anderem sollte sie „the responsibility for these offences attaching to the enemy forces, including members of the General Staffs and other individuals, however highly placed“ feststellen.44 Keine Position und kein militärischer Rang sollte von einer potenziellen Strafverfolgung ausgeschlossen werden – auch nicht ein Staatsoberhaupt. Selbst wenn auf nationaler Ebene die Strafverfolgung eines Staatsoberhauptes nicht vorgesehen sein sollte, wäre dies aus internationaler Sicht kein Verfahrenshindernis.45 Entsprechend schien die Einrichtung eines internationalen Gerichts eine vernünftige Entscheidung zu sein, denn der Respekt vor der Immunität eines Staatsoberhauptes „would shock the conscience of civilized mankind“46. Eine Entscheidung gegen eine strafrechtliche Verantwortung des Deutschen Kaisers47 würde zudem fatale Folgen für die Durchsetzung von Urteilen gegen weniger hochrangige Kriegsverbrecher mit sich bringen, denn dann könnte ein Angeschuldigter aus der Immunität des höchsten Vorgesetzen Straflosigkeit für sich selbst ableiten.48 Wenn der Kaiser verurteilt würde, wäre diese Verteidigungsstrategie obsolet. 40

Ebenda, S. 113 f. Ebenda, S. 114. 42 Ebenda, S. 115. 43 Form (2008), S. 238 f. UNWCC (1948). 44 AJIL, Bd. 14 (1920), S. 116. 45 Ebenda; vgl auch Garner (1920), S. 71 ff. 46 AJIL, Bd. 14 (1920), S. 116. 47 Kramer (2001), S. 75 f. 48 Ebenda, S. 117. 41

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Die Abgesandten der Alliierten und assoziierten Staaten nahmen die Anregungen der Kommission auf und vervollständigten in den darauffolgenden Wochen die Arbeiten an einem Friedensvertrag. Am Ende stand ein einzigartiges Regelwerk, dessen revolutionäre Artikel 227 – 230 eine neue Ära der internationalen Beziehungen begründeten: der Vertrag von Versailles vom 28. Juni 1919.49 Nach Art. 227 sollte der deutsche Kaiser unter Anklage gestellt werden. Dafür sollte ein besonderer Gerichtshof eingerichtet werden, „um über den Angeklagten unter Wahrung der wesentlichen Bürgschaften des Rechts auf Verteidigung zu Gericht zu sitzen. Der Gerichtshof besteht aus fünf Richtern, von denen je einer von folgenden fünf Mächten, namentlich den Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien, Frankreich, Italien und Japan, ernannt wird. Der Gerichtshof urteilt auf der Grundlage der erhabensten Grundsätze der internationalen Politik; Richtschnur ist für ihn, den feierlichen Verpflichtungen und internationalen Verbindlichkeiten ebenso wie dem internationalen Sittengesetze Achtung zu verschaffen. Es steht ihm zu, die Strafe zu bestimmen, deren Verhängung er für angemessen erachtet. Die alliierten und assoziierten Mächte werden an die Regierung der Niederlande das Ersuchen richten, den vormaligen Kaiser zum Zwecke seiner Aburteilung auszuliefern.“50 Man sah in Wilhelm II. den eigentlichen Kriegsschuldigen. Der britische Außenminister Lord George N. Curzon of Kedleston fasste zusammen, was wohl viele Politiker nach dem Ende des Ersten Weltkrieges dachten: „We know that the war was started by the Kaiser, and we have reason to believe that all the cruelty, the inequities, and the horrors that have been perpetrated, of not directly inspired by him, have been countenanced and in no way discouraged by him. In my view the Kaiser is the archCriminal of the world, and just as in any other sphere of life when you get hold of criminal you bring him to justice, so I do not see, because he is an Empire and living in exile in another country, why he should be saved from the punishment which is his due.“51 Allerdings konstruierten die Alliierten Artikel 227 unter Einschluss einer wesentlichen Unbekannten:52 Der deutsche Kaiser war in die Niederlande geflüchtet53 und befand sich deshalb nicht mehr im Zugriff der Alliierten. Die Niederlande waren im Übrigen im Ersten Weltkrieg keine Kriegspartei. Umso mehr erstaunt die Entscheidung, bei einer elementaren Forderung (Anklage des deutschen Kaisers) auf den 49 Vgl. Der Vertrag von Versailles (1978). Auf die schwierigen diplomatischen Verhandlungen zwischen den Alliierten und Deutschland kann hier nicht näher eingegangen werden. Siehe hierzu Schwengler (1982), S. 125 – 232; Hankel (2003), S. 19 – 40; Horne/Kramer (2004), S. 488 – 496. 50 Art. 227 Abs. 2 – 4Versailler Vertrag, RGBl. 1919, S. 980. Vgl. Garner (1920), S. 91 f. 51 Schwengler (1982), S. 74 f.; vgl. Schabas (2000), S. 17; Lloyd George (1938), S. 93 – 114. 52 Zusammenfassender Überblick siehe Brügel (1958). Zu den Diskussionen der Alliierten um die Unterangeklagestellung von Wilhelm II. und hochrangigen deutschen Militärs und Politikern vgl. Documents on British Foreign Policy 1919 – 1939 (1958). 53 Kramer (2001), S. 75 f.

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guten Willen eines unbeteiligten Akteurs zu bauen. Welche Notwendigkeit hätten die Niederlande gehabt, Wilhelm II. den Alliierten auszuliefern? Dazu hätte es zumindest eines Auslieferungsübereinkommens bedurft. Es war von vorneherein abzusehen, dass die Niederlande kein Interesse und Willen an der Umsetzung des Artikels 227 Versailler Vertrages hatten. Was sich nach der Unterzeichnung des Vertragswerkes auch bestätigte. Am 21. Januar 1920 lehnte die niederländische Regierung die Auslieferung Wilhelm II. ab.54 Bemerkenswert an der Antwortnote der niederländischen Regierung ist, dass sie explizit auf die grundsätzliche Sinnhaftigkeit der strafrechtlichen Verfolgung von Staatsoberhäuptern abstellte. „Wenn in Zukunft durch den Völkerbund eine internationale Rechtsprechung geschaffen werden sollte, die befugt wäre, im Falle eines Krieges über Tatsachen Recht zu sprechen, die durch ein vorher ausgearbeitetes Statut zu Verbrechen gestempelt und als solche sanktioniert sind, dann werden die Niederlande sich der neuen Ordnung der Dinge anschließen.“55 Androhungen der Alliierten, den Niederlanden z. B. einen Platz im Völkerbund zu verwehren, wenn sie der Auslieferung Wilhelm II. nicht zustimmen würden, sind wenig überzeugend. Zudem wurde in den Pariser Verhandlungen deutlich, dass selbst der Tagungsort eines Gerichts nicht einfach zu finden war.56 Artikel 227 war somit nicht nur auf tönernen Füßen gebaut, sondern er erscheint als von vorneherein nicht umsetzbar. Seinen Platz im Vertragskanon erhielt die Regelung naheliegender Weise, um möglichen Verteidigungsstrategien rangniedrigerer Angeklagten zu entgegnen sowie die Doktrin von der Immunität von Staatsoberhäuptern aufzuweichen. Die Forderung nach Ahndung von Kriegsverbrechen auf höchster Ebene war ohne Frage ein wichtiges Signal an die Weltgemeinschaft. Wer an der Spitze eines Staates stand, sollte für seine Stellung und die daraus erwachsende Politik persönlich belangt werden können. Ob dies mit den 1920 zur Verfügung gestandenen rechtlichen Zugängen überhaupt möglich gewesen wäre, kann hier nicht näher diskutiert werden.57 Dass die Problematik politisch brisant war, zeigen die Diskussionen um die Anklage des japanischen Kaisers nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Hirohito befand sich 1945 in Japan und trotzdem wurde er im internationalen Militärtribunal von Tokio nicht unter Anklage gestellt.58 Artikel 228 sah vor, dass die deutsche Regierung den alliierten und assoziierten Mächten die Befugnis einräumte, die wegen eines Verstoßes gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges angeklagten Personen vor ihre Militärgerichte zu stellen. Strafen sollten unter allen Umständen vollzogen werden und zwar ohne Rücksicht auf etwaige Verfahren vor Gerichten in Deutschland oder seiner Verbündeten. Deutschen Kriegsverbrechern sollte nicht die Möglichkeit gegeben werden, sich auf den 54

Overesch/Saal (1982), S. 86. Der Vertrag von Versailles (1978), S. 393. 56 Vgl. Brügel (1958), S. 264 f. 57 Vgl. Mecis/Reijntjes (2014); Sellers (2014). 58 Vgl. Kittel (2014), S. 25 ff.

55

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Grundsatz zu beziehen, der eine Doppelbestrafung (ne bis in idem) ausschloss.59 Artikel 228 regelte zudem die Auslieferungsfrage, wonach Deutschland verpflichtet war, allen einschlägigen Gesuchen der Alliierten nachzugeben (Art. 228 Abs. 2). Dabei musste ein mutmaßlicher Kriegsverbrecher nicht unbedingt per Namen genannt werden. Eine summarische Auflistung – etwa bezogen auf einen Rang oder eine Dienststellung in einem spezifischen Zusammenhang – reichte aus. Auch ein internationales Tribunal hätte für diese Kriegsverbrechergruppe eröffnet werden können. Wie dieses hätte aussehen können und vor allem, auf welcher Rechtsgrundlage es durchzuführen gewesen wäre, war nicht explizit geregelt. Zwar hatte eine Kommission im Rahmen der Ausarbeitung des Versailler Vertrages sich mit solchen Fragen auseinandergesetzt und forderte ein mit alliierten Richtern zu besetzendes „High Tribunal“,60 zusätzlich zu dem zur Aburteilung des deutschen Kaisers. „It would apply the principles of the Law of Nations as the result from the usages established among civilized peoples, from the Laws of Humanity, and from the doctrine of peoples conscience.“61 Drei Deliktgruppen62 hätten im Fokus stehen sollen: 1. Verbrechen gegen Zivilisten und Kombattanten wie z. B. in Kriegsgefangenenlagern. 2. Verbrechen von Vorgesetzen, deren Taten nicht nur auf einem Schlachtfeld stattfanden und die maßgeblich für den Kriegsverlauf Verantwortung zeichneten. 3. Alle anderen Verbrechen der feindlichen Nationen, deren Charakter nach nur vor einem „High Tribunal“ zu behandeln wären. Ein solches Gericht wurde nicht eingerichtet, es blieb ein Vorhaben, das erst nach dem Zweiten Weltkrieg umgesetzt werden sollte. Nicht zu vergessen sind die Bemühungen nach dem Inkrafttreten des Versailler Vertrags, einen internationalen Strafgerichtshof, parallel zum Internationalen Gerichtshof in Den Haag, zu etablieren: anlässlich der Konferenzen der International Law Association in Buenos Aires (1922), Stockholm (1924) und Wien (1926).63 Weitere Akteure nahmen die Fäden ebenfalls auf, beispielsweise anlässlich der Treffen der Union Interparlementaire in Bern und Washington, D. C. (1924 und 1925),64 der Association International du Droit Pénal65 oder im Rahmen einer Konferenz des Völkerbundes 1937.66 59

See Handbook International Human Rights (2004), S. 173. Siehe UNWCC Serie-II Nr. 3 v. 25. Februar 1944; National Archives, Washington (NARA) RG 238 entry 52Q box 1, folder 1, S. 5. 61 Ebenda. 62 Eine vierte betraf ausschließlich den deutschen Kaiser. Ebenda. 63 Siehe Segesser/Gessler (2005), S. S. 455. 64 Hier spielte der rumänische Jurist Vespasian Pella eine wichtige Rolle. Ebenda, S. 456. 65 In Brüssel 1926; De La Cuesta (2009), S. 16 ff. 66 Conference Regarding the Repression of Terrorism Deeds. Siehe Williamson (2009), S. 27. 60

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Artikel 229 verwies auf die Anwendung des Territorialitätsprinzips. Kriegsverbrecher sollten in den Ländern angeklagt werden, in denen sie ihre Straftaten begangen hatten (Art. 229 Abs. 1). Anders verhielt es sich in den Fällen, in denen sich keine eindeutige regionale Zuordnung nachweisen ließ, dann war nämlich ein internationales Militärtribunal einzusetzen (Art. 229 Abs. 2). Damit war im Grunde eine vergleichbare Marschrichtung vorgegeben wie 1943 mit der Moskauer Deklaration.67 Artikel 230. Den Alliierten war klar, dass sie ohne zusätzlich Unterlagen (Beweise, Dokumente, Befehle etc.) die Kriegsverbrecherprozesse schwerlich initiieren konnten. Deshalb verwiesen sie in Art. 230 explizit auf die Pflicht der deutschen Regierung, alle Urkunden und Auskünfte übergeben zu müssen. Soweit die Regelungen des Versailler Vertrages. Die Rechtswirklichkeit sah jedoch komplexer aus. Wie schon dargelegt, lehnten es die Niederlande ab, Wilhelm II. nach Deutschland auszuweisen.68 Damit brach bereits bis zu einem gewissen Grad die Legitimation, weitere potenzielle Kriegsverbrecher vor alliierte Gerichte oder ein Internationales Tribunal zu bringen, ein.69 Was andere Kriegsverbrecher anbelangte, so gab es insbesondere vom deutschen Militär vehemente Widerstände gegen jegliche Auslieferungen ins Ausland.70 Anfang Februar 1920 übermittelten die Alliierten eine Auslieferungsliste mit über 850 Personen – es handelte sich um die in ihren Augen am schwersten belasteten Kriegsverbrecher.71 Die meisten Männer sollten nach Frankreich und Belgien (jeweils über 300) ausgeliefert werden.72 Viele der angeführten Verbrechen ereigneten sich 1914 (grausame Behandlung von Zivilisten, Tötung von Kriegsgefangenen, Plünderungen, Brandstiftungen u. a.); darüber hinaus erfolgten während des gesamten Krieges Deportationen sowie Vergewaltigungen.73 Es entbrannte eine hitzige Diskussion um die Auslieferungsbegehren, die zudem Brisanz gewann, weil Deutschland schon Ende 1919 einen Weg beschritten hatte, der die Artikel 227 bis 230 zu unterlaufen drohte – bzw. strukturell in Frage stellte. Zum einen wurde von der deutschen Regierung auf eine generelle Gefahr für die politische Ordnung – mit anderen Worten linke bzw. rechtskonservative Umsturzängste – hingewiesen.74 Sollten sich diese bewahrheiten, wären Reparationsleistungen gefährdet. Jede politische Veränderung würde letztendlich zu einem Aussetzen oder gar Abbre-

67

Form (2008), S. 236. Kramer (2001), S. 75 f. 69 Horne/Kramer (2004), S. 498. 70 Schwengler (1982), S. 246 ff. 71 Schweling (1982), S. 303 ff.; Hankel (2003), S. 41; Wiggenhorn (2005), S. 57 ff. 72 Hankel (2003), S. 41; Horne/Kramer (2004), S. 500, sowie Appendix 4, S. 656 f. 73 Horne/Kramer (2004), Appendix 4, S. 656 f. 74 Die Alliierten durchschauten die in ihren Augen wenig sachliche Diskussion: „There was a danger that Germany might turn to Bolshevism, which, indeed, was partly a product of the German mind.“ So der italienische Ministerpräsident Francesco Saverio Nitti; Documents on British Foreign Policy (1958), S. 11 f. 68

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chen der monetären Verpflichtungen aus dem Versailler Vertrag führen.75 Zum anderen erließ die Verfassungsgebende Nationalversammlung am 18. Dezember 1919 ein Gesetz zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Kriegsvergehen (KriegsverbrechenG).76 § 1 regelte die Zuständigkeit des Reichsgerichts für die Untersuchung und Entscheidung von während des Ersten Weltkrieges bis zum Vertrag von Versailles begangenen Verbrechen und Vergehen, die ein Deutscher im In- und Ausland gegen feindliche Staatsangehörige oder deren Vermögen begangen hatte. Es musste allerdings eine Ausdehnung der Strafgewalt des deutschen Strafrechts auf andere Staaten vorgenommen werden (§ 2 KriegsverbrechenG). Die Verfahren sollten nach den für das Reichsgericht üblichen erstinstanzlichen Prozessen ablaufen.77 Es wurde kein eigener „Kriegsverbrecher“-Senat eingerichtet, sondern die regulären Strafsenate blieben zuständig (§ 4 Abs. 2 KriegsverbrechenG). Kriegsdelikte wurden analog dem deutschen Strafrecht in Verbrechen und Vergehen untergliedert. Dies hatte zur Folge, dass nicht alle inkriminierten Handlungen automatisch zu Verbrechen wurden. Nach dem Strafgesetzbuch waren Verbrechen mit Festungshaft über fünf Jahre, mit Zuchthaus oder mit dem Tode zu ahnden (§ 1 Abs. 1 StGB). Ein Vergehen hingegen wurde mit Gefängnis (ein Tag bis fünf Jahre), Festungshaft (weniger als fünf Jahre) oder Geldstrafe (über 150 Reichsmark) bestraft (§ 1 Abs. 2 StGB). Somit waren die Prozesse vor dem Reichsgericht keine Kriegsverbrechensprozesse im eigentlichen Sinn. Vergleicht man die Sprachregelung der Alliierten – wonach durchgängig mit dem Verbrechensbegriff operiert wurde –, fällt diese Besonderheit sofort auf.78 Verbrechen bestimmt nach der aus dem französischen Recht stammenden Systematik die schwerste Form einer Straftat (franz. crime). Dem gegenüber steht die minderschwere Form der Tatbegehung, das Vergehen (franz. délit). Wenn im Gesetz vom 18. Dezember 1919 die Unterscheidung in Verbrechen und Vergehen gemacht wurde, dann musste dies Auswirkungen auf die Urteilsfindung des Reichsgerichts haben. Wären alle strafbaren Handlungen ausschließlich Verbrechen gewesen, hätte dies zu einer Mindeststrafe von einem Jahr Zuchthaus führen müssen. Damit wären nach deutschem Recht aber noch weitere Folgen zu erwarten gewesen, wie zum Beispiel die Entziehung der bürgerlichen Ehrenrechte oder die so genannte Wehrunwürdigkeit. Justizminister Scheffer brachte das Gesetz Anfang Dezember 1919 mit der Intention in die politische parlamentarische Diskussion ein, dem Reichsgericht die Ahndung von Kriegsverbrechen und -vergehen zu übertragen. Auch dies wurde als Zeichen an die Alliierten bewertet, denn man gestand ein, dass es strafwürdige deutsche 75

Schwengler (1982), S. 298 f. RGBl. 1919, S. 2125 f. 77 § 3 Kriegsverbrechergesetz. Die Verfahrensregeln waren gleich den Staatsschutzdelikten (z. B. Hochverrat). 78 Auch in der Literatur wird bei Verstößen gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges durchgehend von schweren Straftaten, also von Verbrechen, ausgegangen. Schwegler (1982) im Untertitel; Hankel (2003) im Untertitel; Horne/Kramer (2004), S. 506; Wiggenhorn (2005) im Untertitel. 76

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Kriegsgräuel gegeben habe.79 Das Reichsgericht war die einzige höchstrichterliche Alternative, denn eine Militärgerichtsbarkeit (Reichskriegsgericht) existierte nicht mehr.80 Durch das Gesetz vom 18. Dezember 1919 ergaben sich auch strafrechtsdogmatische Probleme: 1) Welche Rechtsgrundlagen sollten Anwendung finden, denn weder das deutsche Strafgesetzbuch noch das Militärgesetzbuch kannte völkerrechtliche Verbrechen. 2) Die Strafverfolgung richtete sich ausschließlich gegen deutsche Täter, auch wenn Ausländer (Alliierte) im Geltungsbereich deutschen Rechts Straftaten begangen hatten.81 Die Diskussion in der Nationalversammlung über das Kriegsverbrechergesetz verlief emotional aufgeladen.82 Der nationalliberale Abgeordnete und Rechtswissenschaftler Wilhelm Kahl brachte es auf den Punkt: Wird ein dauerhaftes Aussetzen des Artikels 228 nicht erreicht, so hat das Kriegsverbrechergesetz seinen Zweck nicht erfüllt und muss zurückgenommen werden.83 Bei der Gesetzesinitiative handelte es sich demnach nicht um den Versuch, Kriegsgräuel ahnden zu wollen, sondern alleine um ein Mittel zum Zweck.84 Als aus der Mitte der Parlamentarier der Hinweis kam, dass es sich wohl um nichts anderes handele, als um den späten Versuch einer Einigung über die Auslieferungsfrage mit den Alliierten,85 wurde dies von der Regierung vehement zurückgewiesen.86 Es gab einen interessanten Änderungsantrag von Oskar Cohn (Unabhängige Sozialdemokratische Partei). Er plädierte für die Einsetzung eines Volksgerichts, das mehrheitlich aus Nichtjuristen bestehen sollte.87 Dem Antrag wurde nicht gefolgt und das vorgeschlagene Gesetz am Ende der Beratungen am 13. Dezember 1919 einstimmig angenommen.88 Umgehend wurden die Alliierten über den neuen Sachstand unterrichtet.89 79

Wiggenhorn (2005), S. 7. Artikel 106 Weimarer Reichsverfassung, 11. August 1919; RGBl. 1919, S. 1404, Gesetz betrifft Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit, 17. August 1920. Reichgesetzblatt 1920, S. 1579 – 1587. 81 Vgl. Kramer (2001), S. 79 ff.; Willis (1982), S. 1 – 125. 82 Vgl. Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 331. Stenographischer Bericht der 129. Sitzung 13. Dezember 1919, S. 4041 – 4048. 83 Wiggenhorn (2005), S. 51. 84 Ebenda, S. 52; vgl. Wittmaack (1920); Feilitsch (1920), S. 20 – 33. 85 Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 331. Stenographischer Bericht der 129. Sitzung 13. Dezember 1919, S. 4043: „Die zeitliche Verbindung dieses Gesetzes mit den Verhandlungen, in denen das Reich jetzt außenpolitisch steht, kann und darf nicht übersehen werden (…). Das Gesetz kann die Wirkung haben (…), strafbare Handlungen, die im Gebiete der gegnerischen Mächte begangen worden sind, durch deutsche Gerichte aburteilen zu lassen und nicht durch fremdländische.“ 86 Ebenda, S. 4044 f. (Scheffer, Justizminister), S. 4046 (Müller, Außenminister); vgl. Wiggenhorn (2005), S. 45 ff. 87 Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung, vol. 331. Stenographischer Bericht der 129. Sitzung 13. Dezember 1919, S. 4041. 88 Ebenda, S. 4048. 89 Wiggenhorn (2005), S. 48. 80

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Kurz nach dem Inkrafttreten des Gesetzes vom 18. Dezember 1919 verständigten sich die Alliierten und Deutschland nach langem und zähem Ringen auf die Umsetzung des Versailler Vertrages zum 10. Januar 1920. Wie Artikel 3 des Schlussprotokolls regelte, hatten die Alliierten nunmehr einen Monat Zeit, um Auslieferungslisten zu übergeben.90 Aus den Reihen des Militärs wurden schon im Vorfeld Bestrebungen unternommen, potenziell betroffenen Offizieren beim Untertauchen oder bei der Flucht ins Ausland zu helfen.91 Es lässt sich sogar die Gefahr eines Militärputsches belegen und es gab selbst Pläne, den Krieg wieder aufflammen zu lassen.92 Gleichzeitig versuchte die deutsche Diplomatie den Alliierten zu erläutern, dass es aktuell unmöglich sei, die Auslieferung administrativ umzusetzen. Auch zeigte sich die Reichsregierung über die Nennung von Prominenten wie Paul von Hindenburg, Erich Ludendorff und anderen hohen Würdenträgern aus Militär, Politik und Adel brüskiert. Die Situation schien zu eskalieren. Bewusst der prekären politischen Situation gingen Politiker der Enquete relativ schnell auf abwartende Distanz93 oder plädierten dafür, eine deutsche Lösung zu finden. „Würden sie dies ordentlich tun, so wäre das eine Hilfe für die Alliierten.“94 Letztendlich erwies sich der deutsche Schachzug, ein Gesetz zur Ahndung von Kriegsverbrechen und -vergehen zu schaffen, als Vorteil für alle Seiten, da dadurch keiner Partei ein Gesichtsverlust drohte.95 Die Strafverfolgung von Kriegsverbrechen durch alliierte Militärgerichte war nach Artikel 228 Versailler Vertrag möglich, aber nicht zwingend vorgesehen: „Die deutsche Regierung räumt den alliierten und assoziierten Mächten die Befugnis ein, die wegen eines Verstoßes gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges angeklagten Personen vor ihre Militärgerichte zu stellen“ (Art. 228, Abs. 1).96 Ein Automatismus ergab sich aus dieser Formulierung jedoch nicht. Am 17. Februar 1920 kam die erlösende Nachricht vom Britischen Außenminister David Lloyd George an Reichspräsident Friedrich Ebert. Die Siegermächte erklärten sich bereit, das Angebot Deutschlands97 zu akzeptieren. Alle auf den Auslieferungslisten verzeichneten Deutschen könnten unverzüglich vor dem Reichsgericht angeklagt werden.98 Lloyd George betonte ausdrücklich, dass sich der gemeinsame Entschluss zum Versailler Vertrag absolut konform verhalten würde.99 Gleichzeitig 90

Ebenda, S. 53. Ebenda, S. 55; Schwengler (1982), S. 295. 92 Schwengler (1982), S. 314 ff. 93 Hankel (2003), S. 48. 94 So der italienische Ministerpräsident Francesco Saverio Nitti laut Brügel (1958), S. 266. Siehe im Original Documents on British Foreign Policy (1958), S. 12. 95 Schwengler (1982), S. 316 f.; Wiggenhorn (2005), S. 6 f.; Willis (1982), S. 124 ff. 96 RGBl. 1919, S. 981. 97 25. Januar 1920, Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 341, S. 2391. 98 Ebenda. 99 Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 341, S. 2391. 91

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sicherten die Alliierten Deutschland zu, sich nicht in ihre Rechtsprechung einzumischen und „so der deutschen Regierung ihre volle und ganze Verantwortlichkeit zu belassen“100. Allerdings wiesen sie auch darauf hin, die Verfahren in Leipzig wachsam zu beobachten und es sich nicht nehmen zu lassen, den bekundeten Ahndungswillen an der Rechtsprechung zu verifizieren. Sollte es darauf hinauslaufen, dass die deutsche Justiz die Täter nicht ihren Taten entsprechend verurteile, könne die gewährte Gunst auch wieder entzogen werden.101 Was jetzt folgen müsse, wäre die Festnahme aller benannten Beschuldigten. Um die Reichsanwaltschaft bei ihren Ermittlungen zu unterstützen, wurde die Einrichtung einer alliierten Kommission erwogen, die Beweise für Kriegsverbrechen zusammentragen und an Deutschland übergeben sollte.102 Claus Kreß bezeichnet die Situation als horizontale Komplementarität, die in ihrer Wirkung umfänglicher war, als die so genannte vertikale Komplementarität des Statuts von Rom.103 Die Alliierten hatten die Möglichkeit Prozessbeobachter nach Leipzig zu entsenden und, wie schon angedeutet, den Vorbehalt, die Verfahren doch selbst durchzuführen. Man kann allerdings Bedenken gegenüber der Vergleichbarkeit postVersailler Komplementarität und der Jurisdiktion des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) anmelden. Die politischen und auch rechtlichen Positionen könnten verschiedener nicht sein. Der IStGH basiert auf einem internationalen Vertrag (Statut von Rom), der vor dem Eintritt der zu verhandelnden Verbrechen ausgehandelt wurde. Das Gericht ist weder den Vertragsstaaten in seiner Arbeit verantwortlich, noch ist es den Vereinten Nationen unterstellt. Auch gibt es keine Konfliktpartei, die Einfluss auf die Durchführung von Prozessen nehmen könnte. Anders ist das Verhältnis zwischen Deutschland (Reichsgericht) und den Alliierten. Die Positionen waren klar verteilt: Die Alliierten konnten ohne festgelegte Regeln (im Statut von Rom als Auslösemechanismen und Zuständigkeiten kodiert104) eigene Verfahren eröffnen und sie so dem Reichsgericht entziehen. Hier kommt es nicht in erster Linie auf komplementäre Ausrichtung (horizontal oder vertikal) an, sondern auf binnenstrukturelle Dynamiken. Den Alliierten kamen die in Aussicht gestellten Leipziger Verfahren unter dem Aspekt einer fehlenden oder zumindest sehr schleppenden Auslieferung deutscher Kriegsverbrecher in einer Hinsicht zupass. Ihnen wäre im Grunde wenig anderes 100 Ebenda. Es gab allerdings auch Stimmen, die die Möglichkeit einer internationalen, vom Völkerbund einzusetzenden Rechtsmittelinstanz ins Spiel brachten, um deutsche Verfahren überprüfen zu können. Vgl. Brügel (1958), S. 267. 101 Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 341, S. 2392; der französische Text lautet: „Les Puissances se réservent d’apprécier si les procédures proposées par l’Allemagne pour assurer suivant elle aux inculpés toutes les garanties de la justice n’ont pas en définitive pour effet de les soustraire au juste châtiment de leurs forfaits. Les Alliés exerceraient leurs propres tribunaux.“ 102 Ebenda. 103 Kreß (2006), S. 16 (insbesondere Anm. 12). 104 Artikel 13 und 17 Statut von Rom.

