Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts: Typologie des theatralen Mittels Chor [Reprint 2012 ed.] 9783110918694, 9783484660304

The chorus was a central element in classical tragedy. In the modern age its presence normally represented a major barri

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German Pages 231 [232] Year 1999

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Table of contents :
I. EINLEITUNG
1. Thema
2. Ziel
3. Methode
4. Aufbau
5. Überblick über die Forschungslage
II. EINFÜHRUNG: DER CHOR VOR DEM 20. JAHRHUNDERT
1. Der antike Chor
1.1 Grundlegende Bemerkungen zum antiken Theaterchor des 5. Jahrhunderts, Begriffsklärungen
1.2 Die Zusammensetzung des Chores
1.3 Das Verhältnis des Chores zur Bühnenaktion
1.4 Der Gruppencharakter des Chores
1.5 Die Chorlieder im Dramenkontext
1.6 Das Verhältnis des Chores zu den Protagonisten
1.7 Der Chor als Festchor und Bürgerchor
1.8 Der Sonderstatus des Chores, abschließende Definition
1.9 Anmerkung zu eigener Tragik und Komik des antiken Theaterchores
2. Tendenzen des Chorgebrauchs in der Neuzeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts
2.1 Die Isolierung des Chores in Senecas Tragödien und sein Einfluß auf die Neuzeit
2.2 Die Spannung zwischen Einzelnem und Gruppe bei der Neubelebung des antiken Chores seit der Renaissance, das Problem Chor und positive Gegenbeispiele
2.3 Gesangs- und Opernchöre
2.4 Shakespeares “chorus” und das Volk als ‘dramatis persona’
2.5 Schillers antiillusionistisches Chorkonzept und Goethes flexibler Chor in Faust II
2.6 Auflösung des Chores in Antikeninszenierungen des 19. Jahrhunderts
2.7 Vom Chorgebrauch in der Neuzeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ausgehender Ausblick auf die Typologie für das 20. Jahrhundert
III. HAUPTTEIL: DER CHOR IM 20. JAHRHUNDERT
1. Bertolt Brechts Auseinandersetzung mit dem Chor und die anhand Brechts Chorgebrauch anschaulich gemachte Typologie des Chores im Theater des 20. Jahrhunderts
1.1 Einführung zu Brechts Chorgebrauch
1.2 Brechts Antigone; der Chor in seiner Doppelfunktion als Kommentator und Mitspieler sowie das chorähnliche Schauspielerensemble
1.3 Der kommentierende Chor in Brechts Theater (-theorie) und das Prinzip der Verfremdung
1.4 Das gesellschaftliche Spannungsverhältnis Einzelner-Gruppe als zentrales Thema für den Chor
1.5 Der aktive Parteichor, das Volk und “das faschistische Kollektiv”
1.6 Komik in Brechts Chören
1.7 Das chorische Ensemble und die Flexibilität des Chores bei Brecht
1.8 Brechts Umsetzung seiner Chorkonzepte auf der Bühne
1.9 Zusammenfassung von Brechts Chorgebrauch und die methodische Verknüpfung mit unserer Typologie
1.10 Kategorien des Chorgebrauchs im 20. Jahrhundert; tabellarischer Überblick über die Typologie
2. Max Reinhardts König Ödipus und der Massenchor
2.1 Chor- und Massenregie Reinhardts vor König Ödipus
2.2 Der Massenchor in Reinhardts Arenainszenierung von Hofmannsthals König Ödipus
2.3 Das Verhältnis Gruppe-Individuum in Reinhardts Massenchor
2.4 Zusammenfassung von Reinhardts Massenregie und ihre Einordnung in die Typologie des Chores
2.5 Andere Beispiele für Massenchöre
2.6 Einar Schleefs Massenchöre im Zeitalter der Postmoderne
3. Vsevolod Meyerholds Inszenierung von Der Revisor und der komische Chor
3.1 Einführung zu Meyerholds Der Revisor
3.2 Die Komik des Chores in Der Revisor
3.3 Der komische Chor und die musikalische Regie Meyerholds
3.4 Zusammenfassung des komischen Chores bei Meyerhold und seine Einordnung in die Typologie des Chores
3.5 Christoph Marthalers komisches Chor-Ensemble in Murx
3.6 Chorkomik in Antikeninszenierungen und Dramen mit antikisierendem Chor
4. Peter Steins Orestie und Ariane Mnouchkines Les Atrides: textnaher, psychologisierend-entstehender Sprechchor versus festlicher Tanzchor
4.1 Einführung zu Steins Orestie
4.2 Der Chor in Steins Agamemnon
4.3 Einführung zu Mnouchkines Les Atrides
4.4 Der Chor in Mnouchkines Iphigenie in Aulis
4.5 Zusammenfassender, in die Typologie einordnender Vergleich der Chorkonzepte Mnouchkines und Steins
4.6 Andere, extreme Beispiele für Chöre im Spannungsfeld zwischen Körperlichkeit, Sprache und Musik
4.7 Der polyphone ‘Hörspielchor’ in Peter Sellars’ Ajax
Exkurse zu Bühnenfragen des Chorgebrauchs im 20. Jahrhundert
1. Die Bühnenform und der Chor; seine räumliche Anordnung auf der Bühne
2. Masken und Kleidung des Chores
3. Die Rolle des Chorführers und die Anzahl der Chormitglieder
4. Geschlecht und Alter der Chormitglieder
5. Die Chorlieder in modernen Antikeninszenierungen
6. Sprechchor versus Gesangschor
5. Hansgünther Heyme und der archaisierend sowie der historisierend eingesetzte Chor
5.1 Einführung zum Chorgebrauch Hansgünther Heymes
5.2 Kult und Archaisierung der Chöre Heymes in den 70er Jahren
5.3 Der Chor als historisierend-verfremdende Gruppe in Heymes Die Perser
5.4 Andere Inszenierungen Heymes mit historisierend eingesetztem Chor
5.5 Zusammenfassung des historisierenden Chores bei Heyme und seine Einordnung in die Typologie des Chores
5.6 Andere Beispiele zum historisch-distanzierenden Chor
5.7 Weitere Beispiele zum archaisierend oder kultisch eingesetzten Chor
5.8 Der kaum definierbare Chor in Klaus Michael Grübers Inszenierung von Euripides’ Die Bakchen
6. Das Drama Marat/Sade von Peter Weiss und der spielerisch-flexibel eingesetzte Chor
6.1 Einführung zu Weiss’ Marat/Sade
6.2 Der Chor in Marat/Sade
6.3 Zusammenfassung des spielerisch-flexiblen Chores bei Weiss und seine Einordung in die Typologie
6.4 Der flexible Dramenchor in Tankred Dorsts. Die Legende vom armen Heinrich
6.5 Andere Beispiele für den Chor als innere Stimme
6.6 Weitere Beispiele für die Überbrückung der Distanz zwischen Bühne und Publikum durch den Chor
6.7 Der Chor als Gruppe aller Darsteller
Exkurs: Institutionelle und organisatorische Fragen des Chorgebrauchs
7. Auflösung des Chores in Antikeninszenierungen, Anti-Chöre und Renaissance chorischer Elemente im zeitgenössischen Theater
7.1 Der Anti-Chor in Christof Nels Antigone-Inszenierung
7.2 Weitere Beispiele für die Auflösung des antiken Chores
7.3 Zusammenfassung der aufgelösten Antikenchöre und ihre Einordnung in die Typologie des Chores
7.4 Der Chor in dramatischen Antikenbearbeitungen
7.5 Die Entwicklung vom Einheitschor zum Chaoschor bei Heiner Müller
7.6 Weitere Dramenbeispiele für Anti-Chöre, darunter solche mit ausdrücklicher Thematisierung des Problems ‘Chor’
7.7 Der chorische Einzeldarsteller
7.8 Die Auflösung des Chores in Frank Castorfs Alkestis-Inszenierung
7.9 Die Aufhebung des Chores in Castorfs Alkestis durch das chorische Ensemble
7.10 Castorfs Alkestis und der grundsätzliche Unterschied zwischen dem Theaterchor als Ergänzung der Einzelfiguren und dem Chorischen als Grundlage des Ensemblespiels
7.11 Weitere Beispiele für eine Renaissance des Chores bzw. des Chorischen im deutschsprachigen Theater der 90er Jahre
7.12 Zusammenfassung zur Renaissance des Chores, Einordnung in die Typologie und Versuch einer historischen Einschätzung
8. Erwin Piscators chorischer Filmgebrauch und weitere alternative Medien oder Darstellungsformen für den Theaterchor
8.1 Einführung zum Film im Theater Piscators unter besonderer Berücksichtigung von Rasputin
8.2 Der Chorus filmicus in Piscators Rasputin
8.3 Zusammenfassung des Chorus filmicus bei Piscator und seine Einordnung in die Typologie
8.4 Wilfried Minks’ Darstellung des Chores mit Hilfe eines anderen Mediums in König Ödipus
8.5 Andere Alternativen für den Chor
8.6 Tierchöre als alternative Chorform
Schluß
1. Abschließende Erweiterung der Typologie des Chores
2. Resümee zum Chor im Theater des 20. Jahrhunderts
IV. ANHANG
Literaturverzeichnis
Register
1. Die erwähnten Inszenierungen des 20. Jahrhunderts (nach Regisseuren)
2. Die erwähnten Dramen des 20. Jahrhunderts
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Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts: Typologie des theatralen Mittels Chor [Reprint 2012 ed.]
 9783110918694, 9783484660304

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ueatron

Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste

Herausgegeben von Hans-Peter Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele

Band 30

Detlev Baur

Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts Typologie des theatralen Mittels Chor

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1999

D9 Philosophische Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der Ludwig-MaximiliansUniversität München Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Baur, Detlev: Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts : Typologie des theatralen Mittels Chor / Detlev Baur. -Tübingen : Niemeyer, 1999 (Theatron ; Bd. 30) ISBN 3-484-66030-9

ISSN 0934-6252

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1999 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck, Darmstadt. Einband: Buchbinderei Siegfried Geiger, Ammerbuch.

Inhaltsverzeichnis

I. EINLEITUNG

Ι

1. Thema 2. Ziel 3. Methode 4. Aufbau 5. Überblick über die Forschungslage

3 5 6 8 10

II. EINFÜHRUNG: DER CHOR VOR DEM 2 0 . JAHRHUNDERT

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1. Der antike Chor 1.1 Grundlegende Bemerkungen zum antiken Theaterchor des 5. Jahrhunderts, Begriffsklärungen 1.2 Die Zusammensetzung des Chores 1.3 Das Verhältnis des Chores zur Bühnenaktion 1.4 Der Gruppencharakter des Chores 1.5 Die Chorlieder im Dramenkontext 1.6 Das Verhältnis des Chores zu den Protagonisten 1.7 Der Chor als Festchor und Bürgerchor 1.8 Der Sonderstatus des Chores, abschließende Definition 1.9 Anmerkung zu eigener Tragik und Komik des antiken Theaterchores

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2. Tendenzen des Chorgebrauchs in der Neuzeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts 2.1 Die Isolierung des Chores in Senecas Tragödien und sein Einfluß auf die Neuzeit 2.2 Die Spannung zwischen Einzelnem und Gruppe bei der Neubelebung des antiken Chores seit der Renaissance, das Problem Chor und positive Gegenbeispiele 2.3 Gesangs- und Opernchöre 2.4 Shakespeares "chorus" und das Volk als 'dramatis persona' 2.5 Schillers antiillusionistisches Chorkonzept und Goethes flexibler Chor in Faust Π 2.6 Auflösung des Chores in Antikeninszenierungen des 19. Jahrhunderts 2.7 Vom Chorgebrauch in der Neuzeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ausgehender Ausblick auf die Typologie für das 20. Jahrhundert....

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III. HAUPTTEIL: DER CHOR IM 20. JAHRHUNDERT

1. Bertolt Brechts Auseinandersetzung mit dem Chor und die anhand Brechts Chorgebrauch anschaulich gemachte Typologie des Chores im Theater des 20. Jahrhunderts 1.1 Einführung zu Brechts Chorgebrauch 1.2 Brechts Antigone; der Chor in seiner Doppelfunktion als Kommentator und Mitspieler sowie das chorähnliche Schauspielerensemble 1.3 Der kommentierende Chor in Brechts Theater (-theorie) und das Prinzip der Verfremdung 1.4 Das gesellschaftliche Spannungsverhältnis Einzelner-Gruppe als zentrales Thema für den Chor 1.5 Der aktive Parteichor, das Volk und "das faschistische Kollektiv" . . . 1.6 Komik in Brechts Chören 1.7 Das chorische Ensemble und die Flexibilität des Chores bei Brecht. . 1.8 Brechts Umsetzung seiner Chorkonzepte auf der Bühne 1.9 Zusammenfassung von Brechts Chorgebrauch und die methodische Verknüpfung mit unserer Typologie 1.10 Kategorien des Chorgebrauchs im 20. Jahrhundert; tabellarischer Überblick über die Typologie 2. Max Reinhardts König Ödipus und der Massenchor 2.1 Chor- und Massenregie Reinhardts vor König Ödipus 2.2 Der Massenchor in Reinhardts Arenainszenierung von Hofmannsthals König Ödipus 2.3 Das Verhältnis Gruppe-Individuum in Reinhardts Massenchor 2.4 Zusammenfassung von Reinhardts Massenregie und ihre Einordnung in die Typologie des Chores 2.5 Andere Beispiele für Massenchöre 2.6 Einar Schleefs Massenchöre im Zeitalter der Postmoderne 3. Vsevolod Meyerholds Inszenierung von Der Revisor und der komische Chor 3.1 Einführung zu Meyerholds Der Revisor 3.2 Die Komik des Chores in Der Revisor 3.3 Der komische Chor und die musikalische Regie Meyerholds 3.4 Zusammenfassung des komischen Chores bei Meyerhold und seine Einordnung in die Typologie des Chores 3.5 Christoph Marthalers komisches Chor-Ensemble in Murx 3.6 Chorkomik in Antikeninszenierungen und Dramen mit antikisierendem Chor

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4. Peter Steins Orestie und Ariane Mnouchkines Les Atrides: textnaher, psychologisierend-entstehender Sprechchor versus festlicher Tanzchor... 4.1 Einführung zu Steins Orestie 4.2 Der Chor in Steins Agamemnon 4.3 Einführung zu Mnouchkines Les Atrides 4.4 Der Chor in Mnouchkines Iphigenie in Aulis 4.5 Zusammenfassender, in die Typologie einordnender Vergleich der Chorkonzepte Mnouchkines und Steins 4.6 Andere, extreme Beispiele für Chöre im Spannungsfeld zwischen Körperlichkeit, Sprache und Musik 4.7 Der polyphone 'Hörspielchor' in Peter Seilars' Ajax Exkurse zu Bühnenfxagen des Chorgebrauchs im 20. Jahrhundert 1. Die Bühnenform und der Chor; seine räumliche Anordnung auf der Bühne 2. Masken und Kleidung des Chores 3. Die Rolle des Chorführers und die Anzahl der Chormitglieder 4. Geschlecht und Alter der Chormitglieder 5. Die Chorlieder in modernen Antikeninszenierungen 6. Sprechchor versus Gesangschor 5. Hansgünther Heyme und der archaisierend sowie der historisierend eingesetzte Chor 5.1 Einfuhrung zum Chorgebrauch Hansgünther Heymes 5.2 Kult und Archaisierung der Chöre Heymes in den 70er Jahren 5.3 Der Chor als historisierend-verfremdende Gruppe in Heymes Die Perser 5.4 Andere Inszenierungen Heymes mit historisierend eingesetztem Chor 5.5 Zusammenfassung des historisierenden Chores bei Heyme und seine Einordnung in die Typologie des Chores 5.6 Andere Beispiele zum historisch-distanzierenden Chor 5.7 Weitere Beispiele zum archaisierend oder kultisch eingesetzten Chor 5.8 Der kaum definierbare Chor in Klaus Michael Grübers Inszenierung von Euripides' Die Bakchen 6. Das Drama Marat/Sade von Peter Weiss und der spielerisch-flexibel eingesetzte Chor 6.1 Einführung zu Weiss' Marat/Sade 6.2 Der Chor in Marat/Sade 6.3 Zusammenfassung des spielerisch-flexiblen Chores bei Weiss und seine Einordung in die Typologie 6.4 Der flexible Dramenchor in Tankred Dorsts Die Legende vom armen Heinrich 6.5 Andere Beispiele für den Chor als innere Stimme

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Exkurs: Institutionelle und organisatorische Fragen des Chorgebrauchs

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7. Auflösung des Chores in Antikeninszenierungen, Anti-Chöre und Renaissance chorischer Elemente im zeitgenössischen Theater 7.1 Der Anti-Chor in Christof Neis Antigone-Jnszenierung 7.2 Weitere Beispiele für die Auflösung des antiken Chores 7.3 Zusammenfassung der aufgelösten Antikenchöre und ihre Einordnung in die Typologie des Chores 7.4 Der Chor in dramatischen Antikenbearbeitungen 7.5 Die Entwicklung vom Einheitschor zum Chaoschor bei Heiner Müller 7.6 Weitere Dramenbeispiele für Anti-Chöre, darunter solche mit ausdrücklicher Thematisierung des Problems 'Chor' 7.7 Der chorische Einzeldarsteller 7.8 Die Auflösung des Chores in Frank Castorfs Λ/Äej/w-Inszenierung 7.9 Die Aufhebung des Chores in Castorfs Alkestis durch das chorische Ensemble 7.10 Castorfs Alkestis und der grundsätzliche Unterschied zwischen dem Theaterchor als Ergänzung der Einzelfiguren und dem Chorischen als Grundlage des Ensemblespiels 7.11 Weitere Beispiele für eine Renaissance des Chores bzw. des Chorischen im deutschsprachigen Theater der 90er Jahre 7.12 Zusammenfassung zur Renaissance des Chores, Einordnung in die Typologie und Versuch einer historischen Einschätzung 8. Erwin Piscators chorischer Filmgebrauch und weitere alternative Medien oder Darstellungsformen für den Theaterchor 8.1 Einführung zum Film im Theater Piscators unter besonderer Berücksichtigung von Rasputin 8.2 Der Chorus filmicus in Piscators Rasputin 8.3 Zusammenfassung des Chorus filmicus bei Piscator und seine Einordnung in die Typologie 8.4 Wilfried Minks' Darstellung des Chores mit Hilfe eines anderen Mediums in König Ödipus 8.5 Andere Alternativen für den Chor 8.6 Tierchöre als alternative Chorform Schluß 1. Abschließende Erweiterung der Typologie des Chores 2. Resümee zum Chor im Theater des 20. Jahrhunderts

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I V . ANHANG

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Literaturverzeichnis

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Register

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1. Die erwähnten Inszenierungen des 20. Jahrhunderts (nach Regisseuren) 2. Die erwähnten Dramen des 20. Jahrhunderts

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IX

Vorbemerkung

Die vorliegende Arbeit entstand mit Hilfe eines Stipendiums der Universität in den Jahren 1995 bis 1997 bei Professor Dr. Günther Erken am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Ich danke Professor Erken für die intensive Betreuung, seine ständige Neugier, für Kritik und zahlreiche wertvolle Hinweise. Danken möchte ich auch Professor Bayerdörfer für seine Unterstützung während der Arbeit und bei der Veröffentlichung in der Reihe Theatron. Auch Professor Flashar bin ich zu Dank verpflichtet, im Bereich der Antikenrezeption habe ich in Seminaren und durch sein Buch Inszenierung der Antike viel von ihm gelernt. Während meiner Recherchen erfuhr ich freundliche Hilfe von Herrn Karl-Heinz Müller (Berlin/Bad Freienwalde), durch das Bertolt-Brecht-Archiv in Berlin, die Stiftung Archiv der Akademie der bildenden Künste in Berlin, Abteilung darstellende Kunst - besonders den Bereich Theaterdokumentation - , das Archiv des Deutschen Theaters in Berlin sowie die Ruhrfestspiele Recklinghausen in Gestalt von Herrn Professor Hanns-Dietrich Schmidt mit freundlicher Genehmigung Hansgünther Heymes. Für Übersetzungshilfen danke ich Andreja Zoric und meinem Bruder Johannes, für Korrekturen Stefan Mommertz und besonders Georg Ott. Ich widme die Arbeit meinen Eltern, die mich immer unterstützt haben.

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I. Einleitung

1. Thema

Der Chor stellt bei Auffiihrungen antiker griechischer Dramen im gegenwärtigen Theater häufig eine große Schwierigkeit dar. Er ist für die heutigen Theatermacher wie für die Zuschauer der fremdartigste Bestandteil von Tragödie und Komödie. Gelingen oder Scheitern der Inszenierungen hängen jedoch in hohem Maße vom Umgang mit diesem Instrument des Theaters ab, denn in den antiken Stücken hat der Chor als Rolle und als dramaturgisches Mittel zentrale Bedeutung. Schon in der Poetik des Aristoteles, der ältesten erhaltenen theoretischen Schrift über das antike Theater, zeigen sich Schwierigkeiten bei der Beurteilung des Chores. Er ist nur schwer mit dem die dramatische Handlung ganz in den Vordergrund stellenden Tragödienkonzept der Poetik in Einklang zu bringen. Aristoteles geht dementsprechend kaum auf den Chor ein, nur an einer Stelle äußert er sich ausführlicher: Den Chor muß man ebenso einbeziehen wie einen der Schauspieler, und er muß ein Teil des Ganzen sein und sich an der Handlung beteiligen

Diese Definition beschreibt nicht die besondere Qualität des Chores, sondern ist um seine Angleichung an die Einzeldarsteller und damit eine Minimierung des 'Störfaktors' Chor in dem auf Illusion und Fiktion bauenden Tragödienmodell der Poetik bemüht. In diesem Modell will Aristoteles eine lineare, geschlossene Handlung um eine Hauptfigur herum nach den Prinzipien von Wahrscheinlichkeit und Kausalität organisiert sehen. Der undramatische, für die Handlung unerhebliche und in einer von handelnden Einzelpersonen bestimmten Welt zudem äußerst künstliche Chor stellt für ihn daher einen Fremdkörper dar. Der Autor der Poetik lebte im 4. Jahrhundert, mehrere Generationen nach den einmaligen Athener Auflührungen der uns überlieferten Stücke der drei großen Tragiker des 5. Jahrhunderts, Aischylos, Sophokles und Euripides (sowie des Komödienautors Aristophanes); dennoch wurde das dramatische Theatermodell des Aristoteles und sein daraus folgendes Miß-Verständnis vom Chor für die Forschung und das abendländische Theater mitsamt seiner dramatischen Literatur seit der Renaissance weitestgehend kritiklos als maßgebend angesehen und übernommen und dabei - auch durch Mißverständnisse Aristoteles gegenüber - weiterentwickelt.2

Poetik 18. Kapitel 1456a 25-27, Übersetzung von Manfred Fuhrmann S. 59. So die berühmten 'drei Einheiten'. Gerade bei der Rezeption der aristotelischen Äußerungen über den Chor zeigen sich eklatante und zugleich gewichtige Fehldeutungen. Die These, der Chor sei 'Sprachrohr1 des Dichters, dürfte sich aus der Fehldeutung bzw. fehlerhaften Abschrift einer sich deutlich auf Aristoteles beziehenden Horaz-Stelle im ersten Kommentar der Poetik in der Renaissance (von Robortello) entwickelt haben: Horaz

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Dramen sind nach diesem auch heute noch weit verbreiteten Credo Literatur, die 'angemessen' auf der Bühne umgesetzt werden solle,3 die aristotelische Fixierung auf einen handelnden Einzelhelden setzt sich auch noch im neueren Medium Film fort. Ein Chor hat demnach nur in der im Aufführungsvorgang ohnehin hochartifiziellen Oper eine Daseinsberechtigung. Hans-Thies Lehmann wendet sich in seiner Untersuchung Theater und Mythos explizit gegen das von Aristoteles beeinflußte "Primat der dramatischen Narration" (S. 2). Das antike Theater ist für Lehmann - im Gegensatz zum neuzeitlichen Theater und der damit verbundenen Rezeption des antiken Theaters - "wesentlich prädramatisch". Es können auch "durch chorische Strukturen die Normen dramatischen Darstellens" gebrochen werden. Damit liegt jedoch auch ein Berührungspunkt des antiken, prä-aristotelischen Theaters mit dem Theater des 20. Jahrhunderts vor: Die erwähnten Formen des neuen und neuesten Theaters der (Post-)Moderne weisen ihrerseits in die Richtung eines Theaters jenseits des Dramas, sie sind postdramatisch. (S. 2)

Tatsächlich gibt es seit den Reformbestrebungen der Jahrhundertwende durch Appia, Craig und andere im Theater dieses Jahrhunderts Versuche, neue, 'undramatische1 und dafür theatralere Formen des Theaters zu finden; das bedeutet auch eine Rehabilitierung chorischer Strukturen. Schließlich hat sich auch das Ensembletheater erst im 20. Jahrhundert endgültig etabliert, womit eine grundlegende Rahmenbedingung für chorisches Spiel erfüllt ist. Zudem ist in diesem Jahrhundert der Anteil der Antikeninszenierungen (auch gegenüber dem Klassizismus) deutlich gestiegen. Das Regietheater der 70er und 80er Jahre profilierte sich besonders bei antiken Stücken, die häufig als experimentelle Projekte angelegt waren. Antike und 20. Jahrhundert scheinen trotz aller Ferne, und obwohl klassische Bildung eher in den Hintergrund gerät, für das Theater in fruchtbarer Verbindung zu stehen.4 Dabei spielt der Chor eine wesentliche Rolle; er ist gerade durch seine Verbundenheit mit experimentellen Formen ein (post-)modemes Theaterinstrument. Andererseits verursacht er als Fremdkörper auch im Theater des 20. Jahrhunderts weiterhin Schwierigkeiten.

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spricht in seiner Ars poetica in Anlehnung an die oben zitierte Aristoteles-Stelle vom Chor als "Actoris partis" (Horaz V. 193), bei Robortello wird dies zu "Authoris partes" (Siehe Klein S. 132Í). Diese Änderung paßt zudem mit der Horaz-Definition des Chores als eines weisen und moralisch hochstehenden Ratgebers gut zusammen, entspringt also nicht einem rein zufälligen Fehler. Zu einem anderen prägenden Mißverständnis - der Hervorhebung der Rolle des Chorführers - siehe unten S. 32, Anm. 6. In der Poetik (6. Kapitel 1450b) stufì Aristoteles die Inszenierung als unwichtigsten, kunstlosesten Teil der tragischen Dichtung ein. Siehe Flashar Inszenierung S. 226.

2. Ziel

In der nachfolgenden Arbeit geht es um die Darstellung und dramaturgische Analyse des Theaterelementes Chor im Sprechtheater. Ziel ist es, einen typologischen Überblick über den Chor bzw. chorische Elemente im Theater des 20. Jahrhunderts zu gewinnen. Dies soll geschehen, indem verschiedene, wichtige Ansätze seiner Behandlung beschrieben und in ihren Gesamtrahmen eingeordnet werden. Dieser Rahmen, die Typologie, die selbst induktiv aus den Beispielen gewonnen wurde, soll eine Systematisierung der modernen Darstellungsmöglichkeiten eines antiken Phänomens durch dramaturgische Funktionalisierungen - in Drama und Inszenierung - sein. Nicht die historische Fortentwicklung des antiken Chores, sondern insgesamt chorische Elemente im neuzeitlichen Theater sind Thema der Arbeit. Alle aufgeführten Beispiele interessieren im systematischen Kontext, bei der Suche nach sowohl dem Phänomen Chor als auch dem modernen Theater angemessenen Umsetzungen. Es geht uns also nicht um eine allumfassende historische Darstellung1 oder gar eine statistische Auswertung. Auch handelt es sich nicht um eine philologische Untersuchung, deren wichtigstes Anliegen die Beziehung der modernen Variation zu ihrem antiken Vorbild wäre. Ebenso soll eine philosophische Vorbeurteilung des Chores vermieden werden, die sich - wie so viele Publikationen über antikes Theater in der Neuzeit - etwa ausschließlich an Hegels Äußerungen orientierte. Politischsoziologische Aspekte des Chorgebrauchs stehen ebenfalls nicht im Zeiili um, werden allenfalls angedeutet. Dementsprechend geht es auch nur indirekt - insofern sie eng an Fragen der künstlerischen Gestaltung gebunden sind - um eine Interpretation der möglichen Bedeutungen des Chores. Die Frage hinter unserem Ansatz ist die, ob über die untersuchten Beispiele hinaus das alte und flexible Theaterinstrument des Chores eine Zukunft im Theater hat, ob der Chor bzw. Elemente des Chores aus anderen als antiquarischen Gründen nämlich im Interesse des Theaters der Zukunft - belebbar sind. Das Interesse der Arbeit ist primär ein dramaturgisch-technisches, danach gestalten sich die Methode und die Gliederung der Arbeit.

Die historischen 'Schlaglichter1 sind allerdings durchaus enthalten.

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3. Methode

Um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen, aber auch aus sachlichen Gründen beschränken wir uns auf das Sprechtheater1 und konzentrieren uns auf das deutschsprachige Theater.2 Allerdings werden auch einige außergewöhnliche Beispiele aus anderen (europäischen) Ländern berücksichtigt, wenn sie besonders-wichtige Ansätze zeigen. Die Eingrenzung des Untersuchungszeitraums auf das 20. Jahrhundert erfolgt ebenfalls aus praktischen Gründen, läßt sich jedoch, wie wir bereits sahen, auch inhaltlich gut begründen. Ein kurzer Überblick über den Chor im Theater der Neuzeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts geht dem Hauptteil voran. Thema der Arbeit ist der Chor auf der Bühne; es geht also vor allem um Inszenierungen von zumeist, jedoch nicht ausschließlich antiken Stücken. Insoweit sie dramaturgisch-bühnentechnisch von Interesse sind, werden jedoch ebenfalls Dramentexte berücksichtigt. Im Hauptteil der Arbeit werden Inszenierungen und Dramen auf ihren Umgang mit einem alten Phänomen hin analysiert und in den aus diesen Beispielen gewonnenen Gesamtrahmen, unsere Typologie des Chores, eingeordnet. Voraussetzung dafür ist, daß zuvor dieses Theatermittel, der antike Chor, nach seinen entscheidenden (dramaturgischen) Kriterien definiert wird. Auf dieser Grundlage können anschließend Umformungen und Entwicklungen dargestellt werden. Der antike Chor soll dabei normativ nur insofern sein, als von ihm ausgehend eine für diese Arbeit verbindliche Definition des Begriffes 'Chor1 gefunden werden soll. Dabei darf nie außer acht bleiben, daß außer dem antiken Theaterchor auch andere Einflüsse den modernen Theaterchor beeinflussen. Aufgrund des Mangels an Literatur unter unserer Fragestellung (siehe unten S. lOff.) konzentriert sich die Inszenierungsanalyse soweit möglich auf von uns selbst gesehene Aufführungen oder auf Videoaufzeichnungen. Ansonsten - gerade bei Inszenierungen aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts - muß auf Kritiken, Programmhefte und Äußerungen des Regisseurs sowie Regiebücher oder Rekonstruktionsversuche in der Fachliteratur zurückgegriffen werden. Der typlogische Rahmen der Arbeit wurde vor dem Hintergrund der Frage nach dem dramaturgischen Nutzen des Chores für das Theater dieses Jahrhunderts entwickelt. Durch den typologischen Ansatz erklärt sich, daß grundsätzlich nicht unbeZum Opernchor siehe unten in der Einführung, 2.3 Gesangs- und Opernchöre. Im deutschen Stadt- oder Staatstheatersystem sind bzw. waren des öfteren ein eher klassischer Spielplan in Verbindung mit 'gewagten' Inszenierungen (des Regietheaters) eng verbunden. Die touristisch ausgerichteten Freilichttheater im Mittelmeerraum zeigen in den seltensten Fällen für die Kriterien dieser Arbeit wichtige Antikeninszenierungen, wobei die Festspiele im sizilianischen Syrakus teilweise auch künstlerisch ambitionierte Inszenierungen bieten. 6

ohnehin nur auf ihre Bühnenwirksamkeit hin gelesen werden. Ebenfalls kommt es teilweise zu einem bewußten Verzicht auf eine Differenzierung verschiedener historischer Abschnitte. Der historische Rahmen als Bedingung und Erklärungshilfe für die jeweiligen Chorlösungen interessiert weniger als die spezifische Ausprägung des Umgangs mit dem Chor an sich. Es zeigte sich im Verlauf der Arbeit, daß die Dramen, Inszenierungen sowie theoretischen Äußerungen Bertolt Brechts ansatzweise alle Chorlösungen dieses Jahrhunderts enthalten, daher wird die Typologie des Chores ausgehend von Brecht dargestellt. Gewonnen wurde sie aus dem Überblick über die wichtigsten, da außerordentlichen Beispiele des Chorgebrauchs dieses Zeitraums und deren Strukturierung und Systematisierung nach dramaturgischen, chorspezifischen Kriterien, die sich wiederum aus der Definition des antiken Chores im Verhältnis zu diesen Beispielen ergaben. Am Ende der Arbeit wird die im Brechtkapitel dargestellte Typologie des Chores ausdrücklich zur Typologie des Chorischen erweitert.

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4. Aufbau

Im 1. Kapitel des einfuhrenden Teiles wird der antike Theaterchor unter dem Blickwinkel der für ihn spezifischen Eigenschaften im Rahmen der Aufführungen untersucht. Dabei kann es nicht um eine Rekonstruktion gehen, sondern um eine Darstellung der Bedingungen, wofür in erster Linie die Texte der überlieferten Stücke herangezogen werden. Die Definition des Chores wird den 'Sonderstatus' des Chores innerhalb der Aufführungen und im gesamten institutionellen Rahmen ergeben. Dieser besondere Status ist historisch an die Aufführungszeit, das 5. Jahrhundert vor Christus gebunden, wodurch die tiefgreifenden Schwierigkeiten späterer Zeiten mit diesem Theaterinstrument verständlich werden. Im 2. Abschnitt der Einführung werden Schwerpunkte der Chorrezeption in der Neuzeit - immer mit Blick auf die Bühnenpraxis - behandelt. Dabei dürften zentrale Probleme im Umgang mit dem Chor deutlich werden, wie sie dann auch im 20. Jahrhundert auftreten. Insgesamt dient dieses Kapitel neben der knappen historischen Darstellung der Grundlagen für den Hauptteil der Arbeit (mit der Erwähnung der herausragenden Wiederbelebungsversuche des Theaterchores) auch zur Darlegung der wichtigsten Kriterien für die Typologie des Chores. Das 1. Kapitel des Hauptteils bildet die Darstellung der vielfältigen Ansätze Brechts im Umgang mit dem Chor; für sein Theater nimmt der Chor (theoretisch) eine zentrale Stellung ein. Sie ergibt sich sowohl aus formalen als auch aus inhaltlichen, ideologischen Gründen. Dieses Kapitel dient am Beispiel Brechts zur Andeutung der anderen Chorlösungen des Jahrhunderts: Am Ende des Kapitels wird, abgeleitet aus dem Vorangegangenen als geradezu universal anwendbarem Beispiel, stichwortartig die Typologie des Chores mit ihren Kriterien für die Einordnung der folgenden Beispiele skizziert. Die Anordnung der folgenden Kapitel ist weitgehend - soweit mit den dramaturgischen Kriterien der Typologie vereinbar - chronologisch gestaltet. Nahezu jedes Kapitel umfaßt ein Hauptbeispiel, das einen wichtigen Aspekt der Chorbehandlung, wie sie in der Typologie entwickelt sind, zentral aufzeigt. Diese Hauptbeispiele werden relativ ausführlich, auch nach historischen Gesichtspunkten, untersucht; ebenfalls werden mit dem zentralen Thema nicht übereinstimmende Aspekte angerissen. Jedes Kapitel wird durch weitere, knapp dargestellte Beispiele aus Dramatik und Inszenierungen ergänzt. Dabei wird in Kauf genommen, daß diese unter dem jeweiligen typologischen Aspekt des Kapitels verkürzt dargestellt werden. Teilweise bieten die Beispiele des jeweils zweiten Kapitelteils jedoch auch Variationen des Hauptthemas oder gehen sogar auf andere Aspekte der Typologie ein. Im 2. Kapitel wird am Hauptbeispiel von Max Reinhardts König Ödipus der Massenchor untersucht. Das wichtigste Beispiel des zweiten Teils dieses Kapitels ist Einar Schleefs Massenchor der 90er Jahre. Das 3. Kapitel bildet eine Ausnahme, da 8

das Hauptbeispiel für den komischen Chor, Vsevolod Meyerholds Der Revisor, weder eine deutsche Inszenierung noch die eines antiken Stückes darstellt. Auch hier entstammt das an zweiter Stelle behandelte Beispiel dem Theater der 90er Jahre, es ist der komisch-musikalische Chor Christoph Marthalers. Im 4. Kapitel sind mit Peter Stein und Ariane Mnouchkine nicht nur ein Mann und eine Frau als Regisseure sowie ein Vertreter des deutschen Regietheaters und eine Vertreterin eines international geprägten Ensembles gegenübergestellt, sondern auch zwei grundverschiedene, jeweils in sich jedoch schlüssige und legitime Chorkonzepte als Hauptbeispiele. Hansgünther Heyme und der archaisierende oder der historisierende Chor stehen im Zentrum des 5. Kapitels. An dessen Ende zeigt das Beispiel von Klaus Michael Grübers Die Bakchen die Grenzen einer kategorisierenden Typologie des Theaters auf. Mit Peter Weiss' Marat/Sade steht im 6. Kapitel ein Drama im Zentrum. Der spielerisch und flexibel eingesetzte Chor bei Weiss wird anschließend in einem anderen Drama (aus den 90ern), Tankred Dorsts Die Legende vom armen Heinrich, weiter untersucht. Hier deuten sich auch schon Auflösungserscheinungen des Chores an, wie sie im folgenden, dem 7. Kapitel, ohne Fixierung auf ein Hauptbeispiel dargestellt werden. An zentraler Stelle steht jedoch die Analyse von Frank Castorfs Alkestis, da sich an diesem Exempel neben der Auflösung des Chores auch eine Renaissance des Chorischen, wie sie gerade im gegenwärtigen Theater zu beobachten ist, andeutet. Das abschließende 8. Kapitel geht mit dem Hauptbeispiel, Piscators Rasputin, nicht nur zeitlich zum Beginn des Jahrhunderts zurück, sondern erweitert das Spektrum von Chorinszenierungen oder -dramen auch um den Bereich von alternativen Formen für den Chor, wie den Film bei Piscator oder Fernsehbildschirme in Wilfried Minks' König Ödipus. Dieses Kapitel stellt durch seine Anordnung als letztes Kapitel ganz bewußt eine Abkehr von der besonders im vorhergehenden Kapitel noch deutlichen Betonung historischer Entwicklungen dar und soll so helfen, die Grenzen der historischen Betrachtung zu Gunsten des typologischen Überblicks aufzuzeigen. Zugleich stößt es zu Grenzbereichen des Untersuchungsgegenstandes vor und deutet somit auch auf die Relativität der typologischen Betrachtung hin. Sechs kurze Exkurse über bühnenpraktische Fragen schließen sich an das 4. Kapitel an, ein Exkurs nach dem 6. Kapitel geht auf institutionelle und organisatorische Belange des Kunstmittels Chor ein; die Exkurse vervollständigen die Arbeit v.a. in theaterpraktischer Hinsicht. Im Schlußteil werden, vor einem kurzen Resümee, die Begriffe 'Chor1, 'Chorische Elemente' und 'Chorisches Ensemble' für das Theater des 20. Jahrhunderts abschließend definiert, und damit die Typologie des Chores über die festumrissene Figur Chor hinaus vervollständigt.

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5. Überblick über die Forschungslage

In der deutschsprachigen Theaterwissenschaft spielt der Theaterchor eine, moderat ausgedruckt, geringe Rolle. Die semiotisch geprägte Forschung etwa hat sich dieses durch seine Ausnahmestellung an sich überaus attraktiven (aber eben auch außergewöhnlichen und komplizierten) Inszenierungselementes gar nicht angenommen.1 Eine neuere Arbeit über den Chor in der Neuzeit oder gar im 20. Jahrhundert existiert nicht.2 Zu Beginn des Jahrhunderts dagegen gab es, angeregt durch Max Reinhardts Inszenierungen, eine relativ breite Behandlung des Themas, v.a. unter einem spezifisch 'deutschen' Blickwinkel.3 Diese Arbeiten sind wegen ihres historistischnationalen Ansatzes, der philologischen Methodik, aber auch da sie dieses Jahrhundert naturgemäß nicht umfassen können, heute eher von historischem Interesse. Größere Beachtung findet seit einigen Jahren die 'Theaterfigur1 Volk.4 Das Volk auf der Bühne ist jedoch, wie wir noch sehen werden, eher ein interpretatorische Größe als ein Theaterelement, wie es der Chor darstellt. Ein synonymer Gebrauch verbietet sich daher (obwohl der Chor vielfach Aspekte des Volkes haben kann); die häufig vollzogene Vermischung beider Begriffe steht unserem dramaturgischen Ansatz völlig entgegen.5 Entsprechend der keineswegs 'chorlosen' Praxis findet in der Theaterkritik und bei Theaterschaffenden selbst (in Programmheften) eine intensivere Auseinandersetzung als in der Theaterwissenschaft mit dem Phänomen Chor auf der Bühne des Sprechtheaters statt. Im Gegensatz zur Theaterwissenschaft erlebt das Thema Chor in der Klassischen Philologie, speziell der Gräzistik, in den letzten Jahren geradezu einen Boom.6 Auch beschäftigen sich Philologen intensiv mit modernen Aufführungen antiken

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Auch der 'Gender'-Forschung könnte eine Untersuchung des unserer Meinung nach grundsätzlich asexuellen Chores vielleicht interessante Anstöße geben. Die kurzen Aufsätze von Siegfiied Melchinger (Die Nymphen von Epidauros) und Alessandro Pellegrini (Theater und Chor) stammen aus den 60er bzw. 50er Jahren. Angesichts der 'Renaissance' des Chores bzw. chorischer Strukturen, wie wir sie für die 90er Jahre feststellen werden (siehe 7. Kapitel), sind jedoch im Zusammenhang mit den Inszenierungen Schleefs, Castorfs oder Marthalers für die Zukunft wissenschaftliche Ausführungen über den Chor zu erwarten. Siehe Robert Petschs Arbeiten und Waither Lohmeyers Die Dramaturgie der Massen. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang Hannelore Schlaffers Dramenform und Klassenstrukturen von 1972. Auch im (ansonsten sehr eigenwilligen) Text Droge Faust Parsifal des Regisseurs Einar Schleef von 1997, mit dem Theaterchor als zentralem 'Leitmotiv'. Siehe Martin Hoses Studien zum Chor bei Euripides von 1990/1991, die italienische Zeitschrift Dioniso oder die amerikanische Zeitschrift Arion (von 1994/1995 und 1996).

Theaters.7 Für unser Anliegen sind diese Arbeiten jedoch, bei aller zunehmenden 'Offenheit' für den Theateraspekt,1 vielfach zu philologisch ausgerichtet; die bühnentechnische Seite kommt zu kurz oder die modernen Lösungen werden (verglichen mit unserem Ansatz) zu stark am antiken 'Vorbild' gemessen. Dabei macht sich bis heute der negative Einfluß einer unkritischen Anwendung von Aristoteles' Poetik auf den Chor im Theater des 5. Jahrhunderts bemerkbar.9 In der angelsächsischen Forschung wird der antike Chor häufig wesentlich pragmatischer behandelt; überhaupt gibt es dort eine weniger starke Trennung von Philologie und Theaterforschung.10 Im folgenden Kapitel kommen demnach wich-

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Siehe Anton Bierls Die Oreslie des Aischylos auf der modernen Bühne, aber auch schon Wolfgang Schadewaldt (Antikes Drama auf dem Theater heute), der durch seine Übersetzungen die Antikenrezeption im deutschen Theater seit den 60er Jahren entscheidend mitgeprägt hat. Besonders Hellmut Flashar hat sich des Themas angenommen, seinem Werk Die Inszenierung der Antike verdanken wir zahlreiche wertvolle Hinweise. Im Oktober 1997 fand in Potsdam ein Symposion 'Der Chor im antiken und modernen Drama' statt; die Zusammenarbeit des Instituts für Klassische Philologie mit dem HansOtto-Theater dürfte dabei die Öffnung der Philologie zur Theaterpraxis widerspiegeln. In München gab es in den letzten Jahren zwei bemerkenswerte Theaterprojekte von philologischer Seite (mit originalsprachigen Aufführungen): 1993 eine durch die geschlossene Ensembleleistung beeindruckende Aufführung von Senecas Troas und 1997 die 'Münchener Dionysien' - ein Wettstreit verschiedener Universitäten mit griechischen Stücken bzw. Szenen. Ein extremes Beispiel ist Gerhard Müllers Versuch, zu zeigen, daß der Chor in den Stücken des Sophokles tatsächlich ganz der Forderung des Aristoteles entspreche, er stellt fest: "Erst Sophokles hat das Chorlied [...] ganz in das dramatische Geschehen integriert." (S. 230). Wolfgang Rösler behauptet gar: "Sophokles macht den Chor recht eigentlich zum vierten Schauspieler." (S. 123), und Thomas Paulsen versteigt sich zu der absurden Behauptung über den Chor in den späten Sophokles-Tragödien, er werde "vom Dichter als kollektives Individuum behandelt." (S. 151, Anm.2). Rainer Thiel versucht dann gar (noch 1993!) auch den Chor in Aischylos' Agamemnon "als wesentlich einheitliche dramatis persona" zu verstehen (S. 1). Auch Cynthia P. Gardiners Versuche, die Einheit der 'dramatis persona' Chor zu retten, muten bisweilen komisch an: "It might therefore be supposed that [...] the chorus remains in approximately the same dramatic position as a minor character" (S. 186). Auf der nächsten Seite sieht sie sich gezwungen, diese Aussage zu relativieren, da der Chor (durch seine dauernde Anwesenheit auf der Bühne) in seiner dynamischen Entwicklung eher den Hauptfiguren ähnele. Selbst dem Aufführungsaspekt des Theaters gegenüber aufgeschlossenere Arbeiten betonen (für uns zu stark) den Handlungsaspekt der Dramen und die Verknüpfung des Chores damit (Hose, Zimmermann). Auch Jürgen Rodes Müller explizit entgegenstehende These, der Chor sei zu trennen in den Lieder vortragenden Chor und den der Handlungspartien, geht an der Praxis vorbei und bleibt eine abstrahierende, theaterferne Aussage. Eine positive Ausnahme bildet Gustav Rudolf Seecks Plädoyer für die Annahme eines grundsätzlich flexiblen Theatermittels Chor in Die griechische Tragödie. So sind Rush Rehms und J. Michael Waltons Untersuchungen philologische und doch theaterbezogene Arbeiten. Nicht nur sind Philologie und Theaterforschung hier verbunden, auch gehen Drama- oder Theatre-Studies grundsätzlich pragmatischer vor als die deutsche Theaterwissenschaft. Bernard Beckermans Theatrical Presentation ist eine grundlegende formal-dramaturgische Untersuchung des abendländischen Theaters, bei der der Chor unter ähnlichen Fragestellungen wie bei uns, allerdings nicht als zentrales Thema, untersucht wird. In wichtigen Fragen, so bei der Feststellung einer zunehmenden Individualisierung der Chormitglieder im Theater der Neuzeit, kommen wir zu ähnlichen Ergebnissen, wobei sie bei Beckerman jedoch eher angedeutet als ausgeführt werden.

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tige Anstöße für eine Definition des Theaterchores aus englischsprachiger Literatur. Eine Gefahr für die Chorforschung gerade in Deutschland ist auch der Versuch, um jeden Preis klar verlaufende Entwicklungslinien im antiken Theater von seiner Entstehung bis zu seinem Niedergang auszumachen. Mit diesem Ansatz 'muß' geradezu Aischylos der Vorbereiter, Sophokles der Höhepunkt und Euripides der Niedergang des Tragödienchores repräsentieren." J. Michael Walton spricht in diesem Zusammenhang von einer Sicht der Tragödie "as part of a simple Darwinian progression from choral drama to character drama." (S. 79). Wichtig für eine 'anti-aristotelische', seine Besonderheiten betonende Betrachtung des antiken Chores (vor Brecht) sind Friedrich Schillers Bemühungen um den Chor, besonders sein Text Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie, sowie August Wilhelm Schlegels Definition des Tragödienchores als "der idealisierte Zuschauer" (S. 65) und Friedrich Nietzsches Die Entstehung der Tragödie aus dem Geiste der Musik, ein zumal für die Theaterreform der Jahrhundertwende wichtiges Werk. Bei Schlegels 'Feststellung' zeigt sich jedoch eine weitere methodische Gefahr im Umgang mit dem Chor, die wir im folgenden unbedingt vermeiden wollen: Die Verengung des vielfältigen Phänomens Chor auf einen einzigen allgemeingültigen Nenner. So zentral Schlegels Beobachtung der Zuschauerfunktion ist, sie beschreibt nur einen Aspekt (der Chor ist eben nicht "mit einem Worte" zu fassen) und abstrahiert diesen ("der idealisierte") auf eine theaterfeme Ebene. Bei Hegels einflußreichen Äußerungen über den Chor (und das antike Theater insgesamt) wird das Theater zum Ausgangspunkt für philosophische Abstraktionen, was für einen Philosophen legitim sein mag, jedoch zu einem vorsichtigen Umgang von Philologen und Theaterwissenschaftlem mit diesen Bemerkungen führen sollte.12 Von Aristoteles bis zu den neuesten philologischen Forschungen steht der Tragödienchor im Zentrum des Interesses; Tragödienchor und Theaterchor werden weitgehend gleichgesetzt. Die Komödie insgesamt und damit auch ihr Chor werden oft ignoriert oder nur am Rande erwähnt. Dabei werden wir feststellen, daß Komik für den Chor (auch in der Tragödie) ein wichtiger Aspekt sein kann und daß der Einfluß des aristophaneischen Chores auf das 20. Jahrhundert (gerade bei Brecht) nicht unbedingt hinter dem des Tragödienchores zurückstehen muß.13

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Demnach wurde (auch in der Folge des Aristoteles) der Chor bei Euripides lange im Zeichen des Niederganges eingestuft. Auch die Poetik des Aristoteles ist das Werk eines Philosophen. Die Übereinstimmungen seiner 'Theatertheorie' mit seinem teleologischen, philosophischen System werden in der Regel ignoriert. Aufgrund der Forschungslage war es für die vorliegende Arbeit notwendig ein eigenes Instrumentarium zum Thema zu entwickeln. Soweit möglich wurde grundsätzlich auf Primärquellen zurückgegriffen.

Π. Einfuhrung: Der Chor vor dem 20. Jahrhundert

1. Der antike Chor

Allein der Chor ist wie der Himmel in einer Landschaft. Es versteht sich von selbst, daß er da sey; (Wilhelm von Humboldt)

1.1 Grundlegende Bemerkungen zum antiken Theaterchor des 5. Jahrhunderts, Begriffsklärungen Im folgenden wird der Chor des antiken Theaters zusammenfassend dargestellt.1 Dadurch soll das Phänomen Theaterchor in seinem wichtigsten Zeitraum gezeigt und so die Ausgangsdefinition für den Hauptteil der Untersuchung gefunden werden. Entsprechend der Fragestellung dieser Arbeit geht es um Rolle und dramaturgische Funktion des Chores im Spiel und darauf basierend um die Darstellung des Sonderstatus des antiken Theaterchores im Spiel und im institutionellen Rahmen der Aufführungen. Die philologische Arbeit an den Texten ist in diesem Kapitel unverzichtbar, da für die Aufführungen keinerlei andere Quellen vorliegen,2 der Text soll jedoch ausschließlich als Spielvorlage behandelt werden. In das folgende Kapitel wurden alle 43 vollständig erhaltenen Dramen des 5. Jahrhunderts einbezogen, 31 Tragödien (sieben von Aischylos, sieben von Sophokles und 17 von Euripides), 11 Komödien des Aristophanes3 und ein Satyrspiel von Euripides. Den Chören sollen weder generalisierende Definitionen aufgezwungen werden noch geht es um Abgrenzungen der drei Tragiker untereinander4 oder um das Aufzeigen von historischen Entwicklungslinien. Das Wort χορός, "Chor", bezeichnet ursprünglich den öffentlichen Platz, auf dem Reigentänze aufgeführt werden.5 Schon früh kann mit Chor auch "die innerhalb des Tanzplatzes geordnet aufgestellte Gesamtheit der an dem Reigen beteiligten

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Siehe auch Baur Chor und Theater mit dem Schwerpunkt Tragödienchor. Neben den Texten und einigen Informationen über die Organisation der Aufführungen ist einiges über den Bau des antiken Theaters bekannt (siehe Pöhlmann). Seine beiden letzten Stücke, die wir nicht ganz ausklammern wollen, stammen dabei aus dem beginnenden 4. Jahrhundert; in beiden zeigt sich deutlich eine verminderte Bedeutung des Chores. Im letzten Stück, Plutos, sind die Chorlieder nicht erhalten, auch in Die Ekklesiazusen ist die Bedeutung des Chores relativ gering (siehe dazu Flashar Zur Eigenart des aristophanischen Spätwerks). Eine Differenzierung zwischen Tragödie und Komödie wird nur vorgenommen, wo sie unabdingbar ist. Bei Homer z.B. Ilias XVm 590. Im 5. Jahrhundert wird dieser Platz in der Regel als "Orchestra" bezeichnet.

