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German Pages [272] Year 2009
Margret Dörr / Josef Christian Aigner (Hg.)
Das neue Unbehagen in der Kultur und seine Folgen für die psychoanalytische Pädagogik
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40204-7
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Inhalt
Josef Christian Aigner und Margret Dörr Die psychoanalytische Pädagogik vor dem Unbehagen in der Kultur. Einleitung ............................................................ I.
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Kulturtheoretische Perspektiven auf das »Unbehagen« in der Gegenwartsgesellschaft
Hans-Joachim Busch Das Unbehagen in der Spätmoderne ........................................
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Micha Brumlik Die Aktualität des Todestriebs. Zur Aktualität eines Phänomens und eines unzeitgemäßen Gedankens ................
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Barbara Rendtorff Unbehagliche Differenzen. Frauen, Männer und Kultur ......
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Andreas Kriwak Das Unbehagen zwischen Begehren und Trieb .......................
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Till Bastian Unübersichtlichkeit, Fragmentierung und Zerfall – und die neue Sehnsucht nach dem Schlichten ........................ 107 II. Möglichkeiten und Probleme des Umgangs mit dem »Unbehagen in der Kultur« in therapeutischen und pädagogischen Kontexten Annedore Hirblinger Überich-Fixierung und Störung der Mentalisierungsfähigkeit. Aspekte der Selbstentwicklung in der psychoanalytischen Therapie ......................................... 121
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Inhalt
Heiner Hirblinger Überich-Fixierung und Störung der Mentalisierungsfähigkeit in pädagogischen Praxisfeldern. Aspekte einer Entwicklung des Selbst im Unterricht und in der Lehrerbildung ................ 141 Achim Würker Das Unbehagen in der Kontrollkultur ...................................... 159 Burkhard Müller Das pädagogische »Unbehagen in der Kultur«. Anmerkungen zur Wirkungsgeschichte eines Konzepts ....................................................................................... 185 III. »Unfreudige« Tendenzen in den Entwicklungslinien der Psychoanalyse Günther Bittner Muss ich mein eigener Feind sein? Plädoyer für Freuds moralkritische Perspektive ......................................................... 209 Jürgen Körner Das psychoanalytische Unbehagen in der Kultur – Symptom und Remedium der spätbürgerlichen Gesellschaft? ................................................................................. 230 Rolf Göppel Das Unbehagen an der Freudlosigkeit der psychoanalytischen Kultur. Freuds »Techniken der Leidabwehr« und aktuelle »Anleitungen zur Lebenskunst« ................................................................................ 241 Die Autorinnen und Autoren .................................................... 267
Josef Christian Aigner und Margret Dörr
Die psychoanalytische Pädagogik vor dem Unbehagen in der Kultur Einleitung
Das Unbehagen in der Kultur gehört zu jenen Schriften Freuds, die immer wieder im Zusammenhang mit der gesellschafts- und kulturkritischen Bedeutung der Psychoanalyse genannt werden. Zumindest der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, hat ja eigentlich nie einen Zweifel daran gelassen, dass es ihm im Rahmen der Auseinandersetzung zwischen Trieb und Kultur, zwischen Subjekt und Gesellschaft immer auch um den konkreten Zustand der Kultur sowie um die Kritik an der ihn umgebenden Gesellschaft geht. Freilich haben nicht alle seine Schülerinnen und Schüler und spätere Verzweigungen innerhalb der Psychoanalyse dies wahrgenommen oder gar weiter verfolgt: ob wegen der Positionierung im Medizinsektor (Stichwörter wie »Medizinalisierung«, »Medicozentrismus«) oder wegen der Verfolgung der Psychoanalyse in der Nazizeit oder wegen der jüngst erfolgten Therapeutisierung der Psychoanalyse – die Psychoanalyse geriet vielfach in eine Position, in der sie ihr Schöpfer nicht gerne gesehen hätte: Wir halten es nämlich gar nicht für wünschenswert, daß die Psychoanalyse von der Medizin verschluckt werde und dann ihre endgültige Ablagerung im Lehrbuch der Psychiatrie finde, im Kapitel Therapie, neben Verfahren wie hypnotische Suggestion, Autosuggestion, Persuasion, die, aus unserer Unwissenheit geschöpft, ihre kurzlebige Wirkungen der Trägheit und Feigheit der Menschenmassen danken. Sie verdient ein besseres Schicksal und wird es hoffentlich haben. Als »Tiefenpsychologie«, Lehre vom seelischen Unbewußten, kann sie all den Wissenschaften unentbehrlich werden, die sich mit der Entstehungsgeschichte der menschlichen Kultur und ihrer großen Institutionen wie Kunst, Religion und Gesellschaftsordnung beschäftigen (Freud, 1926, S. 338f.).
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Und kurz darauf: Der Gebrauch der Analyse zur Therapie der Neurosen ist nur eine ihrer Anwendungen; vielleicht wird die Zukunft zeigen, daß sie nicht die wichtigste ist (Freud, 1926, S. 339).
Derart deutliche Passagen gibt es mehrere im Freud’schen Opus, etwa auch, wenn er schreibt: Ich sagte Ihnen, die Psychoanalyse begann als eine Therapie, aber nicht als Therapie wollte ich sie Ihrem Interesse empfehlen, sondern wegen ihres Wahrheitsgehalts, wegen der Aufschlüsse, die sie uns gibt über das, was dem Menschen am nächsten geht, sein eigenes Wesen, und wegen der Zusammenhänge, die sie zwischen den verschiedenen seiner Betätigungen aufdeckt (Freud, 1932, S. 169).
Nun scheinen gerade jüngste Entwicklungen der Psychoanalyse von dieser kulturwissenschaftlichen Programmatik Freuds und der Betonung der Kulturanalyse wenig oder gar nichts mehr widerzuspiegeln: Wer sich zum Beispiel das Studienprogramm und die Absichtserklärungen der relativ jungen Wiener Sigmund-Freud-Privatuniversität ansieht, wird nichts mehr von diesem Geist finden.1 Dort geht es fast ausschließlich nur mehr um Psychotherapie-Ausbildungsformen, also um die klinische Anwendung, vor deren Alleinstellung just derjenige, nach dessen Namen sich diese »Universität« benennt, gewarnt hatte! Auch in vielen anderen Aus- und Weiterbildungsprogrammen psychoanalytischer Organisationen gibt es kaum Inhalte, die sich auf Fragen des »gemeinen Unglücks«, in dem auch die Patientinnen und Patienten von Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern leben, beziehen. Die psychoanalytische Pädagogik – Freud hatte die Pädagogik ja an mehreren Stellen als das vielleicht wichtigste Anwendungsgebiet seiner Lehren bezeichnet – hat schon eher Zugang zu dem kulturellen Unbehagen, in dem ihre »Klientel«, ihre Zielgruppen leben und sich zurechtfinden müssen. Allein schon das »Anwendungsfeld«, in dem psychoanalytische Pädagogik sich abspielt – also die »nicht intime«, nicht in den vier Wänden eines Behandlungszimmers abgeschirmte Situation, sondern der Le1 Vgl.: http://www.sfu.ac.at/
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bensraum der betroffenen Individuen – fordert ein Nachdenken und eine Analyse der Lebensumstände und des »sozialen Orts« (Bernfeld, 1921) unmittelbarer heraus, als die klinische Anwendung es erfordert (vgl. dazu auch den Beitrag von Heiner Hirblinger in diesem Band). Von daher sind psychoanalytische Pädagoginnen und Pädagogen möglicherweise mehr geschützt vor der Ausblendung kulturkritischer Themen, als dies bei der therapeutisch arbeitenden Kollegenzunft der Fall ist.
Verdammt zur Glücklosigkeit – eine veraltete Skepsis? Was aber kann gerade eine Schrift wie »Das Unbehagen in der Kultur« psychoanalytischen Pädagogen bedeuten? Eine Schrift, mit der Freud, wie er in einem Brief an Lou Andreas-Salomé im Juli 1929 schreibt, gar nicht viel anzufangen wusste, die er aus einer Art Verlegenheit schrieb, um »nicht den ganzen Tag rauchen und Karten spielen« zu müssen und dennoch nur die »banalsten Wahrheiten« dabei entdecken und mitteilen zu können (zit. n. Jones, 1984, S. 519). Mag sein, dass diese Unzufriedenheit mit dem auch für Freud weniger gewohnten nichtklinischen Gegenstand, der kulturellen Entwicklung, der Frage, warum die Menschen in der Kultur nicht glücklich sein könnten, zusammenhängt. Aus heutiger Sicht aber erscheinen vor allem die Grundfragen dieser Schrift, wie die Menschen mit den durch die Kultur auferlegten Einschränkungen umgingen, nach wie vor interessant und prekär – trotz oder vielleicht sogar wegen der veränderten gesellschaftlichen Lebensbedingungen, wie wir sie in unserer heutigen, spätkapitalistischen Gesellschaft und Kultur vorfinden. »Das Unbehagen« beschäftigt sich im Grunde nämlich mit drei großen Frageblöcken: zum einen der Frage nach dem Spannungsverhältnis von Trieb und Kulturanforderungen, zum anderen der Frage nach den menschlichen Versuchen, dieser Spannung und dem daraus resultierenden »Unglück« fertig zu werden, und schließlich mit der großen Frage nach dem Verhältnis von Eros als Lebenstrieb und seinem grundlegenden
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Kontrahenten, dem Todestrieb oder Thanatos, unter deren beider Einfluss in Wechselwirkung mit gesellschaftlich-kulturellen Anforderungen entweder erotisch-verbindende oder thanatoidtrennende Tendenzen um die Vorherrschaft in der Kultur kämpfen (vgl. auch den Beitrag von Barbara Rendtorff in diesem Band). Insbesondere die beiden letzten großen Fragenkomplexe, die ja auch für Fragen der Erziehung von anhaltender Bedeutung sind, sollen hier auch anhand aktueller kultureller Phänomene betrachtet werden. Gehen wir mit Freud einmal davon aus, dass sich die drei großen Hauptquellen menschlichen Unbehagens und menschlichen Leidens in Bewältigung seiner existentiellen Herausforderungen, nämlich das Leiden an der Übermacht der Natur, an der Hinfälligkeit des Körpers und an der Unzulänglichkeit der sozialen Einrichtungen, die unser Zusammenleben regeln (sollen), in unserer heutigen Gesellschaft zwar verändert darbieten, sich hinsichtlich der Belastung, die sie darstellen, aber wohl kaum abgeschwächt oder gar verflüchtigt haben. Nach wie vor kämpfen Menschen und Gesellschaften gegen diese Leidensquellen und nach wie vor müssen Kinder und Heranwachsende in diese Bewältigungsversuche »hineinsozialisiert«, also durch erzieherische Verhältnisse und Beziehungen darauf vorbereitet werden. Die Entwicklung von »Kultur« war ja gerade ein Versuch, diese Leidensquellen abzuschwächen oder sich ihrer zu entledigen, etwa – auf der Ebene der dritten Leidensquelle – durch die Entwicklung kollektiver und sozialer Zusammenlebensformen, damit nicht immer der jeweils Stärkere ungehindert seinem Recht Durchbruch verschafft, sondern der Andere auch als »Nachbarn, als Hilfskraft, als Sexualobjekt [...], als Mitglied einer Familie, eines Staates« anzuerkennen ist (Freud, 1930, S. 90). Die Macht des Einzelnen wurde also durch jene der Gemeinschaft ersetzt, deren Mitglieder sich nun allerdings (nach Freud »der entscheidende kulturelle Schritt«; S. 90) Beschränkungen und somit Triebverzicht auferlegen (lassen) müssen, um dieses Zusammenleben zu gewährleisten; von daher auch Freuds berühmt gewor-
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dener Satz, der in einer Art Gegenaufklärung mit der Illusion der individuellen Freiheit aufräumt: Die individuelle Freiheit ist kein Kulturgut: Sie war am größten vor jeder Kultur, allerdings damals meist ohne Wert, weil das Individuum kaum imstande war, sie zu verteidigen. Durch die Kulturentwicklung erfährt sie Einschränkungen und die Gerechtigkeit fordert, daß keinem diese Einschränkungen erspart bleiben (S. 90).
Hier ist die Bedeutung der unmittelbar Triebverzicht fordernden Beschaffenheit jeder Kultur all ihren Mitgliedern gegenüber klar und unmissverständlich festgehalten – ein für Erziehung und Pädagogik eminent bedeutender Zusammenhang. Im selben Atemzug wird auch die »Feindseligkeit«, die der Kultur deshalb von ihren Mitgliedern entgegengebracht wird, problematisiert; dies ist um so bedeutsamer, als Freud – wie Helmut Dahmer in seinen Analysen des Freud’schen Kulturbegriffs schon 1973 hervorhob – sehr wohl den Herrschafts- und Gewaltaspekt, die Auflehnung unterdrückter und benachteiligter Gruppen von Anfang an mit in seine Kulturbetrachtungen einbezog: So ist Kultur bei Freud etwas, »was einer widerstrebenden Mehrheit von einer Minderzahl auferlegt wurde, die es verstanden hat, sich in den Besitz von Macht- und Zwangsmitteln zu setzen« (Freud, 1927, S. 140). Und dieses Merkmal ist nicht »kulturell« per se, sondern eines der Unvollkommenheit bisher entwickelter Kulturformen. Jedenfalls entfaltet sich diese mehr oder weniger massive Feindseligkeit, wenn auch in unterschiedlicher Weise maskiert und oft vielleicht sogar als kurzfristige kulturelle Errungenschaft betrachtet, nicht »einfach so«, sondern aufgrund ganz bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse, die die Verteilung dieser Triebverzichtsforderungen ungleich und somit ungerecht gestalten (vgl. dazu auch den Beitrag von Burkhard Müller in diesem Band). Dazu schreibt Freud 1927 in »Die Zukunft einer Illusion«: Bei den Einschränkungen, die sich nur auf bestimmte Klassen der Gesellschaft beziehen, trifft man auf grobe und auch niemals verkannte Verhältnisse. Es steht zu erwarten, daß diese zurückgesetzten Klassen den Bevorzugten ihre Vorrechte beneiden und alles tun werden, um ihr eigenes Mehr von Entbehrung loszuwerden. Wo dies nicht möglich ist,
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wird sich ein dauerndes Maß von Unzufriedenheit innerhalb dieser Kultur behaupten, das zu gefährlichen Auflehnungen führen mag. Wenn aber eine Kultur es nicht darüber hinaus gebracht hat, daß die Befriedigung einer Anzahl von Teilnehmern die Unterdrückung einer anderen, vielleicht der Mehrzahl, zur Voraussetzung hat, und dies ist bei allen gegenwärtigen Kulturen der Fall, so ist es begreiflich, daß diese Unterdrückten eine intensive Feindseligkeit gegen die Kultur entwickeln, die sie durch ihre Arbeit ermöglichen, an deren Güter sie aber einen zu geringen Anteil haben. Eine Verinnerlichung der Kulturverbote darf man dann bei den Unterdrückten nicht erwarten. [...] Die Kulturfeindschaft dieser Klassen ist so offenkundig, daß man über sie die eher latente Feindseligkeit der besser beteilten Gesellschaftsschichten übersehen hat. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß eine Kultur, welche eine so große Anzahl von Teilnehmern unbefriedigt läßt und zur Auflehnung treibt, weder Aussicht hat, sich dauernd zu erhalten, noch es verdient (Freud, 1927, S. 146).
Es bleibt uns selbst überlassen abzuschätzen, inwieweit die triebverzichthältigen Kulturforderungen heute anders verteilt sind und welche Rolle dabei die bei Freud stark im Mittelpunkt stehende Unterdrückung des Sexualtriebs bzw. seiner Ausbeutung und oberflächlichen Pseudobefriedigungen spielt, um die Unterdrückungszusammenhänge zu vernebeln und die daraus drohende Feindseligkeit durch eine Art »kollektive Ventilsitten« (Kilian, 1971) zu kanalisieren. Fest steht, dass psychoanalytische Pädagogik in ihrer konkreten Arbeit mit Kindern, Heranwachsenden, Menschen in Schwierigkeiten und auch in ihrer Hinterfragung der ihre Klientel kennzeichnenden gesellschaftlichen Lebensbedingungen auf die Beachtung dieser sozialen Dynamiken nicht verzichten kann.
Leidensvermeidung und Leidenserzeugung Zurück zu den Leidensquellen, deren Bewältigung kulturelle Anstrengungen verlangt und hervorruft: Freuds Provokation – so Alfred Lorenzer und Bernard Görlich (1994) – war es ja zu behaupten, dass die Durchführung dieser Bewältigungsleistungen nicht der Planbarkeit durch den Menschen selbst unterläge,
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nicht im Bereich von Vernunft und Willen anzusiedeln ist, sondern »als ein eigenartiger Prozeß, der über die Menschheit abläuft« (S. 16), gefasst werden. Hier finden wir wieder jene Desillusionierung und »Kränkung« der aufgeklärten Menschheit, sie könne diese Prozesse bewusst und nach geistig-moralischer Tradition und Vernunft steuern – eine Kritik, die der Psychoanalyse bis heute nur schwer verziehen wird. Die unterschiedlichen Versuche der Leidensbewältigung jedenfalls brachten und bringen nun paradoxerweise selbst wieder Leiden und Ambivalenzen verschiedenster Art hervor und führten Freud zu der bekannten, vor Skepsis triefenden Feststellung, dass das Glück für die Menschen im Plan der Schöpfung offenbar nicht vorgesehen sei! Ja entgegen allen möglichen Anstrengungen, sich das Leben leichter zu machen, scheinen viele dieser Erfolge – so Freud – eine Schattenseite zu haben, die bewirke, dass die Menschen sich trotz gewisser Fortschritte nicht glücklicher fühlten. Denken wir nur im Bereich des Kampfes gegen die Übermacht der Natur an die Naturkatastrophen, deren neuerdings wieder verstärktes Vorkommen uns erschreckt und die widersprüchlichsten Meinungen über heraufziehende ökologische Katastrophenszenarios hervorbringt. Mehr denn je scheinen Meere, Winde und Witterungseinflüsse unkontrollierbar, trotz allen Fortschritts oder wahrscheinlich sogar wegen der verschiedensten »Fortschritts-Emissionen«, die die technologische Entwicklung als Teil der Kultur weltweit mit sich gebracht hat. Mehr denn je fürchten wir uns, ziehen hunderttausende Menschen mit Sack und Pack vor Wirbelwinden davon und haben Massen von Menschen ein diffus-angstvolles oder gespaltenes Verhältnis zu jenen Ereignissen. Im Zusammenhang mit der Fortschrittsbewältigung bemüht Freud auch das großartige Bild des »Prothesengottes«, zu dem der Mensch sich gemacht habe, um seine märchenhaften Wünsche in Erfüllung gehen zu lassen. Diese Wünsche und ihre Erfüllung seien letztlich nur den Göttern als möglich zugetraut worden, weshalb das Streben der Menschen in Richtung GottÄhnlichkeit (eine vom Christentum immer als gefährlich gebrandmarkte Hybris) zustande gekommen sei:
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Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt. [...] Ferne Zeiten werden neue, wahrscheinlich unvorstellbar große Fortschritte auf diesem Gebiete der Kultur mit sich bringen, die Gottähnlichkeit noch weiter steigern. Im Interesse unserer Untersuchung wollen wir aber auch nicht daran vergessen, daß der heutige Mensch sich in seiner Gottähnlichkeit nicht glücklich fühlt (Freud, 1930, S. 87).
Es ist nicht weit hergeholt, solche Denkzusammenhänge auch pädagogisch nutzbar machen zu wollen: Was wollen wir jungen Menschen an Haltungen und Einstellungen zu diesen Fragen mitgeben? Welche Art »Bewältigungs-Hybris« lassen Eltern, Schule, Medien jungen Menschen angedeihen oder finden wir auch die Vermittlung kritischer Reflexivität gegenüber solchen Fragen? In welcher Weise reagiert die »Erziehung der nächsten Generationen«, wie Freud die vielleicht vordringlichste Aufgabe der Psychoanalyse nennt, auf Fragen oder Ängste von Kindern und Jugendlichen, die – wie wir mittlerweile aus mehreren ShellJugendstudien wissen – junge Leute ganz oben auf der Rangliste ihrer Sorgen beschäftigen? Oder: Wie gehen wir, wie geht eine Kultur, mit der hier angesprochenen berühmten »Besen, Besen sei’s gewesen«-Problematik in der Beherrschung der Naturkräfte um? Was die Hinfälligkeit des Körpers betrifft, überbieten die gegenwärtigen Szenarien wohl die kühnsten Träume, die Freud sich je hätte ausmalen können: Was in unserer Kultur an Abwehr gegen Leiden durch den Körper – ja allein schon gegen das »Leiden« am an sich gesunden Altern des Körpers! – an Energien mobilisiert wird, schlägt alle Rekorde. Altwerden ist für viele Menschen heute eine ästhetische Katastrophe oder wird dazu gemacht.2 Auch die diversen Körpermodellierungen, Liftings, 2 Und dass in diesen Zeiten einer der angesehensten Mediziner Österreichs ernsthaft mit einem Buch »Das Ende des Alterns – Bahnbrechende medizinische Möglichkeiten der Verjüngung« (Huber u. Buchacher, 2007) Furore machen kann, zeugt ein wenig von der Lebensnot und Endlichkeitsverweigerung, die unsere Kultur auszeichnet. Das Buch und sein Hauptautor, der Mediziner und Theologe (!) Johannes Huber, immerhin Vorsitzender der Österreichischen Bioethik-Kommission, propagierte darin neue Erkenntnisse zu einer
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modische Verjüngungsprozeduren etc. sprechen eine deutliche Sprache der Unfähigkeit zur Annahme derartiger »normaler« Wachstumsprozesse, die das Altern eigentlich ausmachen. Fitness- und Potenzgehabe ergänzen dieses Szenario in einer neuerdings für die Pharma-Wirtschaft einbringlichen Weise. Fest steht, dass ein offenbar nie da gewesener Drang besteht, dem Schrecken, den das Altern auslöst, durch Ablenkung und einer geradezu kindisch anmutenden Vermeidung Herr zu werden. Und auch hier nistet sich die Ambivalenz dieses Strebens nach »Kultivierung« ein: Je mehr wir das machen, an unseren Nächsten beobachten oder an die Jungen weitergeben, desto mehr drängt sich der Tod und das Leiden an der Endlichkeit, ja der Hinfälligkeit des Körpers und der Existenz auf. Der Körper muss darüber hinaus auch für andere unbewältigte oder verdrängte Probleme des psychosozialen Wohlbefindens herhalten, indem etwa seine sportliche Stählung und ständige warenästhetische Frischhaltung3 als Illusion der sicheren, anerkannten Existenz dienen. Dies trifft man typischerweise häufig bei Individuen (etwa bei Jugendlichen) an, deren Probleme und Zukunftsungewissheiten von der herrschenden Realität her gesehen unbewältigbar scheinen und dem Subjekt somit jegliche Souveränität und Selbstgewissheit rauben. Aber kann man – so würde Freud heute wohl fragen – sich wohlfühlen in einer Kultur, die den Körper – vornehmlich den jugendlichen – zum Fetisch für Glück, Zufriedenheit und Sicherheit vermittelnden Instrument gemacht hat? Oder wird diese genetisch durch Stammzellentherapie herstellbaren Lebenserwartung von 120 Jahren (!), die »kein Problem« mehr darstellten. Abgesehen vom Total-Crash des Pensionssystems, den uns derartige »Verlängerungsprothesen« bescheren würden, zeigen Versuche wie dieser, wie stark die Todesverdrängung in unseren Tagen wirklich ist. 3 Unglaublicherweise gibt es zum Beispiel im Bereich der weiblichen Sexualität mittlerweile – wie das neueste Heft der Zeitschrift »psychosozial« mit dem Schwerpunktthema »Intimmodifikationen« berichtet – schon Massen von Frauen (vornehmlich in den USA), die sich einer kosmetischen Operation am Genitale unterziehen, um eine möglichst jung aussehende »Designervagina« zu erhalten (vgl. Borkenhagen, 2008).
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Sicherheit gerade wegen ihrer Vergänglichkeit zu einer neuen Quelle des Leidens? Bernd Nitzschke hat in einem großartigen Beitrag »Wer nichts von der Psychoanalyse versteht, der versteht auch das 20. Jahrhundert nicht« (1997) auf die Tragik unserer hochentwickelten Leidensvermeidungs- und -verleugnungskultur hingewiesen: Unsere Kultur unterstütze durch Trends wie diesen die Illusionen von Unverletzbarkeit und Leidensvermeidung und sie stelle dadurch in Aussicht, dass Trauer und Tod ein Ende hätten. Und weil Leiden nicht zugelassen und angemessen erlernt werden kann, würden auch Trauer und Trauerrituale zunehmend verdrängt, wobei die daraus resultierende Trauervermeidung, ja die Unfähigkeit zu trauern, letztlich pathologische chronifizierte Trauerreaktionen bewirke – das Darüber-hinweg-Leben sozusagen. »Die Menschen werden gerade deshalb krank, weil sie nicht leiden können. Weil Leiden unerwünscht ist und als Schwäche gilt«, ist Nitzschkes zentrale These, die auch pädagogische Kulturen aller Art unmittelbar berührt (S. 133). »Erst die Unfähigkeit zur Trauer chronifiziert das Leid« (S. 133) und die Psychoanalyse – und das macht sie in Zeiten inflationärer Psychotherapeutisierung nicht gerade beliebter – heile nun gerade dadurch, dass sie ein Recht auf Leiden einräumt. Pathologische Trauer hingegen »will den Zustand der Unverletztheit, der Narbenlosigkeit mit aller Gewalt wieder erzwingen« (vgl. dazu auch den Beitrag von Till Bastian in diesem Band). Wir befänden uns deshalb in einem kollektiven Abwehrtaumel gegen alles Begrenzte und Behinderte. Die Magie dieser Bilder von der narzisstischen Vollkommenheit, die wir aus der Pop-Welt, aus der Mode-Welt, aus der Sport-Welt, aus der Werbung für Automobile, für Zigaretten, für Duftwasser, für Urlaubsreisen kennen, hält uns gefangen (S. 134).
Es braucht auch an diesem Punkt nicht besonders hervorgehoben werden, wie sehr die Beschäftigung mit diesen Problemen unmittelbar pädagogische Relevanz erhält: nicht nur im Umgang mit diesen Fragen gegenüber Kindern und Jugendlichen, sondern auch deshalb, weil die Klientel von Pädagogik als Lebenslaufwissenschaft (Lenzen, 2004) längst nicht bei Kindern und Jugendlichen stehen bleibt, sondern auch immer mehr die Be-
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treuung und Begleitung Erwachsener und älterer Menschen zum Gegenstand hat. Von daher ergeben sich viele Aspekte und Inspirationen, wie mit dem Leiden, dem Altern und der Hinfälligkeit anders, vielleicht heilsamer, umgegangen werden kann.
Gewalt und Aggression Schauen wir von Trauer und Tod noch auf das verwandte Problem der Aggression und Gewalt. »Homo homini lupus4, wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten?«, fragt Freud (1930, S. 102) im »Unbehagen« und verweist auf die Greuel der diversen Kriege und Kreuzzüge, nicht zuletzt auf die Schrecken des Ersten Weltkriegs (der in seiner Grauenhaftigkeit und Bedeutung – auch für den Zweiten – oft unterschätzt und vergessen wird5) – der Zweite stand ja noch bevor. Niemand würde heute ernsthaft behaupten können, dass sich an diesem Zustand weltweiter Gewaltausübung, weltweiter kriegerischer Exzesse und nationalistischfundamentalistischer Hetze wirklich etwas zum Besseren gewendet hätte – ganz zu schweigen von den versteckten und heimtückischen Formen struktureller Gewalt, die Menschen in die Knie zwingen, ausgrenzen oder in Not bringen können, scheinbar ohne dass jemand dies »will«. Auch der unglaubliche Skandal elender Armut inmitten des Wohlstands, der Ungleichverteilung der Reichtümer auf der Welt gehört hier genannt (von wegen Kulturfeindlichkeit der Betroffenen!). 75 Jahre nach Freuds Schrift – sterben jährlich ca. 8 Millionen Menschen, weil sie zu arm sind und nichts zu essen haben – und täglich etwa 30- bis 40.000 Kinder wegen Unterernährung!
4 Übrigens ein biologisch höchst ungerechter Spruch, sind doch Wölfe nachgewiesenermaßen äußerst friedfertige und nur auf Bedrohung oder Hunger bösartig reagierende Tiere (vgl. Masson, 2003). 5 Vgl. insbes. in Bezug auf Adolf Hitler selbst Vinnai (2004).
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Trotz Überproduktion an Nahrungsmitteln und entsprechender Vernichtung vollwertiger Nahrung leiden 840 Millionen Menschen auf dieser Erde an Hunger; ca. 20 % der Menschen verbrauchen 75 % des Energieaufkommens der Welt; die Arbeitslosenzahlen und damit die Armutsbedrohung gehen in den größeren westlichen Industriestaaten in mehrfache Millionenhöhe und dringen als Zukunftsangst in das Zentrum der Jugendphase ein; Umweltbelastungen und -zerstörungen nehmen globale Ausmaße an und bedrohen unser gesamtes Ökosystem – eine zweite zentrale Angst bei Heranwachsenden; usw. usf. Sind das nicht ausreichend gewalthaltige, Kulturfeindseligkeit erzeugende und legitimierende Faktoren, deren unbewusste Verarbeitung durch die Menschen, die ja um diese Dimensionen wissen und – wie in der ersten Welt – davon profitieren, viele schwierige Fragen aufwirft! Niemand könnte behaupten, diese Fragen hätten sich seit dem Erscheinen des Unbehagens im Jahr 1930 erübrigt oder verflüchtigt. Und in eine Kultur, die diese Art von Unrecht mehr oder weniger schweigend duldet, Kinder und Jugendliche einzuführen, heißt auch, sich der bewussten und vor allem unbewussten Prozesse, die diese Verhältnisse auslösen, bewusst zu sein und mit ihnen umgehen zu können bzw. umgehen zu lernen. Freilich: Mit diesen Gewaltvorkommnissen die Existenz einer grundlegenden Aggressionsneigung oder gar eines Todestriebs zu begründen, wie Freud an dieser Stelle von manchen gelesen (und kritisiert) wird, wäre sicher zu kurz gegriffen. Und dennoch lassen sich im Kleinen wie im Großen unserer Kulturgeschichte Gewalttätigkeiten in einem Maße ausmachen, das dem eigentlich erreichten Kulturfortschritt doch krass widerspricht und die Frage aufdrängt, welche Kräfte hinter diesen Phänomenen stecken. In seinen kriegskritischen Schriften begnügt Freud sich mit der gleichermaßen resignierenden wie provokanten Schlussfolgerung, wir wären nicht in die Barbarei zurückgefallen – wir seien noch gar nie weiter gewesen (vgl. Freud, 1915)! Andere
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finden die Annahme einer solchen destruktiven Grundanlage als fatal und politisch wie pädagogisch verfänglich, würde dies doch die verschiedensten Greueltaten als letztlich unausweichlich, weil durch eine »menschliche Anlage« begründet, postulieren und damit in ihrer Herkunft und Verursachung banalisieren. Die Annahme einer solchen Destruktionsneigung sei mithin politisch fatalistisch und reaktionär. Aber wäre es nicht – wenn wir von der Möglichkeit des Thanatoid-Destruktiven als eigenständiger, natürlich vom ersten Augenblick an (wie alles Triebhafte) schon wieder vergesellschafteter Kraft ausgehen – eigentlich weniger fatalistisch und sogar verantwortungsvoller, davon auszugehen, dass wir ein Potential zu solch destruktiver Neigung besitzen, wonach dann Pädagogik und Politik als zwei Grundmethoden der Regelung des gesellschaftlichen Zusammenlebens die Aufgabe hätten, diese Tendenzen durch »Kulturarbeit« zugunsten »erotischer«, verbindender Kräfte zurückzudrängen, anstatt sie zu verleugnen oder lediglich als eine Reaktion auf erlittene Versagungen – also milieutheoretisch – zu verstehen? Der sogenannte Todestrieb – über dessen Herkunft hier differenzierter nachzudenken der knappe Raum verbietet – wird im »Unbehagen« und an anderen Stellen in Freuds kulturtheoretischen und triebtheoretischen Schriften als eine dem Zusammenfügenden, Neues Schaffenden und Verbindenden des Eros entgegengesetzte Kraft verstanden, die »eine ursprüngliche, selbständige Triebanlage des Menschen ist« und deren Hauptabkömmling der Aggressions- und Destruktionstrieb ist. Im Kampf zwischen Eros und Thanatos nun entscheide sich Sinn, Richtung und nicht zuletzt auch die menschliche Qualität der Kulturentwicklung. Die Kultur bedient sich dabei eines bedeutenden und mächtigen Faktors, nämlich der Schuldgefühle, um der Aggressionen Herr zu werden. Dies sei »das wichtigste Problem der Kulturentwicklung«, weshalb die Glückseinbußen trotz des Kulturfortschritts ihre Quelle in den steigenden Schuldgefühlen hätten. Wir meinen, dass für die Aggressivität jedenfalls dasselbe gilt, wie Nitzschke es für das Leiden ausgedrückt hatte: dass ihre Verleugnung bei gleichzeitig hoch aggressiver Ausgestaltung von Kultur und gesellschaftlichem Zusammenleben zu einer gerade-
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zu chronifizierten Dauerschuldgefühls-Steigerung führt (vgl. dazu auch die Beiträge von Annedore Hirblinger und Andreas Kriwak in diesem Band). Die aggressiven Momente in unserem Zusammenleben sind im Zeitalter der Postmoderne und der Globalisierung kaum zu übersehen: Jeder ist zunehmend mehr der Rivale jedes Anderen, die Plätze werden knapp, ob wir es wollen oder nicht, landen wir letztlich in einer Situation, wo die Beseitigung des Anderen den eigenen Nutzen und »Fortschritt« kräftigen wird. Eine solche verdrängte Tatsache ist in der Lage, zur Steigerung von Schuldgefühlen und erst recht zu andauernder stabiler Unterwerfung unter die ungeschriebenen Gesetze moderner Kultur- und Marktentwicklung beizutragen. Dazu kommt, dass viele Menschen sich ihrer Kleinheit, die sie durch marktgerechtes Getue überdecken müssen oder die ihnen als »Modernisierungsverlierer« aufgedrückt ist, eigentlich fortgesetzt schämen müssen. Nicht umsonst haben psychoanalytische Autoren (vgl. z. B. Wurmser, 1990) für das Zeitalter des Narzissmus und des Diktats narzisstischer Selbstinszenierungen, um erfolgreich zu sein, auf den Wechsel von einer Schuld- zu einer Schamkultur hingewiesen. Fortan bedarf es der kontinuierlichen Inszenierung von Größe und »Kompetenz« (ein neoliberales Zauberwort), um in der Konkurrenzgesellschaft zu bestehen. Aber gleichzeitig lauern die Fallstricke, die uns immer wieder zum Scheitern bringen, an jeder Ecke, ist das Entdeckt- und Beschämtwerden allgegenwärtig. Vielleicht ist diese Scham auch ein Grund für den vielfach erloschenen Widerstand vieler Menschen gegen die immer härter werdenden Zumutungen der gegenwärtigen Gesellschaft und ihrer Machthaber? Doch halt: Es gibt auch Anlass zur Hoffnung – sozusagen gegen die Freud’sche Dauerskepsis: Mit Hans Joachim Busch (2001, aber auch in diesem Band) sind wir der Ansicht (oder der Hoffnung?), dass bei aller Individualisierung und gewalthältigen Rationalisierung der Gesellschaft doch auch Räume für vermehrte Information und daraus resultierende diskursiv-reflexive Freiheit entstanden sind, die vor unausweichlicher oder traditioneller Festlegung einer bestimmten Persönlichkeits- und Subjektentwicklung schützen und neue Perspektiven einer widerständigen Reflexionskultur eröffnen können – was Busch zu
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»vorsichtigem Optimismus« Anlass zu geben scheint. Er nennt diese Vision die der »Lebenspolitik«, die von einem reflexiven Selbst (reflexiv wie nie zuvor) ausgehen kann, das sich den Verführungen und schuld- wie schamgefühlhaften Verstrickungen globaler kapitalistischer Gesellschafts- und Kulturentwicklung gerade wegen seines reflexiven Potentials zu entziehen vermag, wovon »entscheidende Impulse für eine tiefgreifende Neugestaltung der spätmodernen Gesellschaft ausgehen (können)« (Busch, 2001, S. 274). Belege dafür sieht Busch in Phänomenen wie den neuen Jugendbewegungen, den neuen sozialen Bewegungen, der AntiGlobalisierungsbewegung usw. Freilich werden diese Bewegungen, obwohl sie quantitativ ein Vielfaches dessen zu aktivieren imstande sind, was einst die Studentenbewegung zustande brachte, medial nicht gut bedient. Auch stiften sie wegen weniger provokanter, gegen bestimmte Parteien oder Personen gerichteter Aktionen weniger Aufsehen und Unruhe. Aber es gibt sie – bald weltweit auch – und man sollte ihr reflexives Veränderungspotential nicht unterschätzen. Diese Art von »postmoderner Subjektivität« (und die Dominanz des Eros in ihrer Verfasstheit!) könnte die Voraussetzungen mitbringen, ... um die von Freud in den Mittelpunkt des zukünftigen Schicksals der Menschenart gerückte Entscheidungsschlacht zwischen Eros und Todestrieb zu bestehen und zu einem guten Ausgang zu bringen. Es [das Selbst; die Verf.] verfügt über die Ausstattung um für eine erotische Einbindung von Aggression zu sorgen und deren destruktiver Entgleisung vorzubeugen (Busch, S. 301).
Die Psychoanalyse als immer noch eines der radikalsten Projekte zeitgenössischer Aufklärung ist damit gerade auch für die Pädagogik, der Freud so viel Bedeutung zumaß, eine Wissenschaft, die ihrerseits ein Faktor kulturbildender und kulturlenkender Kraft sein könnte. Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. In diesem Bezug verdient vielleicht gerade die gegenwärtige Zeit ein besonderes Interesse. [...]
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Und nun ist zu erwarten, daß die andere der beiden »himmlischen Mächte«, der ewige Eros, eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten. Aber wer kann den Erfolg und den Ausgang voraussehen? (Freud, 1930, S. 128 f.).
Voraussehen können wir es als psychoanalytische Pädagoginnen und Pädagogen nicht, aber daran arbeiten sollten wir.
Zu den einzelnen Beiträgen Im ersten Teil des Bandes beleuchten die Autorinnen und Autoren in kulturtheoretischer Perspektive wesentliche Ausformungen von »Unbehagen« in der Gegenwartsgesellschaft, wobei Besonderheiten des neoliberalen Zuschnitts von Subjektbildung ebenso thematisiert werden wie unbehagliche Auswirkungen auf das Geschlechterverhältnis. Hans-Joachim Busch diskutiert in seinem Beitrag »Das Unbehagen in der Spätmoderne« kulturtheoretische Überlegungen zur Begründung von »Unbehagen« in den kulturellen Gegebenheiten der Gegenwartsgesellschaft. Indem er seine Relektüre der Freud’schen Gedankenkonstruktion auf ein Konzept von Subjektivität aus der Tradition der Kritischen Theorie der Gesellschaft aufbaut, kann er den Gehalt der seelischen Belastungen des heutigen Kulturmenschen sozialdiagnostisch instruktiv erfassen. In enger Anlehnung an Axel Honneths Begriff der »Paradoxien der Individualisierung«, ein Terminus zur Beschreibung derzeitiger struktureller Veränderungen in der spätmodernen Gesellschaft, grenzt der Autor sich begründet gegen eine undifferenzierte Zuschreibung des gesellschaftlichen Zustandes der Spätmoderne als »depressiv« ab. Mit seiner Skizzierung der »psychischen Ausrüstung des Subjekts für eine reflexive Moderne« plädiert er dafür, bei aller Übermacht der marktliberalen Moral, die fraglos ein destruktiv-beherrschender Zug im spätmodernen Verhältnis von Individuum und Gesellschaft darstellt, auch jene Tendenzen wahrzunehmen, durch die Spielräume für Subjektivität neu geschaffen werden können.
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Micha Brumlik beschäftigt sich in seinem Beitrag »Die Aktualität des Todestriebs« mit den beeindruckenden Phänomenen destruktiver Neigungen angesichts der Todessehnsucht und Todesbereitschaft meist junger Menschen, wie sie neuerdings zum Beispiel wieder bei politisierten Selbstmordattentätern zu beobachten ist. Unter Bezugnahme auf eine Fülle interessanter Quellen entwirft Brumlik an diesem Thema eine Homage auf den Todestrieb – nicht als düstere individuelle Triebanlage, sondern als immer schon »gesellschaftlich gerahmt«: Anhand biographischer Daten irakischer oder palästinensischer Selbstmordattentäter entfaltet Brumlik seine beeindruckende These, der zufolge die neuen Formen gesellschaftlicher Destabilisierung, die sozialen und kulturellen Bedingungen, unter denen Menschen existieren, entscheidend zur Freisetzung des in allen Kulturen und bei allen Menschen der Anlage nach vorhandenen Todestriebs beitragen. In Freud’scher Tradition und entgegen oberflächlicher Stress- oder Frustrations-Hypothesen fragt Brumlik schließlich, was es denn sein könnte, das die offenbar dünnen Dämme gegen den Durchbruch der (Selbst-)Destruktion zu Fall bringen kann. Sein Ziel ist es, die Todestriebtheorie an der Erklärung neuer Destruktions- und Gewaltformen zu bewähren. »Unbehagliche Differenzen. Frauen, Männer und Kultur« sind das brisante Thema des Beitrages von Barbara Rendtorff. Entlang der Freud’schen These vom Antagonismus zwischen Kultur und Familie und der darin verwobenen Geschlechterzuordnung zentriert sie ihre Diskussion auf die kulturelle Bedeutung der Sexualität sowie der Aggressionsneigung des Menschen. Überzeugend veranschaulicht sie am Beispiel von »Frauenraub« und »Frauentausch« wesentliche Problemdimensionen der Freud’schen Perspektive und erhellt – unter Bezugnahme auf Lévi-Strauss und Lacan – das System von Heiratsregeln als zentrales Strukturmerkmal jeder Kultur. Mit der Fokussierung auf die Frage nach der Struktur des universal gültigen Inzestverbots, das als Garant und Ursache des Begehrens betrachtet werden muss, zeigt die Autorin nicht nur, wie die Denkfigur des »Antagonismus Familie–Kultur« die Spaltung, die der Konstruktion der Geschlechterverhältnisse zugrunde liegt, absichert. Sondern ihre Dekonstruktion ermöglicht ihr zudem, die darin verborge-
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nen Merkmale herauszuarbeiten, die zugleich den Umgang mit dem Fremden, dem Differenten konstituieren und die für den (zunehmend prekären) Zusammenhalt der Kultur verantwortlich sind. Andreas Kriwak unternimmt in seinem Beitrag »Das Unbehagen zwischen Begehren und Trieb« eine Spurensuche zur Aufklärung der unüberwindbaren äußeren wie inneren Gründe, die, so Freud, für die Unmöglichkeit des menschlichen Glücks verantwortlich sind. Mit seiner Expedition durch die Besonderheiten der inneren Dynamik des psychischen Apparates kann er erhellen, dass nicht allein der unüberwindbare Widerspruch zwischen einer (traumatischen) Außenwelt und dem Funktionieren des psychischen Apparates für das menschliche Unbehagen haftbar zu machen ist, sondern dass der psychische Apparat selbst ein Unglückspotential aufweist. Unter Bezugnahme auf Laplanche und Lacan betrachtet der Autor die Dynamik des spezifischen Antagonismus von Trieb und Begehren. Dazu rekonstruiert er sowohl die paradoxe Logik des Begehrens als auch die Logik des Triebes und Genießens und begründet auf diesem Wege die Rede von dem »Unmöglichen als Objekt der Psychoanalyse«. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick auf die paradoxen Auswirkungen, die der gegenwärtige kapitalistische Imperativ »Genieße das Leben!« – auf die Aggressionsneigung und Schuldgefühle der Subjekte in der spätmodernen Kultur haben. Till Bastian betrachtet in seinem Aufsatz »Unübersichtlichkeit, Fragmentierung und Zerfall – und die neue Sehnsucht nach dem Schlichten« eine für die gegenwärtige »Multioptionsgesellschaft« symptomatische Weise, wie wir Menschen die Unmöglichkeit zum Glück (re)produzieren. Angetrieben durch die existentielle Angst der in eine unwirtliche Welt hineingeworfenen Menschen hatten Sinnstiftungsreservoirs von je her einen hohen Rang. Aber diese wurden von Freud – so die kritische Replik des Autors – allzu einseitig als ein Unbehagen erzeugendes Kulturgut rekonstruiert. In der Konzentration auf die Frage, inwiefern die Körper- und Gesundheitsfixiertheit des Gegenwartsmenschen auch dazu dient, Unbehagen und Angst zu lindern, beschreibt der Autor die illusionäre Hinwendung zum »Fetisch Gesundheit« als hektischen Tanz in einer zunehmend
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unübersichtlichen Welt, rastlos bewegt von der unbewussten Sehnsucht nach Unsterblichkeit und Unverletzlichkeit. Eine Sehnsucht, die durch die Fähigkeit zum antizipierenden Denken um die eigenen Niederlagen bis hin zum Tod nie zum Stillstand gebracht werden kann. Der zweite Teil des Bandes spannt den Bogen entlang der Frage, welche Probleme, aber auch welche nichtdefensive Möglichkeiten es gibt, in therapeutischen und pädagogischen Kontexten mit den Auswirkungen des unhintergehbaren »Unbehagens« in der Gegenwartsgesellschaft umzugehen. Mit der provokativen Frage »Muss ich mein eigener Feind sein?« eröffnet Günther Bittner sein engagiertes »Plädoyer für Freuds moralkritische Perspektive«. Mit der These, dass Schuldgefühle und Gewissensbisse Ausdruck einer Feindschaft des Menschen sich selbst gegenüber sind, der Kinder wie Erwachsene neurotisch und lebensuntüchtig macht, erinnert er (mit Ausblick auf Jung und andere) daran, dass Freud keine hohe Meinung von Sittengesetz und von der Ethik hat. Daran anknüpfend begründet der Autor seine geradezu gegensätzliche Position zur gegenwärtigen moralaffirmativen Auffassung in der Psychoanalyse, die sich selbst ermächtigt habe, zwischen irrationalen Schuldgefühlen und einem Schuldig-geworden-Sein unterscheiden und urteilen zu können. Mit Blick auf die Paradoxie der Freud’schen Konzeption des Überich schließt der Autor sein Plädoyer mit der Forderung einer Rückbesinnung auf die Freudsche Formel vom »Unbehagen in der Kultur«, um das unhintergehbare Leiden der Menschen an einer selbst geschaffenen kulturellen Welt mit ihrer Moral artikulieren zu können und kulturkritisch Partei für das Ich des Menschen zu ergreifen, das sich mit der Moral schwer tut. Annedore Hirblinger stellt in ihrem Beitrag »Überich-Fixierung und Störung der Mentalisierungsfähigkeit – Aspekte der Selbstentwicklung in der psychoanalytischen Therapie« dar. Vor dem Hintergrund der objektbeziehungs- und traumatheoretischen Weiterentwicklung der psychoanalytischen Therapie veranschaulicht sie, wie das Konzept der »Mentalisierung« (Fonagy) vor allem für jene Patienten und Patientinnen in einer psychoanalytischen Behandlung fruchtbar gemacht werden kann, die –
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als Folge gesellschaftlicher Destruktions- und Deformationsprozesse – an einer Überich-Fixierung leiden, die Handlungsspielräume und individuelle Selbstentwicklung begrenzt, wenn nicht gar einfrieren lässt. Neben einer aufschlussreichen Skizzierung der Konzeptualisierungsvielfalt und behandlungstechnischer Modifizierungen zeichnet sie beispielhaft ein eindrückliches Bild, wie u. a. die konsequente affektive Auseinandersetzung im Beziehungsdialog einschließlich der Mentalisierung der Gefühle auf beiden Seiten zu einer Lösung der Überich-Fixierung beitragen können und die Selbstentwicklung einer Patientin ermöglichen. Heiner Hirblinger thematisiert in seinem Artikel »ÜberichFixierung und Störung der Mentalisierungsfähigkeit in pädagogischen Praxisfeldern – Aspekte einer Entwicklung des Selbst im Unterricht und in der Lehrerbildung«. Entlang exemplarischer Fälle und deren Analysen macht er auf Möglichkeiten aufmerksam, sich mit dem derzeitigen Unbehagen in Bildungseinrichtungen in einer nichtdefensiven Haltung kritisch auseinanderzusetzen. Dabei legt er anschaulich dar, wie die Konzepte des »bipersonalen Feldes« (Ferro) und der »Mentalisierung« (Fonagy) aus Sicht der psychoanalytischen Pädagogik wesentliche Dimensionen von Bildungsprozessen in der Schule erschließen können. In einer praxeologischen Perspektive diskutiert er die Frage, ob das Setting »Unterricht« im herkömmlichen Sinn Mentalisierungsprozesse von Schülern noch zeitgemäß fördert, und zeigt Probleme der Lehrerbildung auf, die sich daraus ergeben. Achim Würker entziffert in seiner Abhandlung »Das Unbehagen in der Kontrollkultur« derzeitige bildungspolitische Argumentationsfiguren, die als Rede von Selbstverantwortung und Selbstbestimmung faszinieren: Das Subjekt als Unternehmer seiner selbst erhält den ersten Rang in dieser gängigen Freiheitsrhetorik. Selbstmanagement wird zu einem wesentlichen Stichwort des neuen Leitbildes neoliberaler Subjekte, wobei die Subjekte einer neuartigen und intensiven Modellierung und Kontrolle unterworfen werden. Anschließend rekonstruiert der Autor, auf der Folie der Lorenzer’schen Reformulierung der psychoanalytischen Theorie und ihrer Begriffe, den gängigen Qualitätsdiskurs in der Bildungspolitik als Massenbildung und zeigt auf, dass
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diese (Selbst-)Modellierung unter dem Einfluss eines Amalgams von Schablone und Ersatzbefriedigung wirkmächtig und daher weitestgehend einer Reflexion entzogen ist. Der Autor rundet seinen Beitrag mit psychoanalytisch-pädagogischen Überlegungen ab, die Perspektiven einer Abmilderung des Unbehagens andeuten. Im Zentrum des Beitrags von Burkhard Müller »Das pädagogische ›Unbehagen in der Kultur‹. Anmerkungen zur Wirkungsgeschichte eines Konzepts« steht die Frage, mit welchem Unbehagen pädagogische Kulturvermittler angesichts des Wertewandels der postmodernen Gesellschaft in Richtung einer »Glückszentrierung« konfrontiert sind. Auf der Folie der These von Taylor, dass das postmoderne Subjekt dem Zwang unterworfen ist, Herr seines Selbst sein zu müssen und zugleich es aber als »Produkt der Verhältnisse« nicht zu können, skizziert der Autor beispielhaft die Paradoxien, die sowohl für Jugendliche als auch für die professionellen Pädagogen daraus entstehen, dass das Recht auf gegenwärtiges Glück in Widerspruch zu zukünftigen Chancen geraten kann, wodurch neuartige Leidensquellen entstehen, die für beide Parteien mit besonderen Fallstricken einhergehen. Mit seiner Forderung an die Professionellen, im Prozess der Kulturvermittlung die jugendliche Entwicklung in eine »pädagogische Generativität« einzubetten, deutet er einen Weg an, wie das pädagogische Unbehagen dennoch produktiv gewendet werden kann. Im letzten, dritten Teil stellen die Autoren einige unfreudige Tendenzen in den Entwicklungslinien der Psychoanalyse zur Diskussion, die die menschliche Unfähigkeit zum »Glücklichwerden« zusätzlich abstützen. Jürgen Körner fragt in seinem Artikel »Das psychoanalytische Unbehagen in der Kultur – Symptom und Remedium der spätbürgerlichen Gesellschaft?«, in welchem ideengeschichtlichen Kontext die Psychoanalyse entstand, welche Fragestellungen sie aufgriff und welche Probleme sie lösen wollte. Dabei fokussiert er auf die Theorie bewegende Freud’sche Leistung, die Traumatheorie durch die Theorie vom unbewussten Konflikt zu ersetzen, und zeigt auf, wie diese Wendung auch die psychoanalytische Betrachtung des Spannungsverhältnisses zwischen Indivi-
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duum und Gesellschaft veränderte, die u. a. in seinem Werk »Das Unbehagen in der Kultur« zum Ausdruck kommt. Mit einem differenzierten Blick auf die nach wie vor bestehenden Kontroversen um die Trauma-versus-Konflikt-Theorie in der psychoanalytischen Theoriegeschichte veranschaulicht der Autor – in ausdrücklicher Parteinahme für die Konflikttheorie –, dass die jeweilige Perspektive nicht nur eine besondere Sicht auf die (repressive) Realität einer Biografie hervorbringt, sondern zugleich die Entscheidung für angemessene Intervention mitbestimmt – ein Sachverhalt, der auch für die psychoanalytische Pädagogik historisch wie aktuell von großer Bedeutung war und ist. Rolf Göppel stellt in seinem Beitrag »Das Unbehagen an der Freudlosigkeit der psychoanalytischen Kultur – Freuds ›Techniken der Leidabwehr‹ und aktuelle ›Anleitungen zur Lebenskunst‹« zur Diskussion. Obgleich der Titel auch eine Kritik an der Psychoanalyse nahe legt, sich zu weit von den Freud’schen Wurzeln entfernt zu haben, richtet der Autor seine Wahrnehmung auf die pessimistische Grundstimmung der psychoanalytischen Kultur und damit auf die tiefe Skepsis gegenüber individuellem Glücks- und kollektivem Harmoniestreben. Unter der Fragestellung – »Verschluckt die Psychoanalyse das Leben?« sowie »Welches Maß an Selbstreflexion ist dem guten Leben bekömmlich?« referiert er (über Freud hinaus) Peter Hellers rückblickende kritische Auseinandersetzung mit der psychoanalytischen Kultur sowie die von Russel beklagte intellektuelle Verächtlichkeit auf die naive Glückssehnsucht. Mit skeptischem Blick auf die derzeitige Konjunktur der Frage nach dem »guten Leben« bis hin zu den Anstrengungen, »Glück lehrbar zu machen«, fragt er die psychoanalytische Pädagogik nach ihrem Beitrag, Möglichkeiten und Bedingungen des Glücks zu thematisieren.
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I. Kulturtheoretische Perspektiven auf das »Unbehagen« in der Gegenwartsgesellschaft
Hans-Joachim Busch
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»Unbehagen« ist von Freud (1930) zu Recht als eine innere Stimmung »in der Kultur« überhaupt gedacht worden. Sein Gedanke ist aber, wie die Psychoanalyse generell, ein Kind der Moderne. Freuds Nachdenken über das Empfinden von Unbehagen hat im letzten Jahrhundert, mitten zwischen den beiden Weltkriegen, begonnen. Und da Freuds diesbezügliche Überlegungen sich so intensiv wie sonst nirgends mit der inneren Verfassung und dem weiteren Schicksal unserer menschlichen Kultur beschäftigen, das er als höchst ungewiss und gefährdet ansieht, ist es dringend zu fragen (was viel zu selten geschieht), wie es heute um dieses Unbehagen bestellt ist. Nun wird Freuds Psychoanalyse heute nach allen Regeln der Kunst intersubjektivistisch gegen den Strich gebürstet (Altmeyer, 2003; Mitchell, 2000; Wirth, 2004). Dem will ich mich gar nicht in den Weg stellen. Dass Psychoanalyse keine Auffassung des Menschen als rein triebgesteuerter Monade ist, findet leicht meine Zustimmung. Ich will hier auch keinen Streit darüber beginnen, ob Freud diesbezüglich korrigiert werden muss. Ich meine, nein. Es geht allenfalls um eine Relektüre. Ich erwähne diese Meinungsverschiedenheit nur, weil ich nicht recht wüsste, wie ich mich mit einer intersubjektivistischen Konzeption von Psychoanalyse wirklich auf Freuds gewaltige Gedankenkonstruktion einlassen könnte. Mir erscheint es jedenfalls nach wie vor 1 Für die Mithilfe bei der Erstellung der Textfassung danke ich Leoni Senger, für kritische Hinweise und Ergänzungen bin ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern meines Kolloquiums an der Universität Frankfurt im Sommersemester 2008, namentlich Jonas Wollenhaupt, zu Dank verpflichtet.
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naheliegender und vorteilhafter, die von Freud ins Bewusstsein gehobenenen seelischen Belastungen des Kulturmenschen aus der Perspektive des Subjekts zu behandeln. Diese Perspektive ist insbesondere wichtig, um sozialdiagnostisch sinnvoll den Gehalt der psychoanalytischen Persönlichkeitstheorie aufgreifen zu können. Die Psychoanalyse ist von Freud nicht in der Absicht einer Sozialwissenschaft entworfen worden. Seine kultur- und sozialpsychologischen Reflexionen blieben, so instruktiv, erhellend und weitsichtig sie im einzelnen auch waren, insgesamt doch in der Perspektive einer Soziologie als angewandter Psychologie befangen, führten nicht zu einer wirklichen interdisziplinären Öffnung des psychoanalytischen Ansatzes. Gleichwohl hat ihre gesellschaftliche und kulturelle Wirkung sehr rasch auch dafür gesorgt, dass die Psychoanalyse von Seiten der Sozialwissenschaften mit Interesse aufgenommen und dem eigenen Diskurs einverleibt wurde. Mit die Ersten, die sozialwissenschaftlich unter Einbezug der Psychoanalyse vorgingen, waren die Autoren der Frankfurter Schule (Fromm, 1936; Horkheimer, 1932; Horkheimer u. Adorno, 1947; Marcuse, 1955). Ich werde hier ein Konzept von Subjektivität vertreten, das aus letzterer Tradition (der der Kritischen Theorie der Gesellschaft) hervorgegangen ist.
Strukturelle Veränderungen in der spätmodernen Gesellschaft Das Entstehen einer sozialwissenschaftlich-psychoanalytischen Theorie des Subjekts – etwa gleichzeitig mit Freuds großer kulturkritischer Betrachtung – hing eng zusammen mit gravierenden Entwicklungen der kapitalistischen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Frage ist nun, welche Wirkungen die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen der folgenden Jahrzehnte im Subjekt zeitigten. Um diese Frage zu behandeln, möchte ich zunächst die mir für das Feld der Subjektivität besonders bedeutsam erscheinenden Wandlungen der zweiten, späten oder reflexiven Moderne (Beck, Bonß u. Lau,
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2001), auch wenn sie durchweg bekannt sind, wenigstens kurz skizzieren. Der spätmodernen Gesellschaft kommt die Erzählung vom unaufhaltsamen Fortschritt der technischen Naturbeherrschung nicht mehr bedenkenlos über die Lippen. Technische Großkatastrophen und das Bewusstsein eines militärischen Vernichtungspotentials, das reichen würde, ein Vielfaches der gesamten Menschheit einfach auszuradieren, wie die alltägliche, schleichende, aber doch spürbare, sichtbare Umweltverschmutzung und -zerstörung, die natürlich nicht vor den Grenzen des Körpers haltmacht, sondern sich auch dort pathogen ausbreitet, haben zu einer Ernüchterung gegenüber der westlich-kapitalistischen Lebensweise und zu Misstrauen gegenüber deren Wachstumszwängen geführt. Seit Jahrzehnten wird genauso viel über Risiken und Folgen wie über den, vordem kritikloser unterstellten, Nutzen wissenschaftlich-technischer Neuerungen jeder Art debattiert. Das einzelne Bewusstsein ist von der hierdurch erzeugten inneren Zerrissenheit geprägt. Ähnliche Verunsicherungen lassen sich auf strukturelle gesellschaftliche Veränderungen zurückführen, die unter dem Stichwort der Individualisierung zusammengefasst werden können. Die Biographien der Einzelnen sind bei weitem ungewisser geworden; ihre Zukunft ist offener geworden, und Traditionen und Konventionen haben ihren Einfluss weitgehend eingebüßt. Diese Entwicklung betrifft die beruflichen Karrieren, das Geschlechterverhältnis und das Kindsein heute. Im Arbeitsleben wird der Einzelne unablässig mit Wandlungen konfrontiert. Das einmal, am Anfang des Berufsweges, Erlernte reicht, anders als früher, nicht aus; das berufliche Wissen muss sich den technischen Neuerungen unentwegt anpassen, um nicht zu veralten; die Tendenz wirtschaftlicher Erfordernisse geht dahin, dass die Wohnung mit dem Betriebsstandort gewechselt wird. Mobilität und Flexibilität werden geforderte Eigenschaften. Durch die zur Norm gewordene Berufstätigkeit der Frauen wird der Druck auf dem Arbeitsmarkt noch einmal größer. Entsprechend dieser Gleichberechtigung der Frauen, die auf allen Gebieten inzwischen zum (wenn auch noch nicht immer realisierten, aber doch anvisierten) Alltag geworden ist, haben sich die Geschlechterverhältnisse gewandelt.
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Paarbeziehungen sind nicht mehr einseitig an der Berufskarriere des Mannes orientiert; heute müssen die Karrieren beider aufeinander abgestimmt werden. Diese Egalität – und idealerweise Reziprozität – greift natürlich auf den gesamten Beziehungsalltag – von der Haushaltsführung über die Kinderbetreuung bis hin zur Freizeit- und Urlaubsgestaltung über – und sie betrifft selbstverständlich auch das Intimleben. Immer geht es darum, die Ansprüche beider auszugleichen, die gegenseitigen Bedürfnisse wahr- und ernst zu nehmen. Die traditionelle Familie ist unter diesen Umständen nicht mehr die unumstrittene Beziehungsund Lebensform; denn sie hält den gewachsenen Ansprüchen oft nicht stand. Ihr hat sich eine Vielfalt anderer Formen beigesellt, vom Single über die Ein-Eltern-Familie, die nichtehelichen Lebens-, die Wohngemeinschaften und so weiter. An die Stelle lebenslanger Partnerschaft ist heute die »sequentielle Monogamie« getreten. Das Kinderhaben ist unter diesen Voraussetzungen schwieriger und weniger selbstverständlich geworden. Es mag Teil eines Lebensentwurfs sein, hängt aber davon ab, ob es sich mit den anderen Teilen zu einem biographisch tragfähigen Gefüge verbinden lässt, in dem das doch so fragile, voraussetzungs- und entbehrungsreiche, zeitraubende und gefühlsaufwendige »Projekt« des eigenen Kindes sich realisieren lässt. Wenn dann die – wenigen – Kinder kommen, sind sie Gegenstand hoher Aufmerksamkeit und intensiver Pflege, und es richten sich große Wünsche aus einem »beschädigten Leben« (Adorno, 1951) gerade an sie. Wenn ich versuchen sollte, die Phänomene auf einen gegenwartsdiagnostischen Nenner zu bringen, so würde ich zweierlei vermeiden wollen: Bei aller Verbundenheit mit der Gesellschaftskritik der älteren Frankfurter Schule würde ich doch nicht deren verfallslogische Perspektive einer total verwalteten, entindividualisierten Welt, in deren Sog wir unrettbar hineinsozialisiert werden, teilen. Auf der anderen Seite ist aber auch der Befund heute vorangeschrittener Individualisierung aus meiner Sicht keineswegs schlicht mit einem bloßen Zugewinn an Freiheit der Einzelnen verknüpft. Die wachsenden Möglichkeiten werden vielmehr auch mit zunehmenden Zwängen, Einschränkungen, Beschneidungen bezahlt.
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Diesbezüglich aufschlussreich scheint mir Axel Honneths (2002) Versuch zu sein, die genannten Entwicklungen auf den Begriff der »Paradoxien der Individualisierung« zu bringen. Er spricht mit dem Ausgangspunkt seiner Überlegungen die biographischen Erfahrungen der meisten unter uns an. In den 1960er Jahren habe sich aus verschiedenen Quellen eine neue Stufe des Individualismus herausgebildet. Er war selbstverwirklichend-emanzipatorisch geprägt, verwandelte sich aber nach und nach fast in sein Gegenteil. Etwas schief formuliert: Die Lust der Selbstverwirklichung wurde mehr und mehr zur auferlegten Last. Der Freiheit, sich zu binden, stehen die ständige Gefahr des Verlusts von partnerschaftlichen und familialen Bindungen und die Mühsal einer Single-Existenz, unablässig auf der Suche nach Bindung und Halt, gegenüber. Von den Medien und der Werbung werden Selbst-Bilder und Lebensmuster vorgeführt, die prägenden Charakter annehmen und zum Nacheifern anstacheln. Dadurch wird die Unruhe des eigenen Lebensentwurfs immer in Gang gehalten, und die lineare Gemächlichkeit und Voraussagbarkeit klassischer »Existenzen« der bürgerlichen Gesellschaft außer Kraft gesetzt. Vor allem aber hat im Wirtschaftsleben ein Wandlungsprozess stattgefunden, der immer mehr auf die Flexibilität vereinzelter Wirtschaftssubjekte setzt, die sich den unentwegt sich ändernden Anforderungen des Markts geschmeidig anpassen. Tugenden wie etwa individuelle Verantwortung, persönliche Einsatzbereitschaft greifen fortschrittliche Forderungen des bürgerlichen Persönlichkeitsideals auf, verwandeln sie aber zu An-Forderungen, deren Nicht-Erfüllung die Berufskarriere, die vorher selbstverständliche Grundlage politischer Teilhabe und persönlicher Teilnahme war, nachhaltig gefährdet. All das hat, wie Honneth seinen Befund mit Boltanski und Chiapello (1999) bilanziert, dazu geführt, dass sich […] der vor einem halben Jahrhundert allmählich herangewachsene Individualismus der Selbstverwirklichung durch Instrumentalisierung, Standardisierung und Fiktionalisierung inzwischen in ein emotional weitgehend erkaltetes Anspruchssystem verkehrt hat, unter dessen Folgen die Subjekte eher zu leiden als zu prosperieren scheinen (Honneth, 2002, S. 154).
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Honneth schließt nun, und damit kommen wir wieder zu unserem Thema im engeren Sinn zurück, die Vermutung an, diese Verwicklungen und Verkehrungen ihrer Bedürfnisse in äußere Ansprüche würden auch in den Individuen Spuren hinterlassen. Es seien deutliche Zeichen neuartiger Formen sozialen Unbehagens und Leidens zu beobachten.
Die »depressive Gesellschaft« Diese Zeichen zu entziffern, haben der französische Soziologe Alain Ehrenberg (1998) und seine Kollegin, die Historikerin der Psychoanalyse, Elisabeth Roudinesco (1999), unternommen. Beide beurteilen die gegenwärtige, spätmoderne Gesellschaft als »depressive Gesellschaft«. Typisch für die sie bevölkernden Subjekte seien nicht mehr, wie noch zu Zeiten Freuds, tragischkonflikthafte Existenzformen, in denen Triebwünsche und gesellschaftliche Normen unausweichliche Kollisionen hervorrufen, die zu neurotischen Verarbeitungsformen führen; die typische Lebensweise der Subjekte bestehe heute vielmehr in der zunächst authentisch angestrebten, dann aber mehr und mehr gesellschaftlich erwarteten und geforderten Entfaltung und Präsentation des eigenen Selbst, der vollständigen Übernahme der Verantwortung für den eigenen Selbst-Entwurf und sein Gelingen.2 Das habe, so schließen Roudinesco und Ehrenberg weiter, zu einem charakteristischen Symptomwandel geführt. Das heutige Subjekt leide weniger an neurotischen Verstimmungen. Es verstoße, sei es in der Phantasie, sei es in der Realität, nicht so sehr gegen Normen, als dass es ihnen nicht mehr gerecht zu werden vermöge. Die Normen haben also einen Wandel durchgemacht. Imponierten sie vordem als Verbote, so treten sie heute vorwiegend in Gestalt von Geboten auf. In ihnen finden sich 2 Schon die bereitwillig-widerstandslose Akzeptanz, mit der vor Jahren die offizielle Rede von der »Ich-AG« geschluckt und dem eigenen Vokabular einverleibt wurde, ist ein Indiz für die Richtigkeit dieser Einschätzung.
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Zielvorgaben formuliert, die privat und beruflich hohe Anforderungen an die Einzelnen stellen. Ausgelaugt vom unaufhörlichen Druck, sich als Selbst auf dem Markt anzubieten, verliere das Subjekt seine Motivation; von Antriebslosigkeit, von »Müdigkeit, man selbst zu sein« (Ehrenberg, 2000), befallen, versinke es in Depressionen und werde handlungsunfähig. Es wäre nun vollkommen irrig, darauf zu verfallen, hier eine »schweigende« neue soziale Bewegung der kleinen, vielleicht aber auch einmal »großen Weigerung« (wie sie einst Herbert Marcuse emphatisch beschwor) am Werk zu sehen. Nein, bei Roudinesco und Ehrenberg tun bzw. geben die Subjekte alles, um nicht depressionsbedingt aus dem Rennen auszuscheiden. Die Bewegung, die gegenwärtig im Gang ist, ist nicht auf Weigerung aus; sie sagt vielmehr der Depression den Kampf an und will sie eliminieren. Dass heute allerorten, also auch fern der psychotherapeutischen Praxis, von Depression die Rede ist, hat auch den Sinn einer (inner-)gesellschaftlichen Feinderklärung. Es könnte aber auch bedeuten, dass wir unseren Psychotherapeuten immer im Kopf haben, es selbst sind ... Depression wird zum lästigen Störenfried, der, wie der Stress-Kopfschmerz, in pharmakologischer Eigenbehandlung vertrieben werden kann. Die Pharmaindustrie arbeitet, wie die beiden Autoren meinen, maßgeblich an einem Menschenbild mit, demzufolge wir uns über naturwissenschaftlich erzeugte Techniken selbst steuern. Schönheit, Gesundheit, Leistungsfähigkeit, Potenz, Jugend, all diese vom präsentativen Selbst angestrebten Eigenschaften verspricht uns die moderne Pharmakologie und Medizin. Diese Auffassung vom Menschen, die gelegentlich auch absichtsvoll »posthuman« genannt wird, hat sich längst verbreitet und eine besondere Konjunktur in der Humangenetik erfahren – sie läuft auf eine Neu-Herstellung bzw. Neu-Modellierung des Menschen hinaus.3 Die historische Schwäche der Psychoanalyse heute, so folgert insbesondere Roudinesco, hänge genau mit diesem Symptom- und Subjektwandel zusammen. Depressionen neigen dazu, anders als Konfliktneurosen, sich der analytischen Bearbeitung zu entziehen. Einfa3 Der Gedanke wäre eine Erörterung wert, ob nicht dies die Ursache neuer Depression, infolge prometheischer Scham etwa, sein könnte.
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cher gesagt: Die Subjekte schauen heute nach vorne und nicht mehr zurück. Benjamins Allegorie vom Engel der Geschichte, der wiewohl nach vorne, in die Zukunft gerichtet, zurückblickt auf einen riesig angewachsenen Trümmerberg aus der Vergangenheit (Haubl, 2005), scheint heute unzeitgemäßer denn je. Angesichts der vernichtenden Diagnose, die Roudinesco der gegenwärtigen Gesellschaft stellt, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie sich in ihrer eigenen Argumentation aporetisch verstrickt. Die Klage, die sie gegen die depressive Gesellschaft führt, gerät ihr so eindringlich und »wasserdicht«, dass sie selbst zu deren Gefangenen wird. Ihr Buch wirkt großenteils wie ein Betrauern des Verlusts des Subjekts, seiner Triebkonflikte, Hysterien, denen es sich mithilfe der Psychoanalyse einst stellte. Konflikte würden dagegen heute nicht mehr wahrgenommen, Psychoanalyse nicht mehr in Anspruch genommen. Wo man hinschaut: Depression. Die denkerische Trauerarbeit der Autorin führt nicht aus der Trauer heraus; als auf Dauer gestellte wird sie somit selbst Melancholie, Depression.4 Nun will ich nicht bestreiten, dass biographische und gesellschaftliche Situationen denkbar sind, die keinen anderen Ausweg als Resignation, Depression oder gar Selbstmord zulassen. Aber sind wir heute in einer solchen Situation? Ich denke, nein. Es steht uns, wie ich zeigen werde, genügend Freiraum zur Verfügung, um uns unsere melancholische Stimmung zugänglich zu machen und sie konstruktiv zu wenden. Und wir tun gut daran, unsere Gesellschaft nicht in einem Atemzug mit totalitären Systemen zu sehen, sonst würden wir deren hermetischen Zwangscharakter nicht gerecht.