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übrig geblieben, als, in Ermangelung an physischer Anwesenheit deutscher Angeklagter, Prozesse in absentia zu führen. Viele solcher Prozesse wären nicht nur unwirksam, sondern gleichfalls als Ohnmacht gewertet worden.105 Anders als „50, 80 or 100“106 deutsche Verfahren. Zudem dürfe auch nicht vergessen werden, dass mehr auf dem Spiel stünde, als lediglich die Verurteilung von Kriegsverbrechern zu forcieren. Es ginge vor allem darum, die Gräueltaten der Deutschen im kollektiven Gedächtnis der Welt zu verankern. Mit anderen Worten: Verfahren mussten durchgeführt werden, egal ob unter deutscher, alliierter nationaler oder internationaler Verantwortung.107 Nun konnte Deutschland nicht mehr zurück und musste mit den angekündigten Verfahren beginnen. Zuvor sollten noch Konkretisierungen des Kriegsverbrechergesetzes vorgenommen werden. Am 24. März 1920 verabschiedete die Deutsche Nationalversammlung das Gesetz zur Ergänzung des Gesetzes zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und -vergehen.108 Es wurden Amnestieregelungen geglättet sowie Wiederaufnahme- und Verjährungsproblematiken (§ 2) ausgeräumt.109 Weitere Regelungen waren offenkundig zum „Wohl“ der Beschuldigten in das Gesetz aufgenommen worden. Zum einen konnte der Oberreichsanwalt beantragen, ein Verfahren einzustellen, wenn er zur Überzeugung gelangt war, dass die Beweise für eine Verurteilung nicht ausreichen würden. Aus heutiger Sicht gänzlich unverständlich ist § 4, wonach bei einer Verurteilung die Kosten des Verfahrens ganz oder teilweise vom Staat bezahlt werden konnten.110 Durch die Aussetzung der Strafprozessordnung wurde das Prozessrisiko deutlich gemindert. Es war zugleich ein deutliches Signal an alle Beschuldigten, eine andere rechtliche Behandlung als „normale“ Kriminelle zu erfahren. Da bei einer Verurteilung Gerichtskosten für einen Angeklagten anfallen und im Fall eines Freispruchs immer die Staatskasse belastet wurde, kann die Sonderbehandlung von Kriegsverbrechen und -vergehen nur als eine Entschuldigung des Staates verstanden werden. Im Grunde begann die „Farce Leipziger Prozesse“ schon Monate vor dem ersten Verfahren. Bereits im März 1920 hätte es den Alliierten deutlich sein müssen, dass der Ahndungswille Deutschlands dahin zu tendieren drohte, einen rein symbolischen Charakter anzunehmen. Noch galt die Auslieferungsliste vom Februar 1920. Im Mai 1920 erhielt Deutschland eine neue Arbeitsgrundlage: 45 Namen wurden mit dem Hinweis zusammengestellt, nun zügig mit den Prozessen zu beginnen.111 Die Liste war das Ergebnis 105

So der Italiener Francesco Saverio Nitti anlässlich einer alliierten Konferenz am 12. Februar 1920 in London. Documents on British Foreign Policy (1958), S. 15. 106 Lord Curzon (Secretary of State, United Kingdom); ebenda, S. 14. 107 So der Franzose Millerand auf der gleichen Konferenz; ebenda, S. 15. 108 RGBl. 1920, S. 341 ff. Zur parlamentarischen Diskussion siehe Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 332, S. 4659 – 4674, sowie 4694 – 4702. 109 RGBl. 1918, S. 1415. 110 Vgl. Wiggenhorn (2005), S. 65. 111 Hankel (2003), S. 56.

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der zwischenzeitlich eingesetzten interalliierten Kommission und galt, so wurde verlautbart, als eine „Probeliste“ zum Test für die Ahndungsbereitschaft der Deutschen. Da, bis auf General Feldmarschall Karl W. v. Bülow, keine „großen Namen“ gelistet wurden, kann durchaus angenommen werden, dass die oberste Heeresführung aus der Schusslinie genommen werden sollte.112 Zwischen 1921 und 1927 entschied das Reichsgericht in Hunderten von Fällen wegen Kriegsverbrechen und -vergehen. Allerdings kam es nur zu 12 Prozessen mit insgesamt 17 Angeklagten (siehe Übersicht 2). „Der weitaus größte Teil wurde entweder in nichtöffentlicher Sitzung durch Beschluss oder vom Oberreichsanwalt durch Verfügung eingestellt.“113 Es lassen sich drei Verfahrenscluster festhalten: 1) Januar 1921, 2) Mai bis Juli 1921 und 3) Juli bis November 1922. Der erste Prozess fand am 10. Januar 1921 statt. Allerdings handelte es sich nicht um Angeklagte aus der alliierten Liste. Zudem war der Tatvorwurf eher lapidar. Es ging um den Diebstahl von 800 Reichsmark und einiger Wertgegenstände.114 Sicherlich hatten sich vergleichbare Taten während der Besatzung Belgiens vielfach abgespielt.115 Was die Alliierten eigentlich als Kriegsverbrechen verurteilt haben wollten, sah anders aus: killing of civilians, rape, ill-treatment of POWs and civilians, pillage, arson, massacres, felonious orders, cannonade of unfortified cities and towns, cultural abhorrence, atrocities in POW camps, deportations, forced labour and crimes on the sea.116 Trotz dieses Sachverhalts wurden im Verfahren gegen Lottmann und andere die höchsten Strafen von allen Leipziger Prozessen verhängt (vier bzw. fünf Jahre Zuchthaus). Das öffentliche Interesse am Prozess war verhältnismäßig groß.117 Viele Tageszeitungen berichteten, – allerdings enthielten sie sich, bis auf die Presse der politischen Linken, einer kritischen Kommentierung.118 Vor allem die deutschen Politiker und Militärs beobachteten den Prozess aufmerksam, waren sie sich doch der Brisanz des Verfahrens bewusst. Für das weitere Vorgehen einigten sich die ministeriellen Spitzen der Regierung auf einen Modus für die weiteren Prozesse: wenn möglich sollten Fälle, die offensichtlich zu einer Verurteilung führen würden, sich mit weniger eindeutigen abwechseln.119 Zudem würde die „Probeliste“ vom Mai 1920 als Referenz dienen. Vor dem Hintergrund des Tatgeschehens im Fall Lottmann u. a. und bei den auf der „Probe112

Schwengler (1982), S. 341 ff. Hankel (2003), S. 91. 114 Schwengler (1982), S. 345. 115 Leider können viele Einzelfälle heute nicht mehr rekonstruiert werden, da ein Großteil der Prozessunterlagen beim Brand des Heeresarchivs vernichtet worden ist. Laut Hankel soll es sich um ca. 1.500 Verfahren gehandelt haben. Hankel (2003), S. 91, Fn. 1. 116 Vgl. Horne/Kramer (2004), S. 656 – 657, Annex 4. 117 Hankel (2003), S. 97; Schwengler (1982), S. 345. 118 Hankel (2003), S. 97; Schwengler (1982), S. 345. 119 Schwengler (1982), S. 345. 113

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liste“ verzeichneten Verbrechen müsste man eigentlich davon ausgehen können, dass die noch zu erwartenden Strafen deutlich höher ausfielen. Doch dazu sollte es nicht kommen. Im zweiten Prozesscluster reichte der Oberreichsanwalt im Frühjahr 1921 neun Anklageschriften ein (siehe Übersicht 2). Zuständig wurde der 2. Senat des Reichsgerichts. Auch gegen einige der Beschuldigten aus der Auslieferungsliste vom Februar 1920 wurde Anklage erhoben.120 In weiteren fünf Fällen beantragte die Anklagebehörde die Einstellung des Verfahrens. Praktisch zeitgleich erreichte die deutsche Regierung eine Note der Alliierten, in der unter anderem auf die schleppende Bearbeitung der Kriegsverbrecherprozesse hingewiesen wurde.121 Die Alliierten forderten die unverzügliche Anklage von mehr Beschuldigten. Deutschland wurde ein Ultimatum gesetzt und bei Nicht-Befolgung damit gedroht, dass das Rheinland besetzt würde. Umgehend nahm die Reichsregierung das Ultimatum an.122 Es gab aber einen Passus in den Rechtsgrundlagen, der der Forderung einer schnellen Anklage der 45 auf der „Probeliste“ verzeichneten Beschuldigten entgegen stand: Art. 1 § 1 Abs. 1 des Ergänzungsgesetzes vom 24. März 1920. War der Oberreichsanwalt zu der Überzeugung gelangt, gegen die Beschuldigten lägen nicht genügend Beweise für ihre Schuld vor, so musste er beim Reichsgericht einen Antrag auf Einstellung des Verfahrens stellen. Eine Anklageerhebung nur auf der Grundlage der Einschätzung der Alliierten („Probeliste“) war nicht vorgesehen. Dies bot aber eine direkte Flanke für weitere Kritik der Alliierten. Das zweite Ergänzungsgesetz zum Kriegsverbrechergesetz vom 12. Mai 1921123 entschärfte die bisherigen Regelungen. Der Oberreichsanwalt konnte auch ohne ausreichende eigene Überzeugung von der Schuld der Angeklagten die Eröffnung der Hauptverhandlung beim Reichsgericht beantragen. Dies war offensichtlich eine Maßnahme zur Beruhigung der angespannten Beziehungen124 und zudem nicht mehr als Augenwischerei, denn wie sollte es angehen, dass ein Ankläger eine Strafsache vertritt, bei der er von der Unschuld des Beschuldigten überzeugt war? Dieser Eindruck verdichtete sich wegen der vielen Freisprüche (in 7 von 17 Fällen). Oberstleutnant Karl Neumann zum Beispiel wurde freigesprochen, obwohl er als U-Boot Kommandant die Verantwortung für den Tod von sechs Matrosen trug. „In der aufgrund des Art. 228 Abs. 2 des Friedensvertrags (…) von den alliierten Mächten mitgeteilten Liste wird ihm zur Last gelegt, am 26. Mai 1917 das englische Lazarettschiff ,Dover Castle‘ ohne Warnung torpediert und es unter Anwendung außerordentlicher Rohheit versenkt zu haben.“125 Das Gericht weist im Urteil ausdrücklich darauf hin, dass die Hauptverhandlung nach der neuen Regelung vom Mai 1921 120

Hankel (2003), S. 98. Schwengler (1982), S. 346, Fn. 15. 122 Ebenda. 123 RGBl. 1921, S. 508. 124 Wiggenhorn (2005), S. 141 f. 125 Urteil Karl Neumann, S. 1; Verhandlungen des Reichstags, I. Wahlperiode 1920, Bd. 368, S. 2556. 121

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anberaumt wurde. Es kann als gesichert gelten, dass es ohne die Novellierung des Kriegsverbrechergesetzes nicht zu diesem Prozess gekommen wäre. Harald Wiggenhorn formuliert es so: „Vielmehr formte es ein Verfahren bloß im Gewand des ordentlichen Strafprozesses und zielte ausschließlich auf einen Freispruch. (…) Der Begriff des Schauprozesses muss somit um einen Aspekt ergänzt werden. Es gibt nicht nur den Schauprozess gegen, sondern auch den Schauprozess für einen Beschuldigten.“126 Inwieweit Abweichungen von der Strafprozessordnung überhaupt zulässig waren, kann hier nicht näher dargelegt werden.127 In einem Verfahren wurden beide möglichen strafprozessualen Varianten angewandt: Generalleutnant Karl Strenger128 stand ohne Anklage der Oberreichsanwaltschaft vor dem Reichsgericht. Der zweite im selben Prozess, Major Benno Crusius, hingegen wurde angeklagt. Für Sprenger erfolgte ein Freispruch und Crusius erhielt eine Gefängnisstrafe von zwei Jahren.129 Auch in den beiden weiteren „anklagelosen“ Prozessen (gegen Adolf Laule130 und Hans Schack/Benno Kruska131) urteilte das Gericht erwartungsgemäß mit Freisprüchen. Vor diesem Hintergrund erlangt die oben zitierte Bewertung Wiggenhorns, es handele sich um einen Schauprozess für Angeklagte, seinen empirischen Beleg. Mehr noch, diese Verfahren zeigen ein weiteres Puzzle der „Farce Leipziger Prozesse“ auf: Den strikten Willen zum Freispruch. Die Angeklagten der drei von Großbritannien veranlassten Prozesse wurden beschuldigt, für Misshandlungen von Kriegsgefangenen (u. a. Zwangsarbeit) verantwortlich zu sein.132 Heynen, Müller und Neumann sollen brutale Gewalttätigkeiten begangen haben und hatten die Verantwortung für miserable Lebensbedingungen in Lagern – Kriegsgefangene waren in der Folge ums Leben gekommen.133 Zwischen der Beweislage der Briten und den gerichtsrelevanten Fakten des Reichsgerichts lagen Welten. Im Fall Müller z. B. sahen die Richter die Verantwortung für den Zustand des ihm unterstellten Lagers nicht bei ihm, sondern bei seinen Vorgesetzen. Und auch bei den Engländern selbst: „Das Lager, welches den Engländern soeben erst bei der so genannten Märzoffensive abgenommen (…) worden war, befand sich in einem erbärmlichen Zustand.“134 Im Grunde wurden die Argumente der Alliierten nicht wirklich ernst genommen, die Fakten herunter gespielt und Verantwort126

Wiggenhorn (2005), S. 141. Ebenda, S. 140 – 147. 128 Urteil Strenger/Crusius, S. 2. Verhandlungen des Reichstags, I. Wahlperiode 1920, Bd. 368, S. 2564. 129 Verhandlungen des Reichstags I. Wahlperiode 1920, Bd. 368, S. 2563 – 2572. 130 Ebenda, S. 2572 ff. 131 Ebenda, S. 2573 – 2579. 132 Ebenda, S. 2543 – 2556; Hankel (2003), S. 333 – 341. 133 Hankel (2003), S. 333. 134 Urteil Emil Müller, S. 2; Verhandlungen des Reichstags, I. Wahlperiode 1920, Bd. 368, S. 2548. 127

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lichkeiten auf Personen übertragen, die nicht greifbar waren. Die Strafen zwischen sechs und zehn Monaten Gefängnis fielen sehr niedrig aus. Hier zeigt sich ein offenbares Ungleichgewicht zu den Strafen im ersten Prozess wegen der 800 RM. Die gerichtlichen Bewertungsschemata funktionierten bei Kriegsverbrechen, die eine Entsprechung in Friedenszeiten hatten, reibungslos. Anders war es allerdings bei Kriminalität, wenn sie kriegsbedingt war. Auffällig oft argumentierten die Richter mit einem Rückbezug auf das Verhalten der gegnerischen Seite oder auf das Pflichtbewusstsein eines Angeklagten: „Immerhin waren seine Ausschreitungen (…) nur Ausfluss seines Diensteifers (…). Es waren Rücksichtslosigkeiten und Härten, nicht überlegte Grausamkeiten, und sie entsprangen (…) nicht einer Lust an Quälereien (….) oder (…) einer bewussten Hinwegsetzung über die Gesetze der Menschlichkeit.“135 Die von den Alliierten als Kriegsverbrechen bewerteten Vorkommnisse erscheinen bei Gericht als eine „normale“ Begleiterscheinung bewaffneter Konflikte und werden dementsprechend eher milde bewertet. Übersicht 2 Verfahren wegen Kriegsverbrechen und -vergehen vor dem Reichsgericht 10. 1. 1921

Dieter Lottmann (Soldat) Paul Niegel (Soldat) Paul Sangershausen

Plünderung

5 Jahre Zuchthaus 4 Jahre Zuchthaus 2 Jahre Gefängnis

28. 5. 1921

Karl Heynen (Unteroffizier)

Misshandlung Untergebener

10 Monate Gefängnis

30. 5. 1921

Emil Müller (Hauptmann)

Misshandlung und Beleidigung Untergebener

6 Monate Gefängnis

2. 6. 1921

Robert Neumann (Soldat)

Misshandlung und Beleidigung Untergebener

6 Monate Gefängnis

4. 6. 1921

Karl Neumann (Oberstleutnant)

Ermordnung von Soldaten

Freispruch

11. 6. 1921

Max Ramdohr

Verhaftung von Kindern, Körperverletzung

Freispruch

6. 7. 1921

Karl Stenger (Generalleutnant) Benno Crusius (Major)

Vorgesetzenverantwortlichkeit, Totschlag

Freispruch 2 Jahre Gefängnis

7. 7. 1921

Adolf Laule (Leutnant)

Ermordnung eines Soldaten

Freispruch

9. 7. 1921

Hans v. Schack (Generalleutnant)

Vorgesetzenverantwortlichkeit, Mord

Freispruch Freispruch

135

Urteil, S. 7; ebenda, S. 2552.

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Wolfgang Form Übersicht 2 (Fortsetzung) Benno Kruska (Generalmajor)

Vorgesetzenverantwortlichkeit, Mord

16. 7. 1921

Ludwig Dithmar John Boldt

Totschlag (Gehilfe) Totschlag (Gehilfe)

4 Jahre Gefängnis 4 Jahre Gefängnis

3. 7. 1922

Dr. Oskar Michelsohn

Ermordung von Kriegsgefangenen

Freispruch

17.11. 1922

Karl Grüner

Plünderung, Raub

2 Jahre Zuchthaus

Quellen: Hankel (2001), S. 9 ff., 108 – 151, 301 – 320 sowie 316 – 451; Schwengler (1982), S. 345 – 359; Wiggenhorn (2005), S. 153 – 283, 329 – 341, sowie 350 ff.; Verhandlungen des Reichstags, I. Wahlperiode 1920, Bd. 368, S. 2543 – 2586.

Der letzte und vielleicht spektakulärste Leipziger Prozess ist wohl auch der bekannteste: der Llandovery Castle Fall.136 Der Kommandant des deutschen U-Bootes U 86 (Helmut Patzig) stand an erster Stelle der „Probeliste“ vom Mai 1921. Den Briten war besonders an seiner Verurteilung gelegen. Er hatte am 27. Juni 1918 das Lazarettschiff Llandovery Castle torpediert und versenkt. Der Dampfer brachte verwundete kanadische Soldaten in ihre Heimat. „Das Schiff wurde diesem Zweck entsprechend eingerichtet und mit den Kennzeichen versehen, die das (…) Haager Abkommen (…) für militärische Lazarettschiffe vorschreibt. Sein Name wurde den gegnerischen Mächten mitgeteilt.“137 Ende Juni 1918 machte sich das Schiff vom kanadischen Halifax auf dem Weg nach England. An Bord waren, neben 164 Mann Besatzung, 80 Sanitätssoldaten und 14 Krankenschwestern. Am 27. Juni 1918 versenkte U 86 die Llandovery Castle mit einem Torpedo. Von den 258 Personen überlebten nur 24, 234 kamen ums Leben. „Interrogations of survivors established that there had been no nonmedical personnel aboard, apart from the crew. In order to eradicate all evidence of his misdeed, he and two of his officers proceeded to machine gun the hospital ship’s lifeboats with the result that only one lifeboat escaped and survived.“138 Nach dem geltenden Völkerrecht war es U-Booten untersagt, Lazarettschiffe zu torpedieren.139 Was diesen Fall so bedeutend machen sollte140 war der Umstand, dass 136 Vgl. Wiggenhorn (2005), S. 256 – 283; Hankel (2003), S. 452 – 70; 500 – 5; Schwengler (1982), S. 348 – 359. Im Detail: National Archives Kew, London TS 26/907, S. 1 – 30. 137 Urteil Dithmar/Boldt, S. 2; Verhandlungen des Reichstags, I. Wahlperiode 1920, Bd. 368, S. 2580. 138 Mullins (1921), S. 107. 139 Urteil Dithmar/Boldt, S. 2; Verhandlungen des Reichstags, I. Wahlperiode 1920, Bd. 368, S. 2580. 140 Es gab noch andere Angriffe deutscher U-Boote auf alliierte Schiffe. Vgl. Hankel (2003), S. 452 ff.

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Kommandant Patzig nicht nur ein Lazarettschiff angegriffen hatte, sondern auch die Rettungsboote unter Beschuss nehmen ließ. So erklärt sich auch die hohe Zahl von Toten. Die Rettungsboote wurden nach Meinung der Richter angegriffen, um die Tat zu vertuschen. Nicht nur dass Patzig den Vorfall nicht ins Schiffstagebuch eintrug, er fälschte auch die Fahrtroute seines U-Boots.141 Patzig wurde nie gefasst. Es stand allerdings außer Frage, dass die beiden Angeklagten (Ludwig Dithmar und John Boldt) bei der Versenkung der Rettungsboote anwesend waren. Beide befanden sich nicht auf der „Probeliste“. Die Ermittlungen wurden von der Anklagebehörde selbst, ohne britische Aufforderung geführt. Beide Offiziere machen im großen Umfang von ihren Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch.142 Ihre Verteidigung beruhte darauf, dass sie gezwungen wurden, den Befehlen des Kommandanten zu folgen.143 Das Reichsgericht stellte unter Verweis auf § 47 Nr. 2 MStGB144 fest, dass nur solche Befehle umgesetzt werden müssten, die kein bürgerliches oder militärisches Verbrechen bezweckten.145 Außerdem sei es für die Angeklagten und für jedermann in ihrer Situation offensichtlich gewesen, dass es sich um einen verbrecherischen Befehl gehandelt habe. Des Weiteren hätten sie keine unerträglichen Konsequenzen befürchten müssen, wenn sie den Befehl verweigert hätten. Somit sei der so genannte Befehlsnotstand kein Strafausschließungsgrund.146 Über weite Strecken gehen die Richter ausschließlich auf die Handlungen Patzigs ein. Er wird als Täter aufgebaut. Zur Beteiligung der beiden Angeklagten an dem Völkerrechtsverbrechen, den Terminus Kriegsverbrechen gebrauchen die Richter nicht, wird ausführlich erst am Ende des Urteils eingegangen. Zuvor werden grundlegende Fragen des Prozesses geklärt: 1) Der Angriff auf das Lazarettschiff war ein Verstoß gegen das Völkerrecht. 2) Kommandant Patzik hat mit Vorsatz die Versenkung der Llandovery Castle zu vertuschen gesucht. 3) Und er war für den Tod von über 230 Menschen verantwortlich.147 Da die völkerrechtlichen Regeln in diesem Fall klar auf der Hand lagen, war für den Kommandanten sein rechtswidrige Handeln ohne weiteres zu erkennen. Somit stand fest: Patzig ist Täter und verantwortlich für sein Tun. Es stellte sich für die Strafhöhe die Frage, welches Delikt er begangen hatte. Die Richter schlossen Mord (§ 211 StGB) aus und prüften Totschlag (§ 212 StGB).148

141 Urteil Dithmar/Boldt, S. 6; Verhandlungen des Reichstags, I. Wahlperiode 1920, Bd. 368, S. 2583. 142 Ebenda. 143 Vgl. Hassel (2009), S. 39 – 43. 144 Romen/Rissom (1918), S. 184 – 189. 145 Urteil Dithmar/Boldt, S. 6; Verhandlungen des Reichstags, I. Wahlperiode 1920, Bd. 368, S. 2584. 146 Ebenda, S. 2585. 147 Ebenda, S. 2584 f. 148 Ebenda, S. 2585.