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Personen"6 gemeint sein. Schließlich kann das Wort Chor auch das von diesen Personen Dargebotene, "den mit Gesang verbundenen Tanz"7 selbst bezeichnen. Chöre beschränken sich in der griechischen Kultur keineswegs auf das Drama. Literarisch greifbar ist das durch die erhaltene Chorlyrik (v.a. Pindar und Bakchylides); sie ist ein bedeutender Zweig der griechischen Literatur, wobei hier zu bedenken ist, daß auch diese Dichtung für Auffuhrungen durch Chöre geschrieben ist. Es handelt sich also um eine im weiteren Sinne theatrale, wenn auch nicht dramatische, Gattung, deren performativer Auffiihrungscharakter in der Klassischen Philologie bisher weitgehend unbeachtet blieb.8 Diese reine Chordichtung, die z.T. wie die Dithyramben während des Dionysosfestes auch im Theater aufgeführt wurde, stellt kein auf Dramentexten basierendes Theater dar und hat auch keinerlei direkten Einfluß auf das Theater der Neuzeit.9 Die aufgeführten Chöre spielen im Alltag bzw. bei festlichen Anlässen wie Wettkampfsiegen, aber auch Begräbnissen, in kultischen Feiern oder eben als Wettkämpfe eine große Rolle.10 Für die Einschätzung des Theaterchores innerhalb der griechischen Kultur ist die Chordichtung, wie wir noch sehen werden, von großer Bedeutung. Die Zahl der Choreuten in Tragödie und Satyrspiel betrug 12, seit Sophokles 15. Der Komödienchor war mit 24 Choreuten deutlich größer. Die Choreuten, junge oder erwachsene Männer, waren im 5. Jahrhundert normale Bürger, während bei den Schauspielern schon eine Spezialisierung und Professionalisierung begann. Wie die Protagonisten trugen die Choreuten Masken, die innerhalb des Chores ebenso wie die Kostüme einheitlich gewesen sein dürften. Die Tragödien lassen sich in Chorlieder und 'Epeisodia', meist von den Einzelfiguren dominierte überwiegend dialogische Szenen, einteilen. Die Lieder wiederum gliedern sich in die 'Parodos', das "Einzugslied" des Chores, und sogenannte 'Stasima', "Standlieder", wohl in der Orchestra gesungene Lieder. Die Zahl der Stasima pro Tragödie beträgt zwischen zwei und sechs. Die Stasima sind meist antistrophisch gegliederte Lieder." Die Metren sind sehr unterschiedlich und kompliziert. Wie die gesamte Chorlyrik ist die Sprache der Lieder im altertümlichen und für die Zuhörer im Athen des 5. Jahrhunderts artifiziellen dorischen Dialekt gehalten. Begleitet wurde der Gesang und Tanz des Chores in der Regel von einer Flöte, teilweise wohl auch von der Kithara, einem Saiteninstrument. Eine besondere Position unter den Liedern nimmt die Parabase der Komödie ein. Sie besteht aus bis

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Reisch S. 2374; dort auch Stellenangaben antiker Quellen. A.a.O. In beiden Bedeutungen - als Bezeichnung der Gruppe wie ihrer Tätigkeit, wobei beides häufig nicht zu trennen ist - wird das Wort in den Tragödien und Komödien des 5. Jahrhunderts gebraucht. Siehe Gregory Nagy. Die Einfluß der Chorlyrik auf die Dramatik des 5. Jahrhunderts ist im einzelnen nicht nachvollziehbar. "For the Greeks a chorus was an integral part of many communal occasions, religious and secular - festivals, weddings, funerals, victory celebrations, for example." (Taplin Greek Tragedy in Action S. 13). Helen H. Bacon bezeichnet den Theaterchor als "a social reality" für die Zuschauer (S. 6). Das heißt jede Strophe hat eine Gegenstrophe mit genau entsprechendem Metrum. Zum Teil schließt eine dieses Schema aufbrechende 'Epode' die Lieder ab.

zu sieben verschiedenen Teilen und richtet sich direkt an das Publikum, teilweise gibt es ein zweites parabasenähnliches Lied. Die Epeisodia der Tragödie sind in attischem, 'modernem' und in Athen gesprochenem Griechisch geschrieben; das Metrum in den Gesprächspartien ist durchgehend der vergleichsweise einfache iambische Trimeter (in der Komödie ist die Sprache insgesamt derber und auch alltagssprachlich geprägt). Der Anteil des Chores am Text dieser Gesprächspartien ist relativ gering. Die Chorreden werden in Übersetzungen und Interpretationen fast durchgehend dem Chorführer zugewiesen, wofür die Handschriften allerdings keinerlei Hinweis geben.12 Außer den Epeisodia gibt es noch Prolog und Exodos, wobei v.a. der Prolog meist eine Gesprächspartie ist. In der Exodos, dem Schlußteil, der oft von einem kurzen Chorlied abgeschlossen wird, wie auch in den Epeisodia gibt es neben den iambischen Teilen auch kurze Lieder und 'Amoibaia', "Wechsellieder", die meist zwischen dem Chor und einem Protagonisten gesungen werden. In der Komödie kulminiert die Handlung der iambischen Teile im Redeagon, an dem der Chor als Partei teilnehmen kann und den er regelmäßig einleitet und kommentierend rahmt. Musik und Tanz bzw. Bewegungen des Chores sind unwiederbringlich verloren. Es ist zweifelhaft, ob unser Wort 'Tanz' die Art der Bewegungen des Chores zutreffend beschreibt.13 Die Art der Musik wie die der Darstellungsformen des Chores sind uns - genauso wie die Spiel- und Sprechweise der Protagonisten - völlig unbekannt: It may be added that the modern literature on the subject of the delivery in Greek drama is as immense as the evidence is slight and inconclusive.14

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Siehe Walton S. 69f. Wir bezweifeln stark diese strikte und generelle Zuweisung an den Chorführer, halten sie für einen Bruch des Gruppencharakters des Chores und stimmen Walton zu, der schreibt: "Though it would be helpful to be able to discover some kind of pattern of speech, no convincing one has been forthcoming and it can be no more than personal preference to suggest that the leader usually spoke alone." (S. 69f.). Siehe dazu unten S. 32, Anm. 6. Arthur Pickard-Cambridge meint, schon Handbewegungen könnten den griechischen Chortanz ausgemacht haben. Er betont den expressiven oder mimetischen Charakter der Darstellung. Das Wort ό ρ χ η σ ι ς beschreibt demnach "any series of rhythmical movements." (S. 248). Äußerungen über den Einzug des Chores und die Aufstellung in drei Reihen "nach dem Vorbild der Heeresabteilungen" (Reisch S. 2392) in der Orchestra sind Spekulationen, die sich auf Quellen des 2. Jahrhunderts n. Chr. (Pollux) beziehen. Pickard-Cambridge S. 246. Dennoch übernimmt auch er ungeprüft das Schema der Aufstellung des Chores in Dreierreihen oder die Annahme der alleinigen Sprechrolle des Chorfuhrers in den Epeisodia. 17

1.2 Die Zusammensetzung des Chores Die Chöre bestehen nie aus gemischten Gruppen, sowohl im Bezug auf das Geschlecht als auch auf das Alter. Sie sind in der Tragödie grundsätzlich klar definierte, eng begrenzte, homogene Gruppen. Demnach stellt der Tragödienchor nie das 'Volk' insgesamt dar. In einigen Stücken, etwa zu Beginn von König Ödiptis, gibt es neben dem Chor noch eine Gruppe von Statisten, die eher das Volk repräsentiert. In der Komödie gilt dasselbe wie in der Tragödie, allerdings ist, da der Komödienchor insgesamt flexibler gestaltet ist, auch die Definition der Gruppe zum Teil weniger eindeutig15 und die Abgrenzung zu den Protagonisten nicht so strikt. Kurzzeitige Trennungen in Halbchöre sind v.a. in der Komödie möglich. Ingesamt gibt es in allen 43 von uns zu berücksichtigenden Stücken nur 15 reine Männerchöre, davon sind 11 Greisenchöre; dem stehen 21 Frauenchöre gegenüber.'6 Frauenchöre nehmen demnach breiten Raum im griechischen Theater ein. Außerdem sind von den sieben restlichen Stücken die außermenschlichen Chöre in Aischylos' Eumeniden und Prometheus feminin geprägt. Dazu kommen als außermenschliche bzw. göttliche Chöre auch die Komödienchöre der Wolken und der Mysten in Die Frösche, ebenso die Satyrn im Satyrspiel Kyklops.17 Letztere haben zugleich einen deutlich 'tierischen' Charakter. In Die Vögel ist der Tiercharakter, eine dritte Gruppe neben menschlichen und göttlichen Chören, eindeutig, ebenso bei dem Froschchor in Die Frösche.18 Noch zu erwähnen ist das Auftreten nicht-griechischer, 'ausländischer' Chöre in der Tragödie, etwa in Die Bakchen. 17 der 43 Stücke sind nach dem Chor benannt; dem stehen lediglich 23 nach einer Hauptfigur benannte Dramen gegenüber,19 ein deutlicher Hinweis auf die große Bedeutung des Chores in den Dramen. Die Charakterisierung als Greise oder (in der Polis weitgehend machtlose) Frauen sowie das Geschehen eher begleitende Tiere deutet dagegen eine eher passive Rolle in den Aktionen der Stücke an.

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In Der Friede verwandelt sich der Chor in kurzer Zeit aus einer panhellenischen Grappe in attische Bauern. Der Chor der Wespen besteht aus 'normalen' alten Männern, die wegen ihrer Prozessierlust im übertragenen Sinn als Wespen bezeichnet werden; im Verlauf des Stückes verwandeln sie sich jedoch tatsächlich in Wesen mit Stacheln. In der Regel gibt es pro Stück einen Chor; gerade in der Komödie finden sich jedoch Ausnahmen, so in Die Frösche der Chor der Frösche und später der der Mysten. Die Bakchen in der gleichnamigen Tragödie sind als Dionysos verehrende Frauen einerseits normale Menschen, durch das tatsächliche Zusammentreffen mit dem Gott erhält dieser kultische Chor jedoch auch außer- bzw. übermenschliche Züge. In Lysistrata schließlich gibt es einen weiblichen und einen männlichen Teilchor. Die Titel von Sieben gegen Theben und Die Herakliden beziehen sich auf indirekt vorkommende Gruppen im Hintergrund der Stücke, Der Frieden bezeichnet das Thema des Stückes.

1.3 Das Verhältnis des Chores zur Bühnenaktion Der Anteil des Chores am Handlungsgeschehen der Dramen ist in aller Regel sehr gering. Für die Handlung relevante Äußerungen des Chores in den Epeisodia beschränken sich meist auf Auftrittsankündigungen neu auftretender Figuren.20 (Berechtigte) Warnungen des Chores werden von den Protagonisten ignoriert oder, wie von Kreon in Antigone, erst befolgt, als es schon zu spät ist. Die Komödienchöre sind häufig gerade zu Beginn, während oder kurz nach der Parados, sehr aktiv, d.h. aggressiv und gewaltbereit. In einigen Fällen kommt es zu Handgreiflichkeiten mit Protagonisten.21 Allerdings legt sich diese Handlungsfreudigkeit bald, die Chöre werden 'zahm'. Die Chöre sind, wenn sie denn überhaupt von den Geschehnissen direkt betroffen sind, eine von den Entscheidungen und Handlungen der Protagonisten abhängige Gruppe.22 In einigen Stücken des Euripides wird das Schicksal des Chores am Rande erwähnt, ohne daß es ein das Drama durchziehendes, wiederkehrendes oder gar wichtiges Motiv wäre. Die Mehrzahl der Tragödienchöre und der Komödienchöre (in der zweiten Hälfte der Stücke) werden jedoch nicht selbst vom Geschehen betroffen. Sie sind lediglich durch menschliche Anteilnahme am Schicksal der Hauptfigur oder als Mitglieder der betroffenen Polis am Geschehen beteiligt. Dabei ist beides häufig vermischt.23

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Seine potentielle Bedeutung als in das Geschehen Verwobener zeigt sich an Stellen, an denen eine dritte Figur zögert, in Gegenwart des Chores ein Geheimnis preiszugeben oder wenn der Chor zum Schweigen ermahnt und dadurch zumindest am Rande in Verschwörungen und Intrigen eingebunden wird. In Euripides' Iphigenie in Tauris geht der Chor sogar noch darüber hinaus, indem er im Sinne der Verschwörung lügt. Die einzige durch ihre Aktivitäten das Geschehen mitbestimmende machtvolle Gruppe sind die Eumeniden im gleichnamigen Stück. Sie setzen sich am Ende nicht durch, sind jedoch auch nicht die Opfer der Entwicklung - Athene söhnt sie mit Athen aus - sie sind ohnehin nie in Gefahr, selbst tragische Opfer zu werden. Ihre Macht besteht zudem nicht in physischen Mitteln, sondern in ihrem Gesang und Tanz, also typisch 'chorischen' Mitteln. In Lysistrata wendet sich die Aktion der beiden Halbchöre jeweils gegeneinander, selbst die Parabase ist ein Streit der beiden Chöre; hier sind bis zu ihrer Versöhnung gegen Ende des Stückes die Chöre nicht nur am Geschehen zwischen den Protagonisten beteiligt, sondern haben in ihren Streitszenen sogar eine eigene Handlungsebene, die thematisch zwar eher eine Wiederholung des Streits der Einzelfiguren darstellt, jedoch viel stärker von körperlicher Handlung beherrscht wird. Das wird exemplarisch an den beiden Dramen Die Hiketiden (Die Bittflehenden) von Aischylos und Euripides deutlich. In Ödipus auf Kolonos etwa handelt es sich um attische Greise mit einer engen Bindung und Verantwortung für den Ort des Geschehens, aus der heraus sich ein anfangs distanziertes und nachfolgend immer engeres Verhältnis mit dem Protagonisten entwickelt. Ausgangspunkt für die Anteilnahme des Chores muß also keine persönliche Bindung sein, sondern kann auch seine Verbindung mit dem Ort des Geschehens sein. Das Gegenteil ist im Ion der Fall: Der Chor tritt mit 'touristischem' Interesse an Delphi auf, ist jedoch in seiner Rolle als Dienerinnen mit einer Figur eng verknüpft.

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Der antike Theaterchor ist also grundsätzlich an der Handlung, den entscheidenden Entwicklungen der Dramen nicht beteiligt und auch nicht davon betroffen. 24 Er ist deshalb zwar emotional nicht unbeteiligt, seine Teilnahme gleicht jedoch eher der eines Zuschauers. 23 Als den Einzelfiguren vergleichbare 'dramatis persona1 läßt sich der Chor nie ansehen. Er ist eine sehr flexible 'Figur', die nur durch ihren Gruppencharakter Konstanz das Drama hindurch erhält. 26

1.4 Der Gruppencharakter des Chores Der Charakter des Chores als Gruppe ist - neben der Aufführung der Chorlieder die einzige Konstante, die sich grundsätzlich an allen Theaterchören festmachen läßt: Each Greek playwright could, and to a certain extent did, utilize the chorus in his own way, but no matter how disparate the dramatic uses, the fundamental group structure remained unviolated 27 Wie oben bereits festgestellt, bestehen die Chöre aus homogen zusammengesetzten Gruppen; es handelt sich also nicht um bloße Ansammlungen von Individuen, sondern u m Gemeinschaften, in denen die einzelnen Mitglieder an sich ohne jedes Interesse sind. D i e Einheitlichkeit des Chores zeigt sich auch daran, daß er selbst häufig in der 1. Person Singular von sich spricht oder andere Personen in der Anrede oder im Gespräch über den Chor auch Singularformen benutzen, daß er also zu einer einzigen Figur zusammenwächst. 28 Der Chor erhält seine Identität folglich

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Die Troerinnen sind erst in zweiter Linie (hinter Hekuba und den anderen 'namhaften' Figuren) von der Kriegsgefangenschaft betroffen. Eine besondere Rolle spielt der Chor der Wolken in der gleichnamigen Komödie. Als Götter befinden sie sich auf einer höheren Ebene als die Protagonisten, sie "schweben gleichsam, ihrem Wesen entsprechend, über der Handlung" (Newiger S. 206). Am Ende stellt sich heraus, daß sie das gesamte Geschehen in die Wege geleitet und kontrolliert haben, quasi verborgene Spielleiter waren. In Prometheus und Iphigenie in Aulis wird dieser Aspekt besonders betont, denn sowohl im Stück des Aischylos als auch dem des Eurípides gerät der Chor 'zufällig' in das Drama, er ist anfangs weder mit den Figuren noch dem Schauplatz persönlich verbunden. Seine innere Teilnahme wächst im Laufe des Stückes, wobei immer die Zuschauerrolle betont wird. Besonders kraß ist in einigen Komödien der Wandel des Chores vom Feind der Hauptfigur zu ihrem Freund. Auch verändert sich die Motivation für den Auftritt des Chores häufig im Verlauf des Dramas, der Chor wird als teilnehmender (und nicht idealisierter) Zuschauer so sehr in den Bann der Ereignisse gezogen, daß sein anfängliches Anliegen in den Hintergrund gerät. BeckermanS. 173. Dazu Walton: "For the most part the very fact that the chorus can speak of themselves in both singular and plural form strengthens the sense of a corporate nature. It is just as possible that all spoke in the singular as that one spoke in the plural on behalf of the others." (S. 69; siehe oben S. 17, Anm. 12 unsere bzw. Waltons Bemerkung zum Chorführer). Zur Frage des Gebrauchs von Singular- oder Pluralformen auch Maarit Kaimio.

ausschließlich aus seinem Gruppenbewußtsein und nicht durch das Selbstbewußtsein der einzelnen Mitglieder. In der Tragödie gibt es einige Fälle, in denen der Chor in Einzelstimmen spricht. Dies tritt besonders dann ein, wenn der Chor von einer neuen Situation überrascht ist und nicht weiß, wie er darauf reagieren soll. Diese Verwirrung anzeigenden kurzen Auflösungen des Chores dienen jedoch nicht zur Charakterisierung von einzelnen Mitgliedern, es bleiben anonyme Einzelstimmen aus einer Gruppe heraus, deren Unruhe damit dargestellt wird. Bei Aristophanes kommt es sogar häufig zur Nennung von Namen einzelner Chormitglieder. Damit wird zumindest angedeutet, daß hinter den einheitlichen Chormitgliedern Individuen stehen; es zeigt sich, daß in der Komödie (zu Beginn) die Grenzen zwischen Protagonisten und Chor weniger strikt gezogen sind als in der Tragödie. Die Namensnennung bei Aristophanes zerstört jedoch keineswegs den Gruppencharakter des Chores, da sie mit keiner weiteren Charakterisierung und damit Abgrenzung der Genannten verbunden ist.29 Die Wertevorstellungen aller Tragödienchöre sind gleich. Sie glauben an die althergebrachte Religion, haben das Wohl der Polis im Auge und vertreten allgemein anerkannte Werte der Gesellschaft wie Götterglauben, Bescheidenheit, Maßhalten. Dabei haben sie einen intellektuell begrenzten Horizont und können sich in der Einschätzung der Geschehnisse auch durchaus irren. Entsprechendes gilt für den Komödienchor; durch seine teilweise stärkere Integrierung in die Handlung einerseits und die deutlichere Offenheit zum Publikum andererseits ist der Bürgercharakter jedoch stärker betont, und es kommt kurzzeitig zu deutlicheren Charakterisierungen der Gruppe.

1.5 Die Chorlieder im Dramenkontext Aus dem Zusammenhang gerissen lassen sich die Stasima als lyrische Texte lesen, ihrer Funktion im Rahmen der Stücke entspricht das nicht. Die Lieder bilden den Teil der Stücke, in denen der Chor einziger 'Protagonist' ist. In der Regel ist er während des Singens bzw. Auffuhrens der Lieder alleine auf der Bühne bzw. Orchestra, je nach Situation oder Intensität seiner Verbindung jedoch singt der Chor einige Lieder auch in Anwesenheit der Hauptfigur. Die Parabasen der Komödie trägt er ohne die Anwesenheit von Einzelfiguren vor, so daß ein intimeres Verhältnis zwischen ihm und dem Publikum entstehen kann. Häufig sind die Stasima der Tragödien Gebete: als Bitten an Götter (um das Wohl der Stadt oder der Hauptfigur), als Klagen oder auch als Jubel- und Dankes29

Uns scheint die Namensnennung illusionsbrechenden, das Publikum mit dem Chor verbindenden Zwecken zu dienen (Siehe unten S. 25, Anm. 37). Eine weitere Besonderheit des Chores der Komödie ist die Spaltung in Halbchöre, die gegeneinander stehen und sogar handgreiflich werden. Dabei ist zu bedenken, daß der Komödienchor mit 24 Choreuten deutlich größer war als der Tragödienchor und somit auch leichter noch als Halbchor wie ein 'voller' Chor einsetzbar war. In Lysistrata bestehen von Anfang an ein Frauen- und ein Männerchor, diese Aufspaltung filhrt zu keiner Individualisierung, allerdings zu einem stärkeren Profil in der Handlung; in allen Komödien vereinigen sich die Halbchöre schließlich zu einem Gesamtchor. 21

lied. Ein anderes Element können die Beschreibung bzw. das Lob einer Stadt sein, aber auch Naturbeschreibungen. In anderen Liedern wiederum erzählt der Chor mit dem Stück in Verbindung stehende Geschichten aus dem Mythos, die Familiengeschichte des Protagonisten betreffend, oder zieht Vergleiche aus der Götter- oder Heldengeschichte; teilweise geht der Chor auch direkt auf die Hauptfigur und ihre Vorgeschichte oder Zukunft ein. Zudem spricht er häufig seine Grundansichten in gnomischen Sentenzen aus. In einigen Fällen, vor allem in der Parados, äußert der Chor 'persönliche' Anliegen wie Auftrittsmotivation oder die Sorge um die eigene Zukunft. So sehr die Lieder sich von den Epeisodia durch ihre völlige Handlungslosigkeit unterscheiden, sind sie zugleich die Abschnitte der Tragödien, während derer fast immer die entscheidenden (blutigen) Handlungen ablaufen, die nicht szenisch dargestellt werden. Die Chorlieder dienen der Zeitüberbrückung wie auch -raflung, erhöhen häufig die Spannung über den Ausgang der Geschehnisse, verbinden sich jedoch manchmal auch akustisch mit den hinterszenischen Ereignissen, wenn Todesschreie auf die Bühne bzw. zum Chor dringen. Die Lieder der Komödie unterscheiden sich in der Regel von denen der Tragödie. Die Parabasen bilden einen noch deutlicheren Einschnitt in die Handlung, da sich der Chor, teilweise unter Wandlung seiner Identität, direkt an das Publikum wendet. Die anderen Lieder dagegen sind sogar näher als die Stasima der Tragödie am übrigen Geschehen und bilden eher kleinere, 'naturalistisch' eingebaute Lieder. Die Stasima der Tragödien und die Parabasen der Komödien sind oft deutliche Unterbrechungen der tragischen bzw. komischen Entwicklung. Sie haben jedoch vielfältige Verbindungen zum Geschehen, den Figuren bzw. deren Rezeption durch die Zuschauer. Für ein strikt auf dramatische Narration fixiertes Theaterverständnis mögen sie als (störende) Einlagen erscheinen; als Bestandteile des theatralen Gesamtwerks Tragödie oder Komödie haben die Lieder jedoch mit ihren zahlreichen optischen (die Gruppe von 15 bzw. 24 Akteuren) und akustischen Möglichkeiten (Mehrstimmigkeit, Gesang und Musik) nicht nur einen hohen Eigenwert, sondern bieten die Erweiterung der Perspektiven des Zuschauers gegenüber dem Stück, die Fokussierung und Filterung der Rezeption des Stückes.30 Die Lieder bringen eine Erweiterung auf andere Zeit- und Ortsebenen, etwa wenn sie zurückliegende Ereignisse an einem anderen Ort mit dem gegenwärtigen Geschehen in Beziehung setzen oder wenn sie das Publikum direkt ansprechen. Häufig erzählt bzw. singt der Chor, v.a. in der Komödie, kleine Geschichten, in die er zitierte Reden einbaut. In der Komödie, besonders in den Parabasen, gibt es auch, allerdings nicht alleine auf den Chor beschränkte, intertextuelle Verweise auf andere Stücke des Aristophanes oder auf Tragödien sowie lyrische Dichtungen.31 Durch die Lieder können Kontraste und Spannung aufgebaut werden, sie können Erleichterung bringen sowie das Geschehen ironisch oder ambivalent kommentieren.32 Gerade Sophokles, der Meister der tragischen Ironie, setzt häufig Chorlieder ironisch ein;

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Walton zeigt am Satyrspiel Kyklops, daß ein an sich grausiges Geschehen durch den Chor komisch werden kann: "A violent event is pathetic or comic because of the Chorus reaction to it." (S. 155). Siehe Peter von Möllendorff Grundlagen einer Ästhetik der Alten Komödie S. 233ff. Siehe KirkwoodS. 214.

direkt vor der (für den Zuschauer kaum überraschenden) Katastrophe singt der Chor, die Lage völlig mißdeutend, dann ein optimistisches Jubellied. Der Chor ist also weder Sprachrohr des Dichters noch gibt er die vom Publikum nachzuvollziehenden Reaktionen vor. Die 'Botschaft' des Dichters äußert sich im Gesamtwerk, nicht speziell im Chor; in der Parabase der Komödie kann der Chor jedoch kurzzeitig, außerhalb der Spielfiktion, zur Stimme des Dichters werden. Die Lieder richten sich immer, wenn auch v.a. in der Tragödie nicht ausdrücklich, an das Publikum. Durch Tanz bzw. Bewegungen einer Gruppe und ihren Gesang - mit jedenfalls aus heutigem Musikverständnis vielen vokalen Variationsmöglichkeiten hatten sie wohl weniger durch komplizierte Inhalte als durch die direkte theatralische Wirkung Einfluß auf das Publikum. Der Chor ist zwar weitgehend Zuschauer innerhalb des Spiels, in den Liedern tritt er jedoch als Hauptakteur dem Publikum gegenüber. Neben dem Gruppencharakter sind es die Lieder, die in jeder Tragödie wie Komödie und im Satyrspiel unverwechselbar und immer wiedererkennbar den Chor ausmachen. Wie wir oben sahen, bezeichnet das Wort 'Chor' nicht nur die Gruppe, sondern eben auch ihre 'Tätigkeit', den mit Tanz verbundenen Vortrag der Lieder. Die Gruppe und ihr Chortanz bzw. -gesang sind in der Antike nicht ohne Grund weitgehend synonmye Begriffe.

1.6 Das Verhältnis des Chores zu den Protagonisten Der Chor hat besonders zur Hauptfigur ein enges Verhältnis, indem seine Aufmerksamkeit deren Schicksal gilt. Die sympathische Anteilnahme an der Hauptfigur äußert sich in der Tragödie besonders durch gemeinsame Klagen. Insgesamt ist oft eine eigenartige Mischung aus Sympathie und Distanz für das Verhältnis des Tragödienchores zu dem Protagonisten bestimmend. Das maßvolle Denken des Chores verhindert eine volle Identifikation mit den Helden, auch noch in den gemeinsamen Klagen. In Streitszenen zwischen Protagonisten greift der Chor oft, unabhängig von seiner sonstigen Sympathie, schlichtend ein, auch in den Agonen der Komödie, in denen der Chor an sich mit einer Partei eindeutig sympathisiert. In den Komödien des Aristophanes vollzieht sich häufig ein totaler Wandel der Einstellung des Chores zur Hauptfigur. In Die Acharner, Die Wespen, Die Vögel und Lysistrata wird der Chor vom aggressiven Gegenspieler zu ihrem überzeugten Anhänger. Als Sympathisanten werden diese Chöre, anders als die der Tragödien, zu kritiklosen Anhän„ „ _ _ 33

gem. In allen Fällen stellt der Chor Öffentlichkeit her; privates Gespräch oder Handeln der Protagonisten auf der Bühne sind damit unmöglich.34 Der Chor bildet die Öf33

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Es gibt auch einige Fälle für eine Verbindung zwischen Chor und Protagonisten in dem Sinne, daß der Protagonist als mögliches oder tatsächliches Chormitglied dargestellt wird. Der komische Konflikt in Die Wespen besteht anfangs eben darin, daß der Sohn seinen Vater nicht zu seinen Freunden, den wespenartigen Alten läßt. In Euripides' Elektro versucht der Chor zu Beginn vergeblich, die Hauptfigur zur Teilnahme am Chor zu bewegen. Bezeichnend hierfür ist, daß die einzige Darstellung eines Selbstmords auf offener Bühne im Aias während der kurzen und ungewöhnlichen Abwesenheit des Chores von der Bühne

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fentlichkeit der Polis, deren Werte er auch verkörpert. Durch den Gruppencharakter - und dies erkannten wir als den gemeinsamen Punkt aller Chöre - heben sich die Chöre von den Einzelfiguren ab und zwingen diese zur dauernden Auseinandersetzung mit einer Gruppe. Damit werden die Individuen, die sich vor dem Chor erst richtig entwickeln, in einen größeren Kontext gestellt, es geht nicht um ihre privaten Einzelschicksale, sondern um ihr Schicksal im Rahmen der Polis und damit auch um das Verhältnis zu den Göttern. Außerdem ist der Chor durch seinen fast immer ununterbrochenen Aufenthalt auf der Bühne und seine weitgehende Nichtbetroffenheit von den tragischen oder komischen Ereignissen eine Konstante im wechselhaften Geschehen. Durch die oben festgestellte häufige Distanz des Chores zu den Protagonisten wird auch dem Publikum die Identifikation mit ihnen erschwert. Die andererseits z.T. bei Euripides vorhandene und besonders bei Aristophanes geradezu grotesk übertriebene Kritiklosigkeit des Chores kann ebenso zur Distanz von Seiten des Publikums zu den Protagonisten (und auch dem beschränkten Chor) führen. Durch seine spielinterne Zuschauerrolle und sein besonders in der Komödie direktes, enges Verhältnis zum Publikum wird die Rezeption der Stücke durch die Zuschauer insgesamt wesentlich durch den Chor beeinflußt. So können Figuren herausgehoben werden, oder sie geraten umgekehrt dadurch, daß sie vom Chor ignoriert werden, in den Hintergrund und erscheinen konturlos oder isoliert.35 Der Tragödienchor dient als "Zugbrücke" (Steiner Die Antigone» S. 208) zwischen Publikum und fernem Geschehen, während der, wie wir noch sehen werden, bürgerlichere Chor der Komödie sich als 'Spiegelung' des Publikums verstehen läßt.

1.7 Der Chor als Festchor und Bürgerchor In zahlreichen Tragödien wird der Chor - explizit als sein Hauptcharakteri stikum oder als Teil seiner Rolle, nicht nur während eines einzigen Liedes - zum Festchor mit kultischen Aufgaben. Auch die komischen Chöre der Wolken, der Mysten in Die Frösche und der Thesmophoriazusen sind kultische Chöre. Dennoch gilt für die Komödienchöre viel stärker als für die der Tragödie, daß bei ihnen ihre Funktion als Bürgerchor im Vordergrund steht. In nahezu allen Komödien repräsentieren die Chöre eine bestimmte Gruppe der Athener oder einer fiktiven Bürgerschaft. Der Chor verfolgt (zu Beginn) klare eigene Interessen; daher ist er aktiver als die Tragödienchöre und besteht eher aus Individuen, deren Interessen eben in dieser Gruppe vertreten werden.36 Der Charakter als Bürgerchor wird in der Komödie durch den engen Kontakt zum Publikum verstärkt. In den Ρ arabas en wird das Publikum auch

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stattfindet, die es Aias auch ermöglicht, einen Monolog zu halten, was sonst nur im Prolog vor der Ankunft des Chores möglich ist. In Euripides' Elektro beispielsweise wird durch dauernde Erwähnungen oder Anspielungen des Chores Klytaimestra trotz nur 74 von ihr gesprochenen Versen zu einer zentraleren Figur als der lange vom Chor ignorierte Orest, obwohl er 223 Verse spricht und weit länger auf der Bühne ist. Auch die Frauenchöre bei Aristophanes betätigen sich entgegen ihrer wirklichen Stellung in der Polis als politisch engagierte Bürgerchöre.

als Bürgerschaft angesprochen; in einigen Szenen bleibt offen, ob mit "Bürgern" der Chor oder das Publikum gemeint ist, es liegt nahe, daß teilweise die Trennung zwischen beiden aufgehoben ist.37 Auch die Greisenchöre der Tragödie sind Bürgerchöre, doch sind sie selten näher bestimmt wie etwa die Ritter der gleichnamigen Komödie, die eine bestimmte Gruppe der Bürgerschaft repräsentieren. Außerdem spielen die Tragödien in mythischer Vorzeit in einer Welt der Könige und Helden.38 Der Chor kann also nicht eine selbstbewußte Bürgerschaft darstellen; er ist vielmehr immer eine dem Herrscher besonders eng verbundene, letztlich machtlose Gruppe, sei es als Greisenchor oder als einer der zahlreichen Frauenchöre. Allerdings spielt auch bei diesen bürgerähnlichen Chören der Tragödie die Religion eine große Rolle.39 Auch in den zahlreichen Dramen, in denen der Chor als Greise, kriegsgefangene Frauen usw. äußerlich nicht primär als Festchor erscheint, erwähnen der Chor selbst oder Protagonisten bezogen auf den Chor Gesang und Tanz des Chores.40 Auch der Gott Bakchos oder Dionysos taucht häufig in den Liedern auf, immer mit fìir den Chor positiver Konnotation (ganz im Gegensatz zum Kriegsgott Ares). Anton Bierl zeigt, daß die Erwähnung von Bakchos in der Tragödie einen oft verkannten - nur der Komödie zugesprochenen - Selbstbezug der Tragödie bedeutet, er spricht von "Metatragödie" (Bierl Dionysos S. 116). Noch eindeutiger als bei der Erwähnung des Theatergottes gilt dies, wenn der Chor über sich selbst, sein Tanzen und Singen, sein 'Chorsein' spricht. Ein besonders deutliches Beispiel dafür ist das 2. Stasimon in König Ödipus; "τί δέί μ ε χορεΰειν; " "Wie soll ich noch tanzen?" fragt der Chor. Dabei handelt es sich hier um einen Chor alter Männer, der als Bürgerchor charakterisierbar ist.41 Offensichtlich bleibt der Chor unabhängig von seiner sozialen Gruppendefinition in der Welt der Tragödie - oder vielmehr verbunden mit dieser

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Die "Dialogizität" der Komödie (Moellendorff Grundlagen S. 150), bei der der Chor eine Schlüsselrolle inne hat, legt unserer Meinung nach auch die Vermutung nahe, die vereinzelt genannten Namen von Chormitgliedern könnten deren wirkliche, 'private' Namen sein (Dies entspräche auch dem besonderen Status des Chores, siehe unten 1.8 Der Sonderstatus des Chores). In Die Acharner läßt sich die Namensnennung (V. 609ff.) sowohl auf Chormitglieder als auch auf einzelne Zuschauer beziehen. Eine Ausnahme unter den erhaltenen Stücken sind Die Perser, die ein historisches Ereignis der jüngeren Vergangenheit behandeln. Die Trennung beider Bereiche ist im Grunde eine neuzeitliche Verkennung der antiken Gegebenheiten; zum heutigen Verständnis der Dramen dürfte die Betonung dieser 'Selbstverständlichkeit' jedoch hilfïeich sein. Auch in der Erwähnung anderer Chöre durch einen singenden und tanzenden Chor ist ein zwar indirekter, aber deutlicher Selbstbezug zu sehen. Die einzige Ausnahme unter den erhaltenen Stücken ist der Chor der Seeleute in Sophokles' Philoktet. Hier gibt es keine Anspielung auf Tanz oder Gesang dieses oder anderer Chöre. Diese Stelle ist aus verschiedenen Gründen für die Figur Chor eine der interessantesten überhaupt: der Chor äußert sich ausdrücklich über sein 'Chorsein', wobei seine Identität offenbar durch Gesang und Tanz bestimmt ist; zudem - und das ist im folgenden wichtig ist nicht bzw. kaum zwischen dem Chor als Spieler und als gespielter Figur zu unterscheiden. Außerdem erscheint er hier andeutungsweise als Gegenspieler der Hauptfigur (Siehe dazu 1.9 Anmerkung zu eigener Tragik und Komik des antiken Theaterchores). Auch für Albert Henrichs ist diese Stelle von zentraler Bedeutung für seine Untersuchungen zum selbstreferentiellen Chor. 25

'Rolle' - immer ein Chor.42 Die Chöre von Greisen, Sklavinnen oder Seeleuten in der Orchestra bleiben in ihrem Bewußtsein als Gruppe während aller tragischen Ereignisse primär ein Chor. Das gilt grundsätzlich auch für den Komödienchor. Er ist jedoch entsprechend der Gattung insgesamt flexibler und spielerischer eingesetzt. Bei Aristophanes kann der Chor eher kurzzeitig in das Handlungsgeschehen verwobene Rollen übernehmen, um dann in den Parabasen allerdings umso deutlicher diese abzustreifen und als Theaterchor dem Publikum gegenüberzutreten.

1.8 Der Sonderstatus des Chores, abschließende Definition Der Chor spielt immer einen Chor. Die Funktionen der Chöre ergeben sich also nicht einfach aus ihrer Identität als Greise, Kriegsgefangene, attische Bauern usw. Andernfalls wären die Chorlieder lediglich störende und artifizielle Einlagen dieser Gruppen. Der Chor ist, wie wir sahen, nicht eine geschlossene Figur im Sinne einer dramatis persona; seine Identität ist nicht vergleichbar mit der der Protagonisten, sie entsteht nur über die Gruppe, die v.a. ein Chor ist. Dabei ist auch zu bedenken, daß der Chor durch seine Identität als 'normale Bürger' und durch seine spielinterne Rolle als Zuschauer der Protagonisten ein besonders enges Verhältnis zum Publikum hat, er zwischen Bühnenaktion und Zuschauern steht bzw. sich hin und her bewegt. Simon Goldhill spricht in diesem Zusammenhang vom special status of the chorus within drama both as a characterized group within the world of the play and also as a commentator, expander, mediator between the actors and the audience. 43

Auch räumlich wird dieser Status des Chores durch die besondere Nähe zum Publikum in der Orchestra verdeutlicht. Die besondere Verbindung zwischen Chor und Zuschauem überschreitet jedoch auch die Grenzen des Spiels: die Choreuten waren tatsächlich normale Bürger, womöglich spielten Verwandte oder Bekannte von Zuschauern im Chor, oder Zuschauer waren im Vorjahr Choreuten gewesen (Flashar Inszenierung S. 24). Der Chor hat folglich nicht nur als Figur, sondern überhaupt als

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Henrichs macht wichtige Beobachtungen zum Selbstbezug des Chores und sieht ihn in einer besonderen, quasi doppelten Identität, zieht daraus allerdings nicht den seiner Rolle in der Aufführung gerecht werdenden Schluß, daß der Chor nämlich grundsätzlich sich selbst spielt: "As a performer of the ritual dance, the chorus exists simultaneously inside the dramatic realm of the play and outside of it in the political and cultic realm of the here and now. These two roles are inseparable, and as we shall see, under certain conditions they become one and the same." (Henrichs Why should I dance S. 70, unsere Hervorhebung, vgl. Henrichs Warum soll ich denn tanzen S. 50). Unsere These wird im folgenden Abschnitt noch durch den Blick auf den institutionellen Rahmen abgesichert und erweitert werden.

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S. 271, unsere Hervorhebung.

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Theaterinstitution in der gesamten Auffiihrungssituation eine einmalige Rolle, die wir seinen Sonderstatus nennen.44 Das wird bei einem Blick auf die gesamtkulturelle Institution Chor im Verhältnis zum Theaterchor noch deutlicher. Dabei wird die oben gemachte Beobachtung, daß der Chor in der Tragödie grundsätzlich durchgehend und in der Komödie zeitweise, aber dafür umso deutlicher, einen Chor darstellt, von entscheidender Bedeutung sein. Chöre spielen, wie wir bereits betonten, insgesamt in der griechischen Kultur eine große Rolle. Als Institution im Theater hat der Chor damit auch einen ganz anderen Status als die auf das Theater beschränkten Protagonisten. Das Element Chor, das die Rolle eines Chores im jeweiligen Drama Ubernehmen und dabei weitgehend sich selbst spielen wird, ist bereits Ergebnis eines der 'Chorkultur' folgenden künstlichen Verwandlungsprozesses. Vor dem Proben bzw. Auffuhren des Chores der jeweiligen Tragödie oder Komödie haben sich 15 bzw. 24 einzelne Bürger bereits zum Theaterchor zusammengeschlossen. Der Chor stellt kein Volk dar, das sich im Laufe des Stückes aus Einzelschauspielern bildet. Vielmehr verwandeln sich die einzelnen Choreuten, auf der Basis der Chorkultur, quasi schon bevor das Spiel oder die Probe beginnt, zum Schauspieler 'Chor1, der sich dann allerdings in eine nur unwesentlich verschiedene Rolle, nämlich die des jeweiligen Chores im Stück verwandelt; es handelt sich dabei eher um eine Spezifizierung als um eine weitere Verwandlung. Die Figur Chor unterliegt demnach keiner vollen Illusion, sie bleibt mit der realen Umwelt verbunden, in der sie jedoch bereits einen performativen, künstlerisch-rituellen Charakter innehat.45 Der Sonderstatus des antiken Theaterchores besteht darin, daß die Figur 'Chor1 im jeweiligen Stück entscheidend durch die Theaterinstitution 'Chor1 vorgeprägt ist.

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Goldhill bezieht sich mit dem Begriff "special status" nur auf die doppelte Rolle des Chores als Teilnehmer des Bühnengeschehens und als Vermittler zwischen Bühne und Publikum, ohne daß er auf seine Funktion im gesamten Aufführungsvorgang eingeht. Helen H. Bacons auf den Chor bezogene Behauptung "the dramatic illusion is strictly maintained in tragedy" (S. 17) ist demnach falsch. Der Chor auf der Theaterbühne ist nicht nur "onstage counterpart" (S. 18) anderer Chöre, sondern er bleibt vielmehr als Theaterchor auch traditioneller Chor. Claude Caíame betont, historisch betrachtet sicher nicht zu Unrecht, den Unterschied zwischen lyrischem Chor (bei Pindar) und Tragödienchor. Aus unserer entfernten Perspektive sollten diese Differenzen jedoch nicht überbewertet werden; wer den Tragödienchor verstehen will, muß weniger die Unterschiede zur verwandten Chorlyrik als vielmehr die zum unser abendländisches Theaterverständnis so stark beeinflußenden aristotelischen Modell (siehe oben S. 3f.) betonen. Das Auftreten mit Masken oder die Differenz des gespielten Geschlechts zum spielenden (wenn Männer einen Frauenchor darstellen) bewirken unter den oben konstatierten Bedingungen noch keine volle Verwandlung des Chores in eine gänzlich andere, fiktive Art von Gruppe. Rush Rehm (Performing the Chorus) kommt durch die Betonung der Flexibilität des Chores zur gleichen Schlußfolgerung: "They are a group of highly malleable performers not bound to strict determinants of identity or character, beyond gender and, occasionally, age." (S. 46).

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Graphik zum Sonderstatus des Chores: Wirklichkeit·. (Signifikant)

Chor.

>

15/24 einzelne Bürger >

Protagonisten: 1 einzelner Bürger

=

Theaterinstitution'. (Signifikant)

>

(15/24 Choreuten als) Theaterchor

1 Schauspieler

Rolle im Stück (Signifikat) (15/24 Choreuten als) Chor im Stück

>

1 Figur im Stück

Der Hauptverwandlungsprozeß findet also bei der Bildung der Institution statt innerhalb des Bereichs Signifikant. Das zeigt sich auch im Personenveizeichnis bzw. bei der Sprecherzuteilung im Text: Der Chor wird immer mit dem zugleich theatertechnischen Begriff Chor bezeichnet,46 die Gruppen-Figur (das Signifikat) ist durch die sie bildende Gruppe (den Signifikanten) definiert. Keineswegs in allen Stücken wird der Chor im Personenverzeichnis durch eine nähere Charakterisierung (z.B. "Chor alter Männer") ergänzt. Die Choreuten stellen also nicht Sklavinnen, Greise usw. dar, sondern einen Chor, der aus Sklavinnen, Greisen usw. besteht; diese jeweilige Charakterisierung ist dabei eher ein Akzidenz, von grundlegender Bedeutung ist die Rolle als Chor. Der Vergleich mit den Protagonisten kann den besonderen Status des Chores noch deutlicher machen: Bei den Protagonisten unterscheiden sich die Privatperson und der Schauspieler (als Institution) nämlich nur theoretisch; anders als der Schauspieler 'Chor1 ist er noch kein Kunstprodukt, der entscheidende Verwandlungsprozeß im Spiel oder der Probe vollzieht sich hier erst bei der Entwicklung der Figur durch den Schauspieler - beim Wandel vom Signifikanten zum Signifikat. Die Verwandlungsfähigkeit der Protagonisten wird in der Tragödie des 5. Jahrhunderts noch dadurch verdeutlicht, daß die (zwei bzw. drei) Darsteller zum Teil mehrere unterschiedliche Rollen in einem Stück spielen.47 Den antiken Theaterchor des 5. Jahrhunderts zeichnet innerhalb des Spiels und durch den kulturellen, institutionellen Rahmen ein besonderer Status aus. Innerhalb des Spiels bedeutet das eine begrenzte Fiktionalität der Rollen für den Chor; abgesehen davon läßt sich der flexible Tragödienchor wie der noch variablere Komödienchor universal gültig nur durch seinen Charakter als enge Gruppe und durch sein gemeinsames Singen und Bewegen definieren. 46

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Dieser wiederum bezeichnet zugleich die Gruppe wie ihre Tätigkeit, die Aufführung der Lieder. Der flexiblere Komödienchor läßt sich differenzierter, insofern vom Tragödienchor unterschieden, in das Schema einbinden, als er, wenn er sich kurzfristig in eine aktive Gruppe mit Eigeninteressen verwandelt, dies erst auf der Basis seines 'Chorseins' - quasi als vierte Stufe im Entwicklungsprozeß von der Wirklichkeit in das Spiel - als Spiel im Spiel vollzieht. Der Chor in Der Frieden beispielsweise ist ein Komödienchor, der - kurzzeitig in die Handlung verwoben - eine begrenzte Zeit lang griechische Stämme oder attische Bauern spielt, um dann immer wieder zur Chorgruppe zu werden.

1.9 Anmerkung zu eigener Tragik und Komik des antiken Theaterchores In der oben zitierten Stelle in König Ödipus thematisiert der Chor nicht nur seine eigene Tätigkeit, er stellt sie vielmehr insgesamt in Frage; er hält einen fast tragischen Ausgang für sich selbst - nämlich eine Art 'Selbstauflösung' - für möglich. Der, wie wir sahen, selten und wenn, eher beiläufig bedrohte Chor scheint hier für kurze Zeit existenziell gefährdet zu sein, und zwar nicht physisch, sondern in seiner Rolle und Funktion als Tragödienchor; das 'Chorsein' stellt für den Chor Sinn und Zweck seiner Existenz dar, seine Tragik könnte demnach nur aus der Bedrohung des Chorischen erwachsen. In der Aristophanes-Komödie Der Friede unterliegt der Chor in der Parados gegen seinen Willen einer Art Tanzzwang: Der chorische Körper macht sich selbständig. Durch sein zwanghaftes, andauerndes Tanzen und das laute Singen gefährdet der Chor in einer für die Handlung kritischen Situation das zentrale Anliegen der vom ihm unterstützten Hauptfigur. Die 'Chorkomik1 dieser Stelle betont (wie die andeutungsweise tragische Stelle im König Ödipus) chortypische Eigenschaften und karikiert sie im Kontrast mit der Handlung der Einzelfiguren. Andere komische Effekte des Komödienchores ergeben sich durch intertextuelle ironische Verweise auf andere Stücke und Chöre. Wir sahen zudem, daß er streckenweise aktiver in die Handlung eingebunden ist als der Chor der Tragödie, woraus sich weitere Bereiche für 'Chorkomik' ergeben können: Lautstarke Ankündigung und feiges Handeln oder hohes Alter und jugendliche Streitlust klaffen weit auseinander, der Chor ist dem Helden gegenüber auf lächerliche Weise devot oder er trägt durch Spaltungen (v.a. in Lysistrata) Konflikte auf kaum emstzunehmende Art unter sich aus.4"

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Es ist in der Gräzistik seit einigen Jahren bekannt, daß manche Tragödien des Euripides komische Elemente haben (Siehe Knox und Seidensticker, mit Hinweisen zu weiterer Literatur). Auf den Chor wurde diese Feststellung jedoch unseres Wissens noch nie bezogen. Über Anspielungen auf die Institution Chor wird beispielsweise in Elektro der Chor ironisiert, wenn er kurz nach seinem Auftritt beinahe sofort wieder von der Bühne abgeht oder sein in die Handlung integrierter Chorgesang von den Einzelfiguren ignoriert wird (V. 596).

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2. Tendenzen des Chorgebrauchs in der Neuzeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts

Ach! umtanzt von Hellas1 goldnen Stunden, (Friedrich Hölderlin, Griechenland)

2.1 Die Isolierung des Chores in Senecas Tragödien und sein Einfluß auf die Neuzeit Anders als die Komödienautoren Plautus und Terenz benutzt Seneca als einziger der uns erhaltenen römischen Dramatiker in seinen Tragödien den Chor. Die umstrittene Frage, ob seine Stücke reine Lesedramen waren oder aufgeführt wurden, soll uns hier nicht interessieren; wichtig ist Seneca in unserem Zusammenhang deshalb, weil er für die Tragödienrezeption der Neuzeit eine große Rolle spielt.1 Von der Renaissance bis ins 17. Jahrhundert stellten die Tragödien des Seneca die antiken Vorbilder für diese Gattung dar, erst dann wurden auch die attischen Tragiker rezipiert. Neben den Poetiken von Aristoteles und Horaz bestimmen die Tragödien Senecas lange Zeit die Rezeption der Tragödien und ihre Nachahmungen in der Neuzeit.2 Der Einfluß der griechischen Tragiker auf Senecas neun überlieferte Tragödien wiederum ist formal wie inhaltlich unverkennbar, auch in Bezug auf den Chor.3 Seine Stücke sind insgesamt einfacher und klarer strukturiert, auch was den Chor anbelangt. Dieser wird weniger ins Gespräch oder in gemeinsame Klage mit den Protagonisten eingebunden und singt nach den Aktenden meist vier relativ lange

Ein direkter Einfluß des antiken Theaters auf das christliche Theater des Mittelalters besteht wohl ebenso wenig wie ein Einfluß von letzterem auf das von der Antike geprägte Theater der Neuzeit. Nichtsdestotrotz gibt es, wohl eher aus Liturgie und Musik entstanden, Chöre im mittelalterlichen Theater. Häufig (bis hin zu den Bachschen Passionen und Oratorien) ist das Volk durch musikalische Chöre wiedergegeben, die Gesänge der Chöre können jedoch auch außerhalb der unmittelbaren Handlung episierenden Funktionen dienen. Mit einer zunehmenden Dramatisierung der Aufführungen gerät der Chor in den Hintergrund bzw. wird durch einen Sprecher ersetzt, ein der neuzeitlichen Entwicklung entsprechendes Phänomen. Interessanterweise gibt es teilweise auch einen Gesamtchor aller Spieler, ein Phänomen, das wir bei der Betrachtung des 20. Jahrhunderts wieder behandeln werden. 2

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Die Ars Poetica des Horaz betont die moralische Qualität des Chores, hält sich in ihrer Darstellung des Chores ansonsten eng an Aristoteles, geht von der Angleichung des Chores an die Schauspieler als Grundlage aus (siehe oben S. 3, Anm. 2). Das zeigt sich u.a. an der Troas, wobei durchaus bezeichnend ist, daß sich der Titel nicht, wie bei Euripides, auf den Chor bezieht, sondern abstrakt gefaßt ist.

Lieder. Der Chor bei Seneca gerät - anders als in den griechischen Tragödien der Zeit nach den drei großen Tragikern oder in den Komödien von Menander, wo er reine, im überlieferten Text gar nicht ausgeführte, Einlage ist - nicht in die dramaturgische Bedeutungslosigkeit, seine Lieder sind keine reinen 'Zwischenlieder'. Auch bedeuten die (häufigen) philosophischen Äußerungen des Chores nicht automatisch, daß er die Stimme des Dichters vertritt. Zweifellos ist der Chor bei Seneca jedoch isolierter vom Geschehen als der griechische Theaterchor des 5. Jahrhunderts. Das zeigt sich auch daran, daß er keineswegs grundsätzlich durchgehend auf der Bühne bleibt, der permanente Polisbezug durch den Chor ist dementsprechend nicht gegeben. Er ist viel eher eine abstrakte Figur mit dramaturgischen Aufgaben, wie der Fokussierung und der Repräsentation eines inhaltlichen, moralischen Gegengewichts zu den Protagonisten. Der Chor wird "fast ganz auf seine Funktion als Betrachter beschränkt" (Seeck Senecas Tragödien S. 392), spielt als Gruppe keine Rolle, sondern eher als beschreibender und kommentierender Zuschauer. Auch bei Seneca äußert der Chor metatheatrale Selbstverweise, aufgrund seines hoch artifiziellen Gebrauch als rein dramaturgisches Vehikel hat er jedoch keinen dem attischen Chor vergleichbaren Sonderstatus. Er erweist sich als etwas blutleeres Mittel, das (bei aller lyrischen Schönheit der Lieder) keinen theatralen Sinn oder Wert an sich zeigt - sei es, weil Seneca den Chor nur aus purer dramaturgischer Berechnung benutzt, oder weil er mit seinem Chor zumindest äußerlich den griechischen Vorbildern gerecht zu werden versucht. Als Vorlage für andere Chöre bedeutet der artifizielle Chor Senecas eine wichtige Weichenstellung in Richtung eines im Drama weitgehend isolierten Chores, dessen Charakter als Gruppe unwichtig wird und der einem Kommentator nahekommt.

2.2 Die Spannung zwischen Einzelnem und Gruppe bei der Neubelebung des antiken Chores seit der Renaissance, das Problem Chor und positive Gegenbeispiele Grundsätzlich ist bei der Chorrezeption in der Neuzeit zwischen gelehrten, theoretischen Versuchen und tatsächlicher Theaterpraxis zu unterscheiden. Selbst bei humanistischen Förderern des antiken Theaters stellt der Chor ein großes Problem dar4 - oder aber die Wiederbelebungsansätze bleiben wirkungslos, so die erste Aufführung einer griechischen Tragödie in einer neuzeitlichen Übersetzung, des König Ödipus 1585 in Vicenza mit vertonten Chören.5 Unter dem vermeintlichen Einfluß des Aristoteles wird die Rolle des Chorführers als Sprecher immer stärker

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Paolo Beni aus Gubbio äußert in seinem Poeiii-Kommentar (1613) das abschätzige Urteil über den antiken Chor, er habe der Unterhaltung des Pöbels gedient (siehe Klein S. 15). Zu diesem Chor mit Schauspielmusik siehe unten S. 35, Anm. 14. Zur Aufführung in Vicenza siehe auch Flashar Die Anfänge der neuzeitlichen Schauspielmusik.