4 Hier ist eine terminologische Anmerkung nötig. Freud (1917) hatte den Begriff der »Depression« noch nicht verwendet und stattdessen den der »Melancholie« gebraucht und in Verbindung mit Trauer gebracht. Psychiatriegeschichtlich ist heute »Depression« an die Stelle von »Melancholie« getreten. Damit kann aber auch die kulturgeschichtliche Tradition von »Melancholie« als einer grundsätzlichen, nicht von vornherein pathologischen Lebensform wieder hervortreten (vgl. Haubl, 2005).
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Wir stehen heute, so viel ist bis hierher klar geworden, in einem verschärften Kampf um Anerkennung. Er fordert viele Opfer; er erschöpft uns, laugt uns aus. Die heutigen Lebenserfahrungen führen auf neue Weise zu Resignation, zu Hoffnungslosigkeit. Aber führen sie auch, und wenn ja: inwiefern, zu Depressionen? Depression ist, Hacker (1971, S. 75) zufolge, nach innen gewendete Aggression. Es gibt also eine Aggression, die sich ursprünglich nach außen richtet oder richten sollte. Aber wogegen sollte sie sich wenden, wenn uns doch nichts mehr einschränkt? Woher sollte sie stammen, wenn uns Freiheiten alles erlauben? Freud hatte damals schon eine schlüssige Antwort, die an Aktualität nichts eingebüßt hat und auch unter den neuen Bedingungen gültig ist. Soziale Angst ist die Quelle, aus der sich Aggression speist. Sie hat sicher viele Gesichter. Sie mag heute vermehrt von Orientierungslosigkeit herrühren; im Wesentlichen aber wird sie ausgelöst durch Autoritäten, die früher eher namhaft gemacht zu werden vermochten, heute komplexer, anonymer (als Organisationen, Systeme mit ihren Hierarchien und Zwängen) auftreten mögen. Im Grunde haben wir doch das normative Gehäuse (der Hörigkeit; Max Weber) keineswegs verlassen. Mag es früher eine traditionelle, konservative Moral gewesen sein, der es sich zu unterwerfen galt, so ist es heute eine marktliberale. Jeder gegen jeden, ohne viel Solidarität. Und Normen beherrschen unsere Alltagspraxis nach wie vor: Wir sollen aus unserem Leben mit seinen vielen Chancen etwas machen, lebenslang und schon von früher Kindheit an lernen; dabei haben wir immer frohgestimmt zu sein und die Events der Erlebnis- und Spaßgesellschaft zu genießen. Von Gedanken an Alter, Krankheit und Tod haben wir uns freizuhalten, allenfalls unter dem Vorzeichen der Vermeidung, Vorsorge und Versicherung tauchen sie auf. Und natürlich und nicht zuletzt sollen wir als mobile, flexible, opferbereite »Arbeitskraftunternehmer« (Voß u. Pongratz, zit. n. Kocyba, 2000, S. 19) der Wirtschaft in ihren immer schnelleren Wendungen (Auf-, Abschwüngen, Zusammenbrüchen) zur Verfügung stehen. Offensichtlich führt diese so freiheitlich wirkende Leistungs- und Eventgesellschaft nicht zu einer wirklichen versöhnlichen Fortschrittskultur. Doch die Vertreter der Depressionsdiagnose sind hier eigentümlich
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zurückhaltend und unscharf. Der Aggressionsaspekt der Depression bleibt unerwähnt, im Dunklen. Das hat einen Grund. Wenn man ein individualpsychologisches Krankheitsbild sozialpathologisch hochrechnet, gerät man in Aporien. Die Depression der Vielen, die kollektive Depression ist ausweglos. Wo wäre der Therapeut, der uns aus ihr befreit? (Vielleicht ein/der Führer? ...) Depression mag heute ein sehr weit verbreitetes und typisches Krankheitsbild sein, aber eine Sozialpathologie ist sie nicht. Wenn Freud nicht von Melancholie (sein Begriff für Depression) sprach, sondern für die Menschen (die nicht alle Patienten waren) ein »Unbehagen in der Kultur« ausmachte, so geschah dies mit Bedacht.
Unbehagen in der Kultur heute Dieses Unbehagen in der Kultur teilt mit der Depression viele Züge, ohne jedoch mit ihr identisch zu sein. Es bildet meiner Ansicht nach wie vor und mehr denn je das Zentralmassiv einer psychoanalytisch-sozialpsychologischen Gegenwartsdiagnose. Ich trete damit einer heute verbreiteten Auffassung entgegen, Unbehagen in der Kultur habe mittlerweile, infolge der gewonnenen sexuellen Freiheit, seine Konfliktgrundlage verloren und sei deshalb im Schwinden begriffen. Dieser Auffassung (Bauman, 1997) zufolge gehören Freuds Einsichten zu einer Ordnung der Moderne, die auf Sicherheit bedacht war und den Einzelnen zu Einschränkungen, zu Triebverzicht gezwungen habe. Übermäßige Ordnung und ein Mangel an Freiheit hätten das Unbehagen in der Kultur der Moderne hervorgerufen. Heute hingegen verhalte es sich genau umgekehrt. Freiheit habe nun den Vorrang vor Sicherheit und Ordnung. Die Suche nach Glück sei unverhohlen in den Vordergrund getreten, das Lustprinzip sei gar dabei, dem Realitätsprinzip seine Bedingungen zu diktieren. Nun wird diese sehr gewagte These wieder eingeschränkt, indem – von Freuds seinerzeitiger Skepsis belehrt – eingeräumt wird, die veränderten Bedingungen seien keineswegs Garanten für die Zuverlässigkeit des neu erworbenen Glücks. Die zuvor
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von mir vorgetragenen Überlegungen haben das, denke ich, ausführlich belegt. Und es gibt weitere Gründe, diese heute verbreitete Einschätzung der Seelenlage des heutigen Subjekts nicht einfach stehen zu lassen. Sicherlich hat es vom Augenschein viel für sich, eine Zunahme von Freiheiten – und das ist gewiss nicht zu beklagen – zu attestieren. Aber die Einzelnen wissen damit vielfach wenig anzufangen, flüchten in neue Abhängigkeiten. Was uns unter dem Etikett der Individualisierung begegnet, entpuppt sich allzu häufig als egoistischer Pseudo-Individualismus. Irrig ist daher auch die Annahme, psychologisch sei es nunmehr zur Vorherrschaft des Lustprinzips vor dem Realitätsprinzip gekommen. Dass man sich heute sehr viel leichter damit tut, Handlungen statt aus Pflichteifer und Schuldgefühlen aus Lust zu motivieren oder ihr Unterlassen mit »Keine-Lust-Haben« zu begründen, kann ja wohl nicht als Stütze dieser Annahme dienen. Herbert Marcuse, der in den 1950er und 1960er Jahren, gestützt auf Freud und die Kritische Theorie, äußerst scharfsinnige Analysen des Bewusstseins seiner Zeit verfasste, hatte ja darauf aufmerksam gemacht, dass Freuds Realitätsprinzip, wenn man es auf die Wirklichkeit der kapitalistischen Gesellschaft bezieht, als »Leistungsprinzip« konkretisiert werden muss. Ich denke, die umfassende Geltung eines Leistungsprinzips trifft die Seelenlage des spätmodernen Menschen fast ein halbes Jahrhundert später immer noch bei weitem besser als die Diagnose einer Ausbreitung von Freiheit und (erfüllter) Lust. Hatte Marcuse damals noch mehr die Bereiche Arbeit und Konsum im Auge, so fällt heute auch die Arbeit am eigenen Selbst, von deren ermattender statt lustfördernder Wirkung wir vorher gehört haben, unter das Diktat dieses Leistungsprinzips. Der Kern des Freud’schen Theorems ist – so würde ich behaupten – von der zuvor erwähnten Bauman’schen Gegenargumentation gar nicht berührt worden: dass der Mensch in der Kultur nicht nur vor der Aufgabe steht, seine sexuellen Gelüste zu zügeln (was gemeinhin als Hauptauslöser von Unbehagen gesehen wird), sondern dass er in sich das dumpfe Brodeln aggressiver Energien spürt, die das mühsam erreichte kulturelle Niveau bedrohen, somit die eigene »Kulturheuchelei« (Freud,
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1915, S. 44) fühlt, macht sein Unbehagen in der Kultur aus. Es sind die in der Moderne weiter schwelenden Re-Barbarisierungspotentiale (deren schlimmsten Ausbruch Freud nicht mehr erlebte), und es sind die damit verbundenen (von Freud bereits mit Sorge betrachteten) weltumspannenden und weltvereinenden bzw. -verneinenden allseits angesammelten militärischen Destruktionskapazitäten, die u. a. die Berechtigung dieses Unbehagens belegen und sich in ihm niederschlagen. Im Gegensatz zu Bauman sehe ich keinerlei Anzeichen einer Milderung dieses mit der eigenen Aggressivität zusammenhängenden Unbehagens in der Kultur. Der Mensch der Spätmoderne muss infolge dieser durch sein gesellschaftliches und ökonomisches Fortschreiten geschaffenen spätmodernen Zustände wenigstens ebensoviel in sich hineinfressen wie sein Vorfahre zu Jahrhundertbeginn. Er ist der Gefahr der Arbeitslosigkeit ausgesetzt, der er durch Lerneifer, Anpassungsbereitschaft und Techniken der Identitätspräsentation zu begegnen versucht. Er wird von der Mode- und Kosmetikindustrie und den Medien zum Wettstreit um Schönheit, Attraktivität und Jugendlichkeit angestachelt; er wird immer unerbittlicher mit den überall lauernden Risiken etwaiger von ihm begangener Verstöße gegen richtiges Gesundheitsverhalten konfrontiert. Kurz, die Bevormundung durch einflussreiche kulturelle Diskurse hat sich alles in allem nicht abgeschwächt (ebenso wenig wie das Potential sie begleitender Schuld- und Schamgefühle); erinnern wir uns der nun wirklich nicht veralteten Analysen Foucaults, hat sich ihr Disziplinierungsdruck Zug um Zug verstärkt. Auch der moderne Massenverkehr ist in hohem Maße Anlass zu Aggressionsstau. Wo nicht, wie unter dem euphemistischen Motto »Freie Fahrt für freie Bürger«, verwandelt er sich allzu oft in ein Medium, worin Aggressionen Gelegenheit bekommen, sich gefahrvoll auszutoben. Großenteils, wie beim Flugverkehr oder Automobilismus, hat er heute schon die Anhäufung von ökologisch motivierten Schuldgefühlen zur Folge. In einer bestimmten Hinsicht hat sich das von Freud aufgewiesene Unbehagen in der Kultur nämlich entscheidend verschärft. Freud hatte damals noch allen Ernstes das Umlenken auf die äußere Natur als willkommenes (uns unproblematisch offen-
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stehendes) Aggressionsventil begrüßt. Die Erfahrungen und Einsichten, mit denen nunmehr unsere »reflexive Moderne« gesättigt ist, lassen die Nutzung dieses Ventils nicht mehr oder nur »mit Bauchschmerzen« zu. Der naive prometheische Optimismus, den Freud noch hegte, hat sich nicht bewahrheitet. Und auch wenn der infolge grassierender Destruktivität drohende kollektive Suizid der Gattung (zu denken wäre heute etwa an den gezielten, massiven Einsatz von Computer-Viren, bakteriellen Terrorismus, private Atomwaffen, Mini-Nukes etc.), den Sozialpsychologen wie Richter und Lifton ins Bewusstsein rücken, abgewendet werden sollte, so droht doch die Heraufkunft eines posthumanen Zeitalters, durch das unsere prometheische Scham auf die Spitze getrieben würde. Von »prometheischer Scham« spricht Günter Anders (1961, S. 23 ff.). Sie entsteht aus dem Gefühl des Zurückbleibens, der Minderwertigkeit des Menschen im technischen Zeitalter gegenüber seinen Apparaten, Geräten, Produkten. »Mensch, was die kann«, diesen Ausruf legte Anders schon in den 1950er Jahren dem vor Bewunderung vor der »computing machine« (statt vor einer schönen Frau, Landschaft, Musik …) in die Knie gehenden kleinen »Prothesengott« (Freud, 1930, S. 222) in den Mund.5 Er fühlt sich nicht nur klein und unperfekt gegenüber den technischen Dingen, ihn wurmt die nicht verwundene Einsicht, nur geboren, nicht gemacht zu sein. Statt sich zu schämen darüber, was er alles gemacht hat – denn er ist ja letzten Endes »Schöpfer dieser Dinge« wie Klaus Horn (Horn u. Lorenzer, 1985, S. 11) formulierte6 – schämt sich unser kleiner Prothesengott, nicht selbst perfekt gemacht zu sein. (Und er wird nicht ruhen, zu versuchen, sich selbst herzustellen.) Prometheische Scham ist also in anderen Worten ein gänzlich 5 Wir können hier auch das Automobil einsetzen ... 6 In einer Diskussion mit Gehlen äußerte Adorno (1974) diesbezüglich: »Die Menschen sind heute wesentlich Anhängsel der Maschinerie und nicht die ihrer selbst mächtigen Subjekte. Ich will ja gar nichts anderes, als dass die Welt so eingerichtet wird, dass die Menschen nicht ihre überflüssigen Anhängsel sind, sondern […] dass die Dinge um der Menschen willen da sind und nicht die Menschen um der Dinge willen, die sie noch dazu selbst gemacht haben.«
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unangebrachter »Kleinheitswahn«, wie ihn Freud (1917) schon in der Melancholie walten sah. Dieses hinter allem großen Gehabe steckende Gefühl der Minderwertigkeit und Selbstherabsetzung ist nicht die einzige Plage, unter der das spätmoderne Selbst leidet. Die Menschen haben in der Tat heute eine Welt aufgebaut, in der sie sich, platt gesagt, heimat- und orientierungslos, einsam und klein fühlen, was sie sich natürlich selten und nur ungern eingestehen. Vaterund elternlos – ich treibe meine Zuspitzung weiter – irren sie durch diese Welt (Systeme und Lebenswelten) und basteln mal freudlos, mal verzweifelt am Patchwork ihrer Identität. Vormals emanzipatorische Bestrebungen sind heute bestenfalls zum alltäglichen Kampf um die Aufrechterhaltung einer »Work-LifeBalance« verkümmert. Der Wegfall der Gottesvorstellung, von Traditionen, Orientierungen, Bindungen, vielbeklagt, kann (bei allen Freiheitsmöglichkeiten, die er eröffnet) auch als ein einziger großer Objektverlust (gewissermaßen ein Weltverlust) verstanden werden. Diesen erfolgreich zu betrauern, ist den spätmodernen Individuen kaum möglich. Die Trauer wird chronisch, verfestigt sich zu einem tiefsitzenden Misstrauen gegen die Weltläufte. Das ist die weitere Facette von Unbehagen in der Kultur, die die Innenausstattung der Menschen heute aufweist. Und diese düstere Kulturstimmung des spätmodernen Menschen ist noch auf eine andere Weise in eine fatale Dynamik verwickelt. Freud hatte die kriegerischen Taten der Völker und das Anwachsen dieses Gefahrenpotentials als einen aktuellen Grund steigenden Unbehagens bereits ins Blickfeld gerückt. Immer mehr wird ja heute – im Zeitalter der Globalisierung – klar, dass wir alle zusammen eine Weltgemeinschaft bilden – in vollständiger Inklusion, wie Habermas (1998) es einmal genannt hat. Ein nuklearer Schlag oder Super-Gau hat ebenso weltweite, alle betreffende Folgen wie die Schadstoffbelastung der Atmosphäre durch automobile Aktivitäten, an welchem Punkt des Erdballs und durch welches noch so einzelne Individuum auch immer. Die Produktion von Vernichtungswaffen und von Schadstoffen durch tägliche Arbeit und Lebensaktivität (als pure Folge von Zivilisation sozusagen) ist, sozialpsychologisch gesehen, Teil eines Zirkels. Die Beziehungsarmut, die wir empfinden,
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fördert eine Dumpfheit und Apathie, die es uns erlaubt, die beschriebene Praxis unberührt mitzuvollziehen oder doch jedenfalls über uns ergehen zu lassen. Mehr noch, unterschwellig manifestiert sich hier ein Selbsthass, der die ungeliebte, resonanzlose Welt und sich als Teil darin aufs Korn nimmt. Vor dem Hintergrund eines durchaus bekannten, aber ausgeblendeten Untergangsszenarios schreitet die multipel riskante Praxis alternativlos fort. Es ist, als wünsche man sich unbewusst dereinst die große, umfassende Strafe – sieht man sich an, wie konsequent darauf hingearbeitet wird. Noch gar nicht berücksichtigt ist dabei die Angst, die der globale Terrorismus in seiner perfiden Kombination von Vernichtung anderer und suizidaler Autodestruktion in den letzten Jahren ausgelöst hat. Sie unterminiert weiterhin das ohnedies schwindende Weltvertrauen und fördert Aggression und depressive Stimmung. Es drängt mich noch, eine Bemerkung zur eingangs erwähnten intersubjektivistischen Tendenz der Beschönigung und Beschwichtigung von Unbehagen in der Kultur zu machen. Wir erinnern uns, dass Freud in seiner Schrift das Leiden an der Hinfälligkeit unseres Körpers ansprach. Unser Umgang damit ist so menschlich wie bezeichnend. Bei Krankheits- und Todesfällen fragen wir nicht selten als Erstes: Was hat derjenige falsch gemacht? Lebenspraktiken und -umstände wie etwa Essen, Trinken, Sport, Stress werden auf ihren möglichen schädlichen Beitrag hin befragt. Wir suchen eine vermeidbare oder doch wenigstens erklärliche Ursache, um uns tendenziell als unbetroffen (unsterblich?) zu wähnen. Vielleicht suchen wir auch nur nach einer Erklärung, warum wir noch leben. Den Verfall, die Sterblichkeit zu akzeptieren, fällt uns schwer. Sie beschämt unseren Narzissmus. Mit Aggression und Gewalt ist es ähnlich. Wir suchen sie auch da noch verzweifelt zu erklären, wo es so leicht keine Erklärungen gibt. Diesem Streben dient der neue Intersubjektivismus gelegentlich auch. Er hilft uns, uns nicht unserer tiefsitzenden Destruktivität, die im Anderen nur ihren Auslöser findet, stellen zu müssen.
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Zur psychischen Ausrüstung des Subjekts für eine reflexive Moderne Nun hat sich beim Leser längst der Einwand geregt, diese Lagebeschreibung gegenwärtiger Subjektivität sei unausgewogen, einseitig verdüstert. Dem widerspreche ich nicht. Mir geht es darum, beherrschende Züge im spätmodernen Verhältnis von Individuum und Gesellschaft herauszuarbeiten. Das Augenmerk galt bisher den nachteiligen Aspekten. Zum Bild gegenwärtiger Subjektivität gehören aber auch andere Tendenzen, durch die Spielraum für Subjektivität neu geschaffen wird oder werden könnte. Bei allem Fortwähren, gar Anwachsen innergesellschaftlicher Destruktivität hat sich in Teilen des derzeitigen Bewusstseins zugleich doch auch ein offenes Unbehagen diesem Zustand gegenüber bewahrt, ja stärker und dauerhafter manifestiert. Das Unbehagen, so könnte man sagen, ist hier gewissermaßen reflexiv, zu einem »Unbehagen mit dem Unbehagen« geworden. Davon zeugt die zunehmende Verbreitung des Pazifismus (vgl. Mitscherlich, 1993; Habermas, 1998, S. 88 f.), das Nachlassen der Bereitschaft, gehorsam und patriotisch für das eigene Land in den Krieg zu ziehen, die Kritik an den weltweit verbreiteten Vernichtungswaffen sowie die Kritik an den Ungerechtigkeiten des Globalisierungsprozesses. Hier ist eine zuvor nicht vorhandene Empfindsamkeit zu verzeichnen. Gleiches gilt auf dem Gebiet der Umweltschädigung (Anti-AKW-Bewegung etc.). Mit Freud (1933) kann diese Tendenz auf eine »konstitutionelle Intoleranz« zurückgeführt werden. Die Anti-Kriegshaltung ist bei einer wachsenden Zahl von Menschen inzwischen geradezu körperlich, »in Fleisch und Blut« übergegangen, Musterbeispiel einer politischen sinnlichen Symbolik. Eine Waffe zu ergreifen und auf einen anderen Menschen im Rahmen einer militärischen Handlung zu richten, bedürfte es für diese Menschen einer Überwindung, zu der sie nicht mehr in der Lage wären, weil es ihnen ihr Innerstes (somatopsychisch) verbietet. Die fortgeschrittene Kultur ist in ihnen so tief verwurzelt, dass ihr Widerwillen gegen Krieg übergroß geworden ist. Das Ich dieser Menschen ist gleichzeitig empfänglich für die vielfältigen Ängste
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(Richter, 1992), die die Risiken der späten Moderne hervorrufen. Damit sind sie in der Lage, adäquat auf die Gefahren von Kriegen und die Bedrohung der Umwelt zu reagieren. Indem sie sich zu Recht um die soziale und natürliche Welt ängstigen, vermögen sie, wie der Psychoanalytiker und Sozialpsychologe R. J. Lifton (Lifton u. Markusen, 1990) aufzeigt, ein umfassendes Gattungsbewusstsein auszubilden, auf dessen Grundlage sie etwas gegen Bedrohungen und gesellschaftliche Fehlentwicklungen unternehmen. Gefühl und Ratio stehen bei diesen Personen in Korrespondenz, Sprache und Bewusstsein sind bei ihnen in der Lage, die sinnlichen Interaktionsformen zu artikulieren oder doch wenigstens im Konflikt mit bestehenden Normen angemessen zu benennen. Das moralische Bewusstsein der betreffenden Personen ist, so lässt sich mit Marcuse sagen, zugleich auch immer libidinös. In ihnen artikuliert sich die »Stimme des Intellekts«, auf die sich in seiner religionskritischen Studie von 1927 Freuds aufklärerische Hoffnung richtete, die er uns aber in seiner großen Kulturkritik drei Jahre später vorenthielt. Aber diese »Stimme des Intellekts« ist es wohl, die leise, aber beharrlich Eros, dem Gegenspieler der Destruktivität, zum Durchbruch verhelfen soll. Dieser Gedanke ergänzt die wichtigen, schon länger vorliegenden sozialisationstheoretischen Erkenntnisse zur moralischen Entwicklung (Döbert u. Nunner-Winkler, 1975). Die Stufe der postkonventionellen Moral, die in dieser Theorie das reflexive, universalistische Bewusstsein markiert, blieb nämlich in der motivationalen Hinsicht noch zu unbestimmt. Um die für sie nötige Ich-Stärke aufzubringen, bedarf es der Erfahrung eines Sozialisationsklimas, das die libidinösen Voraussetzungen schafft. Dazu reicht nicht allein intellektuelles Niveau. Anerkennung, Geduld und Verständigungsbereitschaft schaffen auf Seiten der Eltern ebenso eine solche Atmosphäre wie vorgelebte Leidenschaften und Interessen, Authentizität. Im Hinblick auf die sozialisatorischen Voraussetzungen eines solchen lebenspolitischen bzw. lebenspolitikfähigen Selbst möchte ich hier den geglückten Verlauf der Mutter-Kind-Dyade, auf den ja auch die moderne psychoanalytische Bindungsforschung großes Gewicht legt (vgl. Dornes, 2002), hervorheben. Im Zu-
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sammenspiel mit der Mutter werden in diesem Fall schon früh körperliche Bedürfnisartikulationen gefunden, die eine stabile Grundlage der sich bildenden Subjektstruktur darstellen. Sie bestimmt das Maß und die Art der Erlebnisfähigkeit des Einzelnen in seinen sozialen und Umwelt-Beziehungen späterhin entscheidend mit. Die frühe Erfahrung von Zuwendung durch die Eltern, auch verbunden mit dem Erwerb des Vermögens, Ambivalenzen auszuhalten, sorgt für eine reiche innere Welt, aus deren Sicherheit und Halt angstfrei Lebensentwürfe in der äußeren Welt formuliert werden können. Innerer Reichtum ist nun nicht gleichzusetzen mit Glück. Glück ist bei Freud immer Glück im »gemeinen Unglück«.7 Das spätmoderne Subjekt kann sein Unbehagen nicht überwinden oder hinter sich lassen; sein Ziel muss sein, gut damit zurechtzukommen. Zumal nach Auschwitz kann ein Subjekt, das sich kritischer, reflexiver Praxis verschreibt, nur melancholisch sein (Busch, 2005). Es muss nicht im Unbehagen, gar in der Depression versinken; aber es muss der Destruktion, dem Leiden eingedenk sein.
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Micha Brumlik
Die Aktualität des Todestriebs Zur Aktualität eines Phänomens und eines unzeitgemäßen Gedankens
Die deutsche Beteiligung am Einsatz der NATO in Afghanistan, die Debatten um ein Ehrenmal gefallener Bundeswehrsoldaten und der Umstand, dass die Bereitschaft, sich freiwillig zur Bundeswehr zu melden, scheint diese Gesellschaft als eine postheroische Gesellschaft auszuweisen. Andererseits verweisen die Nachrichten aus dem Mittleren Osten, aus dem Irak und zunehmend mehr aus Afghanistan und Pakistan darauf, dass unter gegebenen Umständen die Bereitschaft zu töten und zu sterben durchaus epidemisch zunimmt. So berichtete die Presse erst, dass in Bagdad ein gerade 15 Jahre altes, mit einem Sprengstoffgürtel bewaffnetes Mädchen im letzten Augenblick gefasst werden konnte, später indes gab es zu Protokoll, unter Drogen zu diesem Einsatz gezwungen worden zu sein. Der unbestrittene Umstand, dass im Irak die Anzahl weiblicher Selbstmordattentäter sprunghaft ansteigt, wird von dortigen Sicherheitskreisen paradoxerweise mit der verbesserten Sicherheitslage erklärt: Da al-Quaida Rückzugsgebiete verloren habe, setze sie mit den Frauen das letzte Mittel ein, um Kontrollen zu überwinden, zudem gälten Armut sowie Rache für den Tod und die Festnahme ihrer Männer als wichtigstes Motiv für diese Einsätze (»Die Tageszeitung« – taz vom 10.9.2008). Todessehnsucht oder Todesbereitschaft sind in der Geschichte der Menschheit nichts Neues: die Bandbreite der Phänomene reicht von den epidemischen Selbstmorden unter deutschen Jünglingen nach dem Erscheinen von Goethes »Werther« bis zur Bereitschaft einzelner Attentäter des 20. Juli, bei einem Anschlag auf Hitler selbst ums Leben zu kommen. In der Männerwelt der griechischen und römischen Antike war die Entscheidung des
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homerischen Achill, lieber nach einem kurzen Leben rühmlich zu sterben, als lang und schmählich zu leben, ebenso prominent wie das Bekenntnis »Dulce et decorum est mori pro patria«. Vierzig Jahre nach der sexuellen Revolution der 1960er Jahre ist es aller sonstigen Skepsis zum Trotz weniger Freuds Theorie der (unterdrückten) sexuellen Triebe, denn seine weitaus weniger durchgearbeitete Theorie des »Todestriebs«, die Widerwillen und Widerstand provoziert. Sie gilt inzwischen als wesentlich anstößiger und »falscher« als seine Vorstellungen über die menschliche Sexualität. Es war Sigmund Freud, der schon früh, im Jahre 1915, nach dem Schock über einen neuartigen Krieg, der so nicht absehbar war, in geradezu prophetischer Weise gesehen hat, was der später so genannte »Erste Weltkrieg« für die Menschheit bedeuten würde. In der kurzen, erstmals 1915 veröffentlichten Studie »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« gab er dem bisher schwer vorstellbar Neuen dieses Krieges Ausdruck: Der Krieg, an den wir nicht glauben wollten, brach nun aus und er brachte die – Enttäuschung. Er ist nicht nur blutiger und verlustreicher als einer der Kriege vorher, infolge der mächtig vervollkommneten Waffen des Angriffs und der Verteidigung, sondern mindestens ebenso grausam, erbittert, schonungslos wie irgend ein früherer. Er setzt sich« – und Freud traf diese Feststellung Monate vor den mörderischen Materialschlachten zwischen Deutschland und Frankreich, wohl auch vor dem ersten Einsatz von Giftgas – »über alle Einschränkungen hinaus, zu denen man sich in friedlichen Zeiten verpflichtet, die man das Völkerrecht genannt hatte, anerkennt nicht die Vorrechte des Verwundeten und des Arztes, die Unterscheidung des friedlichen und des kämpfenden Teiles der Bevölkerung, die Ansprüche des Privateigentums (Freud, 1915, S. 328 f.).
Freud war bei seinen späteren, weiterführenden Überlegungen, in denen er mit dem Konzept eines »Todestriebs« arbeitete, bewusst, dass diese Gedanken rein spekulativ sind. Die metapsychologische Begründung dieser Annahme setzt noch einmal bei dem schon aus der Neurosenlehre bekannten Wiederholungszwang und der Funktion des Bewusstseins an. In kühnen Gedankengängen, die seinerzeit aktuelle Untersuchungen an Einzellern mit phylogenetischen Überlegungen zur Herausbildung des Reizschutzes bei lebenden Organismen verbinden, entwickelt Freud ein Bild des lebendigen Organismus, der
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in seinen Grundstrukturen von den Pantoffeltierchen bis zum bewussten Menschen reicht: Organismen bilden Sinnesorgane aus, um der Außenwelt selektiv Proben zu entnehmen und zu bewerten, beinahe wichtiger sind indes Mechanismen des Reizschutzes. Als Grenzorgan nimmt das menschliche Bewusstsein mithin selektiv verarbeitete Reize aus der Außenwelt, aber auch Reize aus dem Innern des Organismus wahr – die aus dem Inneren rührenden Reize sind demnach der »Arbeitsweise« lebender Systeme, also ihrer Eigenlogik gemäßer, als die selektiv aufgenommenen Außenreize. Überschreiten die als unlustvoll empfundenen »Innenreize« einen gewissen Intensitätsgrad, entwickelt der Organismus die Neigung, sie so zu behandeln, als ob sie von außen kämen, »um die Abwehrmittel des Reizschutzes gegen sie in Anwendung bringen zu können«, eine Konstellation, in der Freud die Herkunft der Projektion sieht. Aber auch diese Mechanismen folgen noch der Logik des in Frage stehenden Lustprinzips, weshalb Freud noch einmal zur traumatischen Neurose zurückkehrt, deren Eigentümlichkeit ja darin besteht, dass vor dem Ansturm äußerer Reize der Reizschutz durchbrochen wird. Die sich ständig wiederholenden Angstträume von Kriegsneurotikern – und hier spielt die Erfahrung des Weltkriegs mit hinein –, die ja nicht als Wunscherfüllung gewertet werden können, fungieren so als nachgeholte »Reizbewältigung unter Angstentwicklung«; das gilt jedenfalls dann, wenn das Ausbleiben der Angst die Ursache der traumatischen Neurose war. Die Entwicklung von Angst mag indes dem Realitäts-, mit Sicherheit aber nicht dem Lustprinzip entsprechen, womit nun eine Instanz gefunden wäre, die dem Lustprinzip zwar nicht widerspricht, »doch unabhängig von ihm ist und ursprünglicher scheint als die Absicht des Lustgewinns und der Unlustvermeidung« (Freud, 1915, S. 32). Dies Realitätsprinzip dient zwar auch dem Prinzip der Lustgewinnung, äußert sich jedoch zunächst als Fähigkeit zum »Aufschub der Befriedigung« und duldet daher auf dem »langen Umwege zur Lust« Unlusterfahrungen, die schließlich im Dienste des Überlebens des ganzen Organismus stehen. Was aber ist das Wesen der Triebe, die sowohl hinter den Neurosen als auch hinter dem Wiederholungszwang stehen? Freud wagt eine allgemeine, spekulative Definition, wonach ein
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Trieb »ein dem Organischen innewohnender Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes« (Freud, 1915, S. 32) sei – eine Tendenz, die allem Leben innewohne, eine Tendenz, hinter jenen Zustand zurückzukehren, der durch äußere Störkräfte bewirkt wurde, »wenn man will: die Äußerung der Trägheit im organischen Leben« (S. 32). Die metapsychologische Spekulation führt endlich zu der Annahme, dass alles Leben, das ja aus dem Anorganischen, aus Leblosem entstanden sei, eine Tendenz zur Rückkehr ins Anorganische aufweise, eine Vermutung, die dem damals schon bekannten zweiten thermischen Hauptsatz entspricht und sich in einer Art Axiom artikulieren lässt: »Das Ziel allen Lebens ist der Tod«, dem ein weiteres Axiom entspricht: »Das Leblose war früher da als das Lebende« (S. 40). Diesem Axiom scheint der Lebens- und Überlebenswille aller Organismen, auch der Menschen, entgegenzustehen: Warum gibt es überhaupt – wenn doch alles Leben dem Tode zustrebt – evolutionär entstandene Selbsterhaltungsmechanismen? Wenn beides – das spekulativ zugrunde gelegte Axiom sowie die biologisch und psychologisch beglaubigte Existenz von Selbsterhaltungstrieben – gelten soll, bleibt um der Konsistenz der Argumentation nichts anderes übrig, als eben diese Selbsterhaltungstriebe gleichermaßen als Ausdrucksweisen des Todestriebes zu analysieren: als Partialtriebe, die keine andere Funktion haben, als »den eigenen Todesweg« des Organismus zu sichern und andere Möglichkeiten der Rückkehr zum Anorganischen als die immanenten fernzuhalten. So findet man am Ende – und genauso hat es Freud gesehen – einen scharfen Dualismus zwischen dem Eros, der Sexualität, das heißt dem Fortpflanzungstrieb hier sowie allen anderen Trieben, zumal den Selbsterhaltungstrieben dort, die aber ihrerseits, sofern sie in Gestalt eines psychischen Objekts, als »Ich« auftreten, zum Gegenstand des Begehrens werden können: Das Lustprinzip scheint, »das ist das paradoxe Ende der gesamten Spekulation, geradezu im Dienste der Todestriebe zu stehen« (Freud, 1915, S. 69). Lassen sich für die Spekulationen sinnvolle theoretische und empirische Bestätigungsmöglichkeiten aufbieten?
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Zur Logik eines Konstrukts Ein speziell der deutschen, der nationalsozialistischen, aber auch der abendländisch-christlichen Geschichte wegen die Aufmerksamkeit erregender Konflikt ist der Palästinakonflikt, bei dem eine – weltgeschichtlich auf den ersten Blick neu wirkende – Taktik besonders ins Auge fällt: das Selbstmordattentat. Unsere besondere Aufmerksamkeit für den Nahostkonflikt kann jedoch nicht verdecken, dass Selbstmordattentate seit etwa fünfunddreißig Jahren nicht nur im Mittleren Osten und auch nicht nur in Gebieten mit muslimischen Bevölkerungen endemisch geworden sind: Neben den Attentätern vom 11. September, den seit Juli 2006 stetig zunehmenden Selbstmordattentaten in Afghanistan und im Irak (Neue Zürcher Zeitung vom 31.8.2006), die nicht zuletzt deshalb auffallen, weil sich die dort verübte Gewalt kaum noch gegen Briten und Amerikaner richtet, sondern fast ausschließlich gegen die irakische Bevölkerung1, sind außerdem noch z. B. die Tamil Tigers auf Sri Lanka zu nennen (Croitoru, 2003, S. 209 f.), die überhaupt nicht dem Islam anhängen. Die wissenschaftliche Triftigkeit des Konstrukts des Todestriebs hängt freilich von einer klaren Fassung des Triebbegriffs ab. Hier bleibt Freud keine Antwort schuldig. Die von ihm getroffene begriffliche Unterscheidung zwischen Reizen und Trieben, nämlich dass ein Trieb »aus Reizquellen im Körperinnern stammt, wie eine konstante Kraft wirkt und dass die Person sich ihm nicht durch die Flucht entziehen kann, wie es beim äußeren Reiz möglich ist« (Freud, 1915, S. 102 f.), erzwingt die Frage, wie im Laufe der Entwicklung somatische Reize zu Trieben geformt werden. Der Todestrieb ist vor dem Hintergrund der Unterscheidung von Reiz und Trieb ebenso wenig wie der Sexualtrieb als eine rein vorgesellschaftliche, natürliche Kraft anzuse1 Anfang September gab das Pentagon bekannt, dass in den Monaten Mai bis August 2006 täglich 120 Irakis, Sicherheitskräfte ebenso wie Zivilbevölkerung, Anschlägen zum Opfer fielen. Allein im Juli registrierte das Alliierte Oberkommando 2000 Todesopfer aufgrund der Rivalität zwischen Sunniten und Schiiten(Neue Zürcher Zeitung vom 2/3. 9. 2006).
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hen, sondern als Ergebnis einer schicksalhaft erfahrenen Sozialisation. Indem Freud am Trieb zwischen Quelle, Objekt und Ziel unterscheidet, gewinnt er ein Analyseraster, das es ermöglicht, im Trieb das Ergebnis eines somatisch angestoßenen Sozialisationsprozesses zu sehen: »Man kann am Trieb Quelle, Objekt und Ziel unterscheiden«, was zu der Schlussfolgerung führt, dass das Triebziel am eigenen Körper erreicht werden könne, dabei ist »in der Regel [...] ein äußeres Objekt eingeschoben, an dem der Trieb sein äußeres Ziel erreicht, sein inneres [Objekt, M. B.] bleibt jedes Mal die als Befriedigung empfundene Körperveränderung« (S. 102). Triebe, der Sexual- und der Todestrieb, sind demnach lebensgeschichtlich kulturell angeeignete, basale somatische Impulse und stellen ein nur analytisch auflösbares Amalgam von somatischen Reizquellen und intersubjektiv kulturellen Bedeutungszuweisungen dar. Was Triebe von allgemeinen Verhaltensdispositionen oder Handlungserwartungen unterscheidet, ist ihre zielgerichtete Spontaneität. Freilich ist es trotz der stets auch sozial konstituierten Triebe für alle Gesellschaften unerlässlich, diese – ohnehin bereits sozial mitkonstituierten Triebe – ein weiteres, zweites Mal kulturell zu rahmen und zu regulieren. Das ist bei den vielfältigen Formen der Ausübung von Sexualität inzwischen selbstverständlich – weniger Aufmerksamkeit ist der Frage gewidmet worden, wie der gemäß dieser Theorie in allen Menschen und in allen Gesellschaften vorfindliche Todestrieb gerahmt und reguliert wird; und zwar nicht nur im Hinblick auf den Wunsch, andere anzugreifen und zu töten, sondern besonders im Hinblick auf den Wunsch, selbst zu sterben. Nun fordert die Logik von Freuds Kulturtheorie, Sexual- und Todestrieb gleich zu betrachten. Beide sind als menschliche Anlagen vorhanden, werden in Sozialisation und Erziehung auf je eigentümlich individuelle Weise geformt und sich daher in bestimmten Kulturen unterschiedlich äußern. In aller Regel gelingt es menschlichen Gesellschaften, beide Triebe in mehr oder minder sozial verträgliche Formen zu überführen – jedenfalls auf Zeit. Ein Unterschied scheint freilich unaufhebbar: Während die Unterdrückung der Sexualtriebe in aller Regel neurotische Krankheiten zur Folge hat, ist von einer ähnlichen,
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zwingend neurotogenen Logik im Falle des Todestriebs nichts bekannt. Den damit verbundenen Fragen hat sich im Anschluss an Freud der amerikanische Psychiater Karl Menninger gewidmet und dem Konzept des Todestriebs in seinem 1938 verfassten klassischen Werk über Selbstzerstörung eine empirisch überprüfbare Fassung gegeben: Beim normalen Menschen […] kommt es nach einer vorübergehenden Periode von Kummer und Angst zu einer allmählichen Besetzung neuer Objekte. Bei gewissen Individuen jedoch […] geschieht dies nicht – kann es nicht geschehen. Stattdessen werden die zuvor verschlungenen Stränge von Liebe und Hass ihres Gegenstandes beraubt, sie werden getrennt und kehren zu ihrem Ursprung zurück – zum Individuum. Wie zu Beginn« – so Menningers These – »übernehmen also wieder die aggressiven oder zerstörerischen Triebe die Führung, denen sich die erotischen Triebe mehr oder weniger rasch anschließen. Wird der Abstand zu groß, dann erreichen die destruktiven Impulse ihr Ziel: die Zerstörung (Menninger, 1978, S. 45).
Zur Triftigkeit einer Spekulation Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts und zweier Weltkriege scheinen indes Freuds Thesen bestätigt zu haben. Waren es im Ersten Weltkrieg noch hunderttausende, ja Millionen junger Männer, die jedenfalls anfangs leuchtenden Auges den Ekstasen des Tötens und Sterbens entgegengingen, so war es vor allem in Deutschland eine ganze Bevölkerung, einschließlich Frauen und Jugendlicher, die sich einem todbringenden Führer in verzückter Verliebtheit ergab. Das hat nichts mit Nationalcharakteren zu tun, wohl aber mit Formen gesellschaftlicher Destabilisierung, die den Todestrieb formen, entgrenzen und schließlich freisetzen. Das zeigt sich heute an massenhaften Verhaltensweisen im – vor allem, aber nicht ausschließlich – arabisch-islamischen Kulturkreis, auch in westlichen Immigrationsmilieus (vgl. Roy, 2006) an der epidemischen Bereitschaft junger Männer und auch Frauen, sich von totalitären politischen Drahtziehern als lebende
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Bomben verwenden zu lassen. Die besondere Problematik der im irakisch-iranischen Krieg der 1980er Jahre speziell auf iranischer Seite zu beobachtenden massenhaften Todesbereitschaft vor allem von Jugendlichen, die vom damaligen Regime zu hunderttausenden chancenlos ins Feuer der irakischen Kanonen oder deren Gasnebel geschickt wurden, wäre eigens vor dem Hintergrund einer spezifischen Form schiitischer Religiosität zu entfalten, soll aber hier nicht weiterverfolgt werden (vgl. Bellaigue, 2006, der ein anschauliches Bild der kollektiven Traumatisierung dieser Gesellschaft liefert, oder auch Brown, 1990). An den palästinensischen Selbstmordattentätern jedenfalls, die in nicht wenigen Fällen in kaum begreiflicher Weise von ihren Müttern zu derlei Tun ermuntert werden (Croitoru, 2003, S. 202), fallen die beiden Komponenten des Destruktionstriebes, der Wille zu töten und der Wunsch zu sterben, zusammen. Westlich rationalistisch gebildeten Menschen fällt es schwer, sich vorzustellen, dass jene, die das tun, allen Ernstes glauben, nach der Explosion der Granate, die ihren Schädel zerreißen wird, in einem paradiesischen Garten, umgeben von frischem Wasser und lieblichen Jungfrauen, zu erwachen. Schließt man diese Möglichkeit aus, so bleibt für derlei Verhalten kaum eine andere Erklärung, als darin eine brisante Mischung aus überbordendem, kaum noch zu zügelndem Hass sowie einem dringlichen Wunsch nach ekstatischer, ja geradezu orgasmischer Spannungslösung zu sehen. Wolfgang Schmidbauer spricht in diesem Zusammenhang – ohne Freuds Konzept des Todestriebs zu erwähnen – von »explosivem Narzissmus«, einem Narzissmus, der die Funktion habe, einem drohenden Zusammenbruch des hoch besetzten Selbst, lebensgeschichtlich herausgebildeter, im psychischen Apparat nur schwach verankerter Grandiositätsvorstellungen durch Untergang zu entgehen (Schmidbauer, 2003). Seit in den 1970er Jahren japanische Selbstmordattentäter die palästinensische Guerilla mit dem im faschistischen Japan erfundenen Kamikazekult bekannt gemacht haben (Croitoru, 2003, S. 74 f.), ist der Selbstmordattentäter, wie er sich täglich im Irak offenbart und wie er in Palästina politisch gesteuert eingesetzt wird, zu einer vertrauten Gestalt der weltpolitischen Bühne ge-
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worden: junge Männer, die mit Kalaschnikow, Koran und verhülltem Haupt vor Videokameras posieren und dort erklären, ihrem Leben keinen anderen Sinn geben zu können, als im Sterben noch möglichst viele mit sich zu reißen – in Israel Juden, im Irak Schiiten, Sunniten, Christen oder Besatzungstruppen. Zu wenig beachtet sind in diesem Zusammenhang auch nicht wenige palästinensische Mütter, die stolz darauf sind, ihre Söhne dem Djihad geopfert zu haben! Was spricht aus dieser so nur noch bei den antiken Spartanern bekannten Form – nach unseren Begriffen – pervertierter Mütterlichkeit? Welcher Art die Antwort auch sei: Das alles kann und darf nicht heißen, dass islamische Gesellschaften grundsätzlich stärker zu einer Kultur, nein einer »Unkultur des Todes« neigen als westliche Gesellschaften, wohl aber, dass die sozialen und kulturellen Bedingungen, unter denen sie gegenwärtig existieren, der Bildung und Freisetzung des bei allen Menschen und in allen Kulturen der Anlage nach vorhandenen Todestriebs in besonderem Maße Vorschub leisten. Üblicherweise wird in den Sozialwissenschaften individuelle oder kollektive Gewalt als Reaktion auf Stress, Anomie (Durkheim, 1983) und Frustration gedeutet – wie aber, wenn es hier gar nicht um eine Reaktion, sondern »einfach« um einen Verfall der dünnen Dämme ginge, die diese Gesellschaften gegen das Durchbrechen des Todestriebs errichtet haben? Welches wären diese Dämme und warum sind sie geborsten? »Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod« – diese Parole haben die Attentäter von Madrid hinterlassen und damit sinnigerweise das Erbe der spanischen Faschisten angetreten, die ihren Kampf gegen die Republik unter dem Motto »Viva la muerte« führten.
Zur wissenschaftlichen Konkurrenzfähigkeit eines spekulativen Konstrukts Bisher hat die Beschwörung von Freuds Theorie des Todestriebs kaum mehr für sich als eine gewisse kulturkritische, feuilletonistische Plausibilität. Dass sie auch wissenschaftlich konkurrenz-
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fähig ist und also mit guten Gründen den Anspruch auf Wahrheit erheben kann, ließe sich nur behaupten, wenn sie die heute besonders auffällige Form der Gewaltausübung, nämlich die Selbstmordattentate, mindestens so gut, wenn nicht noch besser, erklären kann als andere, bereits vorliegende Theorieangebote. Freuds Theorie des Todestriebs hat sich demnach im Rahmen gegenwärtiger Ansätze zu sozialpsychologischer Gewalt, soziologischer Anomie- und politikwissenschaftlicher Kriegsforschung (vgl. Münkler, 2006) zu bewähren. Im Blickwinkel politologischer Analyse erscheint diese Form tödlicher Gewaltausübung als ein rationales Mittel asymmetrischer Kriegsführung (zur langfristigen strategischen Bedeutung vgl. Chasdi, 2002). So erläutert die an der Universität Birzeit in Ramallah lehrende Professorin der politischen Wissenschaft, Helga Baumgarten, den Kontext, in dem die islamistisch-nationalistische Hamas-Bewegung die ersten Selbstmordattentate verüben ließ, und referiert die von der Bewegung selbst vorgebrachten Begründungen für die Attentate: Erstens seien diese Attentate als Märtyrer-Operationen eine legitime Verteidigung gegen eine gewaltsame, gnadenlose und tödliche Besatzung, die trotz aller UN-Resolutionen von der internationalen Gemeinschaft bis 2001, also seit 34 Jahren, nicht beendet worden sei; zweitens seien diese Attentate das »einzige effektive und legitime Mittel in der Hand der Palästinenser gegen die weit überlegene militärische Macht der israelischen Armee mit ihren Apache-Hubschraubern und F-16-Bombern« (Baumgarten, 2006, S. 154). Die von Baumgarten behauptete »Repressions-Reaktions-These« wird von einer genauen Kennerin der Lebensverhältnisse der Palästinenser im von Israel weitgehend besetzten Westjordanland, der Journalistin der führenden linksliberalen israelischen Tageszeitung »Haaretz«, Amira Hass, geteilt. In tagebuchartigen Aufzeichnungen hält sie für den 20. Oktober 2004 fest, dass eine israelische Vergeltungsaktion 133 Palästinenser, darunter 30 Kinder das Leben gekostet habe – eine Aktion, die im Fastenmonat Ramadan stattfand. Amira Hass erläutert: Das einmonatige Fasten während des Tages ist eine der fünf religiösen Pflichten des Islam. Die Erfüllung dieser Pflichten sichert dem Gläubigen einen Platz im Paradies. Der Märtyrertod für einen gerechten
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Zweck ist ebenfalls eine Möglichkeit, in den Himmel zu kommen und für seine Sünden zu büßen. Viele Jugendliche, die bewaffnete Kämpfer waren oder es werden wollten, versicherten in den letzten vier Jahren, daß sie sich nicht vor dem Tod fürchteten, weil ihnen der Himmel mit seinen physischen und geistigen Belohnungen sicher sei. Dieser Glaube an ein physisches Leben nach dem Tode ohne alle metaphorische Bedeutung und Spiritualität mag der geeignete Trost für Menschen sein, deren irdisches, gegenwärtiges Leben ihnen nichts als Armut, Isolation und extreme Diskriminierung zu bieten hat. Aber als Glaube einer ganzen Gesellschaft ist er ein Rezept für kollektive Apathie (Hass, 2006, S. 137).
Die strategische, ein rationales Kalkül unterstellende Analyse, die die Selbstmordattentate als Reaktion – sei es auf eine übermäßig harte Besatzungsherrschaft, sei es auf eskalierende Gruppenrivalität – zurückführt, sieht in ihnen mithin eine mehr oder minder effektive Gewaltmaßnahme und in den Attentätern Waffen: menschliche Waffen zwar, aber eben doch Waffen wie Haubitzen, Granaten, Lenkflugkörper oder eben Katjuscharaketen. Dabei wird die motivationspsychologisch zentrale Frage ausgeblendet, wie diese meist jungen Männer dazu kommen, ihr bisher so kurzes Leben im Bewusstsein des sicheren Todes einem politischen Ziel zur Verfügung zu stellen. Das Skandalon der Annahme vom Todestrieb, dass nämlich diese Bereitschaft zum Sterben mit einem Lustempfinden gekoppelt ist, wird dabei bewusst übergangen. Doch womöglich bedarf es zur Befriedigung dieses Triebes, nicht anders als zur Befriedigung des Sexualtriebes, entgegenkommender gesellschaftlich politischer Bedingungen. Die Militärgeschichte geht davon aus, dass mit der Französischen Revolution und der als Reaktion auf sie entstehenden Nationalismen Töten und Sterben für ein höheres Ziel zum kulturellen Wert wurde. Der Politologe Herfried Münkler spricht in diesem Zusammenhang von der Herausbildung heroischer Gemeinschaften (2006, S. 287). Zwar waren die Mitglieder dieser heroischen Gemeinschaften im Zeitalter der Weltkriege allemal bereit, zu töten und auch den eigenen Tod in Kauf zu nehmen, aber doch so, dass es sich dabei im Zeitalter der symmetrischen Kriege für die einzelnen Individuen um die mehr oder minder begeisterte Inkaufnahme eines Todesrisikos handelte, nicht aber
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um die sichere Gewissheit des Todes. Nach Münklers Analysen sind Selbstmordattentäter menschliche Angriffswaffen mit Verzicht auf Rückzugssicherung und damit die stärkste Waffe gegen das Sicherheitsempfinden postheroischer Gesellschaften: Der Selbstmordattentäter ist also nicht nur ein Instrument, mit dem infolge des Verzichts auf Rückzugssicherung Ziele angreifbar werden, die sonst unerreichbar wären, sondern er ist zugleich ein Symbol für die Erschütterbarkeit postheroischer Gesellschaften. Er ist eine Vergewisserung dessen, daß ein zum Äußersten entschlossener Heroismus deren Sicherungsmaßnahmen nachhaltig zu durchdringen vermag. Der Selbstmordattentäter symbolisiert die Behauptungsfähigkeit des Heroischen gegenüber der Technologie, und insofern ist er der eigentliche Angriff auf das Selbstbewußtsein postheroischer Gesellschaften (Münkler, S. 345).
Das im Zusammenhang mit den Selbstmordattentaten immer wieder als Vorläufer (vgl. Israeli, 2003) genannte Beispiel der Kamikazepiloten der kaiserlich-japanischen Armee in den Jahren 1944/45 ist jedoch bei näherer Betrachtung umstritten. Die japanische Militärführung hat in den letzten Kriegsmonaten, als die US-amerikanische Marine dem japanischen Kernland immer näher kam, mehr als viertausend Kamikazesoldaten zu Wasser, zu Lande und in der Luft, als lebende Torpedos, Granaten oder Bomben eingesetzt (Croitoru, 2003, S. 21) und damit die amerikanischen Verlustraten nach oben getrieben. 1944/45 war für die USA nicht abzusehen, wie viele dieser militärisch durchaus effektiven, Angst und Schrecken verbreitenden menschlichen Bomben das kaiserliche Japan noch vorhielt. Dieser Schrecken war für die USA nur noch durch den noch schrecklicheren, »fear and awe« verbreitenden Abwurf zweier Atombomben zu übertreffen, der dann auch sofort zur Kapitulation führte. Im Unterschied zu den djihadistischen und tamilischen Selbstmordattentätern haben sich die Kamikazepiloten jedoch in den meisten Fällen keineswegs freiwillig gemeldet, sondern wurden gezogen und endlich – in ihren Bataillonen – einer Form von »Freiwilligkeit« unterworfen, die entweder durch massiven Gruppendruck oder die schlichte Angst, einen noch furchtbareren Tod zu sterben, erzeugt wurde. Die inzwischen reichlich edierten Kriegstagebücher studentischer Kamikazepiloten vermitteln ein anrüh-
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rendes Bild davon, wie diese jungen Männer zwischen Todesangst und Fassung mit philosophischen Mitteln versuchten, ihrem sicheren Tod noch einen Sinn abzugewinnen (vgl. OhnukiTierney, 2006 und Scherer, 2001 und die Diskussion bei Croitoru, 2003, S. 45). So gesehen sind die Selbstmordattentate im nahöstlichen und südasiatischen Krisenbogen des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts eine weltgeschichtliche Neuerung und militärische Innovation, die nicht nur furchterregend ist, sondern auch alle bisherigen Sicherheitskonzepte auf den Kopf stellt: Kombattanten, denen das eigene Leben nichts wert ist, kann man nicht mehr abschrecken, sondern nur noch abhalten.
Epiphanien der Gewalt Die sozialwissenschaftliche Gewaltforschung konnte mit guten Gründen zeigen, dass eine Gewaltanalyse, die lediglich – sei es anomie-, sei es lern- oder kulturtheoretisch – soziale Bedingungskomplexe und die Auftretenswahrscheinlichkeit von Gewalttaten miteinander korreliert, jedenfalls dann zu kurz greift, wenn sie nicht auch – sei es phänomenologisch, sei es biographietheoretisch – die Tat selbst und die Täter näher betrachtet. In brillanten Studien zu den Karrieren jugendlicher Gewalttäter konnte der Soziologe Ferdinand Sutterlüty zeigen, dass die anderen gegenüber ausgeübte Gewalt von den Tätern gar nicht instrumentell erfahren wird, sondern als Selbstzweck – Jan Philipp Reemtsma spricht hier von »autotelischer« Gewalt –, eine Gewaltausübung, die bei den Tätern angesichts der Angst und Ohnmacht des Opfers ein hohes Lustempfinden auslöst. Der Triumph der physischen Überlegenheit, die Schmerzen der anderen und die Überschreitung der Grenzen des Alltäglichen führen demnach zu Gewaltepiphanien im Rahmen eines – wie Sutterlüty es nennt – gewaltaffinen Interpretationsregiments, das wiederum in eine Kultur der Gewaltmythologie eingelassen ist (Sutterlüty, 2002).
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Was lässt sich nun exemplarisch über die Biographien der Selbstmordattentäter sagen? Unter welchen sozialen, unter welchen familialen Bedingungen sind sie groß geworden? Bisher ist aus trivialen Gründen über das Leben der Attentäter des 11. September (vgl. Amis, 2006) bzw. über die Selbstmordattentäter von London wesentlich mehr bekannt als über die Djihadisten aus dem Westjordanland und Gaza. Im Falle der Attentäter des 11. September und der von London (vgl. Sorg, 2006; Mekhennet et al., 2006; Abdel Samad, 2005) handelt es sich in fast allen Fällen um mit der westlichen Kultur konfrontierte, akademisch gebildete junge Männer, die – soziologisch gesprochen – unter starker Statusinkonsistenz und entsprechend starken Identitätskonflikten litten, bis sie in einer weltanschaulich einigen – um noch einmal Münklers Begriff zu gebrauchen – »heroischen Gemeinschaft« ihre Sicherheit und Ruhe fanden. Von den palästinensischen Selbstmordattentätern der Jahre 1993 bis 2002 ist bekannt, dass 80 % religiöse Schulen besucht hatten, während die Urheber »normaler« Terroranschläge nur zu 36 % eine religiöse Erziehung genossen hatten. »Weiterhin« so Joseph Croitoru, dem wir eine penible Genealogie dieser Kultur, dieser Unkultur des Todes verdanken, »zeichneten sich die Selbstmordattentäter dadurch aus, dass sie meist zwischen zwei- und siebenundzwanzig Jahren alt, in der Regel männlich […] und unverheiratet waren sowie aus wirtschaftlich schwachen Ortschaften stammten und, ehe sie zu ihrem Todeseinsatz starteten, nachweislich bereits Erfahrung als ›konventionelle Terroristen‹ hatten« (Croitoru, 2003, S. 207). Folgt man Sutterlüty, also der Unterscheidung von »Gewaltepiphanie«, »gewaltaffiner Interpretation« und »Gewaltmythologie«, so ergibt sich ein schlüssiges Argument für die Existenz einer Kultur des Tötens und Sterbens, die letztlich genau das bewirkt, was Freud und Menninger als eine Entmischung von Lebens- und Todestrieb bezeichneten. Das sei an einigen Beispielen verdeutlicht: 1. Ein Beispiel für Gewaltepiphanie ist die »Vermählung im Tode«: 1974 gab der – damals nicht islamistisch, sondern nationalistisch argumentierende – Selbstmordattentäter Munir al Maghrebi von der PFLP–GC (»Popular Front for the Liberation of Palestine – General Command«) per Tonband zu Protokoll,
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dass er in diesen Momenten – vor dem Aufbruch zum Einsatz – das höchste Glück seines Lebens erlebe »weil ich mich für mein Land opfern darf, um den Feind ins Herz zu treffen […] Ich werde jetzt gehen und nicht zurückkehren, das weiß ich, und ich weiß auch, daß mir Millionen Revolutionäre dieser Welt auf diesem Weg folgen werden. Freunde« – so schließt dieser Ausruf – »wie süß ist doch der Geschmack des Todes, wenn er sich mit der Luft meines Landes vermählt« (Croitoru, S. 84). In diesem Zusammenhang ist auch auf den weit verbreiteten Brauch der sogenannten »Todeshochzeiten« zu verweisen, bei denen die Beerdigung im Kampf getöteter Fedayin als jene Hochzeitszeremonie begangen wird, bei der der Tod als Vermählung im Himmel gefeiert wird (S. 119). Maghrebi war damals zwanzig Jahre alt und wuchs als Kind einer Flüchtlingsfamilie, die 1948 das Territorium des heutigen Israel verlassen musste, im Libanon auf. Es ist wahrscheinlich, dass seine Familie nach seinem Tod eine nicht unerhebliche finanzielle Zuwendung erhielt. »Schon jetzt kann ich spüren«, so der jugendliche Selbstmordattentäter, »wie das Joch der Flüchtlingslager von mir abfällt, wie die schlampigen Gassen zu breiten, sonnendurchfluteten Straßen werden und wie die Gesichter der Kinder meines Landes, in denen Trauer geschrieben steht, sich verwandeln und mit Glück und Hoffnung erfüllt sein werden, ohne Angst vor der Gegenwart und ohne Furcht vor der Zukunft« (S. 85). Die PFLP, der Maghrebi angehörte, war übrigens keine islamistische, sondern eine nationalistische Organisation und die Utopie des Moriturus spricht auch nicht vom Paradies und unzähligen Jungfrauen, sondern von einem Jenseits, das die Negation der elenden Existenz im Flüchtlingslager ist. 2. Während die individuell motivierenden Epiphanien selbstmörderischer Gewalt auf Sozialisationserfahrungen vom den Todes- und Märtyrerkult indoktrinierenden Kindergarten bis zum militärischen Trainingscamp zurückzuführen sind, erweist sich die gewaltaffine Deutung des Konflikts nicht nur mit der israelischen Besatzungsmacht als Ausdruck einer Kultur, die Tod und Sterben mit den modernsten Medien in Szene setzt. In dieser Form einer politischen Religion erscheint der Selbstmord-
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attentäter, der strategisch als Waffenträger ohne Rückzugssicherung zu betrachten ist, als Kämpfer und Märtyrer in einem. Dabei ist auf den soziobiologisch und psychoanalytisch interessierenden Umstand der sogenannte Märtyrermütter zu verweisen, also z. B. der Mutter Um Nidal des der Hamas angehörenden Muhammad Farahat aus Gaza, die sich auf einem vor dem Attentat aufgenommenen Video mit ihrem Sohn hatte ablichten lassen. Sie und eine weitere Mutter publizierten später einen Brief, in denen sie andere palästinensische Frauen aufforderten, es ihnen gleichzutun, was zur Folge hatte, dass Hamas im Internet ein Chatforum eröffnete, auf dem sich die Mütter künftiger Selbstmordattentäter austauschen konnten (Croitoru, S. 202). Ohnehin verweist die auffällige Bedeutung der Mütter bei djihadistischen Selbstmordattentätern auf unbewusste, frühkindlich erfahrene, vermutlich verdrängte Erfahrungen, die das psychische Material für die Gewaltepiphanien bereitstellen dürften. Im Jahre 2001 erhielt die Nachrichtenagentur Reuter ein Video, auf dem ein zweiundzwanzig Jahre alter Mann verkündete: »Mein Körper wird in wenigen Stunden zu einer Bombe werden, der die Körper der Zionisten, Söhne von Affen und Schweinen, in der Luft zerreißen wird.« Die von der »Süddeutschen Zeitung« berichtete Begebenheit, die Wolfgang Schmidbauer als Paradigma seiner narzissmustheoretischen Deutung dient und tatsächlich außer dem Attentäter fünf Todesopfer forderte, wird durch einen Abschiedsbrief erhellt, den der Attentäter seiner Mutter schrieb. Der Brief enthielt außer dem Text noch süßes Gebäck als Beigabe. Der Kernsatz des mit Süßigkeiten angereicherten Briefs bestand in einem djihadistischen Glaubensbekenntnis: »Wer glaubt, daß Gottes Religion siegen wird ohne heiligen Kampf und ohne Blutvergießen, der lebt in einer Illusion« (Schmidbauer, 2003, S. 143). Die Verbindung von oraler Anlehnung (das süße Gebäck), Tötungsbereitschaft und Glaubensbekenntnis untermauert den Sinn einer psychoanalytischen Lesart dieser Form der Kampfbereitschaft. Interessant ist in diesem Zusammenhang Schmidbauers Vermutung, dass eine bestimmte Lesart der islamischen Vorstellung von einem absolut allmächtigen, autarken Gott bei djihadistischen Selbstmordattentätern als Selbstobjekt fungiert,
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welches ein Aufgehen des fragilen Ich in der Allmacht suggeriert. 3. Als Quellen des Gewaltmythos, der die Entmischung des Todestriebes endgültig befördert, lassen sich dann das in Teilen der palästinensischen Gesellschaft noch immer persistierende, der Botschaft des Koran durchaus nicht zugehörige Prinzip der Blutrache nennen sowie die spezifische Theologie des radikalen Islamismus: Diese hat als Grundlage der dritten totalitären Bewegung, die anders als Faschismus und Kommunismus staatliche Macht nur im »failed state« des damals von den Taliban beherrschten Afghanistan errungen hat, die traditionale islamische Pflichtenlehre um eine weitere ergänzt, nämlich die unbedingte Pflicht zum persönlichen Kampf eines jeden Moslem gegen die Ungläubigen, stünden sie nun im Haus des Islam oder dort, wo der Islam schon einmal wirkte. So hat schon der Gründer der ägyptischen Moslem Brüder, Hassan al Banna, in den 1930er Jahren den »Dschihad als Kunst des Todes« mit dem Gedanken des Märtyrertums verknüpft: »Durch seinen Kampf und seinen Tod im Namen des Islam in der Kanalzone, in Palästina oder an den Galgen Ägyptens, durch diesen ›edlen Tod‹ würde der Bruder, dessen war er sicher, in den Rang des frommen Helden des Islam erhoben« (Mitchell, 1993; zitiert nach Baumgarten, 2006, S. 155). Der salafitische Islam, der die Grundlage des spezifischen radikalen Islamismus der al-Quaida darstellt, lässt das z. B. in programmatischen Erklärungen von Osama bin Ladens inzwischen getötetem Stellvertreter – vermutlich aus dem Jahr 2004 – al Zarqawi deutlich werden: Schon oft haben wir gesagt, daß Sicherheit und Sieg nicht miteinander einhergehen, daß der Baum des Triumphes und der Macht nur mit Mühsal und Blut wächst und gedeiht, daß die über die ganze Welt verbreitete muslimische Gemeinschaft nur mit dem Duft des Martyriums und des für Gott vergossenen Blutes am Leben bleibt und daß die Leute nur dann aus ihrer Trägheit erwachen, wenn das Martyrium und die Märtyrer Tag und Nacht zum Gesprächsthema werden. Es bedarf der Geduld und Überzeugungskraft, aber unsere Hoffnung auf Gott ist groß (zitiert nach Kepel und Milelli, 2006, S. 471).
Ekstasen des Tötens und Sterbens – die Epiphanie der Gewalt –, familiale und mediale Befürwortung des Tötens und Sterbens,
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die gewaltaffine Deutung des materiellen Lebenszusammenhangs sowie eine theologisch begründete Mythologie des Tötens und Sterben schließen sich zu einem kulturellen Kontext zusammen, der jene, die physiologisch und entwicklungsbedingt in besonderer Weise zum Töten und Sterben neigen, nämlich junge Männer, dazu motiviert, sich zu heroischen Gemeinschaften zusammenzuschließen: sie, die heroischen Gemeinschaften sind es, die letztlich dem heute aktuellen Todestrieb Vorschub leisten.
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Barbara Rendtorff
Unbehagliche Differenzen Frauen, Männer und Kultur
Freud braucht in seinem Aufsatz »Das Unbehagen in der Kultur« 47 Seiten, um sich an die entscheidende Formulierung heranzuwagen: dass die Kultur der Sexualität und der Aggressionsneigung des Menschen »so große Opfer auferlegt«, dass es ihm schwer wird, sich darin »beglückt zu finden« – ja, mehr noch: dass das Wesen der Kultur mit seinem Widerspruch zwischen Glücksmöglichkeiten und Sicherheit strukturelle Schwierigkeiten mit sich bringt, die »keinem Reformversuch weichen werden« (Freud, 1930/1974, S. 243 f.). Zentral für Freuds Konzept ist die Überlegung, dass (1) die Menschen nicht nett und freundlich sind, sondern mit einem »mächtigen Anteil von Aggressionsneigung« begabt sind, und (2) dass das Glücksstreben des Lustprinzips »nicht zu erfüllen« ist, dass der Mensch aber nicht die Bemühungen aufgeben darf und kann, es dennoch zu versuchen (S. 214 f.). So weit, so einleuchtend und sympathisch: Die NichtErfüllbarkeit des Begehrens sichert sein Weiterbestehen durch individuelle Aktivität, und die Betonung der Aggressionsneigung und der strukturellen Unerreichbarkeit von Harmonie sichert das Weiterbestehen von Austausch, von Konflikt, Rivalität und kollektiven Aktivitäten. Gruppen-Konzepte, so Freud weiter, die auf Ähnlichkeit basieren bzw. diese betonen, bringen als ihre konstitutive Bedingung die Richtung der Aggressionsneigung nach außen mit sich: sei es die »christliche Gemeinde«, die ihr verbindendes Konzept der allgemeinen Menschenliebe durch »äußerste Intoleranz des Christentums gegen die draußen Verbliebenen« richtet, oder seien es der »Traum einer germanischen Weltherrschaft« oder der einer »neuen Kultur in Russland«, die den Antisemitismus bzw.