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Nun kursorisch werden die Tatumstände der beiden Angeklagten diskutiert.149 Es wurde lediglich geschildert, dass Ludwig Dithmar und John Boldt bei einem Tötungsdelikt dem Täter geholfen hätten. Sie waren nach Ansicht des Gerichts auch nicht für die Bedienung der Bordgeschütze zuständig. Diese Aufgabe hatte ein anderer Beteiligter (Meißner), der aber zwischenzeitlich verstorben war.150 „Sie haben sich (…) während des Schießens auf die Beobachtung beschränkt.“151 Die Frage ist allerdings, ob die Beobachtungen nicht notwendig waren, um die Rettungsboote auf See ausfindig zu machen? Bei der vom Reichgericht aufgebauten Urteilsbegründung fehlte Ludwig Dithmar und John Boldt der eigene Tatwillen. Subjektiv gesehen wollten sie das Leben der Schiffsbesatzung nicht gefährden. Sie halfen einem anderen (dem Täter Patzig) dabei, ein Verbrechen zu begehen. Es fehlte ihnen am so genannten Tatvorsatz. Sie waren demnach als Gehilfen zu bestrafen (§ 49 StGB). Aus diesem Grund musste sich das Gericht ausführlich mit Patzig beschäftigen. Zum einen musste für die Gehilfenstellung ein Täter greifbar sein und zum anderen war nur so die Möglichkeit eröffnet, die beiden Angeklagten aus der Schusslinie zu bringen. Angehörte Gutachter sahen dies anders. Vizeadmiral Adolf L. v. Trotha zum Beispiel vertrat den Standpunkt, dass die Befehlsgewalt eines Vorgesetzten – insbesondere in einer Kriegssituation – nicht angezweifelt werden könne. In der Deutschen Flotte würde die Überzeugung herrschen, dass ein Kommandeur in Gefecht über das rechtlich Erlaubte hinausgehen könne. Das Gericht entgegnete dieser Einschätzung mit dem Hinweis, dass es sich bei dem Beschuss von hilflosen Schiffsbrüchigen um keine Kriegshandlung gehandelt habe.152 Bei der Strafzumessung wurde ausdrücklich auf das schuldhafte Handeln beider Angeklagten hingewiesen, weil sie einen verbrecherischen Befehl Folge geleistet hatten. Nach dem jetzigen Sachstand hätten die beiden wegen Beihilfe (§ 49 StGB153) zum Totschlag (§ 212 StGB) verurteilt werden müssen. Eine mehrjährige Zuchthausstrafe wäre unweigerlich die Folge gewesen. Das deutsche Strafgesetzbuch der 1920er Jahre sah für Beihilfe eine geringere Strafe als für den Täter vor. Die Reduzierung regelte § 44 StGB. Der Strafrahmen richtete sich nach der ausgeführten Tat. Wenn der Täter einen Totschlag begangen hatte, wurde der Gehilfe nach den Strafvorschriften des Totschlags verurteilt.154 Die Strafe konnte nach § 44 bis zu einem Viertel der für den Täter geltenden Sühne ermäßigt werden. In der Regel bedeutete dies: wäre die Haupttat mit Zuchthaus bestraft worden, hätte der Gehilfe auch eine Zuchthausstrafe erhalten müssen – 149

Hankel (2003), S. 458. Urteil Dithmar/Boldt, S. 6; Verhandlungen des Reichstags, I. Wahlperiode 1920, Bd. 368, S. 2584. 151 Ebenda, S. 2585. 152 Ebenda, S. 2586. 153 Zu § 49 StGB siehe Ebermayer/Lobe/Rosenberg (1929), S. 257 – 265. 154 Ebenda, S. 264. 150

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jedoch eine geringere.155 In unserem Fall war die Mindeststrafe für Totschlag (§ 212 StGB) fünf Jahre Zuchthaus. Entsprechend wäre eine mindestens 15 Monate lange Zuchthausstrafe erfolgt. Bei Patzig, der für den Tod von über 200 Menschen verantwortlich war, wäre die Mindeststrafe für Totschlag nicht in Frage gekommen. „Die Tötung wehrloser Schiffbrüchiger ist ein schweres, das sittliche Empfinden im besonderen Maße verletzendes Verbrechen.“156 Die Strafe für beide Angeklagte war vier Jahre Gefängnis. Wie ist das zu erklären? Nach der eben aufgemachten Berechnung hätten sie eine empfindliche Zuchthausstrafe erwartet, sprachen die Richter doch ausdrücklich von Totschlag und zudem (siehe Zitat oben) auch noch von einem besonders abscheulichen Verbrechen. Nun, das Reichsgericht zieht sich ohne weitere Begründung auf seine bislang geübte Praxis zurück, bei Kriegsverbrechen möglichst niedrige Strafen zu verhängen. Es verlässt den mit § 49 StGB vorgezeichneten Weg und billigt nicht dem Täter mildernde Umstände zu, sondern den Gehilfen: „Der Druck der militärischen Autorität unter dem sie gehandelt [hatten], (…) rechtfertigen aber die Zubilligung mildernder Umstände. (…) (§§ 213, 49 Abs. 2, 44 StGB).“157 Es ändert sich dabei der Tatbestand von § 212 StGB (Totschlag) zu einem minderschweren Fall nach § 213 StGB. Das hätte eigentlich nur auf der Seite des Täters geschehen dürfen. Für Ludwig Dithmar und John Boldt brachte dieser Umstand erst die Möglichkeit einer Gefängnisstrafe. § 213 StGB allerdings sah als Höchststrafe fünf Jahre Gefängnis vor. Analog der gängigen Strafmilderung für Gehilfen konnte folglich nur eine Gefängnisstrafe resultieren. Das hatte für die Angeklagten den immensen Vorteil, dass ihnen nicht die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt werden mussten und vor allem, dass sie nicht wehrunwürdig wurden. Eine Rückkehr in die Wehrmacht stand für beide nun als Option offen. Inwieweit das Urteil rechtlichen Bestand gehabt hätte, ist belanglos, denn das Reichsgericht urteilte in erster und letzter Instanz. Rechtsmittel gab es keine. Dessen waren sich die Richter sehr bewusst. Das Llandovery Castle-Verfahren hatte mehrere Wirkungsebenen. 1.) Erstmals waren völkerrechtswidrige Tötungen als solche benannt worden und damit implizit das erste Mal ein Kriegsverbrechen abgeurteilt worden. 2.) Handeln auf Befehl158 schließt persönliche Schuld nicht automatisch aus.159 Wer einen rechtswidrigen Befehl ausführt, ist kein Täter, sondern ein Gehilfe. Die neue Rechtsprechung war, bei aller Kritik, durchaus revolutionär und verlieh dadurch dem ganzen Geschehen Ambivalenz. 3.) Den Alliierten gegenüber wurde signalisiert, dass die deutsche Justiz fähig und willens ist, sich der nationalen Verantwortung zu stellen. 4.) Der Versuch, eine angemessene Strafe zu finden, ist letztendlich gescheitert. 155

Ebenda, S. 228 – 231. Urteil Dithmar/Boldt, S. 6; Verhandlungen des Reichstags, I. Wahlperiode 1920, Bd. 368, S. 2586. 157 Ebenda. 158 Vgl. Korte (2003), S. 40 – 46. 159 Oppenheim (1935), S. 454 ff. (insbesondere S. 455 Fußnote 1). 156

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Der Llandovery Castle-Vorfall führte zur Kritik bei den Alliierten.160 Vor allem fielen hier die Strafe und die Anwendung eines minderschweren Falls von Totschlag ins Gewicht. Selbstverständlich gab es britische Prozessbeobachtung.161 Was ein klarer Massenmord gewesen war, verwandelte das Reichsgericht in ein Delikt, für das als Mindeststrafe sechs Monate Gefängnis vorgesehen war.162 Unverständlich für jeden, der sich daraufhin den Gesetzestext ansah. Der minderschwere Fall von Totschlag ging im Kern auf eine aus Provokation begangene Tat zurück.163 Für eine breite deutsche Öffentlichkeit und vor allem für das Militär war das ganze Verfahren ein Skandal. Aus ihrer Sicht war das Reichsgerichtsurteil vor allem deshalb abzulehnen, weil ein Untergebener sich nicht mehr pauschal auf ein Handeln auf Befehl berufen konnte. Fast schon mimosenhaft erschrak die Generalität und malte das Gespenst einer nicht mehr zu disziplinierenden Truppe.164 Die deutsche Admiralität und konservative Politiker waren nicht willens über ihren Schatten zu springen und stellten sich trotzig vor die Kriegsverbrecher.165Argumente wurden nicht zugelassen: Kritik „based almost entirely on sentiment and not on facts“.166 Aus dem erbittert geführten diplomatischen Ringen, die Verurteilung deutscher Soldaten im eigenen Land durchzusetzen, erwuchs eine Doktrin von durch die Alliierten aufgezwungenen Prozessen.167 Weiterhin ging es um die Urteilsmöglichkeiten der Richter. Wenn, so ein Gutachter, ein Richter nie auf einem U-Boot gefahren sei, dann könnte er auch die Umstände an Bord nicht verstehen.168 Weiterhin wurde angemerkt, dass die Schiffbrüchigen der Llandovery Castle zwar zum Zeitpunkt ihrer Seenot wehrlos gewesen waren, aber nach ihrer Rettung hätten sie sich dann wieder feindlichen Kampfverbänden anschließen können. Deshalb darf man sie „präventiv“ töten.169 Alles in allem zielte die Kritik darauf ab zu belegen, dass es sich nicht um einen Verstoß gegen das Völkerrecht handelte. Hinzu gesellte sich der Eindruck, die Justiz sei dem Militär nachträglich noch in den Rücken gefallen. Und dies in einem doppelten Sinn: 1) Sie verunglimpfe die Ehre der deutschen Soldaten, die ihr Leben für Deutschland aufs Spiel gesetzt hätten. 2) Durch die Anerkennung der britischen Beschuldigung, deutsche Soldaten hätten gegen bestehendes Völkerrecht verstoßen. Bis zum Llandovery Castle-Prozess sprach man von Kriegskriminalität oder Verstößen gegen die Disziplin der Truppe.170 Jetzt kam eine neue Kategorie hinzu: völker160

Hassel (2009), S. 40; Hankel (2003), S. 462. Wiggenhorn (2005), S. 277 f.; Mullins (1921), S. 134. 162 Hankel (2003), S. 462. 163 Ebermayer/Lobe/Rosenberg (1929), S. 673 f. 164 Wiggenhorn (2005), S. 280. 165 Ebenda. 166 Lord d’Abernin (27. July 1921). Zitiert nach Wiggenhorn (2005), S. 279. 167 Michelsen (1922), S. 5. 168 Dethleffsen (1922), S. 9. 169 Ebenda, S. 10. 170 Michelsen (1922), S. 3.

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rechtliche Verbrechen. Ohne das Dogma Befehl schützt vor Strafe aufzuheben, wäre eine Verurteilung im Fall Llandovery Castle nicht möglich gewesen. Hierin lag die eigentliche Brisanz der Reichsgerichtsentscheidung. Soldaten konnten in Ausübung von Befehlen strafrechtlich belangt werden, wenn „der Befehl sich offenkundig, für jedermann, auch den Untergebenen, zweifelsfrei erkennbar als verbrecherisch darstellt“.171 Die Reichsgerichtsentscheidung von 1921 kann als Beginn der Annahme eines sog. Offenkundigkeitsprinzips bei Kriegsverbrechen gewertet werden. Es hielt Einzug in die Militärgesetze und deren Kommentierungen. So etwa in § 253 des britischen Manual of Military Law, das in der 6. Auflage von 1940 erstmals explizit unter dem Stichwort The Plea of Superior Orders ausführt: „The fact that a rule of warfare has been violated in pursuance of an order of the belligerent Government or of an individual belligerent commander does not deprive the act in question of its character as a war crime; neither does it, in principle, confer upon the perpetrator immunity from punishment by the injured belligerent.“172 Das Llandovery Castle-Urteil war erst- und letztinstanzlich und erlangte somit mit Verkündung Rechtskraft. Es findet sich in einer ganzen Reihe von Verfahren bzw. Kommentaren wieder. Was nur selten angeführt wird, ist, dass in einem Wiederaufnahmeverfahren die Entscheidung des Spruchgerichtes aufgehoben wurde und die Angeklagten freigesprochen wurden.173 Die Reaktion der deutschen Regierung auf die Kritik an den Kriegsverbrecherprozessen war eindeutig: Das Reichsgericht arbeite ohne Tadel und absolut rechtsstaatlich. Von prominenter Seite mischte sich im Februar 1922 Justizminister Gustav Radbruch in die Diskussion ein. Geschickt begann Radbruch seine Anmerkungen zum Reichsgericht mit Kritik an seiner Rechtsprechung.174 Er bewertete den juristischen Umgang mit den Kapp-Putschisten im Vergleich zu Verurteilungen von Kommunisten175 als eine „der schlimmsten Quellen der Verbitterung über die Justiz, die sich in den letzten Jahren ergeben hat“.176 Radbruch bezeichnete das Reichsgericht als eine „kleine Welt für sich“, die sich vor allem durch ein starkes korporatives Selbstbewusstsein und ein „trotziges Gefühl für richterliche Unabhängigkeit“ charakterisieren ließe.177 Dann aber betonte er seinen ungebrochenen Respekt vor dem höchsten 171

Zitiert nach Kreß (2006), S. 17. Lauterpacht, International Law (1940), S. 463 f. 173 Siehe dazu Wiggenhorn (2005), S. 379 f. 174 Verhandlungen des Reichstags I. Wahlperiode 1920, Stenographische Berichte von der 177. Sitzung, Freitag, den 24. Februar 1922, Bd. 353, S. 6063. 175 Der Kommunist Lothar Ewert wurde über sechs Monate in Untersuchungshaft belassen, obwohl er eine Kaution stellen wollte – er wurde freigesprochen. Der Putschist Traugott von Jagow hingegen kam bis zu seiner Hauptverhandlung auf freien Fuß und wurde zu fünf Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Gustav Radbruch Gesamtausgabe Reichstagsreden (1998), Bd. 19. Herausgegeben von Arthur Kaufmann, S. 192. 176 Verhandlungen des Reichstags Bd. 353 (1922), S. 6063. 177 Ebenda. 172

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deutschen Gericht, den er auch vom Ausland einforderte.178 Radbruch bezeichnete die Leipziger Prozesse als eine der schwersten Aufgaben, die je ein Gericht zu bewältigen gehabt habe. Die Arbeit des Reichsgerichts dürfe auf gar keinen Fall mit einer lächerlichen Komödie (caractère dérisoire179) verglichen werden. Als Untermauerung seiner Bewertung zitierte Gustav Radbruch aus einem Buch von Claude Mullins180 : „At the time of the trials, the Times described them as ,a travesty of justice’ and the Evening Standard said that ,Leipzig, from the Allies’ point of view, has been a farce‘; but I do not think that any Englishman who was present was of that opinion. However much we may criticise the judgements of the Court and however much we may deplore their inadequacy from the point of view of jurisprudence, the trials were not a farce and seven German judges endeavoured throughout to be true to the traditions of fairness and impartiality which are the pride of all judicial courts. To my mind, this is a hopeful sign in these days when more and more international problems have to be settled by argument before judicial tribunals. As a lawyer myself, I felt and feel proud of the legal mind, which seeks justice even through the heavens fall. […] It is a British characteristic to give honour where honour is due. Speaking for myself and of the trials which I witnessed, I say frankly that Dr. Schmidt[181] and his Court were fair. Fully neutral at the start, I learnt to respect them, and am convinced that they performed their difficult task without fear or favour. Personally I should be willing to be tried by Dr. Schmidt on any charge, even on one which involved my word against that of a German.“182 Das von Radbruch zitierte Statement von Mullins zielte wohl mehr auf den Llandovery Castle-Fall als auf die anderen Prozesse. Mit diesem Fokus scheint die Kritik an der Kritik eine gewisse Berechtigung zu haben. Dieser einzelne Prozess sticht in der Tat aus dem Gesamtumfeld hervor. Doch kann die nach außen erscheinende Eloquenz des Urteils nicht vorbehaltlos aus dem Kontext der gesamten Prozesskomplexe herausgenommen werden. Es spiegelt sich auch im Llandovery Castle-Fall die grundlegende Abneigung der deutschen Justiz – und auch der Politik – Kriegsverbrechen verfolgen zu wollen wider. III. Fazit Sicherlich ist eine Bewertung der Leipziger Verfahren keine einfache Angelegenheit. Viele unterschiedliche Aspekte führen zu einem facettenreichen Gesamtbild. Auf der Ebene der Akteure finden sich alliierte und deutsche Interessengruppen. Auf der Siegerseite des Ersten Weltkrieges formierten sich die gegen Deutschland 178

Ebenda. Ebenda. 180 Mullins (1921). 181 Der Präsident des Senates war Carl Ludwig Schmidt. 182 Verhandlungen des Reichstags Bd. 353 (1922), S. 6063. Im Original siehe Mullins (1921), S. 43 f. 179

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kämpfenden Regierungen als starke Bastion und kodifizierten einen neuen Typus Friedensvertrag. Der Versailler Vertrag regelte nicht nur Reparationen und territoriale Änderungen. Revolutionär waren die Bestrebungen, Kriegsverbrechen auch von alliierter Seite ahnden zu wollen. Allerdings änderte sich der alliierte Grundkonsens, dies auch tatsächlich umzusetzen von Sommer 1919 bis in das Frühjahr 1920. Dabei verließ man den Rahmen des Friedensvertrags nicht, denn es wurde kein Imperativ zur Verfolgung statuiert – lediglich die Möglichkeit, dies zu tun. Auf der Seite der Kriegsverlierer findet sich ein vielschichtiges Akteursgeflecht. In der Politik agieren Opposition und Regierung nach eigenen Mustern. Das Militär fürchtete um seine Reputation als Verfechter der Ehre der Nation. Unter diesem Eindruck arbeiteten Justizjuristen an den Vorgaben der Politik. Sowohl als ausführende (Staatsanwaltschaft) wie auch als formal unabhängige Gewalt (Richter). Insgesamt drängte dieses Gefüge jedoch in Richtung deutscher Kriegsverbrecherprozesse. Das Aufeinanderprallen externer und interner Einflussnahmen ließ im Ergebnis die deutsche Seite gewinnen. Letztendlich überwog die grundlegende Abneigung der deutschen Justiz und Politik Kriegsverbrechen verfolgen zu wollen. Die deutsche Regierung installierte ein Kriegsverbrechergesetz, bevor der Versailler Vertrag in Kraft trat. Damit signalisierte die Regierung Ebert den Willen, die Ahndung von Kriegsverbrechen selbst in die Hand zu nehmen. Mit den darauf folgenden Novellierungen und Konkretisierungen der Regelungen reagierte sie auf innen- wie außenpolitische Kritik. Das Hauptziel der deutschen Ahndung von Kriegsverbrechen war es, den strafrechtlichen Zugriff in einem überschaubaren Maß zu halten. Von zunächst vielen Hundert, dann noch 45 von den Alliierten als Kriegsverbrecher beschuldigten Deutschen wurden nur 17 vor das Reichsgericht gestellt. Ein wesentlicher Aspekt dieses Scheiterns war, dass der missing link zwischen dem Willen nach Strafverfolgung und dessen Umsetzung nicht geschlossen wurde (bzw. werden sollte). Wenngleich internationale und nationale Ansätze zur Ahndung von während des Ersten Weltkrieges begangenen Straftaten offensichtlich von allen Seiten starker Kritik ausgesetzt waren und am Ende scheiterten bzw. zur Farce mutierten, markieren sie dennoch eine „Geburtsstunde“ des Völkerstrafrechts:183 1) Hochrangige Mitglieder von Politik und Militär kamen erstmals in den Fokus strafrechtlicher Verfolgung. 2) Internationale Gerichtsbarkeit sollte die Planer und Organisatoren des Krieges betrafen. 3) Das Territorialitätsprinzip wurde statuiert und zugleich eine Abgrenzung zu internationaler Ahndung definiert. 4) Erstmals erließ ein Staat (Deutschland) ein spezielles Gesetz zur Ahndung von Kriegsverbrechen. Diese Aspekte finden sich bei der strafrechtlichen Verfolgung deutscher und japanischer Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkriegs wieder. Das Scheitern Leipzigs bahnte dem Durchbruch des Völkerstrafrechts den Weg. Eine offensichtliche Niederlage erwies sich als Ideengeber und führte in letzter Konsequenz zum Internationalen Militärtribunal in Nürnberg und zu183 Auf die Prozesse in anderen Ländern kann hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. zu den so genannten Istanbuler Prozessen Taner (2004).

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gleich zu vielen Tausend nationaler Prozesse rund um den Globus nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Ahndungspolitik musste sich allerdings von einem ex-post Agieren verabschieden und zugleich von der Annahme, man könne die Ahndung von Kriegsverbrechen dem Besiegten überlassen. Schon in den 1920er Jahren erwuchsen deshalb Bemühungen, eine internationale Strafgerichtsbarkeit zu etablieren.184 Literatur Berghahn, Volker (2006), Der Erste Weltkrieg, München (6. Auflage). Brügel, Johann Wolfgang (1958), Das Schicksal der Strafbestimmungen des Versailler Vertrags, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 3/1958, S. 263 – 270. Carnahan, Burrus M. (1998), Lincoln, Lieber and the Laws of War: The Origins and Limits of the Principle of Military Necessity. In: The American Journal of International Law. 92 (2), S. 213 – 231. Condé, Victor H. (2004), Handbook of International Human Rights Terminology. University of Nebraska (2. Auflage). Der erste Weltkrieg und seine Folgen (2008). Die große Chronik Weltgeschichte, München. Dethleffsen (1922), Das Urteil gegen die Ubootoffiziere, in: Michelsen, Andreas (1922) (Hrsg.), Das Urteil im Leipziger Uboot-Prozeß ein Fehlurteil? Juristische und militärische Gutachten, Berlin, S. 7 – 18. Dickmann, Fritz (1998), Der Westfälische Friede. Aschendorf, Münster. Dülffer, Jost (2001), Regeln im Krieg? Kriegsverbrechen und die Haager Friedenskonferenzen, in: Wette, Wolfram/Ueberschär, Gerd R. (2001) (Hrsg.), Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt, S. 35 – 49. Dunat, Henry (1863), Eine Erinnerungen an Solferino, Basel. Entscheidungen des Reichsgerichts, Bd. 56 (1922), Entscheidungen in Strafsachen. Herausgegeben von den Mitgliedern des Gerichtshofes und der Reichsanwaltschaft, Berlin, S. 259 – 272. Feilitsch, Heinrich Klemens v. (1920), Deutsche Kriminalpolitik. Das Gesetz zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Kriegsvergehen vom 18. Dezember 1919, in: Goltdammers Archiv für Strafrecht und Strafprozess 1920 (69), S. 29 – 33. Garner, James W. (1920), Punishment of Offenders against the Laws and the Customs of War. In: The American Journal of International Law 14 (1920), S. 70 – 94. „Germany must pay“, in: James, Robert James (Hrsg.) (1974), Winston S. Churchill: His complete speeches 1897 – 1963, Bd. 3, 1914 – 1922, New York/London 1974, S. 2645. Haffner, Sebastian (1978), Der Vertrag von Versailles, München. Hankel, Gerd (2001), Deutsche Kriegsverbrechen des Weltkrieges 1914 – 18 vor deutschen Gerichten, Wette, Wolfram/Ueberschär, Gerd R. (Hrsg.), Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt, S. 85 – 98. 184

Vgl. Kreß (2006), S. 22.

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* Abstract Wolfgang Form: Germany, the Allies and the Punishment for War Crimes after World War I (Deutschland, die Alliierten und die Ahndung von Kriegsverbrechen nach dem Ersten Weltkrieg), in: World War I and its Consequences for the Coexistence of Peoples in Central and Eastern Central Europe (Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in

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Mittel- und Ostmitteleuropa), ed. by Gilbert H. Gornig and Adrianna A. Michel (Berlin 2017), pp. 181 – 213. In many respects the First World War was a novum. It was the first time in history that war was spoken of as world event. War was waged in a way that had never before happened, an internationalised war, and if one were to take a look at the world map, there was hardly a country that was not involved. The main aim of the German prosecution of war criminals was to minimise prosecutions. Of the initial hundreds, and then 45, Germans accused of war crimes by the Allies, only 17 were brought before the Reichsgericht. Of those, five were not actually intended for trial and were dealt with by the court for the sake of appearances. There were not even indictments, just references to the accusations by the Allies. All five were acquitted. The “Farce Leipzig Trials” was a multidimensional event. It was composed of various subdivisions: 1) legal regulations; 2) measures of criminal proceedings; 3) show trials; 4) disproportionately mild sentences or, as the case may be, acquittals; 5) protection of the military; and 6) masked diplomacy.