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herausgehoben.6 Schließlich kristallisiert sich in Interpretationen des antiken Theaters eine Differenzierung zwischen alleine, anstelle des Chores sprechendem und so an der Handlung teilnehmendem Chorführer und gemeinsamem Gesang des Chores in Zwischenliedern heraus, auch (unter französischem Einfluß) bei Gottsched. Diese Trennung stellt eine Art Kompromiß mit dem ungeliebten Chor dar: Er kann einerseits 'der Antike zuliebe' nominell beibehalten werden, andererseits wird er durch die Hervorhebung des Chorführers jedoch in den 'entscheidenden' Teilen in eine Einzelfigur uminterpretiert. Während diese Annahme durch die (mißverstandene) Aristoteles-Stelle aus der Poetik legitmiert wird, sucht Corneille (und in der Folge auch viele Philologen) eine vermeintlich praktische Begründung: Er unterstellt, daß auch in der Antike nur eine Figur die Sprechpartien des Chores übernommen habe, da er sonst akustisch nicht verständlich gewesen sein könne.7 Konsequentes Ergebnis dieser Tendenz gegen den Gruppencharakter des Chores ist in neuzeitlichen Tragödien die Auflösung des Chores in eine Nebenfigur, etwa in den Stücken der französischen klassizistischen Tragödie. In Italien läßt sich die Abwendung vom Chor deutlich beobachten: In Trissinos Sofonisba (1514/15), der ersten italienischsprachigen Tragödie, die noch ganz unter dem Einfluß Senecas steht, ist der Chor noch umfangreich gestaltet. Er wird in der Folge immer stärker isoliert, auf Aktenden als Intermedien ohne Zusammenhang mit dem Stück begrenzt;8 Alfieri, der wichtigste Dichter des italienischen Klassizismus, verzichtet in seiner Antigone schließlich ganz auf einen Chor. In der französischen klassizistischen Tragödie verschwinden die zuerst lyrischen, sentenzhaften Chöre auch schon im 16. Jahrhundert, Corneille und Racine verzichten ebenso auf den Chor wie Molière. Überhaupt scheint in der Komödie der Neuzeit der Verzicht auf den Chor bedenkenloser vonstatten zu gehen, die historisch-theoretische Vorbelastung ist weniger stark, da nicht Aristophanes, sondern die 'chorlosen' Plautus und Terenz die Vorlage darstellen bzw. die Komödie ohnehin weniger von an der Antike orientierter Gelehrsamkeit bestimmt wird. In Deutschland gibt es während der Renaissance bzw. Reformationszeit und im Barock Zwischenchöre, die sogenannten "Reyen"; dieser Gesang ist ohne direkte

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Es ließe sich, was hier nur angedeutet werden kann, anhand von Textausgaben und Kritiken der Aristotelischen Poetik der Renaissance bis in die Gegenwart hinein zeigen, wie sich aus Mißverständnissen die fragwürdige (da dem Gnippencharakter des Chores widersprechende), bis heute verbreitete 'communis opinio', der Chorführer spreche die iambischen Chorpartien in den Epeisodia der griechischen Tragödie, entwickelt und verfestigt hat: In der ersten Übersetzung der Poetik von Paccius (1536) wird die oben in der Einleitung zitierte, zentrale Stelle über den Chor so mißverstanden, daß der Hauptanteil des Chores auf einen Schauspieler entfalle. Der erste Kommentar von Robortello (1548) differenziert diese Fehlübersetzung dahingehend, daß einer die Sprechpartien des Chores übernehme, der gesamte Chor jedoch gemeinsam singe. Piccolomini (1575) gibt dem schließlich die endgültige Form, indem er ausdrücklich feststellt, der Chor sei auf zwei Arten eingesetzt, mit einem Sprecher als Vertreter der anderen und mit gemeinsamem Gesang (Abdruck der Originaltexte und Versuch ihrer Einordnung bei Klein).

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Eine Behauptung, die durch viele Sprechchöre des 20. Jahrhunderts widerlegt ist. Der Chor stellt dabei auch abstrakte/allegorische Gestalten dar, so der "Coro di Virtù" in Aretinos V Horatia (1546).

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Verbindung zum Spiel, häufig dient er moralisierend als 'Sprachrohr1 des Dichters.9 Wohl unter dem Einfluß des mittelalterlichen Theaters bestehen, wie auch in anderen Ländern, die Chöre häufig aus allegorischen Figuren. Gottsched sieht im antiken Chorgesang "moralische Betrachtungen" (S. 312), die Verbindung zwischen zwei Akten hält er für die Hauptaufgabe des Chores, insgesamt stellt er jedoch fest: Bey uns sind die Chöre nicht gewöhnlich [...] (S. 329).

Auch für 'den' Erneuerer des deutschen Theaters, Gotthold Ephraim Lessing, ist der Chor unwichtig.10 Klopstocks Chordramen sind eher zur Gattung der Lyrik als zu der dramatischen Literatur zu rechnen und stehen, was die Chöre anbelangt, wohl eher der Oper als dem antiken Theater nahe. Dennoch stellen die Chöre bei Klopstock eine produktive Ausnahme bei der Neugestaltung des Chores dar.11 Für das Theater sind sie jedoch folgen- und bedeutungslos. Ähnliches trifft im Grunde für alle positiven Beispiele von Dramenchören zu - also solche, die einerseits zu Recht diesen von der Antike abgeleiteten Namen tragen und zugleich zeitgemäße bzw. künstlerisch wertvolle Vorlagen für das Theater darstellen - bis ins 20. Jahrhundert hinein.12 Zu diesen bemerkenswerten, aber isolierten Ausnahmen zählen auch zwei Stücke Racines, der ansonsten keine Chöre benutzte. Seine beiden letzten Stücke Esther und Athalie sind für die private Aufführung an einer Mädchenlehranstalt geschriebene Texte, die der Sprechübung der Schülerinnen und ihrer christlichen Erziehung dienen sollten, dementsprechend behandeln sie alttestamentarische Stoffe. Für die Aufführung von Esther sind 24 Choreutinnen bezeugt. In der Vorrede äußert Racine den Wunsch, "Chor und Gesang mit der Handlung zu verknüpfen" (S. 235); das ist tatsächlich gelungen. Der Chor stellt das bedrohte Gefolge von Esther dar; er ist politisch und religiös engagiert, da er fur das israelitische Volk und damit den jüdischen Gott steht. Die Situation wie die Charakterisierung des Chores lassen gemeinsamen Gesang und Gebete (z.T. mit Einzelstimmen und gemeinsamem Echo oder Refrain) 'natürlich' erscheinen und sind eng mit dem Geschehen um die Heldin verbunden. Ebenso einen jüdisch-christlichen Frauenchor benutzt Milton in Samson Agortistes. Der Held des Dramas befindet sich mit seinem aus Landsleuten bestehenden Chor in Feindesland; der Chor ist gläubig, er betet dementsprechend völlig 'natürlich' und voll Mitleid für Samson, er drängt diesen allerdings auch zur Umkehr zu 9

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Martin Opitz1 Obersetzung der Antigone zeigt eine "liedhafte Auffassung der Chöre" in der Tradition des deutschen Schuldramas (Alewyn S. 29), ist für die Bühne jedoch bedeutungslos, da sie nie zur Aufführung kam. Er vertritt die später auch von Wagner (allerdings für seine eigenen Musikdramen) geäußerte Ansicht, daß "das Orchester bei unseren Schauspielen gewissermaßen die Stelle der alten Chöre vertritt" (S. 224). Der Chor ist hier nicht auf die Aktenden beschränkt; als emotional beteiligter Zuschauer bildet er in gewisser Weise das Zentrum, um das herum die Einzelfiguren handeln. Klopstock setzt ihn flexibel ein, er kann von der (imaginären) Bühne abgehen, Teilchöre bilden, repräsentiert 'Volksgruppen' wie Jäger, Hirten usw.; Tanz und persönliche Erschütterung bestimmen ihn eher als distanzierte Reflexion. Schillers Braut von Messina stellt zwar zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen wichtigen Einschnitt dar, doch auch hier werden wir sehen, daß die Wirkung die Bühne kaum erfaßt.

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seinem eigenen Besseren. Der Chor der Jungfrauen ist zentral in das Stück integriert, zeichnet sich durch den Gruppencharakter, die distanzierte Sympathie und physische Schwäche - ähnlich dem antiken Chor - aus (er ist allerdings durch seinen starken, richtigen Glauben und die von Horaz geforderte moralische Integrität auch fast 'zu' perfekt). Verglichen mit dem griechischen Chor erweist er sich paradoxerweise jedoch auch geradezu als 'Anti-Chor', da er aufgrund seines strengen Glaubens sich gegen Tanz und Wein ausspricht, weil sie mit den heidnischen Riten der verfeindeten Philister verbunden sind. Das Verhältnis zum Protagonisten ist dadurch besonders eng, daß der Chor anstelle des blinden Samson sehen bzw. ihm das Gesehene schildern muß. Diese besondere Konstellation erlaubt es Milton, auch dem Leser mit einer überzeugenden Begründung durch den Chor optische Eindrücke episch schildern zu lassen. Das Stück ist schließlich, wie aus dem Vorwort deutlich wird, nicht für die Bühne geschrieben, sondern ein reines Lesedrama. In der Tat ist Miltons gelungener Chor - im Vorwort beschrieben als "after the Greek manner, not ancient only but modem" (S. 518) - fur die Theaterpraxis ohne jede direkte Auswirkung gewesen. Shelleys Versuch der Wiederbelebung der antiken Tragödie scheitert dagegen an der hohlen Künstlichkeit, die sich gerade im Charakter- und formlosen Chor manifestiert; es gelingt Shelley nicht, die antike Form mit zeitgenössischen Inhalten zu verbinden, der Status des Chores bleibt im Antiquierten stecken. Auch Byron wollte klassisch gegen das Theater Shakespeares anschreiben, dabei ist für ihn jedoch klar: "of course no chorus" (Steiner The Death S. 203). Das spanische Barocktheater ist, wie das Elisabethanische Theater, nicht am antiken Vorbild orientiert, die humanistischen Theoretiker bleiben ohne Einfluß auf die bestimmende Bühnenform.13 Deshalb gibt es im 'klassischen' spanischen Theater keinen Chor, allenfalls einige chorähnliche Stimmen oder Gesang bei Calderón. Lope de Vegas Fuente Ovejuna zeigt ein ganzes Dorf im Kampf gegen einen tyrannischen Statthalter, der schließlich ermordet wird. Das Dorf ist durch einige Einzelfiguren, die auch individuell sprechen, vertreten, lediglich durch Gesang verbinden sie sich kurzzeitig auch formal. Das gemeinsame Handeln der Bürger zeigt sich nicht durch chorische Strukturen, sondern wird anhand von Einzelnen verdeutlicht und berichtet. Die 'kollektive Hauptfigur' in Fuente Ovejuna ist formal nicht als Chor gestaltet, eher handelt es sich um die Figur 'Volk', wie sie in der Neuzeit, besonders seit Shakespeare, durch dramaturgische 'Tricks', nämlich in Form von Einzelfiguren, die Theaterbühne betritt.

2.3 Gesangs- und Opernchöre Die abendländische Musik entstand im Mittelalter aus liturgischen Gesängen; bei dieser im Gegensatz zu Dichtung, bildender Kunst und (durch schriftliche Überlieferung übertragenem) Theater "spezifisch europäischen, der Antike so unendlich fremden Kunst" (Kunze S. 310) besteht also keine unmittelbare Verbindung zur 13

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Auch in den Tragödien der Renaissance gibt es, wie in England, eher allegorische Gestalten als einen Chor.

Antike. Das neue Prinzip der Mehrstimmigkeit bedeutet auch fur eine musikalische Umsetzung des antiken Tragödienchores eine tiefgreifende Veränderung der musikalischen Bedingungen, angesichts derer der in neuzeitlichen Antikeninszenierungen weitgehend übliche Sprechchor weniger historisch 'unrichtig' erscheinen mag. Kirchlicher Chorgesang ist der Ursprung der europäischen, symphonischen Musik; nicht zufällig ist der Teil der Kirche, in dem der Chor steht, nach diesem benannt. Im Laufe der Neuzeit löste sich der Chorgesang - wie die Musik insgesamt teilweise aus dem religiösen Rahmen. Künstlerisch erlebt er im 19. Jahrhundert gerade in Deutschland in Verbindung mit nationalstaatlichen Entwicklungen einen Höhepunkt, v.a. als Männerchor. Bezeichnend für die Tendenz zum Chorgesang in dieser Zeit ist Beethovens 9. Symphonie mit der Ode an die Freude. Aus der wortlosen Symphonie bildet sich - quasi in Umkehrung der historischen Entwicklung der optimistische Chorgesang mit religionsähnlichem Anspruch. Der Gesangschor ist abgesehen vom hochartifiziellen und begrenzten Opemchor die einzige Ausprägung einer bis heute andauernden 'Chorkultur' in Zentraleuropa. Beide unterscheiden sich jedoch tiefgreifend vom antiken Theaterchor und haben nur sehr begrenzten Einfluß auf die Gestaltung der neuzeitlichen Chöre im Sprechtheater. Die Gesangschöre stellen nicht nur wegen der grundsätzlichen Andersartigkeit der Musik, sondern auch wegen der körperlichen Statik während der Aufführung eine vom antiken Chor verschiedene 'Chorform' dar; in diesem Punkt besteht allerdings auch eine große Distanz zum Opemchor. Der Opemchor könnte als Beleg für die vermeintliche historische und strukturelle Nähe der abendländischen Oper zur antiken Tragödie angesehen werden. Es ist heute in der Musikwissenschaft jedoch unstrittig, daß die Oper trotz des wichtigen Einflusses gelehrter, humanistischer Kreise bei ihrer Entstehung in der Renaissance nicht "als Versuch einer Restitution der antiken Tragödie entstanden" ist (Dahlhaus S. 199).14 Viel eher ist sie eine Variante der bukolischen, zwar von der Antike, jedoch nicht von deren Theater beeinflußten Pastorale. Das wird aus den Titeln der ersten Opern wie Dafne, Euridice und Orfeo ersichtlich. Erst im 18. Jahrhundert kommen 'Antikenopem' (Flashar Schauspielmusik S. 558) als freie Bearbeitungen antiker Tragödien auf, die jedoch inhaltlich und strukturell sehr eigenwillig mit der Vorlage umgehen. Von Anfang an ist der Chor Bestandteil der Oper, er unterscheidet sich jedoch tiefgreifend vom antiken Theaterchor. Er ist ein "musikalisch-dekoratives Element" (Kloiber S. 1063), das auch schon in der Frühzeit der Oper häufig in den

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Kunze differenziert: "So sehr die antike Tragödie bei der Entstehung der Oper idealiter Pate stand, realiter kam sie offensichtlich kaum in Betracht." (S. 292). Die Schauspielmusik zum König Ödipus 1585 in Vicenza (siehe oben S. 31) wurde in Anlehnung an die Antike a capella gesungen, wie diese Aufführung insgesamt, anders als die Opern der Zeit, tatsächlich der allerdings weitgehend folgenlose Versuch einer Wiederbelebung der antiken Tragödie war. Die Schauspielmusiken der im 19. Jahrhundert aufkommenden Tragödienaufführungen waren ebenfalls im Gegensatz zur Oper ihrer Zeit und bei aller aus heutiger Sicht zeitlichen Bedingtheit historisch bewußt gestaltet, wichtigstes Beispiel ist Mendelssohns Musik zur Antigone (siehe unten S. 45).

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Hintergrund gerät." Allerdings bleibt er grundsätzlich bis heute fester Bestandteil der Gattung Oper, ist jedoch nicht von zentraler Bedeutung und auch nicht zwingend Teil jeder Oper. Seine zwar eher marginale, aber dennoch konstante Rolle im Rahmen der Oper zeigt sich an der Institution des festen Opernchores, im Gegensatz zum Sprechtheater (siehe unten Exkurs: Institutionelle und organisatorische Fragen des Chorgebrauchs). Der Opemchor ist meist ein gemischter Chor, dessen dramatische Rolle in aller Regel eine konkrete, volksähnliche ist. Er nimmt keinerlei besonderen Status auf der Bühne ein, auch seine Beziehung zum Publikum ist nicht exklusiv. Ganz im Gegenteil bietet der Opernchor räumlich, inhaltlich wie musikalisch den Hintergrund für die Solisten. An der Stelle des antiken Chores befindet sich das Orchester. Ein Einfluß der Opernchorregie auf den Theaterchor ist demnach grundsätzlich als gering einzuschätzen.16

2.4 Shakespeares "chorus" und das Volk als 'dramatis persona' In einigen Stücken Shakespeares gibt es eine "chorus" genannte Figur, er spricht in Troilus und Cressida den Prolog und in Heinrich VIII. den Epilog. Durchgehend tritt er in Heinrich V. immer wieder auf. Diese Einzelfigur gibt vor jedem Akt Informationen über Zeit und Ort und wendet sich dabei direkt an das Publikum; sie bittet um dessen Nachsicht, appelliert an seine Phantasie, ist also erzählender und kommentierender Begleiter, dessen Parteilichkeit und Patriotismus durch komische Szenen und Figuren allerdings relativiert wird.17 Die außerhalb des Spiels stehende, einzelne Figur hat mit dem antiken Chor wenig gemeinsam, zumal wir den Gruppencharakter als einen der wenigen unverzichtbaren Charaktermerkmale des Theaterchores definiert haben. Zwar bildet auch Shakespeares "chorus" eine andere Spielebene als die Spielfiguren, er ist dabei jedoch eher erzählend-lyrisch als musikalisch-performativ wie der griechische Chor. Mit seiner direkten Wendung an das Publikum als außerhalb des Spiels stehende Einzelfigur gleicht dieser 'Chor' viel eher dem Prologsprecher der römischen Komödie. Die Bezeichnung als "chorus" ist demnach aus unserer Sicht unangemessen und irreführend.18 In Periides gibt es mit

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Musik im Dienste des Wortes, ein ursprüngliches Ziel bei der Entstehung der Oper - und immer wieder Anlaß für Reformen der Gattung - diente im Sinne der Renaissance und entgegen der Praxis des griechischen Theaters v.a. zur Darstellung des Innenlebens von Individuen. Brecht benutzt, wie wir noch sehen werden, zwar die Oper als Anregung für sein episches Theater, die Chöre sind dabei allerdings stärker vom Kirchenchoral oder dem Agitpropchor beeinflußt als vom Opernchor. Man vergleiche nur den "chorus" vor dem 2. Akt und seine Lobeshymnen auf das englische Heer mit Pistols - ein Vertreter dieses Heeres - Verhalten in der anschließenden 1. Szene des Aktes. Sie dürfte zugleich ein Anzeichen für das bereits mehrfach angesprochene Mißverstehen des Chores als Kommentator und als wesentlich durch den Chorführer mit dem Spiel verbundene Figur sein; diese Bezeichnung ist zudem (wieder) ein deutliches Indiz für die neuzeitlichen Schwierigkeiten mit dem fremden, prä-aristotelischen Theaterinstrument.

"Gower, as choras" eine sogar noch zentralere Figur;19 spätestens sein moralisierender Epilog legt eine Verbindung bzw. Parallele zum "moral interpreter" des mittelalterlichen Heiligendramas nahe. Allegorische Gestalten wie "Time" in The Winter's Tale, die ebenfalls außerhalb der Spielhandlung stehen, entstammen eindeutig dem mittelalterlichen Theater; ein Einfluß des griechischen Dramas auf Shakespeare lag sicherlich nicht vor, ein möglicher Einfluß Senecas ist umstritten, beim Chor jedenfalls nicht sichtbar. Vergleichbar - und das ist für uns wichtiger als historische Einflüsse - sind die allegorischen Figuren wie der "chorus" eher den Gottheiten im euripideischen Prolog oder Epilog, dem Prologsprecher der römischen Komödie oder dem Boten in der Tragödie. Die Lieder wie die der Elfen und Pucks in A Midsummer-Night's Dream lassen sich noch eher als der "chorus" mit dem antiken Chor vergleichen. Eine Parallele ließe sich auch bei den Hexen in Macbeth sehen: Sie sind mit drei Personen eine, wenn auch sehr kleine Gruppe, deren Mitglieder sich zwar unterscheiden, aber durch den bestimmenden Charakter als Hexen keine individuelle Charakteristik entfalten.20 Sie sprechen teilweise gemeinsam, 'kochen' und singen zusammen. Allerdings fehlt das besondere, vermittelnde Verhältnis zum Publikum, die bewußte Distanz zum Spiel. In der Philologie besteht Einigkeit darüber, daß bei Shakespeare und insgesamt dem Elisabethanischen Theater von einem Chor nicht die Rede sein kann. Allerdings wird immer wieder behauptet, Shakespeare habe auf andere Weise chorische Elemente in sein Theater integriert: Shakespeare hat nie das Chorische aus dem Drama überhaupt zu verbannen versucht, wie es später das Drama des Realismus und Naturalismus tun zu müssen glaubte. Das chorische Element gehört vielmehr wesentlich zum Drama Shakespeares und nimmt in ihm mannigfach Gestalt und Form an.21

Es stellt sich dabei jedoch die Frage, was mit 'dem Chorischen' ohne jeden Chor demi gemeint sein könnte. Wolfgang Clemen hält offensichtlich eine neutrale, objektive Position gegenüber anderen Figuren oder gnomisches Sprechen für chorisch ("chorische und neutrale Beobachtung", Kommentar S. 116), er orientiert sich dabei an der falschen Theorie vom Chor als Sprachrohr des Dichters. Sicherlich ist der antike Chor u.a. Echo, Spiegel und Kommentar des Geschehens, er befindet sich (meist) außerhalb der unmittelbaren Aktion. Entscheidend für die Defintion des Chores und damit "chorischer" Elemente sind jedoch, die oben genannten, formalen, dramaturgischen Bedingungen. Als allgemeines Prinzip läßt sich das "Chorische" 19

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Während der "chorus" in Heinrich V. das Spiel eher als Sprecher der Spieler begleitet, ist er hier Sprecher des Dichters und damit eine Art Spielleiter, der auch Pantomimen kommentiert. Insofern ist bei beiden über ein durch den "chorus" dargestelltes oder dirigiertes Spielerensemble ein chorischer Charakter des gesamten Ensembles angedeutet. Auch in Goethes beiden Fausf-Teilen zeigt sich, daß diese weiblichen 'Naturwesen' leicht chorähnliche Züge bekommen können. Clemen Kommentar S. 156. Er meint auch "chorische Äußerung" (Die Tragödie S. 65) oder (mit Margret in Richard III.) eine "chorische Figur" (Kommentar S. 79), sowie "chorische Verdoppelung" (a.a.O. S. 293) usw. bei Shakespeare zu erkennen. Nancy Marie Whitt untersucht insgesamt "choric scenes" (im Titel). Vgl. auch Dieter Borchmeyer (Tragödie und Öffentlichkeit S. 173) über "eine ganze Reihe chorischer Personen" bei Schiller. 37

unserer Meinung nach für eine Definition nicht zureichend fassen (da der Chor keine interpretierbare dramatis persona darstellt). Die Boten der griechischen Tragödie beispielsweise scheinen uns mit ihren gnomischen Sentenzen und ihrer Isolierung von der Handlung dem "chorus" bei Shakespeare oder dem "Chorischen" als Prinzip, wie Clemen es bei Shakespeare zu sehen glaubt, eher zu entsprechen als der antike Chor. Der Chor ist bei Shakespeare tatsächlich "tot" (Reinecke S. 9), auch wenn der Name unter ganz anderen Inhalten fortbesteht. Für Shakespeares "chorus" angemessener ist Peter Biltons Bezeichnung als "Shakespeare's public relations man" (S. 259). Eine große Rolle wie nie zuvor in der dramatischen Literatur spielt bei Shakespeare das 'einfache' Volk. Darin wird vielfach der neuzeitliche Nachfolger des antiken Chores gesehen. In Coriolanus gibt es nur wenige Szenen ohne das Volk, das quasi den Gegenspieler der Hauptfigur darstellt. Es erweist sich allerdings als geistig sehr beschränkt, von Einzelfiguren gelenkt (in Julius Caesar durch die brillante Rhetorik eines Antonius) und ist zudem feige. Manchmal kommt es zu gemeinsamen Ausrufen der Volksmenge, grundsätzlich wird das Volk jedoch, wie in vielen anderen Stücken Shakespeares, durch - oft anonyme - Einzelfiguren repräsentiert. Damit wird es 'natürlich' in die Handlung eingebunden; formal zeichnet sich das Volk durch nichts auffalliges aus: weder ein besonders enges Verhältnis zum Publikum noch gemeinsame Äußerungen etwa in Liedern, ja es existiert tatsächlich als konkrete Bühnenfigur gar nicht. Das Volk bei Shakespeare kann nicht die moderne 'Version' des antiken Chores sein, da beide auf ganz anderen Ebenen anzusiedeln sind. Der Chor ist ein Theaterinstrument, das als solche auch zur 'Figur1 im Stück wird; das Volk im Theater ist jedoch eine inhaltliche Kategorie, die nie als solche eine eigene Form erhält, die "dramatis persona 'Volk'" existiert (alleine aus bühnentechnischen Grenzen der Darstellbarkeit) nur als Abstraktum, aber nicht tatsächlich auf der Bühne.22 Fol22

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Hannelore Schlaffer grenzt in ihrem Buch Dramenform und Klassenstrukturen. Eine Analyse der dramatis persona 'Volk' Chor und Volk im Drama strikt voneinander ab. Schlaffer stützt sich dabei auf Hegels Definition des antiken Tragödienchores als "der substantielle Hintergrund für den Helden" (Schlaffer S. 12). Die für jeweils extreme Ausprägungen wie den sophokleischen Chor oder das Volk bei Shakespeare richtige, bei Schlaffer jedoch kategorische Trennung von Chor und Volk - die die Komplexität des antiken Chores, der zwar nie primär, aber eben auch Volk bzw. Öffentlichkeit darstellt, unter dem Einfluß von Hegel ignoriert - schließt differenzierte dramaturgische Formen von Volk bzw. Chor aus, so daß Schlaffer gezwungen ist, etwa im expressionistischen Drama zwischen Chor und chorischem Sprechen des Volkes zu unterscheiden, eine für uns irrelevante Unterscheidung ("Doch bleibt dieses chorische Sprechen immer bühnentechnisches Hilfsmittel für einen kollektiven Ausdruck und hat nichts mit dem antiken Chor gemein." S. 11). Berechtigt ist andererseits Schlaffers Ablehnung einer rein ideologischen Gleichsetzung von Volk und Chor bei Lukács. Wenn sie feststellt, daß das Volk als dramatis persona "epische Elemente in die Gattung" einbringe (S. 12), so beschreibt sie damit auf formaler Ebene eher den Chor. Das Problem ist, daß Schlaffer mit einem philosophischen Ausgangspunkt ein Theaterinstrument zu definieren versucht, und dabei die primär formale Kategorie 'Chor' mit der eher inhaltlichen 'Volk' auf eine Stufe stellen möchte. Ihre "dramatis persona Volk" ist eben eher ein Abstraktum, das erst in einer gesellschaftsbezogenen Interpretation real wird, jedoch auf der Bühne nur angedeutet ist (v.a. durch Einzelfiguren). Wichtig erscheint uns in diesem Zusammenhang Beckermans Unterscheidung zwischen "formal" und "casual" zustande kommenden Gruppen auf der Bühne (S. 172ff ).

gende Äußerung entspricht in unserem Verständnis dem zentralen Problem für den Chor im neuzeitlichen Theater und dient nicht, wie fiir Hannelore Schlaffer, der Abgrenzung der Figur 'Volk' vom Chor: Volk dagegen lebt stets aus der Spannung zwischen dem Allgemein-Bedingenden des Kollektivs und dem Einzelschicksal. (S. 13)

Volk und Chor sind im neuzeitlichen Theater eben oft nicht mehr eindeutig zu trennen; es kann zwar in der Shakespearetradition Volk geben, das unchorisch (folglich individualisiert oder stumm) auftritt, Chöre oder chorähnliche Gruppen haben jedoch fast immer auch volksähnlichen Charakter, zeigen also die Spannung zwischen privater Einzelfigur und gesellschaftlicher Gruppe. Mit dem Volk auf der Bühne ist Shakespeare über den Sturm und Drang, Schillers Die Räuber oder Wallenstein, Goethes Egmont und Büchner, sowie Puschkins Boris Godunow - um nur einige wichtige Beispiele zu nennen - bis zum Naturalismus prägend. Diese meist durch einzelne Vertreter gezeigte Gruppe ist dabei tendenziell kritisch bis negativ gezeichnet; sie ist das 'Negativ' zur ausdifferenzierten individuellen Figur, ohne formal etwas Gegensätzliches darzustellen. Im Naturalismus, speziell in Gerhart Hauptmanns Die Weber, ist die Bedeutung des Volks (hier eine klar eingegrenzte Gruppe) deutlich vergrößert, es ist zudem als 'Hauptfigur' des Stückes positiver gestaltet; die Weber werden zwar nicht verklärt, sind jedoch voller Sympathie gezeichnet.23 Von einem Chor kann jedoch auch bei Hauptmann nicht die Rede sein;24 die Gruppe wird durch wichtige, exemplarische Figuren gezeigt, nur selten durch Ansammlungen anonymer Menschen. Ihre gemeinsamen Aktionen laufen außerhalb der Bühnenhandlung oder im nicht sichtbaren Hintergrund ab (die Darstellung ihrer Unterdrückung und Unmündigkeit im ersten Akt durch "Viele Stimmen" entspricht der Darstellung des Volks bei Shakespeare); das potentiell chorische Weberlied wird ebenfalls indirekt durch das (schlechte) Vorlesen einer Figur vorgestellt, in der Folge ist es zweimal aus dem Hintergrund zu hören. Formal bieten Die Weber bezogen auf die Gruppendarstellung auf der Bühne nichts neues,25 das Volk bleibt eine indirekt gezeigte Gruppe.26 23

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Eine Gegenposition dazu ließe sich in Henrik Ibsens Ein Volksfeind (En Folkesfiende) sehen. Hier liegt die Sympathie des Autors eindeutig beim von den Bürgern angefeindeten, ehrlichen und moralischen Einzelkämpfer, der sich dementsprechend gegen die Masse äußert: "Der gefährlichste Feind der Wahrheit und der Freiheit - das ist die kompakte Majorität [...] Denn darüber will ich ja gerade reden, daß die Masse, die Mehrheit, diese verdammte kompakte Majorität - daß sie es ist, die das Denken vergiftet und den Boden verpestet, auf dem wir leben." (S. 8Off ). Sem Resümee am Ende lautet: "der stärkste Mann hier auf dieser Welt, das ist der, der ganz für sich allein steht." (S. 112). Schlaffer sprich zu Unrecht von "einem geradezu chorischen Sprechen" (S. 16). Auch die Aufführungen der Hauptmann-Dramen am Deutschen Theater Otto Brahms zeigten ästhetisch kein Interesse am Volk, geschweige denn an einem Chor. In den späteren, mystischen Stücken Hauptmanns wie Hanneies Himmelfahrt gibt es dagegen chorähnliche Gruppen wie die Engel. Vielleicht noch am ehesten durch den Dialektgebrauch, der die Gruppe auszeichnet; auch der antike Chor spricht bzw. singt in den Liedern ein anderes Griechisch als die Protagonisten. Ein geglücktes Beispiel für die mögliche Verbindung von Volk und Chor bietet ein Stück aus dem, wie wir sahen, in der Neuzeit eher 'chorlosen' Bereich Komödie, Alfred de

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2.5 Schillers antiillusionistisches Chorkonzept und Goethes flexibler Chor in Faust II Friedrich Schiller versucht nicht als erster den antiken Chor wiederzubeleben; vor ihm bleibt der Chor in diesen Versuchen jedoch - auch wenn sie wie bei Racine, Milton oder Klopstock in sich als geglückt angesehen werden können, dabei allerdings für die Theaterpraxis unerheblich bleiben (wollen) - eine "Treibhauspflanze" (Klein S. 28). Den historischen Einschnitt in der neuzeitlichen Chorrezeption bildet dabei weniger der Chor in Die Braut von Messina als vielmehr das Vorwort zu diesem Stück Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie}1 Schiller fordert darin eine Neubelebung des Chores, nicht um antike Bedingungen wieder zu installieren, es geht ihm vielmehr um den Chor als antiillusionistisches Element für die neuzeitliche Bühne: Die Einführung des Chors wäre der letzte, der entscheidende Schritt - und wenn derselbe auch nur dazu diente, dem Naturalism in der Kunst offen und ehrlich den Krieg zu erklären, so sollte er uns eine lebendige Mauer seyn, die die Tragödie um sich herumzieht, um sich von der wirklichen Welt rein abzuschließen und sich ihren idealen Boden, ihre poetische Freiheit zu bewahren. 28 Der Distanz zur Antike, w o der Chor ein "natürliches Organ" (Schiller 10 S. 11) war, ist sich Schiller voll bewußt. 29 Die grundsätzliche Opposition des Chores gegen ein aristotelisch geprägtes, dramatisches Theater und die Distanz v o m antikem Chor zu dem in der Moderne - in Über den Gebrauch

des Chors in der Tragödie

zentrale

Punkte - bilden auch für unsere Arbeit den Ansatz zur Einschätzung des Chores in

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Mussets On ne badine pas avec l'amour (Man spielt nicht mit der Liebe): Der Chor der einheimischen Landbevölkerung nähert sich durch seine soziale Charakterisierung stark dem neuzeitlichen Volk im Theater an, ist jedoch zugleich chorisch behandelt, d.h. er ist nicht in Einzelfiguren aufgelöst und stellt nicht eine in die Handlung integrierte Gruppe dar. Dem gesamten Stück entsprechend ist er sehr artifiziell angelegt, stellt dabei allerdings keinen Fremdkörper dar, obwohl er nur in wenigen Szenen auftritt. Dieser Chor ist interessierter Zuschauer, stellt dementsprechende Fragen, liefert Beschreibungen und gibt geistreiche Kommentare ab. Er erinnert dabei an eine Narrenfigur, die auch bei Shakespeare nur begrenzt in das Spiel integriert ist (und unterscheidet sich zugleich deutlich vom dumpfen, aber direkt betroffenen Volk bei Shakespeare). Durch die gemeinsame Vergangenheit mit den Hauptfiguren, die zu Beginn nach langjähriger Abwesenheit an den Schauplatz zurückkehren, ist der Chor mit diesen verbunden und doch distanziert, er stellt eine Konstante im dramatischen Geschehen dar. "Schillers Vorrede zur Braut von Messina, die in der Tat als die tiefgründigste und umfassendste aller modernen Reflexionen über den tragischen Chor der Griechen angesehen werden darf." schreibt Borchmeyer {Das Theater Richard Wagners S. 168) völlig zu Recht. Schiller schrieb diese Einleitung nachträglich, nachdem die Reaktionen auf die ersten Handschriften des Dramas sehr kritisch ausfielen. Schiller 10S. II. Dies wird in der Rezeption der Abhandlung jedoch immer wieder übersehen. Auch Nietzsche verwischt in Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik die ganz unterschiedlichen, von Schiller deutlich getrennten Bedingungen fur den Chor in Antike und Neuzeit.

der Gegenwart.30 Auch wenn diese Überlegungen unmittelbar auf die Theaterpraxis der Zeit (und des gesamten 19. Jahrhunderts) kaum Auswirkungen hatten, zumal der Chor im eigenen Stück den Überlegungen zuwider läuft, sind sie für den Chorgebrauch nach der Theaterreform um 1900 grundlegend, was bei Brechts anti-aristotelischem Konzept besonders deutlich wird.31 Seit Schiller besteht also die Idee eines modernen, von antiquarischen Fesseln befreiten Theaterchores. Der Chor in Die Braut von Messina, 'Ein Trauerspiel mit Chören' ist über weite Strecken des Stückes in zwei sich schroff gegenüber stehende Halbchöre aufgeteilt, die beiden Chöre sind eng in die Handlung verwoben und zeichnen sich durch ihre Parteilichkeit, nur zuweilen durch distanzierte Sentenzen aus.32 Es handelt sich quasi um chorisch behandeltes Volk, auch die häufigen Abgänge der Teilchöre und die langen Redeabschnitte im Gespräch, sowie Gespräche innerhalb der Teilchöre deuten daraufhin. 33 Schiller schrieb die Dresdener Aufführung von Die Braut von Messina betreffend am 6.2.1803 an Körner: Von dem Chor brauchst Du ihm [dem Theaterleiter Opitz] gar nichts zu sagen, denn sie sollen mir das Stück spielen, ohne nur zu wissen, daß sie den Chor der alten Tragödie auf die Bühne gebracht haben. (10 S. 305) Was tatsächlich, beginnend mit der Weimarer Uraufführung von Schiller selbst, in Bearbeitungen für die Aufführungen durchgeführt wird, ist die Auflösung des auf dem Papier der Druckfassung existierenden Chores. Er löst ihn in "5 oder 6 Individuen" (8.2.1803 an Körner, a.a.O.) auf und erfindet für diese individuelle Namen. In der Handschrift des Personenverzeichnisses für das Hamburger Theater sind sechs Namen, sowie "andre Ritter" bzw. "Gefolge" (10 S. 321) erwähnt, nichts erinnert 30

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Allerdings ignoriert Schiller in seiner Abhandlung die Schwierigkeiten, er geht nur auf die Chancen ein, die der Chor bietet. Dementsprechend bildet Brecht für den Hauptteil unserer Arbeit auch den Ausgangspunkt. Wilhelm von Humboldt kritisiert in einem Brief an Schiller den Chor in Die Braut von Messina: Der Chor müsse nicht motiviert werden (sowie seine Freiheit im Geschehen stets behalten) und "als wahrer Chor" (Schiller 39.1 S. 138) eher durch die Gesänge als durch seine Gestalt in der Handlung entstehen. Humboldts Kritik an Schiller ist berechtigt, er definiert den antiken Chor sehr hellsichtig (siehe das Motto auf S. IS), allerdings bleibt er durch diese klassizistische Ansicht eine Anwort auf die Zeitgemäßheit des Chores doch schuldig. Ähnlich klar wie Humboldt - allerdings unter negativen Vorzeichen, was die Zeitgemäßheit des Chores angeht - schätzt Franz Grillparzer den antiken Chor ein: Er sieht ihn als ursprünglichen und filr den Dichter vorgeschriebenen Teil der Tragödie an, "in dem an sich eine dramatische Bedeutenheit zu suchen offenbarer Unsinn wäre." (Grillparzer S. 322, Hervorhebung im Original). Vielversprechender erscheint das Konzept für den Chor im Fragment gebliebenen Drama Die Malteser: Die geistlichen Ritter als Chor stehen als Ordensritter in enger, persönlicher Verbindung zum 'weltlichen' Geschick des Ordens, der durch die Belagerung der Insel Malta bedroht ist; zugleich sind sie religiös distanziert und unpersönlich, sie sind passiv und edel und Mittler zwischen Gegenspielern. Die besondere Mischung aus Religiosität und Rittertum ermöglicht einen Chor auf einer besonderen, zugleich distanzierten wie engagierten Ebene. Ähnlich wie bei Milton und Racine deutet sich an, daß mit Hilfe christlich-religiöser Gruppen ein Chor mit einem Sonderstatus geschaffen werden kann. Siehe auch Borchmeyer Tragödie und Öffentlichkeit S.169f. 41

mehr an einen Chor. Auch in den Text (des sogenannten 'Augsburger Schemas', das wohl fur die Stuttgarter Auffiihrung geschrieben wurde), der an sich nicht geändert wird, greift Schiller ein, indem die Textverteilung verändert wird: Fast alle Chorpartien sind an Einzelsprecher vergeben, sogar das Schlußwort.34 Sprachlich-formal bleibt also nichts vom Chor übrig, die Ritter sind genauso wenig ein Chor wie das Volk in Shakespeares Römerdramen. Der Dramaturg Schiller mißtraut offensichtlich dem Dramatiker und Theoretiker bzw. ist gezwungen, sich an die chorlose Theaterpraxis anzupassen. Das von Schiller geplante 'Einschmuggeln' des Chores führt auf jeden Fall von der Textgrundlage her zur Auflösung dieses Chores auf der Bühne.35 Für die Aufführung seines Stückes wünschte Schiller auch keinen Chorgesang, sondern feierliches Sprechen (Brief an Iffland vom 24.2.1803). Sprechchor und vorsichtig individualisierter Chor sind auch heute für den Theaterchor in Deutschland typisch; in dem Finden des rechten Grades der Auflösung - so daß ein Chor entsteht und dennoch glaubwürdig ist - liegt auch die Problematik und zugleich vielfach der Reiz des Chores. Julius Petersens Aussage über den modernen Theaterchor mag uneingeschränkt für Schillers aufgelösten, 'ehemaligen' Chor gelten, so extrem jedoch nicht fur irgendeine Gruppe, die noch als Chor zu bezeichnen wäre: Für den Chor im modernen Schauspiel gilt als Grundsatz: aus der namenlosen homogenen Gruppe werden Individuen, aus der musikalischen Sprache wird der feierlich-pathetische Vortrag. (S. 125)

In Goethes Faust, besonders im zweiten Teil, gibt es diverse Chöre oder chorähnliche Gruppen. Der 3. Akt, in dem Faust und Helena zusammentreffen, bildet nicht nur ein "in sich abgeschlossenes kleineres Drama" (Goethe 7.2 S. 584), sondern umfaßt auch durchgehend einen antik erscheinenden Chor. Chor wie der gesamte Akt sind uneinheitlich, voll kurz angerissener Variationen. In sich schlüssig und sinnvoll wird dieser Frauenchor nur als spielerischer, die Antike zitierender Chor, der nur über sein 'Chorsein' motiviert ist. Durch das historisierende Spiel erreicht Goethe für ihn einen überzeugenden Status. Er ist formal sehr flexibel und existiert neben den handelnden Individuen, die Gegenfigur ist der extreme Individualist Euphorien (auch der intellektuelle, zynische Mephisto-Phorkyas, der als Spielführer zugleich über allen Figuren steht), zugleich definiert er sich als eng an Helena und dann an Faust angeschlossener Chor. Die Lieder singt er zum Teil alleine auf der Bühne, er benutzt für sich den kollektiven Singular, aber auch den Plural. Das moderne Spannungsverhältnis zwischen Einzelnem und Gruppe wird dennoch, v.a.

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Nur an zwei Stellen sprechen zu dritt "Alle Ritter" eines Halbchors (V. 1957-1960 und V. 2396-2397). Im 20. Jahrhundert, etwa bei Hansgünther Heymes Inszenierung von Die Braut von Messina, kommt es trotz überwiegend vereinzelten Stimmen durch die (körperliche) Inszenierung zur Darstellung eines Chores. Für die Aufführungen des 19. Jahrhunderts ist das jedoch kaum anzunehmen.

durch die vom Chor distanzierte Chorfiihrerin thematisiert.36 Zudem zeichnen Tanz und eine naive Körperlichkeit diesen Mädchenchor aus. Dabei erinnert er zum einen an den griechischen Tragödienchor, so wenn er Euphorien zur Mäßigung rät, wenn er ein verallgemeinerndes Hochzeitslied singt oder (ganz entgegen seiner sonstigen Naivität) einen komplizierten Trauergesang um Euphorion/Byron. Thematisch ist der Akt eine Variation der euripideischen Stücke Helena, Orestes und Die Troerinnen und ihrer Chöre.37 Er spiegelt auch den Chor des Satyrspiels wider, wie sich in seiner Lüsternheit und Natumähe zeigt.38 Stärker erscheint uns jedoch die - von Goethe offensichtlich nicht gesehene - Parallele zum Chor der aristophaneischen Komödie: Zeitweise ist er (gegenüber Mephisto-Phorkyas) parteiisch und aggressiv oder auch lächerlich großsprecherisch. Im zweiten Teil des Aktes ähnelt der Chor, wie die gesamte Komposition, stark dem eines Singspiels. Seine 'Auflösung' in Natur am Ende gibt ihm eher eine romantische als antike Note,39 zugleich wird währenddessen jedoch Dionysos bei einem Fest mit Satyrn beschrieben.40 Der Chor im 3. Akt von Faust II stellt eine gelungene und höchst ironische Auseinandersetzung der Moderne mit dem antiken Chor dar. Er zeigt dabei viel deutlicher als Schiller in Die Braut von Messina einen vielversprechenden spielerischen Ansatz zum Umgang mit dem Chor. Auf die Theaterpraxis des 19. Jahrhunderts ist die Wirkung jedoch (wieder einmal!) äußerst gering. Das liegt zum einen daran, daß der zweite Teil von Faust überhaupt nur sehr zögerlich inszeniert wurde; zum anderen, daß, wenn er denn gespielt wurde, gerade der Chor den starken Streichungen zum Opfer fiel. In Otto Devrients Weimarer Inszenierung von 1876 sprach nur die Chorführerin, die anderen Chormitglieder wurden zu Statisten. Die Chancen dieses Chores wurden in der Bühnenrezeption von den Schwierigkeiten, die er bietet, überlagert. Ein wichtiger Aspekt dabei - und generell für den Chor im Theater der Neuzeit - dürfte die Bühnenform sein. Goethes 'Lesedrama'

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Die streckenweise deutlich aus dem Chor ausscherende Chorfiihrerin charakterisiert die anderen einmal folgendermaßen: "Eine widerspricht ja stets / Der andern heftig, überquer die andern ihr; / In Freud und Schmerz nur heult und lacht ihr gleichen Tons." (V. 91309132). Demnach existiert der einheitliche Chor nur in emotionalen Extremsituationen, im grauen Alltag kann er nicht 'funktionieren'. Durch diese interessante Definition der Chorentstehung ist jede 'natürliche' Chormotivation obsolet, zugleich kann der Chor nur im 'großen' Drama existieren. Auch das Satyrspiel Kyklops und das Fragment Phaeton (im Hinblick auf die Figur Euphorion) hatten großen Einfluß auf den Akt (siehe dazu Geizer Goethes 'Helena"). Der nach dem Ortswechsel schlafende Chor erinnert an den Beginn von Aischylos Schlußteil der Orestie und den Chor der Eumeniden, allerdings erweisen sich die Mädchen überhaupt nicht als furchteinflößende Erinnyen. Der Akt entstand ursprünglich 1826 als 'Helena im Mittelalter, Satyr-Drama. Episode zu Faust.' In Shelleys Prometheus Unbound gibt es auch verschiedene Chöre von Naturkräften. Hier kommt Goethes Ziel, im Helena-Akt das Klassische und das Romantische zu versöhnen, deutlich zum Ausdruck (Geizer Goethes 'Helena' S. 216ff.). An dieser Stelle wird von der Chorführerin, die sich nicht in Elemente oder Wesen der Natur auflöst, auch die Frage nach Individualität oder Persönlichkeit gestellt: "Wer keinen Namen sich erwarb noch Edles will, / Gehört den Elementen an;" (V. 9981-9982), der Chor stirbt demnach nicht, lebt aber auch nicht als "Person" (V. 9984). 43

überforden eine Stadttheaterbiihne, auch durch die architektonisch festgelegte Bühnenform: Die sich seit der Renaissance entwickelnde und durch die Oper im Theater 'zementierte' Guckkastenbühne birgt für Antikeninszenierungen und besonders den Chor oft unterschätzte Widerstände. Auf dieser Bühne kann der Chor in der Regel nur hinter den Protagonisten agieren, was seiner besonderen Nähe zum Publikum jedoch diametral entgegengesetzt ist und ihn im wahrsten Sinne leicht in den 'Hintergrund' drängt. Eine vielfältige, flexible Theaterfigur 'Chor', wie in Faust II angelegt, kann so kaum entstehen.

2.6 Auflösung des Chores in Antikeninszenierungen des 19. Jahrhunderts Schiller plante (nach der erfolgreichen Berliner Auffiihrung von Die Braut von Messina), für Iffland in Berlin den König Ödipus zu bearbeiten, wobei er bezeichnenderweise "blos allein die Chorgesänge freier" behandeln wollte (12.7.1803 an Iffland, 32 S. 53). Unter der Direktion Goethes wurde 1809 in Weimar Antigone gespielt, die (heute unglaublich trivial wirkende) Bearbeitung von Friedrich Rochlitz löst den Chor häufig auf, in der Parados sprechen zwei Chorführer, der Chor spricht nur bei Textwiederholungen im Unisono. August Klingemanns Oedipus und lokaste macht aus dem Chor in der Vorlage des Sophokles eine unbedeutende Nebenrolle, einen thebanischen Alten. August Wilhelm von Schlegel verzichtet in Ion, der auch in Weimar aufgeführt wurde, völlig auf den Chor. In der Bühnenpraxis des 19. Jahrhunderts wird, wie sich hier andeutet, mit den antiken Stücken insgesamt freier und bedenkenloser umgegangen als heute; auch die 'Klassiker' Goethe (als Theaterdirektor) und Schiller (als Dramaturg) scheinen keine akademisch motivierten Hemmungen gekannt zu haben. Der freie Umgang mit den antiken Vorlagen wirkt sich besonders auf den fremden und ungewohnten Chor aus, er wird verändert und gekürzt, auf eine Figur reduziert oder ganz gestrichen.41 Dabei läßt sich die (bereits oben erwähnte) Hervorhebung des Chorführers oder seine Umwandlung in eine Dienerfigur, entsprechend der klassischen französischen Tragödie, beobachten.42 Auch die für ihre Gruppen- und Ensembleszenen berühmte Truppe des Herzogs von Meiningen (siehe unten S. 87f.) entzog sich einer Auseinandersetzung mit dem antiken Chor. Die Meininger machten mit der Inszenierung von Shakespeares Julius 41

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Auch aus organistorischen bzw. finanziellen Gründen waren die zahlreichen kleinen, deutschen Bühnen mit einem Chor überfordert. Für Volksszenen gab es kaum Statistenpersonal, oft mußten Soldaten des jeweiligen Fürsten aushelfen (siehe Lohmeyer S. 114). Wenn sich Schiller in seiner Abhandlung über den Chor so strikt dagegen wendet ("Die Abschaffung des Chors und die Zusammenziehung dieses sinnlich mächtigen Organs in die charakterlose langweilig wiederkehrende Figur eines ärmlichen Vertrauten war also keine so große Verbesserung der Tragödie, als die Franzosen und ihre Nachbeter sich eingebildet haben." 10S. 11) reagiert er also auf die unmittelbare Praxis auch in Deutschland; zugleich sahen wir in Die Braut von Messina und seinen eigenen Bühnenbearbeitungen dieses Stückes, daß Schiller selbst seine Forderungen in der Praxis nicht unbedingt einhielt.

Caesar (von 1867) Geschichte, besonders mit den Massenszenen. Bei ihren Antikeninszenierungen benutzten sie jedoch die sehr erfolgreichen, den Chor auflösenden Bearbeitungen Adolf Wilbrandts. In seiner Elektro werden aus dem Chor eine alte und eine junge Dienerin. Wilbrandt leitete später das Burgtheater und erzielte mit König Ödipus von 1886 in seiner eigenen Bearbeitung einen großen, bis zum Ende des Jahrhunderts andauernden Erfolg. Die Tragik der antiken Tragödie ist gemildert und in Melodramatik umgebogen, das Bühnenbild war jedoch bemerkenswerterweise eher abstrakt gehalten. Der Chor wird in der Bearbeitung in drei Bürger aufgelöst. In der Auffuhrung jedoch traten 24 stumme Figuren, wie Diener und Dienerinnen, Priester, Jünglinge und Bewaffnete auf; sie bildeten "in wechselnder Stärke eine Art stummen Chor, der gelegentlich mimetisch mitagierte" (Flashar Inszenierung S. 102). Die Aufführung zeigt also ein Paradox (dem wir v.a. im 7. Kapitel wiederbegegnen werden): Der antike Chor ist aufgelöst, durch Bewegungen einer anderen chorähnlichen Gruppe, nicht durch Sprache oder Gesang, deutet sich zugleich eine neue Art von Chor an.43 Die erste Aufführung einer griechischen Tragödie in deutscher Übersetzung fand 1841 in Potsdam unter der Leitung Ludwig Tiecks statt, Antigone in der Übersetzung Johann Jakob Christian Donners. Die Chorlieder wurden von Felix Mendelssohn Bartholdy vertont, es handelt sich um Schauspielmusik und keine Oper. 16 männliche Mitglieder der Hofoper übernahmen die Gesangspartien, die Sprechpartien des Chores in den Epeisodia entfielen auf den Chorführer. Die Aufführung wurde zu einem großen Erfolg; Mendelssohns Chormusik wurde bei zahlreichen Inszenierungen, auch im Ausland nachgespielt; er selbst und andere Komponisten versuchten weitgehend erfolglos auch die Chöre anderer Tragödien zu vertonen. Die Vertonung des Chores ging in der Aufführung mit seiner Isolierung einher: Er war mit den Instrumenten zusammen im Orchestergraben postiert, es liegt hier also kein spielender Theaterchor vor. Bei dieser puristischen, klassizistischen Chorbehandlung handelt es sich um eine Gegenposition zu der u.a. bei Wilbrandt beobachteten naturalistischen Vorgehensweise.44 Mit der Isolierung des Chores bei dem einen und seiner Auflösung beim anderen zeigen sich zwei für den Umgang mit dem Chor seit der Renaissance bezeichnende 'Lösungen', bei denen dem Problem 'Chor' aus dem Wege zu gehen versucht wird.45 Beide Ansätze bieten in extremer Ausprägung für

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Einige Jahre spater benutzt Hauptmann in Die Weber akustische Mittel, wie anonyme Stimmen aus dem Hintergrund, zur Darstellung einer Gruppe. Sowohl bei Hauptmann wie bei Wilbrandt zeigt sich zudem, daß bei der dramatischen Fixierung der Gruppen die beschreibenden Regieanweisungen wesentlich größeren Raum als bisher einnehmen. 1881 wurde bei der ersten Aufführung einer griechischen Tragödie am Burgtheater (unter Dingelstedt) überhaupt die Antigone von Donner/Mendelssohn gespielt - es war ein großer Mißerfolg. Die Antikeninszenierungen des neuen Intendanten Wilbrandt lassen sich als unmittelbare Reaktion auf diese Inszenierung deuten. Mit der Isolierung des Chores, aber auch der Betonung der Kommentarfunktion steht wohl auch die These über den antiken Chor in Verbindung, der Chor sei im Spiel ein Zuschauer (August Wilhelm Schlegel). Eine Zuschauerfunktion hat dabei, wie wir sahen, durchaus ihre Berechtigung, sie wird jedoch leicht zu isoliert gesehen, gerade bei Schlegel (siehe obenS. 12). 45

das 20. Jahrhundert keinen positiven Ansatz für den Umgang mit dem Chor,46 stellen jedoch Tendenzen dar, denen wir auch im Hauptteil der Arbeit begegnen werden. Im rechten Maß angewandt können sie durchaus beim zeitgemäßen Einsatz des Chores hilfreich sein.

2.7 Vom Chorgebrauch in der Neuzeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ausgehender Ausblick auf die Typologie für das 20. Jahrhundert Wir beobachteten ausgehend von Seneca die Isolierung des Chores und seine damit einhergehende zunehmende Künstlichkeit. Eine Gegenreaktion zur Isolierung und Künstlichkeit der Gruppe ist die Auflösung in Einzelfiguren, zum Teil verbunden mit der wichtiger werdenden Kommentarfunktion. Die relativ wenigen positiven und für das Theater auffallend wirkungslosen Ausnahmen legitimieren den Chor religiös, mit Naturkräften oder durch einen rein spielerischen Ansatz. Schiller legt (theoretisch) überzeugend dar, daß der moderne Chor den zeitgenössischen Bühnenbedingungen Rechnung tragen muß und keinen musealen Wert haben soll, dabei jedoch durchaus gegen Bühnenkonventionen gerichtet sein kann. Das Volk läßt sich aufgrund der ganz anderen Wertigkeit des Begriffs nicht als moderne Alternative zum Chor sehen, obwohl teilweise Überschneidungen zu beobachten sind. Hier wie bei der Frage nach 'chorischen' Elementen wird immer eine möglichst klare Begriffsdefinition nötig sein. Wir beobachteten zudem - und werden dies auch im 20. Jahrhundert sehen - daß der Theaterchor nicht automatisch ausschließlich vom antiken Chor beeinflußt ist. Das Verhältnis des Einzelnen zur Gruppe stellt wohl das Kernproblem für den Umgang mit dem Chor in der Neuzeit dar. Entsprechend gestaltet sich der Gruppencharakter des Chores und seine Geschlossenheit (von der Auflösung in eine Figur bis zum abgeschlossenen Gesangschor) als jeweilige Antwort auf dieses zentrale Problem des Chorgebrauchs. Damit zusammenhängend muß ein Äquivalent bzw. Ersatz für den Sonderstatus des antiken Chores gefunden werden, die Kategorie der Legitimation des Chores (etwa spielerisch-flexibel bei Goethe oder differenziert in die Handlung integriert bei Racine oder Milton) ergibt sich hieraus. Aus beiden vorherigen Kategorien entwickelt sich für den Chor konkreter die kategorische Frage nach seinem Verhältnis zu den Einzelfiguren, der Aktion und den Zuschauern (eng an die Hauptfigur angelehnt wie in Faust II, Schillers geplanter zwischen aktiver und passiver Haltung oszillierender Chor in Die Malteser usw.). Schließlich stellt sich die grundsätzliche Frage nach der dramaturgischen Funktion des Chores innerhalb der Aufführung (etwa als Sprachrohr des Dichters im deutschen Drama 44

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Ludwig Tieck, der Verantwortliche für die Potsdamer Aufführung von 1841, äußerte sich zwar positiv darüber, daß ein altes Stück sich als spielbar erwiesen habe, deutet in einem Brief jedoch auch seine Vorbehalte gegen die Isolierung des Chores an: Durch die "reiche Instrumentierung" werde der Gesang unverständlich - der Chor nähert sich also doch dem Opernchor an - ferner sei "störend, daß der Chorgesang sich als einzelnen, für sich bestehenden Teil absonderte" (Tieck S. 372).

der Reformationszeit, komisch bei Goethe oder episch-verknüpfend wie Miltons 'sehender1 Chor, sowie der von Schiller geforderte antiillusionistische Charakter des Chores). Diese vier Kategorien, deren Relevanz nach diesem Kapitel zumindest angedeutet sein dürñe, bilden den Ausgangspunkt für unsere Typologie des Chores im Theater des 20. Jahrhunderts.