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die Verfolgung der Bourgeois zu ihrer Abgrenzung benötigen, denn »es ist immer möglich, eine größere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrig bleiben« (S. 243). Insofern kann es nur verlockend erscheinen, ein Modell von Gesellschaft und Kultur zu entwerfen, das nicht auf Gleichheit oder Konsens, sondern auf Verschiedenheit und Konflikt gründet. Allerdings sollen und können die diversen für ein solches Modell nötigen Aushandlungsprozesse nicht ungeordnet vonstatten gehen – und es ist ja gerade die Aufgabe der Kultur, hier für eine Art produktiver Ordnung zu sorgen. Ein zentrales Ordnungsmoment, das Freud anführt, ist der »Antagonismus« zwischen Kultur und Familie, der durch die fraglose Zuordnung von Frauen zur Familie zu einem Konflikt zwischen »der Kultur« und »den Frauen« mutiert. Die Argumentationslinie ist, ganz kurz zusammengefasst, folgendermaßen: (1) die Grundlage für Familie und Kultur seien die zwei Formen der Liebe: die auf sexuelle Befriedigung zielende und deren Modifikation, die zielgehemmte Zärtlichkeit, die zu positiven Gefühlen zwischen Eltern und Kindern bzw. zwischen Geschwistern führt (S. 232); (2) die Familie will das Individuum eng an sich binden, die Kultur aber »die Menschen zu großen Einheiten zusammenballen«; (3) die Frauen vertreten die Interessen der Familie (und des Sexuallebens – das bleibt hier eigenartig unklar, weil Freud ja gerade in diesem Text wortreich beklagt, wie die Kultur der Sexualität schadet, indem sie sie einschränkt. Es kann sich hier also nur um die Interessen des domestizierten Sexuallebens handeln, zu deren Wächterinnen die Frauen ernannt werden), die Kulturarbeit wird folglich zur »Sache der Männer« – die müssen/dürfen sich der »schwierigen Aufgabe« der Triebsublimierung stellen, der »die Frauen wenig gewachsen sind« (an dieser Stelle sollen zunächst alle Anmerkungen und Fragen unterbleiben, die sich hier aufdrängen: warum das eine schwierig ist und das andere nicht; warum die Frauen wem nicht gewachsen sind usw.). (4) Die Männer entziehen den Frauen, der Familie und dem Sexualleben das für die Kulturarbeit benötigte Quantum psychischer Energie, entfremden sich von ihren Aufgaben als Ehemänner und Väter. »Die Frau« (jetzt zur überpersönlichen Figur verdichtet) sieht
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sich folglich »durch die Ansprüche der Kultur in den Hintergrund gedrängt und tritt zu ihr in ein feindliches Verhältnis« (S. 233). Wenn wir die Färbungen, die durch die Denkgewohnheiten des 19. Jahrhunderts entstanden sind, abmildern, dann ergibt sich als Struktur bis hierher: 1. es gibt eine Ebene des Anspruchs der Kultur an den Menschen, sich dem Anderen zu öffnen und sich ihm anzuschließen; 2. es gibt den Anspruch der Familie an alle ihre Mitglieder auf exklusiven oder doch vorrangigen gegenseitigen Schutz und Sorge, einen Vorrang nach innen und eine Abschließung nach außen. 3. Dieser Widerspruch führt direkt in einen Widerspruch zwischen »Frauen« (Müttern?) und Männern, beide sind gewissermaßen naturalisiert – Männer als Verlassende, sich Trennende, Frauen in der Position des Beharrens, der Fortschrittsfeindlichkeit und der Suche nach Sicherheit im Bekannten. Doch scheint hier die Kultur die stärkere Kraft zu sein, die Männer folgen ihr und lassen die Frauen zurück. Dabei geht es recht gewalttätig zu, denn die Kultur benehme sich gegen die Sexualität »wie ein Volksstamm«, der einen anderen zur »Ausbeutung« unterwirft (S. 233) und aus Angst vor deren Aufstand ein strenges Regiment einführen muss (diese Passage hat in den 1970er Jahren Anlass zu vielen Missverständnissen gegeben, weil sie die Interpretation begünstigt hat, dass das Abschütteln aller kulturellen Anpassungsansinnen die Individuen ins Glück führen würde – was sich bekanntlich leider nicht bewahrheitet hat). Die Beziehung ist allerdings ambivalent, sofern die Kultur von der Energie lebt, die sie der Sexualität (und der Familie) beständig entzieht. Wenn wir hinzunehmen, dass die Frauen als Wächterinnen der in der Familie gebundenen Sexualität fungieren, haben wir hier also auch einen argumentativen Keim für die tendenziell gewaltförmigen Aspekte im Geschlechterverhältnis und die mehr oder weniger subversiv umgeformten Gegenstrategien der Frauen. Die zweite ambivalente Beziehung besteht zwischen der Kultur und der Aggressionsneigung der Menschen: Diese ist als Abkömmling und Hauptvertreter des Todestriebs zugleich Motor und Gegner der Kultur, und die ihrerseits bewältigt »die gefährliche Aggressionslust des Individuums, indem sie es schwächt,
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entwaffnet und durch eine Instanz in seinem Inneren, wie durch eine Besatzung in der eroberten Stadt, überwachen lässt« (S. 250), aber auch: sie libidinös aneinander bindet – die Kultur ist »der Lebenskampf der Menschenart« (S. 249). Was heißt es nun, wenn die Frauen an dieser Kultur gar nicht aktiv und selbständig teilhaben, ihr sogar feindselig gegenüberstehen? Diese militärischen Bilder könnten zu einer einfachen Lesart verleiten (und Freud selbst verleitet uns dazu), in der Frau und Familie unterworfen sind, als das Andere der Kultur deren Reproduktion sichern helfen sollen und dadurch zugleich immer ihren untergeordneten Platz reproduzieren. Doch bleiben bei dieser Sicht einige elementare Aspekte des Komplexes unbeachtet. Aus Freuds Bemerkung, der Kulturmensch habe »für ein Stück Glückmöglichkeit ein Stück Sicherheit eingetauscht« (S. 243), ergeben sich zumindest drei zentrale Fragen: mit Hinweis auf die »Sicherheit« rückt die Beziehung zu den anderen, den »Nebenmenschen«, in den Blick (auf die sich auch die Aggressionsneigung richtet); mit dem Hinweis auf das geopferte »Stück Glücksmöglichkeit« wäre zu fragen, worin das besteht, und es gilt zu klären, wer die Akteure dieses Tauschs sind und welche Rolle der Antagonismus von Familie und Kultur, von Frauen und Männern dabei spielt. Ich möchte im Folgenden die These vertreten, dass der komplexe, mit dem Verhältnis Kultur-Familie angesprochene Sachverhalt durch einen verkürzenden, von den Denkgewohnheiten des 19. Jahrhunderts geprägten Blick verengt und um eine zentrale Dimension gebracht wird. Dies will ich zunächst am Beispiel von Frauenraub und Frauentausch verdeutlichen. Sprichwörtlich bekannt ist vor allem die Geschichte vom »Raub der Sabinerinnen«, die zugleich das wesentliche Moment der Problematik verdichtet aufzeigt. In dieser von Livius (27/ 1987) in »Ab urbe condita« berichteten Episode rauben die Römer (aus aktuellem Frauenmangel und weil die Nachbarstämme eheliche Verbindungen zu den Römern abgeschlagen hatten) den Sabinern, einem Nachbarvolk, das sie unter einem Vorwand zu angeblich freundschaftlichem Treffen geladen hatten, ihre jungfräulichen Töchter. Sie machen diese zu ehrbaren Ehefrauen ihrer unterversorgten Männer, zu Bürgerinnen und Müttern ih-
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rer Kinder – und als dann Jahre später die Sabiner sich endlich ermannen, ihre Töchter im Kampf zurückzuerobern, werfen sich diese (die »natürliche Angst der Frauen« überwindend) zwischen die Kämpfenden, ihre Männer und ihre Väter: Sie, wenngleich Ursache des Krieges, wollten »lieber sterben als ohne einen von euch als Witwen oder Waisen leben« (Buch I, 13, S. 41), deshalb sollten die Männer sich versöhnen. Dieses »weder Witwen noch Waisen« (»viduae aut orbae«) ist das Schlüsselwort bei der Geschichte, denn es zeigt die besondere Stellung der Frauen: beiden Völkern verbunden, beiden zugehörig, beiden verantwortlich. Was hier bei Livius als Raub theatralisch beschrieben wird, ist für Lévi-Strauss als »Frauentausch« und System von Heiratsregeln das zentrale Strukturmerkmal jeder Kultur. Es markiert den Übergang vom Natur- zum Kulturzustand, gestattet es den Menschen (und zwingt sie), sich über ihre biologische Organisation zu erheben, Allianzen zu schließen und so zu einer sozialen Organisation zu gelangen, und sichert mithin die Vorherrschaft des Kulturellen über das Natürliche (vgl. Lévi-Strauss, 1967, S. 73; 1981, S. 640). Heiratsregeln sind in archaischen Gesellschaften extrem unterschiedlich, teils hoch komplex, sie verbieten oder verlangen bestimmte Verbindungen und reichen bis zu vorübergehender Frauenleihe (teils mit, teils ohne Mitsprache oder Eigeninteresse der Frauen selbst), wobei auch diese eine gegenseitige Beistandspflicht begründet (vgl. Dux, 1997, S. 133). Die Männer sind überall (da ist sich die anthropologische Literatur einig) die Akteure, allerdings nicht eigentlich die »Subjekte des Tauschs«, denn erstens unterliegen sie selbst jenen Regeln, und zweitens sind die eigentlichen Tauschpartner ja viel eher die Stämme, Familien, Totems usw. – oder, noch genauer: Die Regeln selbst sind es, die den Tausch erzwingen und vollziehen. In diesem Hin-und-hergegeben-Werden zwischen fremden Gruppen sind die Frauen also diejenigen, die den sozialen Erhalt ihrer Herkunftsgruppe absichern (weil die Exogamie verhindert, dass der Stamm in Familien zerfällt), die ihre jeweils heimische Kultur/Tradition transportieren, der fremden konfrontieren und so für ihre eigene Weiterentwicklung und für Austausch sorgen –
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wenn auch unfreiwillig. Sie sind das Verbindungsglied zwischen den fremden Gruppen und die Kulturträgerinnen. Die Basis aller dieser Regeln und ihr Zentrum ist das Inzestverbot. Auch hier gibt es extreme regionale Unterschiede, aber keine Ausnahme: Es gibt keine Gesellschaft, die keinerlei Heiratsregeln hat und in der keine Verbindung von Personen verboten ist (vgl. Lévi-Strauss, 1981, S. 53). Auch wenn manchmal die Ehe mit den älteren Schwestern erlaubt ist (nicht aber mit den jüngeren) (S. 54), und selbst wenn unter extremen Umständen sogar die Verbindung Vater–Tochter erlaubt sein sollte (S. 100) – das Verbot der Verbindung Mutter–Sohn ist universell. Es ist die einzige universelle Regel, schreibt Lévi-Strauss, und insofern etwas Besonderes: denn da »alles, was beim Menschen universal ist, zur Ordnung der Natur gehört und sich durch Spontaneität auszeichnet«, während »alles, was einer Norm unterliegt, zur Kultur gehört und die Eigenschaft des Relativen und des Besonderen aufweist« (S. 52), erscheint das Inzestverbot, das beide Merkmale in sich vereint, als ein »furchtbares Geheimnis« (S. 55). Das Inzestverbot erstreckt sich bei aller Unterschiedlichkeit meistens auf die Frauen, die mit der Mutter blutsverwandt sind, und zwingt die Familie, »Angehörige freizugeben«, aber es verbietet auch den Frauen diejenigen Männer bzw. den Männern die Frauen, die sie vielleicht begehren – Anlass und Inhalt der Liebeslyrik aller Kulturkreise. Es gibt nun verschiedene Möglichkeiten, um diesen Sachverhalt genauer zu betrachten. Eine Perspektive ist es (eher soziologisch), ihn unter dem Aspekt der Machtverteilung zu analysieren, wenn man davon ausgeht, dass »die sozialen Beziehungen im einzelnen wie die gesellschaftliche Ordnung im ganzen über Macht bestimmt sind«, wobei die Frauen, auch wenn sie über Rechte verfügen und ihre Arbeit gewertschätzt wird, doch »in allen Gesellschaften sichtlich und in einigen gravierend zurückgesetzt« sind gegenüber dem Vorrang, den die Männer genießen (vgl. Dux, 1997, S. 135, 142). Wir könnten auch die Struktur der gesellschaftlichen und geschlechtlichen Arbeitsteilung betrachten, die charakteristische Aufteilung von Innen- und AußenOrientierung und den Zugang zu selbstgewählter Arbeit (der bei
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Frauen und bei Fremden reglementiert wird – ein sehr interessanter Aspekt, wenn man bedenkt, dass die Arbeit (der Bezug auf etwas außerhalb von sich selbst) ein entscheidender Motor der psychischen Entwicklung ist, deren Versagung also, wie in psychologischen Praxen leicht zu beobachten, die Individuen nachhaltig schwächt). Eine andere Möglichkeit ist es, den »strukturalen« Weg weiter zurückzugehen und nach der Bedeutung der Struktur selbst zu fragen. Dann stellt sich der Sachverhalt etwa so dar: Am Anfang aller Kultur steht ein sexuelles Verbot, das Gesetz, das besagt, dass »nicht alle« Frauen erlaubt sind, das das immer schon verbotene Objekt des vollständigen Genießens markiert (untersagt) und als »höchste Regel der Gabe« alle (Männer) »dazu zwingt, die Mutter, Schwester oder Tochter anderen zu geben« (Lévi-Strauss, 1981, S. 643), einem Fremden. Das »volle Objekt«, das »höchste Gut« (Lacan) ist also immer schon verboten und unerreichbar. Erdheim (1991) schließt nun an dieser Stelle, dass das Inzestverbot, indem es »die Sexualität aus dem familiären Kreislauf hinauslenkt«, den Fremden begehrenswert macht – aber ich glaube nicht, dass das die entscheidende Ebene ist. Erdheim will den Fremden attraktiv machen (und bezeichnet deshalb [moralisch] Xenophobie als »kulturfeindliche Einstellung«; S. 166f.), aber ich tendiere dazu, das Moment des Verbots stärker zu bewerten, und zwar vor allem deshalb, weil Freud uns immer wieder darauf aufmerksam macht, dass ein so starkes Verbot ja darauf hinweist, dass etwas »Starkes« damit im Zaum gehalten werden muss – denn was die Natur selbst verbietet, »das braucht nicht erst das Gesetz zu verbieten und zu strafen« (Freud, 1912/1974, S. 409; vgl. auch Lévi-Strauss, 1981, S. 65 f.). Es fällt übrigens auch auf, dass Lacan den Ausdruck Inzestverbot kaum verwendet. Er spricht von dem »verbotenen« oder »verlorenen« ersten Objekt. Sein Konzept der (Beziehung zur) Mutter betont sehr stark, dass der Verlust dieses ersten Objekts durch das Begehren der Mutter nach etwas anderem (einem anderen) als dem Kind verursacht wird. Denn die Schlüsselfrage des Kindes ist das »Que vuoi?«: Was will der Andere (von mir)? – und die veranlasst das Kind zunächst, zu versuchen, sich zu dem zu machen, was die Mutter begehrt. Das wiederum ruft den
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Vater auf den Plan, der ihm und der Mutter gerade das versagt: ein und alles für den anderen zu sein. Das strukturierende Moment bleibt gleichermaßen die Versagung, doch sind in dieser Perspektive alle drei – Vater, Mutter, Kind – daran auf jeweils sehr ambivalente (aber je unterschiedliche) Weise beteiligt, und sie fürchten und ersehnen die Versagung zugleich. Denn das Verbot der Mutter (hier verstanden als erstes, »volles« Objekt) hat sowohl eine einschränkende wie auch eine befreiende Seite. Ein und Alles eines anderen zu sein, würde den (psychischen) Untergang des Subjekts bedeuten, und das Verbot der Mutter bewahrt beide, Mutter und Kind, vor diesem Untergang. (Gleichzeitig sorgt das Verbot auch dafür, dass die Ursache des Begehrens unstillbar bleibt, so dass es weiterhin lebendig bleiben kann.) Dieser Einspruch zielt allerdings nicht darauf, nun selbst eine Parallele der Entwicklung zwischen der männlichen und der weiblichen Position aufzumachen. Da würde ich durchaus den zitierten Autoren folgen, die, so unterschiedlich sie sind, auf einer ganz grundlegenden Verschiedenheit der Positionen von Mann und Frau bestehen, und zwar entweder hinsichtlich der sozialen Machtverteilung und in der geschlechtlichen Arbeitsteilung (wie z. B. Dux) oder hinsichtlich ihrer unterschiedlichen strukturellen Funktion für die Organisation sozialer Beziehungen innerhalb der Gesellschaft/Gruppe zwischen Männern und Frauen. Lacan passt das natürlich gut ins Konzept, er nimmt sogar Lévi-Strauss’ Diktion auf (allerdings in einem sehr frühen Seminar): Für die Frau gehe es nicht darum, eine ursprünglich gegebene weiblichen Position zu realisieren, sondern in eine bestimmte Dialektik des Austauschs einzutreten. Während der Mann, das Männchen, durch die Tatsache der signifikanten Existenz von all den Verboten beiseite gedrängt wird, die die Beziehung des Ödipus bilden, hat sie sich in den Zyklus der Tauschvorgänge von Allianz und Verwandtschaft unter dem Anspruch einzuschreiben, darin selbst ein Tauschobjekt zu werden (vgl. Lacan 1957/2006, S. 337). Jetzt sind wir also einen Schritt weiter, weil nun deutlicher zu erkennen ist, dass der »Austausch« auf dieser Ebene als struk-
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turelle Notwendigkeit erscheint, weil das Begehren des Kindes von der Mutter weg auf einen anderen gerichtet werden muss und dass eben dies die Positionierung der Frau beschreibt (die Lacan erst zwanzig Jahre später im Seminar XX »Encore« [1972/1986] als Positionierung in Bezug auf den Phallus entwickelt). Für unsere Überlegungen halten wir also an dieser Stelle fest, dass das Inzestverbot, das Verbot der Rückkehr zum eigenen Ursprung, welche Natur und Kultur, Anfang und Ende zusammenfallen lassen würde, mit jenem ersten Verlust eine konstitutionelle Öffnung zum Anderen hin bewirkt und von hier aus die Verschiedenheit der Positionen von Mutter und Vater begründet wird – wohlgemerkt: nur eine Unterschiedlichkeit der symbolischen Positionen, was nichts über die (historischen, gesellschaftlichen) Formen aussagt, in denen sich diese Positionen manifestieren. Und zuletzt können wir festhalten, dass durch die Form des Verbots der Glaube an seine prinzipielle Erreichbarkeit bewahrt wird, als Garant und Ursache des Begehrens. Doch es gibt noch einige Details in der Darstellung, die mir bemerkenswert und bedenkenswert erscheinen. Da wäre zum einen, dass in der Wortwahl und Fokussierung der Darstellung auf die handelnden Männer zwei Aspekte verloren gehen – das eine, wie erwähnt, ist die Frage, wie die Tätigkeit der Kulturvermittlung eigentlich vonstatten geht, welche Wege, Stile, Praktiken die Frauen entwickelt haben, um die neu hinzukommenden fremden Frauen mit ihren fremden Sitten und Ansichten entweder einzubeziehen oder kleinzuhalten oder ihnen separierte Plätze einzuräumen oder sie zu Hexen zu machen oder was auch immer, und wie ihr Verhältnis zur Herkunfts- und zur neuen Kultur und deren von ihnen selbst verursachter Veränderung beschaffen ist. Die Tatsache, dass diese Frage bei Freud (und auch bei Lévi-Strauss) nicht auftaucht, dass »Kulturentwicklung« als ein von selbst ablaufender Prozess undeutlich bleibt und die Frage nach den Strategien (und den »Verdiensten«) der Akteurinnen nicht gestellt wird, lässt die Freud’sche Figur des Antagonismus Familie–Kultur und der Rolle der Frauen darin als zu einfach und vereindeutigend erscheinen.
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Der zweite Komplex, der unbetrachtet bleibt, wird durch die Frage markiert, was diese Art des In-Kontakt-Tretens eigentlich für die Männer bedeutet. Die anderen, fremden Männer bekommen die eigenen begehrten Objekte bzw. sie triumphieren selbst über die fremden Männer, deren begehrte Objekte sie bekommen. Welche Art von Beziehung wird hier gestiftet und was hat das für Konsequenzen? Es wäre deshalb zu fragen, warum in der Darstellung der Brüderhorde (in »Totem und Tabu«) an dieser Stelle meistens der Ausdruck »Verzicht« auftaucht. Die Brüder »verzichten« auf die Frauen, heißt es, sie »legten sich Exogamie auf« (Freud, 1939, S. 576; 1912, S. 428), um ihre Organisation und ihr Gemeinwesen zu retten, als sei das eine vernunftgesteuerte Angelegenheit (wobei doch Schuld und Angst an deren Beginn stehen). Wenn wir nämlich diesen »Verzicht« mit Freuds Bemerkung über die Stärke des Wunsches zusammenbringen, der das Inzestverbot notwendig macht, dann lässt sich erkennen, dass dieser Verzicht eine durchaus gewalthaltige Sache ist, und jetzt wird auch klarer, warum hier die anfangs zitierten militärischen Bilder auftauchen. Das Inzestverbot ist eine gehasste Einschränkung, durch dessen als gewalthaltig empfundene Kraft die Kultur die Männer, wie es in der zitierten Stelle heißt, wie durch eine Besatzung in der eroberten Stadt überwachen lässt. Auch dieser Aspekt macht darauf aufmerksam, dass das Bild der tauschenden Männer und getauschten Frauen eine irreführende Vereinfachung ist und dass die miteinander in Tauschverhandlungen tretenden einander fremden Männer in sehr ambivalenter Beziehung zueinander stehen. Letztlich sind doch beide Parteien Opfer eines Zwangs, der sich in den Frauen verkörpert, weshalb auch diese einen Teil der damit einhergehenden Aggressionen auf sich ziehen. Der Ausdruck »Verzicht« lässt sich an dieser Stelle deshalb nur verstehen als eine Geste der Aneignung oder des aktiven Auf-sich-Nehmens: denn wenn das Begehren nur unter Drohung und erzwungenermaßen (also passiv) auf einen anderen gerichtet würde, bliebe es doch an die Mutter gebunden, während der aktive Verzicht ein gewisses Maß von Freiheit eröffnen kann, das dann wiederum in Aktivität gewendet werden kann.
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Dennoch – auch dies klingt allzu friedlich. Denn wir hatten ja vorher schon gesehen, dass die Beziehung zu den anderen Männern – also: den Fremden – ambivalent und konfliktreich ist. In einem ersten Schritt könnte man ja vermuten, der Andere Fremde sei einfach der Andere im Außen, der »Nebenmensch«. Für Erdheim (1991, S. 166) ist, in einer psychoanalytischen Betrachtung, der Fremde (als Grundfigur) der »Andere der Mutter« und erbt aus dieser Verbindung Angst und Schuldgefühl. Mit dem Anderen im Außen tritt man individuell unfreiwillig in Verbindung (aufgrund der Versagungen und Unzulänglichkeiten der Mutter und, wie gesehen, ihres Begehrens nach einem anderen als dem Kind. In der vorne beschriebenen Konstellation von sozialen Allianzen qua Frauentausch wird der Andere Fremde (Mann bzw. die Gruppe) zum Tauschpartner im Kulturaustausch. Wenn wir diesem Ansatz folgen, würden die Fremden, weil sie unfreiwillige Partner sind und weil sie aus den Versagungen der ersten Beziehung Angst und Schuldgefühl geerbt haben, tendenziell immer die Aggressionsneigung auf sich ziehen, außerdem würden sie vermutlich auch noch aus dem Frauentausch den Neid erben, weil sie ja die Frauen bekommen haben, die man selbst nicht haben darf (das findet sich wohl wieder in der verbreiteten fremdenfeindlichen Figur »Die nehmen uns unsere Frauen weg«). Geschlecht wäre dagegen eine Art von Differenz, die nicht nur im Außen, sondern zugleich auch innerhalb des Subjekts angesiedelt und wirksam ist, das Subjekt wie ein »Riss« durchquert und strukturiert und so die Beziehung zum Anderen des anderen Geschlechts in gewisser Weise enger und existentieller gestaltet. Denn Geschlecht repräsentiert mit dem Bezug zur Sexualität (dem sexuellen Erleben mit dem Gefühl der Entgrenzung wie auch der Fortpflanzung) eine Unabschließbarkeit, eine Öffnung zum Anderen hin (im Akt und in der Zeit). Dies ist eine Art von elementarer Angewiesenheit, die nicht zuletzt in der Tatsache des Geborenseins (aus Frau und Mann) bezeugt ist. Insofern deutet Geschlecht auch unabweislich auf die Endlichkeit menschlichen Lebens hin. Zweitens repräsentiert die Tatsache des Geschlechts die Nicht-Vollständigkeit menschlicher Existenz durch den sexuellen Körper selbst, der mit seinen Ge-
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schlechtszeichen immer auf die verlorene andere Möglichkeit verweist. Die symbolische Ordnung der Geschlechter soll also letztlich gerade das verdecken, worin sie einander gleichen, nämlich in diesem beunruhigenden Angewiesensein auf den Anderen und der eigenen Nicht-Vollständigkeit. Und sie tut das durch eine ganz spezielle Art von Trennung, Teilung, Spaltung: die auf das Angewiesensein und die Vergänglichkeit hinweisenden Aspekte werden abgetrennt und dem Weiblichen zugewiesen, die das Phantasma der Überwindung und der Unbetroffenheit stützenden Aspekte dem Männlichen. Auch die Zweiteilung in verfügende Männer und getauschte Frauen stützt diese Konstruktion. Was im Geschlechterverhältnis als Über- oder Unterordnung erscheint, als Geringschätzung von Arbeit oder als naturalisierte Annahme über geschlechtstypische Fähigkeiten, hat also immer (zugleich und sogar vorrangig) eine andere Aufgabe: Es sichert durch die Trennung in Geschlechterpositionen und -stereotype den Glauben an die Fähigkeit des (männlichen) Menschen, sich über seine Begrenzungen zu erheben. Dass die Geschlechterordnung in der Form eines symbolischen Systems organisiert ist, gewährleistet dann, dass der »Glaube« daran von allen geteilt wird (wobei z. B. Dux betont, dass das kein einfacher »Glaube« sei, sondern die Menschen tatsächlich nicht anders denken konnten, und zwar nicht nur, weil die Gedanken der Herrschenden auch die herrschenden Gedanken sind, sondern vor allem aufgrund der kognitiven Struktur der frühen Gesellschaften und ihrer Handlungslogik, die bis heute weiterwirke, in der die (früher) jeweils vorgefundene Ordnung »auf ihren genetischen Ursprung zurückgeführt [wird], um explikativ allererst aus ihr herausgesetzt zu werden« (Dux, 1997, S. 433). Es kann also nie darum gehen, wie Männer oder Frauen »sind« – diese Frage ist immer schon falsch gestellt –, sondern nur darum, in welcher Art von Miteinander sie ihre existentielle Problematik handhaben und mit Differenz(en) umgehen können. Auch von hier aus legt sich im Übrigen der Schluss nahe, dass das, was aus dem allgemeinen Diskurs ausgeschlossen wird, nicht »das Weibliche« ist, wie es die frühen feministischen Texte vermuteten, sondern die (Geschlechter-)Differenz selbst, als
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zutiefst beunruhigender und irgendwie »undenkbarer« (vgl. Lyotard, 1988, S. 829) Aspekt der menschlichen Existenz – so dass in der Konsequenz also das Weibliche gerade nicht ausgeschlossen werden soll, sondern als beständig Auszuschließendes den Diskurs fundiert. Auch die Frage »wie der Fremde ist«, ist immer schon falsch gestellt (ein Umstand, den leider insbesondere die interkulturelle Pädagogik sehr oft vollständig missversteht), und zwar weil diese Frage das Unbekannte und Unbegriffene festlegt auf eine Definition, die nicht seiner eigenen Diskursart entstammt (und dadurch, wie Lyotard in »Der Widerstreit« erläutert, ein »Unrecht« schafft). Dabei geht es nicht um das Kategorisieren an sich, denn »jedes bewusste Verhalten ist kategorisierend und selbstbezogen« (Rosenfield, 1992, S. 136). Auch von der eigenen Perspektive auszugehen ist nicht selbst schon das Problem, denn »alle Völker sind ethnozentrisch: das heißt sie verstehen Menschsein primär aus ihrem Kulturzusammenhang« (Böhme, 1985, S. 223). Zygmunt Bauman beispielsweise gesteht den Individuen und Gesellschaften bedenkenlos zu, gegenüber anderen, sofern sie sie nicht »verstehen« oder sie ihnen »unvertraut« sind, ein diffuses »Unbehagen und Angstgefühl« zu empfinden. Fremdenangst oder -feindlichkeit entstehe als dessen Objektivierung erst dann, wenn die Situation als uneinschätzbar und unbeeinflussbar empfunden wird (vgl. Bauman, 1992, S. 79). Solche Situationen können dann zu Formen kollektiver Verfolgung eskalieren, schreibt René Girard (1992, S. 26), wenn eine gesellschaftliche Auflösungs- oder Umbruchsituation mit dem Gefühl eines »radikalen Verlusts des eigentlich Sozialen« einhergeht, das den »Untergang der die kulturelle Ordnung definierenden Regeln und ›Differenzen‹« anzeige (S. 24). (Exemplarisch und bestürzend beschreibt übrigens Andrzej Szczypiorski eine solche zwingende Eskalation in dem Roman »Eine Messe für die Stadt Arras«.) Bei Mary Douglas (in »Reinheit und Gefährdung«, 1988) können wir nachlesen, wie die Denkgewohnheiten dazu dienen, »verworfene Elemente« in dem »Gesamtkompendium« unserer Ordnung unterzubringen, das gewissermaßen die Erträglichkeit von Abweichungen ausdrückt. Die Menschen erfinden Rituale (bzw. verwenden sie dazu), um »das Böse und den Tod zusammen mit
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dem Leben und dem Guten« in einem »umfassenden Muster« (Bauman, S. 59) zu vereinigen und zusammenzubinden, und sie erscheinen erst dann als bedrohlich, wenn sie am »falschen Platz« auftauchen, wenn sie durch »Entdifferenzierung« die Zerbrechlichkeit des sozialen Systems anzeigen (vgl. Girard, 1992, S. 28 ff.). So wird der Fremde zum »Anderen des gesellschaftlichen Selbstbewusstseins« (vgl. Weber, 1980, S. 219) und werden Diffusität und das Verwischen von Grenzen (vgl. Bauman, 1992, S. 79) selbst zum Kennzeichen des Bedrohlichen: Bedrohliche Fremde werden als »schleimig« oder »schmierig« bezeichnet (d. h., ihre Körpergrenzen sind gewissermaßen »verwischt«), sie werden mit Bedrohungen in Verbindung gebracht, die (wie das Gift des »Brunnenvergifters«) unsichtbar und unkontrollierbar in den Körper eindringen. Es lässt sich hier also recht gut erkennen, warum das Bild vom Fremden als dem Anderen im Außen nicht trifft. Der Fremde soll zwar dazu dienen, die Kohärenz der Gruppe zu sichern, aber weil nicht Identität, sondern Differenz das unvermeidliche Kennzeichen jedes Individuums und jeder sozialen Gruppe ist, diese beruhigte Gruppenidentität also nie zu haben ist, ist der Fremde zugleich auch ein Repräsentant oder Platzhalter des »Wissens um die Unmöglichkeit einer umfassenden, sicherheitsstiftenden Gruppenidentität« (Rendtorff, 1998, S. 85). Es ist von hier aus gesehen die Zuschreibung, dass er »die ›wahren‹ Differenzen« nicht kennt oder beachtet, die einen Anderen zum Fremden macht, und deshalb hat jede Gruppe, die versucht, ihre innere Bedrohung ins Außen zu verlagern, die Tendenz, solche Fremden hervorzubringen. Ich würde also von hier aus den Schluss ziehen, dass Fremdheit und Geschlecht auf zwei unterschiedliche Arten verweisen, mit Differenz umzugehen. Verstehen wir Differenz als eine Zumutung, die strukturelle Unabschließbarkeit der menschlichen Existenz und der Gespaltenheit des Subjekts ertragen zu müssen, dann verbindet sich die Figur des Fremden mit dem Phantasma, dass man sie überwinden könnte, indem man den Fremden loswird (entweder indem man ihn assimilierend – anthropophagisch – »verschlingt« oder ihn – anthropoemisch – »ausspeit«, fernhält oder tötet). Geschlecht jedoch kann man nicht loswer-
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den, man kann ihm nicht entgehen und muss es folglich auf andere Weise einbinden. Es wäre also eine These (die weiter zu untersuchen wäre), dass mit den Frauen (im Frauentausch) die Differenz zirkuliert und deshalb erhalten bleibt (bleiben kann), während sie in den Allianzen auf Distanz gehalten werden soll und deshalb dort eine andere Art von Konventionen und Regeln hervorbringt. In dem Moment, wo der Fremde kommt, um zu bleiben, oder die Frau geht, wohin sie will, wird die ganze labile Konstruktion dann natürlich brüchig. Fassen wir also zusammen, was wir herausgefunden haben. Die Figur des »Antagonismus Familie–Kultur« ist aus zweierlei Gründen problematisch. Zum einen begünstigt sie es, soziale, historisch gewachsene Formen als quasi naturhafte, von einem unausweichlichen strukturellen Element aus begründbare anzusehen (ein Einspruch, der dieses Strukturelement selbst nicht grundsätzlich in Frage stellt). Zweitens begünstigt sie eine dualistische Sichtweise, in der Kultur und Familie oppositionell positioniert werden, ohne zu verstehen, dass nur aus ihrem (wenn auch widersprüchlichen) Zusammenwirken Kulturentwicklung denkbar ist. Damit unterstützt sie die Spaltung, die der Konstruktion der Geschlechterverhältnisse zugrunde liegt, und trägt dazu bei, diese abzusichern. Dies wiederum stützt retroaktiv den besagten »Antagonismus«, sofern die familialen Aufgaben wie Hausarbeit, Erziehung, Reproduktion, Sorge und soziale Gegenseitigkeit als weiblich, kulturfeindlich und beharrend erscheinen und ihr Beitrag zur Zivilisation und Kulturentwicklung nicht gesehen wird – was die Ungleichgewichtung von Frauen und Männern (zugeordnet zu innen und außen) erneut befestigt. Das wiederum führt dazu, dass der fremde Andere (Mann), da er als Mann auf dieser Folie ein »Gleicher« ist, auf seine Eigenschaft des Fremd-Seins eingeengt und festgelegt wird, was ihn tendenziell gefährlich macht, während die fremde Frau logischerweise auf den Aspekt der Sexualität beschränkt wird, und zwar auf deren beide vorne zitierten, von der Familie verwalteten Erscheinungsformen: der eigentlich sexuellen und der domestizierten und zielgehemmten Modifikationen. Die heute stattfindende Aufweichung und Differenzierung des traditionellen Geschlechterverhältnisses und der geschlecht-
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lichen Arbeitsteilung wird also absehbar zu einem Verlust des Sozialen führen, das sich gerade nicht auf dem Wege von Gerechtigkeitsforderungen (oder Appellen und Anerkennungswünschen) zurückgewinnen lässt, sondern nur über einen neuen Gesellschaftsvertrag in Bezug auf gegenseitige und gemeinsame Verantwortungen neu gewonnen werden kann, dem es gelingen muss, Fürsorge und häusliche Verantwortung als auch männliche Fähigkeiten zu konnotieren. Doch gleichzeitig gilt es, sich intensiver mit dem Begriff »Differenz« und unserem Umgang damit zu beschäftigen, mit dem Denken der Differenz und unserer Denkgewohnheit, die es uns so schwer macht, »Verschiedenes, Besonderes, Anderes und dementsprechend auch Nicht-identisches« überhaupt in adäquater Weise zu bezeichnen (Kimmerle, 2000, S. 13). Denn um Beziehungen, Verantwortungen und Arbeitsteilung anders aufzufassen, müssen wir erstens zu einem Begriff von Differenz gelangen, der nicht nur hierarchisierend festlegt oder versucht, Differenz zum Verschwinden zu bringen, indem sie auf Unterschiede reduziert wird, sondern der die Unabgeschlossenheit des Subjekts und der Gesellschaft in sich aufnimmt; und zweitens müssen wir genauer verstehen, welche Wege wir selbst verwenden, um Differenz (im oben skizzierten Sinne) durch Vereindeutigungen oder Oppositionsbildungen oder durch falsche Behauptungen angeblicher Gleichheit zu verdecken, statt Unterschiede als Unterschiede produktiv werden zu lassen.
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Von der Unmöglichkeit des menschlichen Glücks … Das primäre Ziel des Menschen ist das Glück. Sigmund Freud war nicht der Erste, der zu dieser Antwort auf die Frage nach Zweck und Absicht des menschlichen Lebens gekommen ist. Bereits für Aristoteles stellt sich die Glückseligkeit »als ein Vollendetes und sich selbst Genügendes [dar], da sie das Endziel allen Handelns ist« (Aristoteles, ca. 322 v. Chr./1995, S. 11). Allerdings diagnostiziert Freud (1930/1999), dass es um das menschliche Glück schlecht bestellt ist. Er meint gar, »die Absicht, daß der Mensch ›glücklich‹ sei, ist im Plan der ›Schöpfung‹ nicht enthalten« (S. 434). Was aber hindert den Menschen an seinem Glück? Warum postuliert Freud ein grundlegendes Unbehagen im Menschen? Worin besteht sein irreduzibles Unglück? Die unterschiedlichen positiven, inhaltlichen Antworten auf diese Frage könnte man in die Hegelsche formale Dialektik von These-Antithese-Synthese gießen, um sich dem zentralen Kern dieser Problematik zu nähern, sprich eine Antwort auf die Frage nach dem Todestrieb zu geben. Zum einen verortet Freud (1930/1999) – als These – den Grund für das menschliche Unglück und Unbehagen im Außen. Prinzipiell stellen alle dem Menschen entgegenstehenden Objekte ein Gefahren- und damit Unlust- und Unglückspotential dar – man denke nur an die berühmt-berüchtigte Bananenschale, durch welche das Unglück seinen Lauf nehmen kann. Die Natur konfrontiert uns daneben mit übermächtigen, unerbittlichen und zerstörenden Kräften, die sich in Wetterkapriolen, Erdbeben, Vulkanausbrüchen und ähnlichen Katastrophen zeigen. Freud
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(1927/1999) spricht in diesem Zusammenhang von der »Übermacht der Natur« (S. 343). Das herausragende Objekt der Außenwelt, bezüglich der Ursache des menschlichen Unglücks, stellt aber der Nebenmensch und die bisweilen verhängnisvolle Beziehung zu diesem dar. Infolgedessen sind wir, so Freud (1930/1999), »niemals ungeschützter gegen das Leiden, als wenn wir lieben, niemals hilfloser unglücklich, als wenn wir das geliebte Objekt oder seine Liebe verloren haben« (S. 441). Die dritte, wenn man so will äußere Quelle des menschlichen Unglücks ist schließlich der je eigene Körper mit all seinen Unzulänglichkeiten und Hinfälligkeiten, letztlich seiner Vergänglichkeit. Auf der anderen Seite, die andere zentrale Quelle des menschlichen Unglücks – die Antithese – ist dementsprechend in einem Innen, nämlich im psychischen Apparat selbst und seinem zentralen Mechanismus zu finden. Darf man Sigmund Freud (1930/ 1999) glauben, dann wird dieser Apparat von den Gesetzen des Lustprinzips und dessen Agenten, dem Primärprozess regiert. Das alles beherrschende Ziel dieses Mechanismus besteht darin, jegliche plötzlich auftretende Unlust auf dem schnellsten Wege wieder zu beseitigen. Das Lustprinzip in seinem blinden Bestreben nimmt dabei keine Rücksicht auf die Grenzen und Gefahren der Außenwelt (Realität) und stellt insofern die größte Bedrohung für das menschliche Wesen dar. Dies Prinzip beherrscht die Leistung des seelischen Apparates vom Anfang an; an seiner Zweckdienlichkeit kann kein Zweifel sein, und doch ist sein Programm im Hader mit der ganzen Welt, mit dem Makrokosmos ebensowohl wie mit dem Mikrokosmos. Es ist überhaupt nicht durchführbar, alle Einrichtungen des Alls widerstreben ihm (S. 434).
Erst das Realitätsprinzip zwingt dem Lustprinzip eine für das Überleben notwendige Beschränkung auf. Zur Vorherrschaft des Realitätsprinzips, das sich im psychischen Apparat durch die Ausbildung der Instanzen des Ich und insbesondere des Überich niederschlägt, kommt es allerdings nicht auf natürlichem, biologischem Wege, sondern, wie eine der zentralen Thesen der Psychoanalyse besagt, diese Unterordnung unter die äußeren Grenzen, Gebote und Regeln wird dem Menschenwesen aufgezwungen, der psychische Apparat wird sozusagen traumatisiert.
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Es gilt hier zu verstehen, daß die Herrschaft des »Realitätsprinzips« nicht etwas ist, zu dem der psychische Apparat gelangt, indem er einem immanenten, spontanen Weg der »Reifung« folgt. Vielmehr wird ihm diese Herrschaft aufgezwungen durch eine Reihe von traumatischen Einschnitten (»Komplexe«, Integrierung von Verlusten): Unsere »natürliche« Offenheit der Realität gegenüber impliziert, daß die Verbote, die Druck auf die inhärente Logik des psychischen Apparates ausüben, diese Logik erfolgreich zum Zusammenbruch gebracht haben und selbst zu unserer »zweiten Natur« geworden sind (Žižek, 1992, S. 176 f.).
Eine vorläufige Antwort auf das von Freud analysierte grundlegende Unbehagen, das den Menschen a priori stigmatisiert und dessen Spuren wir freilegen wollen, könnte damit so aussehen, dass der Grund dafür, also für die Unmöglichkeit des menschlichen Glücks, in einem unüberwindbaren Widerspruch zwischen der Außenwelt und dem Funktionieren des psychischen Apparats besteht. Unsere sogenannte zweite Natur wäre so gesehen das Produkt jener gewalttätigen Intervention der im Voraus gegebenen äußeren Realität. Und dies führt – das zentrale Moment menschlicher Kultur – zu einer Hemmung des Lustprinzips, einer verzögerten Abfuhr aufgestauter Unlust. Die Kultur schiebt sich als Drittes, quasi Vermittelndes – Synthese – zwischen die Außenwelt und das blinde Funktionieren des psychischen Apparats und hat die zentrale Aufgabe, mit bestimmten Techniken der Weltbeherrschung die Quellen äußeren und inneren Leidens so weit als möglich in den Griff zu bekommen. Mit dem technischwissenschaftlichen Fortschritt, so Freud (1930/1999) ist der menschliche Traum von Allmacht und Allwissenheit – bisher in die ideale Götterwelt projiziert – beinahe erreicht. Der Mensch macht sich zum »Prothesengott« (S. 451), was ihm, so das Resümee, vieles erleichtert und ermöglicht, letztlich aber das Unglück nicht aus der Welt schaffen kann. Bei den unzähligen Leidensursachen rückt das Erreichen des absoluten Glücks in weite Ferne. Was einzig als Strategie, als oberstes Ziel übrig bleibt und somit die gewünschte Allmacht des Menschen in Schranken weist, ist die Leidvermeidung. Mit der Freud’schen Hypothese des Todestriebes jedoch verändert sich die Perspektive auf das menschliche Unbehagen in radikaler Art und Weise. Im Gegensatz zu einem Konflikt zwischen einem hypothetisch in einem innen verorteten Lustprinzip
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und dem von außen kommenden Realitätsprinzip mit den jeweils spezifischen Unglückspotentialen wird der Antagonismus nun in den psychischen Apparat selbst verlegt. Die Grenze, an welche das Lustprinzip stößt, ist diesem nicht mehr äußerlich, sondern immanent. Der psychische Apparat funktioniert demnach auch dann nicht reibungslos, wenn der äußere Druck wegfallen würde, denn er selbst weist schon einen Makel auf. Dieser Fremdkörper, welcher den harmonischen Kreislauf des psychischen Apparates von innen her stört, wird in der Theorie des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan (1901–1981) mit dem Mathem Objekt klein a (objet petit a) angeschrieben. Das Objekt klein a ist die Klippe oder das Hindernis, das den geschlossenen Kreislauf des Lustprinzips unterbricht und dessen ausgeglichene Bewegung zum Entgleisen bringt […] es führt eine irreduzible Unlust ein (Žižek, 1992, S.178 f.).
Das Objekt klein a steht für eine besondere Art von Objekt; nicht, dass es sich dabei um ein ganz spezifisches Objekt in der Außenwelt handeln würde. Es ist nicht zu vergleichen mit dem, was man traditionell im philosophisch-wissenschaftlichen Diskurs unter einem Objekt versteht. Das Objekt klein a ist kein Erkenntnis- oder Wahrnehmungsobjekt, es handelt sich nicht um ein raum-zeitlich Gegebenes. Vielmehr steht es zum einen für den innersten Kern, das »Herzstück von mir als Subjekt« (Widmer, 2004, S. 59); gleichzeitig – das verweist auf das Paradoxon dieses Objekts, wofür Lacan (1959/60) den Neologismus Extimität (S. 171) verwendet – ist dieses rätselhafte Ding das Äußerste und Entfernteste von mir als Subjekt. Es wird definiert als jener Rest, der aus der symbolischen Ordnung herausfällt, der aber im selben Moment zur Symbolisierung anregt, der, so Lacan (1962/63), als Objekt-Ursache des Begehrens fungiert (Seminar vom 16. Jänner 1963). Das Paradoxon besteht dabei nun darin, dass der psychische Apparat diese immanente und unzerstörbare Unlust in Lust, in die Lust am Schmerz – die Lacan’sche jouissance, zumeist als Genießen ins Deutsche übersetzt – verwandelt, welche für das begehrende Subjekt charakteristisch ist. Wie aber steht es nun mit dem Verhältnis zwischen dem Objekt klein a und der sogenannten Außenwelt, der Realität? Realität – und das meint bei Jaqcues Lacan immer symbolische
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Realität – ist überhaupt nur möglich (für ein Subjekt) aufgrund dieses Risses im geschlossenen Kreislauf des Lustprinzips. Letztlich ist die Realität/Welt nichts im Voraus Gegebenes, »sondern vielmehr etwas, dessen ontologischer Status in gewisser Weise sekundär ist, mit anderen Worten: etwas, das konstituiert ist« (Žižek, 1992, S. 180). Wie aber kommt es zu dieser Konstitution? Wie entsteht Welt? Ist der Mensch, das Dasein, wie Martin Heidegger (1927/1993) den Menschen bezeichnet, nicht immer schon ein In-der-Welt-Sein? Welt, verstanden als symbolische Ordnung, konstituiert sich für das Subjekt der Psychoanalyse erst durch die Eindämmung eines traumatischen Kerns, dem Genießen (jouissance) des Anderen (das Rätsel des Begehrens der Mutter) – wofür Jean Laplanche (2004) den Begriff der anthropologischen Grundsituation geprägt hat. Die Beziehung der Verführung […] ist vielmehr begründet in jener Situation, der kein menschliches Wesen entgehen kann und die ich die anthropologische Grundsituation nenne. Diese anthropologische Grundsituation besteht in der Beziehung des Erwachsenen zum kleinen Kind, wobei der Erwachsene ein Unbewußtes hat, wie es die Psychoanalyse beschreibt, ein sexuelles Unbewußtes, das sich im wesentlichen aus infantilen Rückständen zusammensetzt, ein perverses Unbewußtes im Sinne der drei Abhandlungen. Das Kind seinerseits aber verfügt über keine genetisch sexuelle Ausstattung und keine hormonellen Auslöser der Sexualität (S. 19 f.).
Laplanche rehabilitiert damit die von Freud zurückgewiesene Verführungstheorie, indem er sie entpathologisiert und verallgemeinert. Die Verführung, verstanden als traumatisches sexuelles Erleben, ist demnach nicht mehr nur der Grund für die Hysterie, sondern zentral für jede menschliche Beziehung. Sowohl im Verhältnis zum Kind als auch im Verhältnis zwischen Erwachsenen gibt es einen Exzeß der Leidenschaft, einen Exzeß im Anderen, dessen Zeuge das Kind wird und der sich zu einem traumatischen Geheimnis aufstuft, das den Prozeß der Subjektwerdung ins Rollen bringt (Dolar, 2007, S. 180).
Es handelt sich dabei um jenen (traumatischen) Ausgangsmoment der Psychoanalyse, auf den die symbolische Kastration als Bedingung der Möglichkeit von Realität reagiert. Die symbolische
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Kastration ist daher der Name für den Ausweg aus der Sackgasse des Genießens, also die Antwort oder zumindest ein Antwortversuch auf dieses Rätsel des Anderen. Sie steht für einen Schnitt, eine Leerstelle, in welcher Welt/Realität überhaupt erst möglich wird und das heißt, (empirische) Objekte für das Subjekt Bedeutung erlangen können. Die symbolische Kastration, von Lacan auch als Name-des-Vaters bezeichnet, steht für den Verzicht auf das inzestuöse Objekt, auf die Mutter als höchstes Gut. Und durch die Auslöschung des inzestuösen Inhalts entsteht das väterliche Gesetz als sein formales, metaphorisches Substitut, das die Bedingung der Möglichkeit des Eintritts in die symbolische Ordnung repräsentiert. Der Name für das Eindringen jenes exzessiv/traumatischen Genießens (jouissance), welches das mythisch-hypothetische, in der Lust aufgehende Lebewesen stört, ist der Todestrieb. Dem gegenüber – die andere Seite der Medaille – ergibt sich aus dem Gesetz des Vaters, der immer schon vorhandenen symbolischen Ordnung (der große Andere), in die wir hineingeboren werden, die Möglichkeit, diesen Riss/dieses Trauma zu beruhigen und in bestimmte Bahnen zu lenken. Man sollte nie vergessen, dass für Lacan das ödipale/väterliche Gesetz letztlich im Dienste des »Lustprinzips« steht: Es ist die Instanz der Befriedigung/Normalisierung, die keineswegs das Gleichgewicht der Lust erschüttert, sondern »das Unmögliche stabilisiert«, also die Grundbedingungen für ein erträgliches Zusammenleben von Subjekten bereitstellt (Žižek, 2001a, S. 402).
Aus diesem Grund betrachtet Lacan den (symbolischen) Vater (Name-des-Vaters) letztlich als Symptom, also als eine Kompromisslösung, mit deren Hilfe es gelingt, eine gewisse Distanz zu diesem traumatischen Kern herzustellen und womit der unerträglichen Angst ausgewichen werden kann, die aus der direkten Konfrontation mit dem Rätsel des Anderen folgen würde. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für das Glück des Menschen? Glück ist dem Lustprinzip zuzurechnen und wird demnach vom Objekt klein a, diesem Jenseits des Lustprinzips subvertiert. Aber es ist nicht einfach nur so, dass Glück prinzipiell nicht möglich wäre, sondern das Subjekt, das Subjekt des Begehrens charakterisiert sich gerade dadurch, dass es gar nicht
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befriedigt, das heißt glücklich sein will. Das Subjekt des Begehrens, so Lacan (1959/60), entspricht dem deutschen Emigranten, der in den USA auf die Frage: Are you happy? antwortet: Oh yes, I am happy. I am really very happy, aber glücklich bin ich nicht. Das Begehren – im Gegensatz zum Trieb – zeichnet sich dadurch aus, dass das Objekt klein a als seine Ursache und Ziel nicht direkt angesteuert wird. Das Objekt klein a ist weder innen noch außen, es ist sprachlich nicht zu erfassen, es ist grundsätzlich verloren – und, vom Standpunkt eines begehrenden Subjektes aus, kann man nur hoffen, dass es das, nämlich verloren, auch bleibt. Denn das Subjekt, bei Lacan synonym mit dem Begriff des Begehrens, muss, um überhaupt erst Subjekt zu werden, sein Sein an einen Signifikanten hängen, oder eben sich der symbolischen Ordnung (dem Gesetz des Vaters) unterwerfen, und damit einhergehend, einen uneinholbaren (Seins-)Verlust in Kauf nehmen – eben das Objekt klein a. Das Begehren bedarf zu seiner Realisierung daher auch nicht eines bestimmten passenden Objekts der Erfahrung, sondern das eigentliche Ziel des Begehrens ist die permanente Reproduktion des Begehrens selbst. Das Begehren ist das Begehren nach dem Begehren, es ist das Begehren nach Nicht-Befriedigung oder eben Unglück und Unbehagen. Die primäre Funktion des Begehrens besteht letztlich darin, eine Distanz zum Genießen zu errichten, einen Ausweg, eine (symbolische) Antwort auf das so traumatische und exzessive Genießen des Anderen anzubieten. Das Begehren erträgt keinen Vergleich mit irgendeinem konkreten Objekt, denn in einem Prozess, der das Begehren in die permanente Unzufriedenheit laufen lässt, wird das Objekt immer als »das ist es auch nicht« erfahren (Dolar, 2007, S. 127).
Wie könnte demnach eine für das begehrende Subjekt (einigermaßen) glückliche Situation aussehen? Slavoj Žižek (2004) meint dazu in etwas ironischer Art und Weise, dass in einem Land wie der Tschechoslowakei der 1970er und 1980er Jahre das Glück quasi zu Hause war. Warum? Drei Punkte sind hier von Bedeutung: Zum einen waren die materiellen Grundbedürfnisse dieser Menschen – zwar nicht im Übermaß, aber doch zum Großteil – befriedigt. Gerade die temporäre Erfahrung von Knappheit bewirkte die Zufriedenheit darüber, solche Waren überhaupt zu
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besitzen, während die permanente Gewissheit über den Besitz bestimmter Produkte diese wertlos und unbedeutend macht. Zum anderen gab es den großen Anderen, nämlich die Partei, die für alles und jedes verantwortlich gemacht wurde, was zur eigenen Entlastung beitrug. Und zum Dritten gab es einen anderen Ort, einen anderen Schauplatz, den Ort des Phantasmas, des ungezügelten Genusses, nämlich den Westen. Dieser (der Westen) durfte zwar manchmal besucht werden, zumeist wurde er aber nur erträumt, kurz: Es war ein anderer Ort in richtiger Entfernung – nicht zu weit weg und nicht zu nah, was für die Aufrechterhaltung des Phantasmas und damit des Begehrens, dessen Zentrum das Phantasma darstellt, entscheidend ist. Den Schluss, den man daraus ziehen muss, ist, dass dem Glück etwas zutiefst Heuchlerisches anhaftet, wenn es davon träumte, bestimmte Dinge zu besitzen, die es eigentlich gar nicht will – eben ganz im Sinne der paradoxen Logik des Begehrens, etwa nach dem Motto: »Gib mir nicht, was ich verlange, denn das ist es nicht«, oder auch »protect me from what I want« (Žižek, 2001a; 2004). Der Trieb hingegen steht bei Lacan für eine andere Art von Ökonomie. Während das Begehren reflexiv seine Nichtbefriedigung, den Aufschub der Begegnung mit dem Genießen, begehrt, steht der Trieb für die Präsenz des Genießens, für die Schließung der Endlosschleife des Begehrens und dessen Zusammenbruch. In genau diesem Sinn gleicht der Trieb dem Genießen, da das Genießen in seiner Elementarform eine »Lust am Schmerz« ist, das heißt eine pervertierte Lust, die gerade von der schmerzlichen Erfahrung eines wiederholten Verfehlens des eigenen Ziels geliefert wird (Žižek, 2001a, S. 414).
Als Beispiel für die Logik des Triebes und des Genießens können die Helden aus den Opern Richard Wagners dienen. Diese Helden – man denke an den Holländer (Der fliegende Holländer), Amfortas (Parsifal) oder Tristan (Tristan und Isolde) – zeichnen sich dadurch aus, so Žižek (2003), dass sie aufgrund einer in der Vergangenheit begangenen bösen Tat nun dazu verdammt sind, mit dieser Schuld für immer leben zu müssen, verdammt also zu einem Leben ewigen Leidens. Die Übermacht dieses Leidens, welches sich durch eine aufklaffende und unheilbare Wunde
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materialisiert – man denke an die offene Wunde des Amfortas –, verunmöglicht es ihnen, sich in der jeweiligen symbolischen Ordnung als begehrendes Subjekt zu verorten und damit die von ihnen erwartete symbolische Funktion auf sich zu nehmen. Ihr eigentliches Ziel ist der Tod, das Ende dieses unerträglichen Leidens. Dieser intendierte Tod darf aber nicht als ein Erfolg angesehen werden, der auf der Seite des Todestriebes zu verbuchen wäre, sondern der Tod der Wagner’schen Helden steht vielmehr für die »Befreiung aus den Klauen des Todestriebes« (S. 17). Der Todestrieb wird also im Werk Lacans nicht mehr – wie noch bei Freud (1920) in »Jenseits des Lustprinzips« geschehen – als ein biologisches Faktum angesehen, sondern mit dem Todestrieb wird gerade jener blinde Automatismus des psychischen Apparates, jenes Jenseits des Lustprinzips benannt, das für eine radikale Negativität in Bezug auf die symbolische Ordnung steht. Diese Negativität hängt dabei nicht mit der im Sinne z. B. marxistischer Theorien konzipierten sozialen Entfremdung zusammen – wobei der Mangel bzw. das Unbehagen wieder klar im Außen zu verorten wäre –, sondern steht vielmehr für eine grundsätzliche Bestimmung des Menschlichen, vor der es keine innerweltliche Flucht mehr gibt. Der Todestrieb ist daher, exemplifiziert an den Helden Richard Wagners, auch nicht als ein Drang hin zum Tod (zum Anorganischen) im Sinne eines den Tod wollen zu verstehen. Der Todestrieb bezeichnet vielmehr ein Verlangen, ein Wollen, das dem Tod gegenüber indifferent ist, für welches der Tod keine Grenze darstellt. »Der Todestrieb«, so Alenka Zupančič (2001), »ist kein Trieb, der den Tod anstrebt. Er strebt weder das Leben noch den Tod an. ›Tödlich‹ kann er gerade sein […], weil er sich gar nicht mit dem Tod befasst, weil der Tod ihn überhaupt nicht interessiert« (S. 14). Wenn also das Subjekt des Begehrens von einem grundlegenden Mangel gekennzeichnet ist – ich begehre nie das, was ich in einem Wunsch formulieren kann –, dann gründet das Subjekt des Triebes (das es so eigentlich gar nicht gibt) in einem Überschuss, der nicht in unserer Realität/Wirklichkeit da sein sollte. Man denke hier z. B. an das Ende des Ödipus Rex aus der gleichnamigen Tragödie des Sophokles. Sein anfängliches Glück in
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Sachen Ehe und Staatsführung, der »Dienst an den Gütern« (S. 363), wie es Lacan (1959/60) nennt, erweist sich zum Schluss als große Täuschung. Seine intensive und obsessive Suche nach dem Mörder eines Mannes, der sich als sein eigener Vater identifizieren lässt, konfrontiert ihn mit seiner eigenen Wahrheit als Vatermörder und Inzest-Begehender. Sie konfrontiert ihn mit einem Überschuss/Exzess, der seine (symbolische) Welt zerstört, der sich nicht mehr integrieren lässt und was ihn schließlich zur Selbstblendung und Flucht aus Theben, in einen Bereich jenseits des Dienstes an den Gütern treibt. Genau in diesem Sinne sollte man auch die provokante, aber sicherlich ernst gemeinte Aussage von Slavoj Žižek (2006) verstehen, »I am not human, I’m a monster« (Taylor, 2006). Damit ist gemeint, dass das menschliche Leben an einem Überschuss, einem Exzess hängt, der das einfache biologische und an der Lust orientierte Leben transzendiert. Der Mensch ist letztlich ein Tier, dessen Leben durch die exzessive Fixierung an irgendein traumatisches Ding aus der Bahn geworfen wird (vgl. Žižek, 2001b). Und der Todestrieb – um noch einmal auf die Wagner’schen Helden zu verweisen – hat nichts mit einem Sterbenwollen zu tun, sondern paradoxerweise wird damit gerade das Lebendigste, das ewige, untote (nicht von der symbolischen Ordnung eingefangene) Leben in die Psychoanalyse eingeführt. Eine der zentralen Erkenntnisse der Psychoanalyse lautet letztlich, dass die Menschen Lebewesen sind, die »von einem seltsamen Trieb besessen [sind], Leben im Übermaß zu genießen, leidenschaftlich einem Überschuss verhaftet, der auffällt und den üblichen Lauf der Dinge aus der Bahn wirft« (Žižek, 2001b, S. 137 f.).
… zum Unmöglichen als Objekt der Psychoanalyse Im »Unbehagen in der Kultur« bezeichnet Sigmund Freud (1930) die Introjektion der nach außen gerichteten Aggression, welche Ausdruck des angeborenen und an sich stummen Todestriebes ist, als das Mittel der Kultur gegen diese zerstörerische Tendenz. Nur mit Hilfe der Wendung gegen das eigene Ich gelingt dem-
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nach die Zähmung und Beschränkung der Aggressionsneigung, um damit ein einigermaßen friedliches Zusammenleben unter den Menschen zu gewährleisten. Das dadurch entstehende Schuldgefühl bezeichnet Freud (1930) als eine »verhängnisvolle Unvermeidlichkeit« (S. 492). Auf der anderen Seite sieht er die große Gefahr darin, dass gerade dieses Schuldgefühl aufgrund der immer größer werdenden kulturellen Verzichtsanforderungen (auf sexuellen und anderen Gebieten) in Höhen gesteigert wird, »die der Einzelne schwer erträglich findet« (S. 493). Damit wäre die Möglichkeit des Glücks, dem es ja bereits a priori mangelt, noch mehr eingeschränkt und das Unbehagen des Menschen in so einer Kultur wäre noch größer. Für Freud (1930) besteht daher die »Schicksalsfrage der Menschenart« (S. 506) darin, wie dieser Ambivalenz von Aggressionsneigung einerseits und Schuldgefühl andererseits in der Kultur Rechnung getragen wird. Heute leben wir im sogenannten postödipalen Zeitalter, das heißt in einer Zeit des postulierten Niedergangs der symbolischen Ordnung und der traditionellen (patriarchalen) Strukturen. Ist es von dieser Perspektive aus nicht ein Leichtes, die Freud’sche Prophezeiung das Schuldgefühl betreffend, als falsch und unbegründet zu bezeichnen? Muss man heute nicht vielmehr von einer Befreiung des Subjektes von der repressiven Instanz des Überich und damit einhergehend einer Proliferation des Glücks sprechen? Die sexuellen wie sozialen Identitäten sind – zumindest was den Großteil der sogenannten westlichen Welt betrifft – nicht mehr a priori vorgegeben und festgesetzt, sondern können frei gewählt und beliebig modifiziert werden. Das Korsett althergebrachter Wahrheiten, die sogenannten Großen Erzählungen, ist abgelegt und wurde, wiederum in postmoderner Manier, von der Vielfalt unterschiedlichster partikularer Identitäten (Wahrheiten) abgelöst. Ist es nicht genau das, was die Psychoanalyse seit Freud predigt und einfordert: Befreiung von sexueller Unterdrückung, damit der Preis, den wir für die Kultur immer schon zu zahlen haben, so gering wie möglich ist? Und ist demzufolge die Psychoanalyse heute nicht obsolet geworden? Ihre traditionelle Aufgabe bestand ja in erster Linie darin, dem Patienten gegen ein allzu strenges Überich zu helfen, um Zugang zu einem normalen sexuellen Genießen zu finden.
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Gleichzeitig scheint aber der Niedergang der Wirksamkeit des Lacan’schen großen Anderen, sprich der Verlust klarer und strenger Verbote und Grenzen, gerade nicht zu jener Befreiung zu führen, in der wir auf durchwegs glückliche, zufriedene und befriedigte Individuen stoßen. Vielmehr konfrontiert uns diese Abwesenheit direkt mit jenem inhärenten Hindernis der Befriedigung und des Glücks und wir treffen somit erst heute auf die »grundsätzliche libidinöse Ausweglosigkeit, um die sich die Psychoanalyse dreht« (Žižek, 2006, S. 403). Was die grundlegende Möglichkeit des Begehrens (des Subjekts) ausmacht, so liegt diese darin – man denke an das Beispiel der Tschechoslowakei –, die Illusion aufrechtzuerhalten, dass eine (permanente) Überschreitung der Grenze (hin zum Westen) absolute Befriedigung mit sich bringen würde. Oder anders: Die symbolische Ordnung steht für die Illusion, dass mit der Transzendierung ihrer Grenze absolute Befriedigung erreichbar ist. Übersetzt in den Diskurs der Psychoanalyse heißt das, dass nur der Vater (Other) den Zugang zum begehrten Mutter-Objekt (M-Other) verhindert, und ist dieser erst einmal beseitigt, steht Glück und Genuss nichts mehr im Wege. Die Überschreitung des Gesetzes/der Grenze führt aber gerade nicht direkt ins Paradies, sondern zerstört die Illusion desselben, lässt den anderen Schauplatz (das Phantasma) kollabieren und führt zur Angst. Was folgt also aus einem allgemein und einhellig prognostizierten Verlust des Verbotes/Gesetzes – eines Gesetzes, dessen primäre Funktion die Aufrechterhaltung des Mangels, d. h. die Herstellung einer Distanz zum Genießen des Anderen ist und wodurch erst ein Raum zum Atmen und Welt im symbolischen Sinne entstehen können? Wohin führt dieser Mangel an Gesetz, der auch einen Mangel an Schuld und Schuldgefühl – ganz im Unterschied zur Freud’schen Prognose – impliziert? Die Schuld, verstanden als Glaube an das Gesetz (den großen Anderen), ermöglicht die Täuschung, jenen Schwindel, der es uns gleichzeitig erlaubt, uns unseren durch das Symbolische vermittelten Lüsten hinzugeben. Das Fehlen der Schuld und die direkte Konfrontation mit dem Rätsel des Anderen führen zur Angst. Lacan (1962/1963) – wie auch Freud (1926) – bezeichnet die Angst als ein Signal, aber dieses Signal steht nicht für den Verlust eines
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Objektes, wie bei Freud, sondern für die zu große Nähe des Objekts klein a. Aus diesem Grund kann Lacan sagen, dass die Angst der einzige Affekt ist, der nicht täuscht. Die Angst zeigt nämlich eine drohende Konfrontation mit dem grundlegenden Mangel an, welche zum Verschwinden des Subjekts (des Begehrens) führen würde. Die Furcht hingegen, die für Freud immer mit einem konkreten Gegenstand als Ursache verknüpft ist, hat in der Theorie Lacans keine bestimmte Objekt-Ursache, ihr Objekt täuscht. So besteht z. B. bei einer Hundephobie keine Furcht vor dem Objekt Hund, sondern vor dem Nichts, der Leere hinter ihm, vor dem die Phobie schützt. Die Angst hingegen hat – gegen Heidegger (1927) und Freud (1926) – sehr wohl eine bestimmte Objekt-Ursache, nämlich das Objekt klein a. Andererseits leben wir heute gerade nicht im Zeitalter der Angst. Die Abwehr gegen diese unerträgliche Konfrontation mit dem inhärenten Exzess (Genießen) erscheint heute aber nicht mehr in Form des väterlichen, ödipalen Gesetzes, sondern in Form eines anderen/neuen, kapitalistischen Überich-Befehls, der »Genieße!« lautet. Darin besteht der Gegensatz zwischen Gesetz und Überich: Das Gesetz ist die Instanz des Verbots, die die Verteilung des Genießens auf der Basis eines gemeinsamen, geteilten Verzichts (der »symbolischen Kastration«) reguliert, wohingegen das Überich einen Punkt bezeichnet, an dem das erlaubte Genießen, d. h. die Freiheit zu genießen, sich zum Zwang zu genießen verkehrt (Žižek, 1992, S. 143).
Während also das Gesetz die Instanz des Verbotes und das heißt für die Verteilung des Genießens im Sinne der symbolischen Ordnung steht, könnte man den (kapitalistischen) ÜberichBefehl des »Genieße!« mit dem Triebhaften in Verbindung bringen. Wir treffen somit auch auf der Ebene des Überich die Aufspaltung in einen begehrenden und einen triebhaften Part an. Zum einen charakterisiert sich die Gegenwart also durch eine Aufforderung zum Genießen, zum grenzenlosen Konsum. Zum anderen sind diesem Genießen doch wieder Grenzen verordnet, insofern dieser Befehl nur so weit reicht, wie das eigene Leben nicht gefährdet wird, solange es also im Rahmen einer herrschenden Ideologie des Lebens bleibt. Das Leben ist zu kurz und zu kostbar, so wird uns heute überall vermittelt, als dass man es
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verschwenden sollte. Slavoj Žižek (1992) führt in diesem Zusammenhang gerne das Beispiel der Ideologie des sogenannten Nichtismus an. Diese, für unsere heutige Zeit recht typische Haltung, erlaubt uns zwar prinzipiell alles zu tun, aber warnt gleichzeitig vor den gefährlichen Konsequenzen für unser Leben. Das heutige an der Lust orientierte Leben wird begleitet von Überich-Verboten, welche davor warnen, Kaffee mit Koffein oder Bier mit Alkohol zu trinken, Butter mit Fett und Cholesterin zu essen, die Umwelt zu verschmutzen etc. Es geht – und das in einer Zeit des anything goes – letztlich um einen radikalen Verzicht. Radikal ist dieser Verzicht deshalb, da wir permanent dazu aufgefordert werden, alles nur in aseptischer, substanzloser Form zu genießen, das heißt, das Genießen wird gerade dadurch verhindert und verunmöglicht. Man könnte daher zu dem Schluss kommen, dass die gegenwärtige kapitalistische Aufforderung zum Genießen eigentlich versucht das (exzessive) Genießen zu vermeiden. Das wiederum führt zu einer absoluten Dominanz und Verallgemeinerung des Lustprinzips. Das Schwinden der Wirksamkeit der symbolischen Ordnung bringt seine unheimliche Kehrseite, seinen obszönen Doppelgänger, ans Tageslicht: das Überich als reinen und kompromisslosen Zwang zum Genießen – oder besser gesagt zur Verallgemeinerung des Lustprinzips. Das Leben als Vergnügen steht im Mittelpunkt des Imperativs der spätkapitalistischen Gesellschaft. Jeder kann und muss es sich gut gehen lassen, ist selbst für seine Selbstverwirklichung und -erfüllung zuständig und verantwortlich. Das daraus sich ergebende extrem narzisstische Subjekt ist dazu verurteilt, Spaß zu haben. Und das Schuldgefühl – ganz anders wie noch zu Zeiten Freuds – stellt sich heute genau dann ein, wenn man an dieser obszönen und bedingungslosen Aufforderung zur Jagd nach dem Glück scheitert. Und so fühlt man sich heute, so Alenka Zupančič (2001), »nicht etwa elend, weil man sich schuldig fühlt, sondern man fühlt sich schuldig, weil man sich elend fühlt. Das Unglück ist Folge eines moralischen Fehlers. Wenn du also moralisch sein willst, dann sei glücklich« (S. 17). Was also tun? Worin kann eine Antwort der Psychoanalyse auf die neuen Ängste und Sorgen, das neue Unbehagen in der
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Kultur bestehen? Liegt das Heil in einer Reödipalisierung der Gesellschaft, sprich in einer konservativen Kulturkritik und einer Forderung zur Rückkehr zur patriarchalen Ordnung? Dieser Versuchung sollte man widerstehen – der Psychoanalyse geht es letztlich nicht um die Akzeptanz und Unterordnung unter die symbolische Ordnung (Kastration) – und stattdessen darauf insistieren, dass die Psychoanalyse jener Diskurs ist, dem es um ein Jenseits des Überich geht, um einen Bereich jenseits der symbolischen Ordnung (Žižek, 2006). Die Psychoanalyse als Therapie will den Analysanden tatsächlich vor den Abgrund des Anderen (Analytikers) bringen, ihn mit diesem unmöglichen Objekt klein a konfrontieren und nicht wieder eine Ausweichstrategie anbieten. Die grundlegende Situation in der Analyse stellt sich so dar, dass einem sprechenden Analysanden, der zum freien Assoziieren aufgefordert wird, ein Analytiker im Rücken sitzt, der im Prinzip schweigt (Dolar, 2007). Dieser, der Analytiker, gilt dem Analysanden als Ort der Wahrheit, als einer, der sein Leiden, sein Symptom versteht und behandeln kann. Kurz: Von ihm erwartet er Antworten und Hilfe. Im besten Fall bekommt er aber nur eines zu hören, nämlich nichts, die stille Stimme des Analytikers, sein Schweigen. Das Ziel der Analyse besteht demnach nicht darin, den freien Assoziationen des Analysanden durch Deutungen des Analytikers Sinn zu geben. Der Analytiker soll sich nicht als ein neuer Herr und Meister präsentieren, der bestimmte, als wahr angesehene Antworten gibt. Er soll vielmehr eine unmögliche, weil schweigende Stimme verkörpern. Diese Stimme hat keinen Inhalt, gibt keinen Halt und spendet auch keinen Trost. Es ist eine Stimme, die nichts sagt, nichts vermittelt, eine stumme, lautlose Stimme, die einzig dazu aufruft, Verantwortung zu übernehmen, die Position des Subjekts einzunehmen (vgl. Dolar, 2007). Das evoziert Angst und davor will der Analysand fliehen. Um ihr auszuweichen, um das Schweigen zum Schweigen zu bringen, ist er bereit, alles zu sagen, was ihm durch den Kopf geht. Letztlich ist die psychoanalytische Therapieform, die in ihrem Kern für eine Auseinandersetzung mit dem Rätsel des Anderen steht, eine »Klinik der Angst« (Widmer 2004, S. 163). Von einem
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klinischen Standpunkt aus ist die Angst kein Symptom, sondern eine Reaktion, eben ein Signal, das dann auftritt, wenn das eigentliche Symptom des Subjekts – jene symbolisch-imaginäre Konstruktion, die es ihm ermöglicht einen gewissen Abstand zum traumatischen Objekt klein a einzunehmen – in sich zusammenfällt und nicht mehr funktioniert. In diesem Augenblick, in dem das Subjekt von seinem Symptom, das die Rolle eines Puffers spielt, abgetrennt und unmittelbar mit dem Objekt klein a konfrontiert wird, taucht die Angst auf, um die übermäßige Nähe des Objekts zu signalisieren (Žižek, 2001a, S. 506).
Und der Prozess der Analyse ist vielleicht einzig dazu da, dieses Objekt a, diesen Abgrund im Analytiker, diesen Ort der Angst, auf sich zu nehmen. Die Psychoanalyse steht also nicht für die Akzeptanz irgendwelcher konkreter Gesetze und Verbote. Die Psychoanalyse ist ein Prozess, der um den Verlust jeglicher äußeren Wahrheit, jeglichen Sinn gebenden Halts kreist. Es geht, so könnte man sagen, um die unvermittelte Übernahme jener grundlegenden Unmöglichkeit, jenem Unbehagen, das die Kultur immer schon auszeichnet, also einer Subjektposition, die von keinem Herren mehr gestützt wird und den Moment der Erfahrung absoluter Freiheit darstellt. Die Psychoanalyse eröffnet dadurch einen Spielraum, eine Transzendenz, worauf hin sich das Subjekt (neu) entwerfen kann.