„Hang the Kaiser!“: Prozessmöglichkeiten und rechtliche Verantwortung nach Artikel 227 und Artikel 228 des Versailler Vertrags Von Paul Mevis* I. Einführung Der britische Premierminister Lloyd George zog bei den Parlamentswahlen im Dezember 1918 mit der Parole „Hang the Kaiser!“ ins Unterhaus ein; und noch im Jahr 2009 illustrierte „Der Spiegel“ einen Artikel über den Ersten Weltkrieg mit einem Foto von Kaiser Wilhelm II. und der Bildunterschrift „Dem Galgen entkommen“.1 Aber wieso drohte dem ehemaligen Kaiser Wilhelm II. aufgrund von was und wofür Strafe – angeblich sogar die Todesstrafe? Drohte ihm vielleicht der Galgen als Repressalie der Siegermächte? Diese Fragen führen uns auf eine Entdeckungsreise zu ein paar tief im Versailler Vertrag verborgen liegenden und für die heutige Zeit etwas unscheinbaren, aber dennoch sehr interessanten Artikeln dieses Vertrags sowie zu ihren Hintergründen und ihrer Entstehungsgeschichte.2 Es geht um die Artikel 227 bis 230 des Versailler Vertrags. Von diesen Artikeln sind die Artikel 227 und 228 die wichtigsten. Diese beiden Artikel lauten: Artikel 227 Die alliierten und assoziierten Mächte stellen Wilhelm II. von Hohenzollern, den vormaligen Kaiser von Deutschland, wegen schwerer Verletzung des internationalen Sittengesetzes und der Heiligkeit der Verträge unter öffentliche Anklage. Ein besonderer Gerichtshof wird eingerichtet, um über den Angeklagten zu Gericht zu sitzen. Der Gerichtshof besteht aus fünf Richtern, von denen je einer von folgenden fünf Mächten, namentlich den Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien, Frankreich, Italien und Japan, ernannt wird.

* Ich danke meiner studentischen Aushilfskraft Frau Sari Eckhardt für die Unterstützung. K. Wiegrefe, Der Unfriede von Versailles, in: Der Spiegel 28/2009, S. 44 – 53, http://maga zin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/65954988. 2 Nachdem der Vertrag am 22. 6. 1919 im Reichstag mit 237 gegen 138 Stimmen gebilligt worden war, wurde er sechs Tage später im Spiegelsaal von Versailles unterzeichnet. Der Vertrag trat am 10. 1. 1920 in Kraft. 1

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Der Gerichtshof urteilt auf der Grundlage der erhabensten Grundsätze der internationalen Politik; Richtschnur ist für ihn, den feierlichen Verpflichtungen und internationalen Verbindlichkeiten ebenso wie dem internationalen Sittengesetze Achtung zu verschaffen. Es steht ihm zu, die Strafe zu bestimmen, deren Verhängung er für angemessen erachtet. Die alliierten und assoziierten Mächte werden an die Regierung der Niederlande das Ersuchen richten, den vormaligen Kaiser zum Zwecke seiner Aburteilung auszuliefern.3 Artikel 228 Die deutsche Regierung räumt den alliierten und assoziierten Mächten die Befugnis ein, die wegen eines Verstoßes gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges angeklagten Personen vor ihre Militärgerichte zu ziehen. Werden sie schuldig befunden, so finden die gesetzlichen Strafen auf sie Anwendung. Diese Bestimmung greift ohne Rücksicht auf ein etwaiges Verfahren oder eine etwaige Verfolgung vor einem Gerichte Deutschlands oder seiner Verbündeten Platz. Die deutsche Regierung hat den alliierten und assoziierten Mächten oder derjenigen Macht von ihnen, die einen entsprechenden Antrag stellt, alle Personen auszuliefern, die ihr auf Grund der Anklage, sich gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges vergangen zu haben, sei es namentlich, sei es nach ihrem Dienstgrade oder nach der ihnen von den deutschen Behörden übertragenen Dienststellung oder sonstigen Verwendung bezeichnet werden.

Eigentlich handelt es sich bei diesem Artikel um nicht weniger als den Ursprung dessen, was sich später im 20. Jahrhundert zur internationalen Strafgerichtsbarkeit entwickelt hat. Wenn man diesen Artikel genauer unter die Lupe nimmt, kann man schon einiges feststellen. Erstens betrifft Artikel 227 direkt nur den ehemaligen deutschen Kaiser und nicht wie Artikel 228 auch andere Personen. Dieser Unterschied ist insofern wichtig, als dass Artikel 228 zum Abschluss des Ersten Weltkriegs in ähnlicher Weise auch in andere Friedensverträge aufgenommen wurde.4 Neu ist Artikel 228 insofern, als dass es in den Friedensverträgen im 19. Jahrhundert und davor kaum Strafbestimmungen gab. Einzigartig ist Artikel 228 im Jahr 1919 jedoch nicht. Das verhält sich bei Artikel 227 anders. Einen Artikel, der ein ehemaliges Staatsoberhaupt direkt unter die strafrechtliche Verantwortung eines internationalen Tribunals stellt, findet man in den anderen Friedensverträgen nicht. Darüber hinaus ist es von Bedeutung, dass Artikel 228 zu einigen Prozessen geführt hat, wie sich weiter unten noch herausstellen wird. Der Prozess, den sich die 3 Es ist anzumerken, dass die deutsche Übersetzung des Vertragstexts von „Auslieferung“ spricht. Es wird also der juristische Begriff verwendet. Der englische Text spricht aber von „surrender“, nicht vom juristischen Begriff „extradition“. Vielleicht sagt das schon etwas über die damalige Einschätzung aus, inwieweit die Niederlande (die keine am Versailler Vertrag beteiligte Partei waren) bereit sein würden, den Kaiser tatsächlich an die Alliierten auszuliefern. 4 Wie mit Österreich (Saint-Germain-en-Laye, September 1919, Art. 173 – 175), mit Ungarn (Trianon, Juni 1920, Art. 157 – 159), mit Bulgarien (Neuilly-sur-Seine, November 1919, Art. 118 – 120) und mit der Türkei (Sèvres, August 1920, Art. 226 – 228), auch wenn dieser letzte Vertrag nie ratifiziert wurde.

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alliierten und assoziierten Mächte nach Artikel 227 vorgestellt hatten, fand niemals statt. Dieser Umstand geht teilweise auf das Verhalten der niederländischen Regierung zurück, die sich weigerte, den ehemaligen Kaiser, der sich zunächst in Amerongen und später in Doorn befand, an die alliierten und assoziierten Mächte „auszuliefern“.5 Die niederländische Regierung hat dem ins Exil geflüchteten ehemaligen Kaiser Asyl gewährt und sich geweigert, den Aufforderungen der Siegermächte zur „Auslieferung“ des Kaisers Folge zu leisten.6 II. Prozess oder kein Prozess? 1. Einführung in ein Projekt Der Prozess gegen Wilhelm II. hat also nie stattgefunden, aber hätte er stattfinden können? Wie hätte – nach damaligem (materiellem) Recht zur Zeit des Kriegsbeginns – die Anklage gelautet? Wäre Wilhelm II. für eine Straftat für schuldig befunden worden, und wenn ja, für welche? Wir kennen die endgültige Antwort nicht, aber kürzlich wurde eine Studie veröffentlicht, in der versucht wurde, dieser Frage nachzugehen.7 Und das in Form einer Anklageschrift, einer Verteidigungsschrift und anschließend eines „Urteils“ von einem Gericht, einem „Tribunal“, das heißt: von

5 Teile des Notenwechsels in deutscher Sprache findet man in: Der Vertrag von Versailles, Zeitgeschichte, 1988, S. 392 – 397. 6 Nähere Informationen über die Hintergründe der Verweigerung u. a. bei S. Marks, My name is Ozymandias, The Kaiser in Exile, Central European History 1983 16/2, S. 122 – 170. Hankel (G. Hankel, Die Leipziger Prozesse, 2003, S. 82, Fn. 37) nennt als wichtigste deutsche Literatur der Nachkriegszeit: A. M. Bartholdy, Die „Sanktionen“ des Vertrages von Versailles, in: Festgabe für Otto Liebmann, 1920, S. 103 – 112; W. Jellinek, Wilhelm II. in den Niederlanden, in: DJZ 1919, S. 42 – 47, und H. Triepel, Die Auslieferung des Kaisers, Deutsche Politik 1919/4, S. 299 – 305. 7 H. Andriessen u. a., Het Proces tegen Wilhelm II, Tielt: Lannoo 2016. Die gesamte Studie wurde umfangreich dokumentiert. Auch deshalb wird in diesem Beitrag selbst nicht der Versuch unternommen, den Leser auch nur einigermaßen auf die Spur von sämtlicher relevanter Literatur zu setzen. Viele weitere Informationen findet man bei: G. Hankel, Die Leipziger Prozesse, 2003; J.F. Willis, Prologue to Nuremberg. The Politics and Diplomacy of Punishing War Criminals of the First World War, 1982; J. W. Garner, International Law and the World War, 1920; M. Cherif Bassiouni, World War I: the War to End All Wars’ and the Birth of a Handicapped International Criminal Justice System“, in: Denver Journal of International Law 2002, p. 244 – 291; D.L. George, The Truth about the Peace Treaties, 1920; C. Schmitt, Das internationalrechtliche Verbrechen des Angriffskrieges und der Grundsatz „Nullum crimen, nulla poena sine lege“. Hrsg., mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Helmut Quaritsch, 1994, insbesondere Teil II, „Kriegsverbrechen und Kriegsschuld im Versailler Vertrag“; J. Nyamunya Maogoto, The 1919 Paris Peace Conference and the Allied Commission: Challenging Sovereignty Through Supranational Criminal Jurisdiction“, in: M. Bergsmo, C. Wui Ling/Y. Ping (red.), Historical Origins of International Criminal Law: Volume I, 2014; K. Sellars, Trying the Kaiser: The Origins of International Criminal Law, in: M. Bergsmo/C. Wui Ling/Y. Ping (red.), Historical Origins of International Criminal Law: Volume I, 2014. Alle mit weiteren Literaturangaben.

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einem Gremium bestehend aus (drei8) Juristen, die teilweise selbst als Richter tätig waren.9 Die Studie ist gegenwärtig nur in niederländischer Sprache verfügbar. Der nachfolgend ausgearbeitete Text geht teilweise auf diese Studie und zwei weitere Veröffentlichungen in englischer Sprache10 zurück.11 2. Die Strafartikel in der Struktur des Vertrags; Annäherung des Artikels 227 (Teil VII) über Artikel 231 (Teil VIII) Wenn man sich den Versailler Vertrag genauer ansieht, dann sind zunächst zwei Kapitel, d. h. zwei Teile, besonders relevant; diese müssen aber separat betrachtet werden. Auf der einen Seite gibt es den Teil VII (Artikel 227 – 230) Strafbestimmungen und auf der anderen Seite den Teil VIII (Artikel 231 – 247) Wiedergutmachungen. Letzterer beginnt mit dem berühmt-berüchtigten Artikel 231 über die Anerkennung deutscher Kriegsschuld und die Anerkennung, dass der Krieg von Deutschland ausgegangen ist.12 Aber dieser Artikel bezieht sich laut Überschrift nur auf die Wiedergutmachung. Dieser Artikel steht nicht im 7. Kapitel. Damit ist Artikel 231 auch nicht verbunden mit strafrechtlicher Anerkennung von Kriegsverbrechen oder der Gründung oder Anerkennung einer strafrechtlichen Verantwortung – zum Beispiel des ehemaligen Kaisers – für den Ausbruch des Kriegs, für den Beginn eines (Angriffs-)Kriegs oder eine andere Straftat.13 Dieser an sich sehr interessante Artikel 231 8 Obwohl der Vertrag fünf Richter verlangt. Die Zahl der Richter ergibt sich aus der Tatsache, dass für diesen „Prozess“ niederländisches Strafprozessrecht angewendet wurde, bei dem die Strafverfolgung wie die gegen Wilhelm II. durch eine Kammer aus drei Richtern praktiziert worden wäre. Die Anwendung des niederländischen Strafprozessrechts geschah unter der Annahme, dass damit die „Wahrung der wesentlichen Bürgschaften des Rechts auf Verteidigung“ garantiert ist, so wie es Art. 227 der Versailler Vertrag in dieser Hinsicht vorschreibt. 9 Der Autor war kein Mitglied des Tribunals und trägt die Entscheidung daher nicht mit. Er schrieb im genannten Buch einen Kommentar zum „Urteil“. 10 P. A. M. Mevis/J. M. Reijntjes, „Hang the Kaiser! But for What, and Would It Be Justice?“, in: ERL 2014/2, S. 98 – 107; P. A. M. Mevis/J. M. Reijntjes, „Hang Kaiser Wilhelm! But For What? A Criminal Law Perspective“, in: M. Bergsmo/C. Wui Ling/Y. Ping (red.), Historical Origins of International Criminal Law: Volume I, 2014. 11 Die genannten Studien und das erwähnte Buch sind das Resultat eines größeren Forschungsprojekts, das durch die Stichting Studiecentrum Eerste Wereldoorlog (Stiftung Studienzentrum Erster Weltkrieg) gefördert wurde. Die im Buch verwendeten historischen Dokumente sind teilweise in der Originalversion auf der Internetseite http://www.ssew.nl/proces-kai ser-wilhelm zusammengetragen. 12 Artikel 231: „Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber aller Verluste und aller Schäden verantwortlich sind, welche die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Angehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben.“ 13 Es geht auch nicht um eine moralische Verurteilung Deutschlands als Aggressor, sondern um (Anerkennung von) Schuld im politischen Sinn, was nach der Auffassung der USA un-

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wird hier weiter außer Acht gelassen – abgesehen von einer relevanten Verbindung mit und einem Unterschied zu Artikel 227. Zur Beantwortung der Schuldfrage im Rahmen der Wiedergutmachung bietet Artikel 231 keinen Raum für eine Prüfung oder Entscheidung, ob Deutschland Schuld hat, und wenn ja, inwieweit Deutschland für Schäden verantwortlich ist. Die Schuldfrage wurde in Artikel 231 in einem Schuldspruch im Text des Vertrags festgelegt (wenn man will „beantwortet“), den zu unterzeichnen sich Deutschland sehr unfreiwillig gezwungen sah. Damit bietet Artikel 231 keinen Raum dafür, die Feststellung der Schuld zu diskutieren oder in einem Rechtsverfahren zur Debatte zu stellen. In diesem Punkt liegt ein wichtiger Unterschied zu Artikel 227 des Versailler Vertrags. Aufgrund dieses letzten Artikels sollte noch über die Schuld von Wilhelm II. geurteilt werden – anhand einer näher auszuarbeitenden Anklage und dann auch noch vor einem internationalen, unabhängigen Gericht in einem fairen Verfahren. Das bot auch Chancen. Artikel 227 betrifft zwar die Anklage gegen Wilhelm II. in Person und nicht gegen Deutschland (wie Artikel 231); es wäre aber möglich, in diesem Verfahren die Unschuld Wilhelms II. und damit die Unschuld Deutschlands, zumindest jedoch nicht die alleinige Schuld Deutschlands am Krieg, vor einem internationalen Tribunal zur Debatte zu stellen. Wenn der Vorwurf gegen Deutschland, als Aggressor und Initiator des Kriegs gehandelt zu haben, hätte widerlegt werden können, wäre es vielleicht auch möglich gewesen, die Höhe der Entschädigungen nach unten zu korrigieren. Das heißt: Deutschland hatte im Rahmen der Revision des Versailler Vertrags auch ein gewisses Eigeninteresse an der Beurteilung von Wilhelm II., insbesondere durch ein internationales Gericht. Auch bei der Entscheidung, die deutschen Kriegsverbrecher selbst durch deutsche Gerichte in den so genannten Leipziger Prozessen14 zu verurteilen, spielte diese Möglichkeit eine Rolle.15 In diesem Zusammenhang ist noch zu erwähnen, dass selbst Lloyd George laut einer Notiz in seinem Tagebuch möglicherweise nichts dagegen gehabt hätte, wenn ein deutscher Richter Teil des Tribunals von Artikel 227 gewesen wäre. III. Artikel 227 in Verbindung mit Artikel 228: Strafrecht in einem Friedensvertrag Von den zwei wichtigsten Artikeln aus Teil VII des Vertrags in Bezug auf Strafbestimmungen ist Artikel 228 am einfachsten zu verstehen. bedingt im Friedensvertrag festzulegen ist, um Schadenersatzansprüche geltend machen zu können. 14 Dazu ausführlich: G. Hankel, Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg, 2003. Dazu auch: J. Rikhof, The Istanbul and Leipzig Trials: Myth or Reality?; W. Form, „Law as Farce: On the Miscarriage of Justice at the German Leipzig Trials: The Llandovery Castle Case“; M. Neuner, „When Justice Is Left to the Losers: The Leipzig War Crimes Trials“, alle drei in: M. Bergsmo/C. Wui Ling/ Y. Ping (red.), Historical Origins of International Criminal Law: Volume I, 2014. 15 G. Hankel, Die Leipziger Prozesse, S. 41 – 57, spricht von „Der erste Schritt zur Revision von Versailles“.

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Wie bereits erwähnt, wurde ein vergleichbarer Artikel auch in die anderen Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg aufgenommen. Das ist insofern nicht verwunderlich, als dass dieser Artikel im Jahr 1919 Ausdruck einer Rechtsentwicklung des 19. Jahrhunderts ist. Insbesondere der Bestandteil in Artikel 228 bezüglich „Verstöße gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges“, also gegen das ius in bello, ist als eine wichtige Entwicklung zum Thema „Recht und Krieg“ aus der Rechtsentwicklung des 19. Jahrhunderts bekannt. Im Laufe des 19. Jahrhunderts haben sich insbesondere aus den Haager Konventionen Rechtsbestimmungen für die Kriegsführung (zu Land) entwickelt. Darin war auch vorgesehen, dass Verstöße gegen diese Gesetze und Gebräuche unter Strafe gestellt werden sollten, insbesondere im nationalen Strafrecht. Diese Entwicklung ist insofern neu, als dass es in früheren Friedensverträgen im 19. Jahrhundert und davor kaum Strafbestimmungen gab. Vielmehr war nach dem Grundsatz „In amnestia consistit substancia pacis“ eine explizite Amnestie immer Bestandteil der Friedensverträge in der Neuzeit. Hatte nicht schon der am Ende des Weltkriegs berühmte und heute zu Unrecht zu sehr in Vergessenheit geratene Völkerrechtler Emer de Vattel in seinem Buch, Le Droit des Gens, ou Principes de la Loi Naturelle, Appliqués à la conduite & aux affaires des Nations & des Souverains, (Leiden 1758) geschrieben: „Mais quand le Traité n’en dirait pas un mot, l’Amnestie y est nécessairement comprise, par la nature même de la Paix“. Aber mit der Entwicklung des Kriegsrechts, des ius in bello, entstand auch die Idee der strafrechtlichen Gerichtsbarkeit und Verantwortung bei Verstößen. Damit findet die Rechtsentwicklung des 19. Jahrhunderts in diesem Artikel 228 des Versailler Vertrags sozusagen ihren Höhepunkt: Die Regeln des ius in bello haben sich entwickelt, und die Autoren des Versailler Friedensvertrags wollten diese Entwicklung jetzt mit der Bestrafung der von Deutschen begangenen Verstöße gegen die Gesetze und Gebräuche des Kriegs fortführen. Nur brauchten sie dazu die Auslieferung dieses deutschen Angeklagten, und gerade die ist deshalb in diesem Artikel 228 im Friedensvertrag vorgesehen. Hier begegnet man einem Grundzug des Versailler Vertrags, der oft übersehen wird. Er war nicht nur ein Friedensvertrag, sondern auch ein Versuch, die internationale Rechtsentwicklung aus der damaligen Situation ein Stück fortzuführen, insbesondere auch in Bezug auf Verantwortung und Haftbarkeit, auch strafrechtliche Haftbarkeit, für Verstöße gegen das internationale Recht, das ius in bello. Wichtig ist, dass der Schritt zur (internationalen) Strafgerichtsbarkeit im internationalen Recht bereits vor dem Ersten Weltkrieg akzeptiert worden war. Der „Schritt zum Strafrecht“ war in Artikel 228 insofern nicht neu bzw. nicht nur „Siegerjustiz“. Dabei galt das ius in bello insbesondere dem Landkrieg. Im 19. Jahrhundert waren keine festen verbindlichen Regeln festgelegt worden, die den Seekrieg „bändigen“ sollten. Vor allem Großbritannien hatte die Festlegung von Regeln für den Seekrieg verhindert. Diese Weltmacht wollte keine Einschränkung oder Begrenzung des „Spielplatzes“ für die britische Marine in ihrer Hegemonie auf den Weltmeeren hin-

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nehmen.16 Ironischerweise konnte Großbritannien deshalb nach dem Ersten Weltkrieg unter Berücksichtigung von Artikel 228 den ehemaligen Kaiser oder andere Heeresführer nicht wegen des Befehls zum „uneingeschränkten U-Boot-Krieg“ gegen englische Handelsschiffe anklagen. Aber auch im Hinblick auf die Regeln für den Landkrieg kam alles anders, als es sich die Siegermächte vorgestellt hatten. Die alliierten und assoziierten Siegermächte überreichten Deutschland zur Ausführung des Artikels 228 am 3. Februar 1920 eine Liste von 895 Deutschen, deren Auslieferung sie zur Anklage forderten. Unter den Personen auf dieser endlosen Liste befanden sich u. a. Hindenburg, von Bülow, ein paar deutsche Kronprinzen, Ludendorf, Tirpitz usw., also u. a. die komplette Heeres- und Marineführung sowie Teile des alten Herrscherhauses. Man kann es auch übertreiben. Auffallend genug hat u. a. gerade diese „Übertreibung“ dazu geführt, dass Deutschland die Auslieferung verweigerte, was daraufhin dazu führte, dass die alliierten Mächte akzeptierten, dass deutschen Kriegsverbrechern in Deutschland und vor einem deutschen Gericht der Prozess gemacht wurde. Die Rede ist von den so genannten „Leipziger Prozessen“ (benannt nach der Stadt, in der das Reichsgericht damals seinen Sitz hatte); in Leipzig wurden die Prozesse in erster und letzter Instanz geführt. Es fanden letztendlich nur wenige (17) Verfahren statt. Noch weniger endeten mit einer Verurteilung, aber es kam zu Verurteilungen, die von deutschen Richtern über deutsche Soldaten aufgrund von Verstößen gegen die Gesetze und Gebräuche des Kriegs verhängt wurden. Die Leipziger Prozesse, die von unabhängigen Beobachtern auch als durchaus seriös und fair und nicht nur als Scheinverfahren charakterisiert wurden17, waren damit tatsächlich die beabsichtigte Gipfelung der Rechtsentwicklung in Bezug auf das ius in bello: Es gibt Regeln im Krieg, und wer dagegen verstößt, kann dafür auch individuell strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Das ist die Botschaft, die zum ersten Mal von den Friedensverträgen am Ende des Ersten Weltkriegs und auch von den Leipziger Prozessen ausgeht. Diese Botschaft haben wir der deutschen Gerichtsbarkeit zu verdanken. IV. Wilhelm II. unter Artikel 228? Eine interessante Frage ist, ob auch der ehemalige Kaiser Wilhelm II. in diesen Artikel 228 des Versailler Vertrags einbezogen wurde. War der Gedanke, dass auch er wegen Verletzung der Gesetze und Gebräuche des Kriegs vor ein Militärgericht gestellt werden konnte und sollte? War das die Absicht? Das „Tribunal“ hat das im Urteil angenommen, aber nur spärlich argumentiert. Bei dieser Frage stoßen wir auf den interessanten Bericht von einer der Kommissionen, die nach dem Waffenstill16 Wenn man auf der Suche nach Verbindungen des Versailler Vertrags mit der Gegenwart ist: So wie jetzt die US-Amerikaner in ihrer Haltung dem ICC gegenüber. Die USA verweigern jede fremde Zuständigkeit für oder Rechtsprechung über Soldaten. 17 Zum Beispiel: C. Mullens (ein britischer Jurist) in: The Leipzig Trials. An Account of the War Criminals Trials and a Study of German Mentality, 1921.