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ΠΙ. Hauptteil: Der Chor im 20. Jahrhundert

1. Bertolt Brechts Auseinandersetzung mit dem Chor und die anhand Brechts Chorgebrauch anschaulich gemachte Typolgie des Chores im Theater des 20. Jahrhunderts

Ich wollt in meiner Halle Chöre versammeln (Friedrich Hölderlin, Am Tage der Freundschaftsfeier)

1.1 Einführung zu Brechts Chorgebrauch Der Chor nimmt in Bertolt Brechts dramatischem Schaffen eine zentrale Rolle ein. Zum einen kommt dem Dramatiker des epischen Theaters auf formaler Ebene die verfremdende, 'anti-aristotelische' Funktion des antiken Theaterchores entgegen, zum anderen ist dem Marxisten Brecht der kollektive Aspekt des Chores inhaltlich von großer Wichtigkeit. Wie bei kaum einem anderen Theatertheoretiker, Dramatiker oder Regisseur dieses Jahrhunderts nimmt der Chor eine wichtige Stellung ein. Allerdings spielt dieses Element des Brechtschen Theaters nur eine marginale Rolle in seiner Rezeption. Insgesamt gilt ohnehin - zumindest für den Westen Deutschlands - daß die Bedeutung Brechts im Theater und der Forschung inzwischen recht gering ist; Brecht ist ein Klassiker, der kaum noch neugierig studiert oder inszeniert wird (woran auch die Erben mit ihrer rigiden Rechtevergabe mitschuldig sind).1 In den zumindest in der Schule noch behandelten und im Theater des öfteren aufgeführten 'Klassikern' Brechts spielen Chöre zudem eine vergleichsweise geringe Rolle. Die indirekten Wirkungen - Brechts im allgemeinen und seiner Chorbehandlung im speziellen - auf das gegenwärtige Theater mögen dabei durchaus von großer, im Einzelnen aber eben schwer nachvollziehbarer Bedeutung sein. Zunächst vielleicht überraschenderweise ergeben sich die wegweisenden Aspekte von Brechts Chorbehandlung v.a. aus seinen theoretischen Texten und einigen Stücken und weniger aus der praktischen Theaterarbeit. Die Anregungen Brechts für den Umgang mit dem Chor beziehen sich nicht auf konkrete, spezifische Chorlösungen, sondern auf den Stückhintergrund oder das dramaturgische Konzept; hier liegen deshalb die für unsere Arbeit relevanten Beobachtungen über den Chor bei Brecht. Die Ideen und Aspekte dieser Chorbehandlung Brechts zeichnen sich allerdings durch eine immense Vielfältigkeit und Flexibilität aus; deswegen bietet es die Sache selbst an, dieses Kapitel als Ausgangspunkt für die Typologie des Chores im 20. Jahrhundert zu nehmen. Nahezu alle Arten der Chorbehandlung sind bei Brecht zumindest angedeutet, wenn auch nicht ausgeführt. Damit läßt er sich als Folie für die möglichen Chorlösungen sehen, deren praktische Umsetzung vielfach erst in den Auch das 'Brecht-Jahr" 1998 gab über Brechts Klassizität hinaus wenig neue Impulse.

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Beispielen der folgenden Kapitel erfolgt. Brecht ist mit seiner aktiven Wirksamkeit im Theater von den 20er Jahren bis zu seinem Tod 1956 zeitlich Vertreter der Mitte des Jahrhunderts und stellt auch inhaltlich die 'Mitte' unserer Typologie dar, ohne daß automatisch eine direkte Abhängigkeit der anderen Regisseure behauptet werden soll. Es dürfte allerdings kein Zufall sein, daß Brecht eine "nicht-aristotelische Dramatik" proklamiert,2 wir den Chor an sich als wesentlich 'anti-aristotelisch' einschätzen und zugleich Brechts Chorkonzepten zentrale Bedeutung zumessen.

1.2 Brechts Antigone·, der Chor in seiner Doppelfunktion als Kommentator und Mitspieler sowie das chorähnliche Schauspielerensemble Brechts einzige Bearbeitung eines antiken Dramas ist Die Antigone des Sophokles (mit starkem Bezug auf die Fassung Hölderlins, "Nach der Hölderlinschen Übertragung für die Bühne bearbeitet"). Die Uraufführung fand 1948 in Chur statt, mit einem Chor von vier Männern. Nach dieser Aufführung legten Brecht und sein Bühnenbildner Caspar Neher ein Modellbuch vor, das Anleitung für künftige Aufführungen sein sollte. Die Aufführung in der Schweizer Provinz fand wenig über den Ort hinausgehende Resonanz, auch dem Stück bzw. dem Antigonemodell blieb eine große direkte Wirkung versagt.3 Der kleine Churer Chor bzw. Brechts Überlegungen dazu im Modellbuch zeigen 'in nuce' wichtige Seiten seines Umgangs mit dem Chor auch an anderer Stelle: Aus der Doppelfunktion des Chors (Kommentator und Mitspieler) muß man nicht viel Wesens machen. 4

Die "Doppelfunktion" ist ein entscheidender Schlüssel zu Brechts dramaturgischem Verständnis dieses Theaterinstrumentes. Zugleich deutet sich in dieser Äußerung sein flexibler, pragmatischer Umgang mit dem Chor an. Die Mitspielerfunktion des Chores in Antigone - diese Definition bewegt sich ganz deutlich in der aristotelischen Tradition - zeigt sich schon bei der Personenbezeichnung "Die Alten von Theben" (25 S. 82).5 Diese Gruppe ist konkreter als bei Sophokles mit dem Geschehen und den Einzelfiguren verbunden, sie nimmt immer

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Zum insgesamt durchaus ambivalenten Verhältnis Brechts zu Aristoteles siehe Flashar Aristoteles und Brecht. Die westdeutsche Uraufführung fand 1951 in Ulm statt, die in der DDR im selben Jahr in Greiz. Brecht 25 S. 102. Brecht vermerkt jedoch im Modellbuch: "Es wurde übrigens darauf verzichtet, die Alten zu Greisen zu machen, da weder Weisheit noch Poesie hauptsächlich bei Greisen zu finden sind, und um Kriege zu machen, muß einer nicht alt sein, sondern nur zu den Herrschenden gehören." (25 S. 102). Damit deutet er hier an, was er an anderer Stelle ausdrücklich äußert, daß der Chor nämlich keineswegs das gesamte (beherrschte) Volk darstelle. Diese 'Rolle' weist er vielmehr dem Publikum zu (25 S. 118).

eine eindeutige Haltung ein.6 Das Religiöse (und vermeintlich Schicksalsgläubige) des Chores ist bei Brecht reduziert, dafür ist er stärker direkt auf die Personen hin orientiert. Dennoch ist auch bei diesem realistischer motivierten Chor das Element der Selbstreflexion, der Bezugnahme auf sein 'Chorsein' vorhanden.7 Die Alten bei Brecht bleiben also Chor, der neben bzw. in Verbindung mit seiner Bürgerrolle auch diese selbstreflexive, chorspezifische Rolle ausfüllt. Im zweiten Teil des Stückes, nach der Hämon-Szene, holen sich die Alten vom "Gerätebrett" ihre "Bacchusstabmasken" (25 S. 77). Der Chor ist folglich zeitweise maskiert, auch Kreon benutzt einen Maskenstab, noch bevor der Chor das tut (25 S. 112). Die Maskierung deutet eine kultische Rolle an, auch das zeremonielle Aufstellen von Opfergaben durch den Chor vor der 'dahingehenden' Antigone (25 S. 126). Es soll dabei jedoch deutlich werden, daß die vermeintliche Religiosität politische Taktik als wahre Motivation hat;8 der Chor und der Herrscher Kreon unterscheiden sich hierin nicht prinzpiell, nur graduell. Der Einsatz von Stabmasken (mit zwei unterschiedlichen Seiten) relativiert die kultische Rolle des Chores, er kann frei über seine beliebig einsetzbare Religiosität verfügen. Sie wird durch diese primitive und begrenzte Art der Maskierung - häufig halten die Choreuten die Masken neben ihr Gesicht - angedeutet und zugleich relativiert und verfremdet. Auch der Gebrauch von Musik, zum Teil durch Schlagen an ein Becken von den Choreuten selbst erzeugt, beschreibt einerseits die vermeintliche Rolle des Chores als Mitspieler und stellt sie zugleich distanzierend in den Rahmen des Spiels. "Als Material, nicht als eigentliche Musik [...] nicht als Stimmungsfaktor" (Hans Cuijel in Materialien S. 140) wird sie eingesetzt. Auch die Sprache setzt Brecht nicht musikalisch-emotional ein; die Texte der meisten Chorlieder sind auf Einzelsprecher

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So mischt sich der Chor zwar vermittelnd, aber loyal zu Kreon, - anders als bei Sophokles, wo es nur einen Einwurf gibt - mit drei Einwürfen in das Streitgespräch Antigone-Kreon ein. Das zweite Lied wird in Gegenwart Kreons quasi für ihn aufgeführt, der religiöse Inhalt, den es bei Sophokles hat, wird stark, z.T. auf den gegenwärtigen Fall hin, abgewandelt (zum Verhältnis des Stücks zur antiken Vorlage siehe Flashar Durchrationalisieren). In der Hämon-Szene wird eindeutiger als in der antiken Vorlage ein Sinneswandel des Chores angedeutet. Die folgende Wechselklage zwischen Antigone und dem Chor wird bei Brecht um Teile des bei Sophokles nachfolgenden Chorliedes als Gesprächsbeiträge des Chores erweitert. Im Sinne ihres Wandels greifen die Alten auch anders als in der Vorlage in das Gespräch Kreons mit Teiresias ein; im folgenden wird ausdrücklich die Situation der Alten als Bürger einer gefährdeten Polis zum Hauptthema für den Chor; der endgültige Wandel der Figur ist im Kommentar des Modellbuchs verdeutlicht: "Die Alten umringen Kreon. Ihr Ton wechselt völlig, sie sprechen mit ihm nun als die Herren." (25 S. 144). Die Verbindung von beidem zeigt sich etwa in V. 744ff., wo die Trauer mit einem "Aus dem Takt"-Kommen verbunden ist. An dieser Stelle hat Brecht den Selbstverweis auf den Choitanz gegenüber dem Text bei Sophokles / Hölderlin sogar hinzugefügt. "Mit Unwillen betrachtet sie [Antigone] die Totengeschenke, mit denen sie abgespeist werden soll." (25 S. 126). Aus dem Modell ergibt sich auch (25 S. 135ff), daß Kreon den Maskenstab gegen Hämon und Teiresias quasi als Waffe mißbrauchend verwendet; er dient ihm also (in seinem Zorn) als Instrument, die Scheu vor dem Kultobjekt kann demnach nicht allzu groß sein. 53

verteilt, es kommt ihm auf die Verstehbarkeit an.9 "Das Chorlied 'Ungeheuer ist viel' ist als Wandelchor" (25 S. 102) konzipiert; die Alten gehen meditierend herum und bleiben, wenn sie sprechen, stehen. Der Text ergibt sich an dieser Stelle also naturalistisch-psychologisierend begründet aus dem lauten Denken des Chores.10 Wir sahen, daß der Chor durch seine Mitspielerfunktion in Brechts Antigone eine (zumindest sozial) klar definierte Rolle spielt. Als gesellschaftlich-sozial bestimmte Figur entspricht dieser Chor nicht dem antiken Theaterchor, er hat weder als Rolle noch als Theaterinstitution im Rahmen des Auffiihrungsprozesses einen Sonderstatus inne. Es zeigte sich jedoch auch bereits, daß der Chor der Alten widersprüchliche, verfremdende Wirkungen auslöst. Durch diese verfremdenden Effekte durchbricht er allerdings die Spielebene noch nicht 'bewußt'; er bleibt, wie die Einzelfiguren mit ihren Widersprüchen, ein in das Spiel integrierter Mitspieler. Der Chor hat, entsprechend der oben zitierten Äußerung Brechts aus dem Antigonemodell allerdings neben der Mitspieler- auch eine Kommentarfunktion. Dieser zweite Teil der "Doppelfunktion" entspricht ebenfalls nicht genau der des antiken Chores. Brecht vereinfacht den griechischen Chor in seiner Festlegung auf die Mitspielerfimktion, wodurch der Chor aktiver und im Geschehen eindeutiger charakterisiert wird, und tut dies auch bei der Kommentarfunktion: Denn der antike Tragödienchor ist, wie wir sahen, nie eindeutig als außerhalb bzw. über dem Geschehen stehender Kommentator anzusehen." Die Äußerungen der Alten in Brechts Antigone weisen an einigen Stellen über die Spielebene hinaus. Dies geschieht eindeutig zweimal durch (das aktuelle Geschehen durch den Gebrauch der Vergangenheitsform bei einem Kommentar) historisierende Erzählerworte, die sich nicht an Figuren im Stück richten, sondern nur an das Publikum bzw. die vom Spiel distanzierten Mitspieler gewandt sein können: "Und wandte sich um und ging", heißt es am Ende nach dem Abgang Kreons (Brecht 8 S. 241).12 Der Kommentar des Chores bedeutet eine Historisierung, die das Geschehen verfremdet; der Chor wird damit kurzzeitig zum Erzähler, ohne wegen seiner davon zu trennenden Mitspielerfunktion grundsätzlich wie ein Erzähler 'über1 dem Geschehen zu stehen.13

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Allerdings muß auch Brecht einräumen, daß gerade die Chorlieder dieses Stückes "bei einmaligem Anhören kaum voll verstanden werden" können (Materialien S. IIS). Flashar stellt fest, daß Brecht entgegen seinem Anspruch des "Durchrationalisierens" viele Dunkelheiten Hölderlins bestehen läßt (Durchrationalisieren S. 745). Für dieses Lied gibt es keinen ausdrücklichen Hinweis für eine Aufteilung des Textes. Anders verhält es sich bei den Parabasen des Komödienchores. Der Chor in Brechts Tragödienbearbeitung Antigone hat in der Tat streckenweise Ähnlichkeit mit dem antiken Komdödienchor. Die andere Stelle beginnt fast wortgleich nach Antigones letztem Abgang. Diese beiden Stellen scheinen im übrigen die einzigen in die Aufführung übernommenen, sogenannten "Brückenverse" zu sein, die bei den Proben von den Darstellern oder dem Inspizienten zur Unterstützung des historisierenden Spiels gesprochen wurden. Andere Kommentare wenden sich auch in der dritten Person an die anwesenden Schauspieler, bleiben jedoch in der Gegenwart. Der Kommentar, den die Chorlieder zum Geschehen liefern, bleibt dagegen deutlich an die Figur, den Mitspieler Chor, gebunden. Besonders auffällig im neugedichteten Lied vor dem Auftritt des Teiresias, das sich ganz offensichtlich gegen Antigone wendet.

Die Bühne der Churer Antigone wurde von Caspar Neher entworfen: Vor einer Halbrunde von Schirmen, beklebt mit geröteten Binsen, stehen lange Bänke, auf denen die Schauspieler ihr Stichwort abwarten können. In der Mitte lassen die Schirme eine Lücke, in der die sichtbar bediente Schallplattenapparatur steht und durch welche die Schauspieler, wenn mit ihrer Rolle fertig, abgehen können. Das Spielfeld wird durch vier Pfähle gebildet, von denen die Skelette von Pferdeschädeln hängen. Im Vordergrund steht auf der linken Seite das Gerätebrett mit den Bacchusstabmasken [...]"

Innerhalb der Bühne befindet sich ein (hell erleuchtetes) Spielfeld, in dem sich das eigentliche Drama ereignet.15 Gerahmt wird dieses Spiel durch die auf den Bänken sitzenden, jeweils gerade nicht spielenden Schauspieler: Die auf den Bänken im Hintergrund ihre Auftritte abwartenden Schauspieler können lesen, kleinere Bewegungen ungeniert machen, auch, um die Schminke zu erneuern usw., gelegentlich unauffällig abgehen.16

Dadurch, daß sich auch die vier Choreuten, wenn sie keinen Text haben, auf die Bänke setzen, werden sie den Protagonisten angenähert, wobei sie vom selben räumlichen Rahmen eingefaßt sind. Sowohl für die gerade nicht spielenden Protagonisten wie für den Chor wird durch den Raum permanent die Möglichkeit gegeben, zum inaktiven Zuschauer zu werden, eine Funktion, die wir als eigentlich chorspezifisch definiert haben; insofern werden auch die Protagonisten dem Chor angenähert, das Ensemble aller Schauspieler wird deutlich als solches gezeigt. Das gesamte Ensemble erhält also chorischen Charakter, indem es quasi sich selbst beim Spiel zusieht und einen über die Einzelrolle (oder den Chor) hinausgehenden Gruppencharakter zeigt; der Status der Schauspieler verändert sich gegenüber dem im naturalistischen, auf ungebrochener Fiktion beruhenden Theater, ähnelt insgesamt mehr dem des antiken Theaterchores - der Chor alleine hat hier keinen besonderen Status, dafür die Schauspieler insgesamt. Auch durch die offen zur Verfügung stehenden Requisiten und die Kostüme werden alle Figuren sichtbar "uniform zusammengefaßt" (Cuijel in Materialien S. 139). Als Gruppe der Darsteller sind alle Schauspieler eine Einheit, die vier Choreuten stellen nur einen Teil davon dar.17

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Brecht 25 S. 77. Auch die Bühne zeigt kultische Elemente, v.a. durch "die barbarischen Kriegskultpfähle" (25 S. 78). Brecht 25 S. 92. In diesem Sinne läßt sich auch folgende Äußerung über die unproblematische "Doppelfunktion des Chores" (die Fortsetzung des Zitats von oben) auf das gesamte chorische Ensemble und grundsätzlich auf das Verhältnis von epischem Darsteller zur von ihm dargestellten Figur übertragen: "Man kann denken, daß der Chor sich einfach ausleiht zur Darstellung der Thebanischen Großen in der Handlung." (25 S. 102).

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1.3 Der kommentierende Chor in Brechts Theater (-theorie) und das Prinzip der Verfremdung Die Chorlieder in Sophokles' Antigone sind eine Mischung aus Teilnahme am Geschehen und gleichzeitiger Distanz dazu; Brecht vereinfacht und verdeutlicht die Wirkung des Chores in beide (an sich entgegengesetzte) Extreme, wenn er einerseits historisierendes Erzählen einführt und andererseits die Lieder stärker in die Spielebene hineinzieht. Er spricht von "Durchrationalisierung" (25 S. 74) des antiken Dramas, wobei er hier wie auch an anderer Stelle ausdrücklich betont, daß es ihm um den heutigen Gebrauchswert des Alten gehe." Die Abweichung seines Chores gegenüber der Antike dürfte Brecht also durchaus bewußt gewesen sein, dennoch übernimmt er im Kern mit der distanzierenden Kraft der Kommentarfunktion ein wichtiges Element des antiken Chores: Die hellenische Dramaturgie versucht durch gewisse Verfremdungen, besonders durch die Einschnitte durch die Chöre, etwas von der Freiheit der Kalkulation zu retten, die Schiller nicht weiß, wie sicherzustellen.19

Mit "Verfremdung" ist das Stichwort gefallen, das für Brechts Theatermethode insgesamt grundlegend ist; offensichtlich treffen sich in diesem zentralen Punkt Brechts Ansicht vom antiken Theater und seine eigene Konzeption.20 Auch im Churer Raumkonzept zeigt sich eine neue Herangehensweise an ein antikes Stück; die dadurch deutlich werdende Entfernung des Darstellers von der durch ihn gezeigten Figur durch Historisierung der Ereignisse und der damit zusammenhängende chorähnliche Ensemblecharakter entsprechen zwar nicht exakt der antiken Tragödie, zeigen jedoch gegenüber dem auf Individualismus aufbauenden, das neuzeitliche Theater entscheidend prägenden "Naturalismus' wichtige 'gemeinsame Gegenpositionen' des antiken Theaters mit Brechts epischem Theater. Die Antigone Brechts ist dabei historisch betrachtet nicht der Ausgangspunkt für seine Auseinandersetzung mit dem Theaterchor; auch sind die direkten Einflüsse von Oper bzw. Musik und politischem Agitproptheater für Brechts Chöre insgesamt wohl höher einzuschätzen als die des antiken Theaters, wo es sich doch eher um Parallelen handelt. In unserem Falle - mit der definitorischen Ausrichtung an der Antike - schien es jedoch naheliegend, mit Brechts Antikenbearbeitung, die sogar eines seiner letzten Stücke ist, den Anfang der Darstellung seines Chorverständnis18

" 20

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"Im übrigen handelt es sich in keiner Weise darum, etwa durch das Antigonedrama oder für dasselbe den 'Geist der Antike zu beschwören', philologische Interessen konnten nicht bedient werden." (25 S. 75). Brecht 25 S. 75. Ebenso ist die Verbindung zu Schillers Überlegungen zum Chor offensichtlich (Die Anspielung Brechts in der oben zitierten Äußerung bezieht sich auf Schillers Abgrenzungsversuche von Epik und Dramatik im Briefwechsel mit Goethe von 1797, also zeitlich vor Die Braut von Messina. Das apodiktisch erscheinende Urteil Brechts an dieser Stelle wird Schiller insgesamt folglich nicht gerecht). Mit Schillers und Brechts Absicht einer verfremdenden Chorwirkung ist aber auch das Zentrum unserer Überlegungen eines anti-aristotelisch funktionierenden Chores in Antike und Moderne, die historische Einordnung der Bedeutung des Theaterchores erreicht (siehe oben S. 3f.).

ses zu machen. Wir stießen dabei mit dem flexiblen Umgang mit dem Chor, dem Schauspielerensemble und der verfremdenden Funktion des Chores bereits auf zentrale Elemente seiner Chorbehandlung. Aus der distanzierenden Chorfunktion, die der zentralen dramaturgischen Absicht Brechts, der "Verfremdung" dient, erklärt sich ein wichtiger Teil der großen Bedeutung, die der Chor in seiner Dramatik einnimmt; als formales Instrument, das die Rezeption des Publikums entscheidend lenkt: Der V-Effekt wurde im deutschen epischen Theater nicht nur durch den Schauspieler, sondern auch durch die Musik (Chöre, Songs) und die Dekoration (Zeigetafeln, Film usw.) erzeugt. Er bezweckte hauptsächlich die Historisierung [im Original unterstrichen] der darzustellenden Vorgänge.21

Im StUckfragment Der Brotladen ist der Chor der Arbeitslosen einerseits betroffene Partei, die auch vor handfesten Auseinandersetzungen mit den Gegnern nicht zurückschreckt und zugleich durch unterschiedliche Einzelinteressen Konflikte innerhalb der Gruppe auszutragen hat, andererseits aber auch distanzierter Kommentator der Geschehnisse. In dem Fragment wird der Klassenkampf durch homerische Namen und die an dem antiken Epiker orientierte Erzählweise des Chores historisierend verfremdet. Der Chor nimmt zeitweise eine Rolle ein, als spreche er zu oder über Helden aus lange vergangenen Zeiten und bewirkt dadurch eine ironische Distanzierung des Zuschauers zum Spiel. In den Lehrstücken und in Die Mutter übernimmt der Chor sowohl die Funktion des Erzählers und Kommentators, als auch des Sprechers des Textes einer gerade nicht anwesenden Figur, wobei der Chor diesen Text häufig historisierend in der Vergangenheitsform in der 3. Person spricht (oder er ist Sprecher, der die Rede einer Figur an ihrer Stelle, in deren Worten, einleitet, bevor diese Figur mit ihrem Text fortfahrt). Auch durch die Musik der Chorlieder wird der verfremdende Charakter des Chores verstärkt. Die Lieder sind für Brecht "die musikalischen Adressen an das Publikum", sie sollen das Geschehen nicht opemhaft illustrieren und emotional vertiefen, sondern "antithetisch" ergänzen und in Frage stellen: Wie Bertolt Brecht in seinen dramaturgischen Theorien die 'Verfremdung' zur Verhinderung der 'Einfühlung' benutzt, so spricht Eisler von einer 'gestischen Musik', die eher auf Benehmen und Verhaltungsweise [der dargestellten Figuren] ausgeht als auf'Stimmung'. 22

Der Chor ist - neben anderen - ein wichtiges Mittel zur Herstellung einer neuen Theater- und 'Zuschaukunst'. Brecht spricht vom epischen Theater als neue Spielweise [...], die sich wegen ihres deutlich referierenden, beschreibenden Charakters und weil sie sich kommentierender Chöre und Projektionen bediente, episch nannte. 23

Allerdings geht Brechts Interesse am Chor entscheidend über den wirkungsspezifischen Aspekt hinaus; auch inhaltlich spielt er - wie sich durch die "Mitspielerfunktion" in Antigone bereits andeutete - eine zentrale Rolle. 21 22 23

Brecht 22.1 S. 207. Theaterarbeit S. 154. Brecht 22.1 S.370. 57

1.4 Das gesellschaftliche Spannungsverhältnis Einzelner-Gruppe als zentrales Thema für den Chor Bei Brecht erfährt das in der Antike unproblematische, in der Neuzeit, wie wir sahen, bis dahin zentrale, aber weitgehend ungelöste Verhältnis von Gruppe und Einzelfigur im Chor eine neue Qualität.24 Aus dem Spannungsfeld zwischen Individuum und Gruppe ergeben sich fast alle folgenden inhaltlichen Aspekte der Chorbehandlung bei Brecht. Das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft, die Frage nach Individualität ist fur Brecht von großem Interesse. Dabei zweifelt er die Realität des Individuums an und kommt in manchen Äußerungen in die Nähe zu skeptischer, modemer Grundhaltung (an Pirandello oder Ionesco erinnernd), ein von ihm jedoch nicht weiterverfolgtes Thema: Das Individuum erscheint uns immer mehr als ein widerspruchsvoller Komplex in stetiger Entwicklung, ähnlich einer Masse. Es mag nach außen hin als Einheit auftreten und ist darum doch eine mehr oder minder kampfdurchtobte Vielheit, in der die verschiedensten Tendenzen die Oberhand gewinnen, so daß die jeweilige Handlung nur das Kompromiß darstellt."

Brecht vergleicht den Einzelnen mit der Masse, demnach böte es sich an, auch Individuen durch Chöre darzustellen. Tatsächlich wird im ersten Lehrstück, Der Flug der Lindberghs, das ein "Radiolehrstück für Knaben und Mädchen" ist, die Hauptfigur "von einem Chor gesungen" (Brecht 24 S. 89). Allerdings nicht um die Widersprüchlichkeit der Figur zu zeigen, sondern um auch diese positive und außergewöhnliche Einzelperson im gesellschaftlichen Rahmen zu zeigen und eine Identifikation des Publikums mit ihm zu verhindern, legt Brecht großen Wert auf "das gemeinsame Ich-Singen" (24 S. 89).26 Der Einzelne als Individuum, das sich in der Klassengesellschaft automatisch der Masse widersetzen muß, wird von dieser auch bedroht; entsprechend der kommunistischen Ideologie muß zum Aufbau einer neuen, klassenlosen Gesellschaft das in Klassen angesiedelte Individuum zerstört werden.

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Das Problem wird in Die Antigone des Sophokles auch durch die Schaffung eines Ensembles, das den Chor einschließt, neu gestellt bzw. produktiv umgesetzt. Brecht 22.2 S. 691. Thema des Stückes ist der technische Fortschritt der Menschheit, der positive Held weiß dabei um seine Rolle innerhalb der Gesellschaft. Brecht schreibt über das Stück, "die Figur eines öffentlichen Helden im 'Flug der Lindberghs' könnte dazu benutzt werden, die Hörer etwa eines Konzertes zu veranlassen, sich durch Hineinfühlen in den Helden von der Masse zu trennen. In einer konzertanten, also falschen Aufführung muß wenigstens, damit der Sinn des Ganzen nicht völlig zerstört werde, der Lindberghpart von einem Chor gesungen werden. Nur durch das gemeinsame Ich-Singen (Ich bin Charles Lindbergh, ich breche auf, ich bin nicht müde usw.) kann ein Weniges von der pädagogischen Wirkung gerettet werden." (Brecht 24 S. 89).

In den wachsenden Kollektiven erfolgt die Zertrümmerung der Person [...] aber in ihrer kleinsten Größe erkennt sie tiefatmend übergegangen ihre neue und eigentliche Unentbehrlichkeit im Ganzen.27 schreibt Brecht im Zusammenhang mit Das Baderter Lehrstück vom Einverständnis. Auch in den anderen Lehrstücken geht es inhaltlich um diese Frage. In Der Jasager, wie in Die Maßnahme, wird das Opfer des Einzelnen im Interesse der (revolutionären) in Chören organisierten Gesellschaft durchgespielt. Die Lehrstücke haben an zentraler Stelle eine Tribunalszene, in der über das Leben des Einzelnen entschieden wird. 28 In Die Maßnahme wird das Verhältnis zwischen privatistischem Individuum und nützlichem Mitglied der Partei anhand der Maske verdeutlicht. Wie 'Schauspieler1 werden die Agitatoren, die von der Partei einen Auftrag zur Agitation im noch 'unerlösten' China erhalten, mit Masken ausgestattet, sie erhalten eine neue Identität.29 Das Ritual der Maskierung aus dem religiösen Kult und die daraus entstandene Konvention der Maske im Theater erhält hier eine neue, Theater und Politik verbindende Dimension eines säkularisierten Parteikults. Aus Brechts ideologischer Sicht ist die Zerstörung des beschränkten Individuums ein notwendiger, letztenendes humaner Gewaltakt, der zur Befreiung des Menschen fuhrt. Er interessiert sich in seinem Theater eben nicht für die Widersprüche im menschlichen Individuum, sondern für die Widersprüche in der menschlichen Gesellschaft: Der Mensch ist nicht vorstellbar ohne menschliche Gesellschaft. [...] Ein Kollektiv ist nur lebensfähig von dem Moment an und so lang, als es auf die Einzelheiten der in ihm zusammengeschlossenen Individuen nicht ankommt.30

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Brecht 21 S. 320. In Das Badener Lehrstück hangt das Oberleben von drei Monteuren und einem Flieger von der Hilfe des Chores ab: "DER GELERNTE CHOR Wer seid ihr? DIE GESTÜRZTEN MONTEURE

Wir sind niemand DER FÜHRER DES GELERNTEN CHORES zur Menge Sie sind niemand. DER GESTÜRZTE FLIEGER I c h b i n C h a r l e s N u n g e s s e r . DER GELERNTE CHOR U n d er ist

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Charles Nungesser." (Brecht 3 S. 40). Bezeichnenderweise wird der Individualist am Ende nicht gerettet, die für die neue Gesellschaft nützlichen, sich selbst Verleugnenden werden dagegen schließlich erlöst. "DER LEITER DES PARTEIHAUSES Dann seid ihr nicht mehr ihr selbst, du nicht mehr Karl Schmitt aus Berlin, du nicht mehr Anna Kjersk aus Kasan und du nicht mehr Peter Sawitsch aus Moskau, sondern allesamt ohne Namen und Mutter, leere Blätter, auf welche die Revolution ihre Anweisung schreibt. DIE ZWEI AGITATOREN Ja. DER LEITER DES PARTEIHAUSES gibt ihnen Masken, sie setzen sie auf Dann seid ihr von dieser Stunde an nicht mehr Niemand, sondern von dieser Stunde an und wahrscheinlich bis zu eurem Verschwinden unbekannte Arbeiter, Kämpfer, Chinesen, geboren von chinesischen Müttern, gelber Haut, sprechend in Schlaf und Fieber chinesisch." (3 S. 104). Der junge Genösse, es bleibt offen, welches der ehemaligen Individuen dies ist, ist der Aufgabe nicht gewachsen, er versteht nicht zu taktieren, da er aus einem humanistischen Impuls heraus direkt helfen möchte, was zu seinem Untergang, der Verurteilung und Tötung durch die Genossen fahren wird: "DER JUNGE GENÖSSE Ich sah zuviel. Darum trete ich vor sie hin / Als der, der ich bin, und sage, was ist. Er nimmt die Maske ab und schreit Wir sind gekommen, euch zu helfen / Wir kommen aus Moskau. Er zerreißt die Maske." (3 S. 121) und fällt damit selbst sein Todesurteil. Brecht 21 S. 401 59

Es verwundert nicht, daß bei dieser ideologischen Einstellung Brechts formal interessante und vielfältige Ansätze im Gebrauch des Chores entstehen, die inhaltlich jedoch heute sehr fremd (und gemäß ihrer antihumanistischen Ausrichtung inhuman) wirken. Die hier zitierten theoretischen Äußerungen Brechts über Individuum und Gesellschaft können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß gerade der Konflikt zwischen beiden ein zentrales Thema ist, das - auch für Brecht - ein ungelöstes Problem widerspiegelt. Zwar ist die Blickrichtung Brechts anders als im indivualistisch-bürgerlichen Theater auf die gesellschaftlichen und historischen Umstände gerichtet, die kommunistische, konfliktfreie Idealgesellschaft stellt er jedoch in seinen Stücken nicht dar, es geht in ihnen vielmehr gerade um die Konflikte zwischen Einzelnem und der Gesellschaft (in der Klassengesellschaft).31 Seine 'Drohung': Wir werden einmal vom Massenhaften das Individuelle suchen und somit aufbauen. (21 S. 359)

blieb - zum Glück, jedenfalls in seinem eigenen Theater - Utopie. In Die heilige Johanna der Schlachthöfe wird ähnlich wie in den Lehrstücken das Verhältnis eines hervorgehobenen Individuums zur Masse der Unterdrückten durchgespielt. Die Heldin Johanna scheitert durch ihre Gutmütigkeit, sie schadet durch ihre Naivität den Herrschenden gegenüber den Massen, denen sie gerade hatte helfen wollen. Als sie das erkennt, entschließt sie sich, zu den Unterdrückten zu gehen, bewußt Teil der Masse zu werden und so ihre Identität aufzugeben: Unabsehbar, Herr, sind diese Massen. Riefe man nach einer Johanna, meldeten sich vielleicht zehn oder hundert. Ohne jedes Gesicht oder Namen sitzt das und wartet.32

sagt ein Detektiv, der sie suchen sollte. Johanna kann nicht mehr Individuum sein, muß aber in der Masse, da diese noch nicht Selbstbewußtsein und damit Individualität entwickelt hat, zu Grunde gehen; immerhin hat das namenlose Elend der Masse für den Zuschauer und einige Figuren so zeitweise einen Namen und bekommen.

1.5 Der aktive Parteichor, das Volk und "das faschistische Kollektiv" In Die Mutter ist der marxistische Bewußtseinsstand der Masse deutlich fortgeschritten, "Wir zeigten den Aufbau einer echten Masse in der 'Mutter"' (Brecht 22.1 S. 123). Der Chor der revolutionären Arbeiter stellt eine Partei im Spiel dar, ist jedoch, da er die richtige Einstellung hat, die Partei; er verbindet auf organische Weise Aktion mit Reflexion und Kommentar, ist also wie in Antigone Mitspieler 31

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Oder es handelt sich um den Kampf der Partei als chorische Gruppe gegen die Klassengesellschaft, so in Die Mutter und Die Tage der Kommune. Ein Gegenbeispiel (für paradiesische Zustände, in denen der 'Klassenfeind' dem gemeinsamen Hohn aller Darsteller ausgesetzt wird) ist der Herrnburger Bericht, siehe unten S. 64, Anm. 45. Brecht 3 S. 194.

und Kommentator, hat in beiden Funktionen jedoch eine ganz andere Bedeutung: Der Chor der Arbeiter stellt eine zutiefst positive Figur dar, deren Einsichten nicht nur historisierend distanzieren, sondern in der aktuellen Handlung 'richtig1 sind. Die Fabel des Stückes zeigt die Bekehrung einer Einzelnen, der Mutter, zu diesem Kollektiv hin, wobei sie nicht nur ihre Identität nicht verliert, sondern vielmehr ihre wahre Identität erst findet. Der Konflikt zwischen Individuum und Gruppe wird hier in der gegen die Klassengesellschaft kämpfenden Partei also (zeitweise) gelöst. Allerdings wird die 'Individualität' dieser "echten Masse" - paradoxerweise - ausführlich auch nur am Einzelbeispiel der Figur der Mutter gezeigt." Die Distanz des Chores zum Geschehen und seine fortschrittliche Geisteshaltung kommt in den Liedern zum Ausdruck, die zum Teil vom Chor unisono, teilweise auch von Einzelfiguren wie der Mutter gesungen werden.34 Außer den Liedern zeugen auch Berichte von Chormitgliedern, die das unmittelbare Geschehen historisch einordnen, von dem über den engeren Handlungsrahmen hinausweisenden Sinn der Arbeiter. Brecht plante auch "kleine Chöre" im Publikum, welche ihm [dem Zuschauer] die richtige Haltung vormachen, ihn einladen, sich Meinungen zu bilden, seine Erfahrung zu Hilfe zu rufen, Kontrolle zu üben.35

Im Lehrstück Die Maßnahme wird der mitspielende Chor selbst "Kontrollchor" genannt, in Der Jasager "Der große Chor". In Die Maßnahme stehen die vier Agitatoren, deren Verhalten beurteilt werden soll, dem Kontrollchor gegenüber. Dieser stellt die übergeordnete Parteiinstanz dar und urteilt schließlich über die vier. Der Kontrollchor ist also Zuschauer, Kommentator und Richter. Die Agitatoren dagegen sind die Darsteller, die im Spiel alle Rollen übernehmen, dabei auch Lieder vortragen, und - selbst einen kleinen Chor darstellend - dem Kontrollchor durch das Spiel im Spiel Rechenschaft ablegen. Im "Lob der Partei" wird der Kontrollchor eindeutig 33

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Der Chor bleibt in seiner Darstellung auf der Bühne stilisiert, er entspricht dem unflexiblen, statischen Agitpropchor. Siehe dazu unten 1.8 Brechts Umsetzung seiner Chorkonzepte auf der Bühne. Ähnliches gilt für einen Teilchor in Die heilige Johanna der Schlachthöfe·. Die 'aufgeklärten' Arbeiter beschwören vergeblich in einem "Gegenchor" zu dem Chor der 'pragmatischen', kraftlosen Arbeiter die Selbstverantwortung der Klasse für das eigene Schicksal und eine Änderung der Verhältnisse; hier wird dem Chor die Lage der eigenen Klasse völlig klar, für das Geschehen in diesem Stück allerdings ohne Auswirkungen ("Wenn ihr beisammen bleibt / Werden sie euch niederschlachten. / Wir raten euch, beisammen zu bleiben! / Wenn ihr kämpft / Werden ihre Tanks euch zermalmen. / Wir raten euch zu kämpfen! / Diese Schlacht wird verloren gehen / Und vielleicht auch die nächste noch / Wird verloren gehen. / Aber ihr lernt das Kämpfen / Und erfahrt / Daß es nur durch Gewalt geht und / Wenn ihr es selber macht.", Brecht 3 S. 200). Dennoch bildet dieser Chor der Arbeiter einen Parteichor, der über die Situation des Stücks hinaus seine eigene Lage distanziert und kühl interpretiert und zugleich mit Hingabe an die zu verwirklichende Utopie verbindet. Indem er sich über den eigenen historisch-gesellschaftlichen Rahmen erhebt, geht er implizit auch über den Rahmen des Stückes hinaus auf die Realität ein. Anläßlich ihres Lese- und Schreibunterrichts etwa singt die Heldin das 'Lob des Leinens'. Die Lieder mit der Musik von Hanns Eisler zählen auch isoliert vom Stück zu den erfolgreichsten Brechts. Brecht 24 S. 122.

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zum Sprachrohr der Partei des Klassenkampfs bzw. des Dichters, der Chor ist zwar vom Geschehen distanziert, bleibt dabei jedoch im weltanschaulichen Rahmen, den das Stück haben soll.36 Ein parteiischer Kontrollchor ist gemessen am antiken Chor ein Widerspruch in sich, da der Chor dort eben keine Partei mit zielgerichteten Einzelinteressen sein kann. Für Brechts den Lehrstücken zugrundeliegende Ideologie stellt die kommunistische Partei aber gerade das allgemein Richtige dar, ist deshalb keine traditionelle Partei mehr: Volk ist Partei, nicht wie der Chor, Kommentator im Drama.37

stellt Hannelore Schlaffer grundsätzlich zu Recht fest, bei Brecht (und in anderen Fällen) ist diese formale und inhaltliche Gesichtspunkte nicht ausreichend differenzierende Trennung jedoch nicht haltbar.38 In den Lehrstücken geht - für heute kaum nachvollziehbar (siehe unten S. 174f. zu Heiner Müllers 'Lehrstückchor1) - die einzig 'wahre' Partei in den objektiven Kommentator über. Aber auch bei Chören im epischen Theater Brechts, wie in Antigone, ist der Chor, wie wir sahen, sehr wohl zugleich Partei und unparteiischer, dem Publikum vermittelnder Kommentator; allerdings nicht als 'geschlossene', bruchlose und v.a. die richtige Meinung vertretende Figur wie in den Lehrstücken. In Die Tage der Kommune erfolgt die Synthese aus Chor, Volk und Partei insofern, als das parteiische Volk zugleich Kommentator ist, wobei diese chorische Funktion an einer Stelle, anders als etwa in Antigone und weitergehend als in Die Mutter, formal in die Rolle als Volk integriert ist: Die "Resolution" (in der 4. Szene) hebt sich durch Reim und den Aufbau in Strophenform von der übrigen Prosa ab; trotz der Stilisierung ist diese chorische Einlage mit der Figur Volk und dem Handlungsgeschehen eng verbunden. Die Resolution ist wichtiger Bestandteil des politischen Kampfes, sie verbindet in sich (so auch Schlaffer S. 105) Aktion mit an sich eher chortypischer Reflexion. Chor und Volk werden hier eines, während im übrigen Stück Einzelfiguren für das Ganze stehen und wenige Kämpfer die gesamte kämpfende Kommune repräsentieren.39 36

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Differenzierter ist das Konzept des Chorkommentars in Die Ausnahme und die Regel. Geplant war ursprünglich auch, das Spiel von zwei gegeneinanderstehenden Chören, "Der rechte Chor" und "Der linke Chor" (Brecht 3 S. 473f.), aus verschiedener Perspektive kommentieren zu lassen. Schlaffer S. 12. Dazu siehe oben 2.4 Shakespeares "chorus" und das Volk als 'dramatis persona'. Bei der Resolution gilt tatsächlich, was Wolfgang Schivelbusch für Brecht und Heiner Müller insgesamt feststellen möchte, während es jedoch wohl nur noch für die Lehrstücke zutrifft: "Das Volk kam, im Chor, zu sich als Repräsentant der gesellschaftlichen Wahrheit." (S. 223). Auch Hans Kaufmann hält Die Tage der Kommune für ein besonderes Beispiel im Chorgebrauch bei Brecht, wonach - anders als in den Parabelstücken - im gesamten Stück Chor und Volk zusammenfallen. Der Chor "spielt wahrhaftig sein eigenes Stück" (S. 243). "Das Stück zeigt die Arbeiterklasse in der geschichtlichen Aktion, über die sie als Chor selbst urteilt." (S. 244). Die Verfremdung und damit die Distanz zwischen Figur und Darsteller sind hier also aufgehoben. Insofern gleicht der Chor der Kommunarden dem gelernten oder kontrollierenden Parteichor in den Lehrstücken, auch wenn er nun formal hinter einer traditionelleren Dramaturgie versteckt ist.

Gruppen sind für Brecht allerdings nicht automatisch gut; im Kampf gegen falsche Kollektive kann sich sogar eine positive Gegenfigur entwickeln. Zur in der Spannung zwischen Indiviualität und Masse scheiternden Johanna ist Schwejk im gleichnamigen Stück ein solches positives Gegenbeispiel. Er setzt sich durch Witz als Einzelner gegen die übermächtige, gefahrlich-dumme Umwelt durch. Brecht spricht von der Darstellung der "Emanzipation des Individuums im Soldaten Schwejk und in anderen Stücken" (Brecht 22.1 S. 123). Gegen falsche Kollektive sich zu wehren, wird von Brecht also durchaus als positiv gewertet, er benutzt den Ausdruck "das faschistische Kollektiv". Auch die Kollektive der Kapitalisten in Johanna sind, wie wir sahen, falsch und verlogen, deshalb entspricht ihnen eine Darstellung als verzerrter, komisch-grotesker Chor oder 'Anti-Chor1.40

1.6 Komik in Brechts Chören In Die heilige Johanna der Schlachthöfe werden, wie im Titel anklingt, klassische Formen zitiert und parodiert. Es gibt neben den Arbeitern andere Gruppen, Vertreter diverser Klassen, die chorisch organisiert sind: Packherren, Aufkäufer, Viehzüchter, Makler, Spekulanten, "Die schwarzen Strohhüte" (3 S. 128), Arbeiter usw. Bei den schwarzen Strohhüten handelt es sich um eine Anspielung auf die Heilsarmee, zu deren Tätigkeit schließlich das chorische Singen gehört. Dieser Chorgesang wird in dem Stück parodiert: "Die schwarzen Strohhüte singen abwesend und nach der Tür blickend" (3 S. 208), da sie auf den Geldspender für ihre überfällige Miete warten, ihre in ihrer Weltferne und Verlogenheit nun gegen sie selbst gerichtete "Hymne". "Die Schlächter und Viehzüchter" dagegen brüllen, "so daß Johanna überschrien wird" ein Lied auf die Klassentrennung als deutliche Parodie von Schillers Lied von der Glocke (3 S. 222f.), anschließend einen zynischen "Choral" über den Reichtum (3 S. 225f.). Durch den Tod Johannas kommt es, während die Szene "von einem rosigen Schein beleuchtet" (3 S. 226) ist, zum harmonischen Schlußgesang der Kapitalisten, einer Parodie auf Faust. Zuvor entzweiten sich die Chöre noch sehr heftig: Aus Lautsprechern ertönen wirtschaftliche "Schreckensnachrichten", die die verlogene und brüchige Einigkeit der Gruppen zum Einstürzen bringen, sie schreien sich "wilde Beschimpfungen" zu (3 S. 225). Durch die gegenchorähnlichen Lautsprecher werden die vermeintlichen Chöre, spätestens jetzt (nach all der parodistischen Behandlung) als 'Anti-Chöre' enttarnt. Der Kapitalismuschor taugt bei Brecht

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"Hier tauchte das scheußliche Ideal jenes künstlichen Kollektivs auf, das seine Einigkeit daraus bezog, daß aller Interessen gleichermaßen verletzt wurden, das faschistische Kollektiv." (22.1 S. 123). In der Schlußszene von Brechts Bühnenmanuskript für Die heilige Johanna von 1930 findet sich nach den Schlußworten folgende Regieanweisung: "Während der letzten Strophen ist das Fundament sichtbar geworden, auf dem alle [gemeint sind die Kapitalisten der letzten Szenen] stehen: Die ganze Bühne wird von einer dunklen Masse getragen." (Brecht 3 S. 234). Sinnbildlich zeigt sich die Klassengesellschaft: das Kollektiv der Unterdrücker wird von der Masse getragen und (noch) ertragen. Hier bilden zwei gegeneinander bzw. übereinanderstehende Chorgruppen ein ungleiches Ensemble.

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allenfalls zur Parodie und zum Chaos, nicht zur kreativen, eigenständigen Neubehandlung des alten Theaterinstruments. In Die Tage der Kommune dagegen erweisen sich die Frauen aus dem Volk in der Brotszene als aktiv, klug und dabei derb-witzig in aristophaneischem Sinne,41 wobei sie in sich ergänzenden Einzelstimmen, also nicht eigentlich chorisch sprechen. In dem Fragment gebliebenen Der Brotladen kommt es zu einer grotesk-komischen Brotschlacht zwischen Polizei und Chor bzw. Volk, bei der ein Polizist von einer Semmel erschlagen wird.42 Dabei entsteht zusätzlich zum an sich komischen Geschehen Komik durch die Doppelfunktion des Chores der Arbeitslosen in dieser extrem dynamischen Situation als kämpfende Partei, die auch vor Beschimpfungen nicht zurückschreckt, und als gleichzeitig distanzierter Kommentator, der das 'niedere' Ereignis mit historisierenden, blumigen Umschreibungen im Stile Homers begleitet.43 Abwechselnd kommentiert der Chor sein eigenes Verhalten aus historisierender Perspektive, beschimpft und beleidigt den Gegner, gibt dann einen Kommentar als neutraler Zuschauer, bevor er mit einem pathetischen, selbstmitleidigen "Wehe!" (Brecht 10.1 S. 636) die Flucht ergreift. Die der verfremdenden Kommentarfunktion innewohnende ironisierende Seite des Chores wird zu deutlicher Komik genutzt. Hier zeigt sich wieder die relativ große Nähe des Chores bei Brecht zu dem des Aristophanes. Hans Kaufmann betont zu recht die enge Verwandschaft zwischen Komödie und verfremdendem Theater, das sich mit der Distanzierung im Grunde eines komischen Prinzips bedient (S. 127£f.).44 Komisch wirken (heute) jedoch auch manche Chöre Brechts auf eine unfreiwillige Weise. Das "Schulstück" Die Horatier und die Kuratier mit zwei gegeneinanderstehenden Chören und stellvertretend kämpfenden Einzelfiguren kann nicht nur als kriegsverrlichend aufgefaßt werden, sondern auch als unfreiwillige Parodie seiner selbst.45 41

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Brecht fordert "Für die Brotkauferinnen genußvollste Darstellung des Vulgären!" (Brecht 24 S. 354). Peter Witzmann verweist darauf, daß Brecht "das Schema des Agons" bei Aristophanes nicht "bis in alle Einzelheiten", aber in der Struktur übernehme (S. 20f.). Siehe oben S. 57. Der Chor in Die Tage der Kommune ist dementsprechend nicht mehr komisch gezeichnet, er selbst zeigt vielmehr einen bewußt humorvollen Umgang mit seiner schwierigen Lage, die er durchschaut. "Schulterleisten mit kleinen Fahnen, welche die Zahl der Truppenteile andeuten, werden den Heerführeren übergeschnallt und auf die Tafeln der Streitkräfte wird die Anzahl der Truppenteile geschrieben." (Brecht 4 S. 281f.) heißt es in einer Regieanweisung zu Beginn. Während der folgenden Kämpfe werden die symbolisierten Truppenteile nach und nach gelöscht. Gegen Ende fragt der Chor der Kuriatier seinen Kämpfer: "Was hast du verloren?", worauf diese Regieanweisung folgt: "Der Kuriatier zeigt, wieviel er verloren hat, indem er fünf seiner kleinen Fahnen aus der Schulterleiste nimmt und sie wegwirft." (4 S. 296). Das Agitprop-ähnliche "Chorwerk" Herrnburger Bericht schließlich, eines der letzten Werke Brechts, richtet sich auf dialektische Weise, spätestens nach 1989, gegen sich selbst. Die Charakterisierung von Schumacher und Adenauer in Bonn in dem "Spottlied" des Chores trifft auffällig auf die greise Führung des untergehenden SED-Staates zu; in Bonn bzw. Ost-Berlin "sitzen zwei kleine / Böse alte Männer, die die Welt nicht mehr verstehn. / Zwei böse Greise, listig und leise / Möchten gern das Rad der Zeit nochmals nach rückwärts drehn." (Zitiert aus Neues Deutschland 22.7.1951 ).