Literatur Aristoteles (ca. 322 v. Chr./1995). Nikomachische Ethik. In Aristoteles: Philosophische Schriften in sechs Bänden. Band 3. Übers. Eugen Rolfes, bearbeitet von Günther Bien. Hamburg: Felix Meiner. Dolar, M. (2007). His Master’s Voice: Eine Theorie der Stimme. Übers. Michael Adrian und Bettina Engels. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Freud, S. (1920/1999). Jenseits des Lustprinzips. In Gesammelte Werke. Band XIII: Jenseits des Lustprinzips / Massenpsychologie und IchAnalyse / Das Ich und das Es (S. 1–69). Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch.
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Freud, S. (1926/1999). Hemmung, Symptom und Angst. In Gesammelte Werke. Band XIV: Werke aus den Jahren 1925–1931 (S. 111–205). Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch. Freud, S. (1927/1999). Die Zukunft einer Illusion. In Gesammelte Werke. Band XIV: Werke aus den Jahren 1925–1931 (S. 323–380). Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch. Freud, S. (1930/1999). Das Unbehagen in der Kultur. In Gesammelte Werke. Band XIV: Werke aus den Jahren 1925–1931 (S. 419–506). Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch. Heidegger, M. (1927/1993). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer Verlag. Lacan, J. (1959/60/1996). Das Seminar Buch VII. Die Ethik der Psychoanalyse. Übers. Norbert Haas. Weinheim u. Berlin: Quadriga. Lacan, J. (1962/63). Seminar X: Angst. Übers. Gerhard Schmitz. Unveröffentlichte Übersetzung. Laplanche, J. (2004). Ausgehend von der anthropologischen Grundsituation … In L. Bayer, I. Quindeau (Hrsg.), Die unbewusste Botschaft der Verführung. Interdisziplinäre Studien zur Verführungstheorie Jean Lapanches. Gießen: Psychosozial. Taylor, A. (2006). Žižek! »The Elvis of Cultural Theory!« Zeitgeist Video. Widmer, P. (2004). Angst. Erläuterungen zu Lacans Seminar X. Übers. Gerhard Schmitz. Bielefeld: transcript. Žižek, S. (1992). Der erhabenste aller Hysteriker: Psychoanalyse und die Philosophie des deutschen Idealismus. Übers. Isolde Charim. Wien u. Berlin: Turia & Kant. Žižek, S. (2001a). Die Tücke des Subjekts. Übers. Eva Gilmer, Andreas Hofbauer, Hans Hildebrandt und Anne von der Heiden. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Žižek, S. (2001b). Die gnadenlose Liebe. Übers. Nikolaus G. Schneider. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Žižek, S. (2003). Der zweite Tod der Oper. Übers. Hans-Hagen Hildebrandt. Berlin: Kadmos. Žižek, S. (2004). Willkommen in der Wüste des Realen. Übers. Maximilian Probst. Wien: Passagen Verlag. Žižek, S. (2006). Parallaxe. Übers. Frank Born. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Zupančič, A. (2001): Das Reale einer Illusion: Kant mit Lacan. Übers. Reiner Ansén. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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Unübersichtlichkeit, Fragmentierung und Zerfall – und die neue Sehnsucht nach dem Schlichten
Sigmund Freuds Essay über das »Unbehagen in der Kultur« aus dem Jahr 1930 zählt ohne Zweifel zu seinen populärsten, meistzitierten Texten, obschon er wie ein erratischer Block neben jenem kontinuierlichen Strom wissenschaftlicher Theoriebildung steht, der vom Jahr 1895 an aus Freuds Feder bis in die Gegenwart fließt und mit den Jahren breiter, verzweigter, stellenweise wohl auch seichter geworden ist. Dieser Aufsatz bildet auch den geistigen Dreh- und Angelpunkt des vorliegenden Sammelbandes; an den Anfang meiner eigenen Auseinandersetzung mit Freud möchte ich indes drei Erlebnisse aus dem klinischen Arbeitsalltag eines ärztlichen Psychotherapeuten stellen: Eine Frau, die vor kurzem die Klinik verlassen hat, ruft mich verstört und weinend an: Ihre Heilpraktikerin, die sie homöopathisch behandelt, habe ihr gesagt, aus der Reaktion auf die Arzneimittel könne man erkennen, dass die Patientin in ihrer Kindheit einen Missbrauch erlitten habe; Eine elegante ältere Dame fragt mich beim Aufnahmegespräch, ob in unserer Klinik eine »Colon-Hydro-Therapie« durchgeführt werde – bekanntlich sitze das Unterbewusste, sie wisse dies aus einem populärwissenschaftlichen Buch, im Darm und sie wolle es auf diese Weise entschlacken lassen; In der dritten Therapiestunde sagt ein junger Mann, zu dem ich nur schwer Zugang finde, mit deutlicher Verärgerung, es sei wohl besser, wenn er sich einer »Rückführungsbehandlung« unterzöge – seine derzeitigen Probleme seien in einem früheren Leben verursacht worden, das wisse er ganz genau.
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Nach diesen Vignetten komme ich nun zu meinem eigentlichen Gegenstand – der Sehnsucht nach Schlichtheit und einfachen Lösungen. Freuds bereits erwähnte Schrift »Das Unbehagen in der Kultur« ist gerade in diesem Zusammenhang und auch am Anfang des 21. Jahrhunderts noch eine anregende und herausfordernde Lektüre. Indes, man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Leserinnen und Leser Freuds Essay gemeinhin mit falschen Maßstäben messen. Denn, so seltsam es klingen mag, das Wort »Unbehagen« taucht offensichtlich nur im Titel der Abhandlung auf, im Text selbst ist davon weiter gar nicht die Rede. Zwar wird davon gesprochen, dass die Absicht, »dass der Mensch glücklich sei«, im Plan der Schöpfung nicht enthalten ist; es ist vom »bisschen Glück des Kulturmenschen« die Rede und davon, dass wir »uns in unserer heutigen Kultur nicht wohl fühlen«. Aber kein Wort über irgendein Unbehagen – mit einer Ausnahme, aber davon später. Jedenfalls wirkt der Aufsatz in dieser Hinsicht widersprüchlich. Die Ursache dafür ist unbekannt, das Faktum über jeden Zweifel erhaben. Vor allem aber scheint es Freud, der sich – man weiß es ja – in großer Ausführlichkeit dem Gegensatz von Kultur und Triebnatur widmet, die Frage gar nicht erst in den Sinn zu kommen, ob es nicht noch andere Kräfte geben könne, die nachhaltig verhindern, dass der Mensch sich in der Welt behaglich fühlt. Was aber mögen derlei Kräfte sein? Wir können uns dem Eindruck nicht versagen, dass über Jahrtausende hinweg klügere Männer als wir hier vor allem die Angst am Werk gesehen haben: »In der Welt habt ihr Angst«, heißt es kurz und bündig im Evangelium des Apostel Johannes (Johannes 16,33), und rund 2000 Jahre später schreibt der Philosoph Martin Heidegger einen nicht minder bündigen Satz nieder: »Das Wovor der Angst ist das In-der-Welt-Sein als solches (Heidegger, 1927, S. 126). Diese Angst folgt unserem In-der-Welt-Sein offenkundig wie ein unabschüttelbarer Reisebegleiter. Doch bei genauerem Hinsehen scheint sie erst sekundär den Trieben, primär aber unserem Verstand, oder sagen wir es genauer: unserem antizipierenden Denken geschuldet. Dieses antizipierende Denken – Freuds jüngerer Nachbar, sein Arztkollege Konrad Lorenz (1983), spricht
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vom »Hantieren im Vorstellungsraum« – erlaubt uns eine allen anderen Spezies überlegene, freilich folgenschwere Art der Lebensbewältigung und Weltgestaltung. Es nötigt uns aber auch zum Zergrübeln unseres eigenen Daseins, zum Zweifel am Sinn des Lebens, am Warum, Woher und Wohin. Der von Freud sehr geschätzte, vielleicht aber doch nicht allzu gründlich rezipierte Schopenhauer hat dies in unübertrefflicher Weise zusammengefasst: Die ephemeren Geschlechter der Menschen entstehn und vergehen in rascher Sucession, während die Individuen unter Angst, Noth und Schmerz dem Tode in die Arme tanzen. Dabei fragen sie unermüdlich, was es mit ihnen sei, und was die ganze tragikomische Posse zu bedeuten habe, und rufen den Himmel an, um Antwort. Aber der Himmel bleibt stumm (Schopenhauer, 1853/1977, S. 398).
Ist es womöglich gerade die evolutive Errungenschaft des Verstandes und des von ihm praktizierten antizipierenden Denkens, mit dem der »Plan der Schöpfung« – soll heißen: die Evolution des Lebens – uns der Möglichkeit zu einem unbefangenen Glück beraubt hat? Wir sind in ein unwirtliches Raum-Zeit-Kontinuum hineingeboren worden, und unser antizipierendes Denken sorgt dafür, dass uns diese missliche Lage auch bewusst wird und wir uns mit zigtausend Fragen herumplagen müssen, die unser Verstand produziert, ob wir nun wollen oder nicht. Unzweifelhaft: Die Evolution des Lebens hat uns mit dieser Bürde belastet – Angst ist schlicht und ergreifend der Preis des evolutiven Fortschritts. Der »Vater der Systemtheorie«, Ludwig von Bertalanffy, hat dies zehn Jahre nach Freuds Tod in fast poetischer Sprache so ausgedrückt: Mühevoll ringt sich das Leben zu immer höheren Stufen empor, für jeden Schritt zugleich zahlend. Es wird vom Einzeller zum Vielzeller und setzt damit den Tod in die Welt [...] Es erfindet ein hochentwickeltes Nervensystem und damit zugleich den Schmerz. Es setzt den urtümlichen Teilen dieses Nervensystems ein Hirn mit Tagesbewusstsein auf, das durch seine Symbolwelt Voraussicht und Beherrschung der Zukunft gewährt [= antizipierendes Denken, T. B.], und muss dafür die dem Tier fehlende Angst vor dem Kommenden eintauschen [...] Der Sinn dieses Schauspiels ist uns nicht bekannt (von Bertalanffy, 1949, S. 106).
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Bertalanffys Darstellung des evolutionären Dramas scheint mir in mehr als einer Hinsicht mit der Realität besser vereinbar als Freuds Spekulationen vom Urmenschen, der es besser gehabt habe als wir, »da er keine Triebeinschränkungen kannte«, und der erst von der Kultur zur Einschränkung seiner Zügellosigkeit genötigt worden sei. Wie dem auch immer sein mag, unsere Untersuchung über die existentielle Angst des in eine unwirtliche Welt hineingeworfenen Menschen hat uns bisher nicht viel gelehrt, was nicht allgemein bekannt ist. Wir wollen uns darum der bescheideneren Frage nach den Versuchen der Menschen zuwenden, mit dieser Angst irgendwie fertig zu werden. Dabei interessiert uns vor allem die gegenwärtige Lage. Über Jahrhunderte hinweg – immerhin fast genau 1200 Jahre, von 313 bis 1515 – wurde das Abendland von der una sancta ecclesia geleitet. Stets hat es das gegeben, was die Soziologen von heute als »Sinnstiftungsreservoirs« bezeichnen: kulturelle Bildungen, die ein Monopol darauf besaßen, die Menschen mit fraglos selbstverständlichen Gewissheiten im Übermaß zu versorgen – und wo sich dennoch Zweifel regte, brannten oft genug die Scheiterhaufen. Bei aller Berechtigung seiner Religionskritik hat Freud diesen Aspekt der Kultur offenbar unterschätzt: dass sie, mag sie auch Unbehagen erzeugen, vor allem dazu dient, Unbehagen und Angst zu lindern, in Schranken zu halten. Alle Kultur sei ein »Bollwerk gegen den Tod«, hat Friedrich Dürrenmatt gesagt. Unsere existentielle Angst ist die Antwort darauf, dass unser Verstand uns unerbittlich mit dem Problem der Existenz konfrontiert. Die schwerstwiegende Konsequenz aus diesem Dilemma liegt darin, dass wir um unsere Sterblichkeit wissen, ohne erkennen zu können, woher wir kommen, wohin wir gehen und was das Ganze bedeuten soll. Es ist hier nicht der Ort, um nachzuzeichnen, was ja auch allgemein bekannt ist: Wie »Säkularisation und Selbstbehauptung«, mit Hans Blumenberg gesprochen, die sinnstiftenden Monopole früherer Zeiten und ihr Monopol auf Gewissheit unterlaufen und zumindest relativiert haben. Für eine Zeit von etwa 150 Jahren sah es ja so aus, als ob der Mut, »sich des eigenen Verstandes zu bedienen«, als ob das Zeitalter der Aufklä-
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rung den Menschen dabei helfen könne, den stummen Himmel, das Leben ohne Antwort zu ertragen. Es gebe ein metaphysisches Grundbedürfnis, aber die Religionen schienen ihm nicht dessen Befriedigung, sondern sein Missbrauch zu sein, meinte Schopenhauer, und Freud spann diesen Gedanken in seiner Religionsschrift von 1927 weiter fort: »Unsere Wissenschaft ist keine Illusion. Eine Illusion aber wäre es zu glauben, dass wir anderswoher bekommen könnten, was sie uns nicht geben kann.« Es lässt sich indes, 150 Jahre nach Schopenhauers und 80 Jahre nach Freuds Diktum, kaum noch übersehen, dass diese Illusion heute Wiederauferstehung feiert. Warum? Noch immer – vielleicht mehr denn jemals zuvor – gilt Blumenbergs Diktum: »Was der Mensch erfahren muss, sogar in einem Paradies, ist die Gleichgültigkeit der Welt gegen ihn« (Blumenberg, 1986, S. 75). Dabei handelt es sich ja nicht nur um die Gleichgültigkeit der Natur. Ebenbürtig an die Seite tritt ihr eine soziale Entwicklung ganz eigener Art. Sie hat uns seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine unerhörte, atemberaubende wissenschaftlich-technische Revolution gebracht – unterbrochen freilich von zwei Kriegen, wie sie die Welt noch nie zuvor gesehen hatte, und derzeit überschattet von den Folgen der globalen Umweltzerstörung. Diese soziale Entwicklung hat uns auch die soziale Umgebung selbst, die Gesellschaft, in der wir leben, zunehmend unwirtlich gemacht. Die Gesellschaft wird fragmentiert, zerfällt in immer kleinere, nur noch lose miteinander verbundene Substrukturen. Der Dichter Robert Musil, ein Zeuge dieser Entwicklung, der den Ersten Weltkrieg als Offizier, die ersten drei Jahre des Zweiten Weltkriegs als Greis miterlebt hat, schildert in seinem Hauptwerk »Der Mann ohne Eigenschaften« (1931/1932) das ungeheuere Verlassensein des Menschen in einer »Wüste von Einzelheiten«, und ähnliche Beobachtungen sind in den literarischen Zeugnissen jener Zeit überreichlich zu finden. Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg haben an dieser Tendenz nichts geändert – im Gegenteil. Wir erleben – oder erleiden – heute eine historisch völlig neue Pluralität der Wertund Zielvorstellungen. »Es gibt nur einen Konsens: dass es keinen Konsens mehr gibt« – so ein viel kolportiertes Bonmot. Wie schon angedeutet, haben die einst allgemein anerkannten »Sinn-
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stiftungsreservoirs« ihre frühere Bindungsfähigkeit eingebüßt. Sie sind nicht mehr in der Lage, allgemeinverbindliche und selbstverständliche Gewissheiten zu stiften. Auch mit der Frage, was Sinn und Ziel des Leben sei, muss der Mensch von heute sich alleine herumplagen, muss versuchen, eine ganz persönliche Antwort zu finden. Und dies in einer Zeit, in der uns die Daseinsbewältigung immer beschwerlicher wird! Geläufig und weit verbreitet ist in der Moderne der Versuch, in immer kleiner Zeiteinheiten immer mehr Verhaltensalternativen hineinzupacken und dabei möglichst viel erleben zu wollen – die »Erlebnisgesellschaft« (Schulze, 1992). Dies bedeutet auch, so viele Optionen, wie es nur irgend geht, in kürzester Zeit zu realisieren – die »Multioptionsgesellschaft« (Gross, 1994). Die Gefahr, »das Beste zu versäumen«, ist allgegenwärtig und produziert ein solches Maß an Hektik, dass nur noch wenige darüber nachsinnen, was dieses »Beste« eigentlich ist. Freilich, wir sehnen uns immerfort danach – und irgendwo muss es doch zu erhalten sein. Um mein breit gefasstes Thema noch ein wenig weiter einzuengen, möchte ich mich jetzt auf die Frage konzentrieren, inwiefern die Körper- und Gesundheitsfixiertheit des Gegenwartsmenschen ein Versuch ist, dem Schopenhauer’schen Dilemma zu entgehen und dem stummen Himmel doch noch eine Antwort abzuringen. Schopenhauer selbst hat seinen oben zitierten Zeilen vom Himmel, der stumm bleibt, seinerzeit noch die gallige Nachbemerkung angefügt: »Hingegen kommen Pfaffen mit Offenbarungen.« 150 Jahre nach Schopenhauers Philippika sind freilich die Pfaffen mit ihren Offenbarungen von anderen Berufsgruppen – von Wunderheilern aller Art, von Kinesiologen, Irisdiagnostikern, Spagyrikern und so fort – arg in den Hintergrund gedrückt worden. Ja man könnte sogar fragen, ob die Gottsuche nicht von der Heilkunde weitgehend verdrängt worden ist, die Bitte um Seelenheil vom Bemühen um den Heilerfolg, und dieser auf jeden Fall »ganzheitlich«. Gerade auf dem Feld der Medizin kristallisiert sich deshalb die ganz eigene »Sinnstiftung« der Moderne aus, entstehen Wegmarken in der unübersichtlichen Wüstenei der Einzelheiten, die uns beständig überstimuliert und zu immer neuen Entscheidungen nötigt.
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Der allgegenwärtige »Fetisch Gesundheit« ist die Folge dieses Versuchs, ein Gegengewicht zum Sinnverlust, der Wüstenei der Einzelheiten (Musil) und der von Jürgen Habermas (1985) beklagten »neuen Unübersichtlichkeit« der Gesellschaft zu schaffen. Der Arzt und Autor Herbert Will (1988) sieht in der Hinwendung zu diesem Fetisch eine illusionäre, vom Ich dem Selbst verordnete Beschäftigungstherapie am Werk, die er »Gesündeln« genannt hat – ein, wie er meint, heute weit verbreitetes Syndrom. Die Verehrung dieses Fetischs, so Herbert Will, setzt an der unbewussten Sehnsucht nach Unsterblichkeit und Unverletzlichkeit an. Sie nimmt diese Wünsche beim Wort »und treibt sie auf die Spitze, verbindet sie mit der Hoffnung, wir selbst könnten unsere Gesundheit herstellen und würden damit zu Herren unserer phantasierten Unsterblichkeit – und zwar im Diesseits unseres irdischen Lebens. Diese verzweifelte Forderung muss notwendig scheitern, weil die Realität von Krankheit und Tod ihr radikal widerspricht. Doch was tun (oder denken und glauben) angesichts der Sicherheit des Todes, wenn kein Jenseits zu Hilfe kommt? Offenbar bietet es sich dann an, das Diesseits zum Jenseits zu machen und nicht zuletzt alle Sehnsucht nach Transzendenz auf die Gesundheit zu richten. So entsteht der Fetisch Gesundheit mit all seinen Verschleierungen und unbegriffenen Verästelungen« (Will, 1988, S. 70 f.).
Ein gutes Beispiel hierfür bietet etwa das seinerzeit viel gelesene Buch »Mars« von Fritz Zorn (1987). Der Verfasser hieß eigentlich Fritz Angst, die Wahl des Pseudonyms spricht Bände. Die psychologische Deutung der eigenen Krebserkrankung wirkt wie der verzweifelte Versuch, angesichts der unauflöslichen Rätselfragen »Warum ich? Warum jetzt?« dem stummen Himmel doch noch eine Antwort abzuringen. Ganz offensichtlich ist der hektische Tanz rings um den Fetisch Gesundheit beseelt von einer Sehnsucht nach dem Schlichten. Der Verstand zieht, ich habe es geschildert, die Angst wie im Schlepptau hinter sich her. Er zeigt uns auch, dass die uns tragende, aber auch ängstigende Welt immer unübersichtlicher wird, die Bewältigung des Lebens immer problematischer; er lehrt uns, dass das Gemeinwesen immer weniger allgemeingültige Strukturen kennt, sondern sich in Substrukturen aufsplittert, in denen nur noch wenig Sicherheit zu finden ist. Es gibt kaum
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noch etwas, was alle Menschen gleichermaßen in Atem hält – allenfalls noch die Jagd nach Geld und die Hoffnung auf Gesundheit. Aber weil wir auf all das mit der Sehnsucht nach heilsamer Schlichtheit reagieren, werden zum Beispiel frühere Kulturen ob ihrer vermeintlichen Naturverbundenheit idealisiert, werden obskure »morphogenetische Felder« konstruiert, die uns bestätigen, dass der »siebte Sinn« wirklich existiert – die Hoffnung wächst, dass wir andernorts doch noch finden können, was uns die Wissenschaft, was uns die »Schulmedizin« nicht geben kann. Überdeutlich wird das an einem »Longseller« wie Jean Liedloffs Buch mit dem programmatischen Titel »Auf der Suche nach dem verlorenen Glück« (1984). Dieses wird von ihr bei den Indianern Südamerikas gefunden, deren Vertrautheit mit der Natur und dem eigenen Körper die Autorin staunen lässt. Leider übersieht Frau Liedloff, und mit ihr vermutlich die meisten Leser, jene kleine Unstimmigkeit, die sich darin offenbart, dass der Indianerhäuptling sie wegen ihrer von ihm hochgeschätzten chirurgischen Fähigkeiten nicht mehr nach Übersee zurückkehren lassen wollte. Seine Weltsicht kannte offenbar mehr Mängel und Widersprüche als die von der Autorin heiß ersehnte, ihm deshalb untergeschobene schlichte und beglückende Welt. Ich möchte den Gedankengang an dieser Stelle abbrechen, da er wohl kaum an Deutlichkeit gewinnt, wenn er noch weitergesponnen wird. Ich möchte aber noch – wie oben versprochen – auf die eine und einzige Stelle eingehen, in der Freud in seinem Aufsatz »Das Unbehagen in der Kultur« tatsächlich vom Unbehagen spricht. Dass dieser Text davon handelt, dass der Mensch aufgrund unabschaffbarer aggressiver Strebungen kulturfeindlich sei, ist allgemein bekannt. Freud betont am Ende seiner Ausführungen, dass es die Aggression und nur die Aggression sei, »die sich in Schuldgefühl umwandelt, indem sie unterdrückt und dem ÜberIch zugeschoben wird«. Der familiale Ursprung des Überich und des Schuldgefühls wird ausführlich und überzeugend behandelt, der kulturelle in meinen Augen nur sehr bedingt; hier muss Freud auf die »Urhorde« und die Tötung des »Ur-Vaters« zurückgreifen. Wie dem auch sei, jedenfalls steht für Freud fest,
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»daß auch das durch die Kultur erzeugte Schuldbewusstsein nicht als solches erkannt wird, zum großen Teil unbewusst bleibt oder als ein Unbehagen, eine Unzufriedenheit zum Vorschein kommt, für die man andere Motivierungen sucht« (S. 120). Ich will hier nicht auf das Problem des angeborenen Aggressionstriebes eingehen, möchte aber nicht verhehlen, dass ich diesbezüglich – wie übrigens sehr viele Ethologen – durchaus skeptisch bin. Aber unabhängig davon und selbst wenn wir die Existenz dieses Triebes als »Naturdatum« anerkennen, scheint es doch so zu sein, dass gerade das Ungenügen der Kultur in uns Unbehagen, ja Aggression und damit möglicherweise Schuldgefühl erzeugt. Das Ungenügen der Kultur nämlich, unser metaphysisches Bedürfnis zu befriedigen oder wenigstens zu lindern – das Ungenügen, ein halbwegs brauchbares Bollwerk gegen den Tod zu sein – das Ungenügen, uns hilfreich zu sein, wenn wir einen Sinn in unserem Leben suchen. Ein Einwand wäre an diese Stelle allerdings noch zu berücksichtigen – und gewiss würde Herr Professor Sigmund Freud ihn als erster vorbringen. Ich möchte ihm deshalb gerne das Wort erteilen. Ich stimme in vielem durchaus mit Ihnen überein, würde er vermutlich sagen, und der von Ihnen zitierte Satz Schopenhauers spricht mir, wie Sie wissen, ganz aus dem Herzen. Und dennoch ist da ein Punkt, worin ich Ihnen keineswegs beipflichten kann. Die Angst des Menschen in der Welt, man könnte vielleicht sogar sagen, vor der Welt, ist gewiss unzweifelhaft. Aber ich ziehe es vor, sie aus der infantilen Hilflosigkeit abzuleiten. Diese Hilflosigkeit oder, wenn man so will, auch Ohnmacht, ist ja auch die Quelle des ozeanischen Gefühls, dessen Existenz ich nicht bestreiten will, auch wenn ich es in mir selbst nicht zu verspüren vermag. Und ist der Wunsch nach Tröstung, ja nach Erlösung aus dieser misslichen Lage nicht der Ruf nach dem Schutz des Vaters? Das Gefühl der kindlichen Hilflosigkeit setzt sich aber nicht einfach fort, sondern wird – wie ich in der von Ihnen zitierten Schrift geschrieben habe – durch die Angst vor der Übermacht des Schicksals dauernd erhalten. Um ein Fazit zu ziehen: Sie haben vieles treffend beschrieben, aber dabei sind Sie Umwegen gefolgt, die nicht nötig sind, da ja ein direkter Weg zum Ziel vorhanden ist.
Wir weichen diesem Einwand – aber nicht ganz! Die kindliche Hilflosigkeit wird niemand bestreiten, allerdings auch nicht das
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tiefe Wohlbehagen, mit dem es sich abwechselt. Der kritische Punkt liegt in der von Freud nur ganz beiläufig formulierten Annahme, dass diese Ohnmacht durch die Angst vor der Übermacht des Schicksals »dauernd erhalten« werde. Dieser Satz erkennt ja an, dass die Angst vor der Übermacht des Schicksals eine eigenständige Größe ist. Unsere gefühlte Hilflosigkeit persistiert trotz aller Erlebnisse von »Selbstwirksamkeit« (nach Bandura, 1995), trotz aller Erfahrungen mit der »Handhabbarkeit« der Welt (im Sinne von Antonovsky, 1987). Sie überdauert, weil sie ständig neue Nahrung erhält. Und wie entsteht die Angst vor der Übermacht des Schicksals? Doch zu einem nicht geringen Teil, wenn nicht in der Hauptsache dadurch, dass unser antizipierendes Denken uns künftige Probleme und Niederlagen bis hin zum Tod anschaulich, ja begreiflich macht. Wir erkennen, dass wir nur ein Staubkorn im All sind und dass wir nicht wissen, wer auf der Bühne des Lebens Regie führt. Die Angst malt uns Schreckensbilder in einem kategorialen Rahmen, den der Verstand uns gezimmert hat. Dieser Rahmen ist der sogenannte »Weltbildapparat«, von dem die evolutionäre Erkenntnistheorie einiges zu berichten weiß. Mit dem, was uns dieser vom eigenen Verstand in Gang gesetzte »Weltbildapparat« erkennen lässt, müssen wir es ein Leben lang aushalten. Die Kultur kann uns dabei helfen – oder nicht. Sie kann unsere Angst vergrößern – oder nicht. Wächst die Angst, so wächst auch die Sehnsucht nach dem Schlichten, und die Stunde der »schrecklichen Vereinfacher« hat geschlagen. Wir können ihnen in die Regionen der Geistheilung, der Rückführungstherapie und der außersinnlichen Wahrnehmung folgen – oder aber es mit dem Philosophen Herbert Feigl halten, der einmal gesagt hat, es sei das Kennzeichen einer souveränen Persönlichkeit, mit einem unabgeschlossenen Weltbild leben zu können. Aber was wir auch tun – der Himmel bleibt stumm. Und, um den von Freud ebenfalls hochgeschätzten Heinrich Heine zu zitieren: Nur der Narr wartet auf Antwort. In Heines ein Vierteljahrhundert vor Schopenhauers Donnerworten entstandenen Gedicht aus dem Zyklus »Die Nordsee« wird ein junger Mann geschildert, der, »das Haupt voll Zweifel«, an der Küste steht und die Wellen befragt – und es heißt dort unter anderem:
Unübersichtlichkeit, Fragmentierung und Zerfall
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Sagt mir, was bedeutet der Mensch? Woher ist er kommen? Wo geht er hin? Wer wohnt dort droben auf goldenen Sternen? Es murmeln die Wogen ihr ewges Gemurmel, Es wehet der Wind, es fliehen die Wolken, Es blinken die Sterne, gleichgültig und kalt, und ein Narr wartet auf Antwort.
Literatur Antonovsky, A. (1987). Unraveling the mystery of health. (deutsch: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Hrsg. von A. Franke. Tübingen: dgvt-Verlag, 1997) Bandura, A. (Ed.) (1995). Self-efficacy in changing society. Cambridge: Cambridge University Press. Bertalanffy, L. v. (1949). Das biologische Weltbild. Bern: Huber. Blumenberg, H. (1986). Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Freud, S. (1930/1972). Das Unbehagen in der Kultur. Frankfurt a. M.: Fischer. Gross, P. (1994). Die Multioptionsgesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Habermas, J. (1985). Die Neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Heidegger, M. (1927). Sein und Zeit. Halle: Niemeyer. Heine, H. (1980). Die Nordsee (1825–1826). In: Werke, Bd. I. Frankfurt a. M.: Insel. Lorenz, K. (1941/1983). Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie. In K. Lorenz, F. Wuketits (Hrsg.). Die Evolution des Denkens. München: Piper. Liedloff, J. (1984). Auf der Suche nach dem verlorenen Glück. Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit. München: Beck TB. Musil, R. (1931/1932/1978). Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek: Rowohlt. Schopenhauer, A. (1853/1977). Ueber Religion, in: Parerga und Paralipomena. Werkausgabe in zehn Bänden. Band X. Zürich: Diogenes. Schulze, G. (1992). Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a. M. u. New York: Campus. Will, H. (1988). Fetisch Gesundheit. In H. Begemann und P. Voswinckel (Hrsg.), Identifikationen. Arzt und Patient unter Erfolgszwang (S. 53-72). München u. a.: Urban & Schwarzenberg. Zorn, F. (1987). Mars. München: Kindler Verlag.
II. Möglichkeiten und Probleme des Umgangs mit dem »Unbehagen in der Kultur« in therapeutischen und pädagogischen Kontexten
Annedore Hirblinger
Überich-Fixierung und Störung der Mentalisierungsfähigkeit Aspekte der Selbstentwicklung in der psychoanalytischen Therapie
Gesellschaft, Kultur und Leid Zum neuen Unbehagen in der Kultur nach Freud Einleitend sei an Freud erinnert, der das Erleben vitalster Gefühle wie Freude und Lust, Angst und Bedrohung, Ekel und Scham an menschliche Triebkräfte gebunden sah, deren ungezügelte Entfaltung das innere Gleichgewicht gefährden. Seiner Analyse nach reagiert das Individuum mit zunehmender Einsicht in seine destruktive Triebhaftigkeit in krisenhaften Situationen zumeist mit Schuldgefühlen, deren Ursprung die Angst vor der externen Autorität bzw. die Angst vor dem internalisierten Überich ist. Gesellschaftliche Sanktionen, Bestrafung und Triebverzicht werden somit zu Gehilfen und Garanten kultureller Entwicklung und Ordnung. Erst durch Internalisierung und Identifizierung mit gesellschaftlich geprägten Formen des Überich, die uns in sogenannten Kulturinstanzen begegnen, entsteht nach Freud die Möglichkeit, das Es in seiner zerstörerischen Kraft einzudämmen und das Ich zu stabilisieren. Im therapeutischen Prozess der Analyse wird das intrapsychische Spannungs- und Konflikterleben zwischen den Instanzen Ich, Überich und Es zum Fokus des Durcharbeitens. Im gesellschaftlichen Kontext erfolgt seit jeher durch Erziehung und Bildung die Vermittlung kulturell geprägter Regelund Normsysteme und somit die Durchsetzung von Moral- und Wertvorstellungen. Im Bildungskanon als Grundlage der Wissensaneignung spiegelt sich das gesellschaftlich sanktionierte Überich in unterschiedlichster Form.
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Die geschlossene patriarchalische Gesellschaftsordnung der Zwanzigerjahre ist heute nur noch in Randbereichen gesellschaftlicher Schichtung spürbar. Die gesellschaftlich-ökonomische Entwicklung hat sich beschleunigt und Zerfallsprozesse ausgelöst, die die Formen des gesellschaftlich sanktionierten Überich verändert haben. Bedeutsam erscheint Erlich (2006) die Veränderung, wenn nicht gar Auflösung traditioneller ÜberichStrukturen vor allem in der privaten Sphäre. Zum Angelpunkt des neuen Unbehagens wird für ihn jedoch der ungezügelte Einfluss des »Eros« hinsichtlich grandioser selbstgefälliger Überschätzung des Selbst (vgl. Erlich, 2006, S. 122). In diesem Zusammenhang spricht Bohleber von der Auflösung bisheriger identitätsleitender Orientierungsschemata, von der Singularisierung der Lebensformen und den fragmentarischen Selbstentwürfen des modularen Menschen (vgl. Bohleber, 2006, S. 794). Er konzediert der Psychoanalyse, wichtige Erkenntnisse z. B. über das »Zusammenwirken von unbewussten Phantasien, destruktiven Ideologien und malignem Narzissmus« (S. 794) gewonnen zu haben, vermeidet jedoch die kritische Analyse gesellschaftlicher Strukturen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf das Leiden und die neurotischen Verwicklungen des Individuums. Die Psychoanalyse hat seiner Ansicht nach vorrangig die »Zerlegung seelischer Phänomene und Strukturen und deren aus dem Unbewussten gespeisten Einbindungen in ein Netzwerk verschiedenartiger Bedeutungen aufzuzeigen« (S. 795). Inwieweit sich die Psychoanalyse gegen die Zeitläufe zum Anwalt eines Subjektverständnisses machen muss, damit der Einzelne sich weiterentwickeln und aus krank machenden Einengungen befreien kann, lässt Bohleber offen.
Gesellschaftspathologien und ihre Folgen – Überich-Fixierung und falsches Selbst Unter soziologischer Perspektive betrachtet erfolgte ab Mitte der 1970er Jahre ein Wandel der Struktur des Überich hin zur Ausbildung eines zunehmend rigideren, strafenden Überich, das Handlungsspielräume und individuelle Selbstentwicklung wei-
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testgehend begrenzt und einfrieren lässt. Folge ist die Perpetuierung einer roboterhaften Funktionalität des Menschen, der dem wirtschaftlichen Machtapparat unterworfen ist. Namhafte Autoren artikulieren diesbezüglich ihr Unbehagen hinsichtlich der Verflechtung gesellschaftlich-systemischer, kultureller Missstände und individuellen Leidens. Zunehmend von unerbittlicher Strenge geprägte ÜberichStrukturen ziehen im Berufs- und Leistungssektor erneut autoritäres Elternverhalten nach sich, das mit Resten patriarchalischer Erziehungsbilder und mit Forderungen nach Anpassung und Folgsamkeit verschmilzt. In diesem Zusammenhang ist HorstEberhard Richter zu nennen, einer der wenigen gesellschaftskritischen Analytiker. Nach Richter ist es das Ziel einer psychoanalytischen Kultur, von Psychologie und Psychoanalyse, die »destruktiven Wirkungen der Alleinherrschaft des Ökonomischen in allen Lebensbereichen« herauszuarbeiten, um es dem Patienten zu ermöglichen, die »eigene Standhaftigkeit gegen destruktive Selbstentfremdungen zu stärken« (Richter, 2000, S. 173). Aus dem Kreis der österreichischen Psychoanalytiker ist stellvertretend Caruso hervorzuheben, der in vielen Schriften die gesellschaftliche Verantwortung des Therapeuten bei der Aufdeckung manipulativer Mechanismen betonte. Seinem Dafürhalten nach sollte sich der Analytiker bei der therapeutischen Arbeit und Analyse maligner Überich-Orientierungen der eigenen persönlichen Motivierungen sowie »der Introjektion des sozialen Überichs« bewusst werden, um erneute Entfremdung abzuwenden (Caruso, 1972, S. 97). Inter- und Intrarollenkonflikte des Therapeuten hinsichtlich seines sozialen Standorts, seiner ethischen und politischen Einstellung werden nach wie vor in ihrer Bedeutung unterschätzt, werden bei der Arbeit mit Übertragung und Gegenübertragung kaum erwähnt. Pathogene gesellschaftliche Verhältnisse prägen jedoch die Emotions- und Affektregulierung, sind Ursachen für Mentalisierungsdefizite und Formen persönlicher und sozialer Desintegration. In diesem Zusammenhang muss gesehen werden, dass sich seit Freud die Formen der Selbstregulation der Ich-Funktionen
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und der Abwehrorganisation, die Qualität der Objektbeziehungen und die Überich-Strukturen wesentlich geändert haben. Dem gesellschaftlich sanktionierten rigiden Überich entspricht heute ein eher ausgefächertes internalisiertes Überich, das sich häufig bei archaischer Strenge und Selbstverurteilungstendenz über Jahre zu einer Überich-Fixierung hin entwickelt. Gegensätzlich dazu existieren Formen eines eher unzureichend ausgebildeten Überich (z. B. bei malignem Narzissmus). Diese Überich-Pathologien (vgl. Wöller, 2006, S. 81) sind Folge gesellschaftlicher Destruktions- und Deformationsprozesse, die – angesichts des Zerfalls familiär-bürgerlicher Strukturen – keine ausreichenden Bindungs- und Objektbeziehungserfahrungen zu den Primärobjekten mehr ermöglichen. Damit verkümmern angelegte Fähigkeiten zur Selbst- und Fremdwahrnehmung, Störungen im Bereich frühkindlicher Entwicklung und im Objektbeziehungserleben zeichnen sich ab, zugleich erfolgt eine Beeinträchtigung grundlegender Mentalisierungsprozesse. Aber »Mentalisieren ist ein integraler Bestandteil des Selbstgewahrseins und deshalb unverzichtbar für die Regulierung des Selbst einschließlich der Bewältigung starker Emotionen« (Fonagy, 2007, S. 14). Patienten, die an immensen Selbstwertkonflikten leiden, dient die Überich-Fixierung unbewusst zur Stabilisierung des schwachen Selbst und der narzisstischen Kompensation durch gesellschaftlich-berufliche Anerkennung.
Identifizierungsschicksale und Nachentwicklung in der Psychotherapie Konzeptualisierungsvielfalt und behandlungstechnische Modifizierungen Bedeutsame Konzeptualisierungen und Forschungsansätze, vor allem die der Objektbeziehungstheorien sowie der entwicklungsbezogenen Theorien der frühen Kindheit, prägen derzeit das behandlungstechnische Wissen. Aufgrund der Krankheitsbilder, der Häufigkeit von Frühstörungen, ist in vielen Fällen ein Wechsel
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klassisch-analytischen Vorgehens hin zu interaktionell-dynamischen, beziehungsanalytisch orientierten und imaginativen Techniken angesagt. Diese behandlungstechnischen Modifizierungen sind notwendig, um den Patienten in die Behandlung einzubinden, wobei neben der Stabilisierung die Nachentwicklung verlorengegangener und verschütteter Fähigkeiten vorrangiges Ziel ist (vgl. Rudolf, 2006, S. 165). Der therapeutische Prozess entfaltet sich auf spezifische einmalige Weise auf der Bühne intersubjektiven Geschehens, wobei das Containing, das haltende Tun des Therapeuten, der Boden »für nachholendes psychisches Wachstum, die Entwicklung der Fähigkeit der Symbolisierung und des Perspektivenwechsels« ist (Bergmann-Mausfeld, 2006, S. 260).
Vom Trieb zum Affekt und Gedanken zum Konzept der Mentalisierung Freuds Triebtheorie, reduziert auf die zwei zentralen Triebkräfte Libido und Aggression, wird heute durch umfassendere zeitadäquate Theorieansätze ergänzt. Nach Jaenicke ist nicht die rationale Bearbeitung infantiler Wünsche vordringlich, sondern angesichts der gesellschaftlich und individuellen Entfremdung erscheint es vorrangig, den Patienten bei der »Wiederbelebung seiner Fähigkeit sein subjektives Erleben als bedeutsam und wertvoll zu empfinden«, zu unterstützen (Jaenicke, 2006, S. 89). Nicht Einsicht und (Trieb-)Entsagung im Rahmen einer realitätsangepassten Kontrolle, sondern (Rück-)Gewinnung der Befähigung, sich subjektiv als geistigen und emotionalen Menschen wahrnehmen zu können, steht im Vordergrund analytischer und therapeutischer Theorie und Praxis. Im Rahmen einer Rekontextualisierung früherer zentraler Annahmen erfolgte »die basale Verlagerung – oder der Paradigmenwechsel – der Psychoanalyse vom Primat der Triebe zum Primat der Affekte, das heißt zum subjektiven emotionalen Erleben« (S. 90). Diese Überlegungen von Jaenicke, einem Vertreter der Intersubjektivitätstheorien, tragen zu grundsätzlichen Aspekten des Mentalisierungskonzepts bei.
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Ziel gelungener Mentalisierung des Kleinkindes ist die Entwicklung eines sicheren affektiven und intersubjektiven Selbst. Dieses umschließt eine ausbalancierte Emotions- und Affektregulierung, die Fähigkeit zur Selbst- und Objekt-Differenzierung und die Fähigkeit zur Empathie bei adäquatem Umgang mit Nähe und Distanz und letztendlich eine gelungene Ich-Integration bei Überwindung des falschen Selbst. Nach Bergmann-Mausfeld sind Mentalisierungsdefizite sowie negative therapeutische Reaktionen Begleiterscheinungen der »pathologischen Passung«, die als »zweckmäßige Reaktion auf früheste pathogene Beziehungserfahrungen« zu verstehen sind (Bergmann-Mausfeld, 2006, S. 265). Über Beziehungserfahrungen zwischen Therapeut und Patient werden diese Defizite erst aufgedeckt, mentalisierbar, wobei in entsprechenden Therapiephasen die Parameter des Settings behandlungstechnisch zu modifizieren sind. Defizitäre Bindungserfahrungen und Entwicklungsdefizite zeichnen sich im therapeutischen Prozess auf unterschiedlichen Ebenen des Geschehens ab. Die Selbstwertstörungen und die Selbstwertmängel des Patienten bebildern sich vorwiegend an der defizitären Entwicklung stabiler innerer Repräsentanzen und eines kohärenten Selbstgefühls sowie an einem inadäquaten Ausdruck von Affekten. Dies ist dahingehend zu verstehen, dass der Patient kaum in der Lage ist, eigene mentale Zustände und Gefühle überhaupt wahrzunehmen, zu klären und zu reflektieren. Im Rahmen des psychotherapeutischen Settings entsteht zwischen Patient und Therapeut ein interaktives Umfeld, das in Abstufungen Ähnlichkeiten mit dem fördernden Umfeld der frühen Kindheit hat. Neue emotionale Erfahrungen orientieren sich an den Vorgängen der Selbst- und Objektwahrnehmung, an Möglichkeiten der Selbststeuerung, an der reziproken Kommunikation im dyadischen Miteinander bei Berücksichtigung des affektiven Erlebens und der Entschlüsselung der Abwehrformen (vgl. Rudolf, 2006, S. 59).
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Phasenarbeit im therapeutischen Prozess Affektspiegelung und Selbstrepräsentanz Angesichts gesellschaftlichen Leistungsdrucks und der Notwendigkeit existenzsichernder Anpassung zeichnen sich die hier im Fokus stehenden Patienten durch eine strenge generationsübergreifende Überich-Orientierung aus, die den Sozialisationsprozess bestimmt. In Abhebung von progressiven Erziehungsstilen spielen in diesen Familien vor allem rein funktionale und zweckrationale Gesichtspunkte bei der Erziehung eine Rolle. Dies begünstigt, beim Fehlen kreativer Frei-Zeit-Räume, defizitäre Beziehungserfahrungen und eine zunehmende emotionale Instabilität aller Beteiligten. Kinder reagieren in solchermaßen eingeschränkten Entwicklungsräumen mit einer umfassenden Identifizierung mit den Eltern, die mit einer Unterordnung unter das Liebesobjekt im Sinne einer Identifikation mit dem Aggressor einhergeht. Unter bestimmten psychodynamischen Konstellationen verformt sich die anhaltende rigide Überich-Orientierung zu einer zwanghaften Überich-Fixierung. Diese Störung umschließt eine deutliche Affektarmut und damit einhergehend das Einfrieren libidinöser und aggressiver Triebregungen mittels der Abwehrmechanismen Verdrängung, Verleugnung und Isolierung bei wachsender Selbstentfremdung. Die Entleerung des Selbst steht oft in Verbindung mit umfassenden Objektbeziehungsstörungen, einer narzisstischen Konfliktproblematik in Verbund mit psychosomatischen Beschwerden wie Angst- und Panikstörungen. In Abhebung von der konfliktneurotischen Dynamik beinhalten strukturelle Störungen zu weiten Teilen die entfremdete Wahrnehmung der Objekte als zerstörerische, verfolgende Instanzen. Dies führt bei dem Betroffenen bei defizitärer Interaktion unter anderem zu diffusen emotionalen Überflutungen oder Entleerung und eigener destruktiver Beziehungsgestaltung (Rudolf, 2006, S. 51). Ein pathologisch angepasstes Verhalten äußert sich beispielsweise in starren, habituellen Harmonisierungstendenzen und Gutverhalten, versetzt mit Freundlichkeits-
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drill und eingeschliffenen Kommunikationsritualen, die ich-synton gelebt werden. Unter behandlungstechnischen Aspekten geht es in der therapeutischen Interaktion zunächst ausschließlich um die notwendige Affektentwicklung, das Entdecken bisher unbekannter Gefühle als eigene ernst zu nehmende Empfindungen bei anhaltendem Containing. Die Affektspiegelung in der therapeutischen Interaktion wird zu einem unverzichtbaren Erfahrungsmoment auf der Suche des Patienten nach seinem wahren Selbst. Wie die Mutter markiert der Therapeut indirekt, tastend und spielerisch die versteckten Gefühlsäußerungen, es entsteht im Beziehungsraum eine Als-ob-Qualität, die der Patient neugierig, oft verwundert auf sich selbst lernt zu beziehen. Im Vorgang der Entkoppelung von Affektwahrnehmung und Personenzuordnung kommt es im günstigen Fall zur referentiellen Verankerung der gespiegelten Affekte im Selbst (vgl. Fonagy u. Target, 2002, S. 855 ff.).
Zugänge zur äußeren Realität – Wahrnehmungs- und Objektdifferenzierung Ziel therapeutischen Tuns ist – im Prozess wachsender Wahrnehmungsdifferenzierung und Introspektionsfähigkeit – der Aufbau von Selbstrepräsentanzen in Abhebung von den Objekten und der äußeren Realität. Am Ende dieser Entwicklung verfügt das Subjekt über die mentale Kompetenz zur Selbst-ObjektTrennung. Auf dem Weg dorthin erprobt das Subjekt schrittweise neue Formen der Selbstbeobachtung und Selbststabilisierung. Dem spielerischen Perspektivenwechsel, das heißt der Beleuchtung inhaltlicher Szenen und von Handlungskonflikten im Alsob-Modus fällt dabei zentrale Bedeutung zu (vgl. Köhler, 2004). In diesem Zusammenhang sei erneut auf die zentrale Veränderung der Rolle des Therapeuten und seine Verantwortung hingewiesen, wie es bereits Fürstenau vor geraumer Zeit tat (Fürstenau, 1992). Der Therapeut ist nicht nur Übertragungsobjekt, sondern zugleich wechselweise teilhabender, antwortender Gesprächspart-
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ner im dialogischen Feld und reales Objekt, um dem Patienten neue Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten auf der interaktionellen Ebene zu eröffnen. Wöller spricht in diesem Zusammenhang von der Dringlichkeit klarifizierender therapeutischer Interventionen im interaktiven Fluss, um es dem Patienten zu ermöglichen, subjektive Realitäten konstruieren zu können. Zu denken ist hier beispielsweise an das Spielen mit Gedanken, an antwortende Mitteilungen und Einladungen zur Selbstreflexion sowie das Ansprechen eigener und erkannter Mentalisierungsdefizite, um ungünstige Gegenübertragungs- und Übertragungsreaktionen zu verhindern. Dies alles geschieht in Weiterführung des Gedankens von Winnicott zum »Übergangsraum« in einen »Spielraum«, den der Therapeut zur Verfügung stellt. Zu beachten ist das Vermeiden von Deutungen zugunsten spiegelnder Beschreibung und emotionaler Antworten, da die explizite Bewusstmachung des Unbewussten eine nachgeordnete Rolle spielt (vgl. Wöller, 2006, S. 335). Vor allem in der psychoanalytischen Traumatherapie, in der psychodynamisch-integrativen und strukturellen Therapie wird behandlungstechnisch heutzutage dermaßen verfahren. Noch einige Anmerkungen zu der hier angesprochenen Patientengruppe. Die therapeutische Arbeit mit Überich-fixierten Patienten erfordert eine andauernde Arbeit mit Abwehr und Widerstand, da diese oft keine Zusammenhänge zwischen ihrem Krankheitsbild und psychischen und gesellschaftlichen Verursachungen herstellen können. In der ersten Phase erscheint es dringlich, den Patienten »vor Ort« in seinem Alltagserleben abzuholen, seine Klagen im Rahmen der Realitätsprüfung genau zu beleuchten mit dem Ziel, festgeschriebene Einstellungen und Verhaltensweisen durch Hinterfragen aufzubrechen, sie dissynton zu machen. In Übereinstimmung mit Rudolf bin ich der Auffassung, dass der Patient zunächst in seinem »defizitären Selbstzustand«, in seiner Fehlhaltung und Störung verstanden werden muss, um das Vertrauen und damit das Arbeitsbündnis zu festigen (Rudolf, 2006). Bei der Auflösung von Überich-Fixierungen wird der Therapeut durch spielerischen Wechsel und das Anbieten
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von Identifizierungen, durch symbolisches Hineinschlüpfen in unterschiedliche Rollen mittels Übernahme triangulärer Sichtweisen zum Eckpfeiler neu sich herausbildender Wahrnehmungs- und wachsender Mentalisierungsfähigkeit.
Durch Traum- und Imagination zum symbolischen Denken und reflektierenden Modus Die Traumstrukturen der Patienten verändern sich unmerklich im Laufe des Behandlungsprozesses. Dies lässt sich vor allem an der Qualität des manifesten Trauminhalts, also an der Abfolge, Dichte sowie Differenziertheit und letztendlich an dem Symbolcharakter der Bildmaterialien festmachen. Beispielsweise beinhalten Angst- und Alpträume oft diffuse irreale szenische Abläufe, emotional hoch verdichtete Einzelbilder oder Bildsequenzen, die die fragmentierte und überwertige Wahrnehmung der Patienten im Äquivalenzmodus und ihre zerstörte Objektbeziehungsfähigkeit widerspiegeln. Die Überich-Fixierungen äußern sich vorwiegend in Form von überflutenden Ängsten, Versagen und Vernichtung, im Gefühl schmerzhaft fühlbarer Abhängigkeit von äußeren Objekten und von einem irrationalen Bedrohtsein durch innere Schuld. Schuldgefühle werden in diesem Stadium als Strafinstanzen erlebt, die autonome subjektive Gefühlsregungen im Selbst verunmöglichen. Im Verlauf eines wachsenden Verständnis des Patienten für sein Unbewusstes und bei zunehmend differenzierter Wahrnehmungsfähigkeit werden die manifesten Trauminhalte klarer und geordneter, es entstehen Handlungs- und affektive Spannungsbögen, die Aussagen zum latenten Sinn, also symbolisches Verstehen im Als-ob-Modus ermöglichen: Der Analytiker geht sequenzartig auf das Sehen, das Erleben, die Gefühle des Träumers ein, teilt mit ihm das Geschehen, bietet andere Perspektiven der Beobachtung und des Verstehens an. Er spürt und versteht während dieses Prozesses die Bedeutungsblockierungen des Träumenden, arbeitet an Widerstand und Abwehr. Langsam wird somit die Überwertigkeit des Denkens und Fühlens im Äquivalenzmodus – bei schrittweiser Heranführung an die Lö-
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sung konkreter Handlungskonflikte – durch das symbolische Verstehen einzelner Traumsequenzen aufgelöst. Das Verstehen des Geschehens im Als-ob-Modus wie auch später im Modus umfassender Reflexion impliziert die Verschränkung von Bewusstem und Unbewusstem im subjektiven Erfahrungsprozess mentaler Selbstkonstitution. Die Integration der Wahrnehmungsmodi ermöglicht eine neue Weise des Erlebens und zugleich einen adäquaten Zugang zur Realität. Hierzu noch einige Verdeutlichungen: Im manifesten Traum ist der Patient Gefühlen der Angst, der Ohnmacht, der Wut, der Begierde und der Liebe noch völlig ausgesetzt. Die Kunst des Durcharbeitens besteht darin, dem Patienten seine Gefühlsempfindungen als förderliche Erfahrungsquellen, als kreatives Potential bewusst zu machen. Gefühle können so – auf der Folie wachsender subjektiver Urteilskraft – zunehmend als Träger von Handlungsentscheidungen verstanden werden. Anders ausgedrückt: Träume werden in der Reverie zwischen Therapeut und Klient weitergeträumt, führen zu Probehandeln und Einstellungswandel bei zunehmender Selbststabilisierung und emotionaler Fülle.
Fallmaterialien – Überich-Fixierung und Mentalisierungsdefizite Formen pathologischer Überich-Bildung und Affekthemmung Im Folgenden werden Prozessphasen einer insgesamt vierjährigen psychoanalytischen Langzeittherapie als Fallmaterial herangezogen. Der hier beleuchtete Entwicklungsverlauf umfasst eine Spanne von ca. 26 Monaten nach Beginn. Zur Lebensgeschichte von Frau A. (mittleren Alters, zwei Kinder): Frau A. klagt nach ihrem Schlaganfall über zunehmende Versagungsund Zukunftsängste, innere Desorientierung und mangelndes Selbst-
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wertgefühl im Rahmen depressiver Reaktionen. Sie leidet seit Jahren an einer massiven Adipositas. Die Patientin wuchs als »Sandwichkind« zwischen einem älteren Bruder und einer jüngeren Schwester in einem kleinbürgerlichen Haushalt auf. Sie war der Erinnerung nach ein lebhaftes fröhliches Kind, der Mutter nach war sie immer schwierig und eigensinnig. Vor der Pubertät wurde sie von einem betrunkenen Nachbarn auf dem Dachboden unter Todesangst missbraucht. Danach wurde sie zunehmend ängstlicher und gehemmt, verlor ihre Spontaneität. Ihren Vater schildert sie als patriarchalischen Mann, dessen cholerische Anfälle sie aber nicht ängstigten. Das schlechte Verhältnis zu ihrer extrem dominanten Mutter umschloss ständige Abwertungen und Schuldbezichtigungen, Erpressungen waren die Regel. Durch Rückzug und Schweigens versuchte sie ihrer Mutter Einhalt zu gebieten. Nach Tod des Vaters führt die Mutter ein ausgesprochen extrovertiertes Leben.
Die Erstgespräche laufen bei höflichem Konversationsverhalten sehr glatt, in der Gegenübertragung kommt schnell die Neigung auf, ungeduldig den Redefluss unterbrechen und strukturieren zu wollen. Nach längerer Beobachtung zeigen sich Affektabwehr und Affektmangel in einer umfassenden Gefühlsarmut, im Einfrieren der inneren Regungen (»es bleibt mir alles im Hals stecken, es kommt einfach nichts raus ...«) und in einem maskenhaft wirkenden Wohlverhalten bei mimisch-gestischer Armut. Sozialer Rückzug und Isolation, affektive Erstarrung und übersteigerte Bindungsbedürfnisse an entweder »tote« materielle Objekte oder an Haustiere – als Möglichkeit narzisstischer Kompensation – sind generell Zeichen der Affektstörung im Umgang mit Menschen. Die Suche nach gesellschaftlicher Anerkennung ist – wie auch bei Frau A. – mit einem ausgeprägten Leistungsund Arbeitsverhalten und einem zwanghaften Perfektionismus verbunden, was bis an den Rand des körperlichen Zusammenbruchs führt. Frau A. lebte vierzehn Jahre aus finanziellen Gründen im Haus der sie ablehnenden Schwiegereltern unter stärksten psychischen Anspannungen. Sie arbeitete neben der Erziehung ihrer zwei Kinder als Krankenschwester im Nachtdienst. Zugleich baute sie in einem Zeitraum von drei Jahren zusammen mit ihrem Ehemann bei reiner Eigenleistung ein
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Haus, dieses bei knappster Freizeit oft bis Mitternacht. Diese jahrelange Überanstrengung und die maligne Adipositas führten zum Schlaganfall, der vier Jahre später Anlass der Therapie war. Nach Therapiebeginn bemühte sich die Patientin um eine Umschulung zur Kauffrau. Trotz Quereinstieg war sie schnell, ungeachtet ihres Alters, die Beste in der Klasse.
Von der Affektarmut zur Affektdifferenzierung Bei der Klärung von Belastungskonflikten fällt die Verschränkung von Überich-Fixierung mit dem unbewussten GrößenIch als Motor der Leistungsüberforderung auf. Die ständigen Schuldgrübeleien werden nur langsam nach erheblicher Widerstandsbearbeitung im Laufe der Rekonstruktion konflikthafter und traumatischer Erfahrungen als autoaggressiver Akt schleichender Zerstörung des Selbst verstanden. Der Unterschied zwischen »berechtigten« und »falschen«, das heißt neurotischen Schuldgefühlen wird nur mühsam herausdestilliert. Die Introjektion von Schuldgefühlen als malignem Geschehen ist Folge der unbewussten Identifikation mit dem Aggressor, die es in der Analyse zu durchbrechen gilt. In quälenden Angst- und Alpträumen – wie auch bei der hier vorgestellten Patientin – begegnen uns frühe Formen unkontrollierten Affekterlebens, die das Selbst bedrohen, entweder in der Rolle des Opfers oder auch partiell – bei aggressiven Triebdurchbrüchen – in der des Triebtäters, was sofort Anlass für immense Schuldgefühle ist. Durch einseitige Wahrnehmung werden Gefühle vorerst nur im Äquivalenzmodus überwertig zerstörerisch erlebt. In wiederkehrenden Alpträumen träumt Frau A. durch eine endlose Röhre in den Abgrund zu rutschen, ist völlig haltlos im Absturz, dem Versinken ausgesetzt, rote Lavaströme verfolgen sie nach einem Vulkanausbruch, sie wird von tosenden Wassern verschlungen, sie bleibt im Aufzug stecken, sie wird ständig von Hilflosigkeit, Ohnmacht, Panikangst überschüttet.
Meiner Erfahrung nach verändert der Therapeut im Interaktionsprozess unmerklich seine Haltung, wiederholt wechselt er aus
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der gleichschwebenden Beobachterposition hinüber in eine quasi komplementäre Spiegelhaltung. In dieser bietet er aufgrund eigener Gegenübertragung und in empathischer Identifikation dem Patienten noch unbekannte, verdrängte Gefühlsempfindungen an. Diese Gefühlsanstöße führen zu einer nachhaltigen Affektsensibilisierung, zu einer wachsenden Fähigkeit des Patienten, Gefühlsschwankungen und -überflutungen, z. B. die Angst vor Zerstörung, auszuhalten. Mittels Selbstbeobachtung und -kontrolle können so maligne Gefühle, die das Selbst bedrohen, als die der Person zugehörige Gefühle erkannt, zunehmend ausgehalten und in ein sich immer weiter auffächerndes Gefühlsspektrum integriert werden. Bereits das Erzählen und Reden über diese oft immensen Angstgefühle ermöglichen so auch Frau A. eine neue Wahrnehmung ihrer Person. Sie wird erstaunt gewahr, wie wenig eigene Gefühlsantworten sie ihren destruktiven Ängsten entgegensetzen kann. Zunehmend entwickelt sie in den Folgemonaten eine distanziertere Beobachterhaltung ihrer Affektarmut gegenüber, die nun dissynton erlebt wird. Alptraum von Frau A.: Ich habe vom gerichtsmedizinischen Institut geträumt [...] lauter Kühlkästen, da sollte ich hingehen und eine Leiche identifizieren, die die Polizei dort hingebracht hatte. Ich wollte es eigentlich nicht. Das Warten war ganz schlimm, ich bekam Atemnot [...] Ich stand lange an der Totenbahre, nach längerer Zeit wurde der Leichnam abgedeckt, es war aber niemand darunter. Ich habe dreimal dasselbe geträumt. Dann stand ich wieder an der Totenbahre, es ging darum den Toten aufzudecken [...] das Tuch war sehr glatt [...] dann lag ich da [...] aber ich sagte bei der Befragung, ich kenne diese Person nicht, diese Frau [...] das hat mich total erschüttert.
In der anschließenden Nachbesprechung erzählt die Patientin zunächst von real erlebten Beerdigungen – dann kommt eine erste Assoziation: »Ich glaube, ich sehe einen Teil von mir, der tot ist, den ich aber nicht sehen will, das erschüttert mich so ...« Die Patientin erkennt im Laufe des Durcharbeitens, wie schwer es ihr fällt, eigene tote Selbstanteile zu »identifizieren«, was sie eben lieber wie gewohnt verleugnen würde. Auf Nachfrage, wel-
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cher Teil von ihr denn abgestorben ist, tot ist, fällt ihr ein, dass sie böse und ärgerliche Gefühle hat, die sie nicht raus lässt, dass sie aber nun plötzlich spüren kann, wie unlebendig sie dadurch ist. Durch meine beständige Stützung wird es der Patientin im Prozessverlauf zunehmend möglich, Gefühle auseinanderzuhalten, zu ordnen, zu differenzieren, Gefühle der Angst, der Ohnmacht aber auch freundliche Gefühle an sich heranzulassen, die alle miteinander spezifisch verbunden sind, bisher verdrängt wurden. Aus eigener Selbstreflexion heraus versteht sie langsam im Prozess zunehmender Mentalisierungsfähigkeit, dass »böse« Gefühle einen Stellenwert haben, spezifische Bedeutungen im Gefühlserleben transportieren, die unverzichtbar und handlungsleitend sind. Immer wieder zeigt sich ihre Überich-Fixierung an andauernden Fragen nach den »richtigen« oder »falschen« Gefühlen, was die Internalisierung des reglementierenden und bestrafenden Überich deutlich macht. Erst allmählich bei wachsender Einsicht und Urteilsfähigkeit beginnt sie selbstkritisch innere Schuldkonflikte zu klären.
Selbst und Objekt Im nachfolgenden Traum wird der Übergang zum wachsenden symbolischen Verstehen deutlich: Ich stand vor Gericht, ich sollte sagen, dass mein Fuß nicht zu mir gehöre [...] dann wäre ich frei […] Ich überlegte lange, dann stand mein Entschluss fest. Mein Fuß gehört zu mir und das wird auch von mir vertreten, egal was passiert. (Die Patientin kommt nach weiteren Überlegungen zu der Einsicht): Ich muss lernen, zu mir zu stehen, mich zu akzeptieren, wie ich bin. Gefühle (im Traum gleichgesetzt mit »Standfestigkeit« oder mit »Standbein«) lassen sich nicht abschneiden.
Die Selbst-Objekt-Differenzierung gelingt umso nachhaltiger, je mehr die Patientin fähig wird, auf ihre eigene Identität und Urteilsfähigkeit zu vertrauen, vor allem im Einklang mit ihren Gefühlen, die sie lernt zu akzeptieren und zu leben.
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Ein Jahr später ist die Patientin in der Lage, das eigene »Böse« zuzulassen. Damit einher geht eine zunehmend differenziertere Wahrnehmung sozialer Rollenzuschreibungen, die Projektionen einschließen. Ganz langsam gelingt ihr im Prozess wachsender Mentalisierung die Trennung von Selbst und Objekt, damit eine Veränderung des internalisierten früher nur strafenden Überich. Der Hexentraum: Sie erlebt ihr »Bösesein« zunächst voller Schuld, die gesellschaftlich geahndet wird, sogar familiäre Objektliebe zerstört. Sie wird – am Pfahl angebunden – als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt, ihre Tochter zündet das Reisig an. Die Patientin reagiert zunächst voller Entsetzen, dann – nach weiterem Durcharbeiten des Schuldkomplexes – wird es ihr möglich, quasi durch Identifizierung mit der von ihr in der Phantasie weiter ausgestalteten Hexenfigur, in Ablösung von der Rolle der Nur-Bösen, »ihre« Hexe als Selbstbild in Farbe zu malen, über diesen bis dahin unbewussten Selbstanteil nachzusinnen. Die Patientin bringt – meine Anregung aufgreifend – ihre, wie sie sagt, »Hausaufgabe« in Form einer Hexenzeichnung mit, die wir über mehrere Stunden vielschichtig analysieren. Erst die Akzeptanz der eigenen dunklen Seiten, des Schattens, ermöglicht die Erneuerung des Selbst in Abgrenzung von äußeren Objekten und die Freisetzung der Affekte bei Zugewinn von Identität.
Die zunehmende Selbststabilisierung und der Zugewinn an Identität von Frau A. führen äußerlich zu einer wachsenden sozialen Rollenkompetenz. Vor allem in beruflich-sozialen Erfahrungsfeldern erprobt sie neue Verhaltensweisen der Abgrenzung – bei innerer Überwindung der oft heroischen Opferhaltung. Auch Familienkonflikte werden nicht mehr zugedeckt. Diese Entwicklung zeigt mir die allmähliche Lösung der Überich-Fixierung, ihre wachsende Fähigkeit der Selbst-Objekt-Differenzierung und die sich abzeichnende Überwindung des Abhängigkeits-Autonomie-Konflikts.
Traumarbeit, Mentalisierung und Affektintegration Stirb und Werde. Der symbolische Sinn dieser mottoartig verkürzten Aufforderung charakterisiert eine zentrale Phase der Selbstentwicklung von Frau A. zwischen Regression und Progression, zwischen Selbstaufgabe und Selbststärkung.
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Als Folge der perspektivenreichen Traumanalyse beginnt die Patientin zunehmend ihre Gefühle im Rahmen der Affektweitung als notwendige, selbstleitende Instrumente zu schätzen. Sie lernt bei wachsendem symbolischen Verstehen ihre Umwelt in der Perspektive des Als-ob-Modus wahrzunehmen, ihre Wahrnehmungsfähigkeit zu schärfen und korrespondierend zu antworten. Bei wachsender Introspektion ist sie jetzt in der Lage, zwischen Ich und Du – beim Oszillieren zwischen Selbst- und Objektrepräsentanzen – zu unterscheiden. Gefühle erscheinen nicht mehr als überreal, überwertig, verlieren ihren verfolgenden Charakter und im Traum erlebte Situationen werden in ihrer Relativität von ihr erkannt. Der therapeutische Raum wird auf diese Weise zum Übergangsraum der Erfahrung, ermöglicht das Erproben der Mentalisierungskompetenz. Selbstträume von Frau A. in einer Nacht. Traumfolge 1: Es kam ein Affe ins Schlafzimmer, der wollte mich erdrosseln, es war ein verkleideter Mann in einem Orang-Utan-Gewand, ich habe seinen Atem gespürt, seine Augen gesehen und wusste, der will mich ersticken, der hat mich umgebracht. Es war ein Mensch, wie ein Liliputaner [...] Ich wache auf in Panik, total nassgeschwitzt [...] Dieser Traum hat was mit Tod zu tun [...] Traumfolge 2: Im alten städtischen Friedhof waren Leichen ausgestellt. Ich lag im Sarg, war aber nicht tot, hatte wahnsinnige Angst, lebendig begraben zu werden, um mich herum Menschen die mich bereits beweinten, Kränze und Blumen streuten [...] Ich konnte mich nicht verständlich machen, dass ich noch lebe. Dann wurde der Sarg zugemacht und ich wusste, ich werde lebendig begraben, und hatte furchtbare Angst [...] Ich biete der Patientin zunächst in Form vorsichtiger Deutung meine Assoziation zu dem Affentraum an, teile ihr meine Erinnerung mit, dass sie mir vor zwei Jahren in Bezug auf den sexuellen Missbrauch wörtlich erzählte, wie sie den Atem des Täters spürte [...] Die Patientin nimmt diesen Hinweis ruhig entgegen. Ich habe in der Gegenübertragung das Gefühl, dass nunmehr traumatisches (Erinnerungs-)Material neu geordnet und als psychische Erfahrung gespeichert wird und dann in biographische Vergangenheitsräume zurücksinken kann, ohne weiter zu beunruhigen. Sie äußert ihr Erstaunen, dass scheinbar solche Angstgefühle, zu sterben und lebendig begraben zu werden, für sie nicht mehr so etwas Erschreckendes haben, dass sie im Wachbewusstsein nicht
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mehr darunter leiden müsse. »Mir geht’s so gut wie seit Jahren nicht mehr, ich habe das Gefühl, ich lebe.« In Anlehnung an den Beerdigungstraum resümiert sie in einer Folgestunde: Ich will nicht lebendig begraben werden, ich muss etwas dafür tun, dass die Leute mich als lebendige Frau mit eigener Persönlichkeit wahrnehmen. Sie erinnert sich dann an die Kristallkugel »ihrer Hexe«, an ihr Hexenbild. Nach jeder Sitzung würde sie zukünftig – sozusagen symbolisch – diese Kugel befragen und sich Rat holen um herauszufinden, was für ihr (Er-)Leben wichtig sei.
In dieser Phase wird offensichtlich, wie die Patientin mit ihren Träumen im Als-ob-Modus arbeitet, sie traumatisches Geschehen überwindet und Alltagserfahrungen bei zunehmender Mentalisierungsfähigkeit zu neuen Erkenntnissen verwebt, wachsende Selbststärke und Affektintegration sind dabei unübersehbar. Ein existentieller Traum – sechs Wochen später: Ich sterbe und habe mich selber im Arm und sage, »alles wird gut« – und dann sterbe ich wohl. Ich sehe mich selber und habe mich selbst im Arm, ich sehe wie ich meinen Kopf streichele [...] Ich bin als Therapeutin in der Gegenübertragung sehr berührt und teile dieses der Patientin mit. Im Gespräch kommen wir zu einem gemeinsamen Verstehen des Traums: Ein kräftiger und liebevoller Selbstanteil von ihr lebt, hält sie lebendig, ermöglicht Trauer und Fürsorge um die früher Gewesene.
In den Folgewochen ist es offensichtlich, dass Frau A. zunehmend ihren eigenen Willen entfaltet und persönliche Vorstellungen umsetzt, ihren Lebensalltag strukturiert. Sie beginnt erstmalig, sich mit ihrem Ehemann auseinanderzusetzen, und trennt sich innerlich von ihrer Mutter. Öfter wiederholt sie mir gegenüber, dass sie sich zukünftig weder von Worten noch Drohungen und Zumutungen der Mutter einschüchtern lassen wird, sie sich auch nicht mehr verteidigen muss. Sie löst unter der Perspektive der Abwehr gesehen die Identifikation mit dem Aggressor auf.