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standsübereinkommen von November 1918 den Versailler Vertrag vorbereitet hatten. Das betrifft die „Commission on the Responsibility of the Authors of the War and on Enforcement of Penalties“ („Commission des responsabilités des auteurs de la guerre et sanctions“), nicht zu verwechseln mit der „Commission des réparations des dommages“, die den oben erwähnten Artikel 231 des Versailler Vertrags vorbereitet hatte. Darin heißt es: „March 29, 1919 The Preliminary Peace Conference at the plenary session on the 25th January, 1919 (Minute No. 2), decided to create, for the purpose of inquiring into the responsibilities relating to the war, a commission composed of fifteen members, two to be named by each of the Great Powers (United States of America, British Empire, France, Italy and Japan) and five elected from among the Powers with special interests.“

Der Bericht dieser Kommission18 lässt sich auch heute noch sehr gut lesen, und man erkennt in diesem Bericht die oben genannte Richtung der weiteren Ausarbeitung der strafrechtlichen Verantwortung bei Verstößen gegen das ius in bello auf der Grundlage der Rechtsentwicklung vor Beginn des Weltkriegs und nicht als erst von den Siegermächten im Versailler Vertrag nach dem Krieg eingeführte oder erfundene Form von „Siegerjustiz“. Diese Kommission ließ wenig Zweifel daran aufkommen19, dass auch Wilhelm II. unter Berücksichtigung von Artikel 228, das heißt mit dem Vorwurf einer persönlichen, strafrechtlichen Verantwortung für Verstöße gegen die Gesetze und Gebräuche des Kriegs, gegen das ius in bello, einbezogen werden sollte20: „In view of the grave charges which may be preferred against – to take one case – the exKaiser, the vindication of the principles of the laws and customs of war and the laws of humanity which have been violated would be incomplete if he were not brought to trial and if other offenders less highly placed were punished. Moreover, the trial of the offenders might be seriously prejudiced if they attempted and were able to plead the superior orders of a sovereign against whom no steps had been or were being taken.“21

Und man setzt sich auch gleich mit dem wohl bedeutendsten Gegenargument auseinander, der Immunität von Staatsoberhäuptern. Dazu heißt es: „We have later on in our Report proposed the establishment of a high tribunal composed of judges drawn from many nations, and included the possibility of the trial before that tribunal of a former head of a state with the consent of that state itself secured by articles in the Treaty 18

Commission on the Responsibility of the Authors of the War and on Enforcement of Penalties, in: The American Journal of International Law 1920/1. 19 Anzumerken ist hier schon, dass das auch daran liegen könnte, dass die Kommission den Weg von Art. 227 des Vertrags nicht gehen wollte. Siehe unten Anm. 40. 20 So auch W. Schwengler, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfrage: Die Strafverfolgung wegen Kriegsverbrechen als Problem des Friedensschlusses 1919/20, 1982, S. 113. 21 Commission on the Responsibility of the Authors of the War and on Enforcement of Penalties, in: The American Journal of International Law 1920/1, S. 117.

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of Peace. If the immunity of a sovereign is claimed to extend beyond the limits above stated, it would involve laying down the principle that the greatest outrages against the laws and customs of war and the laws of humanity, if proved against him, could in no circumstances be punished. Such a conclusion would shock the conscience of civilized mankind.“22 (…) „CONCLUSION All persons belonging to enemy countries, however high their position may have been, without distinction of rank, including Chiefs of States, who have been guilty of offences against the laws and customs of war or the laws of humanity, are liable to criminal prosecution.“23

Also auch Wilhelm II.! Mit diesem Artikel 228 wäre es nach derzeitigem Recht nicht unmöglich – jedenfalls nicht nur Siegerjustiz – gewesen, auch Wilhelm II. zumindest wegen der Verstöße gegen die „Gesetze und Gebräuche des Krieges“ anzuklagen. Damit ist man noch nicht bei der Gerichtsbarkeit aufgrund von Artikel 227 und auch nicht gleich bei der Strafbarkeit/Täterschaft von Wilhelm II. aufgrund von Verstößen gegen Artikel 228, aber man kann sich der Idee der Strafbarkeit, der strafrechtlichen Vergangenheitsbewältigung als Teil eines Friedensprozesses und/oder Bestandteil eines Friedensvertrags nicht ohne diesen „Umweg“ über Artikel 228 nähern, der deutlich macht, dass der zugrunde liegende Gedanke, nach dem Strafrecht zu greifen, nicht nur ein Schrei von Siegerjustiz der alliierten Kräfte nach dem Ersten Weltkrieg war. Bei der näheren Untersuchung der Verstöße gegen das ius in bello, für die Wilhelm II. dann eine persönliche, strafrechtliche Verantwortung tragen würde und die auch zu einer strafrechtlichen Verurteilung hätte führen können, stößt man auf weitere Fragen und Schwierigkeiten. Die oben genannte Kommission hatte eine ganze Liste mit derartigen Verstößen zusammengestellt, die von deutschen Armeen im Felde begangen wurden. Aber damit steht noch keine persönliche, strafrechtliche Verantwortung von Wilhelm II. für diese Verstöße fest. Strafrechtliche Verurteilung bedingt eine zu beweisende, persönliche Verantwortung für vom Heer im Felde begangene Einzelfälle von Verstößen. Das rechtliche Fundament für diese Verantwortung für alles, was das Heer im Felde (nicht) tat, geht nicht unbedingt oder in erster Linie von der Position des Kaisers als Staatsoberhaupt oder als oberster Heeresführer aus. Nicht nur war die Idee der „command responsibility“ damals im nationalen oder internationalen Strafrecht noch nicht so entwickelt, wie sie es heute ist. Auch innerhalb dieser Modalität der „command responsibility“ braucht es einen persönlichen Schuldvorwurf (im strafrechtlichen Sinn), bevor die strafrechtliche Haftbarkeit des obersten Heeresführers für konkrete Missstände im Felde angenommen werden kann. Diesen Schuldvorwurf kann man eher generell auf eine Verantwortung wegen Nichtverhinderung von (weiteren) einzelnen Verstößen stützen (und nicht nur auf der 22

Commission on the Responsibility of the Authors of the War and on Enforcement of Penalties, in: The American Journal of International Law 1920/1, S. 116. 23 Commission on the Responsibility of the Authors of the War and on Enforcement of Penalties, in: The American Journal of International Law 1920/1, S. 117.

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direkten „Mittäterschaft“ von Wilhelm II. in einzelnen Fällen, etwa durch die Anordnung von Verstößen gegen das ius in bello). Aber auch dann gilt es bei einer Strafverfolgung zu beweisen, dass Wilhelm II. Anlass zum Eingreifen gehabt hätte, um (weitere) Verstöße gegen das Kriegsrecht zu verhindern. Das ist normalerweise sehr schwierig und auch sehr schwierig zu beweisen, aber dennoch notwendig. Anderenfalls würde man gegenüber Wilhelm II. eine Risikohaftbarkeit auf der Grundlage aller Taten schaffen, die von den unter seinem Befehl und seiner Verantwortung stehenden Truppen im Felde begangen wurden. Damit würde man das Prinzip des in einem fairen Verfahren zu beweisenden Schuldvorwurfs als Grundlage des Strafrechts auf inakzeptable Weise über Bord werfen.24 Im Prozess und im Urteil des oben genannten Projekts spielt dieses Thema in der Diskussion zwischen Ankläger und Tribunal eine große Rolle. In dieser Diskussion enthält das Buch einen Schatz von Dokumenten über Einzelheiten und Vorfälle während des deutschen Aufmarschs in und durch Belgien sowie während der Besetzung von Belgien. Darauf kann hier nur ganz kurz eingegangen werden. Die Anklageschrift wirft Wilhelm II. zahlreiche, in Belgien begangene Verstöße gegen das Kriegsrecht vor. Es geht insbesondere um die Erschießung (standrechtliche Exekution) von belgischen Bürgern, die aus deutscher Sicht als „francs-tireurs“ gegen das Kriegsrecht verstoßen hatten. Die Anklage stützt sich dabei überwiegend auf den so genannten Bryce-Bericht von 1915 (also während des Kriegs).25 Seitens der Verteidigung und des Tribunals wird dagegen gehalten, dass es wegen dieser Verstöße auch eine deutsche Untersuchung gegeben hat. Das betrifft den Bericht „Die völkerrechtswidrige Führung des belgischen Volkskrieges“, der ebenfalls aus dem Jahr 1915 ist. Beide Berichte betrachtet das „Tribunal“ als zu tendenziös und als eine zu einseitige Stellungnahme. Wie dem auch sei, das „Tribunal“ hält es im Rahmen der Voraussetzungen für eine strafrechtliche Verurteilung nicht für ausreichend bewiesen, dass Wilhelm II. insofern von in Belgien begangenen, konkreten Verstößen gegen das ius in bello wusste, als dass man ihm im strafrechtlichen Sinn einen Schuldvorwurf machen konnte wegen vorsätzlicher Unterlassung von Maßnahmen zur Verhinderung von (weiteren) Verstößen, obwohl das „Tribunal“ annimmt, dass es genügend Anlässe und Berichte gegeben hat, die Wilhelm II. auf die Idee der Notwendigkeit für eine nähere Untersuchung hätte bringen können und auch hätte bringen müssen. Aber dieser Teil des Urteils betrifft Belgien. Das „Tribunal“ stellt für die Lage in Frankreich fest, dass man unter Berücksichtigung des Artikels 228 des Versailler Ver24

Auch in dem nach der Wende in Deutschland gegen Honecker und andere geführten „Mauerschützenprozess“ wurde Honecker angeklagt (und in erster Instanz, als er noch nicht haft- und prozessunfähig war, auch verurteilt) wegen seiner Verantwortung als Mittäter in einigen Fällen von Erschießungen an der Mauer und (strafrechtlich) nicht wegen seiner generellen Verantwortung (als Vorsitzender des Staatsrats) für den generellen oder allgemeinen, von Honecker erlassenen Schießbefehl an die Grenztruppen, der so ganz klar auch nicht festgestellt werden konnte. 25 Report of the Committee on Alleged German Outrages (The Bryce Report), 12 May 1915, http://www.firstworldwar.com/source/ brycereport.htm.

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trags Wilhelm II. vielleicht einen sehr konkreten Vorwurf hätte machen können. In Anlehnung an die Memoiren des Admirals von Müller, Chef des Marinekabinetts,26 stellt das Tribunal fest, dass Wilhelm II. höchstpersönlich den Offizieren einer Division in Metz befahl, keine Gefangenen zu nehmen.27 Hier gab es ausnahmsweise in einem konkreten, persönlichen Befehl von Wilhelm II. einen Ansatz für einen strafrechtlichen Schuldvorwurf. V. Anlauf nach Artikel 227 des Versailler Vertrags Die Betrachtungen zu Artikel 228 des Versailler Vertrags erklären als Auftakt etwas über Artikel 227, aber viel ist damit über Artikel 227 noch nicht gesagt. Um sich diesem Artikel jetzt weiter zu nähern, ist festzuhalten, dass dieser Artikel in mancher Hinsicht von einer anderen Ordnung ist als Artikel 228. Wichtig sind an dieser Stelle insbesondere drei Aspekte. 1. Artikel 227 bezieht sich exklusiv auf die Strafbarkeit von Wilhelm II. als (ehemaligen) Kaiser und (ehemaliges) Staatsoberhaupt, eine Exklusivität, die erklärt, dass die anderen Friedensverträge so einen Artikel nicht enthielten. 2. Artikel 227 sieht dabei Strafbarkeit, Strafverfolgung und Gerichtsbarkeit für einen und von einem internationalen Gerichtshof vor und nicht wie Artikel 228, der auf der Rechtsentwicklung im 19. Jahrhundert basiert, vor und von einem nationalen Strafgericht. Ein internationales Tribunal, das sich auf internationales (Straf-) Recht stützt, hat es zu der Zeit noch nicht gegeben. Bis weit in das 20. Jahrhundert ist das gerade aus rechtlicher Sicht ein einzigartiges, spannendes, wenn nicht sogar waghalsiges Unternehmen. 3. Dabei geht es, wenn man die „Straftaten“ in Artikel 227 des Versailler Vertrags berücksichtigt, um eine ganz vage, mit den Grundsätzen des materiellen Strafrechts kaum in Einklang zu bringende „schwere Verletzung des internationalen Sittengesetzes und der Heiligkeit der Verträge“. Einige Aspekte dieser drei Themen verdienen teilweise eine kurze, nähere Betrachtung.

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G. A. von Müller, „Regierte der Kaiser?“ in: W. Görlitz, Der Kaiser. Aufzeichnungen des Chefs des Marinekabinetts Admiral Georg Alexander v. Müller über die Ära Wilhelms II., 1959, S. 65. 27 Der Admiral notierte mit Abscheu: „Wie muß es im Kopfe dieses Mannes aussehen, dem der Krieg im Grunde genommen ganz zuwider ist? Was hat der Deutsche Kaiser dem Volke schon geschadet?“.

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1. Strafrechtliche Verantwortung eines (ehemaligen) Staatsoberhaupts? Im internationalen Recht und Völkerrecht kurz nach dem Ersten Weltkrieg war es nicht unumstritten, jedoch insbesondere in der angloamerikanischen Rechtstradition schon akzeptiert, dass die rechtliche und auch die strafrechtliche Immunität eines Staatsoberhaupts in erster Linie als Schutz für seine Tätigkeiten als Staatsoberhaupt dient, also während und auch nur so lange er „im Amt“ ist.28 Diese Idee der Immunität schützt so gesehen nicht vor Verantwortung, auch nicht vor strafrechtlicher Verantwortung, nach dem Ausscheiden aus dem Amt als Staatsoberhaupt. Schon die erwähnte Kommission nahm das an, auch weil die ganze Idee der Strafbarkeit von Heeresmitgliedern wegen der Verstöße gegen das Landkriegsrecht keinen Sinn ergeben würde, wenn der oberste Befehlshaber aufgrund seiner Immunität als Staatsoberhaupt außer Betracht und damit für die Justiz und die strafrechtliche Verantwortung unerreichbar bleiben würde. Man kann aus dieser Sicht Artikel 227 durchaus auch als einen Versuch verstehen, eine mögliche Rechtsbasis für die Verantwortung des obersten Befehlshabers zu schaffen, ohne die die Verfolgung von anderen, untergebenen Personen aufgrund von Artikel 228 nicht gerecht erscheint. Wenn es nicht gelingen würde, Wilhelm II. aufgrund seiner Beteiligung an Verstößen gegen das Kriegsrecht im Felde (Art. 228) strafrechtlich zu Verantwortung zu ziehen, könnte seine Verantwortung sich dann vielleicht auf seine Verantwortung für seine eigenen Taten stützen, an die Artikel 227 anzuknüpfen versucht? 2. Ließ das internationale Recht die Initiierung eines internationalen Tribunals zu? Wäre es zu einem Prozess gekommen, dann wäre von Seiten der Verteidigung gewiss betont worden, dass das internationale Recht gar nicht zuließe, eine internationale (Straf-)Gerichtsbarkeit vertraglich zu schaffen. Dieser Standpunkt wäre aber kaum mit stichhaltigen Argumenten zu untermauern gewesen. Auch die Tribunale von Nürnberg und Tokio wurden vertraglich beschlossen. Und das Jugoslawien-Tribunal wurde buchstäblich über Nacht eingerichtet, und zwar auf Beschluss des UNOSicherheitsrats auf einer eher schwachen Rechtsgrundlage.29 Diese Initiativen gehen auf das Prinzip zurück, dass es im internationalen Recht kaum Ansätze gibt, die die internationale Politik bändigen oder beschränken hinsichtlich der Frage, wozu man sich in Verträgen gegenseitig verpflichten kann. Die Frage nach der Legitimierung einer vertraglich ins Leben gerufenen internationalen Gerichtsbarkeit ist auch vor dem Tribunal in Nürnberg gestellt und daraufhin von diesem Gericht einfach mehr oder weniger „vermieden“ worden mit der Feststellung:

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Nähere Literaturangaben dazu bei G. Hankel, Die Leipziger Prozesse, S. 86 – 87. Resolution 827 des UN-Sicherheitsrats vom 25. 5. 1993.

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„It can scarcely be argued that a court which owes its existence and jurisdiction solely to the provisions of a given statute could assume to exercise that jurisdiction and then, in the exercise thereof, declare invalid the act to which it owes its existence.“30

Im Klartext: „Es kann sein, dass Sie Recht haben, aber Recht bekommen (in diesem Punkt) werden Sie sowieso nicht.“ Das wäre nur anders gewesen, wenn der Versailler Vertrag kein faires Verfahren für Wilhelm II. garantieren würde31, ihn im Voraus schon für schuldig erklärt hätte (und das Tribunal nur noch herauszufinden hätte, wofür), oder wenn der Vertrag zwingend vorschreiben würde, dass bei einer Verurteilung die Todesstrafe die einzig zugelassene, vom Tribunal zwingend zu verhängende Strafe sein würde. Dabei wäre der zwingende Charakter der inakzeptable Faktor; die Verhängung der Todesstrafe an sich war damals noch kein Verstoß gegen fundamentale (internationale) Rechte, so wie das heute der Fall ist.32 VI. Inhalt der Anklage unter Artikel 227 Versailler Vertrag Des Pudels Kern, das „pièce de résistance“ in Artikel 227 des Versailler Vertrags, ist die Definition, also die Angabe dessen, was die Anklage gegen den ehemaligen Kaiser unter Berücksichtigung von Artikel 227 ausgemacht hätte, wenn es zu einem Prozess gekommen wäre. Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass Artikel 227 noch nicht die konkreten Delikte, die konkreten Straftaten definiert, die auf diese Art und Weise direkt in einer Anklage hätten übernommen werden können. Wenn man den Vertragstext liest, erwartet man eher eine weitere Ausarbeitung der Delikte in ein Statut für das Gericht, so wie es auch für das Nürnberg-Tribunal eine Konkretisierung der Straftaten, der Delikte, in einer Charta gegeben hat.33 Es ist gleichzeitig ganz klar, um welche zwei Punkte es sich bei Artikel 227 als Basis für eine Anklage gegen Wilhelm als ehemaligen Kaiser, als ehemaliges Staatsoberhaupt, also außerhalb von Artikel 228 des Versailler Vertrags, handelt. Es ist einfach zu verstehen, auf welche zwei Vorwürfe die alliierten Mächte – zumindest Großbritannien und Frankreich – im Prozess gegen Wilhelm II. drängten. Da ist erstens der Vorwurf des Beginns eines (Angriffs-)Kriegs, bzw. dieses Kriegs; und zweitens der Vorwurf der Verletzung der Neutralität von Belgien (und Luxemburg), einer Neutra30 Zitat bei C. Schmitt, Das internationalrechtliche Verbrechen des Angriffskrieges und der Grundsatz „Nullum crimen, nulla poena sine lege“. Hrsg., mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Helmut Quaritsch, 1994, S. 157. 31 Dabei ist anzumerken, dass sich das so genannte „Rückwirkungsverbot“ nur auf die materiellen Voraussetzungen für materielle Strafbarkeit bezieht, nicht jedoch auf die Regeln des Strafprozessrechts. Die können auch während der Prozessführung entwickelt werden. 32 Interessant wäre noch die Frage, ob ein Todesurteil zum Beispiel vom englischen König akzeptiert worden wäre. Dieser war zwar kein Freund von Wilhelm II., aber immerhin sein Cousin. 33 Agreement for the Prosecution and Punishment of the Major War Criminals of the European Axis, and Charter of the International Military Tribunal. London, 8 August 1945, https://ihl-databases.icrc.org/applic/ihl/ihl.nsf/INTRO/350.

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lität, die auch von Deutschland vertraglich garantiert worden war.34 Mit diesen beiden Vorwürfen, die in dem ausdrücklich nur auf Wilhelm bezogenen Artikel 227 des Versailler Vertrags definiert wurden, wollten die Siegermächte als Vertragsautoren auch eine Verfolgung gegen Wilhelm II. wegen eines Verstoßes gegen das ius ad bellum initiieren. Man wollte dem ehemaligen Kaiser einen Rechtsvorwurf machen, vielleicht wegen des Beginns des Kriegs an sich, zumindest aber wegen der Verletzung der Neutralität Belgiens. Auch im oben genannten Projekt zum Prozess gegen Wilhelm II. sind das die beiden Anklagen, die unter Berücksichtigung von Artikel 227 erhoben wurden. War der Befehl zum Krieg, zum Angriffskrieg, nach damaligem Stand der Dinge ein Verstoß gegen das internationale Recht? Mit dieser Frage hat sich auch die „Commission on the Responsibility of the Authors of the War and on Enforcement of Penalties“ im Rahmen ihre Tätigkeit zur Vorbereitung des Versailler Vertrags beschäftigt. Diese Kommission hatte sich mit der vollen juristischen Verantwortlichkeit der „authors of the war“ auseinanderzusetzen, also nicht nur mit Verstößen gegen das ius in bello, sondern auch mit der Frage, wie es bei Kriegsbeginn juristisch mit dem „ius ad bellum“, dem Recht zum Krieg, nicht nur im Krieg bestellt war. Wäre Wilhelm II. juristisch strafrechtlich verantwortlich dafür, dass er den Krieg angefangen hatte, dass er dazu den Befehl gegeben hatte? Sollte die Anklage außerdem die Verletzung der vertragsrechtlich gewährleisteten Neutralität von Belgien und Luxemburg enthalten, weil der Beginn dieses Kriegs im Westen Deutschlands erfolgt war? War Wilhelm II. auch für die Verletzung einer derartig garantierten Neutralität persönlich, juristisch, rechtlich, strafrechtlich oder doch nur politisch verantwortlich? Im Hinblick auf diese Frage gingen die Meinungen von Kommission und Vertragsautoren auseinander. Kurzum: Was die Vertragsautoren, die Politiker, sich mit diesem Artikel 227 sozusagen „zugetraut“ haben, wollten die Juristen der Commission on the Responsibility of the Authors of the War and on Enforcement of Penalties nicht. Im Bericht dieser Kommission heißt es: „The premeditation of a war of aggression, dissimulated under a peaceful pretence, then suddenly declared under false pretexts, is conduct which the public conscience reproves and which history will condemn, but by reason of the purely optional character of the institutions at The Hague for the maintenance of peace (International Commission of Inquiry, Mediation 34 Es geht dabei grundsätzlich um die drei Londoner Verträge vom 19. 4. 1839 zwischen den Niederlanden und Belgien, zwischen den Niederlanden und den fünf europäischen Großmächten (Großbritannien, Österreich, Frankreich, Preußen und Russland) sowie zwischen Belgien und diesen Großmächten. Artikel VII des letzten Vertrags lautet: „Belgium, within the limits specified in Articles I, II, and IV, shall form an independent and perpetually neutral State. It shall be bound to observe such neutrality towards all other States“: https:// www.ssew.nl/exhibit-22-treaty-between-great-britain-austria-france-prussia-and-russia-onepart-and-belgium-other-1. Die Neutralität Luxemburgs beruht auf dem so genannten „Zweiten Londoner Vertrag“ von 1867. Nach Ausbruch des Deutsch-Französischen Kriegs wiederholte der König von Preußen in Artikel 1 des Vertrags mit Großbritannien seinen festen Entschluss, die Neutralität Belgiens weiterhin zu respektieren, solange Frankreich das auch täte (M. Hurst (red.), Key Treaties for the Great Powers, 1814 – 1914, 1983, Teil 1, S. 455).

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and Arbitration) a war of aggression may not be considered as an act directly contrary to positive law, or one which can be successfully brought before a tribunal such as the Commission is authorized to consider under its terms of reference.“35

Und über die Verletzung der Neutralität, heißt es ebenso deutlich: „And thus a high-handed outrage was committed upon international engagements, deliberately, and for a purpose which cannot justify the conduct of those who were responsible. The Commission is nevertheless of opinion that no criminal charge can be made against the responsible authorities or individuals (and notably the ex-Kaiser) on the special head of these breaches of neutrality, but the gravity of these gross outrages upon the law of nations and international good faith is such that the Commission thinks they should be the subject of a formal condemnation by the Conference.“36

Das war die Kommission, das waren die Juristen, Ende März 1919: keine Verletzung des positiven Rechts, keine Straftat, kein Gericht, keine Strafverfolgung. Aber im Vertrag, d. h. im Text der Politiker, steht etwas anderes: Die alliierten und assoziierten Mächte stellen Wilhelm II. unter Anklage und vor Gericht; es wird einen Gerichtshof geben; der Gerichtshof hat gegebenenfalls Strafe zu verhängen; es werden Wilhelm II. dabei schon im Vertrag die strafprozessualen Grundsätze für ein faires Verfahren zugesichert, und die Niederlande werden um Auslieferung zur „Aburteilung“ von Wilhelm II. gebeten.37 Es ist klar, dass zwischen dem Bericht der Kommission (März 1919) und dem Vertragstext (Juni 1920) ein gewisses Umdenken stattgefunden hat, das man aus der Sicht der Entstehung und der Entwicklung des (internationalen) Strafrechts auch positiv bewerten kann. Die Politiker trauten sich letztendlich das zu, wovon die Juristen abrieten: Ziehen wir Wilhelm II. vor ein internationales Tribunal zur Verantwortung, das in einem fairen Verfahren die Schuld von Wilhelm II. am Ausbruch des Kriegs feststellen wird und das eventuell auch eine Strafe verhängen kann (eine Strafe verhängen, nicht Wilhelm II. hängen; „Hang the Kaiser!“); und auch das wäre dann eine Gipfelung der Rechtsentwicklung des 19. Jahrhunderts. Jedenfalls würde so eine Aburteilung von Wilhelm II. durch ein internationales, richterliches Tribunal und in einem fairen Verfahren, in dem er sich gegen die Anklage wehren könnte, eine höhere oder gehaltsvollere Modalität des internationalen Rechts ausmachen und darstellen

35 Commission on the Responsibility of the Authors of the War and on Enforcement of Penalties, in: The American Journal of International Law 1920/1, S. 118. 36 Commission on the Responsibility of the Authors of the War and on Enforcement of Penalties, in: The American Journal of International Law 1920/1, S. 120. 37 Um das oben genannte Verhältnis zwischen den Artikeln 227 und 228 des Versailler Vertrags wiederaufzugreifen: Es ist nicht ganz auszuschließen, dass es, gerade weil sich die Kommission nicht zu einem Artikel gegen Wilhelm II. persönlich durchgerungen hatte, für diese Kommission damit mehr als für die Vertragsautoren erforderlich war, in der Causa Wilhelm II. doch zumindest Artikel 228 anzuwenden. Anderenfalls wäre die von der Kommission befürchtete Situation eingetreten: Strafbarkeit der Untergebenen, aber Straflosigkeit des obersten Kriegsherrn. Siehe oben Anm. 22.