1.7 Das chorische Ensemble und die Flexibilität des Chores bei Brecht Trotz der negativen Darstellung der nicht chorisch (sondern durch Einzelfiguren dargestellten) Menge in Schwejk erhält das Stück am Ende ein positives chorisches Element: Der "Chor aller Spieler" (also auch der Darsteller Hitlers), "die ihre Masken abnehmen und an die Rampe gehen" singt als Finale 'Das Lied von der Moldau', dessen Moral die im Stück gezeigte Überwindbarkeit der Nazidiktatur verallgemeinernd unterstreicht ("Es wechseln die Zeiten, da hilft kein' Gewalt.", Brecht 7 S. 25lf.). 46 Das Ensemblespiel ist in Das Badener Lehrstück auch auf die Zuschauer ausgedehnt.47 Es gibt als betroffene Gruppe vier abgestürzte Flieger,48 diesem kleinen anfangs unreflektierten Chor steht "Der gelernte Chor" gegenüber. Wie in den meisten Lehrstücken handelt es sich um eine Gerichts- oder Tribunalsituation. Der gelernte Chor, der bereits im Sinne der Partei die Welt verstanden hat, befragt die noch Ungelernten und belehrt sie durch das Spiel. Die dritte Gruppe ist die Menge, die vom gelernten Chor angesprochen und zu kurzen Antworten gebracht wird bzw. werden soll. Die Menge sind die "Zuschauer", die durch den gelernten Chor als Sprachrohr der Partei bzw. des Dichters belehrt werden, auch die Menge soll zu einem gelernten Chor werden. In jedem Fall (ob dies nun funktionieren kann oder soll) werden die Zuschauer als Chor aufgefaßt und dadurch mit dem Spiel der anderen Chöre verbunden. Das Ensemble aus Spielern und Publikum ist (vom Konzept her) perfekt. Der Ensemblegedanke wird in den Lehrstücken auf die Spitze getrieben 49 Auch in den späteren Stücken spielt er eine grundlegende Rolle. Kaufmann stellt bei einer Analyse der vermeintlich unchorischen 'Parabelstücke', v.a. anhand der Rahmenhandlung in Der Kaukasische Kreidekreis, fest, daß das Ensemble als Chor der Darsteller mit seinem Erkenntnisstand strikt von den von ihnen dargestellten Figuren zu trennen ist. Die Verfremdung des epischen Theaters und der Gebrauch des Ensemble-Chores sind also miteinander verzahnt.50 46

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Auch in Brechts Antigone ist das chorische Ensemble, wie wir sahen, angedeutet. Allerdings manifestiert es sich nicht im gemeinsamen Chorgesang. Auch in Die Ausnahme und die Regel ist (neben der ideologischen Eindeutigkeit) der Spielcharakter deutlich betont. Zu Beginn und am Ende wenden sich "Die Spieler" als Ensemble an das Publikum und machen so den fiktiven Charakter des Spiels deutlich. Die vier Flieger gliedern sich wiederum in drei Monteure und den Flieger auf. Allerdings gilt ja insgesamt fiir die Lehrstücke, daß die Trennung zwischen Zuschauern und Spielern aufgehoben sein soll. Die Spieler sollen zugleich Zuschauer sein und dadurch vom Dargestellten fxir ihren gesellschaftlichen Alltag lernen. Das Ideal des epischen Theaters vom verfremdenden Schauspieler und vom mitdenkenden, freien Zuschauer ist hier in einer Synthese vereinigt, Kunst löst sich in Lebenskunst auf. Der Erfolg der Lehrstücke, die auch entgegen ihrem eigentlichen Sinn aufgeführt wurden, im professionellen Theater war gering, Brecht kehrte zum formal 'gemäßigteren' epischen Theater zurück. Kaufmann S. 103ff. und S. 241ff.; "Grundlage des Brechtschen neuen Dramas war der Chor." (S. 241). Der Begriff des Chors ist bei Kaufmann sehr weitgefaßt, "Das Ensemble der Darsteller ist als ein Chor zu denken", nicht immer wird das (in den Parabelstücken) so offensichtlich wie in Antigone; der Begriff 'Chor' wird bei Kaufmann fast zu einem Ab-

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Brecht fordert in dem einzigen theoretischen Text, der ohne direkten Bezug auf ein Stück ausdrücklich den Chor zum Thema hat, in Über Chöre Flexibilität und Offenheit für den Chor: Prinzipiell werden sich verschiedene Personen eines Stückes dann zu einem Chor zusammenschließen, wenn bestimmten gemeinsamen Interessen (darunter auch vermeintlichen) Ausdruck verliehen werden soll. Die einzelne Person kann dann in sehr verschiedenen Chören stehen, d. h. mit immer anderen Personen zusammen. [...] Die Chöre sollten nicht starT sein. Es sollte nicht zwei starre Gruppen geben: eine von allem Anfang an belehrende und eine bis zum Ende belehrte. Die Chöre sollten wachsen und schrumpfen und sich umwandeln können.51

Offensichtlich entspricht Brecht dem auch in seinen eigenen Stücken nicht immer.52 Der freiwillige Zusammenschluß von Einzelfiguren in Chören widerspricht völlig dem Chorkonzept der Antike, wo der Einzelne im Chor ohne jedes Interesse ist und der Chor eine feste Institution darstellt. Hier bildet die Einzelfigur den Ausgangspunkt für jeden Chor, der damit zur Interessengemeinschaft wird. Außerdem setzt Brecht voraus, daß der Chor während des Spiels entstehen und wieder vergehen kann.53 Durch dieses 'liberale' Chorkonzept wird jeder Darsteller zum potentiellen Chormitglied, das gesamte Spiel kann chorischen Charakter erhalten. Die konsequente Fortführung dieses Gedankens ergibt das chorische Ensemble. Der permanent mögliche Chor wird zum Ausdruck demokratischer Form auch in der Organisation des Spiels der Schauspieler wie der von ihnen verkörperten Figuren. Das (angeblich) aus dem Chor entstandene Theater kehrt in dessen Schoß zurück, verändert ihn dabei jedoch, indem es ihn mit dem Einzelmenschen als freiem Mitglied ergänzt. Diese Veränderung bereichert seine Form um viele der modernen Gesellschaft und damit ihrem Theater angemessene Facetten, widerspricht dem Chor jedoch auch von Grund auf, setzt ihn damit einer großen Spannung aus, die zu einer

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straktum (ahnlich dem Begriff'Volk' bei Schlaffer). Albrecht Schönes Feststellung, Brecht strebe zwar nicht die Identifikation des Zuschauers mit der Figur, dafìlr aber die mit dem Darsteller an (S. 284), sagt - mit einer anderen Wertung - im Grunde das Gleiche aus. Brecht 22.2 S. 657f. So fUgt er denn noch hinzu: "Natürlich ist es auch möglich, von Anfang an zwei Grundchöre zu etablieren, welche die Kommentare der beherrschten und der herrschenden Klasse zu den Vorgängen auf der Bühne geben. Die spielenden Personen sind dann gleichsam aus ihnen herausgetreten. In diesem Fall ist es gut, den Personen Kennzeichen ihrer Klasse zu verleihen, dieselben, welche die Chöre markieren." (22.2 S. 676 ). Zuvor heißt es (in der oben ausgesparten Stelle, S. 675): "Will man die großen klassischen Interessengruppen demgegenüber auf die Bühne projiziert erhalten, nämlich die Klassen, so kann man auf die räumliche Zusammenfassung der Chöre verzichten und sich mit der akustischen begnügen. Es treten dann aus solchen Gruppen, die klassenmäßig zusammengestellt sind, rein durch gemeinsamen Gesang, ohne ihren Platz zu verlassen, Chöre zusammen." (Damit ist hier und oben, in veränderter Reihenfolge, der gesamte Text Über Chöre wiedergegeben). Karl Mickel schreibt: "Paul Dessau übermittelte mir einen, schriftlich nicht fixierten, Aphorismus Brechts. Wer den Chor auf die Bühne bringen wolle, müsse seine Entstehung darstellen." (S. 18).

Zerreißprobe werden kann.34 Die Auflösung des Chores und seine Renaissance in einem lebendigen Gegenwartstheater gehören demnach eng zusammen (wie sich unten im 7. Kapitel auch noch bestätigen wird).55

1.8 Brechts Umsetzung seiner Chorkonzepte auf der Bühne Die Lehrstücke sind von ihrem Konzept her keine eigentlichen Theaterstücke, die wenigen Auffuhrungen unter Brecht waren sehr statisch, oratorienhaft (die in die Aktionen eingebundene Resolution in die Tage der Kommune ist ein Gegenbeispiel). Auch die Chöre in Die Mutter sind der neuartigen Dramaturgie angemessen ohne den Ehrgeiz einer eigenständigen oder innovativen Umsetzung auf der Bühne konzipiert. Die Photographien des Modellbuchs zu Die Mutter zeigen die Gruppenbilder als gestellte, dem Publikum zugewandte Konstellationen:56 Die 'zufällige', 'Leben vortäuschende', 'zwanglose' Gruppierung ist aufgegeben [...] Die ordnenden Gesichtspunkte sind geschichtlich-gesellschaftlicher Art.57

Der mitspielende Chor wird im Sinne der marxistischen Ideologie stilisiert und statisch dargestellt.58 Der im wahrsten Sinne 'demonstrative' Gestus läßt keinen Raum fur künstlerische Entwicklungen. Brecht übernimmt dabei bewußt bestehende Formen des Agitproptheaters.59 Schlaffer legt zu Recht dar, daß Hauptmann (in Die Weber) das Gesellschaftliche als Privates darstelle, wogegen Brecht das Private grundsätzlich nur als Gesellschaftliches begreife (S. 102). Daraus ergibt sich zumindest eine Legitimation für die nach den bisherigen Ausführungen über den vielseitigen Chor bei Brecht in Konzepten und Dramen vielleicht überraschende, geringe innovative Bedeutung für den Brechtschen Chor auf dem Theater; denn Brecht glaubte, auch in der Darstellung der Einzelfigur Probleme der Gesellschaft behandeln zu können. Er räumt ein: Wir zeigten die Emanzipation des Individuums im 'Soldaten Schwejk' und in anderen Stücken. Wir zeigten den Aufbau einer echten Masse in der 'Mutter1. Die große entschei54

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In noch stärkerem Maße gilt das für die Theaterästhetik der Lehrstücke in Bezug auf den Fortbestand der Kunstform Theater überhaupt. Bei aller Flexibiltät war der Chor bei Brecht jedoch noch durch den ideologischen Glauben an die Macht der Kollektive abgesichert (siehe dazu auch Mickel S. 18f.). Das Buch beschäftigt sich bezeichnenderweise v.a. mit der Hauptfigur und ihrer Darstellung durch Helene Weigel. Brecht 24 S. 118. "Auf diese Weise trugen noch Züge des Agitproptheaters eigentlich nur die Chöre, die direkt Reflexion und Impulse auslösen." (24 S. 200, zur Aufführung am BE 1951). Als Ausnahme im Sinne einer innovativen theatralen Umsetzung chorischer Formen läßt sich Brechts Inszenierung von Mann ist Mann (1931) ansehen: Das negative, unmenschliche Kollektiv der Soldaten wurde durch eine besondere Ausstattung der Darsteller (mit Stelzen usw.) optisch gezeigt; die Verwandlung der Hauptfigur aus einem unterdrückten Arbeiter in ein Mitglied dieser Gruppe von 'Ungeheuern' war an der äußerlichen Angleichung an die anderen im Verlauf des Stückes 'ablesbar'.

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dende Wandlung der Masse aus dem Objekt der Politik in das Subjekt konnten wir noch nicht zeigen [...] Ich befaßte mich mehr mit den einzelnen Menschen, besser gesagt: ihren Beziehungen, und revolutionierte die Schauspielkunst.60 Die Neuerung im Umgang mit dem Chor konzentriert sich für Brecht auf die Anwendung des Chores überhaupt im Theater. Die "Revolutionierung" im Umgang mit den Protagonisten dagegen geht tiefer, sie betrifft auch den Schauspielstil. Daß der Chor auf der Bühne für Brecht keine technische Herausforderung darstellt, daß er nicht (wie das Theater insgesamt und der Schauspielstil der Einzeldarsteller im besonderen) einer umfassenden Reform bedürfe, zeigt folgende Äußerung Uber Die heilige Johanna·. Die Chöre stellen keineswegs nur Skizzen dar. Ihre Inszenierung ist eine rein technische Arbeit bei den Proben: sie stellt nach mannigfachen Erfahrungen auf der deutschen Bühne kein prinzipielles Problem mehr dar.61 Sicherlich gibt es auch - von uns nicht weiter verfolgte, da fur unseren Zusammenhang unerhebliche - historische Entwicklungen in Brechts Stellung dem Chor gegenüber; so war sein Optimismus den Kollektiven gegenüber durch Nazi-Deutschland stark geschwächt, das Interesse galt demgemäß stärker den Einzelfiguren.62 Zuvor, in den 20er und 30er Jahren erklärt sich Brechts geringes Interesse für chorische Bühnenlösungen dagegen eher aus der vom Agitprop beeinflußten, an 'origineller' Kunst uninteressierten Lehrstückästhetik.63 Das Desinteresse an der technischen Umsetzung der Chorkonzepte auf der Bühne spiegelt sich auch in Brechts eher traditionellem Gebrauch der Bühnenformen wieder. Die von Walter Benjamin für das epische Theater konstatierte "Ver60 61 62

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Brecht 22.2 S. 123. Zitiert bei KnopfS. 36. Ein Großteil der für unser Anliegen relvanten (und somit oben behandelten) Stücke Brechts entstand vor 1933. In der von politischer Konfrontation zwischen rechts und links geprägten Weimarer Republik benutzte v.a. die KPD Sprechchöre als theatrale Demonstrationsform. "Agitation und Propaganda" waren das Ziel der Truppen, die unter dem Einfluß des russischen "Theateroktober1 (siehe dazu unten 3.1 Einführung zu Meyerholds Der Revisor) szenische Aufführungen mit Einzeldarstellern und Chor oder chorische Kollektivreferate aufführten. Nicht Fiktion und ästhetischer Anspruch, sondern politische Wirkung durch performative Demonstration ist das Anliegen der Sprechchöre, Demonstration und Theater werden eins (siehe auch bei Piscator, 8. Kapitel); die Zuschauer werden dabei auch direkt angesprochen und zu Zwischenrufen oder gar Dialog mit dem Chor angeregt. Die Form des Chores kommt auch mit der Botschaft vom einheitlichen Kollektiv der kommunistischen, anti-individualistischen Ideologie entgegen. Das linke Theater vor dem Nationalsozialismus bietet in grober Form, etwa durch das chorische Ensemble, einige vom Regietheater seit den 70er Jahren wiederaufgenommene Chorformen. Sie werden in dieser Arbeit jedoch nicht weiter untersucht, da sie nur nur bedingt der Kunstform Theater zuzurechnen sind, und sie über die schon angesprochenen Lehrstücke Brechts hinaus keine weiteren Erkenntnisse für unsere Fragestellung erbringen. Die bekanntesten Sprechchorwerke stammen von Gustav von Wangenheim, in Die Mausefalle werden beliebig viele, mindestens aber 11 Spieler ("Kollektivmitglieder") verlangt. Brechts Lehrstücke stehen unter dem Einfluß dieser Agitpropchöre, er benutzt allerdings auch Gesangschöre.

schüttung der Orchestra" und die Entwicklung der Bühne zum "Podium" (S. 7) wurde tatsächlich nur bei den konzertanten Aufführungen der Lehrstücke vollzogen. Der auch auf der traditionellen Bühne (des Berliner Ensembles) geschaffene Podiumcharakter des epischen Theaters sieht für den Chor keine besondere Position zwischen Einzeldarstellern und Publikum vor. Brecht erkannte jedoch auch, daß es alternative Darstellungsformen geben könne, die zumindest teilweise Funktionen des antiken Chores bzw. die für ihn wichtige historisierend-distanzierende Aufgabe übernehmen könnten: Der Film für sich kann im epischen Theater in der Ait eines optischen Chores angewendet werden.64 Auch Projektionen von Texten oder Bildern haben bei Brecht, etwa in der Aufführung von Die Mutter, chorähnliche, da kommentierend-verfremdende Funktion. Zum Chor hinzu kommt (in der Aufführung) der Einsatz von "die Wirkung mittelbar" machenden Projektionen, von Texten und Bilddokumenten. In einer Stellungnahme zum 'Lehrtheater1 schreibt Brecht (weniger auf die Distanzierung als die Belehrung des Chores abzielend): Chöre klärten den Zuschauer über ihm unbekannte Sachverhalte auf. Filme zeigten montiert Vorgänge in aller Welt. Projektionen brachten statistisches Material.65 Von dieser formalen Funktion her ist der Chor für Brecht also austauschbar, den inhaltlichen Aspekt des Kollektivs kann solch ein 'technischer1 Chor jedoch nicht oder nur bedingt ersetzen.

1.9 Zusammenfassung von Brechts Chorgebrauch und die methodische Verknüpfung mit unserer Typologie Brecht ließ sich in seinem Theater von ganz unterschiedlicher Seite beeinflussen. Entsprechendes gilt für seinen differenzierten und flexiblen Umgang mit der Figur 'Chor1; auf die Grenzen dieser Auseinandersetzung im praktischen Theater haben wir oben hingewiesen. Offensichtlich ist die historisch unbelastete, pragmatische Herangehensweise Brechts an den antiken Chor; er setzt in Antigone einen an das konkrete Vorbild des Sophoklesstückes flexibel angelehnten Chor ein, in anderen Beispielen ist die Verbindung weniger offensichtlich. Die verfremdende Kommentarfunktion des antiken Chores ist für Brecht jedoch insgesamt wichtig, v.a. deswegen interessiert er sich für dieses alte Theaterinstrument. Die Aktivität und die praktischen, eigennützigen Interessen, sowie ihre gelegentliche Verschlagenheit und Gewitztheit zeigen eine größere Nähe der Chöre in den Stücken Brechts zum aristophaneischen Komödienchor als zum stärker religiösen Tragödienchor. Andererseits sahen wir, daß die 'Tribunalchöre' der Lehrstücke auch ein rituelles Moment haben.

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Brecht 21 S. 211. Siehe dazu auch das 8. Kapitel. Brecht 22.1 S. 110.

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Das verfremdende Moment des Chores, wie der moralisch-didaktische Aspekt seines Theaters deuten eine Verbindung zu Schillers Theaterästhetik an, bei der der Chor ebenfalls von großer Bedeutung ist.66 Auch der starke Gebrauch der Musik,67 besonders von Oper und Kirchenchoral, die ironisch zitiert werden, sowie von Volkslied und politischem Kampflied, dient zur chorischen Distanzierung von der Handlung. Vom kommunistischen Agitproptheater her ergibt sich Brechts Einsatz von belehrenden, parteiischen Chören, auch als Sprechchöre. Ein weiterer deutlicher Einfluß besteht in Shakespeares und den darauf aufbauenden Volksfiguren (v.a. Büchner), die bei Brecht teilweise mit der Chorfigur zusammengefaßt werden. Neu ist bei Brecht der flexible Umgang mit dem Theaterchor. Er nutzt das Dilemma Einzelner-Gruppe zu kreativen, spannungsgeladenen Chorkonzepten und behandelt den Chor häufig spielerisch, indem er ihn zum Rahmen des Spiels macht und damit zugleich in die Nähe der Auflösung im gesamten Ensemble fuhrt. Damit bezeichnet er entscheidende dramaturgische Aspekte des Chorgebrauchs im gesamten Jahrhundert. Andererseits bleibt Brechts Beschäftigung in der Umsetzung auf der Bühne vergleichsweise wenig innovativ, da er zwar traditionelle Chorformen als Mittel zur Revolutionierung des Theaters benutzen möchte, ihm eine Revolutionierung dieses Mittels selbst hingegen unnötig erscheint. Es ergibt sich durch die von Brecht neugeschaffenen Rahmenbedingungen jedoch zumindest eine angedeutete oder vorgezeichnete Reform des Chores, die eine große Vielfalt auf konzeptioneller Ebene mit sich bringt. Gerade durch die theoretische 'Vorarbeit1 ohne praktische 'Fortführung' bietet es sich an, von Brecht ausgehend, eine Typologie des Chores im 20. Jahrhunderts darzustellen. Modellhaft anschaulich gemacht als Entwicklung aus seinen Konzepten werden in den folgenden Kapiteln konkrete Umsetzungen auf der Bühne (in einem Fall schwerpunktmäßig in der Dramatik) untersucht. Es geht dabei nicht um direkte oder indirekte Einflüsse Brechts, auch soll nicht unterstellt werden, Brecht sei absolut 'das' Zentrum der Chorarbeit dieses Jahrhunderts, - zumal einige Beispiele zeitlich vor ihm liegen - sondern vielmehr um den am Beispiel Brecht entwickelten typologischen Zusammenhang.68

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Eine interessante Parallele zwischen beiden ist das Auseinanderklaffen zwischen weitsichtigen, mutigen, neuen Chorkonzepten und ihre eher 'enttäuschende' praktische Umsetzung. Bei Brecht verbindet sich die antike Chorrezeption mit zeitgemäßen musikalischen Choreinflüssen, wohl der einzige Weg, einen (wie in der Antike) musikalischen Theaterchor zu schaffen - der klassizistische Gesangschor Mendelssohns ist kaum Bestandteil der theatrealen Aufführung (siehe oben S. 45). Allerdings gilt auch für Brecht, daß die musikalischen Chöre sehr statisch blieben. Die Typologie wurde unabhängig von Brecht entwickelt. Es zeigte sich jedoch während der Arbeit, daß sich das Brechtkapitel als 'Verteilerkapitel' anbietet. Zur Methodik und Gliederung siehe in der Einleitung, 3. Methode und 4. Aufbau.

1.10 Kategorien des Chorgebrauchs im 20. Jahrhundert; tabellarischer Überblick über die Typologie69 I. Lösungen betreffend den grundlegenden Gruppencharakter des Chores im Spannungsfeld zwischen Einzelnem und der Gruppe; die Form der Geschlossenheit des Chores: 1. Brecht benutzt den Chor in einigen Lehrstücken als Massenchor (in der Uraufführung von Die Maßnahme wirkte etwa der Arbeiterchor Groß-Berlin mit). 2. Er behandelt ihn als in sich geschlossene Gruppe (der gelernte Chor im Badener Lehrstück) oder auch 3. als Einzelnen gegenüber offene Gruppe (die Mutter oder Johanna werden während des jeweiligen Stückes in den Chor bzw. die Masse integriert, in Der Brotladen steigt eine Familie aus egoistischen Gründen aus dem solidarischen Chor der Arbeitslosen aus, siehe auch Über Chöre). 4. Die Auflösung der Chorgruppe ist bei Brecht streckenweise in der Verkleinerung der Chöre oder in der Ausdehnung auf alle Mitspieler hin und damit verbunden in der 'Aufweichung' des eigentlichen Chores angedeutet (im aus vier Mann bestehenden Chor in Antigone oder beim Schlußchor im ansonsten unchorischen Schwejk).

Daraus ergeben 20. Jahrhundert: 1. MASSENCHOR

sich folgende

Kategorien

für

den

im

(siehe 2 . Kapitel)

2 . CHOR ALS GESCHLOSSENE GRUPPE (Z.B. 4 .

und

5.

Kapitel)

3 . CHOR ALS EINZELFIGUREN GEGENÜBER OFFENE GRUPPE (Z.B. 6 . 4 . AUFLÖSUNG DER CHORGRUPPE

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Chorgebrauch

(siehe 7 . Kapitel, auch

6.

Kapitel)

Kapitel)

Jedes der folgenden Kapitel konzentriert sich schwerpunktmäßig auf eine der aufgeführten Kategorien (bei: "siehe ..."). Einige der Kategorien sind jedoch nicht auf ein Kapitel konzentriert (wenn es heißt: "z.B. ..."), sondern werden immer wieder, nicht jedoch zentral, angesprochen. Auch sind auf eine Inszenierung mehrere Kategorien - sogar aus dem selben Problembereich - anwendbar; es handelt sich bei dieser Auflistung nicht um ein geschlossenes, perfektes System, sondern um ein technisches Hilfsmittel für einen Überblick über das Theaterinstrument Chor. Bei einer Weiterentwicklung des Theaterchores ist auch eine Veränderung bzw. Ergänzung der Kategorien denkbar. Zur Ergänzung der Typologie siehe unten Schluß.

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Π. Lösungen betreffend die formale oder inhaltliche Rechtfertigung für das Theaterinstrument Chor - zeitgemäße Reaktionen auf den verlorenen Sonderstatus des Chores: 1. Bei Brecht ist der Chor häufig politische Gruppe, als Volk (weitgehend unmündig in Die heilige Johanna der Schlachthöfe, aufgeklärt dagegen in Die Tage der Kommune und damit schon Vertreter der 'richtigen' Partei) oder Partei (sowohl die der Unterdrücker in Johanna als auch die 'richtige' Volkspartei wie in Die Mutter, schließlich in den Lehrstücken Vertreter der kommunistischen Partei). 2. In Antigone stellt der Chor u.a. auch eine religiöse (verlogene) Gruppe dar, der Tribunalchor in den Lehrstücken hat quasi rituellen Charakter. 3. Im "Wandelchor" der Churer Antigone wird die Entstehung des Chores aus dem gemeinsamen Denken und Sprechen der Einzelnen angedeutet (siehe auch Über Chöre). 4. Brecht vergleicht die inneren Konflikte des Einzelnen mit denen eines Kollektivs, ohne sich jedoch für eine Darstellung der isolierten Einzelfigur zu interessieren (auch bei der Darstellung Lindberghs durch einen Chor geht es nicht um sein Innenleben). 5. Die Opernchöre (in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny und Die Dreigroschenoper) und die chorischen, oft choralähnlichen, Finals (z.B. in Johanna) bedürfen als Anlehnung an traditionelle Kunstformen keiner weiteren Legitimation. Diese künstlichen Chöre ähneln dabei auch: 6. Brecht zeigt auf verschiedene Arten die offensichtlich erst im Spiel zustandekommende Chorfigur bzw. das chorähnliche Ensemble aller Spieler als Zerstörung der Spielillusion (siehe Antigone oder Schwejk). 7. Durch historisierende, verfremdende Kommentare zeigt Brecht den Chor etwa in den Lehrstücken oder Der Brotladen als das Spiel leitende und rahmende, aber auch als Zuschauer verfolgende Instanz zwischen Spiel und Publikum. 8. Auch benutzt bzw. befürwortet er alternative Medien (Projektionen und Film oder in Johanna Lautsprecher) als Chorersatz oder -ergänzungen.

Daraus ergeben sich folgende Kategorien: 1. CHOR ALS POLITISCHE GRUPPE WIE VOLK ODER EINE PARTEI

(z.B. 2., 5. oder 6. Kapitel) 2 . CHOR ALS KULTISCHE, RELIGIÖSE GRUPPE

(siehe

5.

Kapitel)

3 . NATURALISTISCH-PSYCHOLOGISIERENDE ENTSTEHUNG DER CHORGRUPPE AUS EINZELFIGUREN

(siehe 4. Kapitel)

4 . PSYCHOLOGISIERENDE DARSTELLUNG DES (WIDERSPRÜCHLICHEN) INNENLEBENS EINER FIGUR (Z.B.

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3., 6. Kapitel)

5 . NICHT HINTERFRAGTER MUSIKALISCHER UND/ODER TÄNZERISCHER CHOR 7 0

(siehe 4. Kapitel) 6 . DURCH SPIEL IM SPIEL ENTSTEHENDE CHORGRUPPE ODER CHORISCHES ENSEMBLE

(siehe 6. Kapitel) 7 . DURCH HISTORISIERENDE VERFREMDUNG LEGITIMIERTER KÜNSTLICHER CHOR

(siehe 5. Kapitel) 8 . ALTERNATIVEN ZUM CHOR DURCH ANDERE MEDIEN

(siehe 8 . Kapitel)

ΙΠ. Lösungen betreffend die Rolle des Chores im Verhältnis zu den Einzelfiguren, deren Aktion und den Zuschauern: 1. Brecht setzt den Chor teilweise als dramatis persona ein, er handelt selbst aktiv (in Der Brotladen, Die Mutter oder Die Tage der Kommune) oder ist als hilflose Figur vom Geschehen betroffen (in Johanna-, die vier Agitatoren in Die Maßnahme waren ehemals Handelnde und sind nun vom Urteilsspruch des Kontrollchors abhängig). 2. Der Chor kommentiert das Geschehen als Zuschauer, der jedoch innerhalb der Spielfiktion bleibt (die Tribunalchöre in den Lehrstücken, die allerdings eher Richter als Zuschauer sind). 3. Er wird die Spielfiktion überschreitend Kommentator, Erzähler oder Spielleiter (grundsätzlich der verfremdende, epische Aspekt des Chores bei Brecht auch bei parteiischen Chören). 4. Chor und Zuschauer sollen v.a. in den Lehrstücken idealerweise eins werden, das Publikum dadurch aktiviert werden.

Daraus ergeben sich folgende Kategorien : 1. CHOR ALS DRAMATIS PERSONA, AKTIV (HANDELND) ODER PASSIV (ERLEIDEND)

(z.B. 2., 3. Kapitel) 2 . CHOR ALS KOMMENTIERENDER ZUSCHAUER INNERHALB DER SPIELFIKTION

(z.B. 2., 4. Kapitel) 3 . CHOR ALS KOMMENTATOR, ERZÄHLER, SPIELLEITER ODER VERMITTLER ZWISCHEN SPIEL UND ZUSCHAUERN (Z.B. 6 . , 7 . ,

Kapitel)

4 . CHOR ALS REALER, KOMMENTIERENDER ZUSCHAUER, DER SPIEL UND REALITÄT VERBINDET (Z.B. 6 . , 8 .

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Kapitel)

Bei fast allen von uns behandelten Chören handelt es sich um Sprechchöre. 73

IV. Lösungen betreffend die dramaturgischen Funktionen fur die Rezeption der Aufführung: 1. Der Chor dient Brecht auf der formalen Ebene - ausgehend vom Prinzip der Verfremdung des Spiels - zur epischen Verknüpfung des Spiels, als Spielrahmen oder 2. als Darsteller bzw. Überbrücker verschiedener historischer Ebenen (in Der Brotladen die homerische Sprechweise oder die Maskenstäbe in Antigone). 3. Den Parteichor benutzt Brecht als Sprachrohr seiner eigenen Ansichten, wobei meist vom Bühnengeschehen ausgehende allgemeine (politische) Äußerungen fallen (so in Die Mutter, besonders in den Liedern oder in den Lehrstücken). 4. In diesem Sinne dient der Chor auch zur Fokussierung auf bestimmte (meist politische) Themen, aber auch auf Figuren (etwa durch die Darstellung oder Erzählung gerade nicht anwesender Personen in den Lehrstücken). 5. Mit Hilfe des Chores erzeugt Brecht (in Verbindung mit der Distanzierung des Chores) komische Wirkungen (etwa in Der Brotladen).

Daraus ergeben sich folgende Kategorien : 1. EPISCHE VERKNÜPFUNG UND RAHMUNG DES SPIELS DURCH DEN CHOR

(z.B. 6. Kapitel) 2 . CHOR ALS BRÜCKE ZWISCHEN HISTORISCHEN EBENEN

(siehe 5 . Kapitel)

3 . CHOR ALS SPRACHROHR DES AUTORS, VERALLGEMEINERND (Z.B. 8.

Kapitel)

4 . FOKUSSIERUNG AUF BESTIMMTE THEMEN ODER FIGUREN DURCH DEN CHOR

(Z.B. 3., 6. Kapitel) 5 . ERZEUGUNG VON KOMIK DURCH DEN CHOR

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(siehe 3 . Kapitel)

2. Max Reinhardts König Ödipus und der Massenchor

Wir und: ich und du Das ist nicht dasselbe. (Bertolt Brecht, Lied vom Ich und Wir)

2.1 Chor- und Massenregie Reinhardts vor der Inszenierung von König Ödipus Max Reinhardts Massenregie und seine Arbeit mit Chören antiker Stücke begann keineswegs mit der Inszenierung von König Ödipus im Jahre 1910. Diese Inszenierung ist aber deshalb (fur uns) von zentraler Bedeutung, da es sich dabei um die erste in einer Zirkus- oder Arenabühne außerhalb eines traditionellen Theaterbaus mit Guckkastenbühne handelt.1 Infolgedessen sind die Dimensionen der Masse ungleich größere als zuvor; hier handelt es sich wirklich um eine mitspielende Masse von hunderten von Menschen; in späteren Inszenierungen waren bis zu 2000 Akteure im Einsatz. Neben der Quantität verändert sich durch den anderen Raum auch die Qualität der Masse wesentlich, endlich konnte Reinhardt sie enger mit dem Publikum in Verbindung bringen. Die Prinzipien ihrer Führung durch die "Chorregie" Reinhardts änderten sich nach dem König Ödipus nicht mehr wesentlich, waren teilweise jedoch schon vorher entwickelt. Julius Babs Essay Reinhardts Chorregie erschien 1909, also noch vor der Auffuhrung in der Arenabühne. In Hofmannsthals Drama Ödipus und die Sphinx hat Reinhardt 1906 erstmals "dynamische Massenregie" eingesetzt (Kindermann Theatergeschichte S. 575),2 der Chor bzw. das Volk wurde gegenüber der Textvorlage von 10 bis 12 auf 150 erhöht. Außerdem wurde die Sprachbehandlung musikalisch-symphonisch: im Wechsel

Zudem stellt der König Ödipus eine wichtige, vielleicht die entscheidende Etappe zu Reinhardts Weltruhm dar. Mit dieser Inszenierung tourte er durch ganz Europa (außer München, Berlin, und Wien auch u.a. Budapest, Moskau, Stockholm, Brüssel und London). 1904 inszenierte Reinhardts Mitarbeiter Oberländer Euripides' Medea in der Übersetzung von Wilamowitz-Moellendorff. Die Aufführung war kein Erfolg, dennoch scheint sie insofern für Reinhardt wichtig gewesen zu sein, als er hier erstmals mit dem Chor experimentieren konnte. Es wird allgemein angenommen, Reinhardt habe bei der Chorregie der Inszenierung entscheidend mitgewirkt. "Die sprachliche Form wurde bei starker Raffung des Textes aufgelöst, der Chor wurde in kleinere Gruppen und Einzelspieler geteilt, um so ein dynamisches Element einzuführen, dessen sich Reinhardt später wiederholt bediente." (Kindermann Max Reinhardt S. 447).

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Einzelstimmen und gemeinsames Unisonosprechen oder auch Schreie, dabei eine Aufteilung in verschiedene Tonlagen (Sopran, Alt, Tenor und Baß).3 Untermalt wurde der Sprechgesang durch Pauken und Celli. Teilweise ließ Reinhardt den Chor auch unsichtbar aus dem Off sprechen, was er wie auch die 'Sprechmusik' 1909 in Die Braut von Messina ebenfalls intensiv einsetzte. 1908 inszenierte Reinhardt an den Kammerspielen Lysistrata in einer (sehr freien, das Derb-komische wie auch das Politische unterschlagenden) Bearbeitung Leo Greiners. Hier kam zu den schon erwähnten Aspekten der Massenregie4 und der 'Sprechmusik' als weiteres Element der Reinhardtschen Chorregie die Pantomime. Im strengen Sinn handelt es sich dabei um keine Pantomime, sondern um eine wirkungsvolle und illustrierende Einlage anonymer Figuren als wortloses Spielen mit akustischer Unterstützung.9 In dieser Inszenierung benutzte Reinhardt Kontrastwirkungen der Massenregie auch zu komischen Zwecken, so wenn eine feige Gruppe unmittelbar einer noch feigeren gegenübergestellt wurde. Grundsätzlich jedoch dienten Reinhardt die häufig eingesetzten Kontrastwirkungen, etwa von laut und leise, ausschließlich zu einer Intensivierung der Illusion und damit der emsthaftemotionalen Verbindung der Zuschauer mit dem Spiel. Daß die Massenregie Reinhardts nicht an Antikeninszenierungen gebunden war, zeigt die dynamische Bewegungsregie in Die Räuber 1908 oder Reinhardts Vorspiel zu Shakespeares Der Kaufmann von Venedig 1905 mit der "akustischen Massenregie" (Hoffinann S. 62).6 In Büchners Dantons Tod, 1916 aufgeführt, ging es dagegen weitgehend um das Volk als Hauptfigur. Die Bühne war nie ganz ausgeleuchtet, jeweils wurden Gruppen oder Einzelfiguren durch punktuelle Beleuchtung herausgehoben bzw. zum Spiel aktiviert. Durch dieses "Hell-dunkel-Prinzip" (Herald S. 194)7 war auch im kleineren Maßstab Massentheater möglich, einige Menschen erschienen wie Hunderte oder Tausende, dabei spielte die Geräuschkulisse in Ver-

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Bab: "Die Masse gegen Kreon und die Königsfrauen hinter ihrem Sprecher in vier unsichtbar abgeteilten Chören von verschiedener Stimmfäibung: jeder dieser Chöre brachte seine Rufe in vollendet klarem Unisono, und ihre Vielfalt verschlang sich dann zu einem musikalisch abgetönten Ensemble, in dem Differenzierung und straffe Einheit zugleich waren." (Reinhardts Chorregie S. 670). Auch die 'Massenregie' hatte also ganz unterschiedliche Ausmaße. Im eher intimen Rahmen der Kammerspiele versuchte Reinhardt offensichtlich auch mit größeren Gruppen zu wirken, jedoch in viel kleineren Dimensionen als in den späteren Arenainszenierungen. Lysistrata wurde 1919 auch im Großen Schauspielhaus gespielt; für Bab erreichte diese viel aufwendigere Aufführung "nicht entfernt den orgiastischen Eindruck" der ersten Inszenierung in den Kammerspieleo (Theater der Gegenwart S. 136f). Julius Bab beschreibt das von Reinhardt dem 'happy end' hinzugefügte pantomimische Nachspiel folgendermaßen: "Paare jagen über die Bühne, fliehen sich, fassen umschlingen sich; Reigen bilden sich, verschlingen sich, wirbeln rundum, lösen sich und stieben davon; bacchantische Scharen taumeln lachend und lärmend vorbei - und während dessen erwachen hinten in der dämmernden Stadt überall die Lichter; fern steht ein Getöse auf, vermischt sich dem Lachen und Schreien der Gruppen auf der Szene, schwillt mächtig an, und schließlich schlägt von allen Seiten her ein orgiastischer Lustschrei wie riesige Wellen zusammen. Und der Vorhang fällt -." (Reinhardts Chorregie S. 670). Bab erwähnt diese Inszenierung als Beispiel für einen "ekstatischen Unisonoschrei" während der Gerichtsszene (S. 671); siehe auch Held (S. 375). Er erwähnt in diesem Zusammenhang auch den häufigen Kontrast bei Reinhardt zwischen Lärm und Stille.

bindung mit der Beleuchtung eine wichtige Rolle. Zudem war durch ein verschränktes Wechseln von Licht und Text das Übereinanderblenden abfolgender Szenen möglich. In Romain Rollands Danton schließlich, der 1920 im Großen Schauspielhaus aufgeführt wurde, piazierte Reinhardt für die Gerichtsverhandlung Schauspieler mitten im Publikum, um aus dem Zuschauerraum auch den Raum der imaginären Szene zu machen, die Zuschauer wurden zu 'Komparsen'.* In der Einbeziehung der Zuschauer war schon Vollmoellers pantomimisches Schauspiel Das Mirakel, 1911 in London (als The Miracle) uraufgeführt und u.a. auch 1923 in New York gespielt, einen Schritt weitergegangen als König Ödipus. Der riesige Raum der Olympia Hall in London war wie eine gotische Kirche ausgestattet, die ca. 30 000 Zuschauer saßen wie Gottesdienstbesucher auf Kirchenbänken - anders als bei den Bühnenarbeitern fehlte nur die historisierende Verkleidung - das Licht im Zuschauerraum wurde erst nach dem Vorspiel gelöscht. Fast 2000 Akteure wirkten nun mit, Text gab es kaum, das Spiel der Protagonisten wurde von der Masse und dem riesigen Raum unterdrückt, Reinhardt erreichte die Grenzen von Kunst und kommerziellem pseudo-religiösen Spektakel.

2.2 Der Massenchor in Reinhardts Arenainszenierung von Hofmannsthals König Ödipus Nach dem breit ausgespielten, eine düstere Stimmung erzeugenden Auftritt der Volksmasse zu Beginn erscheint Ödipus, die Hauptfigur in grellem Bühnenlicht: Die Masse zu Füßen der Bohne wirkt wie ein stöhnender, zusammengeballter Haufen als Silhouette. Ödipus im Licht [....] Stille.'

Erstmals kommt es zum scharfen Kontrast zwischen Menge und Einzelfigur. Nachdem sie von Ödipus dazu aufgemuntert werden, wenden sie sich gemeinsam "wimmernd" (Regiebuch S. 10), dann mit einzelnen Stimmen und schließlich wieder gemeinsam an den König. Die ekstatische Masse bildet dabei eine "Menschenpyramide" (Matejka S. 71) auf der Treppe zu Füßen des Herrschers, der im hellem Licht steht, während die Menge nach wie vor im Halbdunkel ist, wobei die zu Ödipus 8

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Nach Peter Hoffmann war der Effekt auf die Zuschauer allerdings eher verwirrend und desillusionierend (S. 102). Regiebuch, hier unnumeriert. Reinhardts Regiebuch ist als Hilfsmittel zur Rekonstruktion der Aufführung unerläßlich. In einzelnen konkreten Fällen erweisen sich Reinhardts Angaben, wie sich durch Kritiken und Photographien zeigt, zwar als unrichtig bzw. irreführend (so trug der Chor entgegen dem Regiebuch offensichtlich keine Masken). Gerade die blumigen, poetischen Beschreibungen der Wirkungen, die Reinhardt im Regiebuch vorwegnahm, scheinen jedoch weitgehend umgesetzt bzw. im geplanten Sinne gewirkt zu haben, wie die Reaktionen der Kritiker zeigen. Die Informationen und Skizzen des Regiebuchs dürfen jedenfalls nicht, wie von Hoffmann und Robert Matejka, ungeprüft übernommen werden. Zu dem Verhältnis von Regiebuch zur Aufführung bei Max Reinhardt siehe Passow. Eine Rekonstruktion des König ödipus wird dadurch erschwert, daß es diverse Aufführungsorte, mit veränderten Raumbedingungen, Umbesetzungen usw. gab.

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ausgestreckten Arme jedoch auch in das Licht greifen.10 Viele Kritiker schreiben, in dieser Szene seien die Fünfhundert der Menge wie Tausende erschienen, auch dadurch, daß sie erst einen Arm und dann den anderen (ins Licht) hoben, womit der Effekt verdoppelt wurde. Der Kontrast zur (durch Beleuchtung und erhöhte Position) herausgehobenen Einzelfigur, gemeinsame Geräusche und Rufe bei suggestiver Geräuschkulisse und synchrone Bewegungen in einer effektvollen Beleuchtung, sind die Elemente, die die große Wirkung der Masse auf die Zuschauer hervorrufen. Die Dynamik der Masse in Sprache und Bewegung wird durch akustische und visuelle Effekte noch verstärkt. Reinhardt nutzt wie kein Theaterregisseur vor und wohl keiner nach ihm die Möglichkeiten des Massentheaters, indem er (mit Hilfe eines großen organisatorischen Hilfsapparates) die Masse quasi musikalisch einsetzt: Kontraste in Tempo, Lautstärke, im Verhältnis Einzelner in der Masse und der Gesamtmasse beleben das Spiel und erzeugen Spannung, die in den Handlungsbogen eingebunden ist. Das bedeutet auch, daß die Masse immer innerhalb der Illusion des Spieles bleibt. Sie durchbricht nie das Spiel, sondern stellt innerhalb des Bühnengeschehens eine vermeintlich naturalistisch legitimierte Gruppe dar: das Volk. Die tatsächliche Künstlichkeit dieser chorisch-musikalischen Regie wird in der Sprachbehandlung deutlich. Diese erstreckt sich allerdings primär auf den Chor der Greise, weniger auf die Volksmasse. Der Unterschied zwischen beiden Gruppen in der Inszenierung ist von großer Bedeutung für das Verständnis der Chor- bzw. Massenregie Reinhardts, zumal in der Rezeption von König Ödipus eine Vermischung beider stattgefunden hat. Im allgemeinen verschwindet der Chor von 27 Greisen hinter der Volksmasse mit ihren 500 Mitwirkenden und deren Gestaltung durch Reinhardts Chor-Regie; häufig werden Chor und Masse auch nicht explizit auseinandergehalten, und mit dem Begriff "Chor" sind dann Volksmasse und Chor oder ausschließlich die Masse gemeint.11 In der oben beschriebenen Eröflnungsszene, die in der Textvorlage nur knapp angedeutet ist, wird die Masse von 500 Akteuren der Hauptdarsteller; in der Folge gerät sie jedoch in den Hintergrund (der Chor löst sie quasi ab), erst im Finale nach der Blendung des Ödipus wird sie wieder im Finale zum Hauptdarsteller.12 Die Masse bestimmt also - anders als ein ober10

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Mit folgender Beschreibung dürfte auch genau diese Stelle der Aufführung beschrieben sein: "Glieder zucken im Krampf, Knie versagen den Dienst, der Wankende stürzt zu Boden. Andere peitscht die Ekstase auf zu höchster Kraftanstrengung, und hundert flehende Arme greifen in den Himmel. " (Königsberger Hartungsche Zeitung 10.11.1910). Die Begriffsvermischung taucht schon bei Bab 1909 auf, also vor der Inszenierung von König ödipus, wie wir noch sehen werden, hat diese Verwirrung ihre Ursache in der Sache selbst, da es nicht abwegig ist, in der Masse bei Reinhardt chorische Elemente zu sehen. Problematisch ist jedoch, daß auch in der zeitlich entfernten Sekundärliteratur häufig nicht sauber definiert wird: bei Kindermann (Max Reinhardt) bleibt beispielsweise unklar, welche Gruppe bei "Chor-Führung" gemeint ist (S. 456). Das Finale bringt die zweite große Massenszene: In einem Wechsel von Bewegung und Erstarrung, Einzeleinlagen und Massenszenen, großem Lärm und totaler Stille oder geflüsterter Worte rennen zunächst einige Fackelträger aus dem Palast, dann einige Mägde. Die Mägde liefern als dritte chorische Gruppe der Inszenierung den Bericht der schrecklichen Ereignisse, des Selbstmordes Iokastes und Ödipus' Selbstblendung. Vor Schrecken und Fassungslosigkeit stockend und sich andererseits überstürzend münden die Reden der

Sächlicher Blick auf die Quellen nahelegen könnte - nur einen kleinen Teil der Inszenierung. Durch die chorisch-musikalischen Elemente der Volksmasse liegt eine Vermischung von Chor und Masse in der Tat nahe; die naturalistische Figur 'Volk' wird auch durch die sprachliche Gestaltung - durch fugenartiges Einsetzen oder Unisonosprechen - zu einer chorischen Gruppe. Streckenweise gehen eigentlicher Chor und Volk auch sprachlich ineinander über, sie bleiben jedoch zwei zu unterscheidende Bestandteile der Inszenierung. Der Chor der Greise tritt nach einem musikalischen Übergang mit Musikuntermalung und veränderter Beleuchtung "in feierlichem Tanzschritt" (Regiebuch S. 19) auf. Mit ihren langen Gewändern und den Stöcken, dem veränderten Licht, der Musik und den Tanzbewegungen stellen sie einen deutlichen Kontrast zur gepeinigten und verzweifelten - andererseits primär jungen und teilweise "halbnackten" und auch aus Frauen und Kindern bestehenden - Menge der vorangegangenen Szene dar. Die geordnete Gruppe der Greise ist in "Gebetsstellung" um den Altar gruppiert und betet zu den Göttern. Der von Einzelsprechern gesprochene Text wird "kanonartig wiederholt" (S. 19). Dieser auf musikalischen Prinzipien beruhende Sprachumgang mit fugenartigem Einsetzen der einzelnen Sprecher oder Gruppen macht aus dem Text eine "gesprochene Partitur";13 auch aus einer kurzen Äußerung des Chores im anschließenden Gespräch mit Ödipus wird eine längere Chornummer, der Inhalt des Textes ist dabei kaum noch nachvollziehbar.14 Erstmals ist die Masse in der Ödipus-Teiresias- Szene aus dem Hintergrund, "unsichtbar" (S. 26) zu hören, wenn sie - begleitet von einem tiefen Orgelton - die Bitte des Chores an Teiresias (vereinfachend) wiederholt. Auch in der Folge ist die Masse durch Raunen, Wimmern und ähnliche Geräusche im Hintergrund als mitleidener Zuschauer bzw. -hörer präsent. In der nächsten Szene (mit Ödipus und Kreon) weicht der Chor in den Mittelgang zurück, in seine Grundposition während der

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Mägde in ein gemeinsames "Sag es nicht!" (S. 92). Durch starkes Kürzen der Einzelreden schafft Reinhardt hier einen "Chor der Mägde" (Matejka S. 67) und stellt so erneut den Text und seinen Inhalt hinter Massenaktion zurück. Der geblendete ödipus stolpert nun hilflos in die Menge hinein. Das Ende wird wieder ruhiger; nachdem ödipus in den Palast geführt wurde und die Masse "allmählich....lautlos" verschwunden ist, schreitet der Chor "paarweise, feierlich, stumm" (Regiebuch S. 102) aus dem Saal. Einar Nilson schreibt über die Musik bei Reinhardt: "Ein besonderes Gebiet musikalischer Gestaltung bei Reinhardt bilden die Sprechchöre [...] Er schreibt sozusagen eine Partitur. Die Chöre werden in Gruppen eingeteilt, die mit den Gesangsstimmen in einem mehrstimmigen Chorwerk zu vergleichen sind. Ein Satz des Chorwerkes wird an verschiedenen Stellen durch Wegnahme von Worten für eine später beginnende Gruppe abgekürzt, und so fort durch mehrere Stufungen, um die Sprechenden dann im geeigneten Moment mit voller Kraft unisono einsetzen lassen zu können." (S. 505). In der Königsberger Hartungsche Zeitung heißt es: "Der Chor der Greise sprach seine Reden, wie es schon bei ähnlichen Gelegenheiten erprobt wurde, so daß einzelne Satzteile wie ein Ball von Sprecher zu Sprecher weiterflogen." In dieser Hinsicht, wegen der für einen Sprechtheaterchor ungewöhnlichen Größe sowie wegen der Gestaltung nach musikalischen Prinzipien läßt sich bei Max Reinhardts Massenchören eine Parallele zum Chor in der Oper denken (Siehe oben in der Einführung, 2.3 Gesangs- und Opernchöre). Die musikalischen Elemente von Reinhardts Chorregie beruhen allerdings eher auf Prinzipien der symphonischen Orchestermusik.

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folgenden Szenen, in denen er nicht Sprecher der 'Lieder' ist. Der Chor gerät nun auch in den Hintergrund, allerdings weniger stark als die Masse, er befindet sich in der Mitte der beiden Zuschauerblöcke und zwischen Protagonisten und Masse, diese bleibt in unmittelbarer Nähe zum Publikum.15 In den Reaktionen auf das Geschehen bleibt der Chor führend, seine Einwürfe werden jedoch z.T. von der Masse wiederholt, der Unterschied zwischen beiden Gruppen hat sich deutlich - veranschaulicht durch die räumliche Nähe - verringert. Exemplarisch fur Reinhardts 'Chorpartitur' des Greisenchores, in der er die Textvorlage stark kürzt, andererseits durch die musikalische Struktur der Sprachbehandlung diesen Text wiederum deutlich verlängert, sei der Beginn eines Chorliedes in der Fassung des Regiebuchs zitiert: Die Stelle beginnt leise, wieder gibt es plötzliche Stimmungswechsel, durch Variation von Tempo und Lautstärke unterstützt. Es kommt zu einem Wechsel von Einzelsprechem, Chorgruppen und dem Gesamtchor, wobei zum Ende hin die Tendenz der Herausbildung einer Gesamtstimme nach dem Beginn mit Einzelstimmen deutlich ist. Als Höhepunkt der Stelle wiederholt die Masse den Ausruf des Chores: 3. CHORFÜHRER flüsternd 3. CHOR einfallend 2. CHORFÜHRER 2. CHOR 1. CHOR 3. CHOR

2. CHOR stärker

1. CHOR stärker

ALLE verinnerlicht gedämpft 1. CHOR gedämpft 2. CHOR

ALLE chormäßig tief 2. CHOR 3. CHOR 3. CHOR 2. CHOR 1. CHOR ALLE MENGE

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Hast Du gehört Hast Du gehört wie sie von den Göttern [unterstrichen] sprachen von den Göttern sprachen von den Göttern sprachen wie frech die Worte schamlos und nackt schamlos und nackt schamlos und nackt wie frech die Worte schamlos und nackt schamlos und nackt wie frech die Worte schamlos und nackt schamlos und nackt aus ihrem Munde brachen Ein Etwas muß sein, es bindet das Wort [Pausenzeichen] Ein Etwas muß sein, es bindet das Wort es bindet die Tat [Pausenzeichen] es bindet die frevelnden Hände Wehe Wehe Wehe Wehe, wenn nichts uns bände Wehe [fett]16

Nach Hoffmann (S. 117) bleibt das Volk direkt in den Eingängen, so daß der Eindruck einer nach außen unendlichen Menge entsteht. S. 60. Unterstreichungen und Fettdruck nach Reinhardts Handschrift.

Durch die starke Personalisierung des Textes, die mit starken Emotionen des Chores verbunden ist, wird das Ende dieser Chorpartie zur Drohung an die Götter ("die Fäuste hochgeworfen", S. 62); der Chor wird hier, was im Text des Sophokles nur angedeutet ist, zum Gegenspieler des Ödipus. Ihr feierliches Auftreten und die Gestaltung der Greise mit wallendem Haar, langen Barten und langen Gewändern erscheinen (heute) als weltfremdes romantischhistorisierendes, wilhelminisches Theater und entbehren nicht einer unfreiwilligen Komik. Sprachlich konzentriert Reinhardt die Chorregie zwar auf den Greisenchor, die effektvolle Massenregie betrifft jedoch die Volksmenge. Dabei hat der Greisenchor durch seine überdurchschnittliche Größe und den Verzicht auf die Andeutung individueller Einzelfiguren innerhalb des Chores auch ZUge eines Massenchores. Dennoch erweckt nicht der eigentliche Chor, sondern die (nur bedingt chorische) Masse unser Interesse - wie auch das der Zeitgenossen. Der Chor der Greise entspricht in seiner Zusammensetzung und Größe weitgehend dem antiken Tragödienchor; ähnliches gilt für die religiöse Komponente. Anders, jedoch schon in Hofmannsthals Bearbeitung angelegt, ist die verstärkte persönliche Fixierung des Chores auf Ödipus hin und damit zusammenhängend die verlorene Fähigkeit zu Distanz und Abstraktion. Der Greisenchor ist dramatis persona, die ihre Identität aus der Religion und dem Mitleiden mit dem Helden bezieht, Distanz geht ihm wie auch der Masse völlig ab. Er ist jedoch vom Geschehen weniger betroffen als die leidende Menge, da nur die Götter, nicht sein eigenes Leiden, das Maß aller Dinge sind. Dadurch erhält er eine gewisse (chortypische) Konstanz trotz der starken persönlichen Fixierung (zugleich könnte in der Betonung des Griechisch-Kultischen ein wichtiger Grund für die 'museale Verstaubtheit' dieses Chores innerhalb der Aufführung im Jahre 1910 liegen). Der Greisenchor ist in seinem optischen Auftreten und der dramaturgischen Einbindung in das Geschehen im Gegensatz zur Volksmasse eher ein konventioneller, historisierend-klassizistischer Chor, der alleine keinen traditionellen Bühnenrahmen sprengen könnte. Die Distanz der Masse zum antiken Theaterchor ist tiefgreifend. Dramaturgisch ist die Nähe zu Volksszenen im neuzeitlichen Drama (in der Shakespearenachfolge) eng; das zeigt sich auch an der gemischten Zusammensetzung. Reinhardts Volksmenge hat keine Liedeinlagen und bringt das Spiel nie auf eine andere, distanzierte Ebene, vielmehr ist sie unlösbar in das Bühnengeschehen eingebunden. Die enge Geschlossenheit der Masse und ihre stilisierte, musikalische Chorregie nähern sie andererseits jedoch dem antiken Theaterchor an. Reinhardt übernimmt in seiner Inszenierung wichtige Tendenzen seiner Textvorlage, Hugo von Hofrnannsthals Sophoklesbearbeitung König Ödipus.17 Die 17

Bei Hofmannsthal ist der Umfang der Chorlieder gegenüber Sophokles teilweise erheblich gekürzt (das 3. Stasimon wird auf wenige kuze Fragesätze reduziert, die anderen etwa um die Hälfte). Dabei wird der Text in der Regel auf einzelne Sprecher verteilt, aus den Chorliedern werden Chorpartien. Der Chor wird bezeichnenderweise von Hofmannsthal nicht als "Chor" sondern als "Die Greise" benannt, deren Anzahl ist auf sieben begrenzt. Ihre Selbständigkeit gegenüber ödipus ist im Vergleich zu Sophokles zurückgedrängt, die Texte der Greise sind konkret und persönlich auf ihn bezogen. Die Chorpartien sind in das Geschehen ohne deutliche Abschnitte eingepaBt, das Drama läuft insgesamt in einem ununterbrochenen Handlungsbogen ab, "die Chöre" sind "weitgehend in das nervös erregte dramatische Geschehen hineinnivelliert." (Schadewaldt Das Drama der Antike S. 9). Die

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kultische Rolle des Chores gerät in Hofmannsthals Drama in den Schatten seiner Hauptaufgabe, die (düstere) Stimmung des Stückes wiederzugeben und damit (dem Publikum oder Leser) zu vermitteln.18 Reinhardt vergrößert zwar den Chor gegenüber der Vorlage, er gibt ihm eine geschlossenere Form, etwa indem er Auflösungen im Text rückgängig macht, und er betont stärker die kultische Rolle der Greise. Andererseits ist auch bei ihm der Chor stimmungserzeugende, unreflektierte und persönlich auf Ödipus konzentrierte dramatis persona. Dadurch wird der Chor der Greise bei Reinhardt zu einer inkonsequenten klassiszistisch-neuromantischen Mischung. Die "Hineinnivellierung" und die stimmungsfordernde Tendenz Hofmannsthals konzentriert er auf den Massenchor, der bei Hofinannsthal zwar angelegt ist, aber von Reinhardt deutlich ausgebaut wird. Der Einfluß der Textvorlage auf Reinhardts Inszenierung des König Ödipus ist nicht zu unterschätzen, 'unantike' Elemente der Inszenierung lassen sich zum Teil schon in der Vorlage ausmachen. Die Inszenierung von König Ödipus ist also im Grunde keine Inszenierung eines antiken Textes, sondern eines Stückes, das auf eine antike Vorlage zurückgeht; die neuromantischen Tendenzen des Dramas werden durch Reinhardts auf Einfühlung und Identifikation abzielende Theatralität gerade bei der Volksmasse oft noch verstärkt. Reinhardt benutzt so ausführlich chorische Theaterformen nicht der Form der antiken Tragödie zuliebe, sondern damit sie dem einzigen Ziel seiner Theaterarbeit, der totalen Verzauberung des Publikums, dienen. Die räumlichen Voraussetzungen dafür sind folgende: König Ödipus wurde zuerst in der Münchner Musikfesthalle, einer für Konzerte umgebauten 3200 Zuschauer fassenden Messehalle, aufgeführt. Die anschließenden Aufführungen in Wien und Berlin fanden in großen Zirkusbauten statt, vor bis zu 5000 Zuschauern. Mit dieser ersten Arena- oder Zirkusinszenierung Reinhardts ist nicht nur das Spielen vor einem ungewöhnlich großen Publikum verbunden, sondern auch eine neue Bühnenform; statt der Guckkastenbühne ist die Hauptbühne ein nur durch Treppen abgehobenes Podest, die Vorbühne ist von den beiden, einander gegenüberliegenden Zuschauerblöcken umgeben und wird auf derselben Höhe wie diese quasi zur Orchestra. Reinhardt und sein Bühnenbildner Franz Geiger öffnen so das Gegeneinander von Publikum und Bühne und ermöglichen besonders für den Chor und die Massen auch ein Spiel inmitten der Zuschauer. Die Protagonisten agieren meist auf der erhöhten Hauptbühne, die die Front des Palastes darstellt. Die Masse erscheint zu Beginn von den beiden Seiten und von der Rückseite (in der Mitte der Zuschauerblocks); ihre erste Szene spielt sich am Fuße bzw. auf den unteren Stufen des Palastes ab, dann zieht sie sich nach hinten bzw. an die drei Eingänge zurück. Der Chor agiert anfangs v.a. um den Altar, der aus den untersten Stufen herausragt. Das Licht ist auf die Hauptbühne konzentriert, der Chor ist in einem blaßblauen Licht, die Masse im Halbdunkel.