Selbst und Überich in der Balance Parallel zur Selbstentwicklung findet bereits in den ersten zwei Jahren eine Veränderung der Überich-Orientierung statt. Das rigide, krank machende Überich mutiert sozusagen dank der neu
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sich entwickelnden Selbstkräfte zu einem normal strengen, freundlichen Überich als innerer haltender Instanz, die die Einhaltung von Normen und Werten ermöglicht, ohne den eigenen Selbstkern zu zerstören. Die frühere Fixierung, gebunden an äußere unterdrückende Objekte, an Prozesse von Über- und Unterordnung, verliert sich. Die Patientin lernt zunehmend Ambivalenzen abzuwägen und herzustellen – im Spannungsfeld inneren Erlebens zwischen Überich und Es, zwischen Ich und Du. Zugleich fällt die neue ganzheitliche Selbstwahrnehmung in Bezug auf die Integration von psychischem und körperlichem Erleben auf. Frau A. spaltet im Verlauf zunehmender Mentalisierungsfähigkeit ihren Körper nicht länger als fremdes Objekt ab, sondern stellt zu ihm eine gefühlshafte Ich-Du-Beziehung her. Wie im Traum oben angedeutet lebt sie nun bewusster in ihrem Körper, akzeptiert und pflegt ihn und lernt, über körperliches Erleben und Vorgänge zu sprechen. Mentalisierungsfähigkeit und Urteilskraft als Kennzeichen eines sicheren Selbst werden durch die Konstitution des Körperselbst ergänzt.
Schlussgedanke Erwähnen möchte ich, wie nachhaltig sich die atmosphärische Gestaltung der Arbeitsbeziehung und des therapeutischen Dialogs auf das emotional-affektive Lernen und die Mentalisierungsfähigkeit auswirkt. Verzerrte Wahrnehmungen der Patienten oder Missverständnisse als Folge projektiver Identifikation können die gleichschwebende Aufmerksamkeit z. B. durch Aufkeimen von Ärger und auch Überich-Inventionen durchaus beeinträchtigen. Meine Erfahrung zeigt, dass beidseitige Irritationen durch eine authentische Nachbearbeitung der kommunikativen Störung bei Einbezug des Übertragungsgeschehens behoben werden können. Durch die Mentalisierung der Gefühle auf beiden Seiten und affektive Auseinandersetzung im Beziehungsdialog wurde ich für die Patientin zu einem erlebbaren anderen Objekt. Die Analyse der Gegenübertragung ermöglicht das Erkennen eigener Tendenzen zu einer strafenden Überich-
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Haltung, z. B. in Form des Rückzugs durch längeres Schweigen oder dominanter Reglementierungen. Rückblickend wird damit erneut an die Bedeutsamkeit der einleitend beschriebenen Zusammenhänge hinsichtlich der professionellen, sozialen und ethischen Verantwortung des Psychoanalytikers, der selbst gesellschaftliches Subjekt ist, erinnert.
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Heiner Hirblinger
Überich-Fixierung und Störung der Mentalisierungsfähigkeit in pädagogischen Praxisfeldern Aspekte einer Entwicklung des Selbst im Unterricht und in der Lehrerbildung – Fallbeispiele und Analysen
»Wir haben die These vertreten, dass die Mentalisierung normalerweise dann auftaucht, wenn das Kind die Erfahrung macht, dass seine mentalen Zustände reflektiert werden« (Fonagy et al., 2004, S. 65).
Aspekte des »Unbehagens in der Kultur« und das Konzept der »Mentalisierung« Ferro (2003) bringt mit dem Bild vom »Ei und vom Küken« das Problem der Deutung psychischer Wirklichkeit, um das es in unserem Zusammenhang geht, auf den Punkt. Wenn ein Wissenschaftler ein Ei aufschneidet, um zu sehen, was drinnen ist, wird das Küken nicht mehr ausschlüpfen können. – Wenn ein Therapeut oder Lehrer durch Deutungen und rationale Erklärungen die Affekte eines Kindes »zerschneidet«, können sie sich nicht mehr weiterentwickeln. Es geht hier um grundlegende Einstellungen in professionellen Handlungsfeldern, die eben nicht durch Zerschneiden, sondern durch Verstehen und Einfühlung wirksam werden sollen: Dies wird nicht durch Deutungen erreicht, sondern vielmehr, indem wir helfen, die Bedingungen für eine neue und fruchtbarere mentale Begegnung zu schaffen, und einen neuen mentalen Apparat anbieten, der das, was das Küken zum Wachsen braucht, zur Verfügung stellt und
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eine emotionale Realisierung [...] ermöglicht, die zuvor unbekannt war und nicht gedacht werden konnte (Ferro, 2003, S. 182 f.).
Es liegt auf der Hand, dass das Konzept des »bipersonalen Feldes« (Ferro, 2003) und das von »Mentalisierungsprozessen« (Fonagy, Gergely, Jurist, Target, 2004) für alle Bereiche schulischen Lernens ein völlig neues Verständnis erschließen. Pädagogen haben es immer mit Situationen zu tun, in denen Lern- und Bildungsprozesse stattfinden. Sie agieren und reflektieren dabei in bipersonalen und multipersonalen Feldern, die nicht beforscht, sondern entwickelt werden sollen. Die Beobachtungserfahrung und die Haltung des Beobachters sind in dieser Szene immer ein integraler Bestandteil des Mentalisierungsprozesses, um den es geht. Dieses notwendige, empathische Eintauchen der Lehrer in die Situation und das vorgängige Erleben in einem affektiven Relationskontext wird dabei jedoch zur Zeit noch durch eine scheinbar schicksalhafte Überich-Kultur in den Schulen erheblich beeinträchtigt. Mitscherlich (1963/1989) sprach diesbezüglich von »Rollenverhaftung«, Trescher (1993) von »Übertragungsidentifizierung«; ich selbst habe den Nachweis zu liefern versucht, dass der »Gegenübertragungshabitus« (Hirblinger, 1990) im Unterricht, also eine Form der professionell bedingten Überich-Fixierung, ein wichtiges Hindernis für Mentalisierungsprozesse in unterrichtlichen Beziehungsfeldern darstellt. Mentalisierung und Überich-Fixierung stellen in dieser Konzeptualisierung ein polares Gegensatzpaar dar, in dem zwei getrennte »Regelkreise« im professionellen Handeln wirksam werden: Im Mittelpunkt des Konzepts der Mentalisierung steht dabei das Anliegen, auch im schulischen Unterricht durch die Bildung von mentalen Repräsentanzen die Affektregulierung und Reflexionsfunktion der Schüler und Lehrer weiterzuentwickeln. Das Konzept der Überich-Fixierung geht hingegen in professionellen Rollenkontexten der Frage nach, wie durch Verinnerlichung von gesellschaftlichen Normen oder durch Überanpassung an Systemimperative Prozesse der Mentalisierung strukturell und dauerhaft verhindert oder blockiert werden.
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Überich-Fixierung ersetzt dort, wo sie sich nicht auflösen kann, echte Mentalisierung durch systemisch begründete Anwendungsmentalität. Der Als-ob-Modus der Mentalisierung und die spielerische Erfahrungsverarbeitung werden dann durch Orientierung an vorgegebenen Standards verhindert. Entsprechend erfolgt auch die Affektregulierung in solchen Lernprozessen nicht mehr im Rahmen einer von personalem Erleben getragenen Beziehung, sondern im Wege der Durchsetzung von ritualisierten Rollenbeziehungen. Nicht die zunehmende Verinnerlichung von Aggression durch Triebverzicht und Sublimierung bereitet also, wie Freud (1930) noch angenommen hat, in der Schule »Unbehagen«, sondern die zunehmende Externalisierung und Ent-Sublimierung durch Einbindung des Ich in systemische Imperative ist das eigentliche Problem der modernen Bildungsinstitutionen. Mit der Zunahme ungelöster Konflikte in systemischen Handlungsfeldern verbunden ist dabei die Zerstörung der kreativen Dispositionen aller Beteiligten. Man könnte auch von einer systemisch bedingten De-Mentalisierung in Bildungsprozessen der Schule sprechen.
Mentalisierung und Überich-Fixierung als Konzept In ihrem Buch über »Affektregulierung, Mentalisierung und Entwicklung des Selbst« (Fonagy et al., 2004) stellen die Autoren das Konzept der Mentalisierung im Kontext einer »Philosophie des Geistes« (S. 10) und der »Bindungstheorie« (S. 10) dar. Durch den Nachweis, dass Bindungserfahrungen einen ganz wesentlich prägenden Einfluss auf die Entwicklung des mentalen Repräsentanzensystems haben, wird das komplexe Zusammenspiel von Kognition und Affekt besser verständlich: Als »Mentalisierung« [...] bezeichnen wir den Prozess, durch den wir erkennen, dass unser Geist unsere Wahrnehmung vermittelt. Mentalisierung hängt unauflöslich mit der Entwicklung des Selbst zusammen, mit seiner zunehmend differenzierteren inneren Organisation und seiner Teilnahme an der menschlichen Gesellschaft, einem Netzwerk von
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Beziehungen zu anderen, die diese einzigartige Fähigkeit ebenfalls besitzen. Mit dem Begriff »Reflexionsfunktion« bezeichnen wir unsere Operationalisierung der mentalen Fähigkeiten, die das Mentalisieren erzeugen (Fonagy et al., 2004, 10 f.).
Eines der wichtigsten Resultate gelungener Mentalisierung besteht dann darin, Affektzustände in Beziehungen zu regulieren, um dadurch dem Subjekt in Situationen der Betroffenheit die Rolle eines reflektierenden Akteurs zu ermöglichen. Das Konzept der Mentalisierung ist nun nicht nur sehr komplex, sondern auch – wie die Autoren immer wieder betonen – nach vielen Seiten hin offen und ergänzungsbedürftig. In plakativer Vereinfachung lassen sich jedoch in Anlehnung an Wöller (2006) folgende Merkmale des Mentalisierungsprozesses benennen: Unter Mentalisierung verstehen wir die Fähigkeit,
über eigene und fremde mentale Zustände nachzudenken, ohne dass diese unmittelbar mit Handlungen verbunden sein müssen;
sich selbst und wichtige Bezugspersonen als durch Bedürfnisse und
Wünsche motiviert und durch Erwartungen und Überzeugungen beeinflusst wahrzunehmen; Hypothesen über mentale Zustände oder Motive anderer Personen zu bilden und die Affekte anderer zu entschlüsseln; sich empathisch in die Affektwelt anderer Menschen hineinzuversetzen und die Welt aus deren Perspektive zu betrachten (Empathie); die erlebten Affekte zum psychischen und körperlichen Selbstverständnis zu nutzen (affektives Selbstverständnis) und die erlebten Affekte zum Situationsverständnis zu nutzen (S. 76).
Die Autoren des Mentalisierungskonzepts gehen dabei davon aus, dass »das internalisierte Bild der Bezugsperson, die das innere Erleben des Säuglings widerspiegelt« vom Kind als Organisator der eigenen emotionalen Erfahrungen verinnerlicht wird (Fonagy et al., 2004, S. 15). Die Emotionen des Säuglings und die Äußerungen der Mutter werden durch einen »Kontingenzentdeckungsmechanismus« (S. 16) verknüpft. Dadurch wird die Wahrnehmung des Selbst und des Anderen als Akteur und Urheber differenter mentaler Zustände erst geschaffen. Eine Kontrolle der eigenen Affekte über »symbolische Regulierung« (Dornes, 2004, S. 185) wird so erst möglich.
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Werden Kontingenzerfahrungen im Modus der Als-ob-Haltung verinnerlicht, also durch »Markierungen« und durch »Containment« der spiegelnden Bezugsperson, so gewinnt das Ich zugleich eine spielerische Freiheit im Umgang mit den eigenen Affekten und kann diese im Zuge weiterer Entwicklung ins Selbsterleben integrieren. Eine Rückspiegelung von Gefühlen im Modus der Gleichsetzung (also ohne Verstehen und Empathie) erzeugt hingegen im Säugling Stress. Wenn der Säugling sich in der Mutter nicht finden kann und stattdessen immer nur »die Mutter findet« (Fonagy et al., 2004, S. 19), wird er gezwungen, ein »fremdes Selbst« aufzubauen. Die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit im Menschen setzt früh ein, und es ist davon auszugehen, dass die wichtigsten Strukturbildungen bereits im dyadischen und bipersonalen Feld der Primärbeziehung entstehen. Die Als-ob-Qualität der psychischen Wahrnehmung wird also bereits hier durch Spielen und spielerische Verarbeitungsmodi in Ansätzen zu einer symbolischen Struktur des Erlebens, die dann später durch Triangulierung und Spracherwerb weiterentwickelt werden kann. Für die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit später, also zum Beispiel im schulischen Unterricht, spielen dann drei Effekte des Settings eine essentielle Rolle: die Spiegelung der Affekte durch die Bezugsperson gelingt auch jetzt nur im Rahmen von Empathie und Containing; der spielerische Umgang mit emotionalen Erfahrungen in einem potentiellen Raum muss erneut möglich sein; die Anregung des Lehrers, die innere Bilder, die Träume, die szenischen Konfigurationen der Schüler durch Sprache nachzubilden, zu ergänzen und weiterzuentwickeln, setzt frühere Stufen der Symbolbildung und der Selbstregulation bereits voraus. Spontaneität und Rezeptivität müssen dabei auch in späteren Phasen der Entwicklung immer im Gleichgewicht bleiben können, damit sich die Mentalisierungsfähigkeit weiterentwickeln kann.
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Fallanalysen: Mentalisierung und Überich-Fixierung in der Schule Es sind nun insbesondere zwei Aspekte des Mentalisierungskonzepts, die wesentliche Zusammenhänge auch für das Verständnis von Lernen im Unterricht erschließen können: (1) Die empathische Als-ob-Haltung des Lehrers im Unterricht ist eine wesentliche Voraussetzung für die Bildung eines »Kontingenzentdeckungsmechanismus« auch in schulischen Bildungsprozessen. (2) Die Dynamik des fremden Selbst in systemischen Handlungskontexten, die Frage also, wie Lehrer mit ihren eigenen fremden Selbstanteilen in belastenden Situationen umgehen, fördert oder blockiert das Lernen. Ich möchte die beiden Aspekte zunächst an der Situation des Lehrers in der Schule erläutern: Die Als-ob-Haltung des Pädagogen ist in Prozessen der Mentalisierung im Unterricht eine unverzichtbare Voraussetzung für die Schaffung von Dispositionen, die Entwicklung fördern. Schüler können ihre emotionalen Erfahrungen in Schule und Unterricht nur dann konstruktiv bewältigen, wenn Lehrer über die Fähigkeit der Markierung und des Containments im pädagogischen Beziehungsfeld des Unterrichts verfügen. Schon in den frühesten Stadien der Entwicklung wird die Rückspiegelung vom Kind nur dann verinnerlicht, wenn die Mutter deutlich macht, dass sie dem Säugling etwas vorspielt. Die Weiterentwicklung der psychischen Repräsentanzenwelt im Unterricht ist daher auf ähnliche Situationsmerkmale angewiesen. Jede direkte affektive Gegenaktion von Pädagogen, jedes verständnislose und unempathische Feedback wirkt verwirrend oder sogar traumatisierend. Fonagy et al. (2004) gehen davon aus, dass der Gleichsetzungsmodus Stress erzeugt; nur die Als-ob-Haltung fördert Affektregulierung und emotionale Entwicklung (S. 17). Fonagy et al. gehen zudem davon aus, dass jeder Mensch zeitlebens auch Anteile eines fremden Selbst verarbeiten muss, also affektive Komplexe, die durch Mentalisierung noch nicht gebunden und integriert sind.
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Die Probleme, die sich mit dem fremden Selbst in systemischen Handlungskontexten ergeben, lassen sich dann in drei Bereichen etwas genauer benennen: (1) Es entsteht eine ständige innere Bereitschaft, sich durch projektive Identifizierung von diesem fremden Selbst wieder zu befreien (S. 52); (2) durch Identifizierung mit dem Aggressor soll in der Regel der Schmerz in Kontrolle gehalten werden; (3) erst unter dem Einfluss von Supervision ließen sich dann die Lücken im Selbst und im Selbstnarrativ wieder schließen. In systemischen Handlungskontexten führt die Tendenz zur »projektiven Identifizierung« in der Regel nicht zu wechselseitiger Empathie und zum Containing, sondern zu erheblichem affektivem Stress und zur Delegation von unerträglichen Affekten. Bezogen auf das Problem der Überich-Fixierung könnte man sagen: Die Neigung zur Identifikation mit dem Aggressor dient in der Schule der Abwehr von Schmerz und wird durch das »Abwehrbündnis« (Trescher, 1993, S. 191) mit der Institution eher stabilisiert. Die Übertragungsidentifizierungen führen dann im Unterricht zu einer Kampf- und Fluchtkultur, die durch die Zweckrationalität des Systems scheinbar gerechtfertigt erscheint – bezogen auf Mentalisierungsprozesse aber kontraproduktive Effekte erzeugt. Die Bildung von Selbstnarrativen, welche die Lücken schließen könnten, wäre hingegen auf eine »bipersonale Wahrnehmungskompetenz« der Lehrer und auf »Containing« angewiesen. Die Narration, also die Fallbesprechung, spielt bisher jedoch in der Ausbildung von Lehrern keine wesentliche Rolle.
Der Unterricht Die Förderung von Mentalisierungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen in schulischen Lernfeldern ist mit Blick auf diese Voraussetzungen sicher keine einfache Aufgabe. Gleichwohl setzen sich staatliche Schulen dieses hohe Ziel, wenn sie etwa davon sprechen, dass die Schule nicht nur »Wissen und Können vermitteln«, sondern auch »Herz und Charakter bilden« soll.1 1 Vgl. Art. 131 der Verfassung des Freistaates Bayern.
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Die Förderung von Mentalisierungsfähigkeit ist dabei – wie eben dargestellt – von der affektiven-interaktionellen Qualität des sogenannten »pädagogischen Bezugs« abhängig, also von der professionell erworbenen und methodisch verfügbaren Fähigkeit des Lehrers zur Empathie, Spiegelung und zum Affektcontaining. Sie setzt zudem eine metasprachliche Kompetenz voraus. Es geht nicht zuletzt um die Fähigkeit des Lehrers, im pädagogischen Relationskontext des Unterrichts erneut einen intermediären Raum entstehen zu lassen, der es Schülern ermöglicht, hinter bestimmten Verhaltensweisen auch seelische Zustände zu vermuten, um über die vermuteten psychischen Zustände im reflektierenden Modus dann zu sprechen, um diese zu verstehen. Ich betrete den Klassenraum einer 6. Klasse unmittelbar im Anschluss an die vorhergehende Stunde. Es bildet sich sofort eine Traube von Schülern um mich herum, die mit den unterschiedlichsten Motiven einen persönlichen Kontakt herstellen wollen: »Ich habe mein Heft vergessen«, »ich habe mein Buch vergessen«, »ich muss noch schnell auf die Toilette«, »mein Federmäppchen ist verschwunden«, »kann ich mein Brot noch fertig essen« ... Ich erlaube den Toilettengang und fordere die anderen energisch auf, sich nun auf ihre Plätze zu begeben. – Nun stehen alle schweigend auf, obwohl ich seit mehreren Wochen wiederhole, dass ich dieses kollektive Begrüßungsritual zu Beginn des Unterrichts eigentlich nicht wünsche. Die Schüler bleiben abwartend stehen und eine betretene, ängstliche Ruhe breitet sich aus. – Ich erkläre noch einmal, dass ich diese Form der Begrüßung nicht wünsche, und nun setzen sich alle hin. In der so beginnenden Unterrichtsstunde zeigt sich dann rasch, dass sich unter den Schülern nur eine sehr schwache Konzentration einstellen kann und die Aufmerksamkeitsspannung ständig wieder zerfällt.
Dem analytischen Blick entgehen in dieser knappen, aber sehr typischen Inszenierung nicht die konfusen Tendenzen, das heißt irritierende Äußerungen jenseits eines zu erwartenden idealtypischen Rollenschemas. (1) Die Schüler versuchen zunächst eine dyadische Intimität in der Beziehung zum Lehrer herzustellen; (2) die Schüler identifizieren sich dann völlig mechanisch mit einem schulischen Überich-Ritual; (3) die affektive Regulierung in der Klasse zeigt schließlich eine große Unsicherheit der Schü-
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ler und die Aufmerksamkeit zerfällt bereits wieder bei einfachen Anforderungen an die Konzentrationsfähigkeit. Die Mentalisierungsfähigkeit der Schüler kann in dieser Situation und Konstellation nur dann optimal gefördert werden, wenn auch der Lehrer im Gegenzug seine eigene Übertragungsneigung und die situationsabhängige Gegenübertragung kennt und entsprechend handhaben kann. Man könnte auch sagen: Die blinden Flecken in der Selbstwahrnehmung des Lehrers bilden die Grenze seiner Fähigkeit, Mentalisierungsprozesse bei Schülern anzuregen. Seine Fach-, Sozial- und Methodenkompetenz muss in dieser differenzierten Wahrnehmung des Selbst letztlich verankert bleiben, um konstruktiv im Unterricht wirken zu können. Die Effekte der Eigenübertragung und die damit assoziierten Gegenübertragungswiderstände führen dann zu sich wiederholenden Konfliktsituationen im Unterricht, in welchen die pädagogische Wahrnehmung des Lehrers durch Gleichsetzung immer wieder verzerrt wird. Das folgende Fallbeispiel eines Referendars aus dem 2. Ausbildungsabschnitt zeigt, wie sich solche »blinden Flecken« im Lehrerhabitus auf die gruppendynamischen Prozesse in Schulklassen auswirken. Dabei ist die auf den Schüler selbst gerichtete Bewusstheit (objektbezogen) von der auf das eigene professionelle Selbst gerichtete Introspektion zu unterscheiden. Hierzu das Protokoll eines Referendars zum Arbeitsauftrag des Seminarlehrers »Mit dem Konflikt arbeiten … «: Di. 09. 01. – Während einer Gruppenarbeitsphase in einer sechsten Klasse im Fach Deutsch entstand der Konflikt, ob ein Schüler – ein Außenseiter der Klasse – in der ihm zugewiesenen Gruppe mitarbeiten dürfe oder nicht besser einer anderen Gruppe zugeteilt werde. Die übrigen Mitglieder der betroffenen Gruppe waren einstimmig der Meinung, dass die Ergebnisse ihrer Arbeit im Vergleich mit den anderen Gruppen deutlich schlechter ausfallen würden, wenn dieser Schüler in ihrer Gruppe bliebe. Ihrer Meinung nach störe er ständig, bringe nur unbrauchbare Vorschläge ein und versuche unentwegt, die anderen Gruppenmitglieder abzulenken.
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All diese Kritik wurde wohlgemerkt noch vor Beginn der Arbeitsphase, direkt nach der Bekanntgabe der Teilnehmer der jeweiligen Gruppe laut. Der Schüler selbst reagierte wortlos, grinsend. Er gehört zu den unauffälligen und nicht besonders leistungsstarken Schülern. Er unternahm keinen Versuch, sich zu wehren oder seinen Standpunkt deutlich zu machen. Er sagte nur, dass die anderen Gruppen ihn auch nicht mögen und er in dieser Gruppe bleiben wolle. Ich war zuerst zugegebenermaßen etwas erstaunt, dass sich die Gruppe so vehement gegen diesen Schüler wehrte und ihm ganz offensichtlich keine Chance geben wollte. Ich versuchte der Gruppe vorzuschlagen, dass sie für diese Stunde den Mitschüler in ihrer Runde aufnehmen möchten, was auf Widerwillen und teilweise auch Resignation stieß. Manche Schüler wollten jedoch noch nicht aufgeben und begannen flehentlich zu bitten, dass ich ihnen das nicht antun wolle. Ich vermutete einige Theatralik seitens der Schüler hinter diesem Verhalten und war in diesem Moment über die Schauspielkünste in dieser Altersstufe erstaunt. Nach dem Versprechen, dass ich ein besonderes Augenmerk auf diese Gruppe und auch auf den betreffenden Schüler haben werde und auch gegebenenfalls eingreifen werde, konnte die Arbeitsphase schließlich beginnen. Bereits nach wenigen Minuten wurde ein Eingreifen tatsächlich notwendig, da der Schüler seine Mitschüler offenbar mit unsinnigen Bemerkungen von ihrer Arbeit ablenkte, so dass sie sich nicht konzentrieren konnten, was zu entsprechendem Protest führte. Deshalb wies ich den Schüler darauf hin, er solle sich erst einmal ansehen, was die anderen so besprechen, ehe er eigene Vorschläge einbringt. Für die restliche Arbeitsphase kehrte nun Ruhe ein. Mi. 10. 01. – Die Gruppen sollten sich wieder so zusammenfinden wie am Vortag. Doch auch diesmal trat wieder, wie tags zuvor, der Konflikt zwischen dem Schüler und der Gruppe auf. Diesmal halfen auch die Versuche nichts, regulierend einzugreifen, da der Schüler bereits nach wenigen Augenblicken damit begann, seine Arbeitsgruppe mit ekelerregenden Äußerungen in Unruhe zu versetzen. Der Versuch, den Schüler vielleicht doch in eine andere Gruppe zu stecken, stieß in der ganzen Klasse auf lauten Protest. Keiner wollte ihn bei sich haben. Deshalb ermahnte ich den Schüler nochmals eindringlich, sich während der Arbeitsphase am besten nicht mehr zu Wort zu melden, sondern stattdessen einen Arbeitsbericht in schriftlicher Form über seine Gruppe zu verfassen.
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Meine Überlegungen zu dieser Konfliktsituation: Der beschriebene Konflikt, dass einige Schüler einen Außenseiter nicht bei sich haben wollen und der betroffene Schüler sich auch nicht bemüht, seinen Ruf in der Klasse zu verbessern, gab mir zu denken. Wie ist mit solchen Konflikten zu verfahren? Ein Ausschluss kam für mich bis zuletzt nicht in Frage, da ich es für ein wichtiges erzieherisches Ziel erachte, dass eben nicht nur Schüler zusammenarbeiten, die sich mögen, sondern auch unbeliebte Schüler möglichst in die Gruppe mit eingebunden werden sollen. Was ist aber bei mangelnder Kooperation bzw. bei »Sabotage« seitens des Schülers zu tun? An dieser Stelle hatte nicht nur die Gruppe zu lernen, dass sie nur so stark ist wie ihr schwächstes Mitglied, sondern auch der Außenseiter war gezwungen mitzuarbeiten. Die Arbeit in den Vordergrund zu stellen, bewirkte, dass die persönlichen Differenzen der Schüler untereinander etwas zurücktraten. Gleichwohl war es nicht möglich, die gesamte Gruppe zu einer gemeinsamen Arbeit zu bewegen, sondern ich musste dem Schüler eine Sonderrolle zuweisen, indem er die Arbeit seiner Mitschüler mitprotokolliert.
Mentalisierungsprozesse im Unterricht folgen – wie gesagt – unerbittlich einem einfachen Schema: Nur jene Mentalisierungskompetenz, über die der Lehrer durch früher erworbene Dispositionen verfügt oder die er im Rahmen der Lehrerbildung weiterentwickelt, können in der Begegnungssituation mit Schülern und Schulklassen wirksam werden. Im vorliegenden Fallbericht zeigt sich diesbezüglich ein sehr typischer Prozess der Fragmentierung zwischen Selbsterleben und Rollenausübung. Gefühle, die im Selbsterleben auftauchen, werden in einer fremden und distanzierten Haltung aus der Perspektive des Rollenerlebens protokolliert. Die eigene Betroffenheit wird dabei möglichst verleugnet. Am Ende setzt sich dann die Orientierung am Rollenhabitus scheinbar problemlos durch, und der »reflektierende Akteur« verschwindet im Hintergrund der Szene oder hat kapituliert. Folgt man den Begriffen und Wendungen des Protokolls, die Aspekte des Selbsterlebens ansprechen und thematisieren, so ist unschwer zu erkennen, dass der Versuch, die »Lücken im Selbst« beim Erwerb der Rollenkompetenz durch »Selbstnarration«
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(Fonagy et al., 2004, S. 19) zu überbrücken, eigentlich kaum stattfindet. Die »Reflexionsfunktion« (S. 32) im Sinne einer Operationalisierung der Mentalisierungsprozesse entwickelt sich kaum oder nur in sehr schwachen Ansätzen. Zur eigenen Betroffenheit des Referendars erfahren wir in der Begegnung mit den Schülern nur, dass er »zuerst zugegebenermaßen etwas erstaunt« war. Ein Versuch, die Schüler zu verstehen, deutet sich dann an in der Vermutung des Referendars an, dass »hinter dem Verhalten« der Schüler wohl »Theatralik« und »Schauspielkunst« versteckt sei. Die Wahrnehmung der Fassade wird dabei jedoch offenbar mit dem dahinter verborgenen Erleben gleichgesetzt. Als der Konflikt mit dem Außenseiter in der Klasse dann eskaliert, wendet sich auch der Lehrer von den »ekelerregenden« Äußerungen des Schülers rasch ab. Der »Kontingenzentdeckungsmechanismus« des Lehrers kann sich, zumindest in dieser Szene, nicht wirklich entfalten. Die Ausgrenzung eines Schülers aus dem Klassenverband scheint dann die einzig mögliche Lösung des Konfliktes zu sein. Die eigene Betroffenheit des Lehrers ist dabei kein Thema mehr und wird nicht mehr reflektiert. Wahrnehmungsurteil und Realität fallen in dieser Auffassung vom Konflikt zusammen und ermöglichen so eine Form des rollenbezogenen Agierens, das den Lehrer scheinbar entlastet. Was sich insgesamt jedoch sehr deutlich zeigt, ist ein von normativen Ansprüchen und Standards beherrschter pädagogischer Habitus, in dem Überich-Fixierung und Rollenverhaftung als natürliche Gegebenheiten hingenommen werden. Im Dienste der Systemrationalität verstärken sich dabei beim Lehrer und beim Schüler eigentlich nur die früher erworbenen Dispositionen zum »fremden Selbst«. Das von Routine geprägte Setting wird dadurch zum entscheidenden Hindernis für echte Mentalisierungsprozesse.
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Die Lehrerbildung Die Fähigkeit, im Unterricht Mentalisierungsprozesse anzuregen, die jenseits der überkommenen Unterrichtsroutine Schüler fördern, setzt eine Form der Professionalisierung voraus, die bisher nicht stattfindet. Es geht dabei um einen Lernprozess, in welchem Lehrer – ähnlich wie beim Erwerb der psychoanalytischen Kompetenz – die Fähigkeit erwerben, die Einheit von Denken, Erleben, Reflexion im Unterricht zu realisieren, um Schüler zu verstehen und empathisch, kongruent und in positiver Wertschätzung bei emotionalen Lernprozessen unterstützen zu können. Wilfried Datler (2004) hat in seinem Aufsatz über »Pädagogische Professionalität und die Bedeutung des Erlebens« auf die spezifischen Schwierigkeiten in diesem Zusammenhang bereits hingewiesen und den Problemzusammenhang sehr klar herausgearbeitet. Die geforderte Mentalisierungskompetenz kann nicht über Wissen allein vermittelt werden, denn die Probleme der Affektregulierung und die Dynamik des Relationskontextes spielen sich in einem gänzlich anderen Bereich des psychischen Erlebens ab. Für Mentalisierungsprozesse im Setting der Lehrerbildung lassen sich von hier aus die verschiedenen Wirkfaktoren, die vorhanden sein müssten, wenn Mentalisierungsfähigkeit und Reflexionsfunktion gefördert werden sollen, genauer benennen: Jene Episode oder jenes Verhalten, das im Setting der Lehrerbildung durch Mentalisierung gefördert werden soll, muss als herausgehobener Bereich eine Markierung erfahren können. Damit die referentielle Entkoppelung gelingen kann, muss das affektive Milieu im Setting eines Studienseminars durch Akzeptanz und Empathie bestimmt sein. Der Protagonist im Lernprozess (der Fallerzähler/die Fallerzählerin) und die Gruppe müssen eine empathische Beziehung aufnehmen können; in diesem Beziehungsfeld müssen auch projektive Identifizierungen und Übertragungsprozesse reflektiert werden können. Indem sich die Teilnehmer in einer Ausbildungsgruppe als reflektierendes Team mit unbewussten oder abgewehrten
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Affekten der markierten Episode im Wege der Probeidentifizierung spielerisch auseinandersetzen und die Projektionen im Als-ob-Modus durchspielen, kann sich die erstarrte projektive Tendenz dann möglicherweise auflösen. Der Fallerzähler erkennt dann im günstigen Fall im Als-ob-Spiegel der Gruppe seine bisher verborgenen blinden Flecken. Das Gelingen einer referentiellen Entkoppelung und die Zurücknahme der projektiven Tendenz ist dabei der wichtigste indirekte Hinweis dafür, dass in der Ausbildungsgruppe die »symbolische Affektregulierung« (Dornes, 2004, S. 185) wirksam werden konnte. Der Übergang von der Affektwahrnehmung im Gleichsetzungsmodus zur modulierten Repräsentanz wird von den Teilnehmern als Entlastung erlebt. Wie schwierig sich der Prozess einer solche »referentiellen Entkoppelung«, der »Zurücknahme von Projektionen« und der »Kontingenzentdeckung« im Setting der an Schulen organisierten Seminarausbildung tatsächlich gestaltet, zeigt jedoch wieder das folgende Fallbeispiel: 13./14. Sitzung – Fortsetzung des Themas »Kommunikation« Ich wiederhole kurz die vier Dimensionen eines Sprechaktes aus der Sicht von Schulz von Thun und erläutere im Sinne eines Theorieinputs die Bedeutung von – Empathie, – Selbstexploration, – Kongruenz, – Wertschätzung, für die Unterrichtskommunikation. Die Referendare hatten nun in der letzten Sitzung den Auftrag erhalten, im Verlauf der Woche einen »besonders irritierenden Satz eines Schülers« möglichst wörtlich zu notieren und die Situation, in der er ausgesprochen wurde, genau im Gedächtnis zu behalten. Alle Seminarteilnehmer notieren zunächst jeweils ihren Satz und versuchen ihn zu analysieren. Die vier Aspekte eines Sprechaktes nach Schulz von Thun dienten dabei zur Orientierung: der Appell, der Sachaspekt, der Beziehungsaspekt und die Selbstoffenbarung.
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Nach eine kurzen Stillarbeitsphase sollte nun eine Teilnehmerin oder eine Teilnehmer den Sprechakt des Schülers im reflektierenden Team der Ausbildungsgruppe zur Diskussion stellen. Es meldet sich eine Referendarin, die in einer 7. Klasse Mathematik unterrichtet. Die Situation: Die Referendarin verlangt von den Schülern, dass jeder seinen Zirkel im Unterricht mitnehmen soll. Die Anordnung führt zu einer erregten Diskussion, da die Schüler mit Blick auf einen früher unterrichtenden Lehrer erklären: Ein Zirkel pro Bank würde doch genügen. In dieser Situation meldet sich ein auch sonst sehr lebhafter Siebtklässler und erklärt: »Wenn Sie immer das machen, was Frau S. will (die Seminarlehrerin der Referendarin), dann werden sie nie eine eigene Persönlichkeit.« Im freien Gespräch des »reflektierenden Teams« wird nun rasch deutlich, dass die Referendare zunächst nicht daran interessiert sind, den Satz im Sinne von Schulz von Thun zu analysieren, sondern dass sie mit dem Satz ein bisher verdrängtes Thema der Referendarausbildung abhandeln müssen. Die Rückmeldungen der Seminarteilnehmer zum Satz der Referendarin deuten nun zunächst den Sinn der Schüleräußerung so, dass die Spannungen und Konflikte in der Seminarausbildung insgesamt thematisiert werden. Das eigentliche Ziel, durch konkordante Einfühlung in die Äußerung des Schülers auch die emotionale Betroffenheit der Referendarin im bipersonalen Feld des Unterrichts zu klären, verschwindet dabei vorübergehend völlig aus dem Blickfeld. – Erst nach einiger Zeit wird die Gruppe durch meine Intervention zum Fall dann etwas unsicher. Worum geht es denn in dem Satz: Will der Schüler die Lehrerin kränken? Oder handelt es sich um eine sinnvolle Aufforderung und Ermunterung? – Doch auch jetzt verhindert die Kampf-und-Flucht-Kultur in der Gruppe wieder das Verstehen auf der Basis von Empathie, Selbstexploration, Kongruenz und Wertschätzung. Das Protokoll zu dieser Sitzung fasst das Ergebnis des in der Fallbesprechung in Gang gekommenen Mentalisierungsversuches dann wie folgt zusammen: »Die Auswertung des Satzes führt zu einer regen Diskussion der Seminarteilnehmer. Einige meinten, dass der Schüler die Referendarin aufmuntern wollte, ihren Unterricht nach eigenen Vorstellungen durchzuführen. Andere sehen darin eine gute Zusammenfassung der Situation der Referendare. Es kommt auch zur Sprache, dass der Schüler mit dem Satz seine Überlegenheit gegenüber der Referendarin zum Ausdruck bringen wollte.
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Die Ausgangssituation im vorliegenden Fall ist vermutlich sehr typisch: Weil Lehrer gewohnt sind, ihr eigenes Selbst und das Selbst der Schüler auf der Stufe von »teleologischen Akteuren« (Fonagy et al., 2004, S. 229), also im Schema eines zweckrationalen und kausal-reduktiven Denkens zu verstehen, bereitet ihnen der vorliegende Satz des Schülers Verständnisschwierigkeiten. Durch die Vorgabe des Seminarlehrers, den »irritierenden Satz« eines Schülers zu notieren, wurde zwar eine wichtige Mentalisierungslücke »markiert«. Die reflektierende Rückmeldung der Seminarteilnehmer zu dem Satz führt jedoch zunächst nur zur emotionalen Konfusion. Die Ent-deckung des Sinnes im Satz misslingt, weil sich das Problem der Auf-deckung bisher verdrängter Konflikte in der Seminarausbildung in den Vordergrund schiebt. Die indirekte Spiegelung des Konflikts führt zunächst zu einer Selbstthematisierung verdrängter Konflikte im reflektierenden Team, durch die das Verstehen des Falls vorübergehend auf etwas verwirrende Weise verhindert wird. Der Versuch, die Lücke im Selbstnarrativ der Referendarin über »Markierung«, »Containing«, »reflektierendes Team« zu schließen, wird also aus verschiedenen Gründen sehr erschwert. Weil Lehrer in der derzeitigen Seminarausbildung ihre SelbstProbleme als »intentionale Akteure« nicht aussprechen oder thematisieren können (ohne Schaden zu nehmen in der Beurteilung), ist es ihnen auch bisher nicht möglich, das Selbsterleben der Schüler als »intentionale mentale Akteure« (Fonagy et al., 2004, S. 244) wahrzunehmen. Die Rollenbeziehung gestaltet sich in diesem Bereich, wie Oevermann (1996) schon gezeigt hat, überwiegend »diffus« (S. 110), das Ringen um Kontingenz und die Kontingenzentdeckung bleiben aus. Trotz dieser Fixierung der Lehrer auf professionelle Einstellungen, die Mentalisierung im Unterricht eigentlich nicht nennenswert fördern können, spielen sich natürlich im Unterricht tagtäglich die affektiven Dramen der pubertären Entwicklung in voller Intensität ab. Die Übertragungsneigungen der Schüler und die Eigenübertragung der Lehrer verhindern dabei jedoch Empathie und Verstehen. Durch das Festhalten am Gleichsetzungsmodus kann sich dann kein potentieller Raum im pädagogischen Bezug bilden, der die projektiven Anteile in die Schwebe brächte.
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Auch durch das reflektierende Team der Seminarteilnehmer wird – wie das Fallbeispiel zeigen konnte – zunächst die Konfusion nicht geringer. Alle Seminarteilnehmer deuten den Satz des Schülers zunächst als eine »Provokation«, die durch Gegenaktion des Lehrers möglichst rasch in Kontrolle gebracht werden muss. Die »Markierung« des Schülerverhaltens geht dabei vorübergehend völlig verloren. Auch im reflektierenden Team einer Seminargruppe in der Schule bildet sich also kein potentieller Raum, der die Affekte, die im Hintergrund wirksam sind, in einem Als-ob-Modus rahmen könnte. Erst nachdem die affektive Konfusion und die Spaltung in der Form indirekter Spiegelung in ersten Ansätzen bewusst werden, kann sich die Konfusion etwas auflösen und das Fehlen einer empathischen Beziehung zur Fallerzählerin wird nun von den Teilnehmern als Problem erkannt. In dieser Konstellation gelingt es dann dem Seminarlehrer, die Referendare, auf den abgewehrten Anteil aufmerksam zu machen. Und nun setzt tatsächlich in ersten Ansätzen jene »referentielle Entkoppelung« im reflektierenden Team ein, die auch der Referendarin dazu verhilft, den projektiven Anteil in der eigenen Wahrnehmung etwas zurückzunehmen. Im Als-obModus des Verstehens gelingt es ihr, mit dem Gleichsetzungsmodus zu spielen und zumindest andere Deutungen zuzulassen. Für kurze Zeit bildete sich so ein Rahmen für Verstehen, der aus Befangenheit und aus Rollenidentifizierung im System der Zweckrationalität herausführte.
Literatur Datler, W. (2004). Pädagogische Professionalität und die Bedeutung des Erlebens. In B. Hackl, G. H. Neuweg (Hrsg.), Zur Professionalisierung pädagogischen Handelns (S. 113–130). Münster: LIT-Verlag. Dornes, M. (2004). Über Mentalisierung, Affektregulierung und Entwicklung des Selbst. Forum der Psychoanalyse, 20 (2), 175–199. Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E. L., Target, M. (2004). Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: KlettCotta.
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Ferro, A. (2003). Das bipersonale Feld. Konstruktivismus und Feldtheorie in der Kinderanalyse. Gießen: Psychosozial. Freud, S. (1930). Das Unbehagen in der Kultur. In: Studienausgabe Bd. IX (S. 191–292). Hirblinger, H. (1990). Die Gegenübertragungsreaktion im Unterricht. Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 2, 7–26. Mitscherlich, A. (1963/1989): Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft (17. Aufl.). München: Piper. Oevermann, U. (1996). Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns. In A. Combe, W. Helsper (Hrsg.), Pädagogische Professionalität (S. 70–182). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Trescher, H.-G. (1993). Handlungstheoretische Aspekte der Psychoanalytischen Pädagogik. In M. Muck, H.-G. Trescher (Hrsg.), Grundlagen der psychoanalytischen Pädagogik (S. 167–201). Mainz: Matthias-Grünewald. Wöller, W. (2006). Trauma und Persönlichkeitsstörung. Psychodynamisch-integrative Therapie. Stuttgart/New York: Schattauer.
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Die folgenden Überlegungen zum aktuellen Unbehagen in der Kultur sind hintergründig inspiriert von meinem eigenen Erleben in Institutionen des Bildungsbereichs – konkret: Universität und Schule – und sie verbinden drei Gedankenstränge miteinander: Erstens eine Analyse neoliberaler Herrschaftsformen, wie sie zum Beispiel Ludwig Pongratz in seinen Publikationen im Anschluss an Foucaults Thesen zur Gouvernementalität formuliert. Zweitens Alfred Lorenzers psychoanalytische Sozialisationstheorie, mit deren Hilfe ich versuchen möchte, die Analyse im Hinblick auf die subjektiven Folgen zu vertiefen. Und drittens psychoanalytisch-pädagogische Überlegungen, die Perspektiven einer Abmilderung des Unbehagens andeuten. Bevor ich aber meine argumentativen Ausführungen beginne, möchte ich einen eher ästhetischen Eindruck von dem vermitteln, um was es gehen wird: Stellen Sie sich eine hochrangig besetzte kultusministeriale Fachtagung zum Thema »Schule und Qualitätssicherung« vor, bei der der Einleitungsreferent Folgendes zu Gehör bringt: Alle mit Schulentwicklung befassten Institutionen des Kultusministeriums unterstützen die Schulen auf dem Weg zunehmender Eigenständigkeit und Selbstverantwortung. Standards und Module bestimmen dabei die Diskussion auf allen Ebenen genauso wie die Begriffe externe Evaluation und Schulinspektion, die 1 Der Begriff »Kontrollkultur« ist angelehnt an den der »Kontrollgesellschaften«, den Gilles Deleuze benutzt, um den aktuellen Wandel von den Disziplinargesellschaften, wie sie Foucault analysiert hat, hin zu neuen Herrschaftsformen zu kennzeichnen (vgl. Deleuze, 1993).
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Akkreditierung und Maßnahmen zur Unterstützung der eigenverantwortlichen Arbeit der Schulen und zum Umbau des Systems, etwa im Begriff »Regionale Qualitätsagenturen« gespiegelt. Keine Einrichtung bleibt in diesem Prozess der strukturellen Veränderung unberührt. Beteiligt sind die Industrie und Handelskammern als Interessenvertretung der regionalen Wirtschaft. Ziel ist es, den qualitativen und quantitativen Fachkräftebedarf der Wirtschaft gegenüber den bildungspolitischen Akteuren deutlich zu machen. Meine Position: Ein glaubwürdiger Kulturwechsel im Bildungsbereich, weg von der Versorgungs- und Anspruchsmentalität hin zur Freiheit der Verantwortung als Kultur aller Einrichtungen, ist überfällig. Freiheit heißt aber auch Verantwortung im Rahmen verbindlicher Ziele und Rechenschaftspflicht. Schulqualität entsteht, wenn die Schule sich wie ein mittelständiges Unternehmen verhält und verhalten kann. Damit ist ein neues Selbstverständnis der in der Schule Tätigen notwendig: Die Vorstellung, dass sich Lehrerinnen und Lehrer als Führungskräfte verstehen (das entsprechende Konzept der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände ist absolut richtig: Führungskraft Lehrer) und sich so verhalten, also auch Verantwortung auf der Ebene der Schule übernehmen, trifft auf eine seit Jahrzehnten abgedriftete Kultur, ein falsches Beliebigkeitsverständnis (z. B. die Nichtbeachtung der Lehrpläne, ein individualistisches Verständnis der Berufsausübung): Jeder macht, was er denkt, und ist mit sich zufrieden. Eine starke Schulleitung muss entstehen mit einem Schulleiter, der Führungsverantwortlicher für Personalentwicklung, -einsatz und für die Inhaltsqualität der Arbeit ist. Er ist Führer des Unternehmens, ein persönlich für den Erfolg haftender Manager. Schule als mittelständische Unternehmen zu verstehen, bedeutet, dem Schulleiter oder der Schulleiterin die Führungschance und -verpflichtung zu geben, die Lehrkräfte der Schule in das Boot der Veränderung zu holen und die Entscheidungen durchzusetzen, die er oder sie für erforderlich hält. Das ist keine neue Gutsherrenkultur oder Fabrikherrschaft, da sie der Rechenschaftspflicht und dem Füh-
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rungserfolg als Balance unterliegt. Hierzu gehört der Aufbau einer Kultur des Umgangs mit Lehrern als Führungskräften, etwa durch Mitarbeitergespräche und Zielvereinbarungen, sowie die Entwicklung persönlicher Karrierepläne, Mitarbeitergewinnung durch die Schule in Konkurrenz mit anderen Mitbewerbern. Zur Prozessänderung in der Schule gehört ihre Entwicklung zu einer Qualitätszirkelkultur à la Total-Quality-Management. Zahlreiche Elemente der neuen Steuerung, die für die Schule Freiheit – Gestaltungsfreiheit – und Verantwortung – klare Ziele und Rechenschaftspflicht – miteinander verbinden, werden zurzeit entwickelt. Eine Steuerung durch und mit Daten sowie deren Überprüfung wird dann verstärkt werden können, wenn die Ergebnisse der externen Schulanalysen regional und landesweit aggregiert werden und Handlungserfordernisse für die Unterstützungsinstitutionen auf allen Ebenen erwachsen und eingefordert werden. Ich breche hier ab mit dem Hinweis, dass es sich bei diesem Redebeitrag nicht um einen frei erfundenen bzw. fiktiven Text handelt, sondern um eine Zitatsammlung, in die ich lediglich wenige Worte als Überleitung eingefügt habe. Sie stammt aus der Dokumentation der Fachtagung »Auf dem Weg zur Eigenverantwortung der Schule«, die im Juli 2006 in Frankfurt stattgefunden hat (Hessisches Kultusministerium et al., 2006, S. 5–23). Ich hoffe, Sie haben sich eingehört in den Jargon2, der zum aktuellen Mainstream bildungspolitischer Diskussionen gehört und der unter anderem dazu führt, dass die entsprechenden 2 Wichtig sind für solche Beiträge der Enthusiasmus bzw. der Tonfall und der mimisch-gestische Ausdruck, mit dem sie häufig vorgetragen werden. Mich jedenfalls hat es im Gespräch oft irritiert, mit welcher ungebrochenen Überzeugung Argumente für die modernen Qualitätssicherungsstrategien vorgebracht werden: Vertreterinnen und Vertreter dieser Argumentationen, ob weiblich oder männlich, ob jung oder alt, strahlen oft die Vitalität von Vertretern oder Bankberatern aus und ähneln, auch wenn es sich um Schuldirektoren oder Schulamtsbeamtinnen handelt, in ihrem Auftreten und Habitus solchen professionellen Überzeugern.
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Ministerien vielseitige Glossars zum neuen Vokabular ins Netz stellen.3 Und Sie werden mit Sicherheit, wenn Sie mit Schule nicht unmittelbar befasst sein sollten, aus anderen – z. B. den universitären – Arbeitsbereichen die Argumentationsfiguren und Sprachfloskeln kennen. Soweit also dieser ästhetische Einstieg ins Thema.
Freiheitsrhetorik und Kontrolle In thesenhafter Kürze möchte ich nämlich nun in einem ersten Argumentationsschritt im Anschluss an Ludwig Pongratz – aber auch an Ulrich Bröckling und Richard Sennett – versuchen, einige relevante Strukturen und Mechanismen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse zu skizzieren. Die neoliberal organisierte Gesellschaft ist radikal marktorientiert, das heißt nicht nur im Bereich der Ökonomie wird das Prinzip optimaler Absatz- und Gewinnchancen realisiert, sondern dies geschieht in allen Bereichen gesellschaftlichen Lebens. Dies betrifft auch den Bildungsbereich, der zunehmend als Dienstleistungserbringer für die Ökonomie – Stichwort »Erzeugung von Humankapital« – formiert wird. Um in dieser Funktion Qualität zu erzeugen, werden auch Bildungsinstitutionen nach dem Vorbild von Unternehmen re-formiert und werden die in ihnen tätigen Pädagogen nach dem Profil von unternehmerischen Funktionsträgern modelliert. Hierbei wird das Prinzip von Selbstverantwortung betont, sowohl die einzelner Institutionen und Teilinstitutionen als auch die des Einzelnen. Durch den Wegfall differenzierter Input-Steuerung und die Abflachung von Hierarchien wird für Selbstmanagement nicht nur Raum gegeben, sondern es wird zwingend erforderlich gemacht, wobei diese Forderung als Freiheit und Entfaltungsmöglichkeit interpretiert wird. Ich nenne dies einmal zugespitzt »Subjekt-Kultur«, die sich mit Freiheitsrhetorik verknüpft. 3 Vgl. Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (2006), Institut für Qualitätsentwicklung (2006).
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Die propagierte Selbstverantwortung und Entscheidungsfreiheit finden ihre Orientierung in differenziert formulierten Standards, in Output-Vorgaben und Output-Kontrolle sowie in vielfältigen Arrangements des Erfolgvergleichs: In Evaluationen werden Daten erhoben, Monitoring (vgl. Krasmann, 2004) und Controlling dokumentieren Leistung und Qualität, Rankings machen Geleistetes öffentlich und funktionieren als Anreiz zur Leistungssteigerung in einem System der Konkurrenz bzw. nötigen zu immerwährender Qualitätsoptimierung4. Dabei spielt das Prinzip der Kundenorientierung eine ausschlaggebende Rolle5: Der Einzelne hat sich an den Interessen
4 Bröckling weist überzeugend auf die Ausbreitung von Evaluationspraktiken bzw. auf eine auch als »Evaluationitis« ironisierte Epidemie der Kunden- und Teilnehmerbefragungen (vgl. Bröckling et al., 2004, S. 76) hin. 5 Auf die Problematik des Prinzips der Kundenorientierung im Hinblick auf die Modellierung des eigenen Selbst weist Stephan Voswinkel (2004) hin: »›Kundenorientierung‹ fungiert aber vor allem als normative Anrufung. Organisationen richten diese besonders an ihre Beschäftigten im Kundenkontakt. Gefordert wird erstens Servilität: Der Kunde hat Recht, und die eigene Meinung und Identität der Beschäftigten dürfen nicht zählen. Wichtig ist vielmehr, das eigene Verhalten so zu verändern und dem Kunden anzupassen, dass dieser zufrieden ist. Damit wird zweitens professioneller Eigensinn abgewehrt. Wer darauf beharrt, kraft Kompetenz und Erfahrung besser als der Kunde zu wissen, was Qualität verbürgt, wie Probleme zu lösen und welche ethischen Prinzipien in der Arbeit zu beachten sind, setzt sich ins Unrecht. Als professionell gilt hingegen das Selbstmanagement: Die eigenen Impulse, Sympathien und Antipathien, Emotionen und Positionen müssen kontrolliert werden. Das ermöglicht es, auch diejenigen der Kunden zu managen. Selbst- und Fremdkontrolle gehen Hand in Hand. Selbstermächtigung gelingt durch Selbstkontrolle: Wenn ich mich im Griff habe, dann bekomme ich auch den Kunden in den Griff. Freundlichkeit ist die siegversprechende Waffe im Kampf mit dem unverschämten Kunden. In diesem Sinne machen die Anforderungen der Kundenorientierung die Anbieter keineswegs machtlos« (Bröckling, 2000, S. 148) Und Bröckling betont: »Über objektivierbare Leistungsmerkmale hinaus geht es um eine von umsichtiger Fürsorglichkeit geprägte Grundhaltung, die das Wort ›genug‹
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anderer zu orientieren, also nicht nur an denen von hierarchisch Übergeordneten – auch diese werden nunmehr als Kunden aufgefasst –, sondern darüber hinaus an denen aller anderen, mit denen es der Einzelne beruflich zu tun hat. So hat ein Lehrer beispielsweise nicht nur Schulleitung, Schulamt und letztlich die entsprechende Ministerialbürokratie zufrieden zu stellen, sondern muss seine Kollegen, auszubildende Praktikanten und Referendare, Schülerinnen und Schüler sowie ihre Eltern als Kunden ansehen, deren Wünsche er zu befriedigen hat, und schließlich muss er auch all jene als Kunden berücksichtigen, die im Hintergrund stehen als spätere Käufer der Arbeitskraft, an deren Ausbildung und qualitätshaltiger Veredelung er zu arbeiten hat, die Unternehmen, die ihre Wünsche als Bezugspunkt der Bildungspolitik immer vehementer formulieren. Um diese Kundenorientierung optimal zu realisieren, muss der Einzelne sich nicht nur funktional als kundenbezogenes Kleinunternehmen, als Ich-AG organisieren, sondern er tut gut daran, sich in die Gesamtorganisation des Betriebs oder der Institution einzupassen, um Reibungsverluste und Belastungen zu minimieren. Betriebe und Institutionen formieren eine einheitliche Kultur, eine Corporate Identity, die sich nicht in einprägsamen Zeichenkonfigurationen in der Selbstdarstellung nach außen erschöpft, sondern nach innen über Corporate Communication und Corporate Behavior umfassend Zugriff nimmt auf die Mitarbeiter. Was also zunächst als neue Freiheit der Subjekte sich generiert, erweist sich unter dem Motto von Qualitätssicherung und Qualitätssteigerung im Dienste einer umfassend zu denkenden Kundschaft – gefasst z. B. in der Definition des Total Quality
nicht kennt und bestrebt ist, dem Kunden immer einen Schritt voraus zu sein. Seine Bedürfnisse sollen erfüllt werden können, noch bevor er selbst sie kennt oder artikuliert. Zusätzlich zur systematischen Abfrage von Kundenwünschen bedarf es daher einer generalisierten ›Hermeneutik des Begehrens‹, die versteht, was noch gar nicht gesagt ist, und so den Mangel erst produziert, den zu stillen sie sich anheischig macht« (S. 137).
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Management (TQM)6 – als System permanenter Kontrolle, das nach Bröckling auf einen »demokratisierten Panoptismus« hinausläuft: An die Stelle eines allsehenden Beobachters auf der einen und der ihren eigenen Beobachtungsmöglichkeiten aufs äußerste eingeschränkten Beobachtungsobjekte auf der anderen Seite tritt ein nicht-hierarchisches Modell reziproker Sichtbarkeit, bei dem jeder zugleich Beobachter aller anderen und der von allen anderen Beobachtete ist (Bröckling, 2000, S. 152).
Ohne dass sichtbar autoritäre Machtinstanzen auf den Plan treten, realisiert sich Kontrolle über scheinbar neutral und sachlich begründete Qualitätsstandards und deren Durchsetzung. Vergleichszahlen entfalten eine unpersönliche Macht in einem umfassenden Konkurrenzsystem und nötigen zu ständiger Optimierung und Leistungssteigerung. »Feedback-Systeme bilden« hierbei nach Bröckling »die Schnittstelle zwischen Sozial- und Selbsttechnologien«: Jeder Vergleich gerät […] zum Ausscheidungskampf, der über Aufoder Abstieg entscheidet. Um mithalten zu können, ist es nötig, seine Ressourcen zu erkennen, zu nutzen und auszubauen, sich strategische Ziele zu setzen, diese zu operationalisieren und das Erreichte zu überprüfen, initiativ zu werden, statt nur zu reagieren, sich überzeugend zu präsentieren, sich flexibel auf immer neue Anforderungen einzustellen und sich entsprechend zu qualifizieren, kurzum: seinen gesamten Lebenszusammenhang im Sinne betriebswirtschaftlicher Effizienz zu rationalisieren (Bröckling, 2000, S. 154).
Entsprechend, so Bröckling weiter, gestalten sich die Erfolgshilfen:
6 »Total Quality Management (TQM) ist, so die in der DIN EN ISO 8402 inzwischen international genormte Definition, ›eine Führungsmethode einer Organisation, bei welcher Qualität in den Mittelpunkt gestellt wird, welche auf der Mitwirkung aller ihrer Mitglieder beruht und welche auf langfristigen Erfolg durch Zufriedenstellung der Abnehmer und durch Nutzen für die Mitglieder der Organisation und für die Gesellschaft zielt‹« (Bröckling, 2000, S. 135 f.).
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Selbstmanagement-Ratgeber vermitteln daher nicht allein Techniken effizienter Zeitplanung, Arbeitsorganisation und Stressbewältigung, als zeitgenössische Klugheitslehren und Manuale methodischer Lebensführung entwerfen sie vielmehr ein umfassendes Leitbild neoliberaler Subjektivität – eben das des Unternehmers seiner selbst – und liefern praktische Übungen, um sich selbst entsprechend zu modellieren (S. 155).
Qualitätsdiskurs als Massenbildung Geht man von dieser Beschreibung neuer Herrschaftsformen neoliberaler Gesellschaften aus, registriert also den Umschlag von Selbstverantwortung in Unfreiheit über Mechanismen von Output-Kontrolle, Erfassungs- und Konkurrenzsystemen, Kundenorientierung sowie Mechanismen der Einbindung und Anpassung in vorgegebene Identitätsmuster, und berücksichtigt darüber hinaus, dass sich Handlungsnormen nicht nur umgrenzt im ökonomischen Bereich entfalten, sondern umfassend auf alle Lebenszusammenhänge ausgreifen, so fragt sich, welche Kulturleistungen die Subjekte zu erbringen haben bzw. wie die hierzu erforderliche Selbstmodellierung aussieht. Dieser Frage möchte ich nun nachgehen, indem ich kurz die Überlegungen von Ludwig Pongratz referiere, der in seinen »Beiträgen zur Kritik der Erwachsenenbildung« auf Erich Fromms Beschreibung des »Marketing-Charakters7 Bezug nimmt und sechs Merkmale dieses Charakters nennt. Thesenhaft zusammengefasst sind dies: 7
Die Verwendung des Begriffs »Charakter« ist hier insofern schwierig, als er allgemein gerade das signalisiert, was konkret wieder zurückgenommen wird: Fasst man – so wie Sennett es tut – Charakter als Konzentration auf »den langfristigen Aspekt unserer emotionalen Erfahrung« (Sennett, 2000, S. 11) auf, so erscheinen konkrete Prinzipien wie Flexibilität und Mobilität im Widerspruch hierzu zu stehen. Deshalb kommt Sennett zu dem Schluss, der flexible Kapitalismus bedrohe »jene Charaktereigenschaften, die Menschen aneinander binden und dem einzelnen ein stabiles Selbstgefühl geben« (S. 31).
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Konformismus: Als Folge des Zwangs zum »marktgerechten Verhalten« entsteht »Relativismus und Orientierungslosigkeit«, weil Werte ihre Funktion abtreten an die Statistik von Verkaufszahlen und Bestsellerlisten. Flexibilität: Sie »äußert sich im unstillbaren Hunger nach Abwechselung, nach dem jeweils Neuesten, nach dem Dernier Cri«. Sowohl Nachhaltigkeit wie lokale Verankerung verlieren damit ihre Bedeutung.8 Mobilität: »Gefragt ist der isolierte Einzelne, der – hochmobil und vielseitig verwendbar – sich immer neuen Bedingungen anzupassen weiß.« Bindungslosigkeit: Eine über den positiven Bezug auf Betrieb und Arbeit hinausgehende Bindung mit der Kehrseite der Trennungsunfähigkeit wird als kontraproduktiv empfunden, weil sie die freie Disponibilität einschränkt: »Worauf es ankommt, ist eine Art von Beziehung, die keinen Tiefgang hat, keine Bindung wünscht und kein weitergehendes Interesse zeigt, sondern jederzeit zur Disposition steht.« Entemotionalisierung: Favorisierung von »Coolness« als äußere Erscheinung von »Verdrängen, Verleugnen und Abspalten von Gefühlen«. Gefühle werden als hinderlich erlebt, weil sie das »Ideal unverbindlichen Bezogenseins« in Frage stellen und Leistungsfähigkeit behindern.9 8 Vgl. auch Lemke (2004): »Mit dem Flexibilisierungsgebot etabliert sich eine neue Zeitrechnung, die schnellstmöglicher Marktanpassung unbedingte Priorität einräumt, Traditionen und Routinen entwertet und auf kurze Zeithorizonte geeicht ist. Beharrungsvermögen und Erfahrungswissen gelten als unnötiger Ballast angesichts eines Präsentismus, der ohne Rekurs auf die Vergangenheit auszukommen glaubt. Allerdings bleibt auch die Perspektive auf die Zukunft eingeschränkt. Da es rational ist, sich nicht festzulegen, sollten langfristige Bindungen und Verpflichtungen möglichst vermieden werden. Die Aufgabe des Einzelnen besteht nicht mehr darin, eine stabile Identität auszubilden, sondern zu verhindern, dass diese zukünftige Optionen einengt oder gar verbaut« (S. 86). 9 Vgl. hierzu auch T. Holert (2004): »Die Gefühlskälte und die fehlende Anteilnahme wird in der Coolness sozial geadelt; man sieht in der kühlen Rationalität und neo-stoischen Affektbeherrschung kein Problem, keinen Mangel, sondern einen Ausweis von Souveränität
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Selbst-Vermarktung: Die Nötigung sich auf einem Markt zu präsentieren, »sich attraktiv und unwiderstehlich zu machen«, führt zu der Tendenz, dass »Aspekte des Selbst, die Gefühle, die Träume, die Phantasien […] zu Waren [werden], […] zu etwas, das ich habe, verkaufe oder mir aneigne« (alle Zitate aus Pongratz, 2003, S. 148 ff.). Dass eine Kulturleistung dieser Qualität eine Unterdrückung wesentlicher Triebimpulse vor allem libidinöser Art bedeutet, liegt auf der Hand: Die funktionale Orientierung an von außen gesetzten Normen erfordert den Verzicht auf individuelle Bindungen und damit verknüpften Befriedigungen. Insofern ist Freuds Analyse des Unbehagens in der Kultur, verursacht durch ein Kultur-Überich, treffend: In der Neurosenforschung und Neurosentherapie kommen wir dazu, zwei Vorwürfe gegen das Überich des Einzelnen zu erheben: Es kümmert sich in der Strenge seiner Gebote und Verbote zu wenig um das Glück des Ichs, indem es die Widerstände gegen die Befolgung, die Triebstärke des Es und die Schwierigkeiten der realen Umwelt, nicht genügend in Rechnung bringt. Wir sind daher in therapeutischer Absicht sehr oft genötigt, das Überich zu bekämpfen, und bemühen uns, seine Ansprüche zu erniedrigen. Ganz ähnliche Einwendungen können wir gegen die ethischen Forderungen des Kultur-Überichs erheben. Auch dies kümmert sich nicht genug um die Tatsachen der seelischen Konstitution des Menschen, es erläßt ein Gebot und fragt nicht, ob es dem Menschen möglich ist, es zu befolgen. Vielmehr, es nimmt an, daß dem Ich des Menschen alles psychologisch möglich ist, was man ihm aufträgt, daß dem Ich die unumschränkte Herrschaft über sein Es zusteht. Das ist ein Irrtum, und auch bei den sogannt normalen Menschen läßt sich die Beherrschung des Es nicht über bestimmte Grenzen steigern. Fordert man mehr, so erzeugt man beim Einzelnen Auflehnung oder Neurose oder macht ihn unglücklich (Freud, 1930/1974, S. 268).
Ich möchte aber nicht weiter mit Freud argumentieren, sondern erlaube mir, auf Alfred Lorenzer Bezug zu nehmen, weil seine und Kompetenz. Die ungeschriebene Verhaltenslehre des Cool ist die Basis eines zugleich dandyistischen wie professionellen Habitus, eine leicht widersprüchliche, aber vielleicht gerade deshalb wirkungsvolle Verbindung des Ästhetischen mit dem Ökonomischen« (S. 46).
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Reformulierung der psychoanalytischen Theorie und ihrer Begriffe eine differenziertere und genauere sozialpsychologische Analyse erlaubt. Im Lichte seiner Überlegungen wäre der Begriff des kulturellen Unbehagens nicht mit dem des Triebverzichts zu verknüpfen, sondern mit dem von unrealisierten szenischen Entwürfen, und nicht mit dem Überich, sondern mit den dem System der Sprache inhärenten Normen und Werten. Um dies konkretisieren zu können, möchte ich zunächst im Sinne eines kurzen Exkurses grob in Erinnerung rufen, was die zentralen Aspekte der Lorenzer’schen Sozialisationstheorie sind. Da ist als Erstes der Zusammenhang von situativer Erfahrung, innerer Registrierung und Verknüpfung der inneren Szene mit Zeichen, wodurch Symbole gebildet werden. Äußere Szenen verstanden als Interaktionserfahrungen schlagen sich basal nieder in innere Szenen, die Lorenzer auch als »Interaktionsformen« bezeichnet. Diese werden sowohl mit nichtsprachlichen als auch mit sprachlichen Zeichen verknüpft, wodurch, wie bereits gesagt, Symbole entstehen, mit deren Hilfe situationsunabhängiges Abwägen und Durchspielen von Möglichkeiten, letztlich also Probehandeln und Denken möglich wird. Dieser Prozess der Symbolbildung führt nicht zu einem ein für alle Mal stabilen Zustand von Bewusstheit und symbolischer Verfügung, sondern der Erfolg des Symbolisierungsprozesses kann punktuell unter dem Druck unerträglicher Konflikte zunichte gemacht werden. Es kann zu einer Sprachzerstörung kommen, bei der Symbole in Interaktionsformen einerseits und Zeichen andererseits aufgespalten werden, wodurch die Interaktionsformen als bewusstlose Vorstellungen blinden Zwang entfalten, während die Zeichen sich als emotionsleere Rationalisierungen organisieren können. Lorenzer beschreibt diesen Prozess, den Freud unter dem Stichwort der Neurose fasste, als Desymbolisierung. Für meine gesellschaftsbezogene Betrachtung ist es nun wichtig, dass Lorenzer einen dieser Dynamik ähnlichen Prozess auf gesellschaftlicher Ebene analysiert, und zwar den der pathologischen Massenbildung (vgl. Lorenzer, 1981, S. 117 ff.). Im Zusammenhang mit nationalsozialistischer Ideologiebildung registriert er ebenfalls eine Zerstörung symbolischer Strukturen und
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eine Zusammenfügung von zeichenhaften und klischeeartigen Konfigurationen, Erstere nennt er Schablonen, Letztere bezeichnet er als Ersatzbefriedigungen. Durch die Zusammenfügung von beidem wird der Konflikt verleugnet und entsteht eine Art eines sozial konformen und insofern stabilen Ich. Als Schablonen fasst Lorenzer in seiner Analyse die irrationalen Konstrukte der Rassenlehre und des Antisemitismus auf, als Ersatzbefriedigung das Ausleben der Aggression gegenüber Minderheiten bzw. einem dämonisierten äußeren Feind. So gelingt es den nationalsozialistischen Machthabern ein Unbehagen und Widerstandspotential gegen die Zwänge, die sie selbst ausüben, zu paralysieren bzw. umzulenken. Um es etwas genauer zu zitieren: Lorenzer nennt vier Merkmale einer pathologischen Massenbildung: 1. Die Kollektivbildung setzt an einer Symptom-Schablonen-Einheit an, d.h. 2. die Massenbildung organisiert Erwachsene als ›Kinder‹, nämlich an ihrem infantil fixierten, zum Symptom geronnen Persönlichkeitsdefekt. […] 3. Der Effekt dieser Massenbildung ist eine individuelle Stabilisierung. […] 4. Es bedarf eines ›objektiven Organisators‹, der in bereitliegende Persönlichkeitsdefekte einhakt: Es bedarf eines ›Wortes‹, einer ›Idee‹, die die weltanschauliche Ausrichtung besorgt. […] Diese Pseudomythen sind modern, ichkonform und doch irrational (Lorenzer, 1981, S. 119).
Und er kennzeichnet die gesellschaftliche Funktion: Ein ›sozialer Konflikt‹ soll dadurch stillgestellt und reaktionär umgekehrt werden, dass an die Stelle einer emanzipatorischen Frage die Antwort dagegengesetzt wird. Objektive Verblendung und individuelle Pathologie treten zueinander zu einem stabilen Kurzschluß: Die falsche Antwort aufs soziale Problem wird mit dem falschen Namen für den Triebkonflikt verbunden in Schablonen als dem Kern eines falschen Ich (Lorenzer, 1981, S. 122).
Ich möchte nun einmal hypothetisch dieses Modell einer psychoanalytischen Ideologie- und Gesellschaftskritik nutzen, um ein genaueres Verständnis der neoliberalen Herrschaftsweisen zu gewinnen, wobei ich als Schablone bezeichne, was ich bezüglich
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des Qualitätsdiskurses durch mein Zitat vom Anfang veranschaulicht und anschließend allgemeiner dargestellt habe, den Vorstellungskomplex von Eigenständigkeit und Selbstverantwortung im Kontext von Qualitätszirkeln. Hiervon ausgehend, wäre nun anzugeben, welches die Interaktionsformen sind, die da im Zuge eines kollektiven Desymbolisierungsprozesses ausgeschlossen werden und welche Ersatzbefriedigungen angeboten werden, um die Attraktivität der Schablonen zu gewährleisten. Zur ersten Frage, der nach der Art der abgespaltenen Interaktionsformen, mache ich es mir zunächst einmal leicht und kehre um, was ich vorhin als Kulturleistungen des Marketing-Charakters aufgezählt habe: Konformismus verweist in diesem Sinne auf Individualität und konkrete (Trieb-)Befriedigung; Mobilität auf das Beharren auf einen vertrauten, sicheren Ort; Bindungslosigkeit auf vertrauensvolle und konstante (Objekt-) Beziehungen; Entemotionalisierung verweist auf eine emotionale Relevanz von Beziehungen; Selbst-Vermarktung schließlich auf umfassende Wertschätzung um der Person und nicht um eines abstrakten Tauschwertes willen. Diese Kontrastierung deutet an, dass der Marketing-Charakter eine problematische Struktur bildet, während der Gegenentwurf Beziehungsformen mit einer Qualität andeutet, wie sie die Psychoanalyse als günstige Voraussetzung seelischer Entwicklung und Entfaltung – z. B. in Bezug auf die Mutter-Kind-Beziehung – formuliert. Im eingangs zitierten Redetext beispielsweise lässt sich das Tabuisierte an den negativen Zuschreibungen ablesen: abgedriftete Kultur, falsches Beliebigkeitsverständnis, individualistisches Verständnis der Berufsausübung, bei dem jeder macht, was er denkt, und mit sich zufrieden ist. Verwerflich ist also eine zufrieden machende Orientierung an dem, was der Einzelne denkt, ohne Beachtung von ministerialen Verordnungen. Das ist die »abgedriftete Kultur«, die nun hinweggefegt werden soll durch die Paarung von Selbstverantwortung und Rechenschaftspflicht.