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als die „Abfertigung“ von Napoleon38, der ohne jeglichen Prozess in die Verbannung nach Elba und später nach St. Helena geschickt worden war. Hier tritt wieder der teilweise an der Entwicklung des internationalen Rechts orientierte Charakter des Versailler Vertrags zutage.39 Aber so einfach ist dieser Artikel 227 des Vertrags nicht. Eigentlich ist er in erster Linie eine Art Kompromiss aus den Verhandlungen in den Monaten April und Mai 1919, insbesondere ein Kompromiss aus den Beratungen und Entscheidungen der so genannten „Großen Vier“ (auch „Rat der Vier“), eines Gremiums, dem die Regierungschefs Frankreichs, Großbritanniens, Italiens und der Vereinigten Staaten von Amerika angehörten. Dieser Rat wurde Ende März 1919 auf Initiative Wilsons gebildet, um durch Beratungen und Entscheidungen im kleinsten Kreis den Fortschritt der Konferenz zu beschleunigen. In diesem Gremium gab es ein „Vorgefecht“ über die Strafbestimmungen, insbesondere über das, was am Ende Artikel 227 im Vertrag wurde. Diese Entwicklung wurde von Walter Schwengler in seiner 1982 erschienenen Studie ausführlich recherchiert und einleuchtend beschrieben.40 Schwenglers Studie ist zu entnehmen, dass es in der Entwicklung, in der vorbereitenden Diskussion über das, was später einmal Artikel 227 werden sollte, eigentlich drei Stufen bzw. drei Stadien gab.41 Anfangs war es Lloyd George, der die Frage der Verurteilung von Wilhelm II. in diesem Gremium als Erster zur Sprache brachte. Sein Ausgangspunkt war: „Verurteilung der für den Krieg Verantwortlichen ist wesentlicher Bestandteil eines Friedens“. Es gab aber auch sofort Protest, und zwar juristischen wie politischen. Insbesondere US-Präsident Wilson wollte nichts davon wissen. So ein Weg würde zu einer unerwünschten Heroisierung Wilhelms II. führen, dessen Verantwortlichkeit auch nicht festzustellen sei; im Tribunal werden die Sieger zu Richtern über die Besiegten gemacht. Das alles wollten die USA nicht. Dabei spielte auch die Tatsache eine Rolle, dass man nach amerikanischer Rechtsauffassung nicht im Nachhinein (gegen den so genannten „nullum crimen, nulla poena sine praevia lege“-Grundsatz) völkerrechtliche, bisher kollektive Verantwortlichkeit in eine persönliche, strafrechtliche Verantwortung umwandeln kann. Und der Beginn eines Kriegs verstieß aus amerikanischer Sicht ohnehin nicht unter allen Umständen gegen das Völkerrecht. Auch politisch gab es keine Gründe für eine Gerichtsbarkeit gegen Wilhelm II. Die Abwendung der Gefahr einer kommunistischen Revolution (in Deutschland!) sollte ein wichtigeres Thema sein, ebenso wie Wilsons Initiative für einen Völker38 Oder in „unserer Zeit“, die „Aburteilung“ von Nicolae und Elena Ceaus¸escu nach der Wende in Rumänien. 39 In diesem Sinne C. A. Pompe, Aggresive War an International Crime, 1953, S. 153 – 154, und S. 167 – 170. 40 W. Schwengler, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfrage: Die Strafverfolgung wegen Kriegsverbrechen als Problem des Friedensschlusses 1919/20, 1982. Man findet auch viele Hinweise bei G. Hankel, Die Leipziger Prozesse. 41 W. Schwengler, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfrage, S. 106 – 116.

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bund, am Ende auch mit Deutschland. Der ehemalige Kaiser stellte, anders als Napoleon, auch keine Gefahr mehr für die politischen Verhältnisse in Europa dar. In einer weiteren Stufe der Entwicklung beharrte Lloyd George (unterstützt von Clemenceau) auf seinem Vorhaben, gleichzeitig lenkte er aber auch ein: keine Verfolgung wegen des Ausbruchs des Kriegs, wohl aber die Verfolgung der Verantwortlichen wegen der Verletzung der Neutralitätsverträge mit Belgien und wegen der Verstöße gegen die Gesetze und Gebräuche des Kriegs, das ius in bello. Der Kaiser war der Hauptschuldige und Hauptverantwortliche für den Bruch der belgischen Neutralität. Lloyd George bestand andererseits auch auf die Verfolgung durch ein Tribunal von Richtern. Er wollte keine formale Verurteilung im Vertrag selber (wie in Artikel 231), die nur eine politische, moralische Verurteilung gewesen wäre. Wilson akzeptierte daraufhin ein Tribunal aus Richtern, aber nur zum Zweck einer rein moralischen Verurteilung als Präzedenzfall für zukünftige Fälle. Das führte zur folgenden Vereinbarung des „Rats der Vier“ am 9. April 1919: „Une requête sera adressée à la Hollande pour remettre l’ex-Kaiser aux mains des Puissances alliées et associées afin d’être jugé devant un tribunal spécial, composé de cinq juges. Le crime pour lequel il est proposé de le poursuivre, ne sera pas qualifié de violation du droit criminel, mais de suprême offense contre la morale internationale et de l’autorité sacrée des traités.“

Dieser Kompromiss führte dann wieder zu einem Textvorschlag für Artikel 227: „Les Puissances alliées et associées mettent en accusation publique Guillaume II de Hohenzollern, ex-empereur d’Allemagne, non pour crime d’après les lois pénales, mais pour offense suprême contre la morale internationale et l’autorité sacrée des traites.“

Aber auch das reichte Lloyd George und Clemenceau nicht. Sie wollten durchaus ein juristisches, strafrechtliches Verfahren, und es gelang den beiden im endgültigen Text, das heißt im endgültigen Artikel 227 des Versailler Vertrages, die im obenstehenden Zitat kursiv geschriebenen Worte zu streichen. Dabei ist wichtig, dass diese letzte Änderung den US-Amerikanern nicht wie eine grundsätzliche Änderung der eigenen Position vorkam, wie Schwengler aufgrund einer Äußerung von Wilsons wichtigstem juristischem Berater, Robert Lansing, am 10. April 1919 dokumentiert.42 Die Amerikaner machten also Konzessionen hinsichtlich des Verfahrens von Wilhelm II. vor einem Tribunal aus Richtern, meinten aber, dass auch dann die Anklage nicht strafrechtlicher Art sein könnte, dass die Grundlage der Aburteilung Wil42

W. Schwengler, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfrage, S. 111, Fn. 170. W. Schwengler (S. 111) schreibt: „Damit wird deutlich, dass die Amerikaner die hinsichtlich der Prozedur gemachten Konzessionen im Vergleich zur Behauptung des Nichteingreifens strafrechtlicher Kategorien gering schätzten.“ Robert Lansing sah mit Blick auf den Vorwurf des Kriegsbeginns oder der Verletzung der Neutralität Belgiens ohnehin „no violation of criminal law“, meinte aber: „It may be wise policy to demand that the culpability of the exKaiser, should be determined by an extraordinary Tribunal with authority to decide an appropriate punishment as an example for the future.“

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helms II. die internationale Politik sein würde und dass es keine Anwendung des formalen (Straf-)Rechts geben würde. Aber wie Schwengler in einer Zusammenfassung der Entwicklung zu Recht meint43 : An dieser Stelle muss man sagen, dass Lloyd George und Clemenceau doch eigentlich das „Vorgefecht“ im Rat der Vier für sich entschieden haben. Ein Verfahren gegen Wilhelm II. vor einem mit Richtern der fünf Hauptmächte besetzten Gerichtshof, der eine angemessene Strafe verhängen kann, musste in der Natur der Sache liegen und eher einen strafrechtlichen als einen politischen Charakter annehmen. VII. Anwendung durch das „Tribunal“: Wäre Wilhelm schuldig befunden? Wie bereits erwähnt, hat das „Tribunal“ in dem niederländischen Forschungsprojekt versucht die Frage zu beantworten, ob es aufgrund der beiden sich auf Artikel 227 stützenden Anklagen nach damaligem (materiellem) Recht zu einer strafrechtlichen Verantwortung und Verurteilung von Wilhelm II. hätte kommen können. 1. Keine Strafbarkeit wegen des Beginns eines (Angriffs-)Kriegs Hinsichtlich der auf den Beginn eines (dieses) Angriffskriegs bezogenen Anklage meint das Tribunal, dass unwiderruflich feststeht, dass es Wilhelm II. war, der für den Ausbruch des Kriegs durch die Kriegserklärung verantwortlich war. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass es dabei um einen juristischen Prozess geht und es nicht um die „historische Wahrheit“ gehen kann, etwa aufgrund der internationalen politischen Entwicklung, insbesondere in Europa ab Mitte des 19. Jahrhunderts und besonders am Vorabend des (Ausbruchs des) Ersten Weltkriegs. Es geht nicht darum, die deutsche (alleinige) Schuld am Krieg festzustellen, sondern um die Verantwortung Wilhelms II. dafür, dass durch ihn das Deutsche Reich die Kriegshandlungen begonnen hat, ohne dass es dazu gezwungen war. Das „Tribunal“ betrachtet die Kriegserklärungen von Ende Juli und Anfang August 1914 als Beginn des Kriegs. Die deutschen Kriegserklärungen erfolgten gemäß Artikel 11 der Verfassung des Deutschen Reichs durch oder im Namen des Kaisers. Das „Tribunal“ sieht das Staatsoberhaupt dafür in erster Linie verantwortlich, auch wenn die Kriegserklärung die Zustimmung des Bundesrats benötigte. Einen Notstand, etwa das Deutschland sich von seinen Nachbarn so bedroht fühlte, dass seine Existenz auf dem Spiel stand und ein (präventiver) (Angriffs-)Krieg im Westen deswegen legitimiert war, nimmt das „Tribunal“ nicht an. Nur mit Zitaten von vielen bedeutenden Autoren (Juristen und Philosophen) wie Thomas Hobbes, Thomas von Aquino, Montesquieu, Kant, Bluntschli, Rivier, Huber, Ullmann, Neys und anderen sowie aufgrund sämtlicher Vertragstexte und anderer Texte kommt das Tribunal zu der Schlussfolgerung,

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W. Schwengler, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfrage, S. 110 – 112.

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dass nach damaligem Recht im Jahr 191444 das Initiieren eines Angriffskriegs kein Verstoß gegen das (internationale) Recht darstellte. Auch die Haager Kriegsrechtverträge schließen das nicht aus. Mit dieser Schlussfolgerung schließt sich das „Tribunal“ damit der „Commission on the Responsibility of the Authors of the War and on Enforcement of Penalties“ an: „The premeditation of a war of aggression, dissimulated under a peaceful pretence, then suddenly declared under false pretexts, is conduct which the public conscience reproves and which history will condemn, but by reason of the purely optional character of the institutions at The Hague for the maintenance of peace (International Commission of Inquiry, Mediation and Arbitration) a war of aggression may not be considered as an act directly contrary to positive law, or one which can be successfully brought before a tribunal such as the Commission is authorized to consider under its terms of reference“.45

Einen (straf)rechtlichen Vorwurf im Sinne der Anklage durch dieses „Tribunal“ kann Wilhelm II. (oder Deutschland) nach der Urteilsbegründung des „Tribunals“ nicht gemacht werden. Wohl aber liegt ein moralischer Vorwurf vor, doch darum geht es in einem juristischen Prozess nicht. 2. Strafbar wegen Verletzung der Neutralität Belgiens Für die zweite Anklage, die Verletzung der Neutralität Belgiens, fällt das Urteil anders aus. Es ist an sich einfach zu verstehen, dass anders als beim „Angriffskrieg“ hier eine klare Verletzung einer konkreten Norm vorliegt. Die Neutralität Belgiens genoss, wie oben dokumentiert, einen auch von Deutschland vertraglich garantierten Status. Und was war am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts eine deutlichere Verletzung des internationalen Rechts als eine Verletzung der „Heiligkeit der Verträge“ wie in Artikel 227 formuliert? Die Verletzung der Neutralität, wie der deutsche Vormarsch in Belgien sie darstellte, war auf jeden Fall auch ein Verstoß gegen die „Convention concernant les droits et les devoirs des Puissance et des Personnes neutres en cas de guerre sur terre“ (Haager Abkommen hinsichtlich der Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Landkriegs; Fünfter Haager Vertrag von 1907). Dieser von Deutschland am 27. November 1909 ratifizierte und für das Reich am 26. Januar 1910 in Kraft getretene Vertrag bestimmt u. a.: „Artikel 1. Das Gebiet der neutralen Mächte ist unverletzlich. Artikel 2. Es ist den Kriegführenden untersagt, Truppen oder Munitions- oder Verpflegungskolonnen durch das Gebiet einer neutralen Macht hindurchzuführen.“

Anders als bei der ersten Anklage ist die Normstellung und Normverletzung klar und im internationalen Recht „festzuschreiben“. Ist damit auch eine Straftat gegeben, 44

Das „Tribunal“ stellt fest, dass auch die Charta des Völkerbunds einen Angriffskrieg noch nicht für rechtswidrig erklärt hat. 45 Commission on the Responsibility of the Authors of the War and on Enforcement of Penalties, in: The American Journal of International Law 1920/1, S. 118.

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und wenn ja, auch eine Straftat von Wilhelm II.? Bei der Beantwortung der ersten Frage ist es wichtig in Betracht zu ziehen, dass das so genannte materiell-strafrechtliche „Legalitätsprinzip“ im internationalen Strafrecht nicht so strikt anzuwenden ist wie auf der national-strafrechtlichen Ebene. Normen und Normverletzungen können sich auch aus ungeschriebenem Recht, das sich auf Rechtsprinzipien („principles of the law of nations“) und Völkergewohnheitsrecht stützt, ergeben. Diese Entwicklung ist in Artikel 227 zu erkennen, und zwar in der Andeutung, dass Wilhelm II. im juristischen Sinn schuldig sein könnte wegen „an offence against international morality“. Ob das internationale Recht in diesem Fall eine so konkrete Norm enthielt, um Wilhelm II. einen Vorwurf zu machen, der zu einer strafrechtlichen Verurteilung führen kann – darüber ließe sich trotzdem streiten. Die „Commission on the Responsibility of the Authors of the War and on Enforcement of Penalties“ wollte so weit nicht gehen: „And thus a high-handed outrage was committed upon international engagements, deliberately, and for a purpose which cannot justify the conduct of those who were responsible. The Commission is nevertheless of opinion that no criminal charge can be made against the responsible authorities or individuals (and notably the ex-Kaiser) on the special head of these breaches of neutrality, but the gravity of these gross outrages upon the law of nations and international good faith is such that the Commission thinks they should be the subject of a formal condemnation by the Conference“.46

Das „Tribunal“ in dem niederländischen Forschungsprojekt war der Meinung, dass das internationale Recht die hier zuständigen Normen mit genügend Klarheit und Rechtskraft darlegte, sodass auch Wilhelm II. klar sein musste, dass die Verletzung einer vertraglich garantierten Neutralität nicht nur gegen das Völkerrecht verstieß, sondern auch in dem Sinn widerrechtlich war, sodass ihm für diese Verletzung ein strafrechtlicher Vorwurf gemacht werden konnte. Dabei berücksichtigt das „Tribunal“, dass Wilhelm II. persönlich als unter Artikel 227 einziger Angeklagte in seiner Funktion als „oberster Kriegsherr“ die Neutralitätsverletzung wenn schon nicht angeordnet so doch zumindest davon gewusst und es unterlassen hat, sie zu verhindern. Damit begründet das „Tribunal“ die persönliche, zur Täterschaft im strafrechtlichen Sinn führende Verantwortung von Wilhelm II. Für die Historiker ist noch interessant, dass das „Tribunal“ dabei die Notwendigkeit der Neutralitätsverletzung (Notwehr oder Notstand) im strafrechtlichen Sinn nicht annimmt. Ein manchmal behaupteter Verzicht auf die Neutralität von belgischer Seite durch den Kontakt zwischen dem belgischen General Ducarme und Großbritannien über die mögliche britische Unterstützung bei der Verteidigung Belgiens im Fall eines deutschen Angriffs auf Belgien wertet das „Tribunal“ nicht als Verzicht auf die Neutralität. Darüber hinaus gab es Pläne der Franzosen, die eigene Armee im Rahmen der Verteidigung gegen Deutschland die belgische Grenzen überschreiten zu lassen. Diese Pläne wurden aber nie ausgeführt. Es gab für Deutschland keinen Anlass anzunehmen, dass französische Truppen bereits in Belgien einmarschiert waren, also keine Legitima46 Commission on the Responsibility of the Authors of the War and on Enforcement of Penalties, in: The American Journal of International Law 1920/1, S. 120.

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tion für den deutschen Aufmarsch in Belgien. Die Drohung für Deutschland, ohne schnellen Sieg im Westen in einen Zweifrontenkrieg zu geraten (mit Frankreich im Westen und mit Russland im Osten), wertet das „Tribunal“ nicht als schwerwiegend genug, um einen Verstoß gegen das internationale Recht für durch Notwehr oder Notstand im juristischen-strafrechtlichen Sinn als legitimiert zu erachten. An dieser Stelle der Anklage wird Wilhelm II. deshalb einer Straftat für schuldig befunden. Das „Tribunal“ stuft die Straftat als “a supreme offence against international morality and the sanctity of treaties“ ein, strafbar aufgrund des seinerzeit geltenden, beständigen und in seiner Klarheit auch für den Angeklagten verständlichen Völkergewohnheitsrechts. VIII. Schlussbetrachtung Der interessante Artikel 227 des Versailler Vertrags hat viel von einem Kompromiss aus einem „Vorgefecht“ in der Zeit zwischen Waffenstillstandsabkommen und Friedensvertrag. Welche Art der Verurteilung von Wilhelm II. es gegeben hätte und wie der Vorwurf gelautet hätte, ob man sich dabei auf Recht oder auf Moral gestützt hätte und welche Strafe vom Tribunal eventuell verhängt worden wäre – das alles bleibt offen. Es klingt irgendwie so, als hätte man schon vorher gewusst, dass es nicht zu einer Verurteilung Wilhelms II. kommen würde. Das Interesse daran nahm bei den Siegermächten nach 1919 auch schnell ab.47 Wenn es einen Prozess gegeben hätte, hätte es zu einem Richterspruch über die Schuld am Krieg kommen können. Das hätte auch zu einem möglichen Schritt zur „Revision von Versailles“ – insbesondere um die im Versailler Vertrag vorgesehenen Belastungen zu überarbeiten – führen können. Wilhelm II., und damit auch implizit das Deutsche Reich, hätte sicherlich die Verteidigungslinie der Notwehr/des Notstands vor einem internationalen Gremium von Richtern geltend gemacht. Insofern hätte ein Prozess auch an der Diskussion über die historisch-politischen Verhältnisse und der Dokumentation selbiger vor dem Ersten Weltkrieg beigetragen. Mit Blick auf die Rechtsentwicklung des internationalen Strafrechts ist es schade, dass es nicht zu diesem Prozess gekommen ist. Bei der weiteren Entwicklung des Rechtsgedanken im 20. Jahrhundert, dass ein Angriffskrieg „an international crime“ sei, wird Artikel 227 des Versailler Vertrags als Präzedenzfall genannt.48 Festzustellen ist auch, dass das internationale Recht mit wesentlichen Rechtsfragen zu einer derartigen internationalen strafrechtlichen Gerichtsbarkeit später im 20. Jahrhundert bei den Nürnberger Prozessen eigentlich keinen Schritt weiter gekommen war als zur Zeit des Versailler Vertrags. 47 G. Hankel, Die Leipziger Prozesse, S. 87, Fn. 57 behandelt das abschließende Schreiben von Lloyd Georges (der „Hang the Kaiser!“-Politiker) vom 30. 3. 1920 an die niederländische Regierung, worin ihr die ausschließliche Verantwortung für die Anwesenheit des Kaisers zugewiesen wird: „Es fällt schwer, darin mehr zu sehen als den Versuch eines möglichst ehrbaren Rückzugs.“ 48 So zum Beispiel in „Draft Treaty of Mutual Assistance“ (1923). Dazu A. Pompe, Aggressive War an International Crime, S. 254 – 255.

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Man hatte bei den Nürnberger Prozessen noch immer die gleichen Rechtsfragen zu lösen und zu entscheiden. Dass das in Nürnberg gelungen ist, könnte man als Indikator dafür sehen, dass auch nach dem Ersten Weltkrieg so ein Prozess möglich gewesen wäre. Das niederländische Projekt identifiziert keine, nach damaligem Recht vorhandene Hindernisse für eine solche Gerichtsbarkeit. Nur war wohl die Erschütterung über „Auschwitz“ im Jahr 1945 groß genug, um die notwendigen Schritte dann doch tatsächlich zu gehen. Und dennoch: der US-amerikanische Jurist James F. Willis veröffentlichte 1982 ein Buch über die anvisierte Verfolgung und Bestrafung von Wilhelm II. und andere Kriegsverbrecher (Untertitel: „The Politics and Diplomacy of Punishing War Criminals of the First World War“). Nicht ohne Grund gab er dem Buch den vielsagenden Titel „Prologue to Nuremberg“. Tatsächlich scheinen für den Ursprung des Nürnberger Tribunals einige Kenntnisse über die Ansätze zur Strafverfolgung wegen Kriegsverbrechen und -verbrecher aus dem Ersten Weltkrieg unentbehrlich zu sein. Des Weiteren ist es von Bedeutung, dass die Einführung der möglichen strafrechtlichen „Vergangenheitsbewältigung“ als Teil eines Friedensvertrags in den Artikeln 227 und 228 des Versailler Vertrags auch eine Gipfelung der Rechtsentwicklung des 19. Jahrhunderts darstellt, insbesondere in Bezug auf das ius in bello. Damit bildet die in diesen Vertragsartikeln vorgesehene Gerichtsbarkeit zugleich auch ein Fundament für die internationale strafrechtliche Rechtsentwicklung. Auch in dieser Hinsicht war der Friedensvertrag mehr als eine von Siegerjustiz dominierte Momentaufnahme aus den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg. * Abstract Paul Mevis: “Hang the Kaiser!”: Process Options and Legal Responsibility According to Article 227 and Article 228 of the Treaty of Versailles („Hang the Kaiser!“: Prozessmöglichkeiten und rechtliche Verantwortung nach Artikel 227 und Artikel 228 des Versailler Vertrags), in: World War I and its Consequences for the Coexistence of Peoples in Central and Eastern Central Europe (Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa), ed. by Gilbert H. Gornig and Adrianna A. Michel (Berlin 2017), pp. 215 – 237. The interesting Article 227 of the Versailles Treaty displays many aspects of a compromise of a “early battle” in a time between ceasefire agreement and peace treaty. Which type of condemnation of Wilhelm II there would have occurred and what allegations there would have been, whether it would have based on justice or moral and what penalty the Tribunal would have imposed – all this remains open. Somehow it sounds like, as if one already knew that there would be no condemnation of Wilhelm II. The interest of the victorious powers in this condemnation quickly ceased after 1919.49 If there had been a trial, a judgement concerning the question who is to blame for the war would have been possible. This might have also led 49 G. Hankel, Die Leipziger Prozesse, p. 87, Fn. 57 deals with the final letter of Lloyd Georges (the „Hang the Kaiser!“-politician) to the Dutch government dated 30. 3. 1920, assigning to it the exclusive responsibility for the presence of the Kaiser: „It is difficult to see anything more in this than the attempt of a retreat that is as respectable as possible.“

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to a step towards the “revision of Versailles” – especially in order to review the intended encumbrances within the Versailles Treaty. Wilhelm II., and thus implicitly also the German Reich, surely would have claimed the line of self-defence/emergency before an international panel of judges. In this respect, a trial would have contributed to the discussion concerning the historicalpolitical conditions and the documentation of the same before World War I. With regard to the legal development of international criminal law it is a pity that no proceeding was instigated. When developing the legal concept in the 20th century, that a war of aggression is “an international crime”, Article 227 of the Versailles Treaty is referred to as precedent.50 One must also state that international law had not made any more progress concerning essential legal issues of such an international criminal jurisdiction later in the 20th century during the Nuremberg Trials, than it had during the time of the Versailles Treaty. During the Nuremberg Trials, one still had to tackle and to decide on the same legal questions. As solutions have been found in Nuremberg, one could consider this to be an indicator that a trial would have also been possible after World War I. The Dutch project identifies no obstacles under the then prevailing law for such a jurisdiction. However, the shock when faced with “Auschwitz” probably was enough to actually take the necessary steps in 1945. And yet: the American lawyer James F. Willis published a book in 1982 about the planned prosecution and punishment of Wilhelm II. and other war criminals (subtitle: “The Politics and Diplomacy of Punishing War Criminals of the First World War”). Not without reason he published the book under the meaningful title “Prologue to Nuremberg”. It seems like that some knowledge about the approaches to criminal prosecution because of war crimes and -criminals in World War I is indispensable for the origin of the Nuremberg Trials. Furthermore, it is important that the introduction of the possible “coping with the past” under criminal aspects, as a part of a peace treaty within the Articles 227 and 228 of the Versailles Treaty, also constitute a peak of legal development of the 19th century, especially in relation to the ius in bello. Thus, the jurisdiction provided in those articles of the Treaty simultaneously form the basis for international, criminal legal development. In this respect, the peace treaty also was more than a snapshot dominated by the victorious judiciary in the years after World War I.

50 For example in the „Draft Treaty of Mutual Assistance“ (1923). See A. Pompe, Aggressive War an International Crime, p. 254 – 255.