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Greise bleiben im Horizont des unmittelbaren Geschehens befangen und dienen zur Verdichtung der Atmosphäre, statt eines distanzierten Schlußwoites äußern sie: "(in sich erschauernd) ödipus!" (S. 102). Das oben ausführlich besprochene "Wie soll ich noch tanzen" des Chores im 2. Stasimon wird in Hofmannsthals Bearbeitung zum grundsätzlich-existenziellen, gar nicht selbstreflexiven "wer wird noch beten!", gesprochen von einem Greis.

Max Reinhardts Theater will den Zuschauer wie in einem Sog in das Spiel, in eine phantastische Zauberwelt hineinziehen,19 meist mit Hilfe melodramatischer Mittel. Im König Ödipus versuchte er das im Sinne der neuromantischen Bearbeitung Hoânannthals durch Betonung der düsteren Atmosphäre, wobei besonders die Volksmasse, "welche die gefühlsmäßige Verbindung zur Zuschauermasse herstellen soll" (Matejka S. 66), Mittel der Publikumsbeeinflussung wird. Abgesehen von den au&egenden beiden Massenszenen zu Beginn und am Ende der Aufführung, bleibt das Volk im Hintergrund, in unmittelbarer Nähe zu den Zuschauern. Dabei verfolgt es als Zuschauer das Geschehen, der abgesesehen davon, daß er selbst spielt, sich durch seine innere Beteiligung von den realen Zuschauern unterscheidet; das Volk hat ein existenzielles Interesse am Geschehen. Zudem werden seine Empfindungen durch Bewegungen und akustische Äußerungen (Raunen, Stöhnen usw.) aber auch kurze Ausrufe offensichtlich. Denkbar ist, daß durch diese aktivierten und leidenden Zuschauer sich die wirklichen Zuschauer verstärkt mit dem Geschehen identifizierten, sich mit hineinziehen ließen. Dies wird von einigen Kritiken bestätigt; die Zuschauer meinten demnach sich "mitten unter diesen aufgeregten Menschen zu befinden" {Königsberger Hartungsche Zeitung 10.11.1910) und bekamen auch tatsächlich Angst, an anderer Stelle heißt es: "Dieses 'Nicht-zur-Besinnung-kommen-lassen' der Zuschauer ist ein Haupttrick seiner Regie." (Fremdenblatt Wien 6.5.1911).20 Der Chor der Greise hat auch eine Zuschauerfunktion, ist jedoch, wie die räumliche Verteilung zeigt, weniger eng mit dem Publikum verbunden, er ist vielmehr Mittler zwischen Protagonisten und Volksmasse bzw. Zuschauern. Im Verlauf der Aufführung werden Chor und Masse jedoch immer ähnlicher; gebannt, hilflos und überrascht verfolgen sie die neuen Entwicklungen, die Reaktionen beider Gruppen finden zunehmend gemeinsam statt. Der Chor läßt sich nun als näher charakterisierte Untergruppe der Volksmasse ansehen. Das Volk befindet sich (zwischen seinen beiden großen Szenen) fast außerhalb des Spiels, vermischt sich beinahe mit dem "

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Zu König ödipus schreibt Reinhardt: "Ein Kontakt zwischen Publikum und Darsteller ergibt sich, der ungeahnte, anonyme Wirkungen auslöst. Der Zuhörer wird in weit höherem Grade als sonst mit den Geschehnissen verbunden." (Fetting S. 330). An anderer Stelle äußert er sich folgendermaßen: "Alle, die im Theater sind, - ob auf der Bühne oder im Zuschauerraum - bemühen sich, bewußt oder unbewußt, sich selbst zu überwinden, sich zu vergessen, über sich hinauszuwachsen. Sie suchen die Ekstase, den Rausch, den ihnen sonst nur die Droge geben kann." (Fetting S. 334). Das wird von Hofìnannsthal bestätigt, wenn er schreibt, daß es Reinhardts Ziel sei, die Zuschauer "durch einen rhythmischen Zauber in eine Art Trance zu bringen;" (Aufzeichnungen S. 340). Daß Reinhardt den Zuschauer gleichsam als Mitspieler ansieht, also keine kritische Distanz fordert, belegt folgende Stelle: "Es ist meine tiefste Überzeugung, daß gutes Theater nicht allein auf der Bühne gespielt wird, daß vielmehr unsere wichtigsten Mitspieler im Zuschauerraum sitzen. Der geheimnisvolle Kontakt zwischen Schauspieler und Zuschauer ist es, der das vollkommene Theater entstehen läßt und der es trotz aller Bedrängnis unsterblich macht. Gutes Theater hängt nicht nur von dem Talent der Schauspieler, sondern ebenso von dem Talent der Zuschauer ab." (Fetting S. 347). Er äußerte auch, "die Qualität des Publikums wächst mit seiner Quantität" (Adler S. 43). Viele Kritiker widerstanden jedoch diesem auf naive Zuschauer bauenden "Trick" und kamen so zu teilweise heftiger Ablehnung der Inszenierung. So auch Stanislawski anläßlich des König ödipus in Moskau: "Das ist so entsetzlich, daß ich mich wieder meines Schauspielerberufes schämte. Pathos, Volksgeschrei, Austattungs- und Kostümpronk." (S. 340). 83

Publikum, bleibt dabei jedoch durch den Chor der Greise, dessen 'Echo' es darstellt, mit dem Spiel verbunden. Durch die anfängliche Zweiteilung der Gruppe schafft Reinhardt eine abgestufte Beeinflussung des Publikums. Die Differenzierung ermöglicht ein sehr enges Heranrücken der einen Gruppe, des Volks an das Publikum; die Annäherung der beiden Gruppen gegen Ende verstärkt die Verbundenheit des Publikums mit dem Geschehen weiter. Chor und Masse dienen Reinhardt zum Hineinziehen der Zuschauer in die Atmosphäre des Stückes, auf theaterhistorisch beipiellose Weise. Durch die Größe der Volksmasse und das riesige Publikum wird dieser Effekt verstärkt, der einzelne Zuschauer kann sich im Dunkel des Zuschauerraums mit dem leidenden Volk identifizieren, ohne sich auf einzelne Personen einlassen zu müssen. Dieser Effekt dürfte sich wesentlich von der Fokussierung des Zuschauerinteresses im antiken Theaterchor unterscheiden, da es sich bei Reinhardt um eine rein emotionale, in das Spielgeschehen hineinprojizierende, suggestive Sogwirkung handelt. Die Ästhetik Reinhardts kommt damit in ihrer Wirkung und in einigen ihrer Mittel, von denen die anonyme Menschenmasse eines ist, dem in dieser Zeit entstehenden Medium Film sehr nahe. Die Massenregie ist für Reinhardt ein wertfreies und unpolitisches Mittel zur Verzauberung der Zuschauer wie alle anderen Elemente seines Theaters - sein einziges soziales Anliegen ist die gemeinsame Theatererfahrung.

2.3 Das Verhältnis Gruppe-Individuum in Reinhardts Massenchor Dem Massenchor Reinhardts scheint eine eindeutige Entscheidung zugunsten der Masse gegenüber einzelnen Individuen zugundezuliegen. Die Masse bei Reinhardt besteht jedoch aus mitspielendem Volk, ist also - anders als der antike Chor, der von vornherein eine Kunstfigur ist - eine bestimmte, konkrete Gruppe in der Welt des Spiels. Die Mitglieder des Volkes sind demnach Individuen, die entscheidende technische Frage ist deshalb, wie stark das betont wird.21 Reinhardts Mitarbeiter Berthold Held stellt fest: Die Menge, die Gesellschaft, das Volk besteht zwar aus einer Fülle selbständiger Einzelwesen, deren jedes ein individuelles Leben lebt. Jeder als Mensch hat seine Leiden und

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Wie wir bereits sahen, sind die Unterschiede je nach Stück und der jeweiligen Inszenierung bei Reinhardt groß, die Nuancen der Massenregie sind vielfältig. Doch auch bei König Ödipus gibt es Unterschiede in der Bewertung: "Eine geschlossene Masse, beseelt von einem Gedanken und Willen [...] und doch Bewegung in dieser Masse, die sich sichtlich aus Individualitäten zusammensetzt. " (Königsberger Hartungsche Zeitung 10.11.1910). Fritz Kortner, Chorführer beim Moskauer König Öd/pits-Gastspiel, betont dagegen: "Als Greisenführer jedoch fügte ich mich - ich glaube verständnisvoll - ein. Begriff ich doch schnell, daß aus solch einer Masse - es kam noch das Volk von Theben dazu, in meiner Erinnerung Hunderte von Menschen - der einzelne sich kaum als Individuum herausheben durfte, daß die Masse, dem Tausendfüßler gleich, ein Körper war, wobei ein Fuß unter den tausend die eigene Person war, und daß von diesem Gesichtspunkt die Bewegungen wirken mußten, als kämen sie von einem Lebewesen, um so mehr, als die Masse von einer Einheitsmeinung, einer Einheitserregung erfaßt war." (Kortner S. 107f.).

Freuden, doch müssen diese hier zurücktreten, wenn sie nicht in engster Beziehung zur Handlung stehen.22 Held vergleicht diese Art der Darstellung im Theater mit Massenszenen in der Malerei; auch hier kann es zur typisierenden "Ent-Individualisierung" kommen. 23 Die Einheit der Gruppe bleibt nicht immer total, sie ist durch die Wirkungsabsicht bestimmt und kann auch durch diese aufgelöst werden: Wo ein Einzelschicksal gezeigt werden soll, und sei es im kleinsten Ausschnitt, da entsteht eine Solorolle. Wenn es sich aber um das Schicksal einer Gesamtheit handelt, wenn die Masse der Menschen sich zu einem gemeinsamen Willen zusammenballt, dann muß das Einzelne untertauchen, dann kann nur die Masse als Masse große Wirkung ausüben.24 Es handelt sich also um keine Uniformierung der Individuen, sondern eher um eine veränderte Art der 'Beleuchtung', auch im ganz konkreten Sinne. Jeweils entscheidend für die Gestaltung der Masse ist ihre dramaturgische Rolle im Stück bzw. der Szene. 25 Für Reinhardt scheint dabei nicht ansatzweise ein Problem bestanden zu haben, Konflikte von (unterdrücktem) Individuum und der Masse sind nicht einmal angedeutet. Gerade durch die musikalisch strukturierte Sprechweise schafft Reinhardt "Differenzierung und straffe Einheit zugleich" (Bab Reinhardts Chorregie S. 670) - ohne grundsätzlich ideologisch eines dem anderen vorzuziehen.

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S. 181. Held war auch Reinhardts Chorleiter, im wesentlichen probte er mit den Laien die Chöre und Volksmassen ein, wobei von einem erfahrenen Schauspieler kleinere Untergruppen angeführt wurden. "Wer eines der figurenreichen Bilder Rembrandts betrachtet, wird bemerken, daß die Hauptgestalten in hellem Lichte stehen, die Nebenfiguren aber im Schatten, und außerdem, daß die in stärkere Beleuchtung gestellten Figuren auch in ihrem Ausdruck und in ihrer Haltung, ihrer teilnehmenden Geste zeichnerisch und malerisch genauer durchgeführt, die in den Schatten gestellten Nebenpersonen dagegen flüchtiger behandelt sind, um - je mehr sie dem Vordergrund entrückt werden - nur als Masse zu wirken. Endlich, wie in der 'Nachtwache', hört die Darstellung der Menschen ganz auf und wird nur durch die sich im Dunkel verlierenden Lanzen angedeutet. Auf diese Weise wird der Eindruck einer großen Zahl von Lanzenträgem vorgetäuscht." (S. 181). Die Parallele zum König Ödipus ist auffällig: die erhobenen Arme der flehenden Menge sind im Licht, während die "dazugehörenden" Körper im Halbdunkel bleiben, was für einige Kritiker tatsächlich den Eindruck einer tausendköpfigen Menge erweckte. S. 181f. Eine Solorolle eines anonymen Mitgliedes der Masse, das quasi eine beispielhaft zugespitzte Darstellung der Empfindungen der Masse ist, findet sich in der zweiten Massenszene im König ödipus: "Ein Diener mit erloschener Fackel rennt durch den Saal nach rückwärts, fällt immer wieder hin, starrt auf die Türe, springt hoch vor Entsetzen, tanzt in der Luft." (Regiebuch S. 91) Julius Bab (Reinhardts Chorregie) differenziert folgendermaßen: Die Masse kann Gegenbzw. Mitspieler eines Protagonisten sein (in der ersten Massenszenen im König ödipus), sie kann auch die Szene kurzzeitig beherrschen (zu Beginn der ersten und in der zweiten Massenszene) oder sie bildet den Hintergrund (im Mittelteil des König Ödipus). 85

2.4 Zusammenfassung von Reinhardts Massenregie und ihre Einordnung in die Typologie des Chores Reinhardts Versuche mit der Masse haben keine innere Verbindung zum antiken Theater. Sein Ziel war immer, die Zuschauer in seinen Bann zu ziehen, mit allen theatralen Mitteln, die er finden oder erdenken konnte; Inhalte spielten dabei keine Rolle. Text war ihm nur wichtig, insofern er diesem Ziel diente, seine Massenregie hat dieselbe Ursache. Sie blieb immer nur eine Form seines Theaters, gerade Max Reinhardt ist auch Vorreiter eines intimen Theaters gewesen. Dennoch ist es auch auf Reinhardts (vermeintliche) Antikeninszenierungen zurückzuführen, daß seit Beginn dieses Jahrhunderts antike Dramen einen festen Platz im Repertoire des deutschsprachigen Theaters haben. Stilistisch ist Reinhardts Massenregie schwer einzuordnen, sie hat sicherlich neu-romantische Züge, teilweise jedoch auch naturalistische Elemente (das Zusammenwachsen aus Einzelstimmen), immer jedoch dominiert der spielerisch-illusionistische Zug (ob nun phantastisch oder naturalistisch).26 Die Massenregie mit Hunderten von Darstellern ist seine Erfindung, ebenso der chorische Sprachgebrauch und Bewegungsablauf der Menge. Wie wir sahen, hatte er auch Chöre in kleinerem Rahmen mit fast den gleichen Prinzipien geführt; auch hier kam es ihm jedoch nie auf einen möglichen Konflikt zwischen Gruppe und deren einzelnen Mitgliedern an. In der Chor-Regie wie in der Massenregie sind die Bewegungen genau choreographiert und rhythmisiert, ebenso sind die Sprechchöre (vom Einzelsprecher über fugenartige Einsätze bis zum Unisonosprechen) musikalisch benutzt. Das Geschehen unterbrechende Gesangschöre setzte Reinhardt nicht ein; wohl aber pantomimische, heute wohl als Tanztheatereinlagen zu bezeichnende Partien. Musikalische bzw. Geräusch-Untermalung spielte eine große Rolle im suggestiven, filmähnlichen Konzept. Die gesamte Chorbehandlung Reinhardts weist also eher Einflüsse bzw. Parallelen zur Musik auf als zum antiken Theaterchor;27 sein Massenchor sprengt trotz hochartifizieller Behandlung nicht den Illusionsrahmen, sondern dient vielmehr zu seiner Verstärkung. Es entsteht chorisches Volk bzw. ein Volkschor; Reinhardts Chor nimmt demnach bei aller Nähe zum Publikum auch keinen Sonderstatus ein, er ist vielmehr ein "Trick".28 Eine Besonderheit in König Ödipus ist der Gebrauch zweier chorischer Gruppen, der Masse und des Greisenchores. Reinhardt nutzt das für eine abgestufte 'Brückenfunktion1 der Chöre zwischen Spiel und Publikum. Völlig neu ist in Reinhardts Massenregie auch der alternative Bühnenraum, die Arenabühne, die in Abkehr vom Guckkasten ein neues Verhältnis zum Publikum schaffen sollte. Der Umgang mit dem Raum in Verbindung mit der Masse oder einem Chor ist auch für die Zukunft 26 27

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Für Siegfried Jacobsohn ist König ödipus "ein ewiges Hinundher von Stillosigkeit und Stilsicherheit." (S. 1177). Neben der Musik läßt sich, wie wir sahen, auch die bildende Kunst als auf Reinhardts Massenregie einwirkend bzw. mit ihr Ähnlichkeiten aufweisend ansehen. Alfred Polgar bezeichnet den Chor in seiner Perfektion als "Dressurstückel" (Wiener Allgemeine Zeitung 7.5.1911). In den Kritiken wurde die Massenregie als faszinierend und mitreißend oder als bloße "Effekthascherei" (Der Reichsbote, Berlin, 9.11.1910) eingeschätzt.

wegweisend, es wird sich zeigen, daß das Ignorieren dieses Verhältnisses die Wirkung des Chores wesentlich beeinträchtigen kann. Reinhardt selbst benutzt Kontrastwirkungen in der Massenregie und weist damit weiterentwickelbare Möglichkeiten auf, auch wenn er in aller Regel Kontraste nicht für Brüche, sondern ausschließlich für illusionsverstärkende Spannung benutzt. Durch sein Emslnehmen der Masse oder auch kleinerer chorischer Gruppen zeigt er wohl als erster Theatermacher der Neuzeit überhaupt, daß es im Sprechtheater durch das theatrale Element des Chores bzw. chorischer Strukturen eine komplexe und wirkungsvolle Alternative zur Einzelfigur gibt. Der eigentliche Chor in König Ödipus blieb ein unbefriedigend gelöstes Problem. Damit deutet sich zu Beginn des Jahrhunderts an, was sich an seinem Ende noch deutlicher zeigen wird: Der antike Theaterchor bleibt häufig ein Fremdkörper im Theater, chorische Elemente dagegen sind im Theater dieses Jahrhunderts von großer Wichtigkeit. Die gelungenen Inszenierungen antiker Chöre, die es auch hin und wieder gibt, werden häufig gerade durch die kreative Einbeziehung der Probleme mit dem Chor so wirkungsvoll und überzeugend. In seinem unantiken Massenchor deutet Reinhardt Ähnliches durch die Flexibilität im Umgang mit ihm an. Er löst (wie Willbrandt im 19. Jahrhundert) Chöre teilweise auf, nutzt diese Auflösungen wiederum jedoch für sprechmusikalische Wirkungen. Auflösung und Einheitlichkeit gehören im 20. Jahrhundert für den Theaterchor offensichtlich eng zusammen.

2.5 Andere Beispiele für Massenchöre Max Reinhardt ist nicht der erste, für den Massenszenen mehr als ein notwendiges Übel (bei sie erfordernden Dramen), nämlich eine produktiv gestaltbare Form des Theaters, sind. Innerhalb ihrer historistischen, naturalistisch-romantischen Aufführungen waren bei den Meiningem, Ende des 19. Jahrhunderts gerade die sorgfaltig einstudierten Massenszenen eine große Neuerung, allerdings behandelten sie die Massen nicht chorisch, benutzten grundsätzlich keinen Chor.29 Wie bei Max Reinhardt war das Interesse der Meininger an Massenszenen primär, ja ausschließlich auf die ästhetische Theaterwirksamkeit bezogen. Reinhardt entwickelte die Massenregie qualitativ und quantitativ weiter; er fügte die Masse in Bewegungen und Sprech-

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Siehe oben S. 44f. Georg von Meiningen legte Wert auf eine geschlossene, harmonische, historisch treue Gesamtdarstellung, daher gewann auch die Darstellung der Volksmasse an Bedeutung, ohne daß damit politische Absichten verbunden gewesen wären. Im Ensemble der Masse, die wie bei Reinhardt in Untergruppen aufgeteilt war, befanden sich z.T. Hauptdarsteller, die die Gruppen 'anführten'. In der Masse sollte jeder Darsteller - und hier liegt der entscheidende formale Unterschied zu vielen Inszenierungen Reinhardts - individuell dargestellt werden, als Einzelfigur, aus der die Gruppe besteht. Damit zusammenhängend wurde auch Wert auf die akustischen Äußerungen gelegt; statt undifferenziertem "Rhabarber-Gemurmel" gab es ausgeschriebene (und geprobte) Texte, ganz im Gegensatz zu Reinhardt kein Unisonosprechen: "Diese Einfügungen müssen natürlich in verschiedenen Fassungen gehalten sein und dürfen nicht gleichzeitig in Uniform vorgetragen werden" (Herzog Georg von Meiningen in Grube S. 57).

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weise zusammen, verfeinerte die akustische Massenregie zur musikalischen, machte sie zur Chorregie, er vergrößerte die Ausmaße des Raumes und der Mitglieder zum Teil erheblich und benutzte sie - anders als die Meininger - unter Auflösung der Guckkastenbühne v.a. zur Annäherung an die Zuschauer. Auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist Reinhardt nicht der erste oder einzige, der sich mit Massenszenen befaßt, wohl aber ihr konsequentester Anwender im Theater. Der englische Theaterreformer und Bühnenbildner Edward Gordon Craig forderte (1907) in strikter Ablehnung des Bühnennaturalismus (der Meininger) Kostüme und Bewegungen der Massen nicht "individuell" zu gestalten, er will eher chorisch-abstrakte Massen (Craig S. 35).30 Massen müssen als Massen behandelt werden [...] und Details haben nicht mit Masse zu tun. (S. 37) Auch für Antonin Artauds antiliterarischen Theateransatz der 30er Jahre spielt die Masse eine zentrale Rolle: Und wir bestehen auf der Tatsache, daß sich das erste Schauspiel des Theaters der Grausamkeit um Massenängste drehen wird, die sehr viel dringender und sehr viel beunruhigender sind als die irgendeines beliebigen Individuums. (S. 93) Der führende deutsche Reformer Georg Fuchs erstrebte ähnlich wie Reinhardt, allerdings mit stärkerem kultischem Anspruch, Theater als "Volksfestspiel", wobei der Chor "als der entscheidende Träger der monumentalen Ausdrucksformen nun wieder", also als chorische Masse, das wesentliche Stilelement sei (Fuchs Die Sezession S. 76f.).31 Das Publikum soll zur "Festgemeinde" werden und nicht mehr nur bürgerliche Bildungspflichten erfüllen (Fuchs Die Schaubühne der Zukunft S. 39). Hier zeigt sich die Verbindung zwischen dem Gebrauch des Chores als unpersönlicher Masse und einem engeren Verhältnis zwischen Bühne und Zuschauem. Fuchs spricht (in Anspielung auf die Antike) explizit vom Chor, also nicht von einer Volksmasse, doch verbindet auch er den Chor mit Monumentalität. Die Masse auf dem Theater muß auch im Zusammenhang mit dem Expressionismus erwähnt werden.32 In Ernst Tollers Masse Mensch oder Georg Kaisers Gas spielt die Masse eine in der dramatischen Literatur neue Rolle. Sie ist integraler Bestandteil des dramatischen Geschehens, sprachlich sind dabei durchaus chorische Elemente benutzt; sie wird dabei teilweise auch ambivalent gezeichnet, als Opfer

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Craig und Reinhardt strebten einige gemeinsame Projekte an, die sich jedoch zerschlugen. Der Schweizer Adolphe Appia, der besonders die Beleuchtung im Theater revolutionierte, experimentierte verschiedentlich mit Massenszenen und Chören. Die Nähe zu Reinhardt bestand auch in praktischer Zusammenarbeit, Fuchs war der Leiter der Münchner Volksfestspiele, deren erste Aufführung 1910 Reinhardts König Ödipus war. Der Begriff ist sehr diffus, er kann als antinaturalistische Bewegung alle neuen Versuche der späten 10er und der 20er Jahre, also auch Reinhardt einschließen (siehe Das große Schauspielhaus. V.a. die Artikel von Pinthus und Den erwecken den Eindruck, Reinhardt sei ein 'Erz-Expressionist'), er sollte jedoch wohl besser enger gefaßt auf Dramatiker wie Georg Kaiser und Ernst Toller oder Regisseure wie Karl Heinz Maitin, eine von Reinhardt als Theaterprinzipal durchaus geförderte Richtung, angewandt werden.

wie auch blinder Übeltäter.33 Allerdings ist die Masse hier nicht nur quantitativ zu verstehen, sondern auch qualitativ in Verbindung mit der Typisierung im Expressionismus; die Masse sind nicht nur viele, es können auch schon wenige, dafür aber gemeinsam identitätslose Menschen sein. Dieser negative, 'melancholische' Aspekt wird auch im Chor des Gegenwartstheater von Bedeutung sein. Die Dramatik und Theaterregie des Expressionismus sind persönlich und ästhetisch eng verbunden mit dem damals neu aufkommenden Medium Film. Kurze Szenen, expressiver Schauspielstil (der im Stummfilm auch den fehlenden Ton durch Intensität zu kompensieren versuchte) und die Bedeutung der Lichtregie sind entscheidende Berührungspunkte,34 die aus Karl Heinz Martins Verfilmung von Georg Kaisers Drama Von morgens bis mitternachts wohl nicht zufällig einen der eindrücklichsten und gelungensten deutschen Stummfilme machen.35 Insgesamt gilt für die Darstellung von Massenszenen im damals gerade entstehenden Medium Film, daß sich dort (im fertigen Endprodukt ohne jeden sichtbaren organisatorischen Aufwand) viel leichter eine große Menge Menschen darstellen läßt als im immer gegenwärtigen Theater.36 Fritz Langs Metropolis oder Sergeij Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin lassen sich durchaus als filmische Fortsetzung der sorgfaltigen Reinhardtschen Massenregie ansehen (bei allen ideologischen Unterschieden v.a. Eisensteins) oder als dessen logische Folge, da nur hier eine weitere Perfektionierung ohne sprachliche Schwierigkeiten möglich war.37 Es gab zwar, gerade in der Sowjetunion und Deutschland noch nach Reinhardt quantitativ ambitionierte Massentheaterauflührungen,38 sie übersteigen seine Ausmaße sogar bei weitem, sind jedoch neben oder vielmehr wegen der jeweiligen Ideologie ästhetisch wesentlich weniger anspruchsvoll und professionell. In Rußland stellte Die Erstürmung des Winterpalais 1920 in Leningrad den quantitativen Höhepunkt dar: Vor ca. 100 000 Zuschauem wird von um die 10 000 Soldaten am Originalschauplatz die genau drei Jahre vergangene wichtige Etappe der Revolution nachgespielt, am Ende verbinden sich Publikum und Akteure durch das gemeinsame Singen der Internationale. Bei diesem und ähnlichen Spektakeln sind die Grenzen zwischen Theater, Happening und Parteiversammlung oder Demonstrationsaufmarsch fließend; ambitionierte oder gar professionelle Kunst ist überhaupt nicht angestrebt. Das gleiche gilt für das Massenspektakel der deutschen Arbeiterbewegung: Im Rahmen eines Gewerkschaftstreffens wurde 1920 in Leipzig von 500 Akteuren das historische Spektakel Spartakus vor 50 000 Zuschauern auf einem

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Kaiser zeigt in der Heilsarmeeszene das Entstehen einer uniformen Masse aus Einzelfiguren. Die Ambivalenz der Masse zeigt sich auch in Fritz Langs Film Metropolis. Siehe oben S. 76f. zur Lichtregie Reinhardts in Dantons Tod. Bertolt Brecht hatte anläßlich der Uraufführung des Theaterstückes in München den filmischen Charakter des Dramas bemerkt (und kritisch kommentiert; Brecht Werke 26 S. 230). Je nach Kameraeinstellung und Schnitt läßt sich ein und dieselbe Masse in kürzester Zeit problemlos unpersönlich-massiv oder mit einzelnen Personen darstellen. Ernst Lubitsch, ein ehemaliger Schauspieler Reinhardts, war der wichtigste Regisseur historischer Filme um 1920 mit großen Massenszenen. Ein direkter Einfluß durch Reinhardts König Ödipus-Gastspiele auf das sowjet-russische Theater ist denkbar. Siehe dazu Kiselew.

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Sportfeld aufgeführt. Wort, Musik, Licht und Tanz bzw. Massenbewegung sind die Elemente dieser Aufführungen, die nicht nur aus technischen, sondern aus ideologischen Gründen mit Laien arbeiten. Von den kommunistischen "Sprechchorwerken" war schon oben (S. 68, Anm. 63) die Rede; der Übergang dieser eher statischen Auffuhrungen zur Parteiversammlung ist fließend, während für Reinhardt das Ineinanderübergehen von Kunst und Realität immer Teil des ästhetischen Konzepts bleibt. Als 'populäre' Chorform der Zeit sind auch Bewegungschöre im Rahmen der Turn- und Gymnastikbewegung,39 mit ihren Verbindungen zum Tanztheater,40 zu nennen. Auch die extreme Rechte, nach 1933 ausschließlich die Nationalsozialisten, bedienten sich dieser Elemente;41 die Dramaturgie der Reichsparteitage und ihre Darstellung in den Filmen Leni Riefenstahls gelten als pervertierte, aber technisch perfektionierte Form der Massenregie mit Massenbewegungen und Einheitschören innerhalb eines quasi militärischen Zeremoniells.42 Das nationalsozialistisch vereinnahmte Freilichttheater, das sogenannte Thingspiel, ist die einzige originäre Theaterform im "Dritten Reich".43 Durch "Gesangs-, Sprech- und Bewegungschöre" nimmt das Thingspiel "oft Züge des Oratoriums" an (Eichberg S. 55). Der Chor ist häufig das unterdrückte und zu befreiende Volk; im künstlerisch wohl gelungensten Thingspiel, Eberhard Wolfgang Möllers Das Frankenburger Würfelspiel soll er jedoch "das Bindeglied zwischen Zuschauern und den szenischen Vorgängen sein" (Regiebemerkung in Rühle Zeit und Theater S. 337).44 Gerade durch den Mißbrauch im Nationalsozialismus ist das Massentheater äußerst fragwürdig geworden, Massenchöre sind weitgehend ein Phänomen der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Ein unpolitischer, naiver Umgang mit der Masse wie bei Reinhardt ist nicht mehr möglich.

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Eichberg untersucht in dem Zusammenhang auch die Feiern und Rituale der olympischen Bewegung. Siehe unten 4.6 Andere, extreme Beispiele für Chöre im Spannungsfeld zwischen Körperlichkeit, Sprache und Musik. Dabei dürfte ein ästhetischer Einfluß des Juden Reinhardt durchaus vorliegen. Laut Rühle (Max Reinhardts Vermächtnis S. 187) hat der nazionalsozialistische Dramatiker Hanns Johst geäußert: "Die Massen, die Fackeln, die Fahnen der Parteitage: das war aus Max Reinhardts Theater." Sprechchöre waren wegen der kommunistischen 'Vorbelastung' offiziell verpönt, im Bereich des Thingspiels jedoch durchaus gebräulich. Eichberg betont, daß das Thingspiel nicht nur ein von der Partei verordnetes Projekt war, sondern aus nicht ausschließlich nationalsozialistisch geprägter Massentheater- und Laienspielbewegung hervorgegangen war und durchaus eine eigendynamische Entwicklung nahm. Die Gründe fiir das plötzliche Ende 1937 sind weitgehend unklar. Das Stück wurde anläßlich der Olympischen Spiele 1936 in Berlin vor 20 000 Zuschauem aufgeführt, mit 27 Sprechrollen und 1200 Laiendarstellem. Der Tribunalcharakter des Spieles legt eine Parallele zu Brecht nahe.

2.6 Einar Schleefs Massenchöre im Zeitalter der Postmoderne In der umstrittenen, von weiten Teilen der Kritik heftig abgelehnten Theaterarbeit Einar Schleefs, in der Chöre von zentraler Bedeutung sind, zeigt sich die oben angedeutete Schwierigkeit mit Massenchören in Deutschland nach der Herrschaft des Nationalsozialismus. Wiederholt wurde gegen Schleefs eigenwillige Ästhetik, besonders gegen die Chöre der Faschismusvorwurf erhoben (siehe dazu Auffermann).45 Die Einordnung der Chöre Schleefs unter dem Stichwort Massenchöre ergibt sich weniger aus ihrer quantitativen Größe: Im Finale der Frankfurter Inszenierung Die Mütter (nach Aischylos' Sieben gegen Theben und Euripides' Die Hiketiden) von 1986 bildeten zwar 53 Frauen den Chor - zuvor, im Laufe der Auffiihrung agierten allerdings auch weniger als 10 im Chor. Im Faust bestanden die Chöre meist aus neun bis 15 Akteuren (z.T. auch in Doppelchören mit insgesamt ca. 30 Mitgliedern). Die Schleefschen Chöre sind demnach größer als die meisten Theaterchöre, jedoch (in der Regel) in einem der Guckkastenbühne angemessenen Rahmen. Der entscheidende Aspekt, der sie zu Massenchören macht, ist die überwiegend durchgehaltene totale Einheitlichkeit. Durch uniformiertes Aussehen und synchrones Sprechen bei weitgehender Bewegungslosigkeit schafft Schleef ein Kollektiv, dessen Geschlossenheit durch die geschlechtliche Einheitlichkeit meist noch verstärkt wird. Er betont die Einheit und nutzt diese für theatrale Wirkungen, wobei er um der strengen, einheitlichen Form willen anders als Reinhardt auf die optischen und akustischen Variationsmöglichkeiten durch die Vielheit verzichtet. Er deutet auch nicht Einzelfiguren oder gar Differenzen innerhalb der Gruppe an, wie es, wie wir noch sehen werden, im deutschen Theater der zweiten Jahrhunderthälfte, besonders seit den 70er Jahren üblich ist und was Ausgangspunkt neuer reizvoller Chorformen sein kann. Verena Auffermann bemerkt daher zu Recht: Ein Chor ist für Schleef ein Kollektiv. Sein Chor ist eine Provokation. (S. 51)

Damit ist die besondere Qualität der Chöre bei Schleef und zugleich die Ursache für ihre Umstrittenheit ausgesprochen. Rolf Hochhuths Vorwurf anläßlich der Uraufführung seines Stückes Wessis in Weimar durch Schleef am Berliner Ensemble 1993: "Er zeigt Chöre statt Individuen." (zitiert in TH 3/93 S. 2) mag als Vorwurf gemeint sein, er beschreibt nüchtern betrachtet jedoch genau Schleefs Arbeit und Intention und weist zugleich auf dessen vermeintliche Außenseiterposition hin (siehe dazu 7. Kapitel). 45

Schleef selbst hält die "Chor-Form" fiir aktuell, weitgehend (durch ihn selbst) im Gegenwartstheater durchgesetzt und nicht reaktionär (S. 99f.). In seinem autobiographisch-theoretischen Essay Droge Faust Parsifal spielt der Chor (von der Antike bis heute) eine zentrale Rolle. Für Schleef ist er dabei eine gesellschaftlich-philosophische Größe (ähnlich wie für Schlaffer), die in ihrem Spannungsverhältnis zum Einzelnen Ursprung aller Konflikte - und damit des Theaters - ist. Diese universale Auffassung vom Chor geht uns zu weit, sie bleibt spekulativ und vereinfachend. Verbunden ist Schleefs 'Chor-Ideologie' mit einer starken Formalisierung in der Regie (siehe der "Formenkanon", S. 470ff), so daß er daraus durchaus konkrete, wenn auch schwer entschlüsselbare, ästhetische 'Konsequenzen' zieht.

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Im Frankfurter Faust von 1990 stehen der Einzelfigur Mephisto, die zugleich (als Theaterdirektor) das Spiel leitet, fast ausschließlich chorische Gruppen gegenüber. Die Hauptfigur Faust wird selten von einem Darsteller, meist von neun bis 12 im Chor dargestellt. Diese Verfielfachung des Individuums nutzt Schleef entgegen der effektvollen Möglichkeiten zur differenzierten Darstellung einer Figur durch einen Chor, wie etwa bei Peter Weiss, lediglich zur Uniformierung und Vergrößerung bzw. Wiederholung der Einzelfigur. Entsprechend dem in der Inszenierung häufig praktizierten Prinzip der Szenen- oder Textwiederholung wird der Einzelne auf einer synchronen Ebene 'wiederholt'. Ein ähnlich konsequentes, abstraktes Prinzip liegt auch der Nutzung dreier Spielebenen auf der an sich einfachen Guckkastenbühne zugrunde. Die Chöre agieren auf dem Boden liegend, stehend und über der Bühne auf einem Laufsteg im Schnürboden. Die Raum- und Zeitstruktur läßt sich demnach durch abstrakte, gleichsam musikalische Prinzipien erklären; zugleich wird den Inhalt betreffend gerade durch die chorischen Figuren auch eine sinnvolle, konkrete Deutung angeboten: 'Der* deutsche Theaterheld wird uniformiert und anonymisiert, entsprechend 'das' deutsche Mädchen Gretchen. Ein historisch-gesellschaftskritischer Kommentar ist dabei eigentlich nur beim "Osterspaziergang" eindeutig zu erkennen: Während der kritischen Anmerkungen Wagners (eine Einzelfigur!) von der oberen Spielebene 'bebildert' im Halbdunkel der Hauptbühne eine Masse von Männern und Frauen mit HJ- bzw. BDM- ähnlicher Kluft durch heftige, einheitliche Bewegungen und starkes Stampfen seine Vorurteile. Das Lied von den 'Moorsoldaten' gegen Ende verweist auf die Opfer des Nationalsozialismus, betont aber auch Gretchens Opferrolle. Eindeutige Interpretationen chorischer Elemente in der Inszenierung sind jedoch vorsichtig vorzunehmen. Die wenigen Requisiten, die Metalleimer, sind absolut einheitlich gehalten, sie können zudem je nach Szene und der Anzahl darin auftretender Chormitglieder beliebig vermehrt (oder reduziert) werden; auch die Requisiten unterliegen folglich einer 'chorischen' Regie. Die schwankende Zahl der Gretchens und Fausts in den unterschiedlichen Szenen, ihre offensichtliche Austauschbarkeit sind ebenfalls ein Hinweis auf die musikähnliche Abstraktion der Inszenierung. Das chorische Kollektiv steht nicht (nur) für konkrete Kollektive in der Realität, sondern ist Ausdruck eines antinaturalistischen künstlerischen Prinzips. Vor allem zu Beginn sind die Chöre streng geführt; sie sprechen nicht nur in perfektem Unisono, in starker Rhythmisierung, die den Sinn zwar verfremdet, aber weder ignoriert noch beseitigt und auch Raum für weiches Unisonosprechen läßt, und bewegen sich bei Auf- und Abtritten gleichsam militärisch, fast immer in symmetrischer Anordnung. Ansonsten sind die Chöre weitgehend statisch, auch als Zuhörer Mephistos. Entsprechend der 'harten' Form sind die Szenenübergänge - oft durch black - klar geschieden, folglich überschneiden sich ausschließliche Chorszenen nicht mit anderen, 'gemischten' Szenen. Die Bühne ist (außer einem Spot bei Mephistos erstem Treffen mit Faust) entweder in sehr helles Licht oder in Halbdunkel getaucht. Auch stimmlich ist klar geschieden zwischen chorischem, rhythmisierten Sprechen und a capella Chorgesang, es gibt kein Psalmodieren und auch keine instrumentale Begleitung oder einen untermalenden, musikalischen Stimmungsteppich (aus der 'Konserve'). Die militärische oder zeremonielle Form der rahmenden Auf- und Abgänge zeigt sich auch in der fast durchgängigen frontalen

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Wendung an das Publikum. Insgesamt stellt das Spiel trotz der Guckkastenbühne eine ungewöhnlich direkte Verbindung zum Publikum her; durch die konsequente Benutzung der Rampe für frontale Wendung an das Publikum wird der Guckkasten zur Plattform, die durch die Nutzung verschiedener horizontaler Ebenen noch aufgelockert wird. Das Spiel ist antiillusionistisch und weitgehend feierlich-ernsthaft, selten jedoch auch komisch gebrochen. In einer Szene muß Mephisto den in eitle, ältere Darstellerinnen auseinanderfallenden Chor von vier Mitgliedern zu Disziplin ermahnen und das chorische Sprechen einüben. Die Strenge der optischen Gestaltung durch uniformiertes Aussehen, Statik und Symmetrie wird im Verlauf der Aufiuhrung immer wieder aufgebrochen. Dadurch ergeben sich besonders eindrückliche, harmonische Bilder im Halbdunkel bei weitgehender Stille und endlos erscheinenden Wiederholungen einfacher Bewegungen. Die feierlich-militärische Grundstimmung der Inszenierung wird dadurch aufgelockert. In der totalen Einheit des Schleefschen Massenchores zeigt sich demnach auch seine Zerbrechlichkeit. Die (bedrohliche) Utopie Brechts, daß das Individuum grundsätzlich im Chor aufgehe, ist bei Schleef einerseits durchgeführt, andererseits jedoch auch durch die Gewaltätigkeit des Chores und zugleich durch seine Fragilität relativiert.46 Der Faschismusvorwurf gegen Schleefs Faust erweist sich also als ein undifferenziertes Vorurteil gegenüber einer fremdartigen und bewußt gegen Traditionen angehenden Regie - es sei denn, das strenge chorische Prinzip als Grundlage der Regie Schleefs (und seine 'Chor-Ideologie') seien per se als 'faschistisch' zu werten.

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Schleef besteht auf dem Paradox, daß es gerade im Chor auf die "Individuelle Aufgabe des Einzelnen" ankomme (S. 478), die Chormitlieder (für den Regisseur) eben nicht beliebig austauschbar sind, da sie individuell differenzierte "Bindekraft" im Kollektiv besitzen.

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3. Vsevolod Meyerholds Inszenierung von Der Revisor und der komische Chor

BRIAN Ihr sollt niemandem folgen. Dir sollt selbständig denken. Ihr seid lauter Individuen. MENGE Ja, wir sind lauter Individuen. BRIAN Ihr seid alle verschieden. MENGE Ja, wir sind alle verschieden. DENNIS [einer aus der Menge] Ich nicht.

(Monty Python, Das Leben des Brian)

3.1 Einführung zu Meyerholds Der Revisor Vsevolod Meyerhold hat nie antike Stücke inszeniert, dennoch benutzte er verschiedene chorische Formen im Theater.1 Die Motive zur Erklärung ihres Gebrauchs durch Meyerhold könnten in der Wichtigkeit des von seinem Lehrer Stanislawski begründeten Ensemblespiels in seinem eigenen Theaterverständnis liegen, aber auch - ganz im Gegensatz zum Antipoden Stanislawski - in der großen Bedeutung, die Meyerhold der eigenschöpferischen Beteiligung des Publikums am Theaterereignis, und damit einem antiillusionistischen Theater zumaß. Seine Trainingsmethode, die sogenannte "Biomechanik", die den Schauspieler zum souveränen Umgang mit seinem 'Kunstmaterial', dem eigenen Körper, erziehen wollte, war zu weiten Teilen eine kollektive Trainingsmethode.2 Meyerhold war anfangs ein führender 'Theaterrevolutionär'; unter ihm als Leiter der Theaterabteilung beim Volkskommissariat für Bildungswesen (von 1919-21) fanden Massenspektakel wie Die Erstürmung des Winterpalais statt.3 Später, auch durch die Inszenierung von Gogols Der Revisor (Revizór) 1926, geriet er zunehmend in Konflikt mit der kommunistischen Führung, ihm wurde "Formalismus" vorgeworfen, 1940 wurde er ein Opfer der stalinistischen "Säuberungen". Meyerhold ist einer der wichtigsten Theaterregisseure dieses Jahrhunderts; u.a. setzte er den Film im Theater ein, verfolgte ein antinaturalistisches Theaterkonzept und 'belebte' die Bühne durch konstruktivistische, quasi mitspielende Bühnenkonstruk-

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In der von revolutionärer Ideologie beeinflußten Inszenierung von Verhaerens Morgenröte von 1920 etwa war ein kommentierender Chor im Publikum untergebracht. Leach: "Biomechanics was supposed to be a collective, not an individualistic, training and the idea of the actor fitting into a group was seen by Meyerhold to be healthily creative, in the way a musician's work in an orchestra was." (S. 73). Siehe oben S. 89.

tionen; Parallelen zu Zeitgenossen wie Piscator und Brecht sind offensichtlich. Sein Einfluß auf Theatermacher wie Jerzy Grotowski und Tadeusz Kantor und (damit) auf das gesamte avantgardistische Theater der zweiten Jahrhunderthälfte ist immens, wenn auch seine Inszenierungen gerade in Deutschland noch weitgehend unerschlossen sind.4 Der Chor in der Inszenierung von Gogols Komödie Der Revisor ist keine szenische Umsetzung eines im Drama vorgegebenen Chores. Vielmehr entwickelt Meyerhold aus im Text zwar als Gruppe behandelten, dabei jedoch fast immer individuell sprechenden Figuren eine chorische Gruppe. Der Chor bei Meyerhold, die Einwohner der Stadt, v.a. ihre Beamten befinden sich jedoch schon bei Gogol kollektiv in der gleichen Situation, sie furchten sich vor dem vermeintlichen Revisor, und sprechen und handeln dementsprechend ähnlich. Inhaltlich ist eine chorähnliche Gruppe demnach in der Textvorlage schon vorgeprägt, durch formale Eingriffe (Stilisierung) verwandelt Meyerhold jedoch im Drama einzeln sprechende oder stumme Figuren in einen Chor als sprachliche und körperlich-bewegungstechnische Einheit. Das Verhältnis von Meyerholds Inszenierung zur Textvorlage im Einzelnen kann hier nicht weiter untersucht werden. Es sei nur darauf hingewiesen, daß diese Auffuhrung Gegenstand heftiger Diskussionen war;3 sie stellt einen Markstein in der Entwicklung zum selbstbewußten, theatralen Regietheater dar und verwirklicht eine Theaterästhetik, die offensichtlich ihrer Zeit weit voraus war. Meyerhold erhob dabei den Anspruch, Gogols Stück und seinen Intentionen gerecht zu werden, auch indem er auf später gestrichene Fassungen des Stückes und andere Texte Gogols zurückgriff, zugleich ließ er sich jedoch auf von der bildenden Kunst und vom (amerikanischen) Film beeinflussen;6 er verstand generell Regie als an der Musik orientiert.7 Aus den fünf Akten der Vorlage wurden 15 Szenen.8 Die Bühne und damit das Spiel der Schauspieler war dem Publikum frontal gegenüber gestellt, dabei jedoch

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Neueste deutschsprachige Forschungen sind von Hoffmeier/Völker und Bochow. Der große Reichtum an originellen Inszenierungskonzepten Meyerholds ist immer wieder erstaunlich: Etwa bei avantgardistischen Raumkonzepten des Theaters der letzten Jahrzehnte gilt immer wieder, daß sie durch ihn bereits vorweggenommen wurden. Rudnitzky: "In the history of world theater there had been nothing like the discussion of The Inspector General." (S. 418). Ahnlich Braun: Die Inszenierung "inspired a greater volume of critical literature than any other production in the history of theatre." (S. 218). Béatrice Picon-Vallin (in Voies VII) meint, daß es nie in der Geschichte des Welttheaters eine so polemische Debatte über eine Inszenierung gegeben habe (S. 63). Zum einen wurde Meyerhold vorgeworfen, eigenmächtig Gogols Stück verändert zu haben. Andererseits war die Satire vielen nicht klassenbewußt genug, zu allgemein menschlich gehalten; so auch linken Intellektuellen in Deutschland wie Erwin Piscator. Für die 1. Szene (mit dem Chor) verwies er auf Dürers Bild 'Christus und die Schriftgelehrten' (Meyerhold Schriften S. 105). In den Aufzeichnungen sind außerdem Chaplin (zweimal), sowie Keaton, Griffith und Fairbanks erwähnt. Siehe unten 3.3 Der komische Chor und die musikalische Regie Meyerholds. Die Inszenierung wurde später auch für die Gastspiele im Ausland, 1930 war sie in Berlin und Paris zu sehen, auf 11 Szenen gekürzt. Die Auffuhrungsdauer betrug anfangs fünf Stunden (mit zwei Pausen). Auch die Vorbereitungszeit war mit über anderthalb Jahren ungewöhnlich lang.

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nicht so isoliert wie eine traditionelle Guckkastenbühne, da sie als Halbellipse sich zum Zuschauerraum hin öffnete, weswegen man von einer 'geöffneten Guckkastenbühne' sprechen könnte. Dennoch war die Trennung von Bühne und Publikum eindeutig, dementsprechend war der Chor völlig in die Spielebene integriert und (bis zur letzten Szene) nicht in einer besonderen Verbindungsfunktion zwischen Spiel und Zuschauem.

3.2 Die Komik des Chores in Der Revisor Es lassen sich vier Arten bzw. Abstufungen vom Chor in der Inszenierung ausmachen: Der Chor der Beamten, die grundlegende und durchgehende Chorform im Stück; der Chor der Offiziere, der in einer Szene entsteht, indem die Frau des Gouverneurs davon (tag-)träumt und der am Schluß teilweise zum Beamtenchor stößt; drittens, ebenfalls in den Schlußszenen der um einige Ehefrauen erweiterte Chor der Beamten; viertens quasi als Gegenchor der Chor der Bittsteller und Kaufleute.9 Der Chor der Beamten setzt sich aus Einzelfiguren zusammen, die jedoch durch gemeinsame Interessen verbunden sind. Eine Gruppe wird (schon bei Gogol) daraus, weil sie alle sich durch den vermeintlichen Revisor bedroht fühlen; die gemeinsame Angst, die aus vergleichbaren Vergehen wie Bestechlichkeit oder mangelnder Fürsorge im öffentlichen Amt resultiert, fügt diese Gruppe eng zusammen. Der Chor der Inszenierung ergibt sich aus dem Binnenspiel, er ist 'naturalistisch' begründet, vollendet sich jedoch erst durch Stilisierung zum Chor; auch die Einzelfiguren außerhalb des Chores sind keine Individuen, sondern eher typisierte (geheimnisvolle) Personen. Die groteske Komik des Chores ergibt sich aus der Angst seiner Mitglieder, die die Individuen 'uniformiert1. Meyerhold kam es dabei darauf an, das Stück nicht wie bisher in der Aufführungstradition als "reinstes Vaudeville" (Meyerhold Schriften S. 102) zu spielen, sondern auch die tragische Seite der Komik, das Groteske zu zeigen.10 Es handelt sich also um keinen 'reinen' Komödienchor, der das Spiel selbst nicht ganz ernst nimmt (wie bei Aristophanes), vielmehr um einen aus seiner Sicht fast tragischen und dadurch für die Zuschauer oft komisch-grotesk

® Die Szenen, ihre Titel (nach Hoffineier/Völker) und die Rolle des Chores bzw. die wichtigsten Protagonisten waren folgendermaßen eingeteilt: 1. Ein Brief von Tschmychow (Chor der Beamten) 2. Das unerwartete Ereignis (Chor der Beamten) 3. Ein Fabelwesen (bald in 5. eingebaut) 4. Seit Pensa (Chlestakow, Gouverneur) 5. Voll zärtlicher Hingabe (Tochter und Frau des Gouverneurs, Chor der Offiziere) 6. Die Prozession (Chlestakow, Chor der Beamten) 7. Alkohol in Strömen (Chlestakow, Chor der Beamten) 8. Ein Elefant stürzt auf die Knie (Chlestakow, Chor der Beamten) 9. Schmiergelder (Chlestakow, Chor der Beamten) 10. Gebieter über Finanzen (Chlestakow, Chor der Bittsteller und Kaufleute, sowie Polizisten) 11. "O küsse mich!" (Chlestakow, Tochter und Frau des Gouverneurs) 12. Der Segen (Chlestakow, Gouverneur und Familie) 13. Träume von Sankt Petersburg (Gouverneur und Familie) 14. Ein Festakt (Chor der Beamten mit Frauen und Offizieren) 15. Beispiellose Konfusion (siehe 14.) Finale. Stumme Szene. 10 Er meint, "in Gogols Komödie herrscht nicht 'die Komik des Absurden', sondern die 'Situation des Absurden'" (S. 127).