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Für die neue Kultur wäre im Umkehrschluss zu folgern: »Jeder macht zukünftig, was gesetzte Standards vorgeben und was kontinuierlich überprüft wird, und jeder ist permanent mit sich unzufrieden.« Womit wir beim Unbehagen wären, das allerdings dann kein Widerstandspotential bildet, wenn Sprachschablonen durch Ersatzbefriedigungen abgestützt werden. Welche Ersatzbefriedigungen also stellt die neoliberale Strukturierung von Herrschaft unter dem Motto der Qualitätssicherung bereit? Auch bei der Beantwortung dieser Frage kann ich anknüpfen am konkreten Redetext vom Anfang, denn er präsentiert fast schon plakativ neben der Peitsche allgegenwärtiger Kontrolle – Rechenschaftslegung auf allen Ebenen, externe Evaluation, Mitarbeitergespräche, landesweite Aggregation externer Analysen, Schulinspektion, persönliche Haftung – das Zuckerbrot einer grandiosen Aufwertung: Eine neuartige Freiheit wird propagiert, Gestaltungsmacht wird übertragen, Lehrerinnen und Lehrer sind »Führungskräfte«, als solche sogar von der Wirtschaft ausgezeichnet10, Schulleiter sind die Führer von Unternehmen bzw. deren Manager. Dass der Widerspruch zwischen propagierter Freiheit und den vielfältigen Kontrollstrategien nicht allzu drastisch ins Auge springt, mag neben dem immer wieder betonten Bezug zu Unterstützungsleistungen und Beratung damit zusammenhängen, dass es sich um unpersönliche Qualitäts- und Kontrollmarkierungen handelt, die ins Spiel gebracht werden. Wie sagt der Redner vom Anfang? »Das ist keine neue Gutsherrenkultur oder Fabrikherrschaft, da sie der Rechenschaftspflicht und dem Führungserfolg als Balance unterliegt.« Und er sagt auch, worum es dabei geht, nämlich um »eine Steuerung durch und mit Daten sowie deren Überprüfung«. Zahlen und Daten beherrschen die
10 Vgl. Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände 2001, wo ein Leitbild formuliert wird, das u. a. »die Lehrer als mitverantwortliche Träger der Schulentwicklung, der Qualitätssicherung und -verbesserung sieht und sie vom weisungsgebundenen ›Untergebenen‹ zum aktiven Teilhaber am ›Unternehmen‹ Schule macht« (S. 9).
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Auseinandersetzung, Verrechnung tritt an die Stelle von menschlichen Beziehungen. Und wie die Aufwertung der Subjekte als freie Unternehmer die Bedeutung der Kontrollstrategien konterkariert, so sind auch die Merkmale des Marketing-Charakters ambivalent, keineswegs einseitig defizitär: Die kennzeichnende Beziehungslosigkeit und Unabhängigkeit lassen auch Raum für Vorstellungen einer uneingeschränkten Selbstverfügung und Souveränität. Es deutet sich an, an welchen Persönlichkeitsdefekt angeknüpft wird bzw. wie »Erwachsene als Kinder« (Lorenzer) organisiert werden: Die Propagierung der neuen Qualitätskultur appelliert an Vorstellungen narzisstischer Größe und Souveränität, in denen Objekte als verfügbare und manipulierbare gedacht und Grenzen ausgeblendet werden.11 Die Verflachung von Hierarchien bzw. die Verschleierung von Machtstrukturen und die Einschmelzung von Individualität in die Gleichheit des Teams erlauben die Illusion zugleich einer unbegrenzten eigenen Verfügungsmacht wie eines allseitigen Eingebundenseins. Wobei der Grandiosität des scheinbar aufgewerteten Subjekts die Universalität der Kontrollstrategien entspricht: Die OECD blickt auf die »Führungskraft« Lehrer, PISA misst seinen Erfolg oder Misserfolg im internationalen Vergleich. Es deutet sich an, wie Schablone und Ersatzbefriedigung verschweißt sind, wie geschlossen und stabil der weltanschauliche Mainstream ist, so dass das Ausgeschlossene im aktuellen Diskurs keine Sprache mehr findet, sondern allenfalls noch auftaucht in der Denunziation als »abgedriftete Kultur«. Wer sich die Schablone zu eigen macht und die Ersatzbefriedigung genießt, gewinnt ein stabiles Ich, das nur bei genauerer Analyse sich als falsches Ich erweist, weil es durch Verzicht und Verlust auf ein wichtiges Reservoir von Interaktionserfahrungen und Interaktionsentwürfen und durch Symbolzerfall erkauft ist.
11 Ich verwende den Begriff des Narzissmus hier deskriptiv, ohne die Definitionsprobleme und metapsychologischen Komplikationen, die die verschiedenen Narzissmustheorien mit sich bringen, zu beachten (vgl. hierzu Altmeyer, 2000).
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Einerseits lässt sich die Wirkungsmacht des unter dem Motto von Qualitätssicherung gefassten Normensystems somit als Folge der Verbindung von (scheinrationaler) Schablone und (narzisstischer) Ersatzbefriedigung verstehen, andererseits zeigt sich, dass ein Unbehagen in dieser Kultur entsteht aus: der Verengung von Räumen der Bedürfnisbefriedigung jenseits der Qualitäts- und Effizienzlogik; dem Ausschluss von bestimmten Interaktionsformen durch Abtrennung von Sprache; der Nötigung, angesichts der propagierten Selbstverantwortung und angesichts der anonymen bzw. neutral-sachlichen Kontrollarrangements diesen Ausschluss und diese Verengung selbst vornehmen und verantworten zu müssen. Eine eindrucksvolle Veranschaulichung der letzten beiden Aspekte liefert übrigens Sennetts Schilderung der Verarbeitung von Arbeitslosigkeit am Beispiel von entlassenen IBM-Programmierern, in der er hervorhebt, wie sie ihre Sprachlosigkeit überwinden und einen Weg finden, »das Scheitern untereinander zur Sprache zu bringen« (Sennett, 2000, S. 185). Er betont in diesem Zusammenhang explizit »das Heilende des Narrativen«, was in Übereinstimmung mit Lorenzer als Hervorhebung der produktiven Funktion einer Resymbolisierung interpretiert werden kann. Die Formulierung des dritten Aspekts lässt absehen, dass bei Misserfolg der Aufbau bzw. Erhalt auch eines falschen Ich misslingt, und zwar mit fatalen Folgen: Die abgespaltenen Interaktionsformen bleiben abgespalten, eine Resymbolisierung ist ohne Weiteres nicht möglich. Das schablonenhafte Normensystem bleibt nach wie vor entscheidend für die soziale Integration, so dass es nur um den Preis des sozialen Ausschlusses verworfen werden könnte. Die narzisstische Ersatzbefriedigung bleibt verwehrt, ja mehr noch: Alle Kontrollinstanzen spiegeln scheinbar neutral und objektiv das persönliche Scheitern bzw. die Niederlage im Feld allseitiger Konkurrenz, was tendenziell einer Zerstörung des Selbstwertgefühls gleichkommt. Ein aktiver Widerstand, getragen von aggressiven Impulsen gegen andere Personen und äußere Instanzen, die für das
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Scheitern verantwortlich gemacht werden können, läuft ins Leere, bleiben die Kontrollinstanzen doch unsichtbar verborgen hinter den Daten und Zahlen der Erfolgs- bzw. Misserfolgsregistraturen. Und da es zudem zur Logik der Sprachschablonen gehört, dass jeder selbstverantwortlich ist, bleibt dem Erfolglosen nichts anderes übrig, als aggressive Impulse gegen die eigene Person zu richten. Nun muss ich natürlich einschränken, dass ich hier eine Dynamik in unrealistischer Zuspitzung skizziert habe12, weil ich so getan habe, als sei die Ich-Instanz nicht geprägt durch eine Vielfalt symbolischer Strukturen und verbunden mit einem noch vielfältigeren Reservoir von Interaktionserfahrungen, sondern als könne es umfassend und einsinnig der Qualitätsnorm unterworfen werden. Das ist natürlich nicht der Fall bzw. dies bildete allenfalls eine besondere pathologische Ausnahme. Was meine Zuspitzung dennoch zu verdeutlichen vermag, sind mögliche Reaktionsweisen, die mehr oder weniger ausgeprägt das Erleben in der Kontrollkultur bestimmen. Selbst außerordentlich ichstarke Menschen, so mein Eindruck, können sich weder der Faszination des grandiosen Entwurfs eines freien Ich noch der
12 Abermals sei Sennetts Beispiel der IBM-Programmierer erwähnt: Anschaulich stellt er dar, wie nach den Versuchen, die eigene Stabilität durch Schuldzuweisungen nach außen zu wahren, die Analyse des eigenen Scheiterns in der Gruppe die Möglichkeit eröffnet, der eigenen beruflichen Lebensgeschichte narrativ Sinn zu verleihen (vgl. Sennett, 2000, S. 167–180). Sie finden in der Gruppe also durchaus einen Weg, mit dem umzugehen, was sie anfangs weder begreifen noch angemessen verarbeiten konnten, und Sennett leitet hieraus verallgemeinernd eine Strategie der Selbstbehauptung ab, indem er das zentrale Problem so kennzeichnet: »Dies ist das Problem des Charakters im modernen Kapitalismus. Es gibt eine Geschichte, aber keine gemeinsame Erzählung der Schwierigkeiten und daher kein geteiltes Schicksal. […] Die Flexibilität, die sie [die Herrscher des flexiblen Reiches, A. W.] feiern, liefert keine Anleitung, wie ein Leben zu führen sei, kann sie nicht liefern« (Sennett, 2000, S. 203).
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Drohung sozialen Ausschlusses aus dem Kreis der Modernen und Erfolgreichen völlig entziehen. Noch brisanter wird – auch ohne jegliche Zuspitzung – das Problem der Wirkungsmacht der Qualitätsschablonen, wenn wir uns vorstellen, welche sozialisatorische Kraft dieses Normensystem entfaltet, wenn bereits Kinder damit in Familie, Kindergarten und Schule konfrontiert werden, sowohl im Hinblick auf die Selbstverantwortungsforderung als auch im Hinblick auf die unpersönlichen Kontrollmechanismen. Die Berücksichtigung der Qualitätsnormen in Bildungseinrichtungen liegt insofern nahe, als die Weitergabe der Verantwortung für die Erzieher eine faszinierende Gelegenheit bietet, eigene Misserfolgserlebnisse zu vermeiden und damit die Sanktionen, die dem Erfolglosen drohen, abzuwenden: Nicht die Erziehenden sind es, die scheitern, sondern die Kinder und Jugendlichen, die gelernt haben sollten, selbständig zu lernen und methodisch zu arbeiten. Der Erfolg von Ratgeberliteratur à la Klippert (2000, 2001) jedenfalls verweist darauf, dass tatsächlich bereits an Kinder und Jugendliche jene Ansprüche gestellt werden, die mein Redner vom Anfang an die Führungskraft Lehrer stellt und die ich im Weiteren mit Stichworten wie Ich-AG oder Marketing-Charakter in Verbindung gebracht habe.
Psychoanalytische Pädagogik als Kritik Ich komme zu meiner dritten Frage, der nach den Möglichkeiten psychoanalytisch-pädagogischer Interventionen, deren Beantwortung an den bisher entwickelten zwei Voraussetzungen anknüpft, die ich noch einmal so zusammenfassen möchte: Erstens: Im Zuge einer neoliberalen gesellschaftlichen Strukturierung werden die Subjekte einer neuartigen und intensiven Modellierung und Kontrolle unterworfen, was ein Potential gesellschaftlichen Unbehagens erzeugt. Zweitens: Diese Modellierung wird unter dem Einfluss eines Amalgams von Schablone und Ersatzbefriedigung wirkungsmächtig, wodurch gesellschaftliches Unbehagen der Reflexion
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entzogen und Widerstände gegen eine relevante Kritik gestärkt werden. Diese zwei Einsichten vorausgesetzt, liegt eine erste Konsequenz auf der Hand, die auch meine Argumentation kennzeichnet: Es muss darum gehen, die faszinierenden Argumentationsfiguren des Qualitätsdiskurses zu problematisieren, und zwar in der der Psychoanalyse eigenen Perspektive: als Bewusstmachung. Es gilt, die bewusstseinsferne Dynamik der Subjektmodellierung unter der Dominanz der neuen Qualitäts-, Leistungs- und Kontrollkultur zu Sprache und Bewusstsein zu bringen. Nun mache ich mir aber keine Illusionen über die Relevanz solcher Aufklärungsarbeit in meist kleinen und ohnehin aufgeklärten Zirkeln. Welcher psychoanalytische Kultur- bzw. Gesellschaftskritiker findet in der Öffentlichkeit schon Gehör? Und welche Folgen hat es dann, dieses vereinzelte Gehörtwerden? – Ich bin da nicht sonderlich optimistisch. Meine Suche nach den psychoanalytisch-pädagogischen Perspektiven führten mich denn auch in eine ganz andere Richtung, weg von den großen Entwürfen13 hin zur alltäglichen Praxis und 13 Ich möchte aber wenigstens auf den Lösungsansatz hinweisen, den Sennett andeutet: Er sieht eine Chance für eine gemeinschaftliche Konflikt- und Reflexionskultur, in der Widerstand geleistet wird gegen die Auswirkungen des »flexiblen Kapitalismus«, gegen eine Organisation der Wirtschaft, für die eine Gleichgültigkeit kennzeichnend ist, in der »das Fehlen von Vertrauen keine Rolle mehr spielt, wo Menschen behandelt werden, als wären sie problemlos ersetzbar oder überflüssig. Solche Praktiken vermindern für alle sichtbar und brutal das Gefühl persönlicher Bedeutung, das Gefühl, für andere notwendig zu sein« (Sennett, 2000, S. 201). Sowohl Beziehungen als auch das Ich der Individuen werden desolat, gleichzeitig könnte – so Sennett – »es logisch erscheinen, daß das flexible Regime der Gegenwart gerade eine […] konflikterfüllte Gemeinschaft inspirieren könnte. Die Zeitbrüche, die soziale Desorganisation der neuen Wirtschaftordnung sollten die Menschen eigentlich dazu bringen, ihre Differenzen zu artikulieren und auszutragen, statt sich auf einen oberflächlichen Frieden einzulassen. Selbst wenn die Vorgesetzten versuchen, solch einer Konfrontation aus dem Wege zu gehen, müßten die Untergebenen […] sie eigentlich anstreben« (Sennett, 2000, S. 199).
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auch weg von neuartigen Konzepten hin zu Konzepten, die fest in der Tradition der psychoanalytischen Pädagogik verwurzelt sind. Konkret inspirierte mich die Lektüre von Helmuth Figdors Bänden zur »Praxis der psychoanalytischen Pädagogik« (Figdor, 2006, 2007). Drei seiner Überlegungen möchte ich in aller Kürze in meinen Argumentationsrahmen einfügen: Erstens: Figdors Kritik am Mythos »Schulpartnerschaft« Kaum ein informelles Gespräch unter Lehrern oder eine Klassenkonferenz über problematisches Verhalten von Schülerinnen oder Schülern gibt es, in dem nicht wie selbstverständlich gefordert wird, die Eltern müssten intensiver dafür sorgen, dass zu Hause Hausaufgaben kontinuierlich gemacht und Unterrichtsvorbereitung intensiv und gewissenhaft geschehe. Kaum ein Elterngespräch, in dem nicht dieser Anspruch an Eltern herangetragen wird und vorausgesetzt wird, dass die erfolgreiche Schullaufbahn von der intensiven Zusammenarbeit und Gleichrichtung von Schule und Elternhaus abhänge. Schulpartnerschaft ist einer der Begriffe, in denen diese allseits geteilten Auffassungen gebündelt werden. Im Lichte meiner bisherigen Argumentation zeigt sich die Verwandtschaft zu der Anforderung, das Subjekt habe sich umfassend in den Dienst von Qualität und Erfolg zu stellen. Qualitätsansprüche enden in dieser Logik also keineswegs für Schülerinnen und Schüler am Schultor, sondern bestimmen ihr Leben umfassend, was die Ausrichtung des Familienlebens auf schulisch gesetzte Leistungsstandards einschließt. Helmuth Figdor hält dagegen: Aufgabe der Eltern […] ist es, den Kindern in der Familie einen Erfahrungs- und Erlebnisraum zur Verfügung zu stellen, in welchem all die emotional so bedeutenden Regungen und Bedürfnisse der Kinder, die in unserer heutigen Schule […] leider viel zu kurz kommen, ausgiebig Platz finden können, in welchem auch andere Werte und Normen gelten dürfen. […] Die Schule ist ein wichtiger Teil des kindlichen Lebens, das ist richtig und notwendig. Aber sie darf das Leben, und das heißt auch: die für seine Entwicklung bedeutsamen Erfahrungen nicht beherrschen! (Figdor, 2007, S. 220).
Familie wäre demnach eine Sphäre, wo funktionale Qualitätsstandards außer Kraft bleiben sollen, einer psychoanalytisch sich
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verstehenden Pädagogik muss es entsprechend darum gehen, Eltern in der außerordentlich schwierigen Aufgabe zu bestärken, sich ihren Kindern gegenüber nicht zu Vertretern eines KulturÜberich zu machen, das die Schule prägt und dem sie selbst vermutlich im Berufsleben ausgesetzt sind. Zweitens: Figdors Plädoyer für die Wahrung intermediärer Räume Im Umgang mit Literatur – Märchen ebenso wie Jugendliteratur – eröffnen sich Phantasieräume, in denen eine Auseinandersetzung mit prekären Konflikten möglich wird, wie sie in der Realität Kinder überfordern können und wie sie für Erwachsene in Vergessenheit geraten sind. Figdor hebt in diesem Zusammenhang die Bedeutung von literarischen Texten hervor: Wenn es Kindergeschichten gelingt, die Kinder in entängstigender Weise mit ihren seelischen Regungen und Konflikten zu konfrontieren, so kann eben das auch bei erwachsenen Lesern passieren. Diese Geschichten können für die Erwachsenen eine Art Übergangsraum (im Sinne Winnicotts) eröffnen, in welchem sie sich mit den kindlichen Gefühlen, Ängsten und Triebstrebungen konfrontieren können, ohne unmittelbar real betroffen zu sein, weshalb diese Strebungen auch nicht sofort abgewehrt werden müssen (Figdor, 2007, S. 193).
Und an anderer Stelle – im Zusammenhang mit der Bedeutung des Musizierens – referiert Figdor ausführlich Winnicotts Theorie der Übergangsobjekte und erläutert: Die Übergangsobjekte sind schon da, werden vorgefunden, in ihrer besonderen Bedeutung hingegen vom Kind neu geschaffen […]. Allmählich weitet das Kind diese Kompensationsfunktion des einzelnen Übergangsobjekts einerseits auf eigene Aktivitäten […] aus, andererseits werden in diese Aktivitäten immer neue Bedürfnisse, welche in der Realität nicht hinreichend befriedigt werden können, aufgenommen und ängstigende Situationen in der Vorstellung zu einem guten Ende geführt. Diese Aktivitäten – von denen uns das Spielen des Kindes das vertrauteste ist – bezeichnet Winnicott nun als ›Übergangsräume‹ (Figdor, 2007, S. 236).
Werner Sesink benennt im Anschluss an Winnicott die Merkmale solcher Räume: Es sind Räume, in denen gewährleistet ist, dass man Kinder
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»›sein lässt‹ und nicht in Anpassungsforderungen erstickt«; »schützt und nicht unbewältigbaren Anforderungen aussetzt«; »›hält‹ und nicht ›fallenlässt‹«; »auf dem Weg zur Realität begleitet und nicht von dieser fernhält«; »ihnen Resonanz gibt und sie nicht sich selbst überlässt«; »ihnen Grenzen setzt und sie nicht allein für ihre Disziplinierung verantwortlich macht« (Sesink, 2002, S. 146).14 Diese Aufzählung macht deutlich, wie sehr der Anspruch, solche Räume zu schaffen und zu erhalten, im Gegensatz steht zu den streng funktionalen und umfassenden Normen des Qualitätsdiskurses. Drittens: Figdors Konzept der »verantworteten Schuld« Hier muss ich noch einmal zurückkommen auf meine Charakterisierung der neuartigen Formen von Herrschaft und die Paradoxie, dass allseits Verantwortung verortet wird und dennoch auch Verantwortung delegiert werden kann: Da jeder eigenverantwortlich ist, sind dies auch die »Kunden«. Ich hatte hervorgehoben, dass in dieser Logik es möglich ist, Verantwortlichkeit zu leugnen, indem Verantwortung an die Kunden delegiert und Leitung als »Steuerung auf Distanz« (vgl. Bloom, 2000) begriffen wird. Einfühlung und Identifikation bei Misserfolg werden vermieden, das Scheitern ist das Scheitern des Anderen.
14 Um das Missverständnis zu vermeiden, die Forderung nach der pädagogischen Schaffung intermediärer Räume als unbegrenzte Freiräume zu interpretieren, sei noch einmal Sesink zitiert: »Lehrende und Lernende können sich keinen Spielraum schaffen, in dem sie völlig unbehelligt von der äußeren Realität und ihren Anforderungen tun, was gerade ihren spontanen Eingebungen entspringt. Lehren und Lernen haben die Aufgabe, die Entwicklung eines kreativen Verhältnisses zur äußeren Realität und nicht jenseits davon in einem imaginären Leer-Raum zu fördern und zu unterstützen« (Sesink, 2002, S. 149 f.).
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Figdor nun liefert unter dem Stichwort der »verantworteten Schuld« (vgl. Figdor, 2006, S. 108 f.; 2007, S. 45 ff.) einen Gegenentwurf zu dieser Logik, indem er fordert: 1. Übernahme der Verantwortung für notwendige Grenzziehungen und damit einhergehende Frustrationen aktueller Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen. 2. Wahrnehmung der damit verbundenen Schuld, eine Schuld allerdings, die verantwortet werden kann und muss. 3. Wahrung der grundlegenden Entwicklungsbedürfnisse (vgl. Figdor, 2006, S. 186 f.; 2007, S. 257 f.) des Kindes bzw. des Jugendlichen, das heißt auch den einfühlenden Zugang zu seinen aktuellen Bedürfnissen (vgl. 2006, S. 187 f.), die nicht verwirklicht werden können, und Suche nach Möglichkeiten, einen Ausgleich für notwendige Frustrationen zu schaffen. Während in der Logik von Qualitätszirkeln Schuldgefühle abgewehrt und zum Beispiel dem Schüler, der den Leistungsanforderungen nicht gewachsen ist, die Empathie versagt werden kann, ist es die Wahrnehmung und Verantwortung von Schuld gekoppelt mit Empathie, was Figdor vom Erzieher fordert. Bei ihm geht es nicht um eine Steuerung auf Distanz und nicht um Erfolgsbilanzierung im Sinne einer Verrechnung von Daten, sondern um eine emotionale Beziehung, in der symbolische Prozesse im Vordergrund stehen statt einer Propagierung von Schablonen. Der Erzieher muss in der konkreten Situation dem Kind oder Jugendlichen die aktuelle Bedürfnisbefriedigung verwehren, tut dies aber in der Logik der Entwicklungsbedürfnisse, weshalb er die Einschränkung verantworten kann. Gleichwohl ist die Verantwortung mit Schuld verknüpft, die, wird sie nicht abgewehrt, nicht nur zu einem besonderen Bemühen um Transparenz und Einsichtigkeit führt, sondern auch zur Suche nach Kompensationsmöglichkeiten. Der Pädagoge ist kein Coach im Sinne von Coachingkonzepten, die wie selbstverständlich die Schuld am Scheitern im Objekt des Coachings situieren: »Wer nicht den Willen hat, das Heft selbst in die Hand zu nehmen, hat, dramatisch ausgedrückt, schon verloren« (Bloom, 2000, S. 46). Damit liefert Figdor ein drittes Beispiel für eine psychoanalytisch-pädagogische Argumentation, die der subjektzerstö-
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rerischen Dynamik des aktuellen Qualitätsdiskurses und seiner bildungspolitischen Konkretisierungen widerspricht.
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Das pädagogische »Unbehagen in der Kultur« Anmerkungen zur Wirkungsgeschichte eines Konzepts
Denkt man über Wirkungen von Freuds »Unbehagen in der Kultur« auf die Pädagogik nach, so ergibt sich ein widersprüchlicher Befund. Die zeitgenössische Pädagogik hat das Konzept ignoriert oder bekämpft. Bis heute lehnt der wissenschaftliche wie der gesellschaftliche Erziehungsdiskurs einen Grundpfeiler der Freud’schen Argumentation, die Hypothese vom Destruktionstrieb, weitgehend ab. Dennoch gibt es vielleicht kein anderes Konzept Sigmund Freuds, das so tiefe Spuren in der Pädagogik und der gesellschaftlichen Erziehungspraxis hinterlassen hat.
Wirkungen und Nebenfolgen des Freud’schen Konzepts Dies ist freilich nicht sorgfältiger Rezeption, sondern (jedenfalls in Deutschland) eher der prophetischen Qualität dieses Textes zuzuschreiben, der schon kurz nach seinem Erscheinen im brutalen Kulturbruch des Naziterrors seine unwiderlegliche Bestätigung gefunden zu haben schien. Die radikale Veränderung im Selbstverständnis der pädagogischen Kulturvermittler, die sich danach in Deutschland, erst langsam und beschleunigt nach den 1960er Jahren vollzog, folgte allerdings weniger Freuds Argumenten einer Rechtfertigung der repressiven Elemente von Kulturvermittlung. Vielmehr scheint sich die Überzeugung durchgesetzt zu haben, es könne den Wurzeln der »Kulturfeindschaft« das Wasser abgegraben werden, wenn die Kosten, die Leiden ihrer Vermittlung minimiert werden. Der »autoritäre Charakter«
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wurde zum Prototyp von zumindest latenter Kulturfeindschaft und zum Antityp der Pädagogik. Freuds These war bekanntlich, das Unbehagen in der Kultur entstehe aus der Diskrepanz zwischen dem Lustprinzip, welches »den Lebenszweck setzt« (Freud, 1930, S. 434) – sofern für alle Menschen gelte: »sie wollen glücklich werden und so bleiben« –, und andererseits der Tatsache, dass dieser Lebenszweck nicht realisierbar sei1: Einerseits, weil es Glück nur als Episode gebe2 und sich bei Fortdauer in bestenfalls »laues Behagen« verwandele; andererseits, weil das Unglück, das Leiden, aus drei Quellen sehr viel mächtiger fließe: vom eigenen Körper her, der zu Verfall und Auflösung bestimmt, sogar Schmerz und Angst als Warnsignale nicht entbehren kann, von der Außenwelt, die mit übermächtigen, unerbittlichen, zerstörenden Kräften gegen uns wüten kann, und endlich aus den Beziehungen zu anderen Menschen (Freud, 1930, S. 434).
Unter dem »Druck dieser Leidensmöglichkeiten« (S. 435) »ermäßigen« die Menschen ihren Glücksanspruch, »wie ja auch das Lustprinzip selbst sich unter dem Einfluß der Außenwelt zum bescheideneren Realitätsprinzip umbildete« (S. 435). Kultur wird von Freud aus dieser Perspektive als phylogenetisch überindividuell – wie auch ontogenetisch individuell – vermittelte Strategie der Leidensvermeidung konzipiert. Das »Unbehagen in der Kultur« entsteht aus dem Lustverzicht = Triebverzicht, den das Realitätsprinzip abfordert, so wie der Fuchs, der die Trauben für sauer erklärt, gleichwohl erleiden muss, dass er die Trauben nicht kriegt. Der Kern des Problems liegt für Freud freilich darin, dass »die Kultur nicht allein der Sexualität, sondern auch der Aggressionsneigung des Menschen so große Opfer auferlegt [...] dass es dem Menschen schwer fällt, sich in 1 »Es ist überhaupt nicht durchführbar, alle Einrichtungen des Alls widerstreben ihm; man möchte sagen, die Absicht, dass der Mensch ›glücklich‹ sei ist im Plan der ›Schöpfung‹ nicht enthalten« (Freud, 1930, S. 434). 2 Glück »im strengsten Sinn […] entspringt der eher plötzlichen Befriedigung hoch aufgestauter Bedürfnisse und ist seiner Natur nach nur als episodisches Phänomen möglich« (Freud, 1930, S. 434).
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ihr beglückt zu finden« (S. 474) und »die Kultur ihr stärkstes Hindernis in ihr findet« (S. 481) – aber auch den stärksten Grund für ihre Notwendigkeit, weshalb sich jede Kultur auf Zwang und Triebverzicht aufbauen muss. Nun hat, wie gesagt, die Freud’sche Destruktions- oder gar »Todestrieb«-Hypothese gerade im pädagogischen Feld kaum Anhänger gefunden. Andererseits gibt es wohl keine Freud’sche These, die mit solcher Selbstverständlichkeit in westlichen Demokratien zum pädagogischen Allgemeingut geworden ist, wie das skizzierte Grundmodell: dass nämlich, erstens, zwischen den Anforderungen der Kultur und dem individuellen Glücksstreben ein Antagonismus bestehe, der einen Ausgleich erfordere; und, zweitens, dass es pädagogische Pflicht sei, die kulturellen Zumutungen dem Educanden gegenüber auf das zu beschränken, was im Lichte seiner eigenen realistischen Lebenschancen wie auch der Rechte anderer notwendig ist. Kulturvermittlung wurde legitimationspflichtig gegenüber dem Glücksverlangen der Einzelnen.3 Wer wollte noch im Namen »höherer« Werte das individuelle Recht zu eines »pursuit of happiness« aller Bürger, auch
3 Ein interessantes Beispiel ist hier die 1978 geführte und jetzt wieder aufgeflammte Debatte über »Mut zur Erziehung« (ZfPäd 24. Jg. 1978; neu abgedruckt in: Tübinger Erklärung, 2007, S. 164ff.). Die konservative These lautete: »Wir wenden uns gegen den Irrtum, die Schule könne Kinder lehren, glücklich zu sein, indem sie ermuntert, ›Glücksansprüche‹ zu stellen. In Wahrheit hintertreibt die Schule damit das Glück der Kinder und neurotisiert sie. Denn Glück folgt nicht aus der Befriedigung von Ansprüchen, sondern stellt im Tun des Rechten sich ein« (zit. nach Tübinger Erklärung 2007, S. 164). Die liberale Gegenposition gibt die Schuld für unrealistische Glückansprüche der Werbung und den Medien, besteht aber auf dem »erstrebenswerten Ziel, an der Gestaltung einer Schule mitzuwirken, in der Kinder, Jugendliche, Lehrer und Eltern auf vielfältige Weise Glück erfahren können« (S. 164), und hält es für »eine nicht begründbare Einschränkung, wollte man dabei nur das Glück zulassen, das aus der Pflichterfüllung kommt« (S. 265). Interessant ist für unseren Zusammenhang, dass beide Seiten ihre Position mit Glücksversprechen legitimieren, wobei die zweite auf das gegenwärtige, die erste auf das nachträglich zu erwartende Glück verweist.
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der Unmündigen, auch der Educandi bestreiten? Nur noch die Klugheitsregeln des Realitätsprinzips stehen dagegen. Bertolt Brecht konnte noch gegen bürgerliche Moral als Utopie einer sozialistischen Gesellschaft formulieren, es sollten als das Lustprinzip einschränkende kulturelle Regeln keine »DuSchwein-Sätze«, sondern nur noch »Du-Ochs-Sätze« gelten (Flüchtlingsgespräche); nur noch das Vermeiden eines selbstverschuldeten Vermasselns eigener Glückschancen sei Grundregel der Moralerziehung. Heute ist dies das Grundprinzip unserer (immer noch kapitalistischen) Gesellschaft und ihrer Werteerziehung, auch wenn Streit darüber besteht, ob das »Du-Ochs-Prinzip« eher als »lebe jetzt, zahle später« oder als Kompetenzvermittlung für »die Verwaltung des unternehmerischen Selbst und seiner sozialen Beziehungen« (Masschelein u. Simons 2005, S. 28 ff.) in der Konkurrenzgesellschaft umzusetzen ist; oder ob Vorbereitung auf »Lebenskompetenz« mehr heißen muss, etwa – in Anknüpfung an neuhumanistische und romantische Subjekttheorien – als Bildung zur »Teilhabefähigkeit« (Liebau, 1999; 2002) oder als »Subjektbildung in Anerkennungsverhältnissen« (Scherr, 2002) gefasst wird. Insgesamt müsste nach Freuds These mit diesem Wertewandel das Unbehagen in der Kultur mächtig geschrumpft sein; jedenfalls das Unbehagen daran, zu Kultur und Moral hin erzogen zu werden, da es sich kein Pädagoge mehr leisten kann, Verzicht auf aktuelle Befriedigung von Glücksverlangen (Konsumlust, Sex, Wahlfreiheit der Subkultur) abzuverlangen, es sei denn mit dem Nachweis, dass die Befriedigung andern schade oder eigene zukünftige Glückschancen verbaue.4 Und zu seinem 4 Als Spitze des Eisbergs der Glückspädagogik zeigte sich die Nachricht (Tagesspiegel 12.7.2007), in einer Heidelberger Schule werde neuerdings das Fach »Glück« unterrichtet. Dazu passt, dass die DGfE auf ihrem Kongress von 2008 in Dresden ein »Glücksbankett« veranstaltete, ausgerechnet in den Räumen des Deutschen Hygienemuseums, in welchem zu der Zeit eine Ausstellung zum Thema Glück zu sehen war. Nietzsches Zarathustra kommentiert: »›Ein Lüstchen für den Tag und ein Lüstchen für die Nacht. Doch man ehrt die Gesundheit. Wir haben das Glück erfunden sagen die letzten Menschen und blinzeln.«
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Glück gezwungen werden darf niemand. Auch die Chancen zu kulturell tolerierten Formen des Auslebens aggressiver Impulse sind größer denn je – die Freizeitgesellschaft ist voll davon. Warum also so wenig Behagen an der Kulturvermittlung? Warum so viel »we don’t need no education«, warum so viel Vandalismus und so viel Burn-out bei Lehrern? Weder die sanfter gewordenen Formen der kulturellen Vermittlung noch die objektive Verringerung der materiellen Not und gesellschaftlichen Strafen, die den Normabweichler treffen, lassen es plausibel erscheinen, dass das Freud’sche Modell des Zusammenhangs von Unbehagen in der Kultur und Triebunterdrückung noch hinreichend Erklärungskraft hat. Oder doch?
Unbehagen an der Moderne Das alternative, ebenfalls psychoanalytisch fundierte Erklärungsmodell ist bekannt. Es argumentiert nicht mehr metapsychologisch/triebtheoretisch, sondern von einer Psychologie des Selbst aus. Nach Heinz Kohut sind bei narzisstischen Störungen nicht die Triebe der »gewachsene Fels« (Freud, zit. bei Kohut, 1996, S. 151), auf den die Psychoanalyse letztlich stoßen muss, sondern ihr Kern sind »narzißtische Kränkung und Depression« (S. 151), die aus defizitären primären Beziehungserfahrungen resultieren. Symptome wie erotische Perversionen, Sadismus, Größenphantasien mit dem Charakter einer »Pseudovitalität« (S. 22) sind als Triebfixierung und weitreichende Defekte des Ich »weder genetisch das primäre noch dynamisch-strukturell der zentralste Brennpunkt der Psychopathologie« (S. 75); dieser ist vielmehr »das schwache und von Fragmentierung bedrohte Selbst des Kindes« (S. 75), das aus dem erfahrenen »Mangel an emotionalem Widerhall« (S. 22) in der frühesten Kindheit resultiert. Das Selbst, auf das kein Widerhall erfolgte, war nicht in der Lage, seine archaische Grandiosität und seinen archaischen Wunsch nach Verschmelzung mit einem allmächtigen Selbstobjekt in verlässliches Selbstwertgefühl, Strebungen nach realistischem Erfolg und erreichbaren Idealen umzuwandeln. Die Abnormität der Triebe und des Ichs sind die
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symptomatischen Konsequenzen dieses zentralen Defektes im Selbst (S. 81).
Quelle des »Unbehagens« ist hier nicht Mangel an Lust infolge von Triebunterdrückung, sondern Mangel an Freude.5 Auch diese selbstpsychologische und narzissmus-theoretische Weiterentwicklung der Psychoanalyse hat, mit oder ohne genaue Rezeption, in der Pädagogik Wirkungen gehabt. Der »narzißtische Sozialisationstyp« (Ziehe, 1975; Lasch, 1982), insbesondere auch der Blick auf »narzißtische Störungen in der Adoleszenz« in Erdheims Konzept der »ausgebrannten Adoleszenz« (1984), Gottschalchs Modell des »Wunschselbst« (1992) sind in der Pädagogik zwar nicht (mehr) viel diskutiert, aber die Probleme, die sie benennen, sind es. Offenbar können bei Kindern und Jugendlichen Recht auf gegenwärtiges Glück und zukünftige Chancen in Widerspruch geraten und daraus neue Leidensquellen entstehen. Dies legt etwa die modernisierungstheoretische These nahe, dass aus dem Recht des »pursuit of happiness« Zwänge für jeden Einzelnen geworden sind, »den eigenen Lebenslauf zu gestalten, und zwar auch und gerade dort, wo er nichts als Produkt der Verhältnisse ist« (Beck, 1986, S. 216). Ich möchte diese Figur vom Zwang, Herr seiner selbst sein zu müssen, es aber als »Produkt der Verhältnisse« nicht zu können, zunächst noch etwas verallgemeinern und auf einen andern als den Freud’schen Zugang zum Phänomen kulturellen Unbehagens beziehen, nämlich auf Charles Taylors (1995) Thesen über »das Unbehagen an der Moderne«.6 Während Freuds Modell,
5 Kohut bestreitet, dass Freude sublimierte Lust sei (vgl. 1996, S. 52). »Freude wird erlebt als bezogen auf eine umfassende Emotion, wie z. B. das Gefühl, das durch Erfolg hervorgerufen wird, während Lust, so intensiv sie auch sein mag, sich auf eine begrenzte Erfahrung bezieht, wie etwa sinnliche Befriedigung« (S. 52), wobei es auch »archaische Formen der Freude« gebe (S. 53), die etwas anderes seien als archaische Formen der Triebbefriedigung. »Freude bezieht sich auf Erfahrungen des gesamten Selbst«, Lust dagegen »auf Erfahrungen von Teilen und Bestandteilen des Selbst« (S. 53). 6 Natürlich ist die kultur- und geschichtsphilosophische Frage nach dem Unbehagen an der Moderne nicht identisch mit Freuds Unter-
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historisch relativierend, ein Modell der bürgerlichen Moderne genannt werden könnte, das deren Horizont freilich schon selbstreflexiv überschreitet, blickt Taylor auf eine postmoderne Gesellschaft, der die Norm individueller Autonomie und eine »Kultur der Authentizität« (S. 47) zum »unentrinnbaren Horizont« (S. 40) geworden ist. Sie ist aber zugleich von den Verfallsformen eines in sich widersprüchlichen Subjektivismus bedroht, der jenes Unbehagen produziert. Ich will dies auf das pädagogische Unbehagen an der Rolle als Kulturvermittler beziehen, das gerade daraus entsteht, dass Adressaten vielleicht unter den Folgen ihrer Kulturverweigerung leiden, aber kaum an der Unterwerfung unter kulturelle Normen. Ich will schließlich psychoanalytisch-pädagogische Modelle der Bearbeitung dieses Unbehagens vorstellen und an Beispielen zeigen, wie groß die Herausforderung zu dieser Bearbeitung sein kann. Quelle des Unbehagens nennt Taylor zunächst eine »Errungenschaft« der Aufklärung, die nur wenige rückgängig machen wollen: »wir leben in einer Welt, in der Menschen das Recht haben, ihr eigenes Lebensmuster selbständig zu wählen, ihrem eigenen Gewissen folgend zu entscheiden, welche Überzeugungen sie vertreten wollen, und die Form in zahllosen Hinsichten zu bestimmen, über die ihre Vorfahren keine Kontrolle hatten« (Taylor, 1995, S. 8). Aber: Die dunkle Seite des Individualismus ist eine Konzentration auf das Selbst, die zu einer Verflachung und Verengung des Lebens führt, das dadurch bedeutungsärmer wird und das Interesse am Ergehen anderer oder der Gesellschaft vermindert (S. 10).7
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suchung des Unbehagens in der Kultur. Es ist aber doch interessant, der Frage nachzugehen, ob die Anwendung der Psychoanalyse auf Kultur und Zeitdiagnosen (und deren Konsequenzen für die Pädagogik) sich heute noch an Freuds oder (zumindest auch) an Taylors Entwurf orientieren sollte. Mehrfach (z. B. Taylor, 1995, S. 10.) zitiert Taylor De Tocquevilles Sentenz, diese Situation drohe, den Menschen »gänzlich in die Einsamkeit seines Herzens einzusperren«.
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»Permissive Gesellschaft« (S. 10 u. ö.) und »Kultur des Narzißmus« (S. 66 u. ö.) sind die Stichworte. Den Gegensatz zu Freuds Fragestellung markierend könne man auch sagen: Das, was »den Lebenszweck setzt«, dass Menschen »glücklich werden und so bleiben wollen«, ist zum Leitgedanken der Kultur geworden, aber die Freude daran will sich nicht so recht einstellen. Um zu beweisen, dass hierbei nicht nur Moralisten und Kulturpessimisten unbehaglich ist, entfaltet Taylor die Selbstwidersprüche einer Kultur, die einem Ideal gemäß lebt, das sie selbst hintertreibt. Sie zwingt zur Wahl eines eigenen Lebensentwurfs, überlässt aber dem Belieben der Einzelnen welche Alternative bedeutsamer ist. Damit »wird die Vorstellung von der Selbstwahl ihrerseits trivial und somit inkohärent« (S. 49). Taylors zweite Argumentationslinie ist, dass der moderne Vorrang der »instrumentellen Vernunft« es möglich mache, dass nicht nur Gegenstände und Lebensverhältnisse, sondern auch andere Menschen und wir selbst »als Rohstoffe oder Werkzeuge für unsere eigenen Vorhaben behandelt werden« (S. 11). Wenn aber im Namen der Authentizität »persönliche Beziehungen« nur noch als »instrumentelle Hilfsmittel zur individuellen Selbstverwirklichung hingestellt werden« führe dies »zum Scheitern der eigenen Absichten« (S. 31). Denn: »Das Ideal der Selbstwahl setzt voraus, dass es außer der Selbstwahl noch weitere bedeutsame Fragen gibt« (S. 50). Eben dadurch, dass man Forderungen aus dem Bereich jenseits des eigenen Selbst ausklammert, macht man die Bedingung der Bedeutsamkeit zunichte und riskiert daher die Trivialisierung. Insofern die Menschen hier ein moralisches Ideal anstreben, führt diese Selbstabschottung zur Blockierung des eigenen Vorhabens. Sie macht die Voraussetzung zunichte, unter der das Ideal verwirklicht werden kann. (S. 50f.)
Ich möchte hier nicht weiter auf Taylors Philosophie des modernen Selbst eingehen, sondern nur die Stelle markieren, an dem dies für eine pädagogische Fragestellung bezüglich des »Unbehagens in der Kultur« relevant wird. Unbehaglich kann es erstens für Jugendliche werden, die in einer »Kultur der Authentizität« die bekannte und paradoxe doppelte Entwicklungsaufgabe haben:
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einen völligen Neuaufbau ihrer personalen Identität in einer Zeitspanne (zu) bewältigen, in der ihnen mit massivem Nachdruck zugleich soziale Integrationsleistungen, nämlich soziokulturelle Anpassungs- und ökonomisch relevante Qualifizierungsanforderungen abverlangt werden (Hurrelmann u. Rosewitz, 1985, S. 27).
Also adoleszentes Moratorium für alle, verbunden mit dem Dilemma – je schlechter die Ausgangsbedingungen desto mehr –, dass die Wege der Selbstverwirklichung entweder persönlich bedeutungslos oder sozial chancenlos werden können oder beides sich gegenseitig verstärkt. Unbehaglich wird es aber auch für die Pädagogen, die einerseits gar nicht anders können, als von dem »handlungstheoretischen Postulat« auszugehen, dass Personen im Jugendalter, auch wenn sie typischerweise noch nicht den vollen Grad der Autonomie des Handelns und der ausbalancierten Ich-Identität erworben haben, als produktiv realitätsverarbeitende Personen und als schöpferische Konstrukteure ihrer Lebenswelt agieren (S. 26).8
Andererseits können Pädagogen aber auch nicht vermeiden, als objektive Repräsentanten einer Realität genommen zu werden, welche die Entwicklung ihrer Adressaten prägt. Das heißt, sie müssen mit den Folgen leben, wenn die »schöpferischen Konstrukteure« eigener Lebenswelten solche Schöpfungen mit der Realität verwechseln, weil in ihrer Wahrnehmung die pädagogischen Repräsentanten der Realität nichts unabhängig davon Bedeutsames mehr vermitteln.
8 Markige Appelle an Disziplin- und Wertevermittlung gehen an jener doppelten Entwicklungsaufgabe vorbei; und der Zwang zur selbstreflexiven Vergewisserung über die eigenen Wünsche ist ja schon längst vom Jugendalter ins Kindesalter vorgedrungen.
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Ist das pädagogische Unbehagen produktiv zu wenden? Ich möchte im Folgenden weder Taylors Thesen vom Unbehagen an der Moderne noch die Frage nach dem narzisstischen Charakter unserer Gesellschaft oder der Relevanz narzisstischer Störungen für jugendliche Devianz nachgehen. Ich betrachte beide nur als Hintergrundfolie, um das Thema des pädagogischen Unbehagens in der Kultur(vermittlung) weiterzuverfolgen, und zwar dort, wo es am offenkundigsten in Erscheinung tritt: im pädagogischen Umgang mit heranwachsenden Adoleszenten. Zwei Ansätze psychoanalytischer Pädagogik sind mir bekannt, die versuchen, das pädagogische Dilemma als ein bearbeitbares zu beschreiben. Der eine, Freuds Konzept der Sublimierung nahe stehend, verweist auf die Bedeutung von Arbeit, die entwicklungspsychologisch umformuliert als »Selbstauffassungsarbeit« von Bernfeld (1931) in Anschlag gebracht wir.9 Erdheims Typologie (1984) gelingender Adoleszenz knüpft daran an, die zu den Tendenzen des Misslingens (er nennt sie »eingefrorene«, »ausgebrannte« und »zerbrochenene« Adoleszenz)10 eine Alternative sucht, die darin besteht, einerseits für die Entfaltung eines narzisstischen Größenselbst Jugendlicher hinreichend gesellschaftlichen Freiraum zu gewährleisten und andererseits »Erziehung 9
»Die Bedingungen, die zu intensiver Selbst-Auffassungsarbeit führen, können sowohl von außen her gesetzt werden, als auch aus inneren Konflikten entspringen. Jeder Vorwurf, jede Enttäuschung, jede Selbstwertherabsetzung, die die Realität bringt, gibt die Chance für gesteigerte Selbstauffassung und schafft dieser intensivierten psychischen Arbeit durch Introversion die Kraftquelle« (Bernfeld, 1931/1978, S. 39). 10 Unter »eingefrorener« Adoleszenz versteht er, ähnlich wie in Bernfelds Konzept der »einfachen Pubertät« (1935), den unmittelbaren Übergang vom kindlichen Selbstverständnis in die Identifikation mit der Erwachsenenrolle in traditionsgebundenen Lebensverhältnissen; »auszubrennen« droht Adoleszenz dann, wenn die Größenphantasien auf keine gesellschaftliche Reaktionen treffen und in ihren Freiräumen verpuffen; »zerbrochen« nennt Erdheim Adoleszenz, wenn sich partiell entfalteter adoleszenter Narzissmus und ein »unflexibles, erstarrtes Ich« verbinden (vgl. Erdheim, 1984, S. 316 ff.).
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zur Realität« als ein sich Abarbeiten zu ermöglichen. Gottschalch zielt mit seiner Gegenüberstellung von adoleszentem »Wunschselbst« und reifem Ich-Ideal und mit seiner Frage: »kann Narziß noch Ödipus werden?« (Gottschalch, 1988, S. 95 ff.) in eine ähnliche Richtung. Der zweite Ansatz rückt mit objektbeziehungs-theoretischem Ausgangspunkt das Thema der »Generationendifferenz« (Winterhager-Schmid, 2000; King, 2004) ins Zentrum. Ein Aspekt der skizzierten gesellschaftlichen Entwicklung ist ja, dass der Generationenkonflikt einerseits entdramatisiert wurde – laut letzten Shellstudien hat die weit überwiegende Zahl der Jugendlichen ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern –, es andererseits aber Bedrohungen der Spielräume adoleszenter Individuation gibt, sei es als repressive Verengung der Spielräume oder als Alleingelassen-Werden oder beides im Wechsel. Die Chancen des Gelingens steigen, so die zentrale These Kings, wenn sowohl in familiären als auch außerfamiliären Lebensbezügen die adoleszente Entwicklung in »Generativität« eingebettet ist; das heißt in die soziale Gewährleistung, dass adoleszente Individuation im Rahmen eines Moratoriums gefördert und nicht zer- oder gestört wird. Dies impliziert eine immer neu zu bestimmende Kombination von Fürsorge und Zurückhaltung, von Abgrenzung und Zur-Verfügung stehen (King, 2004, S. 51; im Orig z. T. kursiv).
In dieser Perspektive wird das pädagogische Unbehagen an der Kulturvermittlung erklärbar. Es resultiert für die erwachsene Generation aus den unvermeidlichen Ungewissheiten und Ambivalenzen, die mit dieser Aufgabe verbunden sind, das heißt aus der Zumutung, ihre »generative Wirkmächtigkeit« nur um den Preis erfahren zu können, dass sie »zugleich die Relativierung ihrer eigenen Definitionsmacht und Weltsichten mit vorbereitet« (King, 2004, S. 52). Für die jüngere Generation wird »Unbehagen an oder auch Ablehnung von Kulturvermittlung« aus der Figur eines unvermeidlichen »Anerkennungsvakuums« (S. 55) erklärbar. Es folgt aus der Aufgabe »Statuspassagen im Modus der ›Selbstsozialisation‹« (S. 59) zu bewältigen und setzt Jugendliche voraus, fähig, »die damit verbundenen Schmerz-, Einsamkeits- und Verlustempfindungen auszuhalten und diese Erfahrung produktiv zu wenden« (S. 55), das heißt, sich »eine Position
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eigentätiger, eigensinniger und selbst verantworteter ›Erzeugerschaft‹« (S. 58) zu erobern. Fazit an diesem Punkt: Erklärt man das »Unbehagen in der Kultur« und insbesondere im Prozess ihrer Vermittlung aus den Paradoxien der Adoleszenz in modernen Gesellschaften, so gibt es weder die Möglichkeit, das Unbehagen mit Appellen an »Mut zur Erziehung« wegzudrücken noch es mittels liberaler Verhandlungspädagogik zu verleugnen, sondern nur, es als unvermeidliche Kehrseite produktiver Erziehungsarbeit zu akzeptieren. Die bleibenden Fragen sind freilich: Wenn intergenerationelles Leben »knappe Ressource« (Müller, 2000) geworden ist, für manche Kinder und Jugendliche jedenfalls, wie institutionalisiert man dann hinreichende Chancen für die Erfahrung von Generativität? Und wenn solche Chancen – etwa durch hinreichende Angebote der Jugendarbeit – geschaffen sind, dann ist immer noch ungewiss, ob deren Personal über die professionelle Sensibilität und Selbstreflexion verfügt, die nötig sind, um abverlangte prekäre Balancen auch außerhalb von Familienbindungen gelingen zu lassen oder auch unvermeidliche Durststrecken zu überwinden.
Sozialpädagogische Beispiele. Überflüssigkeit oder Ohnmacht der Kulturvermittler? Ich kann hier diese Fragen nicht beantworten, sondern beschränke mich darauf, an zwei sozialpädagogischen Beispielen die Schwierigkeiten einer angemessenen Antwort zu verdeutlichen. Das erste Beispiel ist keine sozialpädagogische Fallgeschichte, sondern der 2007 in die Kinos gekommene, inzwischen Preis gekrönte Dokumentarfilm »Prinzessinnenbad«. Er gibt ein sehr dichtes Portrait vom Leben dreier 15-jähriger Mädchen aus Berlin-Kreuzberg. Das für Pädagogen irritierende an diesem Film ist, dass es sich um Jugendliche handelt, die im eigenen Bewusstsein jegliche Erziehungsbedürftigkeit hinter sich gelassen haben. Sie inszenieren sich als vitale Erwachsene, die sich alle entspre-
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chenden Freiheitsrechte und Genussmittel (auch illegale) längst erobert haben. Schulpflichten handhaben sie optional und beachten sie allenfalls unter strategischen Gesichtspunkten. Soweit Eltern oder Lehrer in dem Film auftauchen verhalten sie sich weitgehend wie gleichaltrige Freunde. Sie sind zwar manchmal anderer Meinung, erheben aber keinerlei Anspruch auf pädagogische Autorität. Die Mädchen führen ein selbstbewusstes und offenkundig lustvolles Sexualleben, das weder von irgendwelchen Verboten noch vom Mangel an Gelegenheiten eingeschränkt wird. Sie leben dies in einer lustvoll-aggressiven Fröhlichkeit, die sie als gelungene Beispiele des in der Literatur zur sozialpädagogischen Mädchenarbeit gefeierten Typs des »starken Mädchens« (z. B. Stauber, 1999; kritisch dazu Fleßner, 2000) erscheinen lässt. Wer in ihnen »Modernisierungsverlierer« sieht oder ihnen als Teil eines zukünftigen »Prekariats« besondere Fürsorge zuwenden möchte, steht in großer Gefahr, sich lächerlich zu machen. Sie sind nicht erkennbar von Kriminalisierung bedroht, mit Ausnahme einer von ihnen, die ihrer Oma 2000 Euro geklaut hat und deshalb ein paar »Arbeitsstunden« abzuleisten hat, die ihr offenkundig Spaß bringen. Die Kneipenchefin, bei der sie das macht, scheint die Einzige zu sein, die Anerkennung als Autorität bei ihr genießt. Objektiv sind sie freilich schon altersbedingt in der Situation von Schülerinnen mit zum Teil sehr ungewissen Chancen. Die Ressourcen für ihren keineswegs anspruchslosen Lebensunterhalt sind nicht erkennbar und können kaum aus eigener Arbeit stammen. Soweit sie ihre Zukunft reflektieren, schwanken sie zwischen realistischem Kalkül bezüglich noch erforderlicher »Abschlüsse«, die »zu schaffen« sind, und vagen Erwartungen der Fortsetzung ihres jetzigen Lebens. Es mag also wohl sehr wünschenswert sein, dass es in ihrem Umfeld Erwachsene gäbe, die sie als glaubwürdige Autoritäten oder vielmehr »generative« Begleiter ihrer »Selbstauffassungsarbeit« akzeptieren können und die sie vor dem »Ausbrennen« ihres adoleszenten Lebensentwurfs wirksam warnen könnten. Aber der Habitus dieser Mädchen wie auch ihr lebensweltliches Umfeld geben dem keine Chance. Es sei denn, ein Absturz passiert, der sie doch noch mit der Freud’schen Erkenntnis vertraut macht, »dass ein Leben
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nach dem Lustprinzip« undurchführbar ist. Hat also die Aufgabe der pädagogischen Kulturvermittlung hier erst dann eine Chance, wenn die Staatsgewalt oder eine andere Strafe für riskante Lebensführung zuschlägt? Oder bleibt nur abzuwarten, in welche Richtung die »Selbstsozialisation« sich auswächst? Das zweite Beispiel ist eine Fallgeschichte aus der Jugendhilfe. Sie stammt aus dem Evaluationsbericht (Aissat et al., 2005) eines Projekts, genannt BOB (Bude ohne Betreuung), das in Berlin ein freier Träger in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt solchen Jugendlichen anbietet, die als Trebegänger und oft im Drogenmilieu leben und für Jugendhilfeangebote des Typs »Hilfen zur Erziehung« mit Hilfeplan etc. nicht bereit sind oder (in den meisten Fällen) dort »rausgeflogen« sind (Müller u. Schwabe, 2009). Man könnte das Projekt als Wiederbelebung eines Rousseau’schen Erziehungsversuchs verstehen: Es mutet den Jugendlichen explizit keine pädagogische Regeln zu, sondern unterstützt die Jugendlichen bei der Aufgabe, mit der selbst gewählten Lebensweise besser klar zu kommen. Sie bekommen eine – allerdings spartanisch ausgestattete – Bude zur Verfügung, um deren Zustand sie sich selbst kümmern müssen; sie bekommen Beratung, eine Werkstatt mit Verdienstmöglichkeit und eine kleine wöchentliche Finanzausstattung angeboten, die ihnen aber nur auf Nachfrage und durch Hingehen zur Verfügung steht. Ziel ist, neben einer existentiellen Absicherung und der Entlastung durch einen Rückzugsraum, die positiven und negativen Konsequenzen eines selbst bestimmten Lebens erfahren zu lassen, um daraus Chancen für »eine etwas geklärtere eigene Perspektive« zu entwickeln (vgl. Aissat et al., 2005, S. 14 ff.). Wenn ich aus diesem Projekt im Folgenden den problematischen Fall Frank vorstelle, so nicht, um das Projekt zu diskreditieren, das durchaus Erfolge seiner paradoxen Erziehungsstrategie vorzuweisen hat; allerdings, wie auch bei Frank, oft nur dann, wenn die Jugendlichen auch mit Sanktionen der Justiz konfrontiert waren, die die Bereitschaft nachzudenken anregten und dazu, den Freiraum des Angebots zum Erproben eines anderen Verhaltens zu nutzen. Bei Frank handelt es sich um einen zur Zeit seiner Teilnahme am Projekt 15-jährigen Drogendealer, »im großen Stil«, wie er
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selbst meint, wenn auch nur mit »Gras«, der in der Evaluation am Beispiel des eigenen Falls dem Projekt sehr intelligent die Leviten liest: also ich finde, das ist wirklich was für Leute, die … wo man auch die Prognose stellen kann, dass der auf jeden Fall so sich sagt, »so ich kämpfe jetzt, ich zieh’ meinen Arsch hoch« – aber das sind nun mal sehr wenige Leute, die so denken und so drauf sind […] Ansonsten ist das ’ne Produktionshalle für Kleinkriminelle.
Das Wohnangebot fand Frank unzumutbar klein und dreckig durch die Vorbewohner; das Geld, das er eigentlich nicht brauchte, nahm er mit, obwohl er die Notwendigkeit, es sich holen zu müssen, als »Schikane« empfand. Dennoch sagt er über das Angebot »ohne Regeln«: Für mich war es perfekt, also im Nachhinein natürlich nicht perfekt, da ich sowieso jetzt sagen kann, es hätte mich eh keiner von meinem Weg abbringen können, ob mit Regeln oder ohne […] also für ’nen Drogenticker ist es eine der perfektesten Umgebungen so.
Er erläutert, er hätte im »betreuten Wohnen« vermutlich »mehrere Razzien gehabt« oder wär ich in ’ner normalen Wohnung gewesen, ich glaub ich hätte da jeden zweiten Tag wegen Ruhestörung die Bullen gehabt, und dadurch, dass ich halt damals auch vor grün so überhaupt keinen Respekt hatte. So hätte ich mich auch mit denen geboxt, also das hätte noch schlimmer ausarten können.
Frank hatte sich beim Interviewzeitpunkt inzwischen von diesem Leben gelöst, bestreitet aber, dass BOB ihm dabei geholfen habe. das habe ich nur mir allein zu verdanken und das kann mir auch keiner erzählen das war dadurch oder durch die Drogentherapie […] das habe ich durch mich und meine eigene Power geschafft.
Hilfreich nicht mehr zu dealen scheint aber gegen Ende der BOB Zeit eine drohende Freiheitsstrafe gewesen zu sein: auf jeden Fall hab ich mir dann gedacht, ›was machste denn jetzt, wenn du wirklich in den Knast sollst, weil auf Knast haste keinen Bock, du brauchst deine Freiheit?‹ Ich finde, das ist mit die schlimmste Strafe, die sie einem aufbrummen können, so einen einsperren in einer Acht-
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Quadratmeter-Zelle und nur eine Stunde am Tag Ausgang, also die Vorstellung für mich war krank.
Spannend an der Fallgeschichte scheint mir, dass sie das pädagogische Dilemma auf beiden Seiten in voller Blüte zeigt. Frank gehört zu einer extremen Variante von Jugendlichen, die jegliche Art von pädagogischer Beeinflussung seiner Lebensweise verweigert. Pädagogen, die sich um ihn kümmern, kann das nicht gleichgültig lassen, da er objektiv Wege der Selbstverwirklichung wählt, die ihn selbst und andere massiv gefährden. Der »Rousseau’sche« Ansatz, das pädagogische Dilemma zu lösen, folgt einer überzeugenden Logik: einerseits seine Haltung als »schöpferischer Konstrukteur seiner Lebenswelt« zu akzeptieren, ihm unterstützend Freiraum dafür zu geben, andererseits den Rahmen der Unterstützung so zu begrenzen, dass Frank hinreichend klar mit den realen Folgen seines selbstbestimmten Lebens konfrontiert wird. Leider gelingt es aber Frank spielend, das Arrangement vorzuführen.11 Er nutzt es als Schutzschild für seine krummen Geschäfte, verspottet es als Produktionshalle für Kleinkriminelle. Andererseits reagiert er mit prompter Einsicht auf die Drohung des Gerichts mit Gefängnis und ändert sein Verhalten. Und dann sagt er im Rückblick: Das habe ich nur mir allein zu verdanken. Das ist kränkend für die Pädagogik. Ist sie hier überflüssig? Oder nur ohnmächtig, wenn sie nicht die Strafjustiz als Drohkulisse im Hintergrund hat?
11 Dies ist nicht als Kritik an der Einrichtung BOB gemeint, die keineswegs so naiv ist, wie ihr Zögling Frank sie hier darstellt. Es soll vielmehr exemplarisch die Herausforderung und die Fallen deutlich machen, die Pädagogen drohen, wenn sie es mit so intelligenten Gegenspielern wie Frank zu tun kriegen.
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Fazit Welche Konsequenzen kann man aus den Beispielen für die Pädagogik ziehen? Es sind einerseits zugespitzte Beispiele von Jugendlichen als schöpferische Konstrukteure ihrer eigenen Lebenswelt. Eine Pädagogik, die Disziplin (Bueb, 2007) – also im Sinne Freuds Durchsetzung von Triebverzicht – als Voraussetzung und Ausgangspunkt einer Erziehung zur Autonomie setzt, läuft hier ins Leere. Sie gehen einfach nicht mehr hin, es sei denn, sie werden durch die Strafgewalt eines Richters oder materieller Not dazu gezwungen. Beides wird aber meist erst dann wirklich spürbar, wenn alle besseren Chancen für ein gutes Leben bereits unwiederbringlich vorbei sind. Eine emanzipatorische Pädagogik aber, die sich das Verbreiten von Realangst (zu Recht) verbietet und zugleich weniger auf »Über-Ich-Bildung« denn auf eine »Subjektbildung in Anerkennungsverhältnissen« (Scherr, 2002) setzt, läuft hier ebenso ins Leere, wenn es kein intergenerationales Gegenüber mehr gibt, mit dem solche Anerkennungsverhältnisse erstritten werden können, oder wenn sich die Versuche dazu in »Macht-Ohnmacht-Spiralen« verstricken (vgl. v. Freyberg u. Wolff, 2005, S. 11 u. ö.). Wie diese Autoren an Beispielen »nicht beschulbarer Jugendlicher« zeigen, kann sich die Haltung, Autonomie als Abwehr gegen Realitätseinsicht zu nutzen, wechselseitig verstärken mit den Versuchen, diese Haltung mal helfend, mal repressiv zu durchbrechen. Dies machen für mich auch die differenzierten Beiträge in der Diskussion zu Buebs Thesen (neue praxis 2007, bes. Winkler, 2007 sowie Brumlik, 2007) nicht deutlich genug (wohl aber Winkler, 2006). Es geht nicht, wie Otto (2007) meint, darum, die neuen »hegemonialen Bestrebungen« einer auf bedingungslose Unterwerfung, Disziplin und Ordnung (vgl. Otto, 2007, S. 163) setzenden Pädagogik zu bekämpfen, sondern um eine andere Frontstellung: Man muss Gesellschaftlichkeit und Kultur den Individuen geradezu didaktisch präsentieren, damit diese eine Gesellschaft aneignen können, um sich dieser erwehren zu können und substantiell Autonomie zu gewinnen, die ihnen formal schon angetan wurde (Winkler, 2006, S. 63).
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Wo dafür die Chancen von Anfang an schlecht waren, gilt freilich mehr denn je, was Bernfeld als sozialen Ort der »Tantalussituation« beschrieben hat: Vor dem Verlust der Aufstiegschancen, der durch ein Delikt eintreten kann, vor allen ökonomischen und sozialen Folgen der Strafe, haben sie daher keine genügende Angst mehr. Sie werden weniger abgeschreckt, weil in ihrer Situation rechtschaffen zu sein real nicht lohnt; es bringt keine entsprechenden sozialen Kompensationen (Bernfeld, 1931a/1974, S. 343).
Bernfeld meint, dass hier ein Über-Ich von normaler Stärke allein, ohne die Realangsthemmungen, nicht ausreicht, um das Verhalten des Individuums am sozialen Ort der Tantalussituation in die Grenzen zu bannen, die am sozialen Ort des Gesetzgebers und Richters als sozial beurteilt werden (S. 343).
Die Realangst funktioniert allerdings sehr wohl noch bei denen (der Mehrheit), für die das Versprechen der demokratischen Gesellschaft noch plausibel ist, dass »der Tüchtige, Begabte, der ›Brave und Glückliche‹ jede beliebige Stufe sozialen Ansehens und kultivierter Triebbefriedigung erreichen kann« (S. 342) – im Zweifel sogar ohne Überich-Bildung und Gewissen. Pädagogische Verstärkung von Realangst ist hier wie dort weder nötig noch wünschenswert. Wohl aber Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Formen einer Verwechslung eines »Wunschselbst« (Gottschalch, 1992) mit realem Erwachsensein. Es wäre mehr als fatal, wenn die Pädagogik diese Aufgabe den Instanzen gesellschaftlicher Macht allein überlassen würde, seien es diejenigen, die über Aufstiege und Karrieren entscheiden, seien es die Jugendrichter und ihre Helfer. Was heißt das für die öffentliche Erziehung? Natürlich braucht sie mehr »Mut zur Erziehung«. »Die Konservativen haben meistens recht – außer bei den Gründen«, hat ein kluger Mensch gesagt. Es braucht Mut, sich abzufinden mit dem Machtverlust der Pädagogik, die weder die Chance mehr hat, »Triebverzicht« einfach einzufordern, noch auf die Realangst vor der Konkurrenzgesellschaft allzu sehr bauen sollte, noch sich mit der netten Kumpelrolle begnügen kann. Wenn insbesondere für die öffentliche Erziehung gilt, dass sie ihre »generative Wirkmächtigkeit«
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nur um den Preis erfahren kann, dass sie »zugleich die Relativierung ihrer eigenen Definitionsmacht und Weltsichten mit vorbereitet« (King, 2004, S. 52), dann muss sie doch den Mut behalten, sich diese Relativierung entreißen zu lassen und sie nicht den Mädchen und Jungen hinterherzuwerfen. Auch Respekt zu fordern wie auch des Gegenübers eigene Definitionsmacht zu respektieren, verlangt »Mut zur Erziehung«. Auch zur »Selbstauffassungsarbeit« Jugendlicher (Bernfeld, 1931) kann sie nichts leisten, wenn sie nicht auch mit schmerzlichen Entscheidungen konfrontiert und die folgenreichen Weichenstellungen jugendlicher Lebensentwürfe nur mit akzeptierender Haltung und Infotainment begleitet. Sie braucht auch Mut, um dem Druck zu widerstehen, »Forderungen aus dem Bereich jenseits des eigenen Selbst« (Taylor, 1995) auszuklammern und so der »Trivialisierung« des Lebens Jugendlicher Vorschub zu leisten. All dies mit Freud unter die Formel der Vermittlungsaufgabe für einen kulturell notwendigen Triebverzicht zu subsumieren, kann freilich nicht mehr der Beitrag einer psychoanalytisch belehrten Pädagogik sein. Als kulturanthropologische These mag Freuds Erklärung des Unbehagens in der Kultur ihren (begrenzten) Wert behalten. Auch als Grenzwächterin gegen einen gefährlichen pädagogischen Optimismus, der meint, aller Destruktivität Jugendlicher Herr werden zu können oder sie ausschließlich als Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse sieht – und dabei die im Grenzfall unentbehrliche Rückendeckung rechtlicher Strafgewalt für den Erhalt des pädagogischen Handlungsraums leugnet –, bleibt sie relevant. Als Orientierung für einen angemessenen Erziehungsbegriff aber ist sie in ihrer kulturaffirmativen wie auch in ihrer kulturkritischen Auslegung einfach obsolet.
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III. »Unfreudige« Tendenzen in den Entwicklungslinien der Psychoanalyse
Günther Bittner
Muss ich mein eigener Feind sein? Ein Plädoyer für Freuds moralkritische Perspektive
Denken Sie, ein Kerl spielt den Ethiker, den Edlen, der sich gegen den Gemeinen wendet, und erwirbt sich so das Recht: Unsinn zu quatschen, seine Ignoranz und Leichtfertigkeit zu paradieren, seine Galle auszuleeren, zu verdächtigen und zu verdrehen. Das alles im Namen der höheren Sittlichkeit ... (Freud an Pfister über den zeitgenössischen Moralpädagogen Foerster).
Ich will einleiten mit einer etwas heftigen Anekdote, die der große Analytiker Carl Gustav Jung in einem Aufsatz über das Gewissen zum Besten gegeben hat: Ein Vater gibt seinem Sohn den folgenden weisen Ratschlag mit auf den Lebensweg: »Jetzt bist du zwanzig. Die gewöhnlichen Leute halten sich an die Bibel und an das, was der Pfarrer sagt, für die Intelligenteren ist das Strafgesetzbuch da« (Jung, 1958b, S. 503). Ebenso provozierend ist eine Äußerung Freuds in einem Brief an seinen Freund Oskar Pfister, der Psychoanalytiker und zugleich ordinierter evangelischer Pfarrer war: »Ich zerbreche mir nicht viel den Kopf über Gut und Böse, aber ich habe an den Menschen durchschnittlich wenig ›Gutes‹ gefunden. Die meisten sind nach meinen Erfahrungen Gesindel, ob sie sich laut zu dieser, jener oder keiner ethischen Lehre bekennen« (Freud u. Pfister, 1963, S. 62). Diese beiden Äußerungen sollen belegen, dass die beiden großen Gründergestalten der Psychoanalyse und Tiefenpsychologie keine allzu hohe Meinung vom Sittengesetz und von der Ethik hatten. Alles, was ein intelligenter Mensch zu beachten hat, steht im Strafgesetzbuch – was darüber hinausgeht, ist für die
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Dummen. So lautet, provozierend überspitzt, die Sentenz von Jung. Und Freud erklärt, sicherlich ebenso überspitzt, um seinen Freund, den Pfarrer, zu provozieren, die Menschen in Bausch und Bogen für Gesindel, mögen sie auch noch so edle Prinzipien vor sich hertragen. Ich stelle diese beiden Provokationen meinen Überlegungen voran, die von Schuldgefühl und Gewissen aus einer psychoanalytischen und moralkritischen Perspektive handeln sollen. Ich will, angelehnt vor allem an Freud, mit Ausblicken auf Jung und andere, die These vertreten, dass Schuldgefühle und Gewissensbisse Ausdruck einer Feindschaft mit mir selbst sind – vor allem dazu da, mich neurotisch und lebensuntüchtig zu machen. Wie es dazu kam, dass die Psychoanalyse diese ursprünglich moralkritische Position Freuds verlassen hat und heute nahezu die gegenteilige einnimmt, und ob die moralisch motivierte Selbst-Feindschaft überwunden werden kann, wird in einem weiteren Schritt zu erörtern sein.