Die Autoren / The Authors Professor Dr. Dr. h.c. Wilfried von Bredow Persönliche Angaben / Personal Data: Geboren 1944 auf Schloss Heinrichsdorf, Kreis Neustettin; Abitur Düsseldorf 1962; Bundeswehr 1962 – 1964; Studium der Politischen Wissenschaft, Soziologie und Literaturwissenschaft an den Universitäten Bonn und Köln 1964 – 1968; Promotion Bonn 1968; Wiss. Assistent am Seminar für Politische Wissenschaft der Universität Bonn 1969 – 1972; Professor für Politikwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg von 1972 – 2009; Vizepräsident der Philipps-Universität 1975 – 1977; längere Forschungsaufenthalte und Gastprofessuren u. a. in Oxford, Toulouse, Lille, Toronto; Saskatoon (Kanada), Chiayi (Taiwan); John F. Diefenbaker Award des Canada Council 1994; Dr. h.c. der Wilfrid Laurier University, Ontario, Kanada 1999; Senior Fellow am A. Krupp Wissenschaftskolleg in Greifswald 2008/2009; seit 2010 Professor an der Geneva Graduate School of Governance. Born in 1944 at Heinrichsdorf Castle, Neustettin; High school diploma Düsseldorf 1962; Bundeswehr 1962 – 1964; studied Political Science, Sociology and Literary Studies at the Universities of Bonn and Cologne 1964 – 1968; promotion Bonn 1968; scientific assistant to the Seminar for Political Science, University of Bonn 1969 – 1972; Professor of Political Science at the Philipps-Universität Marburg from 1972 – 2009; Vice President of the Philipps-University 1975 – 1977; longer research stays and guest professorships for example in Oxford, Toulouse, Lille, Toronto; Saskatoon (Canada), Chiayi (Taiwan); John F. Diefenbaker Award of the Canada Council 1994; Dr. h.c. of the Wilfrid Laurier University, Ontario, Canada 1999; Senior Fellow at the A. Krupp Wissenschaftskolleg in Greifswald 2008/2009; since 2010 professor at the Geneva Graduate School of Governance.

Auswahlbibliographie / Selected Publications: Veröffentlichungen zum Ost-West-Konflikt, zur Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands, zum Verhältnis Militär/Gesellschaft und zur politischen Theorie. Jüngere Buchveröffentlichungen: Die Außenpolitik Der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden, 2. Aufl. 2008; Politische Urteilskraft (zusammen mit Thomas Noetzel), Wiesbaden 2009; Grenzen. Eine Geschichte des Zusammenlebens vom Limes bis Schengen, Darmstadt 2014; Sicherheit, Sicherheitspolitik und Militär. Deutschland seit der Vereinigung, Wiesbaden 2015; Geschichte der Bundeswehr, Berlin 2017.

Kontaktadresse / Contact Address: Professor Dr. Dr. h.c. Wilfried von Bredow (ret.) Philipps-Universität Marburg

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Die Autoren / The Authors

Altes Schulhaus Göttingen 35094 Lahntal Internet: http://staff-www.uni-marburg.de/~vonbredo/

* Justine Diebel Persönliche Angaben / Personal Data: Geboren 1991 in Ziegenhain, Schwalmstadt; Fachhochschulreife in Alsfeld 2009; Abitur in Alsfeld 2011; Studium der Rechtswissenschaften an der Philipps Universität in Marburg 2011; März 2014 – September 2016 studentische Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Gornig, Institut für Öffentliches Recht; Dezember 2016 bis Juni 2017 studentische Mitarbeiterin bei Prof. Dr. Omlor, LL.M., Institut für Handels- und Wirtschaftsrecht; Erste juristische Staatsprüfung 2017; seit Juni 2017 Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Prof. Dr. Puschke, LL.M. am Institut für Kriminalwissenschaften. Born in 1991 in Ziegenhain, Schwalmstadt; Fachhochschulreife in Alsfeld 2009; Abitur in Alsfeld 2011; Studied law at the Philipps University in Marburg in 2011; March 2014 – September 2016 student assistant at the chair of Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Gornig, Institute of Public Law; December 2016 to June 2017 student assistant at the chair of Prof. Dr. Omlor, LL.M., Institute of Trade and Economic Law; First Legal State Examination 2017; since June 2017 Research associate at the chair of Prof. Dr. Puschke, LL.M. at the Institute for Criminal Science.

Auswahlbibliographie / Selected Publications: Mitarbeit an zahlreichen Publikationen am Lehrstuhl von Prof. Gornig wie Gornig/Jahn, Fälle zum Polizei- und Ordnungsrecht, 4. Auflage, 2014. Weitere Publikationen im Erscheinen.

Kontaktadresse / Contact Address: Justine Diebel Philipps-Universität Marburg Universitätsstraße 6 35037 Marburg [email protected]

* Dr. Wolfgang Form Persönliche Angaben / Personal Data Wolfgang Form (geb. 1959); Studium der Politikwissenschaft, Soziologie, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und des öffentlichen Rechts in Marburg; Promotion zum Dr. phil. mit dem Thema Politische NS-Strafjustiz in Hessen. Mitbegründer des Internationalen Forschungs-

Die Autoren / The Authors

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und Dokumentationszentrums Kriegsverbrecherprozesse an der Universität Marburg 2003 und seitdem sein Geschäftsführer. Seit 1992 Lehrbeauftragter an den Hochschulen Marburg, Kiel und Wolfenbüttel. Wolfgang Form (born in 1959) studied political science, sociology, social and economic history, and public law in Marburg, and received his doctoral degree on political criminal justice during National Socialism in Germany from the University of Marburg. In 2003 he co-founded the International Research and Documentation Centre War Crimes Trials, Marburg, and has been its Research Director. From 1992 he has been lecturer in political science and peace and conflict studies at the Universities Marburg, Kiel and Wolfenbüttel.

Forschungsschwerpunkte / Research Interests Forschungsgebiete sind die Entwicklung des Völkerstrafrechts, Geschichte der Kriegsverbrecherprozesse seit 1945 (mit dem aktuellen Schwerpunkt der Khmer Rouge-Verfahren in Kambodscha, sexualisierte Gewalt als Kriegsverbrechen, die Filmaufnahmen des Hauptkriegsverbrecherprozesses), Transitional Justice, GIS und Geschichte sowie Geschichte des Nationalsozialismus. Political criminal and military justice, history of international criminal law, war crimes trials, peace and conflict studies and on local and regional history of National Socialism, Germany and Austrian contemporary history, transitional justice, history of criminal law, international law and human rights law, GIS and history, history of the German National Socialism.

Auswahlbibliographie / Selected Publications Wolfgang Form/Theo Schiller/Lothar Seitz (Hrsg.): NS-Justiz in Hessen. Verfolgung – Kontinuitäten – Erbe. Veröffentlichung der Historischen Kommission für Hessen, Bd. 65, 4, Marburg 2015; Colonization and Postcolonial Justice: US and Philippine War Crimes Trials in Manila After the Second World War, in: Kersin v. Lingen (Hrsg.), War Crimes Trials in the Wake of Decolonization and Cold War in Asia, Springer (2016 Cham, Schweiz); NS-Täter bei Gericht – Richter und Staatsanwälte der politischen Strafjustiz, in: Täter – Richter – Opfer. Tiroler und Vorarlberger Justiz unter dem Hakenkreuz. Schriftenreihe des Bundesministeriums für Justiz, Bd. 160, Wien und Graz 2016, S. 109 – 133; Wolfgang Form/Axel Fischer: Zur Rolle von Völkermord(en) im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess. Eine kritische Analyse, in: Einsicht 16, Bulletin des Fritz Bauer Instituts, Herbst 2016, S. 22 – 28.

Kontaktadresse / Contact Address: Dr. Wolfgang Form Philipps-Universität Marburg Fachbereich Rechtswissenschaften / ICWC Universitätsstr. 7 D-35032 Marburg/Deutschland e-mail: [email protected]

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Die Autoren / The Authors

* Professor Dr. Dr. h. c. mult. Gilbert H. Gornig Persönliche Angaben / Personal Data: Gilbert H. Gornig (geb. 1950): Studium der Rechtswissenschaften und Politischen Wissenschaften in Regensburg und Würzburg; 1984 Promotion zum doctor iuris utriusque in Würzburg (Prof. Dr. D. Blumenwitz); 1986 Habilitation; Lehrstuhlvertretungen in Mainz, Bayreuth und Göttingen; 1989 Direktor des Instituts für Völkerrecht an der Universität Göttingen und 1994 – 1995 Dekan; seit 1995 Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Philipps-Universität Marburg und Geschäftsführender Direktor des Instituts für öffentliches Recht. Er war Dekan von 2006 bis 2012. Von 1996 bis 2004 war er zudem Richter am Hessischen Verwaltungsgerichtshof in Kassel. Er ist Präsident der Danziger Naturforschenden Gesellschaft, des Göttinger Arbeitskreises und der Marburger Juristischen Gesellschaft; er lehrt als Gastprofessor an zahlreichen ausländischen Universitäten. Pensionierung Frühjahr 2016. Gilbert Gornig (born 1950): Studies in Law and Political Sciences in Regensburg and Würzburg; became a Doctor of Law (iuris utriusque) in Würzburg in 1984 (Prof. Dr. D. Blumenwitz); habilitation 1986; lecturer in Mainz, Bayreuth and Goettingen; 1989 Director of the Institute of Public International Law at the University of Göttingen, Dean of the Faculty 1994/95; since 1995 Professor for public law, public international and European law at the Philipps University of Marburg, at the same time being the Executive Director of the Institute of Public Law. He was Dean 2006 up to 2012. Between 1996 and 2004 also Judge at the Higher Administrative Court of Hessen in Kassel. He is President of the Danziger Naturforschende Gesellschaft, of the Goettinger Arbeitskreis and the Marburger Juristische Gesellschaft. He teaches as a guest professor in numerous foreign universities. Retirement Spring 2016.

Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Staatsrecht, Völkerrecht, Europarecht, Verwaltungsrecht. Constitutional Law, International and European Law, Administrative Law.

Auswahlbibliographie / Selected Publications: Die sachbezogenen hoheitliche Maßnahme, 1985; Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 1988; Der Hitler-Stalin-Pakt, 1990; Das Memelland, 1991; Staatennachfolge und die Einigung Deutschlands, 1992; Das Nördliche Ostpreußen, 2. Aufl. 1996; Hongkong. Von der britischen Kronkolonie zur chinesischen Sonderverwaltungszone. Eine historische und rechtliche Betrachtung unter Mitarbeit von Zhang Zhao-qun, 1998; Das rechtliche Schicksal der Danziger Kulturgüter seit 1939 – 45 am Beispiel der Naturforschenden Gesellschaft zu Danzig, 1999; Territoriale Entwicklung und Untergangs Preußens, 2000; Seeabgrenzungsrecht in der Ostsee, 2002 (zusammen mit Gilles Despeux); Völkerrecht und Völkermord, 2002 (Nachdruck 2003); @aQS_ 6Sa_`Zb[_T_ B_oXQ. 6Sa_`VZb[YV B__RjVbcSQ. @aQS_S_p XQjYcQ S B__RjVbcSQf. ?cSVcbcSV^^_bcm T_bdUQabcS-dhQbc^Y[_S, =_b[SQ, BQ^[c-@VcVaRdaT, þYW^YZ þ_ST_a_U, 3_a_^VW, A_bc_S-^Q-5_^d, 6[QcVaY^RdaT, BQ]QaQ, þ_S_bYRYab[, ;YVS, FQam[_S, =Y^b[ (Recht der Europa¨ischen Union. Europa¨ische Gemeinschaft. Rechtsschutz in der Gemeinschaft. Verantwortung der Mitgliedstaaten), 2005 (zusammen

Die Autoren / The Authors

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mit Oxana Vitvitskaja) (Russisch); Der unabha¨ngige Allfinanz-Vertrieb, 2. Aufl. 2007 (zusammen mit Frank Reinhardt); Fa¨lle zum Polizei- und Ordnungsrecht, 4. Aufl. 2014 (zusammen mit Ralf Jahn); Der vo¨lkerrechtliche Status Deutschlands zwischen 1945 und 1990, 2007; Dreptul Uniunii Europene, 3. Aufl. 2009 (zusammen mit Ioana E. Rusu) (Ruma¨nisch); Eigentum und Enteignung im Vo¨lkerrecht unter besonderer Beru¨cksichtigung von Vertreibungen, 2010; Dreptul polit¸ienesc romaˆn s¸i german, 2012 (zusammen mit Monica Vlad) (Ruma¨nisch); Protect¸ia bunurilor culturale, 2013 (zusammen mit Monica Vlad) (Ruma¨nisch); Relaciones entre el derecho internacional pu´blico y el derecho interno en Europa y Sudame´rica, 2016 (zusammen mit Teodoro Ribera Neumann) (Spanisch); Staat – Wirtschaft – Gemeinde, Festschrift fu¨r Werner Frotscher, 2007 (Mitherausgeber); Iustitia et Pax. Geda¨chtnisschrift fu¨r Dieter Blumenwitz, 2008 (Mitherausgeber); Rechtspolitische Entwicklungen im nationalen und internationalen Kontext. Festschrift fu¨r Friedrich Bohl, 2015 (Hrsg.). Mitherausgabe der Staats- und vo¨lkerrechtlichen Abhandlungen der Studiengruppe fu¨r Politik und Vo¨lkerrecht seit 1993. Insgesamt u¨ber 500 Publikationen als Autor und Herausgeber.

Kontaktadresse / Contact Address: Professor Dr. Dr. h.c. mult. Gilbert H. Gornig Philipps-Universität Marburg D-35043 Marburg / Deutschland Tel.: + 49 (0) 64 21 – 163566 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.staff.uni-marburg.de/~gornig/

* Dr. iur. Holger Kremser Persönliche Angaben / Personal Data: Holger Kremser (geb. 1960), 1980/86 Studium der Rechtswissenschaften in Passau, Lausanne und Göttingen. 1992 Promotion in Göttingen. Er ist am Institut für Völker- und Europarecht der Universität Göttingen tätig und vertritt die Fachgebiete Verfassungs- und Verwaltungsrecht sowie das Europa- und Völkerrecht in Forschung und Lehre. Holger Kremser (born 1960), 1980/86 studied law at the Universities of Passau, Lausanne and Göttingen; 1992 doctorate in jurisprudence in Göttingen. He is a member of the Institute for International Law and European Law at the University of Göttingen and represents the subject areas of constitutional and administrative law as well as European and international law in research and teaching.

Auswahlbibliographie / Selected Publications: Monographien und Beiträge in Buchpublikationen/Monographs and book publications: Der Rechtsstatus der evangelischen Kirchen in der DDR und die neue Einheit der EKD, 1993 (Dissertation); „Soft Law“ der UNESCO und Grundgesetz, 1996; Verfassungsrecht III – Staatsorganisationsrecht, 1999 (zusammen mit A. Leisner-Egensperger); Die Rechtsprechung des Eu-

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Die Autoren / The Authors

ropäischen Gerichtshofs zur Niederlassungsfreiheit in der EU und die Bedeutung für nationale Minderheiten, in: D. Blumenwitz/G. Gornig/D. Murswiek, Fortschritte im Beitrittsprozess der Staaten Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas, 1999, S. 51 ff.; Die Sonderstellung von Minderheiten im Wahlrecht zu nationalen Parlamenten, in: D. Blumenwitz/G. Gornig/D. Murswiek, Minderheitenschutz und Demokratie, 2004, S. 59 ff.; Neutralität, Kommerzielle Werbung, Religionsausübungsfreiheit, Sekten, Bearbeitung der zuvor genannten Stichwörter in deutscher, englischer, französischer und spanischer Sprache, in: C. Lageot, Mehrsprachiges Wörterbuch über die Geistesfreiheiten/Multilingual Dictionary of freedoms of Thought, 2008; Tornados nach Alicanto, DocMorris, Staatliche Beihilfe, Bearbeitung von Fällen, in: A. Paulus, Staatsrecht III – Examinatorium Öffentliches Recht, 2010. Aufsätze/Academic essays: Das Äußerungsrecht der Bundesregierung hinsichtlich der sogenannten neuen Jugendsekten und neuen Jugendreligionen im Lichte von Art. 4 I und II GG, ZevKR 1994, 160 ff.; Verfassungsrechtliche Zulässigkeit technischer Regelwerke bei der Genehmigung von Atomanlagen, DÖV 1995, 275 ff.; Das Verhältnis von Art. 7 III 1 GG und Art 141 GG im Gebiet der neuen Bundesländer, JZ 1995, 928 ff.: Der Kommunale Rat in Rheinland-Pfalz, DÖV 1997, 586 ff.; Der Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Land Mecklenburg-Vorpommern, LKV 1998, 300 ff.; Das verfassungsrechtliche Verhältnis von Religions- und Ethikunterricht dargestellt am Beispiel Berlins, DVBl. 2008, 607 ff.; Die polizeiliche Wegweisung, NdsVBl. 2009, 265 ff.; Die fiktive Tierversuchsgenehmigung, NdsVBl. 2012, 250 ff.; Die streikende Beamtin, ZJS 2014, 74 ff.; Der bewaffnete Einsatz der Bundeswehr gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ im Lichte des Staats-, Europa- und Völkerrechts, DVBl. 2016, 881 ff.

Kontaktadresse / Contact Address: Dr. Holger Kremser Institut für Völkerrecht und Europarecht Universität Göttingen Platz der Göttinger Sieben Nr. 5 37073 Göttingen Deutschland E-Mail: [email protected]

* Professor Dr. Paul Mevis Persönliche Angaben / Personal Data: P.A.M. (Paul) Mevis (geb. 1959): Studium der Rechtswissenschaft in Nimwegen (1979 – 1989), dort auch Promotion zum Dr. jur. (1989). Seit 1997 Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Sanktionenrecht an der Erasmus Universität Rotterdam. Stellvertretender Richter am Gerichtshof Rotterdam (erste Instanz) und am Berufungsgerichtshof Amsterdam. Kommentator für die ,Nederlandse Jurisprudentie‘. Kommentator zu Entscheidungen des Hohen Rats (Strafrecht), Mitglied für die Niederlande in der International Penal and Penitentiary Foundation (IPPF). P.A.M. (Paul) Mevis (born in 1959): Studied law in Nijmegen (1979 – 1985), doctorate in law 1989. Since 1997 professor for criminal law, criminal procedure and sanctions at the Erasmus

Die Autoren / The Authors

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University Rotterdam. Chair of the Department for criminal law. Honorary judge in the court of Rotterdam (first instance) and of the Court of Appeal in Amsterdam. Annotator for leading criminal cases of the Dutch Supreme Court for ‘Nederlandse Jurisprudentie’. Dutch member of the International Penal and Penitentiary Foundation (IPPF).

Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Strafrecht, Strafverfahrensrecht und Grundrechte, faires Verfahren, Sanktionenrecht, Euthanasie, Sterbehilfe und Strafrecht. Substantive criminal law, criminal procedure law and fundamental rights, right to a fair trial, sanctions and sanction systems, euthanasia and assisted suicide in relation to criminal law.

Auswahlbibliographie / Selected Publications: (Mit M. Lindemann [University of Bielefeld]), Recent developments in the Legislation and Case-Law on Euthanasia and Assisted Suicide – A Comparative Analysis of the Situation in Germany and the Netherlands, in: J. Hruschka & J.C. Joerden (red.), Jahrbuch für Recht und Ethik (Annual Review of Law and Ethics), Band 24 (2016), Berlin, Duncker & Humblot, 2016, p. 357 – 387; (mit S. Struijk), Legal Constraints on the Indeterminate Control of ,Dangerous‘ Sex Offenders in the Community: The Dutch Perspective, Erasmus Law Review, volume 9, nr. 2, 2016, p. 95 – 108; (mit L. Postma, M. Habets, J. Rietjens und A. van der Heide), Advance Directives Requesting Euthanasia in the Netherlands: do they enable euthanasia for patients who lack mental capacity?, in: Journal of Medical Law and Ethics, volume 4 (2016)/2, p. 127 – 140; (mit J. M. Reijntjes), Hang Kaiser Wilhelm! But For What? A Criminal Law Perspective, in: Morten Bergsmo, CHEAH Wui Ling en YI Ping (red.), Historical Origins of International Criminal Law, volume 1, FICHL Publication, Series No. 20 (2014), Torkel Opsahl Academic EPublisher, Brussel 2014. p. 213 – 257; (mit J. M. Reijntjes) Hang the Kaiser! But for what, and would it be Justice?, in: ,The Great War and its significance for Law, Legal Thinking and Jurisprudence‘, Erasmus Law Review, volume 7, issue 2, October 2014, p. 98 – 107.

Kontaktadresse / Contact Address: Professor Dr. Paul Mevis Erasmus Universität Rotterdam Burg. Oudlaan 100 Postbus 1738 3000 DR Rotterdam Niederlande +-31 – 10 – 4081547 e-mail: [email protected] Universitätsstr. 6

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Die Autoren / The Authors

* Dr. iur. Adrianna Agata Michel Persönliche Angaben / Personal Data: Adrianna Agata Michel wurde im Jahre 1985 in Pyrzyce (Polen) geboren und ist in Deutschland aufgewachsen. Sie studierte Rechtswissenschaften mit dem Schwerpunktbereich „Völkerund Europarecht“ an der Philipps-Universität Marburg. Seit 2012 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Öffentliches Recht der Philipps-Universität Marburg tätig. Sie promovierte im Jahre 2014 auf dem Gebiet des Völkerrechts (Prof. Dr. Dr. h.c. mult. G. Gornig). Im Jahre 2015 beendete sie ihr Referendariat und habilitiert seitdem am Fachbereich Rechtswissenschaften in Marburg. Adrianna Agata Michel was born in 1985 in Pyrzyce (Poland) and grew up in Germany. She studied law specializing in Public International Law and European Law at the Philipps-University of Marburg. Since 2012 she is a member of the research staff at the Institute of Public Law at the Philipps-University of Marburg. She made her PhD in 2014 in the area of Public International Law (Prof. Dr. Dr. h.c. mult. G. Gornig). In 2015 she finished her practical legal training and habilitates since then at the Faculty of Law in Marburg.

Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Völkerrecht, Europarecht, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht. International Law, European Law, Constitutional Law, Administrative Law.

Auswahlbibliographie / Selected Publications: Polens Staatlichkeit in sieben Jahrhunderten. Eine völkerrechtliche Analyse zur Staatensukzession, in: Gornig, Gilbert (Hrsg.), Schriften zum internationalen und zum öffentlichen Recht, 2014; Die Ukraine-Krise aus völkerrechtlicher Perspektive – Die Krim im russisch-ukrainischen Spannungsfeld, in: Gornig, Gilbert/Horn, Hans-Detlef (Hrsg.), Territoriale Souveränität und Gebietshoheit. Grundlagen der Sicherung des gefährdeten Friedens im östlichen Europa und in der Welt. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Band 30, Duncker & Humblot, Berlin, S. 83 – 125; Die Einverleibung der Krim durch Russland. Eine völkerrechtliche Würdigung, in: National Public Law Association of Korea (ed.), National Public Law Review, vol. 11 – 2, 2015, S. 85 – 127; „Chaostage in der Stadt“ (Fallbesprechung), in: Marburg Law Review (MLR), 2015, Heft 2, S. 69 – 74 (zusammen mit Gilbert H. Gornig); Die de facto und de iure Staatenlosigkeit. Ein schweres Schicksal für die Betroffenen, in: Gornig, Gilbert/Horn, Hans-Detlef (Hrsg.), Migration, Asyl, Flüchtlinge und Fremdenrecht. Deutschland und seine Nachbarn in Europa vor neuen Herausforderungen, Duncker & Humblot, Berlin 2017, S. 67 – 104; „Schweinepest“. Klausur im Europarecht (Fallbesprechung), in: Marburg Law Review, 2017, S. 45 – 52 (zusammen mit Gilbert H. Gornig).