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wirkenden Chor.11 Er entsteht aus der Angst seiner Mitglieder und wird durch diese über weite Strecken auch zum komischen Chor. 'Chorkomik' entsteht in der Inszenierung immer wieder durch folgende Motive: - 1. die enge räumliche Anordnung vieler Menschen (auf einer großen Bühne) - 2. die extreme Fixierung der Gruppe auf eine Figur hin - 3. die Mechanisierung der Gruppe und starke Kontraste in Bewegung und Sprache - 4. der stilisiert-metaphorische Einsatz des Chores - 5. innerchorische Spannungen durch optischen Kontrast oder lächerliche Kämpfe um die Vorherrrschañ in der paralysierten Gruppe. - zu 1.: Der Großteil der Szenen findet auf kleinen hereingerollten Plattformen statt; so auch die 1. Szene der Aufführung, hier sitzen die Beamten hinter einem Tisch. Sie rauchen (unterschiedlich große) Pfeifen, so daß durch den Rauch und hinter dem Tisch v.a. die Gesichter mit den Pfeifen und die Hände (auf der Tischplatte) zu sehen sind. Diese Gleichheit ist äußerer Ausdruck der ängstlich-gedrückten Erwartung der Figuren, die durch die Mitteilung des in der Mitte sitzenden Gouverneurs bestätigt wird, indem er vom zu erwartenden Revisor spricht. Die Enge auf der kleinen Spielfläche verstärkt sich während der Szene, weil immer mehr Beamte erscheinen und sich hinter den Tisch quetschen, insgesamt sind 16 Figuren an der Szene beteiligt. Dadurch wird die Angst und Zusammengehörigkeit der Beamten gezeigt, und zugleich ein komischer Kontrast zwischen erwachsenen, selbständigen und Verantwortung tragenden Honoratioren einerseits und ihrem verängstigten Zusammenkriechen und Schutz-Suchen aufgebaut. Dabei ist die körperliche Nähe auch Ausdruck der Willenlosigkeit der Einzelfiguren und ihrer Mechanisierung. Die räumliche Enge auf kleinen Spielplattformen innerhalb der geräumigen Gesamtbühne ist ein durchgehendes Motiv der komischen Chorbehandlung in der Inszenierung.12 In der 7. Szene sitzt Chlestakow, der fälschlicherweise für den Revisor gehalten wird - dies ist der Angelpunkt der Komödie - und der die Gegenfigur zum Chor ist, zusammen mit der Frau des Gouverneurs auf einem riesigen Sofa, ihm gegenüber auf einem kleinen Sofa der Gouverneur und seine Tochter, während die ängstlichen Beamten beengt vor und hinter diesem Sofa stehen. In der 14. Szene schließlich erscheinen immer neue Gäste im Hause des Gouverneurs, sie türmen sich, teils sitzend teils stehend, auf engstem Raum zu einer 'Menschenpyramide'; hier erreicht die Zusammenballung einer großen Menschenmenge auf engem Raum ihren Höhepunkt. 11

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Meyerhold betont in den Aufzeichnungen die Wichtigkeit der Perspektive: Er erzählt von seinem nicht armen Onkel, der auf den Straßen Rigas allerlei Kleinkram wie Nägel aufsammelte, "Von außen gesehen ist das komisch - aber für ihn ist es Arbeit. So auch hier [...] Letztlich sind es komische Rollen, dennoch müssen diese Figuren emst gespielt werden;" (S. 106f.). Meyerhold erklärte den Schauspielern während der Probenarbeit: "An den Revisor denkend, versuchte ich, auf etwa einem Quadratmeter eine Gruppenszene von acht bis neun Personen aufzubauen, und erreichte, ich kann es wohl sagen, glänzende Ergebnisse, wobei Haltungen entstanden, von denen man auf einem großen Bühnenplatz nicht einmal hätte träumen können." (S. 113). Komik durch eine Massenansammlung auf engstem Raum, hier eine kleine Schiffskabine, entsteht auch in einer Szene des Films Die Marx Brothers in der Oper (A Night at the Opera) von 1935.

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Zu Beginn der Aufführung, in ihrer Mitte und am Ende stehen also grotesk gestaltete Menschenballungen, sie bilden quasi das Gerüst der Aufführung; in anderen Szenen ist der Chor auch großflächiger bzw. -liniger dargestellt. Verbunden ist die Ansammlung vieler Menschen mit einer beschränkten Körperlichkeit, zu Beginn ist die Sicht auf Gesichter, Hände und dazugehörende Pfeifen reduziert, die Menschen sind grotesk entstellt, was durch die Vervielfachung in der Gruppe noch verstärkt wird.13 - zu 2.: In der 7. Szene ist die Enge der Beamten kontrastiert mit dem überreichen Platzangebot für den Protagonisten und Gegenspieler Chlestakow. Zugleich zeigt sich darin die Fixierung des Chores auf die Einzelfigur hin. Die Unterwürfigkeit geht so weit, daß sie auf Chlestakows Anweisung, sich zu setzen, sich ohne eine Sitzgelegenheit niederhocken. In der 2. Szene sind die Beamten ganz auf die "mysterious messengers" (Rudnitzky S. 395) Dobtschinskij und Bobtschinskij und deren Bericht konzentriert. Durch die ausgeprägte Langsamkeit des Berichtes und gegenseitige Unterbrechungen der beiden gerät der Chor immer mehr in Panik, die Abhängigkeit von den beiden (die später auch zum Chor gehören) wird komisch durch Herumzappeln, Zwischenfragen und ängstliches Aufjaulen deutlich gemacht. Die Unterwürfigkeit des Chores (und die damit einhergehende Automatisierung) macht sich auch in der chorischen Sprechweise deutlich: In der ó.Szene fragt Chlestakow nach dem Fisch, den er gerade gegessen hat, der Chor der Beamten nennt erst durcheinander, dann unisono sprechend den Namen, doch erst als einer von ihnen sich aus der Gruppe körperlich und stimmlich herauswagt und den Namen nennt, ist Chlestakow zufrieden; er wiederholt ihn auf jeder Silbe singend und bewirkt dadurch, daß die Beamten dies (in seinen sehr hohen Tönen) gemeinsam nachsingen. Gegen Ende der folgenden Szene murmelt der schlafende Chlestakow das Wort wieder, worauf das Echo des rückwärts nach hinten schreitenden Chores folgt. Das zentrale Wort des Chores in den beiden Szenen ist das völlig belanglose "Labardan" ("Kabeljau", das bei Gogol auch vorkommt, jedoch nur einmal). Der echoartige Choreinsatz findet sich schon in der 1. Szene: Als der Gouverneur von der Gefahr eines Besuchs eines Revisors spricht, wird das Wort vom Chor gemeinsam wiederholt, dann geflüstert und von Einzelstimmen in Betonung und Aussprache variiert.14 Meyerhold war, obwohl der Chor aus Einzelwesen bestand, die Wirkung des gemeinsamen Sprechens bzw. die musikalische Komposition wichtiger als eine Charakterisierung der Einzelsprecher und die durchgängige Verständlichkeit des Textes.13 Auch in der 2. Szene kommt es zum variierenden Echo des Chores:

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Meyerhold schreibt zu der Szene: "Es ist sozusagen eine Hände- und Gesichterausstellung," (S. 105). "Nun zischt das Wort im Flüsterton, mal ganz, mal nur in den Konsonanten, mal mit langgezogenem *i' und 'o1, und irgendwo erklingt wie schwacher Trommelwirbel sogar der Buchstabe Y. Musikalisch wurde das Wort 'Revisor' in alle erdenklichen sinnentsprechenden Tonfälle zerlegt." (Hoffmeier/Völker S.93f ). Er äußerte auf einer Probe zu der Stelle: "Wenn alle sagen: 'Ein Revisor?!' dürfen sie's nicht auf gleiche Weise tun. Einige sagen es so. 'Ein Re-vi-sor.' Die verschiedensten logischen Betonungen sind notwendig, einige sprechen es kurz, andere dehnen es aus. 'Da haben wir den Salat!' usw. muß sehr schnell gesprochen werden. Die Reaktion geschieht sehr schnell. Sie sprechen nicht als charakteristische Individuen. Das Publikum kann sowieso nicht feststellen, wer da jeweils spricht. Sie drängeln sich - fast zehn Mann - auf dem Di-

"Der Chor der Beamten fällt ein, wiederholt und variiert im Tonfall alle Befehle des Stadthauptmanns dreimal." (Hoflmeier/Völker S. 96). Das chorische Sprechen der Gruppe ergibt sich in aller Regel als (ängstliche) Reaktion auf den Gegenspieler oder auf aus dem Chor zeitweilig ausscherende Solisten. Es ist vom Stück her 'realistisch' motiviert, erregt jedoch durch die übertreibende bzw. verdeutlichende Stilisierung, die Uniformierung oder auch Banalität einen komischen Kontrast zu den an sich würdigen und selbstbewußten Mitgliedern. - zu 3.: Den Chor der Beamten zeichnen, neben der angstvollen Enge und seiner Fixierung auf Einzelfiguren, eine starke Mechanisierung und Entgeistigung aus. Das wird in der 9. Szene besonders deutlich: hinter den 11 Türen, die den Bühnenraum halbkreisförmig bzw. elliptisch umgeben, befindet sich je ein Beamter. Chlestakow ist (mit seinem Diener und dem ihn begleitenden Offizier) im Zentrum der Bühne. Plötzlich öffnen sich die (Doppel-)Türen und in jeder erscheint erst eine Hand mit einem Geldpäckchen, dann die dazugehörende Figur. Semljanika, einer der Beamten dirigiert dann einen nach dem anderen zu Chlestakow, wo jeder mechanisch sein Bestechungsgeld übergibt.16 Während im Gogolschen Text Komik dadurch entsteht, daß in fünf aufeinanderfolgenden Szenen jeder Beamte auf fast gleiche Weise Chlestakow Geld gibt, unterstreicht Meyerhold in der Zusammenfugung zu einer Simultanszene die Mechanisierung der Einheitlichkeit auf groteske Weise. Die dem entsprechende chorische Sprechform in dieser Szene ist das fugenartige Einsetzen der Einzelstimmen (Allerdings bezieht sich die Mechanisierung ebenso auf die Einzelfigur). Es bleibt offen, ob die Szene einen Traum des betrunkenen Protagonisten widerspiegelt oder als stilisierte und metaphorische Beschreibung der gesellschaftlichen Praxis zu verstehen ist. Den konsequenten Abschluß findet die Seelenlosigkeit und Mechanisierung des Chores im Finale - in der 1. Szene war zu sehen, daß die Enge mit der Seelenlosigkeit verbunden ist. Auf der Bühne erscheinen nun in einer langen Reihe Figuren in Angst und Verzweiflung ausdrückenden Posen - bis der Zuschauer merkt, daß es sich um lebensgroße Puppen mit demselben Aussehen wie die jeweiligen Figuren und nicht um die Darsteller selbst handelt. Von Anfang an hatte der Chor einen leblosen Eindruck gemacht, besonders in kurzen Pausen totaler Erstarrung, die jedoch immer wieder von damit kontrastierenden Ausbrüchen von, zum Teil übertriebener, Vitalität abgelöst waren. Am Ende ist der Chor, nachdem der Chorführer (der Gouverneur) wahnsinnig geworden ist, endgültig von der lähmenden Angst besiegt und zur toten Figurengruppe erstarrt. Dabei spielt Meyerhold mit dem Wahrnehmungsvermögen des Publikums; der Zuschauer ist an erstarrte Posen des Chores durch die Aufführung hindurch gewöhnt und wird erst nach einiger Zeit

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wan. Das Individuelle muß zurückgedrängt werden. Das Publikum erkennt nicht, wer Ammos Fjodorowitsch, wer Artemi Filippowitsch, wer Luka Lukitsch ist - alle sprechen gleichzeitig. Das muß herausplatzen!" (S. 120). Eine ähnliche Stelle findet sich zur 2. Szene; Meyerhold hält hier nicht die Verständlichkeit, sondern die u.a. sprachlich ausgedrückte Unruhe für primär (S. 124). Dementsprechend baut Meyerhold auch den in der Auffuhrung original-deutschen Text des Doktors (entsprechend einer von Gogol gestrichenen Szene) aus, setzt ihn als (unverständliche) Stimme im chorischen Konzert ein. In den Beschreibungen bzw. Rekonstrutionen der Aufführung werden sie mit Maschinen oder Puppen verglichen.

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festgestellt haben, daß es sich um Puppen handelt; die Rezeption des Zuschauers wird fur die überraschende Tragikomik der Stelle genutzt, ja sie wird selbst zum komisch gebrochenen Gegenstand des stummen Finales. - zu 4.: Auffällig in Beschreibungen der Aufführung und in Äußerungen von Meyerhold selbst ist auch der Vergleich des Chores bzw. seines Verhaltens mit Tieren. Meyerhold wollte insgesamt einen Eindruck der Personen auf der Bühne erschaffen, "wie wenn träge Fische in einem trüben Aquarium herumschwimmen." (Meyerhold S. 112).17 In der 6. Szene folgt der Chor dem betrunkenen Chlestakow auf die Bühne. In der Szene geht quer über die Bühne eine etwa hüfthohe Balustrade, die Chlestakow vom dahinterstehenden Chor trennt. Dichtgedrängt, diesmal jedoch in einer parallel zur Bühnenrampe verlaufenden Reihe windet sich der wie ein Körper erscheinende Chor, immer auf Chlestakows Bewegungen reagierend.18 Auch sprachlich gerät der Chor zeitweise in Nähe zu Tieren: In der 7. Szene antworten die Beamten auf den im Schlaf sprechenden Chlestakow, bevor sie sein "Laberdan" wiederholen, "mit einem kriegerischen 'Wa-wa-wa1, Wu-wu-wu1" (Hoffineier/Vôlker S. 110). Im Chaos der 11. Szene erscheinen die Schreie der Polizisten als "Hundegebell" (a.a.O. S. 115 und Worrall S. 91). Der Chor verhält sich teilweise auch kindisch-unvernünftig und wirkt dadurch lächerlich: In der 1. Szene kichern sie über die Briefe, die der Postmeister illegal an sich nahm, in der 14. Szene gar erfreuen sie sich über die Stellen des Briefes von Chlestakow (der ihn als Hochstapler entlarvt), in denen jeweils andere Beamte lächerlich gemacht werden - das ist um so unangemessener und dümmer, als es sich um den Brief mit der für den Chor insgesamt vernichtenden Wahrheit handelt. Wie wir oben sahen, läßt sich die 9. Szene mit ihrem mechanischen Chor als Traumsequenz deuten. Das gilt auch für die vorhergehende: Chlestakow schläft, und die Beamten (mit Geldgeschenken) wie auch Frau und Tochter des Gouvernuers ziehen an ihm "im Gänsemarsch" (Hoffineier/Völker S. 112) vorbei und betrachten ihn ausgiebig. Innerhalb der 5. Szene (bei der Premiere noch als eigene 3. Szene) wird ein Chor zum Ausdruck der Träume und Wünsche der Frau des Gouverneurs. Diesmal handelt es sich nicht um die Beamten, sondern um einen Chor von Offizieren. Sie quellen als Abschluß und Höhepunkt der Szene aus dem Schrank und unter dem Sofa hervor und besingen als feurige Liebhaber ihre "Herrin", wobei sie auf unsichtbaren Gitarren spielen. Auch dieser Chor ist seelenlos, allerdings nicht aufgrund von Angst, sondern da er nur Ausdruck der Einbildung (sexueller Hingabe) einer Figur ist, er ist daher total auf eine Figur fixiert. Am Ende erschießt sich einer der Soldaten zu Füßen der Angebeteten, worauf ein weiterer aus einer großen Hut 17

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An anderer Stelle vergleicht er das Verhalten des Chores mit "Küchenschaben", die aus Ritzen hervorkrabbeln (S. 106). In der Sekundärliteratur ist filr die Szene die Rede von einem "Tausendfüßler" (Voies XVII S. 332) - vgl. Kortner zu Max Reinhardts Masse in König ödipus, siehe oben S. 84, Anm. 21. Nick Worrall spricht von "The suggestion of some strange, crawling creature" (S. 86), Hoffmeier/Völker vergleichen den Chor in der Szene mit einer "Riesenschlange" (S. 103). In der Enge der 1. Szene wird der Chor mit einem "Ameisenhaufen" (Voies VII S. 85) verglichen. Béatrice Picon-Vallin wählt als Titel filr den Abschnitt über die Behandlung des Chores in der Inszenierung insgesamt den Titel 'Choeur ou troupeau?1, 'Chor oder Herde?' (VoiesXVIIS. 330).

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Schachtel wie eine mechanische Puppe schnellt und mit einem Blumenstrauß vor der Frau auf die Knie geht. Der Chor ist hier wie in anderen Szenen metaphorisch eingesetzt; er drückt theatral-bildlich einen inneren oder abstrakten Vorgang bzw. Zustand aus und macht durch diese befremdende, aber zugleich eingängige Darstellung das Ausgedruckte komisch wahrnehmbar. Der Ofiizierschor in der 5. Szene ist kein psychoanalytischer Chor oder gar, wie Meyerhold vorgehalten wurde, ein mystischer Chor, sondern ein 'metaphorischer', komischer Chor. Durch den stilisierten Einsatz des Chores entsteht in vielen Szenen aus dem in das Spiel eingebundenen 'Volk' ein (aus seiner Sicht unfreiwilliger) komischer Chor, der metaphorischer Darstellung dient. In der 9. Szene, der simultanen Bestechung, wird so die 'Bestechungsmaschinerie' des (zaristischen) Staatsapparates gezeigt.19 - zu 5.: Auch innerchorische Spannungen benutzt Meyerhold fur komische Wirkungen; sie spielen sich allerdings eher am Rande ab, da der Chor zentral mit seinem Verhältnis zu Chlestakow beschäftigt ist. Der Kampf um die Vorherrschaft im Chor, der Kampf um die Rolle des Chorführers, etwa in der 6. Szene zwischen Gouverneur und Semljanika ist ein gegenläufiges Nebenmotiv zur ängstlichen, groteskes Verhalten bewirkenden Unterwerfung aller unter den vermeintlichen Revisor. Wichtig für die grotesk-komische Wirkung des Chores ist, daß er aus Individuen besteht, die alle Eigenständigkeit aufgeben. Verstärkt wird dieser Effekt optisch durch starke Kontraste im Aussehen der Chormitglieder: Dicke, Dünne, Große, Kleine usw. geraten gemeinsam in Panik. Gerade in der bereits angesprochenen großen Enge vieler Szenen kommt dies zur Geltung. Insgesamt benutzt Meyerhold (der Textvorlage entsprechend, sie aber dahingehend auch ausbauend) die traditionelle - durch das enge Zusammenspiel vieler technisch bedingte Beschränktheit des Chores in Aktionen. Die Unterlegenheit des Chores in diesem Bereich gegenüber den Protagonisten, die sich oft als Schwierigkeit für den 'ernsthaften' Regisseur erweist, wird hier positiv für komische Zwecke benutzt. Dabei spielt Meyerhold jedoch nicht auf die Konvention 'Chor' an, statt eines metatheatralen Verweises 'tarnt1 er den Chor als naturalistisch entstandenen.

3.3 Der komische Chor und die musikalische Regie Meyerholds Die 5. Szene mit dem Ofiizierschor ist wie fast alle anderen musikalisch begleitet. Musik spielt in der Inszenierung insgesamt eine sehr große Rolle. Die Aufführung wird von einem Orchester im Orchestergraben vor der Bühne begleitet, diese akustische Begleitung verstärkt die Wirkung der Aktion und Sprache durch Stimmung unterstreichende oder kontrapunktierende Musik.20 19

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Dieser Einsatz des Chores hat große Ähnlichkeit mit seiner Behandlung bei Aristophanes, in Die Wespen etwa wird der Chor der alten Männer aufgrund ihrer Streitlust zum Chor der gefährlichen Wespen. Wahrend der gesamten 7. Szene mit ihren formellen Peinlichkeiten, der Angst der Beamten vor Chlestakow und dessen Angst vor dem starken Schnaps werden Walzer gespielt.

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Musik ist für Meyerhold jedoch abgesehen vom Einsatz des Bühnenorchesters und anderer ins Spiel integrierter akustischer Elemente das bestimmende theatrale Prinzip überhaupt. Er selbst bezeichnet Der Revisor mit dem "Terminus 'musikalischer Realismus'" und fahrt fort: Wir sahen, daß man die Aufführung nach allen Regeln der Orchesterkomposition zusammenfügen mußte, daß der Part eines jeden Schaupielers für sich genommen noch nicht klingt, er mußte unbedingt mit der Masse der anderen Rollen-Instrumente vereint und diese Gruppe zu einem komplizierten Orchester verflochten werden, man mußte in dieser komplizierten Struktur die Leitmotive vermerken und den Schauspieler, die Beleuchtung, die Bewegung, ja sogar die Requisiten zusammenklingen lassen wie ein Orchester.21 Die musikalisch orientierte Regie Meyerholds greift in dieser Inszenierung in hohem Maße auf den Chor zurück. Er behandelt ihn dabei interessanterweise grundsätzlich, wie auch Reinhardt, als Sprechchor, wobei dennoch der Klang oft wichtiger ist als der Inhalt. Die räumliche Organisation als Haufen oder Linie und deren Rhythmisierung,22 das fugenartige Einsetzen, der Wechsel von Einzelstimmen und Unisono, die Variation ein und desselben Wortes oder Satzes, der Kontrast verschiedener Sprechund Bewegungstempi sind zentrale musikalische Regieelemente der Inszenierung für den Chor und teilweise auch für die Einzelfiguren. Neben dem 'Solisten' Chlestakow gibt es im Grunde jedoch nur den Chor, aus dem heraus zeitweise Einzelfiguren, der Gouverneur, seine Frau und Tochter, Semljanika, als Chorführer oder kurzzeitige 'Solisten' herauskommen. Viaceslav Ivanov geht sogar so weit anzunehmen, das Chorprinzip sei die Grundlage für Der Revisor, schließlich wird Chlestakow nur durch den Chor der Stadt und seinen Irrtum zur Hauptfigur gemacht, der Chor wird von einem selbstgeschaffenen Phantom bedroht.23

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Neben dem Gesang der traumhaften Offiziere in der 5. Szene spielt die Musik auch in der 10. Szene (ohne Chor) eine zentrale, in die Handlung integrierte Rolle, durch den vom Klavierspiel des Offiziers begleiteten Tanz Chlestakows mit den beiden Frauen. In der 12. Szene singt während der Verlobung im Hintergrund ein Kirchenchor. Schließlich spielt in der 14. Szene hinter der Bühne ein jüdisches Orchester anläßlich der Feier der bevorstehenden Hochzeit der Gouvemeurstochter mit dem vermeintlichen Revisor. In der 15. Szene "Beispiellose Konfusion" erreicht das Durcheinander auf der Bühne und im Chor auch akustisch seinen Höhepunkt: Das Festorchester spielt, obwohl sich Chlestakow als Hochstapler und damit die Hochzeit als Illusion erwiesen hat, unpassenderweise zur Verwirrung der Beamten und dem verrückt werdenden Gouverneur Tanzmusik, dazu klingen (eigentlich auch anläßlich der Feier) Glocken; außerdem pfeifen Polizisten mit ihren Trillerpfeifen und schlagen auf Trommeln, schließlich schreit der Chor aus Angst und Verzweiflung. Meyerholds. 136. In der 14. Szene gibt es diverse Bewegungsrichtungen der pyramidenähnlich zusammengezwängten Masse; zuerst ist der Gouverneur mit seiner Frau vorne rechts das Ziel der Blicke, als der Postmeister mit dem Brief erscheint, orientiert sich der Chor nach links und anschließend jeweils zum gerade den Brief Lesenden. Worrall schreibt von "tiny whirlpools of movement" (S. 94). Die Zeitschrift, in der Ivanovs Artikel erschien, war Teil des Meyerhold-Theaters, Meyerhold war der Mitherausgeber; eine direkte Verbindung zu Meyerhold, seine Kenntnisnahme des Artikels sind also höchstwahrscheinlich. Die im Sowjetrußland der 20er Jahre verständliche Betonung des Kollektivs findet sich

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Musikalische Regie des Chores und groteske Komik sind in Meyerholds Der Revisor miteinander verbunden,24 sie bedingen einander: Durch musikalisch geprägte Stilisierung und Verdeutlichung abstrakter Vorgänge oder Zustände sowie geheimer Wünsche im Kontrast mit einer ins Spiel integrierten, realistischen Gruppe entsteht ein komischer Chor. Deshalb besteht die komische Wirkung nur, solange die Brüche in der 'Figur1 innerhalb der Spielebene bleiben. Eine besondere Verbindung des Chores zum Publikum während der Aufführung ist nicht gegeben. Am Ende kommt es jedoch zu einer Öffiiung des Spiels. In der chaotischen 15. Szene fliehen die Choreuten gemeinsam in den nun beleuchteten Zuschauerraum und erscheinen im anschließenden Finale als Puppen auf der Bühne. Ganz am Ende der Aufführung findet also eine Durchbrechung der Spielebene und ein Spiel mit der Konvention des Theaters statt; allerdings handelt es sich dabei (anders als bei Aristophanes) kaum um eine komische Durchbrechung. Die groteske Tragikomik der Inszenierung kippt hier ins Tragische, indem sie die Zuschauer einbezieht und zugleich mit dem beschränkten Chor aus schließlich leblosen Puppen in Verbindung bringt; das Lachen des Publikums der vorangegangenen Stunden über den Chor wird so offensichtlich zum Lachen über sich selbst.25 Spätestens nun wird deutlich, daß der Chor der Beamten nicht bloß ein dummer Akteur ist; Meyerhold inszeniert also im Sinne Gogols, der über Der Revisor schreibt, Ziel sei das Lachen über sich selbst: "Sonst würde das Lachen nur Verleumdung werden" (Gogol S. 516).

3.4 Zusammenfassung des komischen Chores bei Meyerhold und seine Einordnung in die Typologie des Chores Meyerholds Chor ist äußerlich ohne Verbindung zum traditionellen, antiken Chor; ein direkter Einfluß besteht, wie wir sahen, eher von der Musik, der Malerei und dem Film. Damit zeigt sich, wie bei Reinhardt, daß chorische Elemente auch ohne

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auch bei dem (heute so einflußreichen) Literaturtheoretiker Michail Bachtin. Im Rahmen der Kanievalisierung der Literatur, die mit der 'Polyphonie der Stimmen' zusammenhängt, spielt die "groteske Körperkonzeption" (Bachtin, Rabelais S. 345ff.) eine große Rolle. In Meyerholds Der Revisor wird durch den Chor der Rahmen für das unfreiwillig karnevaleske Geschehen, dh. die "umgestülpte Welt" (Bachtin, Literatur und Karneval S. 51) gegeben, er wird darin, wie wir sahen, gerade selbst theatral-körperlich zur grotesk-komischen Figur; Bachtins Theorie läßt sich auch insofern auf die Inszenierung anwenden, als der komische Chor ja erst durch die außergewöhnliche Situation entsteht. Der Revisor ließe sich als Variation des Themas "Wahl und Sturz des Kamevalskönig" (Bachtin, Literatur und Karneval S. 50) deuten. Bachtin geht auch ausführlich auf karnevaleske Gestaltenpaare wie Doppelgänger usw. ein, ein wichtiges Element von Meyerholds Inszenierung, auf das wir in diesem Rahmen jedoch nicht genauer eingehen können. Interessanterweise äußert sich Bachtin allerdings kaum über die Literaturgattung Drama (vgl. Möllendorff Grundlagen). Picon-Valiin schreibt über Meyerhold im Allgemeinen: "On trouve chez Meyerhold une dramaturgie musicale qui se rattache à la poétique du grotesque." (Voies XVII S. 375). Schon zuvor riefen die krassen komischen Effekte der Inszenierung (ganz im Sinne Meyerholds) kein unbeschwertes Verlachen hervor, sondern waren mit Verwirrung und Sorge des Publikums vermischt.

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bewußten bzw. direkten Bezug zur Antike das Theater bereichern können und sich dabei zumindest teilweise Parallelen zum antiken Theater ergeben. Meyerhold fuhrt den Chor in ein chorloses Stück ein, Vergleichbares werden wir am Ende des Jahrhunderts vermehrt antreffen. Der Chor in Der Revisor ist - ähnlich wie bei Aristophanes, nur in stärkerem Maße - keine innerhalb der Inszenierung abgeschlossene Gruppe, denn bis auf den Protagonisten können alle Figuren zeitweise aus dem Chor heraustreten und sich wieder einfügen. Entsprechend der Auffassung des Ensembles als ein Orchester ist der Chor in Meyerholds Inszenierung beinahe mit dem gesamten Ensemble gleichzusetzen, wofür wir im Folgenden noch weitere Beispiele, die von großer Wichtigkeit für eine Typologie des Chores sind, antreffen werden. Der Chor bei Meyerhold nimmt auf den ersten Blick keinen Sonderstatus in der Inszenierung ein. Vielmehr erscheint er als wichtige Figur im Drama; die Gruppe entsteht innerhalb des Spiels auf glaubhafte naturalistische Weise, aufgrund der gleichen, äußeren Umstände aller Chormitglieder. Die Gemeinsamkeit wird durch die stilisierende 'Chorisierung' verdeutlicht und künstlerisch entlarvt, daraus entsteht die 'Chorkomik' in Der Revisor. Der Chor der Beamten stellt, ähnlich wie bei Reinhardt, aber mit ganz anderer, nämlich komisch-distanzierender, Absicht eine Synthese aus der neuzeitlichen Figur 'Volk' und einem Chor dar. Meyerhold wie Reinhardt nutzen durch exakte Sprachregie und durch wirkungsstarke Bilder auf chorische Weise die Möglichkeiten des Einsatzes von Gruppen im Theater.

3.5 Christoph Marthalers komisches Chor-Ensemble in Murx Der Schweizer Christoph Marthaler inszenierte in den letzten Jahren mit großem Erfolg im deutschsprachigen Raum Dramen, Opern und seine eigenartigen, 'komponierten' Collagen; so 1995 Stunde Null oder die Kunst des Servierens am Hamburger Schauspielhaus.26 In sich geschlossener und insofern von einer radikaleren Ästhetik war die Inszenierung Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab! an der Berliner Volksbühne Frank Castorfs von 1993. 11 Figuren, drei Frauen und acht Männer verbringen ihre Zeit in einem geschlossenen, wartesaalähnlichen Raum. Es handelt sich um namenlose Individuen, die durch das gemeinsame Warten bzw. Nicht-Handeln in einer geschlossenen Welt verbunden sind. Die meiste Zeit über sitzen sie im ganzen Raum verteilt an Tischen, an 'ihren' Plätzen, die sie nie wechseln. Sie verlassen sie nur kurzfristig für individuelle Einlagen (wie den Gang zur Toilette oder das Verabreichen einer Ohrfeige) oder gemeinsame Handlungen wie Händewaschen im angrenzenden Raum, Wahlzettel ankreuzen oder Chorge26

In der Kritikerumfrage des Jahrbuchs 1996 von Theater Heute erreichte die Inszenierung die zweitmeisten Stimmen für die "Inszenierung des Jahres" (S.95). Dasselbe gilt für Murx 1993 (S. 135). 1994 kam Maithaler ebenfalls mit seiner Faurt-Inszenierung und der des Sturm auf den zweiten Platz. Im selben Jahr wurde seine ständige Mitarbeiterin Anna Viebrock 'Bühnenbildnerin des Jahres' (S. 51). "Christoph Marthaler ist unbestreitbar der Regisseur der neunziger Jahre." (Schlienger). Möglicherweise hat Marthaler also unrecht, wenn er sagt: "Aber ich weiß auch, daß ich mit meinen Arbeiten das Theater nicht ins nächste Jahrtausend führen werde." (TH-Jahrbuch 1994. S. 24).

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sang.27 Die Einzelfiguren sind durch den gemeinsamen, nicht näher definierten Aufenthalt in einem Raum, durch das gemeinsame Schicksal verbunden, sie sind Zuhörer und -schauer der anderen. Der Automatismus der Handlungen und die Klischeehaftigkeit ihrer Äußerungen lassen die an sich seelenlos erscheinenden Figuren erst als Ensemble lebendig werden; dabei findet gemeinsames Gespräch nur fragmentarisch statt und auch dann nur in eingefahrenen Formeln. Die "elf ewigen Wärter", das "Sangesvolk" (Wille TH 3/93. S. 12f.) sind ein Chor, da sie gemeinsam singen und sinnlose, dadurch jedoch fast rituell werdende Handlungen begehen, und da sie als Einzelfiguren nicht wirklich lebendig sind. Dieser Chor ist streckenweise beim gemeinsamen Singen - die Verwirklichung eines utopischen Ideals, aber zugleich Ausgangspunkt für komische Wirkungen. Die Struktur der Inszenierung ist eine musikalische:28 Musikeinlagen, die virtuos und dabei unspektakulär ausgeführt sind, wiederholte und variierte Gesprächsbrocken, Floskeln, Zitate, Sprichworte und (verunglückte) Witze sowie alltägliche, hier 'rituelle' Handlungen und immer wieder lange, intensive Pausen machen die Aufführung aus und gliedern sie zugleich, so daß die Zeit zum eigentlichen Thema wird. Endlose Wiederholungen und Variationen im sprachlichen Text, im Rhythmus und der Dynamik bilden das musikalische Grundgerüst der Aufführung. Die einzelnen Figuren sind Teil des chorischen Ensembles. Im Bereich der Bewegungsregie, durch das Ineinander von Einzelhandlung und gemeinsamen Tätigkeiten, ist Marthalers Theater dementsprechend in der Nähe zeitgenössischen Tanztheaters anzusiedeln, das etwa bei Pina Bausch oder Wim Vandekeybus auch stereotype chorische Bewegungen und ihre komische Verfremdung umfassen kann. Durch die musikalische Chorstruktur entsteht Komik. Die Differenz des Einzelnen zur Gruppe bewirkt komische Kontraste; etwa beim gemeinsamen Essen, das bei jeder Figur andere, ungewöhnliche, ungeschickte Vorgehensweisen zeigt oder durch einen Mann, der sich immer wieder den Gruppenzwängen widersetzt. Auch der weltfremde Inhalt der (meist altmodisch-gefährlichen, Deutschland besingenden) Lieder im Vergleich mit den Sängern und dem heruntergekommenen Raum oder der durch den Gesang bewirkte Wandel der Figuren zu selbstbewußten Gruppenmitgliedern führen zu komischen Kontrasten. Die dauernden Wiederholungen und der Grad an Variation darin, sowie die wiederholten und variierten Reaktionen der anderen darauf erzeugen einzig mit formalen Mitteln komische Wirkungen. Dabei erweist sich das an sich durch eine 'vierte Wand' abgeschlossene Spiel als den Zuschauem gegenüber insofern offen, als es auch ein Spiel mit ihren Erwartungen ist; die Vorgänge und Äußerungen auf der Bühne sind häufig wenig überraschend, sie laden zum geistigen Mitsprechen und -spielen ein, zum Mitkomponieren der Pointen durch kleine Veränderungen. Das wird durch die Langsamkeit des Spiels und die ausgedehnten Pausen unterstützt, auch das Timing kann den Zuschauer zum geistigen Mitimprovisieren verführen (wann und wie es jeweils weiter gehen könnte).

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Der Gesangschor bietet für Marthaler einen Anknüpfungspunkt an die Realität (siehe oben zu Gesangschören) und ist zugleich künstlerisches Instrument. Ein Chor, der als Gesangschor auf der Bühne steht, bedarf keiner weiteren Legitimation, sein Status ist klar; er paßt in das statische 'Geschehen' der Inszenierung und ertaubt zudem, daß einzelne Figuren als Individuen aus ihm hervorgehen. Bevor Marthaler Regie führte, war er als Musiker tätig, er schrieb u.a. Bühnenmusiken. 105

Christoph Marthalers Mura weist in entscheidenden Punkten Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten mit Meyerholds Regie in Der Revisor auf: - Der Aufführung liegt eine musikalische Struktur zugrunde, die hier sogar an die Stelle jeglicher Handlung tritt, - aus Individuen entwickelt sich eine chorisch handelnde, sprechende und singende Gruppe, - es kommt neben individuell erzeugter Komik zu Komik aus dieser Gruppe heraus, die in beiden Fällen viel mit Automatisierung und Seelenlosigkeit zu tun hat. Beide Arten von chorischem Ensemble sind absolut nicht historisierend angelegt, dennoch entsprechen sie in mancher Hinsicht eher dem aristophaneischen Chor als viele Komödienchöre in Antikeninszenierungen. Allerdings wird bei Marthaler das chorische Ensemble zum alleinigen Akteur eines völlig handlungsfreien Geschehens; es ist nicht so klar definiert, da es sich auch nicht durch Handlung und als Gegenspieler des Protagonisten abgrenzen kann. Deshalb ist seine Komik weniger grotesk, sondern eher eine melancholische, was auch damit zusammenhängt daß die Schauspieler anders als bei Meyerhold nicht klar umrissene Figuren darstellen, sondern eher verschrobene, skurrile Typen, deren Besonderheit auch stark durch die Persönlichkeit des jeweiligen Darstellers mitgeprägt ist. Das Ensemble der Darsteller ist folglich auch insofern chorisch, als es sich gar nicht um klar umrissene Kunstfiguren handelt, sondern eher um einen theatralen Zusammenschluß verschiedener 'Privat-Menschen'.29 Marthalers Chorensemble hat demnach einen, der Antike nicht ganz unähnlichen - allerdings eher für die gesamte Aufführung grundlegenden - Status. Die Leere der Figuren und die Abwesenheit jeglicher sinnvoller Aktion bilden eine absurde, sinn- und ziellose Gnmdsituation ab, die in ihrer musikalischen Struktur z.T. dadaistische Züge erhält.30 Trotz der ironischen Einbettung der Chorgesänge (und der Instrumentalbegleitung) in den Rahmen des Ortes und seiner Figuren, obwohl der Text und die optische Darbietung auch komisch wirken, wird in den Chorgesängen ein positives, utopisches Moment angedeutet, das bei Marthalers chorischem Ensemble - hoffnungsvoller als bei Meyerhold - auch in dieser Hinsicht an die Wiederentdeckung des verlorenen antiken Theaterchores denken läßt. Marthaler sagt (im oben bereits zitierten Interview) auf Murx anspielend: Irgendwann merkt man, daß die Leute [die Schauspieler] im Grunde Autisten sind und gar nichts Gemeinsames machen können. Wobei - bisher war in meinen Inszenierungen Musik im Spiel - die plötzliche Mehrstimmigkeit eines Chores ein wichtiges Mittel ist. Wenn alle weit auseinandersitzen und diese Verlorenen und nicht versöhnbaren Autisten plötzlich gemeinsam singen. Das ist eine starke Utopie, besonders wenn sie komplizierte Lieder schön singen können. (S. 26)31

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Als Schauspieler bevorzugt Marthaler Musiker mit Bühnenpräsenz gegenüber Verwandlungskünstlern (S. 24 im r//-Jahrbuch 1994). Eine wichtige Rolle bei der Schaffung der seltsamen, verschrobenen Atmosphäre spielt auch der heruntergekommene, altmodische und in sich geschlossene Raum. Im Programmheft überwiegen nicht zufällig Texte von Kurt Schwitters. Bezeichnend ist, daß Marthaler nicht zwischen Darsteilem und Figuren unterscheidet.

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3.6 Chorkomik in Antikeninszenierungen und Dramen mit antikisierendem Chor Die wohl erfolgreichste Inszenierung einer Aristophanes-Komödie und ihres Chores in Deutschland ist Benno Bessons Ost-Berliner Der Frieden in Peter Hacks' Bearbeitung 1962 am Deutschen Theater.32 Die Bearbeitung hält sich relativ eng an die Vorlage, sie beläßt das Geschehen im antiken Athen; Hacks hebt allerdings, nun mit eigenem Text, den Chorführer aus dem Chor hervor. Der große Erfolg der Inszenierung hängt mit den historischen Rahmenbedingungen zusammen: Dem muffigen, engstirnigen, puritanischen SED-Staat wurde hier eine Welt voll sinnlicher Freude und geistiger Brillanz entgegengestellt (der Chor wurde von einer Jazzband begleitet). Statt des vom Staat erwogenen Verbotes kam es auf dieser Basis zum Bündnis mit dem Publikum, die Auffuhrung hatte insofern (Aristophanes nicht so femliegenden) kaberettähnlichen Charakter.33 Die spezifische Komik des Chores ergibt sich aus dem Kontrast der Darstellung alter Männer und junger Schauspielschüler als deren Darsteller, sowie der Begleitung durch die Jazzband. In der Szene, in der der Chortanz eine Gefahr für Helden und Chor darstellt,34 übernimmt der Chorführer die Rolle eines Gegenspielers der Hauptfigur innerhalb eines absurd-komischen Konfliktes. Wenn (bei Hacks) die Töchter zum Helden sprechen, wird das chorische Unisonosprechen der beiden Darstellerinnen ironisert, indem eine er beiden deutlich "nachklappert";35 diese chorische Komik basiert demnach auf theatralem Selbstverweis, der auf das neuzeitliche Dilemma von Individuum und unpersönlicher Chorgruppe anspielt. Die Inszenierung samt ihrer Komik ist ansonsten eng zeitgebunden.36 Besondere Beachtung wird, auch aufgrund des Sprachwitzes der Vorlage, dem akustischen Verständnis der Einzeldarsteller und des Chores geschenkt. Besson und sein Chor vermitteln auch die positive Botschaft des Friedens als der Kunst zu leben. Meyerholds körperlicher, Sprache eher als Material denn als Vermittler von Inhalten benutzender, destruktiver, komisch-grotesker Einsatz des Chores in Der Revisor scheint im Gegensatz dazu auch heute, in der 'Post-Monty-Python-Ära' wirkungsvoll sein zu können. Im Zusammenhang mit den komischen Theaterchören sei auch ein Film erwähnt, der explizit den antiken Tragödienchor einsetzt. Woody Allens Mighty Aphrodite benutzt ironischerweise den Chor der Tragödie u.a. zu komischen Zwecken. Das 32 33

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Die Inszenierung erlebte über 250 Aufführungen, sie wurde auch im Westen gezeigt. Wichtige Informationen zu der Inszenierung verdanke ich dem Dramaturgen Karl-Heinz Müller. Siehe oben im ein einführenden Teil, 1.9 Anmerkung zu eigener Tragik und Komik des antiken Theaterchores. Dieser Effekt entstand aus der Probenarbeit heraus; aufgrund der Schwierigkeiten der Darstellerin mit dem ungewohnten gemeinsamen Sprechen wurden diese zum bewußt eingesetzten Stilmittel (Vergleiche auch Reinhardts Einsatz von Stottern und Abbrechen für die chorischen Rollen der Mägde in König ödipus, allerdings hier zur Steigerung der Tragik; siehe Kortner S. 108f.). Die Schallplattenaufnahme von Teilen der Inszenierung zeigt die hohe Sprechkunst der Darsteller, aber auch ein heute behäbig anmutendes Verständnis von Komik, die mit Belehrung verbunden ist.

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ausschließlich private und vergleichsweise harmlose Liebes-Schicksal des New Yorker Sportreporters Lenny Weinrib der 1990er Jahre wird durch den antiken Chor in komische Relation zu antiken Tragödien gesetzt. Das happy ending wird durch eine freudige Gesangseinlage des zuvor vermeintlich tragischen Chores abgerundet; darin wie insgesamt im Einsatz des Chores, der im Verlauf der Ereignisse aus einem antiken Freilichttheater nach New York überwechselt, liegt eine Parodie (des Klischees) des Tragödienchores vor. Seine ausgiebigen, folgenlosen Diskussionen bringen ihn dabei zugleich in die Nähe fur Allen typischer, von der Psychoanalyse angekränkelter Personen.37 Die Parodie des antiken, meist an Sophokles orientierten, Chores liegt auch in einigen Dramen des 20. Jahrhunderts vor: In Max Frischs Biedermann und die Brandstifter ist das "Der Chor, bestehend aus den Mannen der Feuerwehr". Er variiert im neuen Umfeld Chorlieder aus Antigone, hebt sich durch seine in Versen gehaltene stilisierte Sprechweise von den anderen Figuren ab38 und baut zugleich durch den Kontrast seiner Doppelfiinktion als antiker Chor und als Feuerwehrleute ("Feuerwehr [...] in der Art des antiken Chors." Regieanweisung S. 7) sprachliche wie inhaltliche Widersprüche auf. Aus dem Zuschauer ("Der nämlich zusieht von außen, der Chor, / Leichter begreift er, was droht." S. 46) wird der einzig sinnvoll, tragischerweise jedoch zu spät Handelnde ("der Chor, / Ohnmächtig-wachsam, mitbürgerlich, / Bis es zum Löschen zu spät ist, / Feuerwehrgleich." S. 46). Ausgerechnet der passive Chor begreift, daß 'Schicksal' auch eine Ausrede sein kann ("Feuergefährlich ist viel, / Aber nicht alles, was feuert, ist Schicksal, Unabwendbares." S. 8), Frisch kehrt also die geistige Haltung des Sophokleischen Chores parodistisch um, hat dabei jedoch eine klare didaktische Absicht. Die Parodie in diesem "Lehrstück ohne Lehre" ist insofern lehrreich, konstruktiv, als die Lehre des Chores richtig ist, er sie aber eben nicht durchsetzen kann. Damit wird, wie der Untertitel schon andeutet, auch der aktive Brechtsche Lehrstückchor parodiert. Die Parodie ist demnach eine doppelte, die des vermeintlich schicksalergebenen antiken Tragödienchores - hier kontrastiert mit der Klarsicht des Chores für die wahren Verantwortlichkeiten, aber eben verbunden mit dem chortypischen Nichthandeln - und die des allmächtigen Brechtschen Chores - hier der Hilflosigkeit des Feuerwehrchores gegenübergestellt. Durch diese doppelte Parodie wird weniger die ideologische Einstellung des Chores als die Einstellung der im Stück dargestellten handelnden bzw. handlungsfähigen Einzelfiguren angeprangert. Friedrich Dürrenmatts Der Besuch der Alten Dame, zwei Jahre vor Frischs Stück uraufgeführt, enthält am Schluß ebenfalls die Parodie des berühmten Chorliedes aus Antigone 'Ungeheuer ist viel'. Am Ende dieser "tragischen Komödie" resümiert der Chor der Bürger feierlich-nüchtern "Doch nichts ungeheurer als die Armut."

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Es gibt durchaus auch tiefliegende Verbindungslinien dieses Chores zum antiken Chor: Der Aspekt seiner Konstanz ist durch die große zeitliche Verklammerung hervorgehoben. Der Chor übernimmt in dem Film weitgehend die Funktion des Erzählers, wobei der Chorführer eine herausragende Stellung einnimmt. Auch innerhalb des Chores kommt es zeitweise im Wechsel zwischen Gesamtchor und Chorführer durch dessen lapidare, nüchterne Einwürfe (im ersten und letzten Chorlied) zu komischen Verzerrungen.

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(S. 354). Die Komik dieser Parodie ist bitter und grotesk.39 Der "Chor der jungen hübschen Mädchen" in Rainald Goetz' Krieg parodiert ebenfalls, allerdings viel allgemeiner den Tragödienchor und kommt dabei auf die Begrenztheit des Theaters zu sprechen. Schließlich sei noch auf eine besondere, leider nicht seltene, Form der Parodie verwiesen: Chöre in Antikeninszenierungen, die aufgrund der Überforderung der Regie und/oder der Darsteller unfreiwillig zur Parodie geraten.40 Neben der Parodie des alten, häufig antiquiert erscheinenden Theatermittels ist es das in der Neuzeit permanent problematische Verhältnis zwischen Gruppe und Individuum, das kreativ eingesetzt Ursache für Komik des Chores sein kann.41 Das Verhältnis des Einzelnen zum Chor - als Mitglied oder als kontrastierende Hauptfigur - ist latent, wie wir bei Meyerhold und Marthaler sahen, die Grundlage für die komischen Effekte des Chores dieses Jahrhunderts, ohne daß explizit die Institution 'Chor' thematisiert werden müßte. Auch bei Aristophanes entsteht, wie wir sahen, Chorkomik aus der Spannung zwischen Einzelnem und Chor, allerdings nicht als innerchorischer Konflikt, sondern zwischen Chor und Protagonisten. Auffällig ist, daß der komische Chor in aller Regel an die traditionelle, für den Tragödienchor häufig hinderliche Guckkastenbühne gebunden ist; der Grund dafür dürfte im parodistischen Umgang mit den Konventionen liegen oder in der besonders durch die Guckkastenbühne gegebenen deutlichen, komische Distanz unterstützenden Konfrontation des Publikums mit dem Chor.

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Auch in Karl Kraus' Lesedrama Die letzten Tage der Menschheit sind die Chöre wie "Die Gasmasken" oder "Der Chor der Hyänen" (ohne direkte Parodie zu sein) Elemente einer sehr bitteren Komik. Das letzte Beispiel dafür in München ist Matthias Fontheims Inszenierung von Die Troerinnen 1996 im Residenztheater (mit vier Chorfrauen). Der Aufführung war der Mangel einer dramaturgischen Auseinandersetzung mit dem Chor deutlich anzumerken. Über die Lysistrata Inszenierung von Ekkehard Kiesewetter 1980 in Erfurt beispielsweise schreibt Wolfgang Lange: "aus den gemeinsamen, unterschiedlichen Reaktionen [wie gemeinsames und doch individuelles lautes Luftholen] ergibt sich auch 'kollektive Komik', die den jeweiligen Vorgang potenziert." ( S.2). 109

4. Peter Steins Orestie und Ariane Mnouchkines Les Atrides: textnaher, psychologisierend-entstehender Sprechchor versus festlicher Tanzchor

τί δ ε ι μ ε χ ο ρ ε ύ ε ι ν ; - Wie soll ich noch tanzen? (Sophokles, König

Ödipus)

4.1 Einführung zu Steins Orestie Die Berliner Schaubühne zeigte 1974 das Antikenprojekt I, dessen erster Abend Übungen fiir Schauspieler unter Peter Steins Leitung erarbeitet war, am zweiten Abend wurde Klaus Michael Grübers Die Bakchen gezeigt. Die Euripidestragödie, deren Thema durch die Dionysosfigur ja auch das Theater ist, sollte so in einen historischen Zusammenhang gestellt werden; man wollte durch die Erforschung der Ursprünge des Theaters auch den Wert der griechischen Tragödie für die Gegenwart ausfindig machen. In den Übungen für Schauspieler wird die Entstehung von Spielfiguren, von Sprache und auch von Gruppen, von Spiel aus Ritus untersucht und vorgeführt. Stein und seine Schauspieler unternehmen den - als Theateraufführung wohl nur bedingt geglückten - Versuch, vermeintlich Archaisches und Gegenwärtiges zu verbinden. Das Antikenprojekt II, Peter Steins Inszenierung der Orestie des Aischylos im Jahr 1980, ist einerseits von den beiden Auffuhrungen von 1974 verschieden, als sie keinen Versuch unternimmt, archaische Ursprünge von Theater oder dem Stoff der Trilogie aufzuzeigen, andererseits jedoch läßt sie sich gerade in der Behandlung des Chores im Agamemnon als Fortsetzung der Suche nach dem Ursprung von Gruppenbildungen auf der Theaterbühne ansehen. Aufgrund dieser besonderen Charakteristik - und weil der Chor im Agamemnon besonders wirkungsvoll gelungen ist konzentriert sich die folgende Untersuchung auf den Chor in diesem, dem ersten Stück der Orestie.1 Anders als bei den meisten Antikeninszenierungen an deutschen Theatern (von Sellner über Besson, Heyme bis Castorf) löst Stein den Spielraum der Guckkastenbühne auf und inszeniert in dem neuen, multifunktionalen Gebäude am Lehniner 1994 inszenierte Stein die Orestie in Moskau erneut, mit identischem Konzept. Dennoch unterscheidet sich diese Inszenierung mit russischen Schauspielern, die auch mehrmals in Deutschland zu sehen war, von der Berliner Inszenierung. Das von Apoll und Athene herbeigeführte glückliche Ende ist nun deutlicher ironisch gebrochen; der Chor in Agamemnon ist trotz identischer Kostüme, Gesten und Gänge traditioneller gespielt, die Suche nach der Gemeinsamkeit wird weniger deutlich. Diese Besprechung nimmt daher die Fernsehaufzeichnung der Berliner Inszenierung als Grundlage.

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Platz auf einer dreiteiligen, arenaähnlichen Bühne. 2 Der vom Chor für Auftritte teilweise einbezogene Zuschauerraum erstreckt sich halbkreisförmig um die Spielfläche herum und besteht nur aus niedrigen, langgestreckten Stufen, entfernt vergleichbar einem antiken Theater. Die flache Orchestra unterhalb des Zuschauerraums ist weitgehend leer, in der Mitte befindet sich (anfangs) der 'Beratungstisch' des Chores, hier hält sich fast immer der Chor auf, zeitweise auch einzelne Protagonisten. Deren Hauptspielfläche ist die Skene hinter der Orchestra, eine Plattform über der Orchestra und den Zuschauern frontal gegenübergestellt; im Agamemnon ist sie eine schmale Spielfläche vor einer hohen Palastwand mit Tor.

4.2 Der Chor in Steins Agamemnon Der Chor tritt nach dem Prolog des Wächters auf: Die 12 Männer tragen dunkle, abgenutzte Anzüge, schwarze Hüte und haben Stöcke bei sich. Noch deutlicher als bei den Protagonisten sind diese Kostüme aktualisiert, ohne aufdringlich modern zu wirken. Der Chor der alten Männer, die auch von Jüngeren dargestellt werden, erinnert stark an Männer im Café eines kleinen griechischen Ortes der Gegenwart, auch die Kettchen ('Komboloi') von einigen deuten das an. Die Taschenlampen beim Auftritt, sowie die Leselampen auf dem Tisch sind eindeutig der Gegenwart bzw. diesem Jahrhundert zuzuordnen. Auch Verhalten und Sprechweise des Chores passen zur Aktualisierung; dennoch handelt es sich kaum um einen historisierenden Chor wie bei Heyme (siehe 5. Kapitel), denn es geht Stein nicht um die Gegenüberstellung und die daraus folgende Überbrückung historischer Ebenen. Vielmehr liegt hier eine Aufführung vor, die Zeitlosigkeit anstrebt. Auf den Chor konzentriert ist das Hauptanliegen und der Reiz von Steins Konzept die grundsätzliche Frage nach dem Zustandekommen einer chorischen Gruppe aus Einzelnen. Bezeichnend für den Umgang mit dem Chor in Agamemnon ist das 2. Stasimon über Troja. Das Lied, das wie alle Chortexte nicht gesungen oder psalmodiert, sondern gesprochen wird, entseht aus dem Brabbeln der Männer im Anschluß an den Bericht des Boten, an dem sie - verdeutlicht durch körperliche Nähe wie Schulterklopfen usw. - starkes Interesse zeigten. Die Männer bilden nun aus den Stühlen in der Mitte der Orchestra (der Tisch steht inzwischen an der Seite) einen Kreis. Dort erzählen sie sich die Geschichte von Trojas Untergang mit ihren Überlegungen dazu. Der geschlossene Kreis zeigt, daß der Chor jetzt eine in sich geschlossene Gruppe ist, die aus dem gemeinsamen Spielen oder Sprechen entsteht und zu sich selbst spricht. Aus dem Murmeln und Brabbeln aller entsteht die Rede, zum Teil gemeinsam bzw. durcheinander, aber auch nur von einigen aus der Gruppe oder gar nur einzelnen. Bei der Erzählung einer in das Lied integrierten allegorischen Geschichte (die 2. Strophe nach der gemeinsamen 1. Gegenstrophe, die 1. Strophe ist gestrichen) steht einer der Männer auf, geht in die Mitte des Kreises und erzählt sie den anderen, die nicht nur aufmerksam zuhören, sondern auch durch Lachen oder zustimmendes Brummein teilnehmen; einige wiederholen einzelne Worte echoartig oder fallen ein, gegen Ende der Erzählung (in der 2. Gegenstrophe) sprechen sie Schon das Antikenprojekt I war in einer Messehalle gezeigt worden.