Müssen schon Kinder sich schuldig fühlen? Der amerikanische Schriftsteller Frank McCourt erinnert sich an seine »unglückliche Kindheit« im stockkatholischen Irland. Ironisch vergibt er allen, die seine Kindheit verdunkelt haben: von Papst Pius XII. über seinen zuständigen Bischof, der alles und jedes für Sünde hielt, bis zu jenem Priester, der mich aus dem Beichtstuhl jagte, als ich mich zu den Sünden der Selbstbefleckung und des Diebstahls von Pennies aus der Börse meiner Mutter bekannte. Er sagte, ich ließe keine aufrichtige Reue erkennen, schon gar nicht in fleischlichen Dingen ... Ich vergebe diversen rabiaten Schulmeistern, dass sie mich an den Haaren aus der Bank zogen. [...] Von meinen Eltern und anderen Erwachsenen hörte ich nur, das sei alles zu meinem Besten. Ich vergebe ihnen ihre himmelschreiende Heuchelei und frage mich, wo sie heute sein mögen. Im Himmel? In der Hölle? Im Fegefeuer (wenn es das noch gibt)? Ich kann sogar mir selbst vergeben, obwohl ich immer wieder stöhnen muss, wenn ich auf verschiedene Phasen meines Lebens zurückblicke. War ich ein Esel! Diese albernen Ängste! Diese Dummheiten! Dieses Zaudern und Herum-
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stolpern! [...] Ich habe Kindheit und Jugend damit zugebracht, mein Gewissen zu erforschen und festzustellen, dass ich mich permanent im Zustand der Sünde befand. Das war der Drill, die Gehirnwäsche, die Konditionierung (McCourt, 2006, S. 8).
In meinem Buch »Problemkinder« (1994) habe ich die Geschichte eines 12-Jährigen erzählt, der an einer Zwangsneurose mit religiösen Inhalten erkrankte. Er hatte Zwangsgedanken sexuellblasphemischen Inhalts, derentwegen er sich abgrundtief schuldig fühlte und die ihn immer wieder zwangen, zur Beichte zu gehen. Erst heute, mit 70 Jahren, wage ich öffentlich einzugestehen, dass dieser 12-Jährige ich selbst war. Diese Zwangsneurose führte mich in analytische Behandlung, wo ich wenigstens die gröbsten Auswüchse von Sündenangst und Schuldgefühl hinter mir lassen konnte. Aber viel zu viel davon habe ich durch mein weiteres Leben mitgeschleppt. Zugleich erwachte ein gewisser Kampf- und Oppositionsgeist: Ich wollte niemanden mehr das Recht einräumen, mir vorzuschreiben, wann und aus welchem Anlass ich mich schuldig zu fühlen hätte. Das schlechte Gewissen, das man den Kindern einimpft, scheint das Allerunnötigste zu sein. Und doch, sagt mir eine geschätzte Kollegin: Ich finde es richtig, dass ich Schuldgefühle hatte, als ich meiner Schwester die Schokolade wegnahm und es sogar noch leugnete, als ich ertappt wurde. Nein, antworte ich: Zu einem schlechten Gewissen besteht kein Grund. Die Schokolade, die der Schwester gehört, muss ersetzt werden, und damit basta, Schlussstrich, Ende. Kein Grund, noch mit 60 Jahren Zerknirschung über solche Kindersünde zu empfinden. Wie geht es heutigen Kindern mit der »Schuld«? Gewiss, die grotesken Auswüchse schwarzer Pädagogik, unter denen noch meine Generation aufgewachsen ist, sind heute nicht mehr zu beobachten. Aber ich meine, auch die Legionen von ADHSKindern fühlen sich als Nervensägen, als »böse«, als schuldige Kinder, die das Familienleben und die Schuldisziplin stören. Heute wird die Bosheit nicht mehr mit Prügeln, sondern mit Ritalin ausgetrieben. Im »Spiegel« (2007) las ich einen Artikel über »Gender Mainstreaming«. Die Idee: Geschlechterrollen werden gelernt, also kann man das Lernprogramm auch umschreiben: Neue Normen
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werden gesetzt, vor allem Jungen sollen keine Jungen mehr sein. Die Freiburger Stadtverwaltung, kann man lesen, habe einen Leitfaden für Erzieher herausgegeben, damit »negativen Einwirkungen jungmännlicher Dominanz« schon im Kindergarten begegnet wird. Eine staatlich subventionierte Berliner Gruppe propagiert die »Zerstörung von Identitäten«: Das Ziel einer »nicht-identitären Jungenarbeit« sei »nicht der andere Junge, sondern gar kein Junge«. Eine Gender-Initiative des nordrheinwestfälischen Umweltministeriums empfiehlt, für den Naturpark Eifel, Bilder von der Hirschbrunft möglichst aus Werbebroschüren zu streichen, denn so etwas fördert »stereotype Geschlechterrollen«. Alles das ist darauf angelegt: Jungen sollen sich schon allein für die Tatsache, dass sie Jungen sind und so Gott will einmal Männer werden, schuldig fühlen. Man sieht, auch wenn der Einfluss der Kirche nicht mehr ausreicht, die Kinder verrückt zu machen, haben sich andere Institutionen dieser dankenswerten Aufgabe angenommen: Wie du bist, bist du defekt; nichts darf so sein, wie es ist, scheint die Devise zu lauten; die Menschennatur muss optimiert werden, koste es, was es wolle – und zwar von Kindsbeinen an. Es gibt zwei psychoanalytische Erklärungen für die Entstehung des Überich und damit der Schuldgefühle beim Kind, deren eine auf Freud selbst, deren andere auf Melanie Klein und Winnicott zurückgeht. Die Erstere lautet: Das (männliche) Kind entwickelt Interesse für seinen Penis, wünscht sich an die Stelle des Vaters, um mit der Mutter ein Liebesverhältnis anzufangen. Es wird mit der Kastrationsdrohung konfrontiert; aus der Beobachtung, dass Mädchen keinen Penis haben, folgert es die reale Möglichkeit des Penisverlusts. Im Konflikt zwischen dem narzißtischen Interesse an diesem Körperteile und der libidinösen Besetzung der elterlichen Objekte [...] siegt normalerweise die erstere Macht; das Ich des Kindes wendet sich vom Ödipuskomplex ab [...] Die Objektbesetzungen werden aufgegeben und durch Identifizierung ersetzt. Die ins Ich introjizierte Vater- oder Elternautorität bildet dort den Kern des Über-Ichs (Freud, 1923, S. 398 f.).
Winnicott setzt sich von dieser Konstruktion Freuds ab: Er bezeichnet die Vorstellung von der »Introjektion der Vaterfigur [...]
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als zu einfach«. Demgegenüber verweist er auf die von Melanie Klein postulierte »depressive Position« beim älteren Säugling mit ihrer wachsenden »Fähigkeit zur Besorgnis«: Es liege an der Mutter, die mörderische Liebe des Säuglings zu überleben, »also da zu sein, um die [...] Wiedergutmachungsgeste [des Kindes] entgegenzunehmen und zu verstehen« (Winnicott, 1974a, S. 28 f.). Schon die Erklärung Freuds, der das Schuld- und Strafbarkeitsgefühl aus dem Ödipuskomplex und der introjizierten Vaterautorität herleitet, hat in der derzeitigen Freud-Renaissance keine neue Überzeugungskraft gewinnen können; der Ödipuskomplex, und alles was an ihm dranhängt, ist nach wie vor tabu. Ob wir mit der Klein-Winnicott’schen »Fähigkeit zur Besorgnis« besser dran sind, scheint mir indessen fraglich. Das Aushaltenkönnen, die Unzerstörbarkeit der Mutter ist sicher ein wichtiger Punkt, gerade für die Nervensägen, die ADHS-Kinder. Auch die Möglichkeit für das Kind, wieder gut zu machen, sich mit den Eltern wieder zu versöhnen, ist wichtig. Winnicotts Fehler sehe ich darin, dass er den Erwerb eines expliziten Schuldgefühls für die conditio sine qua non einer gesunden Entwicklung hält – sonst drohe das Abgleiten in die Antisozialität. Nach meiner Erfahrung ist die beste moralische Erziehung eine, die das Kind überhaupt nicht merkt. Es muss sich nicht erst »schlimm« und »böse« fühlen, um ein anständiger Mensch zu werden. Im Hintergrund elterlicher Moralerziehung steht ja oft die Angst, wenn das Kind keine Regeln einhalten lernt, werde es später kriminell. Die herrschende behavioristische »Philosophie« unterstützt diese Angst. Ich sage dagegen: Bloß keine Moraltragödien im Kinderzimmer! Stattdessen Kinderdummheiten, meinetwegen auch -bosheiten und die eigenen elterlichen Reaktionen darauf als Teil des gemeinsamen Lebens hinnehmen, nach Streit sich wieder versöhnen, zur Tagesordnung übergehen, die Kinder je nach Alter an eigenen Überlegungen in moralischen Konfliktsituationen teilnehmen lassen – bloß keine »moralische Erziehung« am Familientisch! Und schon gar nicht die hanebüchenen Schuld- und Vergebungsrituale des Beichtunterrichts früherer Zeiten! Letzten Endes war auch Winnicott, trotz seiner etwas unglücklichen Liebe zu Melanie Klein, dieser Meinung: Wir müs-
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sen den Kindern »im Säuglings- und Kindesalter und in der Adoleszenz zu Hause und in der Schule die förderliche Umwelt verschaffen, in der jedes Individuum seine eigene moralische Fähigkeit [...] entwickeln kann« (Winnicott, 1974b, S. 137) – an dieser förderlichen Umwelt fehlt es oft, nicht an moralischen Belehrungen und Ermahnungen.
Der Erwachsene: Moral im Konflikt Um die Moralprobleme des Erwachsenen besser zu verstehen, ist ein über Freud hinausführender Gedanke von Jung für mich wichtig geworden. Freuds Überich sei eigentlich »der vom Bewußtsein erworbene Bestand an traditionellem Brauchtum, der sogenannte Sittenkodex, wie er sich zum Beispiel im Dekalog verkörpert hat«. Zwar können die Reaktionen des Überich im Einzelfall auch unbewusst ablaufen, aber die Inhalte sind im Prinzip bewusst: Sie umfassen die tradierten moralischen Überzeugungen einer Gesellschaft. Etwas anderes, das bei Freud keine Berücksichtigung findet, sei die spontane moralische Stimme des Unbewussten, die oft ganz anderer Meinung sei als die Stimme des tradierten Sittenkodex. »Soweit die traditionellen Moralvorschriften reichen, ist es praktisch kaum möglich, das Gewissen von ihnen zu unterscheiden« (1958/1981, S. 477 f., 481). Erst in der Kollision zwischen zwei Werten, Pflichten oder Motiven, dort wo das Überich nicht mehr weiter weiß, spricht diese innere Stimme; sie schöpft nicht aus dem tradierten Sittenkodex, sondern aus den »dunklen Wassern der Tiefe« (S. 494); sie sucht eine schöpferische Lösung des Konflikts. Jung berichtet den Traum eines Patienten, der während einer beruflichen Verwicklung träumt, seine Hände und Unterarme seien mit schwarzem Schmutz bedeckt. Der Traum will ihn nach Jungs Deutung darauf aufmerksam machen, dass er dabei sei, sich in eine schmutzige Geschichte zu verwickeln. Dieser Text von Jung berührte mich, weil ich wenige Wochen, bevor ich in eine ernsthafte moralische Konfliktsituation geriet,
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einen Traum hatte, ganz ähnlich dem Traum dieses Geschäftsmannes: Ich kam zu einem See, dessen Wasser ganz schwarz war vom Kohlenstaub eines Bergwerkes, das am Ufer des Sees stand. Ich wollte meine Hände darin waschen. Als ich sie aus dem Wasser zog, waren sie ganz schwarz. Ich hatte mir den Traum damals falsch gedeutet, hatte an die Nigredo, die Schwärzung, gedacht, die bei Jung auch eine wichtige Rolle spielt, aber nicht an das näherliegende Motiv, sich die Hände schmutzig machen. Jung hat immer wieder betont: Der erwachsene Mensch findet sich oft in Situationen gestellt, wo er nicht nach Regeln, nicht »nach den Paragraphen eines vorgegebenen Moralgesetzes« handeln kann (S. 502). Manchmal liegt die »allerpersönlichste Ethik« gerade im »Einschlagen eines Weges, den die landläufigen Moralparagraphen und die Hüter des Gesetzes verurteilen. Und doch spürt der Mensch, daß er vielleicht nie seinem innersten Wesen und Ruf […] treuer gewesen ist« (S. 502 f.). Eine schöne Illustration dazu findet sich in Fontanes »Stechlin«, ziemlich gegen Ende. Der alte Stechlin fragt seinen Dorfpastor, der das alte Preußentum für überlebt hält, ob er denn auch die Preußentugend des Heldischen nicht mehr gelten lassen wolle? Doch, sagt der, aber das preußische sei doch nur ein »Heldentum zweiter Güte«. »Echtes Heldentum [...], das mich hinreißen soll, steht immer im Dienst [...] eines allereigensten Entschlusses«. Und er erzählt dem Alten die Geschichte vom Leutnant Greeley, der mit fünf anderen Schiffbrüchigen durch die Polareiswüste marschierte und entdeckte, dass einer heimlich die Rationen aller aufaß. Entkräftet, wie er war, blieb ihm nur übrig, den Verräter hinterrücks niederzuschießen und so die Gruppe zu retten. »In solchem Augenblicke richtig fühlen und in der Überzeugung des Richtigen [...] ein furchtbares Etwas tun, das, aus seinem Zusammenhang gerissen, allem göttlichen Gebot, allem Gesetz und aller Ehre widerspricht, das [...] ist in meinen Augen der wirkliche, der wahre Mut. Schmach und Schimpf, oder doch der Vorwurf des Schimpflichen, haben sich von jeher an alles Höchste geknüpft«. Der Batallionsmut »ist nur ein Herdenmut« (Fontane, o. J., S. 371).
Oder eben, in unserem gegenwärtigen Kontext: Das Überich und das »im Augenblick richtig Fühlen« sind zwei grundlegend verschiedene Dinge.
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Aus zwei Gründen, dem doch wohl eher unfreien Willen (s. u., Fußnote 1) und dem Handeln im oft unausweichlichen Konflikt, entfällt für mich die Basis für ein Schuldgefühl. Stattdessen gibt es etwas anderes: Ich kann Folgen, die sich aus meinem Handeln ergeben haben und die ich vielleicht nicht vorhergesehen habe, bedauern. Ich kann versuchen, diese Folgen, wenn sie sich zeigen, zu mildern oder wieder gut zu machen. Wenn das nicht geht, bleibt mir nur übrig zu sagen: Es tut mir leid, dass ich dich in diese oder jene Lage gebracht habe.
Der Tod und das Mythologem des »Jüngsten Gerichts« Wenn Menschen ans Sterben kommen, sagen die Erfahrungen von Sterbebegleitern, geschieht es nicht selten, dass eine Schuldthematik aufbricht: Die Sterbenden klagen sich an, dieses oder jenes getan oder unterlassen zu haben, was sie jetzt im Angesicht des Todes als schwere Schuld bedrückt. Ich habe erlebt, dass sich eine alte Frau vor ihrem Tod plötzlich anklagte, sie sei schuld daran, dass 1945 die Atombombe gezündet wurde, und wir, die ihr Nahestehenden, nahmen das rein gefühlsmäßig als Indiz, dass es mit ihr zu Ende gehe. Es mag auch andere, realistischere Selbstanklagen geben; ich kann nur von meiner begrenzten Erfahrung ausgehen. Anhand solcher Beispiele mag sich die Frage stellen, ob es sich hier nicht überhaupt nur um depressive Wahnvorstellungen handelt, die mit wirklicher Schuld nichts zu tun haben. Der große Pädagoge Pestalozzi schrieb ein Jahr vor seinem Tod ein seltsames Vermächtnis nieder, das er seinen »Schwanengesang« (1826) nannte. Er stellt seine pädagogischen Ideen darin noch einmal dar, gewiss nicht besser, sondern weitschweifiger, verworrener als in früheren Schriften, aber den Kern der Mitteilung bildet die Selbstanklage: Die »Schwächen seiner Individualität« seien Schuld daran gewesen, dass er seine Ideen nicht so habe umsetzen können, wie sie ihm vorschwebten. Ein ganz anderes Beispiel aus der klassischen Autobiographienliteratur: Der Philosoph Rousseau leitet seine »Confessions«, die
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er freilich niederschrieb, als der Tod noch nicht unmittelbar bevorstand, mit den trotzigen Sätzen ein: Mag die Trompete des Jüngsten Gerichts wann immer erschallen, ich werde mit diesem Buch in der Hand mich vor den obersten Richter stellen. Ich werde laut sagen: »So tat ich, so dachte ich, so war ich!« (Rousseau 1782/1981, S. 7).
Er postiert sich also vor Gottes Richterstuhl mit seinem Bekenntnis-Buch in der Hand, wie weiland Martin Luther: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders.« Geht diese menschliche Möglichkeit, sozusagen erhobenen Hauptes vor den Richter zu treten, im unmittelbaren Angesicht des Todes verloren? Ich will, um mir das Phänomen der prämortalen Schuldkonfrontation näher zu bringen, zwei Auskunftsquellen heranziehen: die Religionsgeschichte, die das Motiv des Totengerichts in vielen Varianten kennt; die Psychoanalyse mit dem, was sie über die Herkunft depressiver Schuldvorwürfe zu sagen weiß. 1. Als Kind habe ich das apostolische Glaubensbekenntnis gelernt: Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater, ... und an Jesus Christus, der ... usw. usw., sitzet zur Rechten des Vaters, von dannen er kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten.
Das Motiv des Jüngsten Gerichts ist allgegenwärtig in der christlichen Kunst. Freud schrieb tief beeindruckt über die SignorelliFresken des Weltgerichts in der Kathedrale von Orvieto, sie seien »das Größte, was ich bisher gesehen«. Mich hat eher die Sequenz der Totenmesse mitsamt der Vertonung Mozarts beeindruckt: Dies irae dies illa solvet saeclum in favilla, teste David cum Sibylla.
So gut wie alle großen Weltreligionen und Mysterienlehren kennen das Gericht nach dem Tod, sei es als individuelles am Lebensende oder als allgemeines Gericht am Weltenende.
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Besonders detailliert ist das Gericht im Totenbuch der alten Ägypter beschrieben: Anubis, die Seelenführer-Gottheit, geleitet die Seele des Verstorbenen vor die Richter – sieben, vierzehn oder zweimal vierzig an der Zahl; das Herz wird von Anubis gewogen. Der Gerichtsschreiber Thot zeichnet die Taten seines Lebens auf, während ein Ungeheuer mit dem Kopf eines Krokodils, der Brust eines Löwen und dem Hinterleib eines Flusspferdes auf der Lauer liegt.
Auch in Platons Gorgias wird das Totengericht geschildert: wenn die Seele »vor den / die Richter der Unterwelt kommt (Radamanthys, Äakos und Minos), wird sie einfach beschaut [...] die Richter sehen an ihr alle Wunden und Narben, die durch Meineide und Ungerechtigkeit hervorgerufen wurden, alle Verkrümmungen durch Verlogenheit und Prahlerei, alle Hässlichkeit infolge der [...] Maßlosigkeit der Handlungen. Die Seele erscheint also völlig nackt vor ihren Richtern, die [...] ebenfalls nackt sind« (Visieux, 1994, S. 23, 79).
Visieux, der die Nachtod-Vorstellungen der großen Kulturen der Alten Welt miteinander verglichen hat, sieht die Richter bei Platon ähnlich wie die des ägyptischen Totenbuchs als etwas an, das jede Seele in sich selbst trägt (S. 79). Freilich meint er auch, dass für den Menschen der modernen westlichen Zivilisation kein Gericht mehr vorstellbar sei, »weil jedes Gericht die Existenz einer kollektiven Identität und eines Wertesystems voraussetzt« (S. 167), während heute »alle gemeinschaftlichen Werte zusammenbrechen und zu einer Vielfalt heterogener individueller Werte auseinander stieben« (S. 166). So wäre der Nahtod-Mythos des modernen Menschen allenfalls jener Anti-Mythos, den Nietzsches Zarathustra dem sterbenden Seiltänzer verkündet, als der sich Sorgen macht um das Gericht und um sein Nachtod-Schicksal: »Deine Seele wird noch schneller todt sein als dein Leib; fürchte nun Nichts mehr!« (Nietzsche, 1883, S. 22). Sollte Nietzsche recht behalten, würden sich die drückenden Schuld-Bilanzierungen am Lebensende, die uns hier beschäftigen, Nachklänge eines untergehenden kollektiv-religiösen Wertesystems sein, die in absehbarer Zeit von selbst und gänzlich verschwinden werden.
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Vielleicht entsprechen aber auch die Gerichtsmythologien allzu sehr der Erlebnisperspektive der noch Lebenden. In den 1970er Jahren erschien ein damals viel gelesenes Buch von Raymond A. Moody: »Life after life« – in der deutschen Fassung etwas missverständlich: »Leben nach dem Tod«. Moody hatte Schilderungen von Nahtod-Erfahrungen gesammelt, die immer wieder gleiche Erfahrungsmuster spiegelten: Die Betroffenen hören ihre eigene Todesnachricht, sie müssen durch einen dunklen Tunnel gehen, erleben sich außerhalb des eigenen Leibes, das heißt, sie schweben über ihrem toten Körper, sie begegnen einem Lichtwesen usw. Was für unser gegenwärtiges Interesse von Belang ist: Eine Gerichtsszene gibt es auf diesem Weg des Sterbens allenfalls in Andeutungen. In der »Begegnung mit dem Lichtwesen« konstellieren sich Fragen, die in einer »ungesprochenen Sprache« an den Sterbenden gerichtet werden: »ob ich bereit sei zu sterben und was ich in meinem Leben getan hätte, das ich ihm jetzt vorweisen könnte« (Moody, 1977, S. 68). Das leitet dann über zu den Rückblenden, zum Vorbeiziehen der Bilder aus dem Leben: Szenen, die unter den Aspekten »Liebe vs. Egoismus« und »Erwerb von Wissen« beurteilt werden. »All das enthielt jedoch nicht den geringsten Vorwurf« (S. 75). Also ist ein »Gericht« auf diesem Sterbensweg nicht vorgesehen oder wenn, dann ein Gericht von sehr anderer Art als der irdischen Art. Die Metapher des Jüngsten Gerichtes erweist sich, verglichen mit der Metaphorik der Nahtod-Erfahrenen, als eine irdischdiesseitige: Der Dichter der Dies-irae-Sequenz stellt sich den Übergang in die Totenwelt wie einen sehr irdischen Gerichtshof vor, sicherlich im Einklang mit den biblischen Texten, die sich in derselben juristischen Metaphorik bewegen, während die, die die Schwelle schon fast überschritten haben, die Vorstellung eines ins Jenseits projizierten irdischen Gerichtshofes hinter sich gelassen haben. 2. Aus der Sicht der Psychoanalyse ergibt sich die Frage: Ist das Schuldgefühl im Angesicht des Todes womöglich einfach eine depressive Reaktion? Der Melancholiker, sagt Freud,
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zeigt uns [...] eine außerordentliche Herabsetzung seines Ichgefühls, eine großartige Ichverarmung. Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst! Der Kranke schildert uns sein Ich als nichtswürdig, leistungsunfähig und moralisch verwerflich; er macht sich Vorwürfe, beschimpft sich und erwartet Ausstoßung und Strafe (Freud, 1916–17, S. 431).
Ich meine, es fällt nicht schwer, im Schuldgefühl und der Strafangst, mit der sich manche Sterbenden quälen, Züge des von Freud geschilderten melancholischen Patienten wiederzuerkennen. Freud meint nämlich, die Selbstbeschuldigungen des Melancholikers gälten ursprünglich einer anderen Person, die ihm verloren gegangen ist und mit der er sich narzisstisch identifiziert hat. Der Objektverlust verwandelt sich in einen Ich-Verlust. Die Aussicht, selbst sterben zu müssen, folgere ich aus Freuds Gedanken, ist die vielleicht größtmögliche narzisstische Kränkung, noch größer als der Verlust einer geliebten Person. Die Vorstellung, dass dieses Ich, unser ein und alles, demnächst nicht mehr sein wird, lässt schon das noch existierende Ich verarmt und entwertet dastehen. Hier braucht es nicht mehr den Umweg über den Verlust eines narzisstisch besetzten Objekts, das Ich selbst geht unweigerlich verloren, es muss abdanken, seine Macht ist zu Ende. Wo eine Regentschaft unweigerlich verloren zu gehen bestimmt ist, da werden die Stimmen der Kritiker lauter. In unserem Fall: Wo das Ich ein zahnloser Löwe wird, da meldet sich der alte Feind und Widersacher, das Überich, um dem geschwächten Ich noch einmal kräftig die Meinung zu sagen, was es dem lebenskräftigen Ich gegenüber sich nie herausgenommen hätte.
Das Überich – Freuds moralkritische Position Wir haben gesehen, wie tief der unablässige Zwang, irgendwelchen Normen gerecht werden zu müssen, in das Leben der Menschen eingreift: Kaum verstandene Normen, an die Kinder angeblich rechtzeitig gewöhnt werden müssen, damit sie nicht auf
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die schiefe Bahn geraten; Normen, die den Erwachsenen in teils unlösbare Konflikte stürzen und die noch den alten Menschen sozusagen bis an den Rand des Grabes verfolgen und schuldig sprechen wollen. Freuds Theorie besagt ja in ganz kurzen Worten: Im Menschen bildet sich im Lauf seiner Kindheitsentwicklung eine Instanz, die sein Denken und Tun kritisch beobachtet und beurteilt bzw. vor allem ver-urteilt. Bei bestimmten seelischen Erkrankungen, vor allem der Melancholie und der Zwangsneurose, spielen quälende und aus der Sicht des Außenstehenden oft ganz unbegründete Schuldvorwürfe eine wichtige Rolle. Folgen wir Freuds Erklärung, ergibt sich eine paradoxe Situation: Wir haben im Lauf der Kindheitsentwicklung etwas in uns aufgenommen, durch Identifikation zu einem Teil unseres Ich gemacht, das gegen uns gerichtet ist, das uns grausam straft und verurteilt. Ich bin es, der wünscht oder tut, was die soziale Norm missbilligt, und ich bin es, der die Verurteilung dafür ausspricht. Bin ich also mein eigener Feind? Freud erklärt die Entstehung des Überich, das heißt der inneren Beobachtungs- und Beurteilungsinstanz beim Kind durch eine »Identifizierung mit dem Vatervorbild« (Freud, 1923, S. 284). »Im weiteren Verlauf der Entwicklung haben Lehrer und Autoritäten die Vaterrolle fortgeführt; deren Gebote und Verbote [...] üben jetzt als Gewissen die moralische Zensur aus« (S. 265). Was man Gewissen nennt, ist also nach Freud nichts im Menschen Angelegtes; es ist durch Identifikation mit der Autorität sozusagen in ihn eingewandert, und es übt dort – damit komme ich zu meiner Titelzeile – ein recht strenges und grausames Regiment aus. Diese Instanz hat nämlich den Charakter des hart Einschränkenden, grausam Verbietenden. Je tugendsamer ein Mensch ist, »je mehr er seine Aggression nach außen einschränkt«, desto »strenger, also aggressiver« wird er in seinem Überich (S. 284). Freud beschreibt das Überich in sprachlichen Ausdrücken und bildhaften Vergleichen, die diese Feindseligkeit des Überich gegen das Ich unterstreichen. Das Überich äußere sich »wesentlich als Schuldgefühl« bzw. als »Kritik« am Ich und entfalte dabei eine »außerordentliche Härte und Strenge« (S. 82), das Überich »kann hypermoralisch und dann so grausam werden wie nur das
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Es« (S. 284), die Kastrationsangst »ist es, die sich als Gewissensangst fortsetzt« (S. 288). »Die Kultur bewältigt also die gefährliche Aggressionslust des Individuums, indem sie es schwächt, entwaffnet und durch eine Instanz in seinem Inneren, wie durch eine Besatzung in der eroberten Stadt, überwachen läßt« (Freud, 1930, S. 483). »Das Über-Ich peinigt das sündige Ich mit [...] Angstempfindungen und lauert auf Gelegenheiten, es von der Außenwelt bestrafen zu lassen« (S. 485) usw. Er zitiert Shakespeares Hamlet: »So macht Gewissen Feige aus uns allen ...« Eine fremde Macht, die Autorität des Vaters bzw. der Gesellschaft, ist in uns eingewandert, hat sich – mit einem Ausdruck der Pädagogin Maria Montessori, die der Psychoanalyse in mancher Hinsicht nahe stand – unserem Ich aufgepropft, »substituiert«, so dass man im Sinn Freuds tatsächlich sagen kann: Mein Feind ist in mir, ich bin – wenigstens partiell – mein eigener Feind geworden. Immer wieder fasziniert die Nähe der Gedanken Freuds zu denen Nietzsches, obwohl es, so weit wir wissen, eine nennenswerte Beeinflussung nicht gegeben hat. Die zweite Abhandlung aus Nietzsches »Genealogie der Moral« handelt von den Wurzeln von Schuldgefühl und schlechtem Gewissen: das Gewissen ist nicht, wie wohl geglaubt wird, »die Stimme Gottes im Menschen« – es ist »der Instinkt der Grausamkeit, der sich rückwärts wendet, nachdem er nicht mehr nach außen hin sich entladen kann« (Nietzsche, 1889, S. 352). Das freie Menschen-Tier der Urzeit hat sich unter das Joch der gesellschaftlichen Schuld- und Vertragsverhältnisse begeben: Jene furchtbaren Bollwerke, mit denen sich die staatliche Organisation gegen die alten Instinkte der Freiheit schützte – die Strafen gehören vor allem zu diesen Bollwerken – brachte zu Wege, daß alle jene Instinkte des wilden freien schweifenden Menschen sich rückwärts, sich gegen den Menschen selbst wandten. Die Feindschaft, die Grausamkeit, die Lust an der Verfolgung [...] – Alles das gegen den Inhaber solcher Instinkte sich wendend, das ist der Ursprung des ›schlechten Gewissens‹ [...] Mit ihm aber war die größte und unheimlichste Erkrankung eingeleitet, von welcher die Menschheit bis heute nicht genesen ist, das Leiden des Menschen am Menschen, an sich: als Folge einer gewaltsamen Abtrennung von der thierischen Vergangenheit (Nietzsche, 1887, S. 322 f.).
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Freud und Nietzsche stimmen darin überein: Das Überich, die gesellschaftliche Moral entzweit den Menschen mit sich, mit seinen tierischen Wurzeln: Er wird sich selbst zum Feind. Freud sieht den Menschen unaufhebbar im Konflikt zwischen seinem primären Streben nach Glück, das wir gewöhnlich »egoistisch«, und des Strebens nach Vereinigung mit den anderen in der Gemeinschaft, das wir »altruistisch heißen«. Der Hauptakzent liege meist auf der egoistischen Glücksstrebung, »die andere, ›kulturell‹ zu nennende, begnügt sich mit der Rolle der Einschränkung« (Freud, 1930, S. 500). Der Vorwurf, den Freud als Psychotherapeut gegen das Überich erhebt: »Es kümmert sich in der Strenge seiner Gebote und Verbote zu wenig um das Glück des Ichs« (S. 503). Freuds Position ist, ähnlich wie die Nietzsches, eine moralkritische. Der Erwerb des Überich ist in seinen Augen nicht etwas, das zu bejubeln wäre. Es ist der Preis, den wir für unsere Kulturfähigkeit zahlen: ein hoher Preis, vielleicht ein notwendiges Übel – aber eben doch ein Übel, eine Kastration, eine partielle Zerstörung des Ich. Das Kind wollte den Vater ermorden – nun sieht es sich selbst partiell gemordet.
Die heutige Psychoanalyse: von der Moralkritik zur Moralaffirmation Die heutige Psychoanalyse hat Freuds moralkritischen Ansatz aufgegeben und damit sozusagen ihren Ur-Vater Freud kastriert und seinem moralkritischen Impuls den Zahn gezogen. Den Anfang machte der prominente Analytiker Kernberg (1978, passim): dieser beschrieb das »reife« Überich als ein notwendiges psychisches System (notwendig wohlgemerkt zur Abrundung einer »reifen Persönlichkeit«, nicht als »notwendiges Übel« wie bei Freud). Neuerdings suchte Schöpf (2005), aus Freuds Gedanken eine »Ethik« zu deduzieren, ohne sich um dessen oben belegte entschiedene Distanz zu ethischen Systemen jeglicher Art und Couleur zu kümmern.
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Eine neuere psychoanalytische Veröffentlichung von Hirsch, die viel Beachtung und Zustimmung gefunden hat – symptomatischerweise, weil sie den gewandelten psychoanalytischen Zeitgeist spiegelt: von der Moralkritik zur Moralaffirmation –, kritisiert Freuds Analyse des Schuldgefühls: Sie sei rein »intrapsychisch« orientiert und blende das zwischenmenschliche Geschehen und damit das Phänomen realer Schuld aus. Im Kontrast dazu plädiert Hirsch »für eine strenge begriffliche Trennung von unrealistischem Schuldgefühl und Schuldbewußtsein, das heißt Anerkennung einer realen Schuld, auf die der Affekt der Reue folgen kann« (Hirsch, 1997, S. 11). Reale Schuld müsse »bewältigt« werden: durch Reue und Vergebung, notfalls auch juristisch durch Verhandlung, Schuldspruch und Strafe. Auch die Psychoanalyse sei durchaus für Teilbereiche der Schuld zuständig. Zum Beispiel habe sie »abzuwägen und zu bewerten, ob die empfundene Schuld des Patienten im Bereich des irrationalen Schuldgefühls liegt, ob es sich um ein tatsächliches Schuldig-geworden-Sein handelt« (S. 11).1 In welcher Vollmacht, frage ich, soll der Analytiker dies abwägen? Er wird damit unweigerlich zum Richter oder gar zum Beichtvater. Freud war sensibel für dieses Ermächtigungsproblem. »[...] stellen Sie sich vor«, schrieb er an seinen Freund
1 Nachdem sich die heutige Psychoanalyse auf die Seite der Moralaffirmation geschlagen hat, werden die eigentlich spannenden Debatten zum Thema Schuld außerhalb der Psychoanalyse geführt, zum Beispiel in dem Buch »Tatort Gehirn« von Markowitsch und Siefer (2007). Wir sind determiniert, durch unsere Hirnprozesse und die Umwelt, in der wir aufgewachsen sind, lautet dessen Botschaft. Eine moralische oder juristische Schuld vorzuwerfen, ergebe keinen Sinn. Nicht umsonst bezieht sich Markowitsch auf Freud, der ebenfalls eine deterministische Position vertreten habe. Im Grunde hat Markowitsch mit dieser Bezugnahme recht, auch wenn Freuds Argumentation komplexer ist: Im Prinzip kehrt bei Markowitsch mehr von Freuds deterministischer und moralkritischer Denkweise wieder als in der heutigen Psychoanalyse noch zu finden ist, die sich in ihrem Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung und Reputierlichkeit schon längst klammheimlich von Freuds Moralkritik verabschiedet hat.
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Pfister, den Zürcher Pfarrer, »ich sagte einem Kranken: ›Ich, der ordentliche Titular-Professor Sigmund Freud vergebe Ihnen Ihre Sünden!‹ Welche Blamage in meinem Falle!« (Freud u. Pfister, 1963, S. 135 f.). Diese Bescheidenheit Freuds, mit der er eine professionelle Überforderung zurückweist, ist für heutige Psychoanalytiker, die ihre »Ethik« vor sich hertragen, kaum noch nachvollziehbar. Ich denke aber, dass Freud recht hatte: Der Psychoanalytiker ist weder legitimiert zu richten noch Absolution zu erteilen. Ich persönlich muss sagen: Seit dem neurotischen Sündenspektakel meiner Kindheit und Jugend ist mein Bedarf an Moral und Ethik fürs ganze Leben gedeckt. Ich halte es seither mit denen, die nach Jungs Anekdote die »Intelligenteren« sind, denen als ethische Auskunftsquelle das Strafgesetzbuch genügt.
Muss ich mein Feind bleiben? In »Das Unbehagen in der Kultur« hat Freud (1930) die Entwicklungspsychologie des von ihm sogenannten Überich in zwei Stufen kurz umrissen. Die erste nennt er »Angst vor dem Liebesverlust«: »Das Böse ist also anfänglich dasjenige, wofür man mit Liebesverlust bedroht wird; aus Angst vor diesem Verlust muß man es vermeiden« (S. 484). Das Böse ist also das, was die Autorität, von der das kleine Kind abhängig ist, verbietet, und für das bei Übertretung Strafe droht. Die »große Änderung tritt erst ein, wenn die Autorität durch die Aufrichtung eines Über-Ich verinnerlicht wird [...] im Grunde sollte man erst jetzt von Gewissen und Schuldgefühl sprechen«. Jetzt verändert sich einiges Wesentliche: »Jetzt entfällt die Angst vor dem Entdecktwerden und vollends der Unterschied zwischen Böses tun und Böses wollen, denn vor dem Über-Ich kann sich nichts verbergen, auch Gedanken nicht« (S. 484). Dieses Überich übernimmt die Funktion, die früher die Eltern wahrnahmen. Aber es gibt einen großen Unterschied:
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anfangs ist zwar [...] die Angst, die später Gewissen wird [...] Ursache des Triebverzichts, aber später kehrt sich das Verhältnis um. Jeder Triebverzicht wird um eine dynamische Quelle des Gewissens, jeder neue Verzicht steigert dessen Strenge und Intoleranz [...] Der uns von außen auferlegte Triebverzicht schafft das Gewissen, das dann weiteren Triebverzicht fordert (Freud, S. 488).
Jedes Stück »Aggression, dessen Befriedigung wir unterlassen«, wird vom Überich übernommen und steigert dessen Aggression gegen das Ich. Das kleine Kind kennt kein Gewissen, es kennt nur die soziale Angst. »Aber auch bei vielen Erwachsenen ändert sich nicht mehr daran, als daß an Stelle des Vaters oder beider Eltern die größere menschliche Gemeinschaft tritt« (S. 484). Hier stellt sich für mich die Frage: Wenn das Überich eine dermaßen autoaggressive Erwerbung ist, in der der Todestrieb am Werk ist, die den Menschen letzten Endes sogar umbringt – wäre es dann nicht lebensförderlicher, wie es die »vielen Erwachsenen« ohnehin tun, in der Entwicklungsstufe der »sozialen Angst« als Verhaltensregulativ zu verbleiben? Obwohl Freud die zutiefst problematische Rolle des Überich im Leben des Kulturmenschen deutlich erkennt, scheint er die Ausbildung eines solchen doch der Überwindung des Ödipuskomplexes geschuldet und das oben beschriebene Verharren in der »sozialen Angst« für ein eigentlich überwindungsbedürftiges infantiles Überbleibsel zu halten. Jedenfalls, so könnte man ihm entgegenhalten, ist das infantile Ich »gesünder«, insofern es noch nicht sein »eigener Feind« ist. Einen interessanten Gedanken hat Lincke beigesteuert: »Das Über-Ich – eine gefährliche Krankheit?« (1970). Er argumentiert ähnlich, wie ich es oben skizziert habe: Es sei eigentlich unnötig, dass das Ich alle möglichen Ge- und Verbote internalisiere und damit in Gegensatz zu sich selbst trete. Was wann und unter welchen Umständen erlaubt bzw. verboten sei, das würden einem unter sogenannten »primitiven« Verhältnissen die praktizierten Lebensformen sagen, nur der zivilisierte Mensch müsste die Last der Internalisierungen tragen, das heißt, ein so überflüssiges Ding wie ein Überich mit sich herumschleppen. Wäre es dann nicht auch auf unserer Kulturstufe gesünder, wenn die Menschen auf der Stufe des kleinen Kindes blieben
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und die Normen nicht verinnerlichten – wie sie es laut Freud, der neuerdings durch die empirischen Forschungen Kohlbergs bestätigt wird, ohnehin tun? Was ich zuletzt ausgeführt habe, mag den Anschein erwecken, als wüsste ich einen Weg, der aus der kulturell verordneten Selbstfeindschaft herausführt: durch eine menschenfreundlichere Erziehung der Kinder, durch Selbst-Freundschaft der Erwachsenen (Schmid, 2004), durch innere Emigration aus der Welt verordneten Gutmenschentums. Ich weiß, das alles wird nicht funktionieren. Das ist es ja, was Freud mit seiner Formel vom »Unbehagen in der Kultur« ausdrücken wollte: Wir leiden an dieser kulturellen Welt mit ihrer Moral, die wir uns geschaffen haben; aber wir können da nicht heraus. Dennoch gibt es keinen Grund, mit den Moral-Wölfen oder -Hirschen zu heulen. Es lohnt sich, Freuds (und Nietzsches) moralkritische Position wieder zu besetzen; das Leiden an der kulturellen Unterdrückung zu artikulieren; sich wenigstens auszumalen, wie alles anders sein könnte – auch wenn man weiß, es ist eine Illusion. Wir können Partei ergreifen für das Ich, das sich schwer tut mit der Moral – so wie es Freud vorgemacht hat. Wozu benötigen wir die Identifikation mit den kulturellen Normen, die uns nur in Feindschaft zu uns selbst bringen? Freud gibt dafür, so weit ich sehe, keine überzeugende Begründung. Auf der anderen Seite kann er gewiss nicht in Anspruch genommen werden für kulturelle Tendenzen, die ethische Latte immer höher zu legen: zum Beispiel schon den Kindern das Faustrecht durch »Streitschlichtung«, den Jungen, wie oben gehört, das männliche Imponiergehabe oder den Menschen generell von Kindesbeinen an sogenannte »Vorurteile« gegen alles und jedes auszutreiben. Vielmehr erhebt er gravierende Einwendungen gegen das Immer-höher-und-höher-Schrauben der moralischen Forderung durch das kulturelle Überich, denn dieses kümmert sich nicht genug um die Tatsache der seelischen Konstitution des Menschen, es erläßt ein Gebot und fragt nicht, ob es dem Menschen möglich ist, es zu befolgen. Vielmehr, es nimmt an, daß dem Ich des Menschen alles psychologisch möglich ist, was man ihm aufträgt [...]
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Das ist ein Irrtum, und auch bei den sogenannten normalen Menschen läßt sich die Beherrschung des Es nicht über bestimmte Grenzen steigern. Fordert man mehr, so erzeugt man beim einzelnen Auflehnung oder Neurose oder macht ihn unglücklich (Freud, 1930, S. 503).
An anderer Stelle hat Freud diese Gegebenheit auf eine kurze und handliche Formel gebracht: Alle, die edler sein wollen, als ihre Konstitution es ihnen gestattet, verfallen der Neurose; sie hätten sich wohler befunden, wenn es ihnen möglich geblieben wäre, schlechter zu sein (Freud, 1908, S. 154).
Literatur Bittner, G. (1994). Problemkinder. Zur Psychoanalyse kindlicher und jugendlicher Verhaltensauffälligkeiten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Fontane, Th. (o.J.) Der Stechlin. o.O.: Magnus. Freud, S. (1908). Die »kulturelle« Sexualmoral und die moderne Nervosität. GW, Bd. VII. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1916–17). Trauer und Melancholie, GW, Bd. X. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1923). Das Ich und das Es. GW, Bd. XIII. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Freud, S. (1930). Das Unbehagen in der Kultur, GW, Bd. XIV. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S., Pfister, O. (1963). Briefe 1909-1939. Frankfurt a. M.: Fischer. Hirsch, M. (1997). Schuld und Schuldgefühl. Zur Psychoanalyse von Trauma und Introjekt. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Jung, C. G. (1958/1981). Das Gewissen in psychologischer Sicht. In GW, Bd. 10. Olten u. Freiburg: Walter. Kernberg, O. (1978). Borderline-Störungen und pathologischer Narzissmus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lincke, H. (1970). Das Über-Ich – eine gefährliche Krankheit? Psyche – Z. Psychoanal. 24, 375–402. Markowitsch, H. J., Siefer, W. (2007). Tatort Gehirn. Auf der Suche nach dem Ursprung des Verbrechens. Frankfurt a. M. u. New York: Campus. McCourt, F. (2006). Tag und Nacht und auch im Sommer. Erinnerungen. München: Luchterhand.
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Jürgen Körner
Das psychoanalytische Unbehagen in der Kultur – Symptom und Remedium der spätbürgerlichen Gesellschaft?
Wenn man einen kulturanthropologischen Standpunkt einnimmt und die Psychoanalyse als kritische Methode auf sich selbst und ihre lange Geschichte anwendet, kann man sich fragen, in welchem ideengeschichtlichen Kontext die Psychoanalyse gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand, welche Fragen sie aufgriff und welche Probleme sie möglicherweise lösen sollte. Freud schrieb 1930 im »Unbehagen in der Kultur«, dass die menschliche Kultur nicht nur ihre Symptome hervorbringt, sondern zugleich auch die Heilmittel, die uns gegen die Erkrankungen helfen sollen. Könnte das auch für die Psychoanalyse gelten? Wurde sie von der spätbürgerlichen Gesellschaft in einer Zeit hervorgebracht, um eine in die Krise geratene Kultur zu heilen? Ist sie damit nicht aber auch ein Symptom dieser Kultur, ein Symptom und ein Remedium zugleich? Die Psychoanalyse entstand in einem Zeitalter scharfer gesellschaftlicher Widersprüche: Man denke nur an den Widerspruch zwischen imperialistischen Kriegen, der Kolonialisierung Afrikas einerseits und dem süßlichen Biedermeier der GartenlaubenIdylle andererseits. Freuds erste Patientinnen, es waren ja überwiegend Frauen, trugen einen Widerspruch aus zwischen einer lüstern-patriarchalen Welt einerseits und einer noch verschärften Sexualunterdrückung der Frauen des Viktorianischen Zeitalters andererseits. Freud selbst ist von einem jüdischen Skeptizismus (Brandell, 1976) geprägt, er gilt als ein rationalistischer Spätaufklärer und als Anhänger naturwissenschaftlicher Empirie und Denkweise. Aber ihn kennzeichnet eine hohe Affinität für die dunklen Seiten menschlicher Existenz, für das Rätselhafte, Abgründige im Menschen. So sehr er sich also als »szientisti-
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scher« Forscher verstand (Habermas, 1968), so sehr war er doch auch von der Deutschen Romantik geprägt. Und in seinen Arbeiten finden wir den Widerspruch von einer aufklärerischen, skeptischen Haltung und romantischer Neigung in dem doppelten Motiv von Hingabe an das Unbewusste einerseits und rationaler Kontrolle dieser unbewussten Phänomene andererseits aufgehoben. Dieser Doppelcharakter zeigt sich in zahlreichen Begriffen der Freud’schen Psychoanalyse: Abwehr, Widerstand, freie Assoziation etc. Insbesondere der Begriff der Übertragung enthält das doppelte Motiv von Hingabe und Kontrolle: Einerseits erlaubte und ermöglichte das Übertragungskonzept den Analytikern, sich den unbewussten Beziehungsphantasien der Patienten auszusetzen, sich ihnen auszuliefern, andererseits aber sollte dieses Konzept – Freuds »falsche Verknüpfung« (Freud, 1895) – auch dazu dienen, diese ängstigenden Phänomene zuzuordnen, zu erklären, dadurch unter Kontrolle, »auf den Begriff« zu bringen. Die Analytiker der ersten Generation um Freud waren auf die Phänomene der Übertragung, denen sie sich ausgesetzt sahen, nicht vorbereitet (Körner, 1990). Und nicht wenige missverstanden das Übertragungsgeschehen als reale Beziehung, so dass sie die Verliebtheit einer Patientin mit einem Liebeswunsch innerhalb einer Realbeziehung des Alltags verwechselten und selbst in einigen Fällen auch darauf eingingen. Auch diese Entgleisungen brachten Freud dazu, die Regeln etwa der Abstinenz (Körner u. Rosin, 1985) mit großer Strenge zu formulieren, ähnlich wie seine missverständlichen Metaphern von der Chirurgen- und der Spiegelhaltung. Zugleich anerkannte er – was ihm gelegentlich bestritten wurde –, dass zahlreiche jener »hysterischen« Frauen tatsächlich als Kinder missbraucht worden waren, so dass die Theorie sehr nahe lag, dass es jene traumatischen Verletzungen waren, welche als Ursache für die späteren seelischen Erkrankungen gelten mussten. In diesem Kontext entwickelte Freud die erste Angsttheorie und die »Traumatheorie« seelischer Erkrankungen: Die Verdrängung traumatischer Erfahrungen macht Angst und führt zur seelischen Erkrankung mit Symptombildungen. Es sind also reale Erfahrungen, welche die – teilweise erst sehr viel später einsetzende – psychische Erkrankung verursachten.
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Freud hätte die Krankheitsgeschichten seiner berühmten Fälle in diesem Sinne traumatheoretisch erklären können: Die »Katharina« (Freud, 1895), der berühmte Fall »Dora« (Freud, 1905), beide mit hoher Wahrscheinlichkeit sexuell traumatisiert, ferner der »Fall Schreber«, der von einem sadistischen Vater handelt, dessen Erziehungspraktiken Grotjahn (1976, S. 146) wie folgt charakterisiert: »Sollte es möglich sein, ein Kind durch Schlagen schizophren zu machen, (muss) dies ungefähr der Weg sein«. Auch der Fall des »Kleinen Hans« (Freud, 1909) lässt sich traumatheoretisch erklären: Der kleine Sohn hatte seine Angst vor dem Vater auf Pferde verschoben und entwickelte eine Pferdephobie. Nicht zu übersehen ist in dieser Fallgeschichte allerdings, dass der Vater den Kleinen Hans unverhohlen mit Kastration bedroht hatte, so dass Hans durchaus auch eine Realangst empfunden haben mag. Wäre Freud bei seiner frühen Traumatheorie geblieben, dann hätte er die Erkrankung und Symptombildung des Kleinen Hans allein als eine notwendige Folge dieser Bedrohung erklären können. Allein diese Erklärung wäre damals schon eine unerhörte Behauptung gewesen. Freud war aber schon einige Jahre zuvor konzeptionell einen großen Schritt weiter gegangen. Im Jahre 1897 ersetzte er die Traumatheorie durch die Theorie vom unbewussten Konflikt. Er hatte bemerkt, wie er in einem Brief an seinen Freund Wilhelm Fließ (Freud 1985) schrieb, dass die Schilderungen seiner Patientinnen wohl nicht immer der Wahrheit entsprächen. Er muss wohl in einigen Fällen den Verdacht gehabt haben, dass die traumatischen Vorfälle erfunden waren, so dass seine Traumatheorie ins Wanken geriet. Er zweifelte, aber entschied sich, die Einfälle seiner Patientinnen auch dann ernst zu nehmen, wenn sie mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmten. Das war ein unerhörter Schritt gewesen, den er selbst sehr viel später in einem Rückblick etwas lapidar damit beschrieb (1914, S. 56), dass er sich nach einigem Zögern entschlossen hatte, neben der »praktischen« Realität nunmehr auch die psychische Realität zum Gegenstand der Psychoanalyse zu machen. Nicht alle Psychoanalytiker haben diesen großen Schritt mittun wollen und an der Traumatheorie festgehalten: Die Selbstpsychologie und die interpersonale Psychoanalyse (Stolorow et
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al., 1996; Mitchell 2003) nehmen zwar heute keinen Bezug mehr auf die historische Wendung von der Trauma- zur Konflikttheorie, aber sie sind bei der Überzeugung geblieben, dass es die realen Traumata sind, die einen Menschen psychisch erkranken lassen, weswegen es eine Aufgabe der Psychotherapie wäre, seelische Beschädigungen wieder gut zu machen und der Therapeut unbedingt darauf achten müsse, »Retraumatisierungen« zu vermeiden. Heute sind die Kontroversen um die Trauma- versus Konflikttheorie nach wie vor aktuell, allerdings nicht mehr in Bezug auf die Frage, ob ein Kind tatsächlich traumatisiert worden sei oder nicht. Tatsächlich geht es in den Auseinandersetzungen um die Traumatheorie auch gar nicht darum, ob – oder wie häufig – traumatische Verletzungen bei Kindern tatsächlich vorkommen. Niemand kann die große Zahl verletzender Übergriffe auf Kinder ernsthaft in Abrede stellen, aber für die Ätiologie der Neurosen ist nicht so sehr die »praktische«, sondern die gedeutete Realität von entscheidendem Einfluss. Daher unterscheiden sich Psychotherapeuten, die an der Traumatheorie festhalten, von den »Konflikttheoretikern« nicht nur darin, wie sie die Realität einer Biografie erfassen – nämlich entweder als Sammlung von Tatsachen oder als Erforschung von Interpretationen –, sondern auch im Hinblick auf ihre Entscheidung für angemessene Interventionen. Hält ein Psychotherapeut an der Traumatheorie fest, muss er im Prozess der psychotherapeutischen Behandlung vermeiden, seine Patienten z. B. durch Konfrontationen zu retraumatisieren, und er stellt sich ganz entschieden auf die Seite des vernachlässigten oder missbrauchten Kindes von damals. In der Konflikttheorie muten wir dem Patienten zu, sein Schicksal selbst (mit)gestaltet zu haben, und verlangen von ihm, dass er sich seiner eigenen, teils unbewussten Rolle in den konflikthaften Auseinandersetzungen seiner Kindheit bewusst wird. Wäre es bei der Traumatheorie in der Psychoanalyse geblieben, hätte Freud wohl kaum eine seiner bedeutungsvollen kulturtheoretischen Arbeiten schreiben können. Worin bestünde dann das »Unbehagen in der Kultur«? Es erschiene als nichts anderes als ein Leiden an den Einschränkungen und Trauma-
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tisierungen, denen jeder zivilisierte Mensch ausgesetzt ist, die er verarbeiten muss, um in seiner sozialen Welt überleben zu können. Es wäre auch klar, dass ein Übermaß an Unterdrückung menschlicher Triebwünsche zu pathologischen Deformationen – wie z. B. zu dem »autoritären Charakter« Horkheimer und Adorno (1936) – führen muss. Kulturkritik würde dann vor allem als Kritik am Übermaß an Triebunterdrückung zum Ausdruck kommen (Marcuse, 1973), als kritische Wendung gegen die menschliche Kultur heute. »Man fand«, schrieb Freud 1930, »dass der Mensch neurotisch wird, weil er das Maß von Versagung nicht ertragen kann, das ihm die Gesellschaft im Dienste ihrer kulturellen Ideale auferlegt« (S. 446). Was wären in dieser traumatheoretischen Orientierung dann die Aufgaben eines psychoanalytischen Pädagogen? Burkhard Müller (in diesem Band) beschreibt dessen Handlungsmaxime: Es gelte, die »Zumutungen der Kultur auf das zu beschränken, was […] notwendig ist«. Die antiautoritäre Pädagogik in der Nachfolge der Studentenbewegung der 68er-Generation ging diesen Weg. Das Kind sollte ohne die triebfeindlichen Zwänge der spätbürgerlichen Gesellschaft aufwachsen, sollte den traumatischen Einflüssen einer »schwarzen Pädagogik« (Miller, 1980) entgehen, um sich so zur unbeschwerten, unbelasteten Persönlichkeit heranzubilden. Im sozialpädagogischen Feld arbeiteten und arbeiten antiautoritäre Pädagogen mit ausgeprägtem Verständnis für das abweichende Verhalten zahlreicher ihrer Klienten, die ja doch nur auf die Belastungen reagieren, die ihnen das Leben zugemutet hat. Viele dieser Pädagogen identifizieren sich z. B. mit dem traumatisierten Kind im delinquenten Jugendlichen, sie arbeiten »parteilich«, das heißt, sie stellen sich auf die Seite der vielfach Benachteiligten und Misshandelten, deren Interessen sie in einer unverständigen oder gar feindlichen Welt vertreten müssen. Zumindest fühlen sie sich mit einem »Doppelmandat« ausgestattet, das sie in einen Dauerkonflikt bringt zwischen dem Wunsch, parteilich die Interessen ihrer Klienten zu vertreten gegenüber einer Welt, deren Institutionen auf die Einhaltung strenger Regeln und Beachtung mittelschichtorientierter moralischer Normen drängt.
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Aber sie alle, die Traumatheoretiker und die antiautoritären Pädagogen, übersahen, dass die Psychoanalyse schon längst, nämlich 1897 ihren Gegenstand gewechselt hatte. Nun zur Konflikttheorie: Das Beispiel des »Kleine Hans« ist traumatheoretisch schon zu Beginn dieses Beitrags erzählt worden. Der kleine Junge verschob seine Angst vor dem mit Kastration drohenden Vater auf Pferde und entwickelte eine Pferdephobie. Konflikttheoretisch analysiert, könnte dieser Fall bis hierher auch genau so erzählt werden. Aber dann träte ein neuer Gedanke hinzu: Hans liebte seine Mutter sehr, suchte, wo immer es ging, ihre körperliche Nähe und rivalisierte intensiv mit seinem Vater. Sein intensiver Wunsch, sich an die Stelle des Vaters zu setzen, ließ ihm diesen Vater um ein vielfaches bedrohlicher erscheinen, als dessen Kastrationsdrohungen es vermocht hätten. Wenn also der Kleine Hans Angst vor seinem Vater hatte, so hatte er sie deswegen in besonderer Intensität, weil er sich vor dessen Rache so sehr fürchtete. In seiner Idee von einem gefährlichen Vater begegnete er also auch sich selbst, ohne es zu wissen. Das heißt, dass in diesem Falle nicht das traumatische Ereignis (die Kastrationsdrohung) allein pathogen wirkte, sondern seine subjektiv empfundene Gefährlichkeit wurde vom Kleinen Hans ausgestaltet. Um also die Bedeutung der väterlichen Drohungen zu erfassen, muss man sie innerhalb der unbewussten Konflikte des Sohnes verstehen. Mit der Wendung von der Traumatheorie zur Konflikttheorie ändert sich auch die psychoanalytische Betrachtung des Spannungsverhältnisses von Individuum und Gesellschaft. Dieses Verhältnis ist unübersichtlicher geworden, denn was dem Einzelnen an Realität durch die Kultur entgegentritt und auch feindlich erlebt werden kann, ist eben nicht »die« (repressive) Realität, sondern es ist die vom Subjekt selbst gedeutete und damit auch selbst hervorgebrachte subjektive Wirklichkeit. Ein Beispiel: In dem Dokumentarfilm »Prinzessinnenbad« von Bettina Blümner über den konkreten Alltag »schuldistanzierter« Mädchen wird sehr gut erkennbar, wie subjektiv diese Jugendlichen ihre Welt interpretieren – und wie sie sich erfolgreich diejenige Welt suchen oder erschaffen, die zu ihnen passt. Offenkundig lehnen sie autoritäre Mütter und strenge Lehrer ab, da-
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her sind sie umgeben von Müttern, die darauf verzichten, die Privilegien oder auch nur den Weitblick der älteren Generation geltend zu machen, und sie gehen zu Lehrern in die Schule, die sich allenfalls als freundliche, duldsame Begleiter verstehen. Zweifellos hätten die Mädchen eine autoritäre Mutter oder einen strengen Lehrer als sadistisch, als Zumutung erlebt, und sie haben es offenbar erreicht, dass sich die Erwachsenen um sie herum mit dieser Zuschreibung identifizierten: Eine der Mütter wandte sich an ihre Tochter, um Rat in Liebesdingen zu erfragen, und der Lehrer wartete freundlich und geduldig, bis die Mädchen ihm Aufmerksamkeit zu schenken gedachten. Diese Jugendlichen hätten einen strengen Lehrer oder eine autoritäre Mutter womöglich als »traumatisch« erlebt und angesichts dieser »unerträglichen« Zumutung vermutlich die Flucht ergriffen. Und wären sie gezwungen worden, sich derartigen autoritären Verhältnissen auszusetzen, hätten sie sich über die Maßen belastet gefühlt. Aber bei genauerer Analyse wäre vermutlich sichtbar geworden, dass sie aufgrund ihrer frühen und frühesten Erfahrungen mit Erwachsenen innere Bilder entwickelt haben, die sie heute zwingen, erwachsene Autoritäten als feindselig und bedrohlich zu erleben. Ein weiteres Beispiel: In dem Fallbericht, den Burkhard Müller (in diesem Band) zitiert, erzählt der »Drogenticker« Frank, wie er sich in einer Einrichtung des betreuten Wohnens ohne jede pädagogische Aufsicht oder gar Zwang zurechtgefunden hatte: »Es hätte mich eh keiner von meinem Weg abbringen können, ob mit Regeln oder ohne« und »auch vor grün [gemeint ist die Polizei] so überhaupt keinen Respekt hatte, so hätte ich mich auch mit denen geboxt, also das hätte noch schlimmer ausarten können«. Auch dieser junge Mann hatte eine Vorstellung von dem »Unbehagen in der Kultur«, von den Zumutungen, die eine Gesellschaft bereit hält und davon, wie er sich zur Wehr gesetzt hätte. Vielleicht würde die genauere, biographische Analyse der Lebensgeschichte dieses jungen Mannes zum Vorschein bringen, dass Frank in seiner Kindheit massiv traumatisiert worden war, so dass verständlich werden kann, warum (oder wozu) er so ablehnend und feindselig auf Regeln und Autoritäten reagierte. Dennoch ist sein »Unbehagen« nicht allein das Unbehagen ange-
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sichts der Polizisten oder der strikten Regeln dieser Welt, sondern womöglich auch das Unbehagen eines misshandelten Kindes, für das die ganze Welt sadistisch und willkürlich erscheint. Wo liegen denn dann, verallgemeinert gedacht, die Zumutungen unserer Kultur? Der einfache Gegensatz: Hier die Individuen mit ihren Entwicklungswünschen, dort die Kultur mit ihren restriktiven Einschränkungen, kann so einfach nicht gelten. Die Individuen sind der Kultur nicht nur ausgesetzt, sondern sie entwerfen diese Kultur auch vor sich hin und interpretieren ihren Einfluss entlang ihrer eigenen Entwürfe. Aus diesem Grund hat Freud sein epochales Werk 1930 das »Unbehagen in der Kultur« genannt, weil der Mensch nicht an der Kultur verzweifelt, sondern als Schöpfer dieser Kultur immer auch den selbstgemachten Einschränkungen begegnet. Es ist wohl unstrittig: Das Unbehagen des »Drogentickers« über die Regeln einer Gesellschaft und die Polizei ist in ihm selbst schon früh verankert. Prekäre Bindungserfahrungen, pathogene »Arbeitsmodelle« über soziale Beziehungen, dies alles ist kulturell hervorgebracht, insofern ist seine Deutung der Welt nicht seine ganz private Erfindung. In der Kultur spiegeln sich die unbewussten Phantasien der Individuen und kehren doch wieder zu ihnen zurück. Der Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft ist nicht lösbar, weder zur einen Seite hin, auf der wir erkennen, wie sehr der Jugendliche die bösen Polizisten selbst entwirft, noch zur anderen Seite, auf der er als Traumatisierter wirkt, der von seinem Schicksal gezwungen wurde, so zu werden und nicht anders. Freud schrieb 1930 (S. 445), dass das menschliche Unglück mit fortschreitender Kulturentwicklung immer weiter wächst und dass uns in diesem Unglück eine unbesiegbare Natur begegnet, die in unserer »eigenen psychischen Beschaffenheit« gründet. Dieser Dialektik können wir nicht entgehen. Welches wären dann die Aufgaben eines psychoanalytisch orientierten Pädagogen heute? Er könnte versuchen, die Zumutungen, denen z. B. delinquente Jugendliche ausgesetzt waren, in ihrer pathogenen Wirkung zu erfassen, aber doch auch versuchen, die soziale Realität in unserer Kultur in der Arbeit mit den Jugendlichen zur Geltung zu bringen.
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Was aber heißt »zur Geltung zu bringen«? Die Regeln z. B. einer Einrichtung des Betreuten Wohnens für Jugendliche sollen gelten, weil sie weder von den Jugendlichen noch von den Pädagogen gemacht sind, sondern weil sie einen vernünftigen Ausschnitt einer zivilisierten Welt darstellen. Dass der Jugendliche diese Regeln als sadistisch oder willkürlich interpretiert, mag sein, und er hat ein Recht, diese Deutung vorzutragen. Aber die Aufgabe des Pädagogen ist es, mit dem Jugendlichen zu klären, wie dieser die Regeln interpretiert und dass er damit über sie verfügt. Die Regeln gehören aber niemandem, niemand darf sie für sich verwenden. Ein Pädagoge, der die Regeln einer Institution nutzt, um einen Jugendlichen damit zu drangsalieren, verwendet die Regeln, um seinen eigenen Sadismus zum Ausdruck zu bringen. Und ein Jugendlicher, der diese Regeln als einen Ausdruck des Sadismus ausdeutet, verwendet die Regeln ebenso für sich selbst. Beide sollen darauf verzichten, die Vergegenständlichung einer zivilisierten Welt für sich zu verwenden. Man muss darauf vertrauen, dass der Pädagoge aufgrund seiner Selbsterfahrung und seiner guten Ausbildung fähig ist, nicht nur die willkürliche und egozentrische Ausdeutung der Realität durch den Jugendlichen zu erkennen, sondern auch die Sensibilität besitzt, eigene egozentrische Neigungen zu erkennen und zu kontrollieren. Der Pädagoge steht zwischen dem Jugendlichen und der von beiden gedeuteten Welt. Er muss sich dem Jugendlichen »in den Weg stellen« und ihn zwingen, sich selbst seiner Motive und Deutungen bewusst zu werden – hierin liegt die Analogie zum klassischen Drama der Begegnung des Ödipus mit seinem Vater: Ödipus hätte wissen können, wem er da begegnet ist, aber er hat es nicht wissen wollen, er war blind, und darum führte ihn sein Schicksal in die Blindheit. Es kann sehr hilfreich sein, in der pädagogischen Arbeit mit sehr schwierigen oder belasteten jungen Menschen eine klare trianguläre Struktur der pädagogischen Situation herzustellen und aufrechtzuerhalten. Die gemeinsame Bezugnahme auf etwas Drittes, ein Ziel, einen Gegenstand oder auch die Regeln der gemeinsamen Arbeit zwingen beide Beteiligten, die Verwendung des jeweils anderen zu begrenzen und ihre Beziehung auf jenes
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Dritte hin auszurichten. Diese Konzentration auf das Dritte, das niemandem gehört, begrenzt die wechselseitige Verwendung, verringert, psychoanalytisch ausgedrückt, den Einfluss der Übertragung und Gegenübertragung im pädagogischen Prozess. Denn eine Übertragung bzw. eine Gegenübertragung ist nichts anderes als ein Versuch, den anderen für sich selbst zu verwenden, und Übertragungen entfalten sich ja insbesondere dann, wenn sich zwei Menschen begegnen, die ohne Bezugnahme auf etwas Drittes – vielleicht auch auf den »Rahmen der Situation« (Bleger 1964; Körner 1995) allein ihren unbewussten Phantasien folgen können. Das ist in der Verliebtheit und in der psychoanalytischen Situation regelmäßig der Fall, in pädagogischen Situationen aber brauchen wir die Bezugnahme auf das Dritte, das die zivilisierte Welt repräsentiert und das der gemeinsamen Arbeit und der Arbeitsbeziehung einen Sinn und eine Richtung verleiht.
Literatur Bleger, J. (1964). Psycho-Analysis of the psychoanalytic frame. Int. J. Psychoanal. 48, S. 511-519. Deutsch: Die Psychoanalyse des psychoanalytischen Rahmens. Forum der Psychoanalyse, 1993, 9, 268–180. Brandell, G. (1976). Sigmund Freud – Kind seiner Zeit. Kindler: München. Freud, S. (1905). Bruchstück einer Hysterie-Analyse. GW, Bd. V (S. 161– 286). Freud, S. (1909). Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben. GW, Bd. VII (S. 241–377). Freud, S. (1914). Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung. GW, Bd. X (S. 43–113). Freud, S. (1930). Das Unbehagen in der Kultur. GW, Bd. XIV (S. 421– 506). Freud, S. (1985). Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S., Breuer, J. (1895). Katharina. In: Studien über Hysterie. GW, Bd. I (S. 184–195). Grotjahn, M. (1976). Freuds klassische Fälle. In Kindlers Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. 1, Tiefenpsychologie, hrsg. von D. Eicke. Lizenzausgabe 1982 (S. 141–146). Basel: Beltz.