Die Autoren / The Authors

Kontaktadresse / Contact Address: Dr. iur. Adrianna A. Michel Philipps-Universität Marburg Fachbereich Rechtswissenschaften Institut für Öffentliches Recht Universitätsstr. 6 D-35032 Marburg / Deutschland Tel.: + 49 (0) 64 21 – 28 231 24 E-Mail: [email protected]

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Personenregister / List of Names Atatürk, Mustafa Kemal Pascha, Begründer der Republik Türkei 77 Baden, Max von, Reichskanzler 102 Bernhoft, Hermann A., dänischer Gesandter 96 Bertuleit, Wilhelm, Präsident des Memeldirektoriums 168 Bluntschli, Johann Caspar, Rechtswissenschaftler 65, 232 Boldt, John 202, 203, 204, 205 Boleslaw von Polen 114 Boutros-Ghali, Boutros, Generalsekretär der Vereinten Nationen 141 Bülow, Karl W. von, Generalfeldmarschall 28, 198, 221 Chotek, Sophie 21 Christian I., König von Dänemark 88 Christian IX., König von Dänemark 89 Churchill, Winston, 7. Herzog von Marlborough, Premierminister, 185 Clark, Christopher, Autor 21, 33 Clausewitz, Carl Philipp Gottlieb von, Heeresreformer, Militärwissenschaftler 38 Clemenceau, Georges, französischer Ministerpräsident 57, 154, 155, 230, 231 Cohn, Oskar 194 Crusius, Benno, Major, Angeklagter 200, 202 Curzon of Kedleston; Lord George, Außenminister 189 Damad Ferid Pascha, Großwesir 76 Dimitrijevic´, Dragutin, Chef des serbischen Militärgeheimdienstes 21 Dithmar, Ludwig 202, 203, 204, 205 Ducarme, belgischer Generalstabschef 234 Dunant, Henry, Begründer der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung 182

Eberhard von Seyn 152 Ebert, Friedrich, Reichspräsident 154, 195, 209 Einem, Karl von, General 48 Ferro, Marc, Historiker 26 Fischer, Fritz, Autor 15 Forster, Albert, Gauleiter, Staatsoberhaupt der Freien Stadt Danzig 127, 128, 129 Förster, Stig, Historiker 33 Franz Ferdinand, Erzherzog 5, 7, 20, 21, 22, 34, 35 Franz Joseph I., Kaiser von Österreich 34 Friedrich August, König von Sachsen 120 Friedrich II., der Große 117 Friedrich Wilhelm I., König von Preußen 150 Friedrich, István, ungarischer Ministerpräsident 72 Galvanauskas, Ernestas, litauischer Politiker und Premierminister 163 Geiss, Imanuel, Autor 20 Greiser, Arthur, Senatspräsident der Freien Stadt Danzig 127 Griffith-Jones, J. M. G., Oberstleutnant 172 Grotius, Hugo, Völkerrechtler 39 Haber, Fritz, Leiter des Kaiser-Wilhelm-Instituts 47 Hansen, Hans P., nord-schleswigische Reichstagsabgeordnete 90 Heinrich von Kurland, Bischof 152 Herzog Adolf VIII., Graf von Holstein und Storman sowie Herzog von Schleswig 88 Heynen, Karl, Unteroffizier 201, 202 Hindenburg, Paul L. von Beneckendorff und von Hindenburg, Reichskanzler 195, 221 Hirohito, Kaiser 191 Hollweg, Bethmann, Reichskanzler 28 Horty, Miklós, Staatsoberhaupt Ungarns 72

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Personenregister / List of Names

Hötzendorf, Franz Conrad von, Generalstabschef 23, 29, 30, 31 Hoyos, Alexander Graf von, Kabinettschaf des Außenministers 29, 34 Huber, Ernst R., deutscher Staatsrechtler 91, 232 Kahl, Wilhelm, Rechtswissenschaftler 195 Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig, Herzog 120 Károly, Michael, Graf, ungarischer Politiker 72 Kasimir III., der Große, König von Polen 114 Kasimir IV., von Polen 114 Kemal, Mustafa, General 77 Khan, Daniel-Erasmus, Völkerrechtler 91 Konrad von Masowien, Herzog 151 Kreß, Claus 196 Krüger, Herbert, Völkerrechtler 87 Krumeich, Gerd, Autor 16 Kruska, Benno, Angeklagter 200, 202 Lambsdorff, Georg Graf, Reichskommissar 157, 175, 178 Lansing, Robert, US-amerikanischer Außenminister 231 Laule, Adolf, Angeklagter 200, 202 Lloyd George, David, Außenminister, Britischer Premierminister 33, 80, 196, 216,220, 230, 231 Ludendorff, Erich, deutscher General und Politiker 195 Marling, Charles Sir, Vorsitzender der Internationalen Abstimmungskommission 93 Martens, Friedrich F., russischer Diplomat und Jurist 41, 64 McMeekin, Sean 30 Mestwin, Herzog 114 Meyer, Julius, Major 47 Mitschinsky, Viktor, Autor 71 Molotow, Wjatscheslaw M., von 1939 bis 1949 sowjetischer Regierungschef sowie 1953 – 1956 sowjetischer Außenminister 127 Moltke, Helmuth J. L. von, der Jüngere, preußischer Generaloberst 18, 26 Mombauer, Annika, Autorin 22, 24, 33

Müller, Emil, Hauptmann 201, 202 Müller, Georg A., deutscher Admiral, von 1906 bis 1918 Chef des Marinekabinetts 225 Mullins, Claude, Autor 208, 209 Neumann, Ernst, „Führer der Memeldeutschen“ 168 Neumann, Karl, Oberstleutnant 200, 201, 202 Neumann, Robert, Soldat 202 Odry, Dominique-Joseph, französischer Divisionsgeneral und Oberkommissar des Memellandes 157, 158, 175. 178 Oppenheim, Harold, britischer Militärjurist 184 Palmerston, Henry John Temple, 3. Viscount Palmerston, britischer Premierminister 87 Patzig, Helmut, Kommandant 202, 203, 204, 205 Petisné, Gabriel, französischer Präfekt 158 Poincaré, Raymond, französischer Ministerpräsident 24, 30, 31, 34 Potiorek, Oskar, österreichischer Gouverneur in Bosnien 22 Princip, Gavrilo, bosnisch-serbischer nationalistischer Attentäter 5, 7, 22 Przemysław II., polnischer König 113 Radbruch, Gustav, Justizminister 208, 209 Rauschning, Hermann, Senatspräsident der Freien Stadt Danzig 127 Renault, Louis, Völkerrechtler 103 Renner, Karl, österreichischer Delegierter 69 Ribbentrop, Joachim von, Reichsaußenminister 127, 169, 172 Schack, Hans, Angeklagter 200, 202 Schätzel, Walter, Völkerrechtler 106 Scheffer, Justizminister 194 Schmitt, Carl, Rechtswissenschaftler 14 Schwander, Rudolf, Autor 101 Schwengler, Walter, Autor 230, 231 Shawcross, Sir Hartley, Generalstaatsanwalt 172 Sigismund II. August, polnischer König 118

Personenregister / List of Names Skubiszewski, Krzysztof, polnischer Politiker und Jurist 121, 133 Stephan Bathory, polnischer König 118, 119 Strachan, Hew, Autor 29, 32 Strenger, Karl, Generalleutnant 200 Swantopolk II., pommerellischer Herzog 113 Tacitus, Cornelius, Autor 150 Tiedje, Johannes, Sachverständiger 93 Tirpitz, Alfred Peter Friedrich von, deutscher Großadmiral 221 Tisza, István, ungarischer Ministerpräsident 23, 29 Trotha, Adolf L. von, Vizeadmiral 204

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Urbsys, Juozas, litauischer Außenminister 168, 169, 172 Vattel, Emer de, Völkerrechtler 64, 65, 220 Waldkirch, Eduard O. von, Völkerrechtler 65 Weizsäcker, Erich H. von, Staatssekretär des Auswärtigen Amtes 169 Willis, James F., US-amerikanischer Jurist 236, 237 Wilson, Woodrow, US-amerikanischer Präsident 56, 57, 59, 63, 66, 82, 90, 106, 125, 143, 145, 153, 154, 230, 231 Wittmann, Bernhard, Historiker 109 Zechlin, Erich, Gesandter 169

Sachregister / Subject Index Abrüstung 59, 73, 183 Abstimmung 60 ff.,66, 69 ff., 74, 87, 90 ff., 104, 110, 122, 123, 125, 143 Abtretung des Memelgebiets 153 ff., 156, 167 ff., 170 ff., 177 Achte Haager Konvention 42, 51, 52, 220 Aestier 150 Ägypten 78 Allbeteiligungsklausel 40, 43 Allenstein 60, 61, 122 Amerongen 217 Amnestie 181, 197, 220 Anatolien 76, 79, 81 Anfechtung 60, 87, 173 Angriffskrieg 67, 183, 228, 232, 233, 235 Annexion 45, 78, 79, 81, 102, 129, 130, 131, 133, 136, 139, 144 f., 163, 175 f. Arbeitsgemeinschaft für den Freistaat Memel 158 Armenien 78, 81 Association International du Droit Pénal 192 Asyl 217 Attentat von Sarajewo 5, 17, 20 ff., 23, 24, 28, 34 Auslieferung 118, 190 f., 194 ff., 217, 220 f., 229 Australien 58 Autonomie des Memelgebiets 162 ff., 177 Baden 104 Balkankrieg 20, 23, 25, 28, 74, 75 Banat 73 Banater Schwaben 72 Bas-Rhin 107 Batschka 73 Bayerische Pfalz 104 Bayern 104 Belgien 35, 59, 60, 69, 72, 192, 198, 224,227, 228, 230, 233 f. bellum iustum 183 Berliner Kongress von 1878 20

Besatzungsrecht 43, 68 Beschluss des sowjetischen Staatskomitees für Verteidigung Nr. 7558 vom 20. 2. 1945 130 Bevölkerungsaustausch 81 Böhmen 69, 71 Bolivien 58 Bonn-Kopenhagener Erklärungen vom 29. 3. 1955 96 Brasilien 58 Brest-Litowsk, Frieden vom 3. 3. 1918 55 Briand-Kellogg-Pakt vom 27. 8. 1928 173 Brüsseler Erklärung von 1874 40, 44 Brüsseler Kriegsrechtsdeklaration 183 Bryce-Bericht 224 Bukarest, Frieden vom 10. 8. 1913 74, 75 Bukowina 70 Bulgarien 23, 29, 56, 58, 74, 75, 81 ff. Bulgarische Westgebiete 75 Charta der europäischen Minderheitensprachen 109 Chateau d’Ouchy 80 China 58, 60, 69, 75 Chlorgas 47 Christburg 117 Cisleithanien 70 Commission Internationale de Surveillance du Plébiscite Slesvig 92 Commission on the Responsibility of the Authors of the War and on Enforcement of Penalties 228 Costa Rica 58 Culmerland 151 Cyberkrieg 53 Cyrene 76 Dalmatien 70 Danzig 60, 62, 111 ff. Danzig-Memelländisches Obergericht 158 Dardanellenschlacht 77

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Sachregister / Subject Index

Dedeagatsch 75 Dekret des polnischen Ministerrates vom 30. 3. 1945 130 Desannexion 102 f., 105 Deutschböhmen 71 deutsch-dänische Grenze 90, 91 Deutsch-dänischer Vertrag vom 10. 4. 1922 94 Deutsch-Krone 123 Deutsch-Österreich 69 Deutsch-Südtirol 71 deutsche Sprache 109, 163 Deutscher Ausschuss für das Herzogtum Schleswig 90 Deutscher Orden 113 ff.,117, 151, 152 Deutscher Ritterorden 151 Dirschau 113, 119, 124 Dobriner Land 114 Dobrudscha 74 Dodekanesinseln 78 Donaumonarchie 29, 69, 72 Doorn 217 Doppelbestrafung 191 Drei-Elemente-Lehre 160 Dumlupinar, Schlacht von, am 30. 8. 1922 79 Ecuador 58, 59 Eisenbahn im Memelgebiet 156, 158, 165 Elbing 114, 117, 123 Elsass 99 ff. Elsass-Champagne-Ardennen-Lothringen 108 Elsass-Lothringen 95, 99 ff. – als unabhängige Republik 101 – preußische Verwaltung 100 – Wiedereingliederung in den französischen Staat 106 ff. Entmilitarisierung der Meerengen 81 Ermland 60, 61, 117, 123 Erster Weltkrieg 46 ff., 121 ff., 184 ff. Erwin von Steinbach-Stiftung 107 Eupen-Malmedy 60 Europäisches Konzert 25, 32 Evidenztheorie 129 Fiume 73 Flatow 60, 123

Frankreich 31 ff., 35, 46, 47, 58 ff., 69, 72, 75, 79, 80, 92, 94, 99 ff., 107 ff., 120, 150, 156, 157, 159, 161, 164, 169, 170 f., 175 f., 189, 192, 215, 224, 227, 230, 234 Freihafenzone 162 Freischärler, litauische 161 ff., 163 ff., 176 Frieden von Bukarest vom 10. 8. 1913 74, 75 Friedensvertrag vom 10. 5. 1871 99 Galizien 70 Gaskrieg 47 ff., 183 Gebietsverluste Deutschlands 74, 75, 113 ff., 121 ff., 124, 145 Geheimabkommen vom 27. 7. 1944 130 Genfer Konvention 41, 182, 183 Genfer Konvention von 1864 51 Gerechter Krieg 38 Gesetz über die Vereinigung der wiedergewonnenen Gebiete mit der allgemeinen Staatsverwaltung vom 11. 1. 1949 131 Gewaltverbot 37 ff. Grabenkrieg 46 Grenzabkommen vom 27. 7. 1944 130 Grenzbestätigungsvertrag vom 14. 11. 1990 138 Griechenland 23, 58, 69, 74 ff. Groschken 61 „Großer Osten“ 108 Guatemala 58 Gumbinnen 174 Haager Friedenskonferenz 40, 41, 44, 51 Haager Konventionen 220 Haager Landkriegsordnung von 1899/1907 40, 43, 45, 48, 50, 136, 183, 184 Haiti 58 Haut-Rhin 107 Hedschas 58, 59, 76, 78 Herzogtum Warschau 120 Heydekrug 149, 157, 174, 175, 178 Hitler-Stalin-Pakt vom 24. 8. 1939 127 Holderith-Reform 109 Honduras 58 Hugenotten 150 Hultschiner Ländchen 60 Humanisierung des Krieges 38, 41, 182 Immunität 181, 188, 190, 222, 226 Inkorporationsprivileg 114 ff., 118

Sachregister / Subject Index Internationale Arbeitsorganisation 56 Internationale Flüsse 156 Irrelevanztheorie 129 Italien 35, 58, 69, 70, 72, 73, 75, 78, 80, 81, 82, 92, 94, 156, 157, 159, 164, 170 171, 176, 177, 189, 215, 230 ius ad bellum 39, 40, 181, 228 ius in bello 39, 40, 181, 220, 221, 222, 223, 224, 228, 230, 236, 237 Japan 30, 58, 60, 69, 72, 75, 80, 92, 94, 156 , 158, 159, 164, 170, 171, 176 ff., 189, 190, 210, 215, 222 Jemen 76 Jugoslawien-Tribunal 226 Juli-Krise 1914 17, 20 ff., 27, 28, 33, 34 f. Kanada 58 Kanaltal 70 Karlsbader Beschlüsse 72 Karolinen 60 Kaschuben 114,126 Kiautschou 60 Klaipeda 152, 175 Klein Lobenstein 61 Klein Nappern 61 Koimperium 135 Kombattanten 40, 43 f., 141, 181, 183 Kondominium 89, 159, 160, 176 Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen 70, 73, 75, 80 Konterbande 51 Konvention von Ankara vom 20. 10. 1921 79 Krain 70 Kriegsbeginn 14 ff., 39, 42, 217, 228 Kriegsende 17, 45, 185 Kriegserklärung 25, 34, 35, 42, 59, 78, 102, 232 Kriegsgebiet 43, 50 Kriegsgefangene 38, 39, 40, 44 f., 51, 69, 183, 184, 191, 192, 201, 202 Kriegsrecht 37 ff., 184, 220, 224, 226 Kriegsschauplatz 43, 76, 80 Kriegsschuld 17, 228 Kriegsschuldartikel 13, 63, 68 Kriegsschuldparagraph 73 Kriegsverbot 37, 40 Kriegsverbrechen 63, 78, 181 ff.

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Kriegsverbrechengesetz 193, 194,197 Kriegsverbrecher 63, 188, 191, 192, 193, 197, 199, 206, 208 Kriegszustand 42, 55, 58, 59, 80, 168 Kroatien 71, 73 Kuba 58, 69, 75 Kujawien 114, Kulm 120, 150 Kulmerland 114, 116 Kuren 150, 152 Kurische Nehrung 149, 155 Kurisches Haff 155 Landkrieg 40 ff., 43, 221, 233 Legalitätsprinzip 233 Leipziger Prozesse 198. 201, 208, 219, 221 Liberia 58 Libyen 78, 81 Lieber Code 182 Litas, Währung 162, 163 Liven 152 Livland 117, 151 Livländische Ordensprovinz 151, 152 Llandovery Castle 202, 203, 204, 207 Llandovery Castle Fall 202, 206, 207, 209 Londoner Seerechtserklärung von 1909 51 Londoner Seerechtskonferenz von 1908/ 1909 51 Lothringen 31, 99 ff. Lubliner Dekret vom 18. 3. 1569 118 f. Lubliner Exilregierung 130 Luftkrieg 50 Mähren 69, 71 Makedonien 74 Marburg/Drau 71 Marianen 60 Marienburg 117, 119, 122 Marienwerder 60, 61, 122, 128 Martens’sche Klausel 41 Massen-Neuansiedlungen polnischer Bürger 136 Masuren 60, 61, 122 Meerengenkonvention 81 Melno-See, Frieden am, vom 27. 9. 1422 153 Memeler Hafen 155, 164, 170, 176 Memelgebiet 149 ff. – Abtretung an Deutschland 167 ff.

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Sachregister / Subject Index

– Abtretung durch Deutschland 153 ff. – als autonomes Gebiet 164 ff. Memelkonvention 164 ff. Memelstatut 165 ff. Mennoniten 150 Mesopotamien 76, 78 Mießtal 70 Minderheiten, 20, 78, 96 ff., 108 ff., 126, 244 – deutsche 96 ff. Minderheitenrecht 68, 96, 108 ff. Mittel-Schleswig 91 Montenegro 74 Moseldepartment 107 Moskauer Deklaration von 1943 192 Moskauer Vertrag vom 12. 8. 1970 136 f. Münchner Abkommen vom 30. 9. 1938 173 Nachbarschaftsvertrag vom 17. 7. 1991 138 Napoleon I. 120, 229, 230 Neukamerun 60 Neuseeland 58 Neuteich 125 Neutral-Moresnet 60 Nicaragua 58, 69, 72 Nichtkombattanten 43 f. Nidden 149, 155 Niederösterreich 69 Norddeutscher Bund 100, 104 Nord-Schleswig 87 ff. Note vom 16. 6. 1919 155 Note vom 16. 2. 1923 167 Nürnberger Prozesse 184, 235 Oberelsass 107 Oberschlesien 60, 61, 62, 121 Ödenburg 70, 71 Ohra 125 Oliva 124, 125 Osmanisches Reich 5, 20. 23, 26, 53, 56, 74, 76 ff. Österreichisch-Schlesien 69 Ostpreußen 60 ff., 113 f., 117, 121, 123 f., 130, 149, 150, 152, 154, 155, 170, 174, 175 Ostthrakien 77, 81 Palästina 78 Panama 58, 69, 72 Pariser Erklärung von 1856 40

Pariser Friedenskonferenz vom 12. 1. 1919 bis zum 10. 8. 1920 56 f., 64, 82 Pariser Vorortverträge 56, 67, 81, 83 Partium 73 Peru 58 Pfahlgeldvertrag 119 Pogegen 157, 174 Polangen 152 Polen 58, 59, 60, 61, 62, 69, 70, 73, 75, 113 ff., 150, 153 ff., 158, 160, 161 Pomerellen 117 Pomoranen 113 Portugal 58, 69, 73 Post im Memelgebiet 158, 165 Potsdamer Abkommen 130, 132, 133, 134, 135, 144 Präliminarfrieden vom 26. 2. 1871 99 Praust 125 Präventivkrieg 28 Prekmurje 73 Preußisch-Eylau 120 Prisenrecht 51 Pruzzen 150, 151 Ragnit 149. 175, 178 Rat der Danziger 141 Realunion 72, 88, 116 Reichsbahn 158 Reichsgau Danzig Westpreußen 128 Reichsgau Westpreußen 128 Reichsland 100, 101 Reichsversicherungsordnung 108, 111 Relevanztheorie 129 Reparationen 63, 67, 69, 73, 75, 182, 209 Rheinbrücken 104 f. Riepener Privileg 88 Royal Flying Corps 50 Rückgabe 105, 169 Rumänien 23, 58, 69, 70, 72, 73, 74, 80 Saargebiet 62 Salzburger 150 Samboriden 113 Sarajewo, Attentat von 17, 21, 22, 23, 34 Schalauer 150, 152 Schamaiten 150, 152, 153 Schlacht bei Konitz vom 18. 9. 1454 114 Schlacht bei Płowce vom 27. 9. 1331 113

Sachregister / Subject Index Schlawe 113 Schlesien 60, 71 Schleswig 60, 88, 89, 90 ff. Schleswig-Holstein 87 ff. Schlieffenplan 31 Schlochau 60, 123 Schmalleningken 149, 155 Schneidemühl 123 Schuldfrage 219 Schulwesen 97 Schwertritterorden 151, 152 Sedan 99 Seekrieg 51 ff., 220 Seeland 70 Seeminen 51, 52 Seerechtsdeklaration von 1856 40, 51 Selbstbestimmungsrecht der Völker 45,66, 67, 74, 83, 89, 90, 91, 125, 143, 159, 173, 176 Serbien 23, 24, 26, 28, 29, 30, 31, 32, 34, 59, 74, 75 Serbisch-kroatisch-slowenischer Staat 69, 73 Siam 58, 69, 72 Siebenbürgen 71, 73 Siebenbürger Sachsen 72 Skagerrakschlacht von 1916 52 Skierwietharm 149, 155 Slawonien 71, 73 Smyrna 77, 79 Solferino, Schlacht von, von 24. 6. 1859 182 Souveränität 39, 45, 60, 66, 77, 81, 89, 92, 94, 99, 102, 104, 115, 133, 135 ff., 156 f., 159, 160, 162, 163, 164, 167, 170, 175, 176, 177, 178 Souveränitätswechsel 93 f. St. Petersburger Erklärung von 11. 12. 1868 40 Staatsangehörigkeit 78, 92, 95, 105 ff., 126, 133, 136, 138, 143, 155, 174 Staatsangehörigkeit der Danziger 136 Staatsangehörigkeitsvertrag vom 8. 7. 1939 174 Statut von Rom 196 Statuta Karnkowiana 118, 119 Stolp 113 Südafrikanische Union 58 Sudauer 150 Süd-Baranya (Drávaköz) 73

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süddeutsche Staaten 100, 103, 104 Südkärnten 70 Südostanatolien 81 Südpreußen 119 Südschleswig 62 Südtirol 69, 70, 71 Syrien 76, 78 Tannenberg, Schlacht von 1914 152 Teilungsvertrag vom 23. 1. 1793 119 f. territoriale Souveränität 133, 135, 136, 157, 159, 163, 175, 176, 177, 178 Thorn 116, 117, 119, 120 Thorner Frieden, Erster, vom 1. 2. 1411 152 Thorner Frieden, Zweiter, vom 19. 10. 1466 116 ff., 152, Thrakien 79, 81 Tiedje-Linie 93 Tiegenhof 125 Tilsit 144, 174, 175 Tilsit, Friede von, vom 7. 7. 1807 120 Tilsit, Friede von, vom 9. 7. 1807 120 Transitional Justice 185 Transitverkehr 164, 176 Trierer Reichstag von 1512 117 Triple Entente 57, 76 Tripolitanien 76 Tschechoslowakei 58, 60, 69, 70, 73, 172 U-Boot-Krieg 52, 221 UN-Charta 140 f. Union Interparlementaire 191 United Nations War Crimes Commission 188 „Unser Land – Le Parti Alsacien“ 110 Unterelsass 107 Untersteiermark 70 Uruguay 58 Verdun, Schlacht von 1916 46 Vereinigte Staaten von Amerika 52, 56, 58, 59, 75, 142, 153, 156, 157, 159, 189, 215, 230 Vereinigtes Königreich 159, 164, 176 Vereinte Nationen 139 ff. Verfassung der freien Stadt Danzig 125, 128, 143 vergiftete Waffen 48 Vertrag von Kalisch vom 8. 7. 1343 114

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Sachregister / Subject Index

Vertrag von Lausanne vom 24. 7. 1923 79, 80 ff. Vertrag von Neuilly-sur-Seine am 27. 11. 1919 56, 74 ff. 84 Vertrag von Ripen vom 5. 3. 1460 88 Vertrag von Saint-Germain-en-Laye vom 10. 9. 1919 56, 69 ff. Vertrag von Sèvres vom 10. 8. 1920 76 ff. Vertrag von Trianon vom 4. 6. 1920 56, 71 ff., 83, 84 Vertrag von Versailles vom 28. 6. 1919 33, 55, 57 ff., 68 f., 77, 82 ff., 87 ff., 99 ff., 113 ff., 149 ff., 153 ff., 178 f., 189, 193, 215 ff., 227, 235 ff. Vertreibung der Danziger Bevölkerung 132 Vertretung der Freien Stadt Danzig 141 Vierzehn Punkte 57, 59, 66, 82, 89, 90, 125, 143, 145, 153 Völkerbund 37, 55, 56, 62, 63, 67, 69, 73, 77, 94, 122, 125, 127, 138, 139, 140, 143, 144, 171, 177, 190, 192, 230 Völkermord 77 Völkerstrafrecht 63, 184, 186, 210 Volksabstimmungen 60, 62, 69, 92 ff., 110, 122 Vorfriedensvertrag 66, 67, 153 Waffenstillstand 39, 50, 55, 57, 59, 72, 75, 76, 80, 102, 185, 221 Waffenstillstand von Compiègne 55, 101 Waffenstillstand von Mudanya vom 11. 10. 1922 80 Waffenstillstand von Mudros vom 30. 10. 1918 76

Waffenstillstand von Thessaloniki vom 29. 9. 1918 75 Waffenstillstandsvertrag von Compiègne vom 22. 6. 1940 55, 101, 185 Wahlen im Memelgebiet 166, 167 f. Währungsgebiet Deutsches Reich–Memelgebiet 158 Warschauer Vertrag vom 7. 12. 1970 137 Welschtirol 70 Westerplatte 119, 127 Westfälischer Friede von 1648 181 Westpreußen 113 ff., 120, 121, 122, 123, 128 Westthrakien 74, 75, 81 Westungarn 70, 73 „wiedergewonnene Gebiete“ 131, 132 Wiedergutmachung 14, 67, 105, 138, 218, 219 Wiedervereinigung Danzigs mit dem Deutschen Reich 127 ff. Wiener Frieden vom 30. 10. 1864 89 Wiener Kongress 13, 25, 120 Wilsons Vierzehn Punkte Programm 57, 59, 66, 82, 89, 90, 125, 143, 145, 153 Wirtschaftskrieg 51 Zaribrod 75 Zeitungswesen 97 Zugang zum Meer 153, 154, 155 Zwang 64 ff., 172, 173 Zwangsumsiedlung 79, 81 Zwei-Plus-Vier-Vertrag vom 12. 9. 1990 137, 142, 175, 177 Zweites Londoner Protokoll von 1852 88 Zypern 78, 79, 81, 82