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Das Unbehagen an der Freudlosigkeit der psychoanalytischen Kultur Freuds »Techniken der Leidabwehr« und aktuelle »Anleitungen zur Lebenskunst«
Die »freudlose Aura« der Psychoanalyse Der leichtfertig und zunächst eher aus einer sprachspielerischen Laune entworfene Titel meines Beitrags ist mehrdeutig. Die Rede vom Unbehagen an der »Freudlosigkeit der psychoanalytischen Kultur« kann in einem doppelten Sinn verstanden werden: einmal als Unbehagen daran, dass die psychoanalytische Kultur sich zu weit von ihren eigenen Wurzeln entfernt habe, den zeitlosen Einsichten und Erkenntnissen ihres Stammvaters Sigmund Freud nicht mehr genügend Aufmerksamkeit schenke, zum anderen als Unbehagen daran, dass die Grundstimmung der psychoanalytischen Kultur irgendwie trist, pessimistisch, freudlos wirkt, dass in dieser Kultur den positiven Aspekten menschlicher Befindlichkeit und menschlichen Strebens, der Freude, dem Wohlbefinden, dem Glückserleben zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Meine Ausführungen sollen eindeutig in die zweitgenannte Richtung gehen. Dass die Psychoanalyse »Freud-los« in dem Sinne wäre, dass sie ihren eigenen Gründervater vergessen hätte, dass seine Texte nicht mehr gelesen, seine Theorieentwürfe nicht mehr diskutiert würden, kann man nun wahrlich nicht sagen. Die Art und Weise, wie Freud, der vor siebzig Jahren gestorben ist – bei allen Weiterentwicklungen und allen Verzweigungen in unterschiedliche Schulen und Ausprägungen der Psychoanalyse –, als maßgebliche Autorität noch immer im gegenwärtigen Diskurs präsent ist, ist wissenschaftsgeschichtlich gesehen, eher ungewöhnlich. So beginnt denn auch der Festvortrag, den Werner
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Bohleber anlässlich des 150. Geburtstages von Sigmund Freud vor den Vertretern der diversen psychoanalytischen Fachverbände gehalten hat, mit dem Satz: »Wie keine andere Wissenschaft ist die Psychoanalyse mit der Person von Sigmund Freud verbunden« (Bohleber, 2006, S. 783). Wenn man die Bände der »Psyche« durchsieht, dann ist Jahrgang für Jahrgang Sigmund Freud auch heute noch der mit Abstand meistzitierte Autor. (Pawlow, Watson und Skinner kommen in den entsprechenden Lehrbüchern der Verhaltenstherapie zwar in der Regel noch in der »Ahnengalerie« im Anfangskapitel vor, spielen aber für die aktuelle Diskussion in diesem Bereich keine vergleichbare Rolle.) Diese ungewöhnlich intensive Ausrichtung auf den Begründer der Lehre ist der Psychoanalyse ja bisweilen auch als wissenschaftlich unangemessener Traditionalismus und Dogmatismus, ja als Personenkult vorgeworfen worden. Wenn ich hier die These von der »Freudlosigkeit der psychoanalytischen Kultur« vertrete, so muss ich gleich hinzufügen, dass ich dies aus einer eher exzentrischen Position heraus tue. Obwohl ich mich vielfach mit Psychoanalyse und mit psychoanalytischer Pädagogik auseinandergesetzt habe, bin ich doch nicht im eigentlichen Sinn Mitglied der »Psychoanalytischen Community«, bin kein Psychoanalytiker und habe nur ganz begrenzte psychoanalytische Eigenerfahrungen. Ich weiß nicht, wie harmonisch, freundlich, locker es in psychoanalytischen Ausbildungsinstitutionen zugeht, wie viel Enthusiasmus, Humor und Heiterkeit auf psychoanalytischen Tagungen anzutreffen ist, wie häufig in Analysestunden auch herzhaft gelacht wird. Diese empirische Ebene ist auch nicht mein Thema. Mir geht es vielmehr um die »Aura«, die die Psychoanalyse umgibt. Und diese hat vielleicht mehr mit den Vorurteilen und Projektionen der Outsider zu tun als mit der kommunikativen Realität dessen, was im Inneren passiert. Aber diese Aura ist natürlich maßgeblich mitgeprägt durch die Person, die Schriften, die Grundüberzeugungen Sigmund Freunds. Und das »Shrink-Image« des Psychoanalytikers als »Seelen-Schrumplers«, der die idealistischen, hochstrebenden, selbstlosen bewussten Strebungen des Menschen enttarnt und ganz andere, banalere, niedrigere Motive dahinter ans Licht zerrt, der die lebenslange Verhaftung in infantilen
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Ängsten, Wünschen und Phantasien aufzeigt, hängt wohl doch zusammen mit berühmt gewordenen Bildern und Metaphern, in denen Freud die Conditio humana beschrieben hat. Als solche können etwa genannt werden: Das Bild vom Ich als dummem August im Zirkus, vom Ich, das nicht Herr im eigenen Haus ist, das Bild vom »psychischen Apparat« etc. Nicht umsonst hat Freud selbst seine Lehre ja auch als dritte große narzisstische Kränkung für die Menschheit nach Kopernikus und Darwin verstanden. Dabei überkreuzen sich in dieser Aura auf fast paradoxe Art und Weise auch nahe beieinanderliegende Tendenzen: einerseits die »Lustfreundlichkeit«, die man der Psychoanalyse durchaus zusprechen kann. Hat sie doch maßgeblichen Anteil daran, dass die gesellschaftliche Toleranz für die unterschiedlichen Weisen des Luststrebens erhöht wurde, in dem schon das Kind als »polymorph perverses Lustwesen« verstanden und in zahlreichen Fallgeschichten die verwickelten Entwicklungslinien menschlicher Lustsuche frei von moralischen Zeigefingern beschrieben wurden. Andererseits aber doch die »Freudlosigkeit«, die einseitigen Konzentration auf intra- und interpsychische Konfliktthemen, vor allem aber: die tiefe Skepsis gegenüber individuellem Glücksund kollektivem Harmoniestreben. Natürlich könnte man sagen, hänge das, was ich im Titel »die Freudlosigkeit der psychoanalytischen Kultur« genannt habe, ganz einfach damit zusammen, dass die Psychoanalyse sich nun einmal primär als eine therapeutische Disziplin entwickelt hat und sich somit vor allem mit den Schattenseiten des menschlichen Lebens, das heißt mit den diversen seelischen Störungen, mit den unterschiedlichen Formen des Leidens der Menschen an sich selbst und ihrer Umwelt befasst. Neurosen, Ängste, Zwänge, Süchte, Depression, Aggression – all dies sind nun einmal keine »leichten«, »heiteren«, »freudvollen« Themen, sondern sehr ernste Lebensprobleme. Entsprechend sei es nicht verwunderlich, dass diese tendenziell düstere, pessimistische Tönung auf die gesamte Aura der Psychoanalyse abfärbe. Andererseits beschäftigen sich aber auch die anderen Richtungen der Psychotherapie mit einer ähnlichen Palette von menschlichen Leidenszuständen und dennoch ist die Aura, die sie um-
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gibt, eine deutlich andere. Ohne auf diese Richtungen und die in den nachfolgenden Charakterisierungen unvermeidlich enthaltenen Verkürzungen im Einzelnen näher eingehen zu wollen, kann man die Aura der Verhaltenstherapie vielleicht am ehesten mit den Stichworten »rational«, »sachlich«, »technokratisch«, »trainingsorientiert«, die der Gesprächstherapie mit »anteilnehmend«, »wertschätzend« »ermutigend«, »auf die ›Kraft des Guten‹ vertrauend« und die der systemischen Therapie als »kreativprovokativ«, »konstruktiv-perspektiven-wechselnd« und »lösungsorientiert« beschreiben.
Verschluckt die Psychoanalyse das Leben? – Ein früh geprägtes persönliches Unbehagen In gewissem Sinn geht es mir im Folgenden auch darum, zu verstehen, was mich selbst eigentlich daran gehindert hat, mich »ganz und gar« auf die Psychoanalyse einzulassen, wo ich doch seit Beginn des Studiums eine große Nähe zu psychoanalytischen Theorien hatte und durchaus noch immer eine Faszination für psychoanalytische Ideen und für entsprechende Deutungen menschlicher Entwicklungsprozesse und zwischenmenschlicher Beziehungsprozesse spüre. Als ich Anfang der 1980er Jahre in Würzburg mit dem Pädagogikstudium begann und bald darauf als studentische Hilfskraft in das engere Umfeld des Lehrstuhls von Günther Bittner geriet, war das erste Projekt, an dem ich beteiligt war, die redaktionelle Arbeit an einem umfangreichen Buchmanuskript, das zu jener Zeit entstand. Es handelte sich um ein gemeinsam von Günther Bittner und Peter Heller publiziertes Buch mit dem Titel: »Eine Kinderanalyse bei Anna Freud« (1983). Bittner war mit dem amerikanischen Literaturwissenschaftler Peter Heller in Kontakt gekommen, als dieser einen Vortrag in Würzburg hielt. Und es stellte sich heraus, dass Heller im engen Umfeld des psychoanalytisch-pädagogischen Milieus in Wien aufgewachsen war, bei Anna Freud in Kinderanalyse war, die private BurlinghamRosenfeld-Schule besuchte, dort Erik Erikson und Peter Blos als
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Lehrer hatte, später die Tochter von Dorothy Burlingham heiratete, in die USA emigrierte und dort noch zwei Mal bei prominenten Analytikern, nämlich bei Ernst Kris und Heinz Lichtenstein, auf der Couch lag. Im hohen Alter hatte Anna Freud ihre Unterlagen geordnet und dabei ihre schriftlichen Notizen aus den Kinderanalysen der Wiener Zeit an die ehemaligen Analysanden geschickt. So hatte auch Peter Heller ein Päckchen mit Notizen Anna Freuds, aber auch mit eigenen Zeichnungen, Geschichten und Briefen, die während dieser Analysezeit entstanden waren, zugeschickt bekommen. Diese Materialien waren nun der Anlass für Peter Heller, sich nach 50 Jahren noch einmal intensiv mit jener Zeit der Kinderanalyse bei Anna Freud, aber auch mit der Rolle, die die Analyse insgesamt in seinem Leben gespielt hat, auseinanderzusetzen. Bittner hat das Ganze dann aus einer distanzierten Position und vor dem Hintergrund inzwischen veränderter psychoanalytischer Deutungsmuster kommentiert. Ich weiß noch gut, dass ich mich einerseits mit großer Faszination, andererseits auch mit zunehmender Ambivalenz durch dieses komplexe Konvolut von Milieuschilderungen, Originalnotizen, spätere Erinnerungen und Assoziationen zu den Originalnotizen, Kommentaren zu den analytischen Deutungen und Haltungen Anna Freuds, Kommentare zu den Kommentaren ... hindurchgearbeitet habe. Einerseits bekommt man durch die Lektüre einen sehr interessanten und authentischen Eindruck, was es hieß, im psychoanalytisch geprägten Milieu Wiens der 1920er und 1930er Jahre aufzuwachsen. Bittner selbst schreibt in seinem Kommentar, er habe sich »das Atmosphärische, die Aura der sogenannten Psychoanalytischen Pädagogik« jener Zeit nicht so recht vorstellen können, bevor er Hellers »Stimmungsbild« gelesen hatte (S. 261). Andererseits ist Peter Hellers rückblickende Auseinandersetzung mit der psychoanalytischen Kultur, die sein Leben so nachhaltig geprägt hat, in vielen Hinsichten doch eine sehr kritische. Er moniert die Rolle als »Religionsersatz«, die die Psychoanalyse in diesem Milieu spielte. Psychoanalyse galt dort nämlich durchaus als eine Initiation in höhere, abgeklärtere, selbsttransparentere,
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wahrhaftigere Weisen der menschlichen Existenz. In diesem Sinne schreibt Heller: »Im Kreis der Wiener Burlinghams und der um Freud versammelten Analytiker, in deren Schatten ich aufwuchs, war die Psychoanalyse eine Religion, ein Kult, eine Kirche« (S. 11). Aus der Distanz stehen für ihn der proklamierte aufklärerische Anspruch und die reale Praxis der Psychoanalyse, wie er sie erfahren hat, jedoch in einem deutlichen Kontrast. So schreibt er: Und mein bitterster Vorwurf gegen Anna Freud, Dorothy Burlingham und den Kreis der orthodoxistisch gesinnten, anmaßenden, sich autoritär gebärdenden Psychoanalytiker war und bleibt ja, daß sie einen entmündigenden, oft verdummenden Einfluß ausübten, statt weiterzugehen in der Befreiung des Menschen, die im Ansatz der Psychoanalyse enthalten zu sein schien (S. 12).
So fällt den auch die Gesamtbilanz der Wirkungen der Psychoanalyse im Hinblick auf die eigene Person, die Peter Heller am Ende zieht, nicht besonders günstig aus: Das Problem des wunden Egos, das megaloman und seiner selbst ungewiß ist, hat die Psychoanalyse nicht gelöst, auch einen Hang zu zwanghaften sexuellen Phantasien und etwas perversen Halbzwängen beseitigte sie nicht, noch den Hang dazu, sich und andere immer wieder auch zu quälen. Noch hat sie die paranoiden Züge oder das »zyklothyme« Schwanken zwischen euphorischen und depressiven Zuständen eigentlich berührt oder einer gewissen Schwäche der Persönlichkeit, einen Bruch, ein Zurückschrecken vor letzter Entschiedenheit aufgehoben. [...] Sie hat vielleicht auch geschadet, durch Förderung der Neigung zur Reflexion, die sicherem Auftreten, unbekümmerter Selbstgewissheit, die ganzem Gelingen günstig sind, entgegenwirkte (S. 253).
Man könnte den Mangel an nachhaltigem »Therapieerfolg« und den Vorwurf der »Freudlosigkeit der psychoanalytischen Kultur«, wie er aus den Kommentaren von Peter Heller hervorgeht, auf die besondere individuelle Charakterstruktur der gestrengen, etwas altjüngferlich-puritanischen Anna Freud schieben, die doch zugleich die »große Kindheitsliebe« des Peter Heller war. Aber es sind durchaus auch prinzipielle Aspekte der psychoanalytischen Behandlung, die Peter Heller retrospektiv kritisch in Frage stellt.
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In seinem Kommentar zu Bittners Kommentar stellt Heller im letzten Abschnitt des Buches, der unter der Überschrift »Ein letztes Wort« steht, eine lange Mängel- bzw. Risikoliste im Hinblick auf die psychoanalytische Therapie zusammen. Diese umfasst u. a. die folgenden Punkte: 1.) »Sexualismus«, 2.) »Hang dazu, die soziale Dimension zu verkennen oder zu vernachlässigen«, 3.) »Hang zur Verleugnung des biologisch Bedingten«, 4.) »Eine den Menschen beschränkende und verkleinernde Verkennung und Missachtung der kosmischen und spiritual-religiösen Dimensionen«, 5.) »Einen Hang dazu, den Patienten, ja den Menschen überhaupt auf Egozentrik zu reduzieren« (in dem Sinne, dass »jedes ›höhere‹, ›unegoistische‹, ›unegozentrische‹ Interesse als ein projiziertes, uneigentliches [...] also nicht als etwas Eigenständiges, was um der Sache, oder um des Anderen willen da ist« galt, 6.) Eine »unnütze(n) Reflexivität [...], die den Menschen verengt, hemmt und verunsichert, der ja immer auch im Fall des Tausendfüßlers ist, den es verwirrt, wenn er sich auf die Reihenfolge besinnen soll, in der er seine Füße zu setzen hat«, 7.) »Neigung zu analytisch vermittelter Selbstbeschädigung [...] durch eine Verzerrung und einen Missbrauch ›schonungsloser Wahrhaftigkeit‹«, 8.) »Fortdauernde Abhängigkeit«, die »zum ›Therapismus‹ führen mag, der den Menschen verunselbständigt, ihn in fortdauernder Abhängigkeit beläßt, so daß er ohne Behandlung – die Krücke – nicht mehr auszukommen meint«. 9.) »Indoktrinierung, [...] kraft derer stückhafte Teilwahrheiten der Psychoanalyse zum umfassenden System umgefälscht werden oder sich als eine Art von säkularisierter Religion [...] präsentieren«, 10.) »Totalitätsanspruch der Psychoanalyse« (vgl. S. 292 ff.).
Eine Kernfrage in der Diskussion zwischen Peter Heller und Günther Bittner war offensichtlich die, ob und inwiefern die Psychoanalyse »das Leben verschlucke« (S. 282). Bittner vertritt in seinem Kommentar die These, dass letztlich nur aus der Lebenslaufperspektive bewertet werden könne, ob es für einen Menschen sinnvoll war, sich der Analyse zu unterziehen. Er vergleicht die Analyse mit einem »›Teufelspakt‹ [...] der Sicherheit und Wohlbefinden verspricht und bis zu einem gewissen Grade gibt, doch um den Preis mannigfacher Opfer und Lebenseinschränkungen« (S. 282). Auf die selbst gestellte Frage: »Was hat die Kinderanalyse bei Anna Freud dem Peter Heller eingebracht?« gibt Bittner die Antwort, sie habe ihm »eine Geschichte« eingebracht, »die erzählt zu werden lohnt«. Das erscheint als eine etwas magere Bilanz. Hatte Bittner selbst doch an einer an-
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deren Stelle einmal den folgenden »Maßstab für den Wert einer therapeutischen Intervention« formuliert: »wie viel von der erstarrten primären Liebe, Lebensfreude und Sicherheit vermag sie beim Patienten wieder zu erwecken?« (Bittner, 1974, S. 72). Heller selbst war offensichtlich mit dieser Bilanz des zentralen Therapiegewinns als des »Geschenks einer Geschichte« auch nicht so recht zufrieden. Denn in seinem Kommentar des Kommentars kritisiert er meiner Meinung nach durchaus zu Recht: Es kann nicht die Aufgabe der Analyse sein, einem eine Lebensaufgabe aufzugeben. Und zweifellos ist es ein Negativum, wenn man sich sagen muß: Ich habe ein Leben lang daran laboriert, mich mit dem analytischen Eingriff auseinanderzusetzen, und habe immer wieder versuchen müssen, mich aus dieser Umklammerung zu befreien. Auch der – in dem mir bekannten, kleinen Kreis – relativ häufige Ausweg, aus dieser Umklammerung seinen Beruf zu machen, ist in diesem Zusammenhang nicht schon an sich hoch zu werten, da er immer zweifelhaft bleibt (Bittner u. Heller, 1983, S. 297).
Auch zur Frage, ob und inwiefern die Psychoanalyse »das Leben verschluckt« habe, äußert er sich abschließend noch einmal: »Die Analyse, wie ich sie gekannt habe, hat häufig sehr wohl ›Leben verschluckt‹ und Menschen halbwegs gebrochen.« Allerdings schränkt er dann ein: Ich weiß ja nicht, ob sie sie zu lebensfähigen Krüppeln gemacht oder als lebensfähige Krüppel nur ständig begleitet hat! Sie haben jedenfalls die Krücke nie weggeworfen. Und das gilt m. E. sogar von der Mehrzahl der intensiv behandelten Patienten, deren Lebenslauf mir vor Augen steht. Auch bin ich nicht der einzige, der derlei behauptet. Im Gegenteil: Die Versklavung, die Tyrannis, die wohlmeinende Diktatur, die Anna Freud errichtete, oder die durch den orthodoxen Analysekult um sie herum und anderwärts errichtet wurde, ist von Vielen in meiner wie auch in der Generation der Enkel bemerkt und äußerst scharf kritisiert worden (S. 297).
Man wird verstehen, dass ich gewarnt war, dass Zweifel geweckt waren, ob es dem »guten Leben« dienlich ist, sich auf jenen »Teufelspakt« einzulassen. Fairerweise muss man dazu sagen, dass die Psychoanalyse in der Regel ja auch gar nicht mit dem Anspruch auftritt, »das gute Leben« zu befördern. Zu ihrem Image gehört durchaus auch eine ziemlich spartanische Zurück-
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haltung im Hinblick auf Versprechungen dieser Art. Berühmt ist die in dieser Hinsicht ziemlich bescheidene Position Freuds, der betonte, dass es allenfalls darum gehen könne, »neurotisches Elend« in »gemeines Leid« zu verwandeln. So wie einerseits also die Skepsis, sich auf den potentiell »lebensverschluckenden Teufelspakt« exzessiver seelischer Selbstexploration einzulassen im Verhältnis zur durchaus vorhandenen Neugierde zu groß war, so war andererseits der Leidensdruck in Sachen »neurotisches Elend« nicht groß genug, um von daher die Hemmschwelle zu überwinden. Ich hatte Sympathie für die Formulierung eines ehemaligen Mitschülers Peter Hellers an der Burlingham-Rosenfeld-Schule, der in einem Fragebogen, den Peter Heller im Rahmen seines »Rekonstruktionsprojekts« verschickt hatte, auf die Frage, welche Gefühle er damals gegenüber den Mitschülern, die in Analyse waren – was in diesem Umfeld ja durchaus als eine recht prestigeträchtige Sache galt –, empfunden hätte, folgende Antwort gab: Ich war nicht in Analyse und machte mir auch keine großen Gedanken über die Analyse. Ich hatte auch nicht, wie manche anderen, Minderwertigkeitsgefühle gegenüber den Analysierten. Ich hielt die Analyse für ein minderschweres Unglück, das Manchen traf, so etwa wie der Zahnarzt. Wenn man nicht hingehen mußte, um so besser (zit. n. Göppel, 1991, S. 427).
Welches Maß an Selbstreflexion ist dem guten Leben bekömmlich? All diese Einschränkungen und Unzulänglichkeiten mag man den zeit-, milieu- und personenspezifischen Bedingungen der Art von Psychoanalyse zuschreiben, wie sie Peter Heller erlebt hat. Aus Peter Hellers langer Mängel- und Risikoliste hat mir jedoch vor allem ein Punkt zu denken gegeben, der sehr fundamental mit dem Grundprinzip des psychoanalytischen Verfahrens schlechthin zu tun hat: die Tendenz zur potentierten Reflexivität, die er mit dem »Tausendfüßlersyndrom«, der Aushöhlung »unbekümmerter Selbstgewissheit« und klarer Entschlossenheit in
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Verbindung bringt. Das erste Buch von Günther Bittner, das ich als Student gelesen hatte, waren die »Tarnungen des Ich« (1977). Darin wird an einer zentralen Stelle Psychoanalyse definiert als »eine methodische Anleitung, beharrlich und unaufhörlich die Frage zu stellen: ›wer bin ich?‹«. Zwar wird dann sogleich klar gestellt, dass diese Frage letztlich unerschöpflich ist und an kein natürliches Ende kommen kann. Dennoch wird das »analytische Herausschälen des Ich-Kerns« zumindest in »asymptotischer Annäherung« durch die »beharrliche und unaufhörliche« Auseinandersetzung mit dieser Frage in Aussicht gestellt (Bittner, 1977, S. 8 f.). Hartmut von Hentig (1997) hat in seinem Beitrag zu der Festschrift für Günther Bittner, die unter dem Titel »Paradoxien des Ich« erschienen ist, eher gewarnt vor einer zu starken Fixierung auf die Frage »wer bin ich?«, wie sie dem psychoanalytischen Verfahren inhärent sei. Er betont zwar, dass die Psychoanalyse nicht nur von ihrem Ursprung, sondern auch von ihrem Verfahren her zur Aufklärung gehöre. »Aber was sie will«, meint Hentig, gelingt ihr nicht immer. Die intensive Selbstbeobachtung, Selbsterschließung, Selbstkritik bewirkt oft genug nicht Befreiung, sondern Einkreisung des Ich, einen Egozentrismus, der so unvernünftig und ungesund sein kann, wie das Verdrängen einer unliebsamen Wahrheit, das Weiterschleppen von unaufgehellten Zwängen (Hentig, 1997, S. 116).
Ebenfalls noch im Rahmen meines Studiums las ich im Rahmen eines anderen Seminars, das sich in pädagogischer Absicht mit philosophischen und psychologischen Schriften zum »guten Leben« befasste, einen Text, der genau in jener Zeit entstanden ist, als Peter Heller bei Anna Freud in Analyse war und der aus der Feder eines Autors stammt, dem man zumindest nicht nachsagen kann, dass er kein kritischer, selbständiger Denker sei oder dass seine Reflexionen zum »guten Leben« auf einer problemverleugnenden, harmoniesüchtigen, idealisierenden Sicht auf die menschlichen Lebensverhältnisse basierten. So wie Sigmund Freud als Gründervater der analytischen Psychologie gilt, gilt der besagte Autor als Gründervater der analytischen Philosophie: Ich meine Bertrand Russell und seine Schrift »Eroberung des Glücks – Neue Wege zu einer besseren Lebensgestaltung« von 1930.
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Russell geht es darin darum, »einen Ausweg aus dem gewöhnlichen Alltagsunglück zu finden, an dem die meisten Kulturmenschen kranken und das um so unerträglicher ist, als es keine deutlich erkennbare äußere Ursache hat«. Nach Russel sind es vor allem falsche Weltauffassungen, falsche ethische Begriffe und falsche Lebensgewohnheiten, »die zur Vernichtung jener natürlichen Lebensfreudigkeit, jener Lust nach erreichbaren Freuden führen, von denen letzten Endes alles Menschenglück abhängt«. Russel will in seinem Buch, dessen erster Teil »Ursachen des Unglücks« und dessen zweiter Teil »Ursachen des Glücks« überschrieben ist, und in dem sich die einzelnen Kapitel auf so konkrete Themen wie »Konkurrenz«, »Langeweile und Anregung«, »Neid«, »Schuldgefühle«, »Zuneigung«, »Familie und Ehe«, »Arbeit«, »unpersönliche Interessen« etc. beziehen, zeigen, wie man es machen kann, »um bei halbwegs annehmbaren äußeren Verhältnissen glücklich zu werden« (Russell, 1982, S. 13). Die Vernünftigkeit, Praktikabilität, Nützlichkeit, Wirksamkeit der von Russel dargelegten Strategien der Lebensgestaltung kann hier nicht im Einzelnen diskutiert werden. Mir geht es primär um die optimistisch-pragmatische Grundhaltung, die dem ganzen Buch zugrunde liegt und die gleich im Vorwort prägnant auf den Punkt gebracht wird. Dort betont der Autor, dass er dieses Buch »in dem Glauben, daß viele, die unglücklich sind, glücklich werden könnten, wenn sie es nur richtig anzufangen verstünden«, geschrieben habe (S. 7). Russell beansprucht dabei durchaus, dass das, was er in punkto Lebensbemeisterung zu sagen hat, auf ganz konkreten autobiographischen Erfahrungen beruht. Er sei keineswegs als glücklicher Mensch geboren worden, habe als Kind das Leben eher öde und trostlos gefunden. In der Jugendzeit sei ihm das Leben »verhasst« gewesen und er habe ständig mit dem Gedanken an Suizid gespielt, vor dem ihn lediglich der Wunsch, sich in Mathematik zu vervollkommnen, bewahrt habe. Jetzt hingegen schreibt er – und er schreibt das Buch im Alter von 58 Jahren –, »habe ich Freude am Leben; ja ich könnte fast sagen, daß ich von Jahr zu Jahr mehr Freude daran gewinne« (S. 14). Er führt dies zum einen auf eine Klärung seiner wahren Bedürfnisse und auf eine bewusste Verabschiedung von unerreichbaren Zielen zurück, zum
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Hauptteil aber auf einer Strategie, die der oben beschriebenen psychoanalytischen Grundstrategie diametral entgegengesetzt ist. In diesem Sinn schreibt er: »Zum allergrößten Teil ist meine heutige Gemütsverfassung einer immer geringeren Beschäftigung mit mir selbst zu verdanken.« Denn die Art von Selbstreflexion, auf die er offensichtlich durch seine puritanisch-viktorianische Erziehung geeicht war, bestand vor allem in der Gewohnheit, über seine »Sünden, Torheiten und Mängel nachzugrübeln«. »Ich erschien mir selbst – gewiß mit völligem Recht – als jammervolles Wesen« (S. 14). Allmählich sei es ihm jedoch gelungen, seinen Unzulänglichkeiten gegenüber gleichmütig zu bleiben und sich in wachsendem Maße äußeren Dingen zuzuwenden. Im zweiten Kapitel, das mit »Byronscher Weltschmerz« überschrieben ist, setzt sich Russell zunächst mit der Legitimität des Glücksstrebens und mit der in intellektuellen Kreisen durchaus verbreiteten Verächtlichkeit gegenüber der menschlichen Glückssehnsucht auseinander, mit der Vorstellung, dass nur eine pessimistische und zugleich stoisch die Last des Lebens ertragende Grundhaltung eines Menschen würdig sei, »der es zu einer gewissen Weltweisheit gebracht hat« (S. 20). Wer so denkt, wendet Russell ein, »ist unglücklich, zugleich aber auch stolz auf sein Unglück, da er es der Natur des Weltalls zuschreibt und als die einzige vernunftgemäße Einstellung für einen aufgeklärten Menschen betrachtet«. Russel dagegen möchte seine Leser überzeugen, »daß – was man auch einwenden möge – Vernunft kein Hindernis für Glück ist« (S. 20).
Ist Glück im Plan der Schöpfung nicht vorgesehen? – Einige Anmerkungen zu Freuds Liste der »Techniken der Leidabwehr« Damit bin ich schließlich bei Freud und dem »Unbehagen in der Kultur« angekommen, das exakt im selben Jahr wie Russells Buch erschienen ist und sich ebenfalls mit dem Phänomen des menschlichen Glücksstrebens auseinandersetzt. Darin bemüht Freud in der Tat kosmologische Argumente, das menschliche
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Unglück zu begründen bzw. die Unmöglichkeit der Erfüllung jenes Programms »des Lustprinzips, das den Lebenszweck setzt« zu erklären: »alle Einrichtungen des Alls widerstreben ihm; man möchte sagen: die Absicht, dass der Mensch ›glücklich‹ sei, ist im Plan der ›Schöpfung‹ nicht enthalten« (Freud, 1930/1979, S. 75). Dies ist einer der zentralsten und meist zitierten Sätze aus dieser Spätschrift Freuds. In ihm gipfelt seine zutiefst pessimistische Grundhaltung. Der Grund für diese menschliche »Unfähigkeit zum Glück«, ist nach Freud ein ziemlich schlichter und zugleich ziemlich prinzipieller: »Das Leben, wie es uns auferlegt ist, ist zu schwer für uns, es bringt uns zuviel Schmerzen, Enttäuschungen, unlösbare Aufgaben. Um es zu ertragen, können wir Linderungsmittel nicht entbehren« (S. 73). Natürlich könnte man hier sogleich darüber spekulieren, wie dieser existentielle Pessimismus bei Freud biographisch begründet ist – man könnte etwa auf den starken Eindruck verweisen, den das europäische Völkergemetzel des Ersten Weltkrieges bei ihm hinterlassen hat, man könnte die persönlichen Verlusterfahrungen anführen, die er in der Zeit seit Kriegsende mit dem krankheitsbedingten Tod seiner Tochter Sophie und seines Enkels »Heinele« erlitten hatte, man könnte den Ausbruch seiner eigenen Krebserkrankung und die zahlreichen schmerzhaften Operationen, die in dessen Gefolge notwendig wurden, ins Feld führen ... Aber gerade dann stellt sich natürlich die Frage, inwieweit es statthaft ist, von solchen individuellen Leiderfahrungen auf die Conditio humana schlechthin oder gar auf den »Plan der Schöpfung« zu schließen. Denn immerhin zeigt ja schon das Beispiel Russell, dass unterschiedliche Personen die Frage, ob und inwiefern die Absicht, dass der Mensch glücklich sei, im Plan der Schöpfung wohl enthalten ist, bzw. ob und was der Einzelne aus eigener Kraft dafür tun könne, dieser Absicht nachzuhelfen, sehr unterschiedlich eingeschätzt haben. Von Freuds pessimistischer Grundposition war es natürlich undenkbar, dass er ähnlich wie Russel ein konkretes Anleitungsund Ratgeberbuch zur »Eroberung des Glücks« schreibt. Für die Frage nach dem »Zweck des menschlichen Lebens« (S. 74) hielt
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er sich ausdrücklich für nicht zuständig. Die Frage nach »dem wahren Weg zum wahren Glück« hätte er sicherlich schon als Frage als Ausdruck einer illusionären Verblendung zurückgewiesen. – Welcher Art ist dann aber Freuds Befassung mit dem Thema »Glück« im »Unbehagen in der Kultur«? Die, wie er meint, »anspruchslosere Frage«, der er sich in dieser Schrift dann im Weiteren zuwendet, ist die Frage danach, »was die Menschen selbst durch ihr Verhalten als Zweck und Absicht ihres Lebens erkennen lassen« (S. 74), das heißt, er beschränkt sich als Psychologe ausdrücklich auf eine deskriptivforschende Perspektive. Und hier gibt es für ihn nun gar keinen Zweifel darüber, was das erste und zentralste Anliegen der Menschen ist: »sie streben nach Glück, sie wollen glücklich werden« (S. 74). Dieses Streben nun hat für Freud erkennbar zwei Seiten: einerseits die Vermeidung von Leid, Schmerz und Unlust und andererseits »das Erleben starker Lustgefühle« (S. 74). Da nach Freud die existentielle Situation des Menschen so prekär ist, die Leidensquellen so vielfältig sind, ist für ihn auch klar, dass in aller Regel die erstgenannte Seite im Vordergrund steht, dass »die Aufgabe der Leidvermeidung die der Lustgewinnung in den Hintergrund drängt« (S. 75). Freud sieht den Menschen gewissermaßen permanent von potentiellen Leidensquellen umstellt: Von drei Seiten droht das Leiden, vom eigenen Körper her, der zu Verfall und Auflösung bestimmt ist, sogar Schmerz und Angst als Warnungssignale nicht entbehren kann, von der Außenwelt, die mit übermächtigen, unerbittlichen zerstörenden Kräften gegen uns wüten kann, und endlich aus der Beziehung zu anderen Menschen (S. 75).
Welche »Techniken der Leidabwehr« bieten sich an? Es ist interessant und durchaus bezeichnend, welche Möglichkeiten Freud hier ins Blickfeld geraten und welche nicht. Genannt werden: »gewollte Vereinsamung, Fernhaltung von den anderen«, denn dies sei der »nächstliegende Schutz gegen das Leid, das einem aus menschlichen Beziehungen erwachsen kann« (S. 75), »Angriff auf die (leidverursachende) Natur« mit Hilfe von Wissenschaft und Technik (S. 76), »Intoxikation«, also Beeinflussung durch chemische Substanzen, durch »Sorgenbrecher«, die das subjektive Erleben entsprechend verändern (S. 76), Abtötung der
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Triebbedürfnisse durch Yogapraxis etc. (S. 77), Sublimierung, das heißt Verschaffung von Lustgewinn aus psychischer und intellektueller Arbeit (S. 77), Anästhesierung durch Ästhetisierung, das heißt durch die »milde Narkose, in die uns die Kunst versetzt« (S. 78), Flucht in neurotische Krankheit, die »wenigstens Ersatzbefriedigung verspricht« (S. 78), Weltabkehr durch Eremitentum oder durch Flucht in den Wahn. Als solcher »Massenwahn« müssen nach Freud letztlich auch die trostversprechenden Religionen der Menschheit eingestuft werden (S. 79). Schließlich nennt Freud noch die Lebensorientierung, die »am ursprünglichen, leidenschaftlichen Streben nach positiver Glückserfüllung« festhält und die Liebe in den Mittelpunkt stellt. Die geschlechtliche Liebe stelle sowieso den Prototyp einer »überwältigenden Lustempfindung« dar und von daher sei es nahe liegend, das Glück immer wieder auf diesem Weg zu suchen. Sogleich benennt Freud aber die Kehrseite dieser »Lebenstechnik«: »Niemals sind wir ungeschützter gegen das Leiden, als wenn wir lieben, niemals hilfloser unglücklich, als wenn wir das geliebte Objekt oder seine Liebe verloren haben« (S. 79 f.). Ist nach Freud die existentielle Situation, der »Plan der Schöpfung«, schon so beschaffen, dass es mit den menschlichen Glücksmöglichkeiten nicht weit her ist, so gibt die Kultur, die vom Individuum Selbstbeherrschung und Triebunterdrückung fordert, dem menschlichen Glücksstreben gewissermaßen den Rest. In diesem Sinne heißt es dann an späterer Stelle im Unbehagen in der Kultur: Wenn die Kultur nicht allein der Sexualität, sondern auch der Aggressionsneigung des Menschen so große Opfer auferlegt, so verstehen wir es besser, daß es dem Menschen schwer wird, sich in ihr beglückt zu finden. [...] Der Kulturmensch hat für ein Stück Glücksmöglichkeit ein Stück Sicherheit eingetauscht (S. 105).
Soweit Freuds Darstellung der »Techniken der Leidabwehr« und der »Glückseinschränkung durch die Kultur«. Das »Unbehagen in der Kultur« wird in der Regel als Freuds »zentrale kulturtheoretische Schrift« betrachtet. Sie hat ihm auch den Ehrenrang eines »Klassikers der Kulturtheorie« eingetragen (vgl. Hofmann, Korta u. Niekisch, 2004). In dieser Hinsicht ist es ganz reizvoll zu sehen, wie zurückhaltende Freud selbst die Bedeutung jener
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späten Schrift eingeschätzt hat. Am 28. Juli 1929 schreibt er aus seinem Urlaubsort »Schneewinkel« einen Brief an Lou AndreasSalomé. Darin teilt er Folgendes über seine aktuelle schöpferische Tätigkeit mit: [...] heute habe ich den letzten Satz niedergeschrieben, der die Arbeit, soweit es hier ohne Bibliothek möglich ist, beendigt. Sie handelt von der Kultur, Schuldgefühl, Glück und ähnlich hohen Dingen und kommt mir, gewiß mit Recht, sehr überflüssig vor, zum Unterschied zu früheren Arbeiten, hinter denen doch immer irgendein Drang steckte. Was soll ich aber tun? Man kann nicht den ganzen Tag rauchen und Karten spielen, im Gehen bin ich nicht mehr ausdauernd, und das meiste, was ich lesen kann, interessiert mich nicht mehr. Ich schrieb und die Zeit verging mir dabei ganz angenehm. Ich habe die banalsten Wahrheiten während dieser Arbeit entdeckt (S. Freud, Brief vom 28. 7. 1929).
Freud bleibt bei seiner Darstellung der unterschiedlichen Wege, die die Menschen einschlagen, um sich mit den Härten des Lebens zu arrangieren, ganz auf der deskriptiven Ebene. Er gibt keine differenzierte Einschätzung dazu ab, für wie »zielführend« er die einzelnen Strategien im Hinblick auf die angestrebte »Leidabwehr« oder gar im Hinblick auf das positive Ziel des Glücksstrebens hält. Ich selbst will die einzelnen genannten Strategien der Leidabwehr, die Freud im Unbehagen schildert, nun auch nicht unter diesem Kriterium diskutieren, sondern will im Folgenden einige kritische Anmerkungen/Rückfragen zu Freuds Ansatz und zu dieser Liste als ganzer formulieren: Bezeichnend ist zunächst, was nicht auftaucht in dieser langen Liste, nämlich das eigentlich Naheliegendste und Elementarste: zwischenmenschliche Bindungen, enge, vertrauensvolle Beziehungen, mitmenschliche Nähe, Freundschaft, Trost, Geborgenheit, Anteilnahme, Fürsorge, Güte, Dankbarkeit ... also gerade jenes Spektrum von Emotionen und Interaktionen, das die Bindungsforschung ins Zentrum ihrer Theorie gerückt hat. Bei Freud sind es gewissermaßen lauter »Einzelkämpferstrategien«, die das »autonome Subjekt« im Kampf mit den Widrigkeiten einer feindlichen Umwelt einschlägt. Fast ist man den Satz aus Sartres »Geschlossener Gesellschaft« erinnert: »Die Hölle, das sind die anderen«. Darin mag auch ein gewisser misantropischer Zug des alten Freud zum Ausdruck kommen, zu dem er sich in dem
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oben zitierten Brief an Lou Andreas-Salomé ganz offen bekennt. Dort schreibt er: »Im tiefsten Inneren bin ich ja doch überzeugt, daß meine lieben Mitmenschen – mit einzelnen Ausnahmen – Gesindel sind« (ebd.). Dabei gibt es in der neueren empirischen Glücksforschung gerade hier einen Konsens, den Ernst in seinem Buch über »das gute Leben« folgendermaßen zusammenfasst: Der Königsweg zum Glück ist es, den Beziehungen zu anderen Menschen die oberste Priorität einzuräumen, in den Ausbau unseres sozialen Netzwerks zu investieren. In nahezu allen Untersuchungen über das subjektive Wohlbefinden zeigte sich, dass Menschen sich am häufigsten und intensivsten glücklich fühlen, wenn sie mit anderen zusammen sind. Die positiven Formen des Zusammenlebens – Liebe, Freundschaft, Geselligkeit, Kameradschaft – sind für die meisten Menschen die Eckpfeiler des guten Lebens (Ernst, 2005, S. 244 f.).
Bezeichnend ist auch, dass »Liebe« ganz selbstverständlich mit »geschlechtlicher Liebe« gleichgesetzt wird und dass die »überwältigende Lustempfindung« im sexuellen Akt zum Prototyp menschlichen Glücksempfindens schlechthin erhoben wird. Dabei scheint es durchaus fraglich, ob Freuds weitgehende Gleichsetzung von »Lust« und »Glück« statthaft ist. Es gibt sehr wohl Beispiele für intensives Lustempfinden, das von den Betroffenen kaum mit »Glück« assoziiert wird. Man denke etwa an den Bereich der Prostitution, des Telefon- oder Cybersex. Man wird vermutlich kaum jemanden treffen, der behauptet, dort sein »Glück« gefunden zu haben – auch wenn er eventuell durchaus dazu steht, sich auf diese Art und Weise bisweilen gezielt Lusterlebnisse zu verschaffen. Die bei Freud so gängige Lust-UnlustDichotomie ist einfach zu grob und wird der Vielfalt unterschiedlicher Erlebnisqualitäten sowohl im Positiven wie im Negativen kaum gerecht. Während es im Negativen in der Psychoanalyse immerhin noch eine durchaus entwickelte Phänomenologie der »unlustvollen« Gefühls- und Erlebniszustände und entsprechend elaborierte Theorieansätze gibt (etwa zu Empfindungen wie Angst, Furcht, Trauer, Melancholie, Scham, Schuld, Wut, Hass), fehlt eine differenzierte Phänomenologie positiver Gefühlszustände (Lust, Glück, Freude, Begeisterung, Sinnempfinden, Stolz, Gelassenheit, Geborgenheit, Vertrauen) fast völlig.
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Damit hängt zusammen, dass Freud ganz selbstverständlich einen eher einseitigen, reduktiven Glücksbegriff verwendet, wenn er meint: Was man im strengsten Sinn Glück heißt, entspringt der eher plötzlichen Befriedigung hoch aufgestauter Bedürfnisse und ist seiner Natur nach nur als episodisches Phänomen möglich. Jede Fortdauer einer vom Lustprinzip ersehnten Situation ergibt nur ein Gefühl von lauem Behagen (Freud 1930/1979, S. 75).
»Glück« ist hier also nach dem Prinzip der »Spannungsentladung« als situatives affektives Erlebnis konzipiert. An diesem problematischen Glückskonzept hängt auch die Plausibilität der kulturkritischen These, dass die Triebeinschränkung einen Tausch von Glücksmöglichkeit gegen Sicherheit bedeute. In kulturellen Verhältnissen zu leben, in denen man vor den sexuellen und aggressiven Triebdurchbrüchen seiner Mitmenschen einigermaßen sicher geschützt ist, ist ja eine Sache, die wohl die meisten Menschen als durchaus förderlich für ihr Glück einschätzen. Von daher ist es fraglich, ob es sinnvoll ist, Glück primär als »Spannungsentladung« aufzufassen. Schon das derzeit vielleicht populärste Glückskonzept, Csikszentmihalyis »Flow« (1985), ist hier deutlich anders konstruiert. Zwar ist auch dieses als situative Stimmung angelegt, aber doch mehr als befriedigende Erfahrung eigener Kraft, Konzentration und Könnerschaft und nicht als bloße Spannungsentladung. Noch viel deutlicher ist der Unterschied zum klassisch-antiken Begriff des Glücks, der eng mit dem der Tugend verknüpft ist und der eher auf eine bestimmte Art der Betrachtung des eigenen Lebens, also auf ein reflexives Verhältnis abzielt. Darauf hat Micha Brumlik in seinem Buch »Bildung und Glück« (2002) hingewiesen: Die klassische Antike sah die Erfahrung von Glück [...] als ein Gefühl anläßlich der Betrachtung eines ganzen, in aller Regel des eigenen Lebenslaufs bzw. als ein den ganzen Lebenslauf durchziehendes Gefühl, eine Stimmung an (S. 122).
Brumlik selbst spricht schließlich von Glück als einer »eigentümlich distanziert-engagierten Haltung gegenüber dem eigenen Leben«, die durch das »ästhetische Wohlbefinden beim narrati-
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ven Rückblick auf die eigene Lebensgeschichte, zu welchem Zeitpunkt auch immer« bestimmt ist (S. 127). In eine ähnliche Richtung geht auch die Formulierung des Sozialpsychologen David Myers, die sich als pragmatische Arbeitsdefinition in der neueren empirischen Glücksforschung weitgehend durchgesetzt hat. »Glück ist« demnach »die anhaltende Wahrnehmung des eigenen Lebens als erfüllt, sinnvoll und angenehm« (zit. n. Ernst, 2005, S. 232). Was erstaunlicherweise auch nicht auftaucht in Freuds Liste der »Techniken der Leidabwehr«, ist jene Strategie, die Freud selbst als psychotherapeutische Methode entwickelt hat, nämlich die methodisch geleitete Selbstreflexion, die Bemühung, sich in autobiographischer Wendung mit der eigenen Lebensgeschichte auseinanderzusetzen, um so den Mustern und Ursprungssituationen eigener Leidenszustände auf die Spur zu kommen und durch »Erinnern« und »Durcharbeiten«, durch »Deuten« und »Verstehen«, den negativen Bann, den jene Erfahrungen auf das Leben ausüben, zu brechen. Nach dem Motto: »Die Gegenwart kann man nicht genießen, ohne sie zu verstehen. Und nicht verstehen, ohne die Vergangenheit zu kennen«. Dies mag damit zusammenhängen, dass Freud im Zusammenhang seiner Liste nur autonome Formen und nicht therapeutisch unterstützte Strategien der »Leidabwehr« im Blick hat. Aber immerhin gibt es ja auch eine lange Tradition der autobiographischen selbstreflexiven Auseinandersetzung mit den Schmerzen, Enttäuschungen, unlösbaren Aufgaben, die das Leben uns auferlegt – man denke etwa an Jean Jacques Rousseau, Philip Moritz, Johann Heinrich Pestalozzi und viele andere berühmte Autobiographen.
Gehören zur »weltlichen Seelsorge« auch Hinweise zur »Lebenskunst«? Freud war stets recht zurückhaltend sowohl mit der Proklamation therapeutischer Versprechungen – bezeichnend ist, wie gesagt, seine Aussage, dass schon viel damit gewonnen sei, wenn es gelänge »neurotisches Elend in gemeines Unglück zu verwan-
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deln« – als auch mit der Verkündigung allgemeiner Empfehlungen zur »Lebensweisheit« oder zur »besseren Lebensgestaltung«. Andererseits hat er selbst aber die Funktion, die die Psychoanalyse dem Publikum gegenüber zu leisten habe, einmal mit dem Begriff der »weltlichen Seelsorge« bezeichnet und von der Art von Seelsorge abgehoben die die Kirchen leisten (vgl. Freud, 1927/1982, S. 346). Während es diesen im Rahmen der Seelsorge immer auch darum gehe, die Bindung an die entsprechende Glaubensgemeinschaft zu sichern, sei die psychoanalytische Art der Seelsorge ganz auf eine individuumszentrierte intrapsychische Energiefreisetzung ausgerichtet: Durch eine »möglichst vollständige und tiefreichende Analyse« sollen dem Ich die Energien zugeführt werden, »die durch Verdrängung unzugänglich in seinem Unbewußten gebunden sind, und jene anderen, die das Ich in unfruchtbarer Weise zur Aufrechterhaltung der Verdrängung verschwenden muß«. Und genau dies sei »Seelsorge im besten Sinne« (S. 347). Mit dem Begriff der »Seelsorge« verbindet man aber in der Regel nicht nur eine individuelle Freisetzung gehemmter Energien, sondern durchaus auch ein Stück Unterstützung im Hinblick auf die Gewinnung einer befriedigenden Lebensorientierung, eine Beratschlagung über produktive Perspektiven der Lebensbetrachtung und sinnvolle Wege der Lebensgestaltung. Im Prinzip ist diese Erwartung ja auch durchaus nahe liegend: Dass aus den vielfältigen intimen Gesprächssituation der Psychoanalyse mit zigtausenden von Analysanden, des nach der analytischen Grundregel von keiner Zensur eingeschränkten Sprechens über Lebenswege und Lebenskrisen, über Beziehungen, Sorgen, Bedrängnisse, Phantasien, Wünsche, Ängste, Ansprüche, über Versuche, diese Wünsche zu befriedigen, über Bemühungen, diese Ansprüche zu verwirklichen, über Strategie »Unlust« zu vermeiden und das eigene Lebensglück zu finden – dass aus alldem irgendwie auch ein erfahrungsgesättigtes allgemeines Wissen über die »Kunst des Lebens« zu extrahieren sein müsste, das sollte man eigentlich erwarten dürfen. Letztlich also auch ein Basiswissen darüber, welche Strategien der menschlichen Glückssuche erfolgversprechender sind als andere.
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Im Hinblick auf eine solche psychoanalytisch inspirierte »Anleitung zur Lebenskunst« muss man aber weitgehend Fehlanzeige konstatieren. Eine bedeutsame Ausnahme stellt allenfalls Erich Fromm dar, der mit seinen Büchern »Die Kunst des Liebens« (1956) und »Haben oder Sein« (1976) ein großes Publikum erreichte. Ihm ging es darin tatsächlich darum, dem Leser die Chancen und Probleme unterschiedlicher »Charakterorientierungen« und »Existenzweisen« vor Augen zu führen. Er setzte sich im Sinne einer radikal-humanistischen Psychoanalyse kritisch mit dem Mainstream der westlich-kapitalistischen Lebenskultur auseinander, versuchte nachzuweisen, »daß der radikale Hedonismus in Anbetracht der menschlichen Natur nicht der richtige Weg zum ›guten Leben‹ ist, [...] daß unsere ›Jagd nach Glück‹ nicht zum Wohl-Sein führt« (Fromm, 1976, S. 17). Der Gegensatz von »Lust« bzw. »Vergnügen« und »Freude« spielt darin eine wichtige Rolle. Fromm ist jedoch trotz bzw. vielleicht auch gerade wegen seines Publikumserfolgs eher ein bisweilen als idealistischer Menschheitsverbesserer belächelter Außenseiter der Psychoanalyse geblieben. Die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem »guten Leben« und mit dem Thema »Lebenskunst« hat indes in den letzten Jahren durchaus Konjunktur. Es sind vor allem zwei Richtungen, die das Thema weitgehend für sich besetzt haben: zum einen eine wiederbelebte philosophische Reflexion über jene zentralen Lebensfragen, zum anderen ein Ableger der Persönlichkeits- und Sozialpsychologie, der sich »positive Psychologie« nennt und der sich die empirische Erforschung der Voraussetzungen, Rahmenbedingungen und Fördermöglichkeiten menschlichen Wohlbefindens auf die Fahnen geschrieben hat. Erstere Richtung ist eng mit dem Namen von Wilhelm Schmid verbunden, Letztere mit dem von Martin Seligman. Schmid hat eine mehr als 500 Seiten starke Grundlegung einer »Philosophie der Lebenskunst« vorgelegt, die durch ihre Gelehrsamkeit beeindruckt. Er mustert darin zunächst die Beiträge unterschiedlicher philosophischer Teildisziplinen und gesellschaftswissenschaftlicher Nachbardisziplinen auf ihren möglichen Beitrag zu einer solchen Philosophie der Lebenskunst. Im Rahmen dieser Horizontabschreitung kommt er auch auf die Psycho-
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analyse zu sprechen, der er aufgrund ihrer zentralen Themen zunächst durchaus eine natürliche Nähe zu seinem Projekt zuschreibt. Seine Musterung fällt jedoch eher enttäuschend aus. Durch den rationalen analytischen Zugriff ginge »verloren, was der Gewinn der Psychoanalyse sein könnte: Lebenstechniken zu vermitteln und jene ›Lebenskunst‹ zu erlangen, von der Freud noch sprach« (Schmid, 1998, S. 46). Konkret formuliert er dann »vier Einwände gegen das, was aus der Psychoanalyse im Laufe des 20. Jahrhunderts geworden ist«: 1.) »Die bis ins Feinste ausgefeilte Hermeneutik der Psyche« habe »zu einer hypochondrischen Selbstbeobachtung des Selbst geführt, die keinen Raum mehr für eine kluge Lebensführung lässt«, die vielmehr »die Gefahr einer Fixierung des Selbst auf sich« mit sich brächte. 2.) Die professionelle und damit funktionale, bezahlbare Beziehung sei im Hinblick auf eine gemeinsame Beratschlagung über »Lebenskunst« problematisch, 3.) Die »erstaunliche Fixiertheit« auf einige wenige Erklärungsmuster, vor allem auf die Sexualtheorie, habe eine »unnötige Verengung des Denkens« zur Folge, 4.) Die Psychoanalyse habe sich zwar bewährt »als eine Technik der Befreiung von all dem, was für die Psyche belastend sein kann«, sie lasse das Subjekt aber beim Bedürfnis nach »Synthese«, nach »Restrukturierung«, nach Neuorientierung im Regen stehen (S. 46 f.).
Wenn man sich Schmids umfangreiches Buch ansieht, dann ist man zwar beeindruckt von der großen Gelehrsamkeit, von der Fülle der philosophischen Positionen, die er berücksichtigt, von der intellektuellen Differenziertheit und sprachlichen Nuanciertheit, mit der er all die Fragen und Probleme, die sich im Hinblick auf die kluge Lebensgestaltung ergeben, umkreist und durchdenkt, von den abstrakten Höhenflügen, zu denen er immer wieder ansetzt. Man hätte diesem Buch dennoch ein wenig mehr psychologische oder eben auch psychoanalytische »Bodenhaftung« gewünscht. Irgendwie beschleicht einen beim Lesen der Verdacht, dass, so kunstvoll dieses Buch über die Lebenskunst komponiert und formuliert ist, man letztlich doch in den Büchern von Russell oder Fromm klarere Orientierung, prägnantere Argumente und Anregungen im Hinblick darauf bekommt, was dem guten Leben dienlich sein könnte.
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Ist »Glück« lehrbar? Wenn es denn so ist, dass wir im »Zeitalter des ›eigenen Lebens‹« (Beck, 2001) leben und damit noch mehr als früher – als sich Lebensläufe und Lebensstrukturen noch stärker in traditionsgeleiteten Bahnen bewegten – dazu aufgefordert, ja, dazu verdammt sind, »unseres Glückes Schmied« zu sein, welche Bedeutung hat dann die Frage nach den Möglichkeiten und Bedingungen des Glücks, nach den Wegen und Weisen des »guten Lebens« für die Pädagogik? In seinem bekannten Essay »Bildung« hat Hartmut von Hentig (1996) sechs zentrale Kriterien formuliert, die erfüllt sein müssen, wenn ein menschlicher Bildungsprozess als »gelungen« bzw. »geglückt« gelten können soll. Das zweite dieser Kriterien lautet einerseits sehr schlicht und andererseits sehr anspruchsvoll: »Die Wahrnehmung von Glück«. Hentig erläutert den gemeinten Sachverhalt folgendermaßen: Wo keine Freude ist, da ist auch keine Bildung, und Freude ist der alltägliche Abglanz des Glücks. [...] Hat der Vorgang, den wir Bildung nennen wollen, einem Menschen keinen Grund, keinen Anlaß, keine Fähigkeit zur Freude gegeben, war er verfehlt (Hentig, 1996, S. 78 f.).
Was könnte dies für die pädagogische Praxis bedeuten? Dazu eine schulpädagogische Notiz, die den Weg auf die Titelseite der Würzburger Mainpost fand. Dort wurde darüber berichtet, dass an der Willy-Hellpach-Schule in Heidelberg mit Beginn des neuen Schuljahres erstmals das Fach »Glück« als Unterrichtsfach eingeführt wurde. Auf der Homepage dieser Schule erläutert der Schulleiter das Projekt: Mit dem Unterrichtsfach »Glück« wird der Versuch unternommen, den Schülern Bildung im ursprünglichen Sinn zu vermitteln. Ziel ist die Förderung von persönlicher Zufriedenheit, Selbstsicherheit, Selbstverantwortung und sozialer Verantwortung. [...] Die Jugendlichen sollen empfänglich für Glücksmomente sein und sich Wege für ihr eigenes dauerhaftes Glück suchen können. Das gilt für Schüler und Lehrer gleichermaßen. Längst hat die Wissenschaft bewiesen, dass Gesellschaften mit wachsendem Reichtum nicht unbedingt glücklicher werden. Dazu gehört wesentlich mehr. Etwa Selbstachtung, Einfühlungsvermögen, Freundschaft, Liebe, Spiritualität, Humor und Optimismus. Diese
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Ingredienzien des Glücks kann man lernen. [...] Auf der Grundlage des aristotelischen Glücksbegriffes sollen alle für die Menschen existentiellen Bereiche wie Körper und Seele, aber auch der Wert schöpfende Bezug zur Gemeinschaft erfahren werden. Es soll vermittelt werden, dass Glück erlernbar ist und sich im glücklichen und erfolgreichen Tun widerspiegelt.
Man erfährt dann weiterhin, dass sich bisher 50 Schüler für die entsprechenden Kurse angemeldet haben, dass neben Ethik-, Biologie- und Sportlehrern der Schule zahlreiche externe Dozenten, wie etwa Schauspieler des Heidelberger Theaters, Systemtherapeuten und eine Theaterpädagogin, an der Gestaltung der Kurse mitwirken und dass es sogar eine wissenschaftliche Begleitung durch einen Professor der Pädagogischen Hochschule Heidelberg gibt. Das ganze Projekt erscheint ziemlich verwegen und man weiß nicht so recht, was man davon halten soll. Ich bin jedenfalls durchaus interessiert, aus dem Mund teilnehmender Schüler etwas über deren Erfahrungen mit diesem neuen, ungewöhnlichen Unterrichtsfach zu erfahren, bevor ich mir ein abschließendes Urteil erlaube. Als ich las, dass die systemische Therapie bei diesem Projekt offensichtlich mit im Boot ist, habe ich mich gefragt, was ich, wenn ich denn angefragt würde, aus der Perspektive der psychoanalytischen Pädagogik zu der ganzen Thematik beitragen könnte. Natürlich bin auch ich skeptisch gegenüber der Idee der »learned happiness« und des »learned optimism« (Seligman, 1990), der Vorstellung, dass die Prinzipien des Glücks als Unterrichtsgegenstände »lehrbar« sein könnten wie die Gesetze der Trigonometrie oder Regeln der Grammatik. Natürlich ist auch mir unbehaglich angesichts der bisweilen reißerischen, marktschreierischen Art, in der das Glücksthema derzeit in den populären Magazinen und Ratgebern behandelt wird. Andererseits denke ich, dass es auch zu wenig wäre, mit der von Russell beklagten intellektuellen Verächtlichkeit auf die naive Glückssehnsucht herunterzublicken, die in diesen Tendenzen zum Ausdruck kommt. Für die Jugendlichen der Willy-Hellpach-Schule, für die das Thema »Lebensglück« ja durchaus ein ernstes und elementares ist, wäre es sicherlich keine allzu befriedigende
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Antwort, wenn man ihnen einfach mitteilte, dass nach Freud, »die Absicht, dass der Mensch ›glücklich‹ sei, im Plan der ›Schöpfung‹ nicht enthalten« ist. – Wie aber könnten bessere Antworten aus der Perspektive der psychoanalytischen Pädagogik aussehen?
Literatur Beck, U. (2001). Das Zeitalter des »eigenen Lebens«. Individualisierung als »paradoxe Sozialstruktur« und andere offene Fragen. In Aus Politik und Zeitgeschichte 29, 3–6. Bittner, G. (1974). Das andere Ich. Rekonstruktionen zu Freud. München: Piper. Bittner, G. (1977). Tarnungen des Ich. Studien zu einer subjektorientierten Abwehrlehre. Stuttgart: Bonz. Bittner, G., Heller, P. (1983). Eine Kinderanalyse bei Anna Freud (1929– 1932). Würzburg: Königshausen & Neumann. Bohleber, W. (2006). Zur Aktualität von Sigmund Freud – wider das Veralten der Psychoanalyse. Psyche – Z. Psychoanal., 60 (4) 783–797. Csikszentmihalyi, M. (1985/2007). Flow. Das Geheimnis des Glücks (13. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Ernst, H. (2005). Das gute Leben. Der ehrliche Weg zum Glück. München: Ullstein. Freud, S. (1927/1982). Nachwort zur Frage der Laienanalyse. In ders., Schriften zur Behandlungstechnik. Studienausgabe, Ergänzungsband. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1930/1979). Das Unbehagen in der Kultur. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S., Andreas-Salomé, L. (1981). Briefwechsel (2. Aufl.). Frankfurt a. M.: Fischer. Fromm, E. (1956/1976). Die Kunst des Liebens. Frankfurt a. M. u. a.: Ullstein. Fromm, E. (1976). Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. München: dtv. Göppel, R. (1991). Die Burlingham-Rosenfeld-Schule in Wien (1927– 1932). Schule und Unterricht für die Kinder des psychoanalytischen Clans. In Zeitschrift für Pädagogik, 37 (3), 413–430. Hentig, H. v. (1996). Bildung. Ein Essay. München: Hanser.
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Rolf Göppel
Hentig, H. v. (1997). Die Schwächen des künstlich gestärkten Ichs. In V. Fröhlich, R. Göppel (Hrsg.), Paradoxien des Ich. Beiträge zu einer subjektorientierten Pädagogik (S. 111–123). Würzburg: Königshausen & Neumann. Hofmann, M. L., Korta, T. F., Niekisch, S. (Hrsg.) (2004). Culture Club. Klassiker der Kulturtheorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Russell, B. (1930/1982). Die Eroberung des Glücks. Neue Wege zu einer besseren Lebensgestaltung. Frankfurt: Suhrkamp. Schmid, W. (1998). Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Seligman, M. (1990). Learned Optimism. New York: Knopf.
Die Autorinnen und Autoren
Josef Christian Aigner, geb. 1953, Prof. Dr. phil., habil., Ausbildung zum Psychoanalytiker im Psychoanalytischen Seminar Vorarlberg (PSV) und zum Paartherapeuten an der Abteilung für Sexualforschung der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf. Habilitation an der Universität Klagenfurt im Jahr 2000. Seit 2005 Ordentlicher Universitätsprofessor für Psychosoziale Arbeit – Psychoanalytische Pädagogik am Institut für Erziehungswissenschaft/ Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Innsbruck. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen zu: Psychoanalytische Kulturtheorie und Sozialisationsforschung, Psychoanalytische Vaterforschung, Vater-Sohn-Beziehung, Männliche Sexualität. Till Bastian, geb. 1949, Dr. med., arbeitet als ärztlicher Psychotherapeut in einer Fachklinik in Oberschwaben. Zahlreiche fachliche und populärwissenschaftliche Veröffentlichungen. Arbeitsschwerpunkte: Geschwisterlichkeit, Motivation und Emotion. Günther Bittner, geb. 1937, Prof. Dr. phil, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytische Weiterbildung (abgeschlossen 1966). Professor an der Pädagogischen Hochschule Reutlingen 1969, Universität Bielefeld 1973, seit 1977 Universität Würzburg (emeritiert 2005). Arbeitsschwerpunkte: Pädagogik der Lebensalter, pädagogische Biographieforschung, Grundfragen der Psychoanalyse. Micha Brumlik, geb. 1947, Prof. Dr., von 1981 bis 2000 lehrte er Erziehungswissenschaft an der Universität Heidelberg. Seit 2000 ist er Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Universität Frankfurt a. M. mit dem Schwerpunkt »Theorie der Erziehung und Bildung«. Daneben leitete er von Oktober 2000 bis 2005 als Direktor das Fritz–Bauer-Institut, Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, in Frankfurt a. M. Forschungsschwerpunkte: Pädagogik, Ethik, Theorie und Empirie moralischer Sozialisation sowie Religionsphilosophie. Hans-Joachim Busch, geb. 1951, Prof. Dr. phil., Dipl.-Soz., Dipl. Supervisor (DGSv), Hochschullehrer für Sozialpsychologie am FB Gesellschaftswissenschaften der Universität Frankfurt a. M. und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Sigmund Freud-Instituts in Frankfurt a. M.;
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Die Autorinnen und Autoren
Sprecher des Arbeitskreises Politische Psychologie (DVPW). Arbeitsschwerpunkte: Psychoanalytische Sozialpsychologie, Politische Psychologie, Supervision und Organisationsanalyse. Margret Dörr, geb. 1956, Prof. Dr. phil., Dipl.-Soz., Dipl.-Soz.-Päd.; Professorin an der Katholischen Hochschule für Soziale Arbeit in Saarbrücken für Theorien Sozialer Arbeit mit dem Schwerpunkt Gesundheitsförderung und Soziale Altenhilfe. Arbeitsschwerpunkte: Psychoanalytische Sozialpädagogik, Biographie- und Sozialisationstheorie, Psychopathologie und abweichendes Verhalten. Rolf, Göppel, Prof. Dr. phil, Dipl.-Päd., Professor für Allgemeine Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Arbeitsschwerpunkte: Psychoanalytische Pädagogik, Kindheits- und Jugendforschung, biographisch orientierte Pädagogik. Heiner Hirblinger, geb. 1944, Dr. phil., Psychoanalytischer Pädagoge, Seminarlehrer für Allgemeine Pädagogik und Didaktik, Lehrer am Gymnasium in den Fächern Deutsch, Geschichte, Sozialkunde, Philosophie. Mitglied der Kommission »Psychoanalytische Pädagogik« in der DGfE, wissenschaftlicher Autor, zahlreiche Veröffentlichungen zu Fragen der psychoanalytischen Pädagogik der Schule mit den Schwerpunkten: Unterrichtsanalyse, Symbolbildung, Adoleszenz und Lehrerbildung. Annedore Hirblinger, geb. 1945, Dr. phil., Dipl. Soz., Psychologische Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin in freier Praxis (DGPT), Dozentin der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse MAP e.V., Mitglied der Kommission »Psychoanalytische Pädagogik« in der DGfE. Arbeitsschwerpunkte: Identitäts- und Selbstentwicklung, sexuelle Traumatisierung, Imagination und Traum, Professionalisierung von Lehrern – Fallbesprechung und psychoanalytische Supervision. Jürgen Körner, Prof. Dr. disc., pol., Professor für Sozialpädagogik am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie der FU Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Methode der Psychoanalyse, Psychoanalytische Pädagogik, Jugendliche Delinquenz, Sozialkognitive Methoden in der Arbeit mit delinquenten Jugendlichen, Mensch-TierBeziehung. Andreas Kriwak, Mag. phil., Studium der Philosophie, Politikwissenschaft/Geschichte und Pädagogik; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck (2002–2006). Derzeit Doktoratsstipendiat an der Universität Innsbruck und Lehrbeauftragter
Die Autorinnen und Autoren
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am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck mit dem Forschungsschwerpunkt: Freud’sche und Lacan’sche Psychoanalyse, Erkenntnis- bzw. Wissenschaftstheorie. Burkhard Müller, geb. 1939, Prof. Dr. theol. habil., Professor für Sozialpädagogik an der Universität Hildesheim (emeritiert). Arbeitsschwerpunkte: Professionalität und Methoden Sozialer Arbeit, Jugendarbeit, Psychoanalyse und Pädagogik. Barbara Rendtorff, geb. 1951, Dr. phil. habil., Professorin für Schulpädagogik und Geschlechterforschung an der Universität Paderborn. Lange Jahre Mitarbeiterin in einer autonomen Frauen-BildungsEinrichtung, danach Habilitation und Vertretungs- und Gastprofessorin an verschiedenen Universitäten. Arbeitsschwerpunkte: Theorie der Geschlechterverhältnisse, die Tradierung von Geschlechterbildern und deren Wirkung im Kontext von Schule und Sozialisation in Kindheit, Schule und Jugendalter. Achim Würker, geb. 1952, Dr., Dr. phil., ist parallel als Lehrer und Wissenschaftler tätig. Arbeitsschwerpunkte: Psychoanalytisch-tiefenhermeneutische Kulturanalyse und Literaturinterpretation sowie psychoanalytisch orientierte Selbstreflexion in der Lehrerbildung.
Wenn Sie weiterlesen möchten ... Jörg Wiesse (Hg.)
Psychoanalyse und Kindheit Psychoanalytische Blätter, Band 28.
Abgesehen von seiner Schrift »Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben« von 1909, der erste kinderanalytische Versuch in der Psychoanalyse, blieb Sigmund Freud eher skeptisch gegenüber der Analyse von Kindern, da er keine therapeutischen Mittel sah, die die Sprache ersetzen könnten. Dieses zentrale Problem der psychoanalytischen Technik und das Ringen um Lösungen ziehen sich durch alle kinderanalytischen Bemühungen von der Anfangszeit bis heute. So widmet sich auch der von Jörg Wiesse herausgegebene Band nicht nur den psychoanalytischen Theorien zur Kindheitsentwicklung, einzelnen schwierigen Störungsbildern wie Autismus und ADHS, sondern auch dem technischen Vorgehen, der Kommunikation zwischen Analytiker und kindlichem Patient und wie sich die kindliche innere Welt in der Beziehung zwischen Psychoanalytiker und Kind spiegelt. Das Phänomen der kindlichen Depression wird diskutiert, die Wichtigkeit der Spieltherapie und der Hintergrund der infantilen Sexualität für das Verständnis des Unbewussten kommen zur Sprache. Eine Vielzahl von Fallbeispielen demonstriert die Komplexität des analytischen Prozesses bei Kindern. Die aufgegriffenen Fragen machen den großen Stellenwert der Kinderanalyse bei psychischen Erkrankungen bereits im frühen Kindesalter deutlich.
Christoph Werner / Arnold Langenmayr
Die Bedeutung der frühen Kindheit Psychoanalyse und Empirie, Band 3.
In Freuds Theorie der Persönlichkeitsentwicklung spielen diverse Konzepte eine Rolle. Neben dem generellen Einfluss der frühen Kindheit auf das Erwachsenenalter gehören hierzu der Ödipuskomplex, die Kastrationsangst, die Penis-Baby-Entsprechung, der Primärnarzissmus, die Triebtheorie sowie orale und anale Persönlichkeitsstrukturen. Der 3. Band der Reihe »Psychoanalyse und Empirie« beschäftigt sich mit der empirischen Erforschung dieser psychoanalytischen Konzepte. Die Untersuchungen zeigen, dass aus der Psychoanalyse vielfältige, sinnvolle, konkrete und empirisch überprüfbare Hypothesen zur Psychologie der menschlichen Entwicklung abgeleitet werden können.
Therapie und Pädagogik Ornella Garbani Ballnik
Annemarie Jost
Schweigende Kinder
Rhythmen der Kommunikation
Formen des Mutismus in der pädagogischen und therapeutischen Praxis 2009. 293 Seiten mit 4 Abb. und 3 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-40201-6
Wie zwischenmenschliche Abstimmung gelingt 2009. 191 Seiten mit 5 Abb. und 1 Tab., kartoniert. ISBN 978-3-525-40417-1
In Kindergärten und Schulen nimmt die Zahl schweigender Kinder zu. Dieses Buch erklärt die verschiedenen Formen des Schweigens und gibt Sicherheit für die pädagogisch-therapeutische Arbeit damit.
Barbara Bräutigam
Die Heilungskräfte des starken Wanja Kinder- und Jugendliteratur in der Beratung und Therapie mit Kindern und Jugendlichen Mit einem Vorwort von Jochen Schweitzer. 2009. 186 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-40202-3
Können Kinder- und Jugendbücher eine Psychotherapie bei jungen Patienten voranbringen? Barbara Bräutigam hat zehn Bücher ausgewählt und Psychotherapeuten gebeten, damit vorlesend zu experimentieren. Es zeigt sich: Geschichten haben eine tröstende, von eigenem Kummer ablenkende Funktion, fördern die Vorstellungskraft und Kreativität und regen zum Nachdenken und Reden über sich selbst an.
Geschwindigkeit ist allerorten gefordert. Trotzdem gibt es schnelle und langsame Menschen. Treffen diese aufeinander, kann es leicht zu Konflikten kommen.
Adam Phillips
Winnicott Leben und Werk 2009. Ca. 224 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-40157-6 Erscheint im September 2009
Donald W. Winnicott (1896–1971) war einer der Ersten, der sich mit den Seelenzuständen von Kindern befasste. Er stellte unter anderem fest, wie wichtig der »Glanz im mütterlichen Auge« ist, und entwickelte die Konzepte des Übergangsobjekts sowie der »ausreichend guten Mutter«. Wer und was beeinflusste diesen faszinierenden Menschen, der oft gegen den Strom der zeitgenössischen Psychoanalyse schwamm? Adam Phillips beleuchtet Winnicotts Lebensweg und zeichnet seine Gedanken nach, die von ungebrochener Aktualität sind, auch wenn sie keine Schule begründet haben.
Schriften des Sigmund-Freud-Instituts Rolf Haubl / Frank Dammasch / Heinz Krebs (Hg.)
Rolf Haubl / Tilmann Habermas (Hg.)
Riskante Kindheit
Ausgewählte Lektüren Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 2: Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog, Band 7. 2008. 231 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-45167-0
Psychoanalyse und Bildungsprozesse Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 3: Psychoanalytische Sozialpsychologie, Band 4. 2009. 283 Seiten mit 5 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-45414-5
»Kindheit« verschwindet auf breiter Front. Soll Kinderfreundlichkeit mehr als ein Lippenbekenntnis sein, sind professionelles Handeln und kritische Selbstreflexion der pädagogischen und sozialen Institutionen gefragt. Experten bemühen sich, die Risikofaktoren der modernen Lebensbedingungen zu verringern – kurativ, besser noch aber präventiv.
Johann August Schülein
Optimistischer Pessimismus Über Freuds Gesellschaftsbild Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 3: Psychoanalytische Sozialpsychologie, Band 2. 3., erweiterte Auflage 2007. 273 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-45409-1
Freuds Konzept der Gesellschaft seiner Zeit wird aus seinen Texten und Briefen herausgearbeitet und im historischen Kontext interpretiert. Es ergibt sich ein außerordentlich vielschichtiges Bild.
Freud neu entdecken
Vieles an Freuds Denken ist auch über seinen 150. Geburtstag hinaus aktuell. Der Band stellt selten rezipierte Texte in heutige Zusammenhänge.
Marianne Leuzinger-Bohleber / Rolf Haubl / Micha Brumlik (Hg.)
Bindung, Trauma und soziale Gewalt Psychoanalyse, Sozial- und Neurowissenschaften im Dialog Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 2: Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog, Band 3. 2006. 295 Seiten mit 5 Abb. und 1 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45177-9
Nur durch das Zusammenarbeiten von Experten unterschiedlicher Fachgebiete kann das Phänomen zunehmender Aggressivität und Gewaltbereitschaft bei Kindern in seinen komplexen Ursachen analysiert werden und Prävention erfolgreich sein. Mehr unter www.v-r.de