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weite Teile dann unisono. Der Erzähler setzt sich, und ein anderer fahrt mit einem neuen Gedankengang fort (die 3. Strophe), dabei wird er beim Suchen nach den passenden Worten von anderen unterstützt, von ihm selbst wiederum mit einem zustimmenden "Ja, ja" kommentiert. Auch diese Rede wird echoartig begleitet. Die Gegenstrophe wird von einem älteren Chormitglied begonnen ("Ein altes Wort sagt von altersher"), ihm widerspricht heftig ein anderer ("Da bin ich anderer Ansicht"). Die restlichen beiden Strophen werden ähnlich dem Beginn gemeinsam bzw. von Verschiedenen gesprochen. Das Chorlied entsteht organisch aus dem Zusammenhang der Geschehnisse und dem Drang der Chormitglieder zum gemeinsamen Sprechen und Zuhören. Vorausgesetzt ist, daß der Chor eine Gruppe von Männern mit ähnlicher sozialer Stellung ist; daraus entwickelt sich auf fast naturalistische Weise zeitweise ein Chor, dessen Zusammenhang jedoch nie die einzelnen Mitglieder verdeckt. Zugleich bleiben die Einzelnen jedoch immer anonym, sie sind nicht indviduell charakterisiert; wenn ein Älterer sich wie im 2. Stasimon ausdrücklich als solcher darstellt, hat das keine Folgen für seine folgenden Einsätze. Die Einzeldarsteller zeigen keine Kontinuität als Figur, die eine Persönlichkeit über das Geschehen während des Stücks entstehen ließe. Entsprechend dem immer fragilen, durch die jeweilige Situation zustandekommenden Chor gibt es auch keine Figur, die als Chorführer besonders herausgehoben wird. Stein versucht quasi psychologisch genau, das gemeinsame Sprechen aus gemeinsamen Erfahrungen und ähnlichem Denken heraus zu zeigen. Der Chor ist immer freiwillig und nie 'künstlich' entstanden. Diese scheinbar psychologisierende Seite der Entstehung des Chores als Figur im Stückzusammenhang ist jedoch nur die eine Seite. Denn andererseits ist für Steins Behandlung der Umgang mit der Textvorlage grundlegend. Das alltäglich erscheinende Sprechen des Chores, die organisch wirkenden Wiederholungen oder der Gebrauch umgangssprachlicher Floskeln oder das Brummein der Zuhörer stehen in engster Verbindung mit dem Text und seinem Inhalt. Die in sich bühnenwirksamen, musikalischen Effekte wie versetztes Einsetzen verschiedener Sprecher oder Wechsel von Sprechern verschiedener Tonhöhen sind bei Stein immer textbedingt begründet. Er benutzt - anders als Reinhardt oder Sellner, ähnlich wie Grüber, allerdings noch klarer - den Text nicht als Material für sprech-musikalische Wirkungen, sondern er setzt die Vielstimmigkeit des Chores und die unendlichen Variationsmöglichkeiten zur Verdeutlichung des Inhalts ein. Der vermeintlichen Natürlichkeit des Sprechens liegen genaue textbedingte und somit artifizielle Einteilungen zugrunde; das fugenartige Sprechen ergibt sich gerade aus dem gemeinsamen Nachspüren des Textsinns. Der Chor wird sozusagen als bei der 'Verfertigung des gemeinsamen Sprechens beim gemeinsamen, lauten Denken' gezeigt oder - aus einer anderen Perspektive gesehen - beim gemeinsamen Verstehen der Textvorlage. Dies scheint der zentrale Punkt im Umgang Steins mit dem Chor in Agamemnon zu sein: eine vielstimmige, fragende Auseinandersetzung der Moderne mit der antiken Vorlage. Stein benutzt Mittel des Regietheaters, um dem Originaltext verpflichtet gemeinsames chorisches Sprechen zu erreichen.3 Kritisch Flashar sieht in der Inszenierung Steins eine Aussöhnung von modernem Regietheater und antikem Text. "Die Größe seiner Inszenierung, die auch für ihn selbst einen Höhepunkt seiner Theaterarbeit darstellen dürfte, liegt gerade darin, daß das moderne Regietheater in

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ist diese Einstellung eigentlich nicht, denn der Chor (wie Stein) beiragen das Drama zwar, wollen es verstehen, jedoch ohne zweifelnde, grundsätzliche oder spezielle Fragen zu stellen. Verstehen des Textes und die theatrale Anwendung dessen auf heute sind das beschränkte Ziel der Orestie von Peter Stein, das jedoch auf einmalige Weise erreicht wird. Das Verstehen-Wollen des Textes schlägt sich auch in Steins Textfassung nieder. Orientiert an Schadewaldt möchte er die Fremdheit des Griechischen etwa in der Wortstellung möglichst beibehalten, zugleich versucht er, so genau wie möglich den Wortsinn des überlieferten Textes zu umschreiben, wobei ich mich bemüht habe, widersprüchliche Meinungen der Forschung nebeneinander zu verarbeiten. So kommt es - zumal in den Chorliedern - vor, daß dort, wo im Griechischen ein Wort oder ein Satz steht, bei uns zwei oder mehr entsprechende Übertragungsvorschläge nebeneinander stehen.4

Wie die Übersetzung nicht abgeschlossen, endgültig und dennoch formvollendet ist, so ist auch die Sprechweise des Chores eine fließende und doch hochkünstlerische Suche nach dem 'Ur-sinn' des Aischylos. Nicht zufällig benutzt der Chor ganz zu Beginn und dann immer wieder griechische Passagen (die von anderen Choreuten übersetzt werden).5 Die gesamte Aufführung des Chores ist ein Echo auf den griechischen Text, deshalb ist die Inszenierung nur bedingt naturalistisch-psychologisierend, wie sie zunächst erscheinen mag. Die Fixierung auf den Text zeigt sich auch darin, daß v.a. beim Chor das körperliche Element im Hintergrund bleibt. Die Männer in der Orchestra sind meist wenig beleuchtet, 'ihre' Lichtquellen sind die kleinen Taschenlampen (mit denen bei ihrem Auftritt die permanente 'Suche' des Chores nach sich selbst auch bildlich verdeutlicht wird) und die Tischlampen. Durch die Hüte bleiben die Gesichter im Dunkeln, der Chor ist dadurch gleichsam maskiert, so daß er unpersönlich und einheitlich wird. Ahnlich ist die Wirkung der dunklen Sakkos oder Mäntel. Persönliche, aber anonym bleibende, da nicht zuweisbare Momente gewinnen die Choreuten nur durch die nicht uniformierte Sprechweise. Nur selten (etwa beim Erzähler inmitten des Kreises) wird optisch deutlich, wer aus dem Chor gerade spricht. Daher ist auch das konkrete Alter der Darsteller bzw. ihrer Figur unwichtig. Es gibt kaum optisch

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den Dienst eines ohne Kürzungen und Zutaten freigelegten Textes gestellt wurde." (Inszenierung S. 263). Ähnlich äußert sich auch Peter Iden: "Interpretation ist hier zuallererst Aufdeckung, fast: Rekonstruktion [...] Das Spektakuläre ist die Absage an jenes spekulative Ausdeuten, das westdeutsche Klassikerinszenierungen so oft bestimmt." (Theater als Widerspruch S. 112). Peter Stein ohne Seitenangabe. Stein nennt seine Art der Behandlung des Chortextes auch "chorischer Diskurs, der gleichsam ein Feld von Begriffen um die oft schwer mit einem Wort zu fassende Originalbedeutung legen konnte." (Seidensticker S. 8). Die Aussprache des Griechischen entspricht dabei nicht der bei Auffuhrungen üblichen am 'Schulgriechisch' ausgerichteten, sondern ist offensichtlich an sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen über die 'richtige', originale altgriechische Aussprache orientiert.

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'reizvolle' oder auffallende Arrangements des Chores, etwa in zwei Halbchöre. Der Chor im Agamemnon läßt sich beinahe als 'Hörspielchor' ansehen. Stein verzichtet auf musikalische Elemente des Chores, auf Gesang, Sprechgesang oder untermalende Musik. Das facettenreiche Sprechen ist deswegen jedoch keineswegs monoton, es ist z.B. durch gemeinsames Summen oder Brummein erweitert. Das Fehlen von Musik entspricht nicht nur der dem Textsinn verpflichteten Annäherungsweise, sondern auch dem äußerlich naturalistisch gehandhabten Chor. Er entspringt dem Alltag älterer, gemeinsam im Café hockender Männer. Dementsprechend sind auch die kultisch-religiösen Aspekte dieses Chores stark reduziert. Die Gebete des Chores selbst sind von Summen begleitet, insgesamt aber kurz gehalten, sie gehen fließend in räsonierendes Sprechen der Alten über. Das kurze Gebet im 3. Stasimon besteht aus von Summen begleitetem Vorlesen eines Choreuten am Tisch aus einem Buch (mit antiker Büstenabbildung, wohl Aischylos), auch das geht bald in ein fur die Inszenierung typisches Chorgespräch über. Der Raum der Inszenierung, die 'Orchestra', wo sich in erster Linie der Chor aufhält, bedingt eine dauerhafte Nähe des Chores zum Publikum; dieser bleibt ihm gegenüber aber immer geschlossen, er bezieht die Zuschauer nie direkt ein. Besonders deutlich wird das in dem geschlossenen Kreis beim gemeinsamen Chorlied; die Männer wenden sich dabei immer zueinander, sind zugleich (bzw. jeweils aufgeteilt und schnell wechselnd) Zuhörer und Akteure. Eine explizite Vermittlung des Geschehens zum Publikum findet nie statt. Vielmehr ist der Chor stärker als bei den meisten anderen Inszenierungen eine Figur im Stück, die zwar nur am Rande von den Ereignissen betroffen ist, als solche aber eigentlich die Hauptfigur darstellt. Der Chor ist dauernd anwesend und als reflektierender Zuschauer zugleich eng mit den Protagonisten verbunden. Dieser Chor geht stark auf die Einzelfiguren ein, er setzt sich sprachlich und durch körperliche Nähe, obwohl bei diesem Chor Körperlichkeit sonst eher unwichtig ist, mit ihnen auseinander (besonders mit dem Boten und Kassandra). In der Auseinandersetzung mit Freunden oder Feinden (Klytaimestra und Aigisth) findet er auch schneller als in den Liedern zu einer gemeinsamen, gleichzeitigen Stimme. Daher ist bei Stein der Unterschied zwischen Chorliedern und Epeisodia stärker ausgeprägt als etwa bei Heyme. Sie gehen zwar auch fließend ineinander über, der Chor findet jedoch in der Konfrontation mit anderen Figuren schneller zu einer Einheit (und Körperlichkeit) als eine Figur, wohingegen die Lieder als Suche nach sich selbst aufgesplitterter sind. Hier liegt jedoch auch das einzige größere Problem der Chor-Regie im Agamemnon: Am Ende des Stückes, bei der Auseinandersetzung mit Klytaimestra und Aigisth, ist der Chor, da seine Figur und deren Sympathie kurzzeitig eindeutig festgelegt werden, zu schnellen Wechseln verurteilt, die er bei Steins Konzept eines nie 'fertigen' Chores an sich nicht leisten kann. Chorischer Charakter, Textnähe und äußerlich naturalistische Figur, die im Epeisodion nicht über das Drama oder sich selbst nachdenken kann, kollidieren bei Stein in der vergleichsweise handlungsreichen Exodos miteinander, während der antike Chor immer seine Distanz, seinen Sonderstatus bewahrt, auch wenn er wie an dieser Textstelle gleichzeitig aggressiv und handlungsbereit erscheint. Insgesamt gilt jedoch, daß das Konzept dieses Chores einfach und klar ist. Der Chor entsteht aus der Auseinandersetzung mit dem Text (und nicht etwa wie bei 114

Heyme durch die Verbindung verschiedener historischer Ebenen), er erscheint zugleich als geschlossene Figur in der Aufführung (anders als der kryptische, geheimnisvolle Chor bei Grüber). Gerade bei Steins Agamemnon, der sich so eng an das Drama hält, ist jedoch zu betonen, daß dieses Konzept stückabhängig und nicht ohne weiteres auf andere Tragödieninszenierungen übertragbar ist. Das deutet sich beim problematischen Ende an und zeigt sich auch in den beiden folgenden Teilen der Orestie. Der Chor im Agamemnon hat keine Funktion, die dem Sonderstatus des antiken Chores nahe käme, er entsteht vielmehr - die Vorbedingungen für eine einheitliche Gruppe durch die Ähnlichkeit der potentiellen Mitglieder in Persönlichkeit, Erfahrungen und Wertevorstellungen vorausgesetzt - aus dem gemeinsamen Denken und Sprechen, quasi aus dem Nichts. Er ist kein aufgelöster Chor, sondern ein zeitweilig zusammengesetzter, insofern aufgelösten Chören eng verwandt. Die von der Textvorlage vorgegebene Einheit des Chores wird 'erspielt', wobei durch die Vielfalt und Variationsbreite ein sehr lebendiger Chor entsteht. An der Wirkung dieses Konzeptes sind wesentlich die hervorragend sprechenden Schauspieler und die perfekte Einstudierung beteiligt.6 Zu erwähnen ist auch die zeitweilige Komik dieses Chores. Komisch ist nicht nur die breit ausgespielte Szene, in der der Chor nach den Schreien des Agamemnon im Palast zwischen ängstlichem Zögern und markanten, handlungfordernden Worten schwankt. Auch das affirmative Brabbeln des Chores, sein Durcheinandersprechen wirft an einigen Stellen, in "Momenten eines Abgleitens in Altmänner-Gesabber" (Iden Schaubühne S. 279), ein komisches Licht auf die wichtigtuerischen Greise. Auch dieser insgesamt sehr emstgenommene Chor ist also Mittel zur Erzeugung komischer Effekte.

4.3 Einfuhrung zu Mnouchkines Les Atrides Les Atrides umfaßte in seiner endgültigen Form (1992) vier Stücke, die Orestie des Aischylos und vorgeschaltet die selten gespielte Iphigenie in Aulis von Euripides, 1990 erstmals aufgeführt. 7 Gerade dieses Stück gilt als große (und überraschende) Entdeckimg in Mnouchkines Inszenierung, im folgenden werden wir uns auf den Chor darin konzentrieren. Das Théâtre du Soleil ist 1964 aus einem Studententheater hervorgegeangen. Noch heute sieht es sich als Theater-Kollektiv (war jedoch nie wie das Living Theatre eine Kommune über die gemeinsame Theaterarbeit hinaus); nach Ariane Mnouchkine, der Regisseurin und 'Leiterin', sind Freiheit und Sicherheit in der Gruppe für ihre Kreativität wichtig (Kiernander S. 15). Diese dem Kollekiv verpflichtete Arbeitsauffassung legt eine besonders intensive Auseinandersetzung mit dem Chor nahe.

Die Probenzeit betrug anderthalb Jahre, "Die wahrscheinlich am längsten geprobte Inszenierung der deutschen Bühnengeschichte" (Iden Schaubühne S. 279). Es existiert keine Videoaufzeichnung der Inszenierung, auch die Auffuhrung selbst hat der Verfasser nicht gesehen. Die folgende Besprechung stützt sich deshalb auf Beschreibungen und Kritiken, sowie Photographien. Entsprechend dieser Quellenlage spielt die Rezeption der Inszenierung im folgenden eine relativ große Rolle.

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Die Bühne liegt frontal der Zuschauertribüne gegenüber; die gelblichen Seitenwände einer bröckelnden, etwa mannshohen Mauer sind im Rechteck angeordnet. Durch die beiden von vorgelagerten Mauerteilen geschützten Zugänge an der Rückwand erinnert die Bühne (wie in fast allen Kritiken zu lesen ist) an eine Stierkampfarena. Rechts oberhalb der Spielfläche ist auf einer Art Empore der einsehbare Raum der drei Musiker mit ihrer großen Anzahl zum Teil exotischer Instrumente. Die Kostüme stellten eine eigenartige Mischung asiatischer Stile, aus Java, Bali und v.a. des indischen Kathakali-Theaters dar. Der Chor ist besonders bunt und raffiniert gekleidet und 'trägt' außerdem eine helle Schminkmaske. Es findet also eine Verbindung verschiedener Kulturen in einem unbestimmten, zeitlosen Raum statt. Die Internationalität der Truppe spiegelt sich dabei in der Inszenierung wider.

4.4 Der Chor in Mnouchkines Iphigenie in Aulis Die kulturelle Mischung schafft den hochartifiziellen Rahmen für das Spiel, das selbst durch Stilisierung und Unnatürlichkeit geprägt ist. Beim Chor äußert sich das in den Bewegungen und Tableaus und v.a. im Tanz: Abgeknickte Handflächen, Annbewegungen längs des Körpers, ihn tangential übersteigend in jähen Vierteldrehungen des Oberkörpers, das sind alles Entlehnungen (nicht Kopien) aus dem asiatischen Ritualtanz. 8

In vielen Kritiken wird das 'Schweben' des Chores betont;9 die Tatsache, daß viele der Kritiken auch mit dem Wort "Tanz" überschrieben sind, zeigt die zentrale Wirkung des Chortanzes in der Inszenierung auf die Rezeption. Der Chor ist offensichtlich - durch die Kostüme - und seine Bewegungsfreude ein sinnliches Erlebnis, das aus hochästhetisierter Choreographie in Verbindung mit einer starken, fast ekstatischen Energieleistung erzeugt wird. Angeführt von einer Chorfürerin tanzen die 11 Choreuten die Lieder. Der Text wird dazwischen, separat vom Tanz, ausschließlich von der Führerin gesprochen - nicht gesungen oder psalmodiert - und gerät so nicht völlig in den Hintergrund, ist jedoch von der eigentlichen Chorgruppe isoliert; diese manifestiert sich im gemeinsamen Bewegen und veranschaulicht dabei körperlich den Text (Neuschäfer S. 71).10 Auch die farbenfrohe, elaborierte Kleidung des

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Schiocker Frankfurter Rundschau 17.12.90. Henrichs spricht vom Chor, "der tanzt und durch die Lüfte springt wie wohl noch kein Tragödienchor zuvor." (Die Zeit 7.12.90). Stadelmeier meint, "Er scheint immer über dem Boden zu schweben. " (Frankfurter Allgemeine Zeitung 3 .12.90 ). Die anderen Choreuten können sich wohl durch kurze, ekstatische Schreie äußern. Die Beschränkung der Chortexte auf die Chorführerin als Sprecherin in 'Tanzpausen' hat nach Adrian Kiernander (S. 137) rein technische Ursachen; gemeinsames Singen hätte die Darsteller überfordert, außerdem hätte es, zumal bei gleichzeitigem Tanzen, vom Inhalt des Textes abgelenkt. Evelyne Ertel sieht - weniger in Iphigenie in Aulis als im Agamemnon - körperliche 'Leitmotive', die den Text begleiten, etwa bei der Nennung der Erinnyen eine abwehrende, das Gesicht schützende Armgeste {Le Choeur S. 29).

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Chores ist einheitlich, wobei jedoch kleine Unterschiede einer totalen Einheit entgegenwirken. Begleitet werden die Chortänze von ebenfalls orientalisch beeinflußter Musik. Sie spielt insgesamt eine große Rolle, fast die gesamte Aufführung, auch in den Sprechpartien, ist musikalisch untermalt. Die fast durchgehende, den Text verdoppelnde bzw. überflüssig machende Musik wird in vielen Kritiken, nicht nur in grundsätzlich negativen, als zu bestimmend beurteilt." Jedenfalls werden Tempo und Rhythmus der Inszenierung (auch des Textvortrags) von ihr bestimmt; der suggestive Musikgebrauch erinnert an Max Reinhardts massive akustische Stimmungserzeugung. In die Tänze werden teilweise auch Protagonisten integriert. Iphigenie selbst beteiligt sich schließlich am wilden Tanz unmittelbar vor ihrem Abgang zur Opferung, während die Mutter Klytaimestra vergeblich versucht, die Chorführerin mit den Armen um deren Beine geschlungen am völlig unpassenden Tanz zu hindern. Die Protagonisten sind ansonsten wesentlich weniger körperlich inszeniert als der Chor, sie sprechen ruhig ihre Texte. Sie müssen sozusagen die Texte abliefern, die dem Chor den Anlaß für seine Tänze geben; die Epeisodia sind demnach wirklich nur 'Episoden' der Tanz-Tragödie. Der Chor ist immer intensiver Zuhörer, er ist auch in der Stille präsent und intensiv am Geschehen teilnehmend, "als Beobachter, Mauerschauer, Augenkünstler ist jeder von ihnen ein Protagonist" (Henrichs Die Zeit 6.11.97). Auch diese Rolle wird ganz ausgespielt und für wirksame Bilder benutzt, wobei die Vereinheitlichung nicht so total ist wie in den Tänzen, die Reaktionen der Choreuten sind ähnlich, aber zugleich individualisiert. Der Chor steht dabei um die Protagonisten herum oder auf den Bänken vor den beiden Zugängen oder auf bzw. hinter den Wänden, in verschiedenen Höhen, bei manchen Choreuten ist nur der Kopf sichtbar. Der Chor in Iphigenie in Aulis unterliegt in Mnouchkines Inszenierung einem Wandel, ohne sich jedoch grundsätzlich zu ändern oder zu entwickeln. Mehr und mehr fühlt er sich von der Tragödie selbst betroffen. Das spiegelt sich in den Tänzen wider. Aus dem Jubelchor, der anfangs die Lage völlig mißdeutet, und dem Begrüßungstanzchor für die vermeintliche Hochzeit Iphigenies wird ein Tragödienchor, der schließlich einen ekstatischen Blutrauschtanz zeigt. Im Schlußapplaus zeigt er dann, zusammen mit den Protagonisten, den Jubeltanz vom Anfang erneut. An dieser 'Zugabe' läßt sich dreierlei ablesen: Erstens, daß der Chor ein theatrales Instrument ist, das ebensowenig wie ein Musikorchester eine psychologisch glaubhafte Figur darstellen soll oder kann, und zweitens, daß dementsprechend der Chor direkt für das Publikum spielt. Er reagiert zwar auf das Spielgeschehen, seine Tänze jedoch sind Aufführungen, die sich frontal an das Publikum wenden. Auch die Chortexte werden von der Chorführerin meist von der Bühne weg zu den Zuschauern gesprochen. Drittens zeigt sich durch die 'Zugabe' unter Beteiligung der Einzeldarsteller, daß der Chor die zentrale Rolle hat, er ist die Haupt-Figur, ohne im theaterüblichen Sinne dramatisch auf der Bühne mitzuspielen. Der Chor und seine Tänze sind das

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Bezeichnend für die herausragende Rolle des Musikers Jean-Jacques Lemêtres und seiner beiden Musiker im Ensemble mag seine eigenständige Tournee mit der Musik zur Inszenierung sein. Auch gibt es eine CD-Aufnahme der Musik (aber keine Videoaufzeichnung).

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Zentrum der Inszenierung, sie spiegeln das Geschehen um die Protagonisten wieder und vertiefen es in eine andere Dimension.

4.5 Zusammenfassender, in die Typologie einordnender Vergleich der Chorkonzepte Mnouchkines und Steins Der Chor in Mnouchkines Iphigenie in Aulls, sowie den anderen Teilen von Les Atrides ist ein interkulturelles Konstrukt und stellt somit auf einer lokalen Achse eine Verschiebung dar; diese ist vergleichbar mit der im folgenden Kapitel behandelten Historisierung Hansgünther Heymes, die eine primär zeitlich bedingte Achsenverschiebung darstellt. Das künstliche Spiel Mnouchkines hat (ähnlich wie der Chor in Peter Weiss' Marat/Sade) seine Logik in sich, erreicht jedoch durch die allgemeinmenschliche Anteilnahme und Schwäche des Chores auch eine Verbindung mit der Realität außerhalb des Theaters. Hélène Cixous beschreibt im Vorwort zum Programmheft den Chor als allgemeinmenschliche Figur: Für sie steht der Chor für alle Menschen mit ihren Schwächen, mit Liebe und Gleichgültigkeit den Handelnden oder Leidenden gegenüber, der Chor hat die richtigen Ahnungen und verdrängt diese, er stellt so etwas wie die Summe der Menschheit dar. 12 Diese Auffassung vom Chor dürfte mit der Mnouchkines weitgehend übereinstimmen, sie wird etwa im intensiven Zuhören des Chores inszenatorisch umgesetzt. Die interkulturelle und artifizielle Form der Inszenierung steckt demnach den allgemeinmenschlichen, überzeitlichen und übernationalen Rahmen ab, zielt auf eine besondere, universale Art von Verbindlichkeit. Steins Chor hat keine so tiefgreifende Sicherheit, er bleibt fragil, in der Nähe der Auflösung und ist immer auf der Suche nach sich selbst; seine 'Verbindlichkeit' ergibt sich lediglich aus dem Vertrauen zum Text. Sowohl bei Stein als auch bei Mnouchkine steht der Chor ganz im Zentrum der Inszenierung. Für Agamemnon wie Iphigenie in Aulis dürfte auch gelten, daß das Konzept besser als in den anderen Teilen der Trilogie bzw. Tetralogie funktioniert, daß es speziell zum jeweiligen Drama paßt. Der Greisenchor bei Stein sucht gemeinsam die Ereignisse zu verarbeiten; er ist dabei nicht bloßer Zuschauer, sondern als konkrete PolisöfFentlichkeit Ansprechpartner der Protagonisten, quasi Grundlage und Rahmen der Tragödie. Der Chor selbst entwickelt aus seiner Rolle die gemeinsame, chorische Sprache. Mnouchkines Chor junger Frauen, die von Außen als Touristen oder 'Groupies' zum fremden Heer kommen, geht dagegen in der Rolle des Zuschauers auf, wobei auch er zunehmend mit der Tragödie verbunden ist. Dieser Chor versucht das Geschehen mit seinen Tänzen zu bewältigen. Wir wollen hier darauf verzichten, weiter zu verfolgen, wie weit die Textvorlagen die jeweiligen

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Auch Henrichs zieht die Parallele vom Chor zu "uns", als "Zeitungsleser, Tagesschaugucker" (Die Zeit 6.11.92).

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Chöre prägen, sondern die grundlegenden Unterschiede beider Chöre auf der Bühne darlegen.13 Obwohl bei beiden Inszenierungen der Chor also im Mittelpunkt steht, ist sein Gebrauch von sehr unterschiedlicher Art. Bei Mnouchkine befindet sich der Chor immer auf der deutlich vom Zuschauerraum getrennten Bühne, er spielt (und spricht) frontal zum Publikum und hat von Anfang an zu seiner chorischen Form, dem Tanz gefunden. Tanz mit Musikbegleitung, Bewegungen, Kostüme und absolute Einheitlichkeit machen den Chor zu einem artifiziellen Theatermittel vom Anfang bis zum Ende. Einheitlichkeit und Künstlichkeit zeigen sich auch in der herausragenden Rolle der Chorführerin als Vortänzerin und alleiniger Sprecherin. Der Status des Chores wird nicht hinterfragt, er spielt nicht vorgeblich für sich, sondern für die Zuschauer. Die Körperlichkeit des Chores zeigt sich auch durch die immer helle Bühne ganz deutlich, während Steins 'Hörspielchor' meist im Halbdunkel bleibt. Sein 'unansehnlicher' Chor entsteht langsam und konzentriert sich auf die Sprache, alles erscheint spontan und unkünstlich. Steins Chor findet sich 'demokratisch' in der gemeinsamen Sprache ohne Anfuhrer zusammen, er spricht für sich selbst und bewegt sich dabei oft zwischen dem von ihm ignorierten Publikum; er erscheint unmusikalisch und unfestlich, auch die Religion spielt eine relativ geringe Rolle. Der Chor der Männer steht den Protagonisten gegenüber oder zwischen ihnen, er ist jedoch immer eine eigene Gruppe; der Chor der jungen Frauen bei Mnouchkine integriert teilweise die Einzelfiguren in den Tanz oder scheint mit seinen Gesten und Tänzen deren Innenleben darzustellen. Seine Expressivität und die stummen Bilder dienen der Darstellung der Tragödie insgesamt und nicht nur seiner selbst; bei Mnouchkine hat der Chor dementsprechend auch mehrere verschiedene Funktionen bzw. er kann schneller dazwischen pendeln, ohne sein 'Gesicht' wahren zu müssen. Beide grundverschiedenen Chöre gelten zu Recht als positiv herausragende Beispiele für den Einsatz eines antiken Tragödienchors auf dem Theater der letzten Jahre.14 Der unsinnliche Chor bei Stein repräsentiert dabei das deutsche Regietheater, wie es sich auch bei Heyme deutlich ausprägt; Mnouchkines spielfreudiger, naiv erscheinender, sinnlicher Chor stellt dessen Antipoden dar. Ihr nicht problematisierendes Verhältnis zum Theaterchor fuhrt zu einem hochartifiziellen Konstrukt, das bei der Kritik überwiegend hymnische Zustimmung hervorrief, aber auch deutliche Ablehnung (bzw. ein sich an der das Spiel lenkenden Musik entzündendes Unbehagen im Jubel). Entgegen den meisten übrigen in dieser Arbeit genannten Beispiele wird der Chor in Les Atrides nicht hinterfragt, sondern mittels Musik und Tanz selbstverständlich benutzt. Anders als bei der alltäglich benutzten Sprache - auch Stein benutzt einen Prosa-Text - ist der Gruppencharakter bei Tanz und Musik kein Problem, Mnouchkine gelingt so ohne Widerstände die "Entindividualisierung des

"

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Der Chor in Mnouchkines Agamemnon unterscheidet sich auch grundlegend von dem Steins, die Abweichungen zum Chor in Iphigenie in Aulis gehen allerdings in Richtung des Chores bei Steins Agamemnon, d.h. er besteht aus räsonierenden Greisen, hat eher eine auf dem Text beruhende Kommentarfunktion und bewegt sich weniger bzw. langsamer. In ihren überschwenglichen Kritiken gerade des Chores bei Mnouchkine erwähnen von Becker, Henrichs und Schiocker Steins Chor in der Orestie, wobei alle drei sich jedoch ganz in unserem Sinne - nur an den Greisenchor im Agamemnon erinnern.

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einzelnen im kollektiven Ritus des Tanzes" (Nicodemus Tagesspiegel 6.12.90). Sie verzichtet dabei auf neuartige Wirkungsmöglichkeiten des Chores - wie sie sich etwa bei Meyerhold, Heyme oder Weiss gerade aus der Auseinandersetzung mit der Problematik des Chores ergeben - erreicht jedoch eine starke sinnliche Wirkung durch den Chor, ohne wie Reinhardt oder Seilner (siehe unten S. 144f.) den Textinhalt auszublenden. Diese Ausnahmestellung gegenüber dem deutschen Regietheater spiegelt sich in den widersprüchlichen Kritiken in Deutschland." Am 'Funktionieren' der stilisierten Inszenierung Mnouchkines ist sicherlich auch der äußere Rahmen beteiligt; nicht von ungefähr schildern viele Kritiker die Anfahrt an das unkonventionelle Theatergebäude am Stadtrand von Paris; die Regisseurin reißt die Karten ab und bietet nach der Vorstellung eine Suppe an, eine Ausstellung pseudo-antiker, aber nicht spezifisch griechischer Figuren befindet sich im Gebäude, das öffentliche Schminken der Darsteller vor der Aufführung gehört zur Darstellung, ebenso wie die Tanzzugabe aller Schauspieler beim Schlußapplaus. Im nüchternen, unpersönlichen Rahmen eines deutschen Stadttheaters bewirkte dieselbe Inszenierung vielleicht eine unverbindliche Künstlichkeit, im institutionellen Rahmen des Théâtre du Soleil in der Cartoucherie von Vincennes dagegen erzeugt die artifizielle Aufführung ein emotional bewegendes Theatererlebnis. Hier zeigt sich die Begrenztheit jeglicher Typologie des Theaterchores, da nicht alleine technische Kriterien die Wirkung von Theater bestimmen. In beiden Fällen gilt sicherlich, daß das Gelingen nicht nur vom in sich geschlossenen, überzeugenden Konzept abhängt, sondern von der hochprofessionellen, gelungenen schauspielerischen Umsetzung. Beide Projekte hatten lange Probezeiten, jeweils über ein Jahr. Gegen beide Arten von Chor lassen sich (theoretische) Einwände erheben, beide bergen 'Gefahren': Mnouchkines Chor kann in einer weniger gelungenen Nachahmung leicht zu hohler Künstlichkeit fuhren, Stein geht an den Rand der Auflösung des Chores ins Chaos und hätte ohne die ausgefeilte Sprachregie einen langweiligen, körperlosen Chor inszeniert. Das Gelingen zweier so grundverschiedener Chorkonzepte ist in jedem Falle ein wichtiger Hinweis darauf, daß es heute verschiedene Wege zum Umgang mit dem (antiken) Theaterchor geben kann, und daß eine Typologie des Chores keine 'Rangliste' der Chorinszenierungen erbringen wird.

4.6 Andere, extreme Beispiele für Chöre im Spannungsfeld zwischen Körperlichkeit, Sprache und Musik Im Musiktheater und Tanztheater spielen Bewegungschöre eine größere Rolle als im Sprechtheater, zu dem in aller Regel Antikeninszenierungen zu rechnen sind. Carl Orffs Oper Antigonae (mit einem Libretto aus dem Sprechtheater, der SophoklesBearbeitung Hölderlins) wurde 1951 in München unter der Regie von Heinz Arnold 15

Henrichs erwähnt neben dem positiven Beispiel von Steins Greisenchor als negative Beispiele den klassizistischen und ("die kaum weniger trostlose Antiversion", Die Zeit 6.11.1992) den modernisierten deutschen Stadttheaterchor, ähnlich Stadelmaier und von Becker.

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erstmals in Westdeutschland aufgeführt: Er setzt zwei Chöre ein, einen statuarischen, singenden und einen stummen Bewegungschor; eine Lösung für das spezifische Problem des Musiktheaters, sich zwischen hoher technischer Anforderung für die Stimme einerseits und theatergemäßer Bewegung andererseits zu entscheiden.16 Im Bereich des Tanztheaters v.a. der 10er und 20er Jahre dieses Jahrhunderts widmeten sich Oskar Schlemmer am Bauhaus, Eugène Dalcroze in Hellerau, Rudolf von Laban oder auch Rudolf Steiner intensiv chorischen Bewegungsformen. Steiner vermischt in der Eurhythmie Sprech- und Bewegungschöre, bei Dalcroze entwickeln sich aus der rhythmischen Gymnastik chorische Reigen. Bei von Laban handelt es sich streckenweise um Laientheater in enger Verbindung mit der Körperbegeisterung dieser Jahre. Die Grenze zum Massentheater der Zeit, aber auch zum Festspielund Freilichttheater, (siehe oben 2.5 Andere Beispiele für Massenchöre) ist fließend, Laban inszenierte mit Mary Wigman die monumentalen Bewegungschöre zur Eröffnungs- und Schlußfeier der olympischen Spiele 1936 in Berlin. Oskar Schlemmers Szenen Chorische Pantomime "Stereotypen" und Maskenchor dagegen zielen in kleinerem und betont artifiziellem Rahmen auf Abstraktion und Entpsychologisierung. Diese Bewegungschöre erstreben körperliche Einheit und Harmonie. Das wird auch in Peter Handkes Drama Die Stunde da wir nichts voneinander wußten, in dem die Figuren ohne Sprache auskommen, zum Thema, allerdings eher als Illusion: Alle zusammen formen mit ihren Leibern mitten auf dem Platz eine Freitreppe [...] Glocke aus, Traum aus. Einer winkt ab, dann noch einer, dann noch einer, dann der ganze Chor. (S. 55)

Rein optisch und doch körperlich sehr begrenzt erscheinen "mehrere Personen, als Silhouetten" (im Personenverzeichnis S. 202) in Jean Anouilhs Madame de ... . Als Schattenspiel stellen sie in einer chorähnlichen Szene "das Hin und Her eines Festes" (S. 207) dar. Provozierend körperlich dagegen war Dionysos 69 der Performance Group u.a. dadurch, daß aus einer Gruppe nackter Schauspieler, die einen 'Körper1 bilden, eine Figur, Dionysos, geboren wird. Ganz anders der unsichtbare Chor in Kaspar von Peter Handke, er besteht nur aus den Stimmen der "Einsager": Die Einsager, etwa drei Personen, nicht sichtbar (ihre Stimmen kommen vielleicht vom Band) [...] Sie sprechen, über eine gute Raumanlage, einen Text, der nicht der ihre ist. (S. 15f.)

Auch in Gerlind Reinshagens Drei Wünsche frei wirken die als "Chor" bezeichneten Stimmen oder Geräusche auf die Einzelfiguren ein, hier wird der Chor, wie auch in Kaspar, zum identitätslosen akustischen Medium. Als geheimnisvolle, beinahe ins Nichts sich auflösende Stimmen ist der "Chor der Matrosen" in Maurice Maeterlincks Les sept Princesses (Die sieben Prinzessinnen) gestaltet. 16

[m Musiktheater der Weimarer Republik war diese 'Chortrennung' (unter dem Einfluß des Tanztheaters) durchaus gebräuchlich. Eine Arnolds Inszenierung ähnliche - für das Sprechtheater eher untypische Problemlösung - liegt, wie wir sahen, bei Mnouchkine vor, die wegen der hohen tänzerischen Anforderungen an die Chordarsteller nur in Tanzpausen eine Sprecherin einsetzt.

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In diesem Moment vernimmt man vom Ende der Ebene einen sehr weit entfernten, monotonen Gesang. Deutlich herauszuhören ist nur der Refrain, der in regelmäßigen Abständen vom Chor wiederholt wird. (S. 143)

Viel mehr als auf den Inhalt kommt es auf die durch den Chor geschaffene, geheimnisvolle Atmosphäre an; die leisen Stimmen dienen zur Erzeugung von Stimmung. Ein weitgehend statischer, in den Epeisodia in Tableaus verharrender, v.a. durch den gemeinsamen Gesang existierender Chor wurde von Götz Friedrich in seiner Inszenierung von König Ödipus 1980 am Wiener Burgtheater eingesetzt. Diese Art der Chor-Regie ähnelt der Oper oder dem von der Schauspielmusik gepägten, oratorienähnlichen Chor klassizistischer Tradition. In Edith Clevers Inszenierung der Medea von 1996 an der Berliner Schaubühne (intellektuell-gräzisierend als 'Medeia' bezeichnet) wurde der Chor der fünf Sängerinnen zum fast körperlosen Musikersatz. In der abgesenkten Orchestra, die er nie verläßt, wird er meist regungslos auf Podesten sitzend oder stehend zum Stimmorchester, das zwar sehr kunstfertig ist, jedoch wie die gesamte Inszenierung über die hohe Kunstfertigkeit hinaus keinerlei Lebendigkeit gewinnt. Den Chor quasi als Orchester zu benutzen, ohne ihn durch Musikinstrumente zu ersetzen, scheint keine Perspektiven für den Chor über museale Ambitionen hinaus zu bieten. Rudolf Noeltes Inszenierung des König Ödipus am Münchner Residenztheater von 1962 zeigte den Chor zwar vor der gesamten Rückwand der Bühne sitzend deutlich sichtbar, das Bewegungsspektrum reichte jedoch nicht über Änderungen der Blickrichtung und insgesamt zweimaliges Aufstehen hinaus. Zu dieser zur Schau gestellten Körperlosigkeit kommt eine nie variierte Monotonie des Sprechens, die (in der Fernsehaufzeichnung) die Erinnerungen mancher Kritiker an nervtötende Antikenchöre in Nachthemden - anläßlich der positiven Gegenbeispiele Stein und Mnouchkine geäußert - allzu verständlich erscheinen läßt. Dem Chor in Noeltes ganz auf private Töne abgestimmten König Ödipus scheint weder Leben noch irgendeine positive Funktion zugrunde zu liegen; die ehrliche Lösung wäre die Auflösung des Chores in eine Nebenfigur oder seine vollständige Streichung.

4.7 Der polyphone 'Hörspielchor' in Peter Sellars' Ajax Die Bearbeitung des Sophokleischen Aias durch Robert Auletta transponiert das gesamte Stück in die USA der Gegenwart, wobei sich weite Teile der Fassung eng an die antike Vorlage halten. Konsequenter und deutlicher als etwa bei Heyme wird das gesamte Geschehen in ein neues historisches Umfeld verlegt, in Aulettas Text werden antike Schauplätze zu amerikanischen. Das Geschehen wird von der griechischen Armee vor Troja in die amerikanische verlagert, der Spielrahmen ist eine militärtribunalähnliche Versammlung, entsprechend sitzen die meisten Darsteller und sprechen in Mikrophone. 17 Dennoch behält Seilars' Inszenierung eine gewisse Ambivalenz und Offenheit. Seine Aufführung im American National Theatre von

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Die Tribunalsituation mag an Brechts Lehrstücke erinnern, allerdings ist die Bedeutung des Chores bei Sellars alles in allem eher gering.

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1986, die im folgenden Jahr auch in Europa zu sehen war, erreicht eine neue geheimnisvolle Sphäre v.a. durch die Figur des Aias, der von einem taubstummen Schauspieler dargestellt wird. Seine Gebärdensprache wird von seiner Frau Tekmessa oder aber wechselnd von einzelnen Choreuten in Sprache übersetzt. Somit entsteht eine enge und zugleich ambivalente Verbindung zwischen Hauptfigur und Chor, der Chor ist streckenweise gleichzeitig durch einen Sprecher Dolmetscher von Aias und zugleich durch einen anderen sein Gegenüber im Gespräch. Die Aufgabe des Dolmetschers ist die bemerkenswerte Funktion dieses Chores.18 Der Chor aus fünf farbigen Gl-Soldaten ist wie das gesamte Geschehen historisch transponiert. Er sitzt von seinem Auftritt ab bis zum Selbstmord der Hauptfigur auf fünf Stühlen an der rechten Seite; im zweiten Teil ist nur noch der Chorführer anwesend. Durch die enge Bindung des 'Dolmetscher-Chores' an die Hauptfigur gerät er nach deren Tod unweigerlich an den Rand, dieser Chor ist nicht ein konstantes Element gegenüber den Protagonisten, er hat keinen besonderen Status, sondern nähert sich vielmehr von Anfang an der schließlich vollzogenen Auflösung an. Von Beginn an ist der Chor individualisiert - die Choreuten haben im Text eigene Namen - und oft aufgelöst, der Chorführer hat (als Kompaniechef o.ä.) eine führende Rolle. Auch während der Lieder steht der Chor nicht auf, er sitzt und bleibt damit weitgehend ein akustischer Chor. Durch die Auflösung der Chorstimmen in den Chorführer als Vorsprecher oder -sänger und den restlichen Chor als refrainartiges Echo, durch innerchorische Dialoge und die Übersetzung von Aias' Gesten in Sprache, sowie rap-ähnliche Rhythmisierung bei großer Geschwindigkeit und Ineinandergreifen verschiedener Sprecher wird die Gruppe sprachlich dramatisiert und erzeugt eine deutliche Vielstimmigkeit und Dynamik. Die ersten beiden Stasima sind zum äußeren Rahmen, aber auch zum ernsten Thema passende Gospelchöre, hier kommt es auch zum 'natürlichen' Unisonogesang im Anschluß an den Gesang des Vorsängers. Rhythmisches Händeklatschen und Fußbewegungen in unterschiedlichen Rhythmen sind die einzigen Bewegungen des Chores, die allerdings ausschließlich akustischen Zwecken dienen. Trotz der optischen Beschränkung bietet Seilars in Ajax einen zeitgemäßen und unterhaltsamen Chor, der in der Aufführung insgesamt jedoch eher eine geringe Rolle spielt.

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In John Miltons Samson Agonistes hat der Chor, wie wir sahen, eine ähnliche Aufgabe: Er muß für den blinden Samson sehen und, was er sieht, beschreiben (womit Milton das Drama zugleich filr den Leser sinnlicher macht).

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Exkurse zu Bühnenfragen des Chorgebrauchs im 20. Jahrhundert

1. Die Bühnenform und der Chor; seine räumliche Anordnung auf der Bühne Bei Piscators Chorus filmicus (siehe 8. Kapitel) ist der Chor quasi von der Bühne auf eine Leinwand transponiert. Er hat damit einen eigenen, klar umrissenen Spielbereich, entsprechend dem antiken Chor, der wohl ausschließlich und somit weitgehend getrennt von den Protagonisten in der Orchestra agierte. Bei den meisten der von uns behandelten Chöre im 20. Jahrhundert ist die räumliche Trennung von Chor und Einzeldarstellem, entsprechend der teilweisen Vermischung beider Elemente insgesamt, aufgelöst. Der Chor hat keinen eigenen Raum, oder dieser befindet sich in enger Nähe zu den Einzeldarstellern. Das mag auch mit der zahlenmäßigen Reduzierung der meisten Chöre auf unter 10 Darsteller zusammenhängen. Ein weiterer, wichtiger Aspekt in dieser Frage ist, wie wir schon in der Einführung andeuteten, die Tatsache, daß nach wie vor die der italienischen Oper entstammende Gukkastenbühne den Theaterbau bestimmt; auf der Guckkastenbühne steht jedoch kein besonderer Raum für einen Chor zur Verfügung, er muß mit den Protagonisten 'auf die Bühne. Einige bedeutende Antikeninszenierungen weichen, gerade um dem Chor einen eigenen Raum zwischen Zuschauern und Bühne der Einzeldarsteller wie in der antiken Orchestra zu bieten, auf alternative Spielorte aus: Max Reinhardt in die Zirkusarena mit Orchestra, Peter Stein inszenierte in der multifunktionalen neuen Schaubühne, Ariane Mnouchkine in der ebenfalls variablen Cartoucherie von Vincennes. Andere versuchen, die unflexible Form des Guckkastens aufzulockern, etwa Meyerhold mit seiner geöflneten Plattformbühne oder Einar Schleef mit der ausgiebigen Nutzung der Oberbühne und des Bühnenbodens (im Liegen). Eine weitere Form der Auflockerung und ein Versuch, dem Chor gerecht zu werden, ist die Positionierung von Schauspielern im Publikum etwa bei Hübner und Brook bis hin zur Einbeziehung des Publikums in Spiel (siehe unten 6.6 Weitere Beispiele für die Überbrückung der Distanz zwischen Bühne und Publikum durch den Chor). Manche Inszenierung, gerade von Komödien, benutzt jedoch ganz bewußt die Guckkastenbühne, um den Chor darauf dem Publikum frontal entgegenzustellen und die Distanz zwischen Spiel und Zuschauem zu wahren. So Hansgünther Heyme unter Betonung der historischen Distanz in allen chorischen Inszenierungen (an deutschen Theatern, siehe 5. Kapitel). Auch bei Heyme hat der Chor auf der Bühne seine speziellen 'Stellen1, an denen vornehmlich er sich aufhält. In Die Braut von Messina sind das die Seitenbänke, die überhaupt (von Brecht über Noelte, als Bänke an der Rückwand, und Besson) typische 'Chormöbel' sind - dabei zum Teil auch als 124

Ausdruck der Hilflosigkeit der Regie mit dem Chor. Bei Steins Agamemnon ist der große Tisch das Möbelstück des Chores, um den herum er sich immer wieder zusammenfindet (allerdings nicht ausschließlich). Obwohl der Chor in der Inszenierung unterhalb der 'Skene' seinen eigenen publikumsnahen Bereich hat, teilt er diesen auch mit einigen Protagonisten; die räumliche Zuordnung ist häufig - gleichgültig ob in Steins arenaähnlicher Bühne oder auf Heymes Guckkastenbühne variabel gehalten, mit Schwerpunktbereichen für den Chor ohne totale Trennung.1 Der Chor kann allerdings auch die Bühnenausstattung übernehmen oder ersetzen: Bei Peter Weiss wird auf der neutralen Bühne der jeweilige Spielort der Szenen häufig erst durch den Chor angedeutet bzw. geschaffen (siehe 6. Kapitel).

2. Masken und Kleidung des Chores Benno Besson benutzte in Ödipus Tyrann (siehe S. 145) wie in Der Frieden (siehe S. 107) Halbmasken für Protagonisten und Choreuten. Durch die eingeschränkte Ausdrucksfähigkeit des Gesichts - Augen und Mund sind sichtbar - gewinnt die Sprache als Ergänzung der begrenzten Mimik stärkere Bedeutung; außerdem schafft auch eine Halbmaske in einer eng zusammenstehenden Gruppe eine zusätzliche Uniformität (bei den Einzelfiguren dagegen ist die Wirkung stärker eine verfremdend-stilisierende, siehe Brechts Die Maßnahme). Bei den von Brecht in seiner Antigone und Seilner in König Ödipus 1952 in Darmstadt (siehe S. 144f.) verwendeten Stabmasken, die das gesamte Gesicht verdecken - bei Sellner plastisch geformt und nur einseitig tragbar - ergibt sich dagegen auch für den Chor ein primär verfremdend-stilisierender Effekt. Interessant ist die Wirkung von das ganze Gesicht verdeckenden, unbeweglichen Vollmasken (für den Chor), wie in Peter Halls Londoner Inszenierung der Orestie 1981: Die Maske garantiert Anonymität, auch insofern, als kaum auszumachen ist, wer gerade spricht. Auf Dauer wirkt dies jedoch bei Halls Inszenierung unverbindlich und ermüdend. Bezeichnend für die jeweilige Konzeption ist auch bei Heyme, daß er in seinen früheren, archaisierenden Antikeninszenierungen häufig Masken benutzt, in den historisierenden Aufführungen seit den 80er Jahren dagegen nicht mehr. Allerdings gibt es andere Möglichkeiten, durch Beleuchtung oder Kostüme das individuelle Gesicht der Darsteller zu verdecken.2 In den stilisierten, frühesten Inszenierungen der Antigone von 1965 und Aias von 1967 trägt der Chor Halbmasken, die Protago-

Im lesenswerten Abschnitt 'Schwierigkeit des Chors' des Programmheftes der Schaubühne zu Grübers Die Bakchen wird betont, daß der Chor "keinen Ort für sich haben" könne, wie in der antiken Orchestra, vielmehr soll er "die Räume wechseln können [...] neue Räume suchen und aufsuchen." (ohne Seitenangabe). Für Die Braut von Messina gilt: "Der Chor bleibt das 'Kunstorgan' (Schiller), das für die poetische Gestalt des Ganzen miteinsteht - deshalb kann er auch singen und behält in den Bartmasken Züge des Faunischen. Heyme wollte ausdrücklich die Gesichter 'zugemacht', die Mimik reduziert haben, weil die Chortexte mit den Individualgesichtern bürgerlicher Charaktere nicht zu sprechen seien." (Erken TH 1/85 S. 31). In dieselbe Richtung geht Peter Steins Chor im Agamemnon, durch die Hüte und die schwache Beleuchtung bleiben die Gesichter der Männer anonym.

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nisten nicht, die Maske dient hier also der Abgrenzung des Chores als Einheit und stilisiertes Mittel. Eine andere Art der Maskierung sind (weiße) Schminkmasken, wie sie von Ariane Mnouchkine benutzt werden. In Verbindung mit aufwendigem Kopfschmuck wird dadurch das Gesicht eine glänzende, vergrößerte 'Spielfläche'. In Jürgen Goschs König Ödipus von 1984 wird die Einheit der vier maskenlosen Choreuten durch das zeitweise Sprechen hinter einer riesigen Maske fur den gesamten Chor deutlich unterstrichen. Ebenfalls ein metaphorischer Gebrauch des Theatergegenstandes Maske lag in Karl-Georg Kaysers Leipziger Antigone von 1980 vor: An der Stim der Kartonmaske der Choreuten ist Zeitungspapier befestigt, Haimon liest quasi von einem Choreuten die 'öffentliche Meinung' ab. Meyerhold warnt wegen der Auflösung der Körperkonturen und der reduzierten Bewegungsfreiheit vor einem Morgenrock als Kostüm (Meyerhold Schriften S. 117). Peter Stein wendet, wie wir sahen, gerade zu diesem ins Positive gewendeten Effekt die Mäntel und offenen Sakkos für seinen 'körperlosen' Chor an. Die Kleidung bei Heymes historisierenden Chören ist, entsprechend der gesamten ChorRegie, nach den Chormitgliedern differenziert, schafft aber insgesamt einen übergeordneten Gruppencharakter, z.B. tragen alle Abendkleider. Einar Schleef verzichtet in seinen Massenchören nicht nur auf Masken, sondern häufig auch auf jegliches Kostüm. Die Chöre bieten durch die ungewohnte öffentliche Nacktheit paradoxerweise auch eine uniform- oder maskenähnliche Einheitlichkeit. Schleef betont wohl zu Recht, daß eine Uniform als Kostüm nicht nur äußerlich eine erkennbare Einheit der Darsteller schafft, sondern auch deren Spiel 'uniformisiert' (S. 479 f.).3 Eine ganz andere, zeitgemäße Form des Maskenersatzes meint Peter Seilars im Mikrofon gefunden zu haben.4

3. Die Rolle des Chorführers und die Anzahl der Chormitglieder Bei Sellars hat der Chorführer eine herausragende Stellung, ähnlich bei Mnouchkine. Das Gegenbeispiel ist Steins Chor, in dem keiner der Greise eine führende Position innehat; nur abschnittsweise sind einzelne herausgehoben, jedoch je nach Szene immer wechselnd. In den meisten (erwähnenswerten) Chören des 20. Jahrhunderts gibt es keinen herausgehobenen Chorführer, da diese 'Figur' dem Einheitscharakter des Chores widerspricht und sich innerchorische Konflikte besser und abwechslungsreicher bei nicht vorentschiedenen Machtkonstellationen innerhalb des Chores darstellen lassen. In den wenigen Fällen eines hervorgehobenen Chorführers hat dies häufig eine technische Ursache. Bei Max Reinhardts Massenchor gibt es Anfuhrer kleinerer

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Wobei für Schleef gerade dadurch die Individualität des einzelnen Darstellers unverstellt sichtbar werden kann (siehe S. 93, Anm 46). "I felt a microphon was very important for the masks; I replaced masks with microphones, because the microphone is an ampilifier, but also a cover. It enlarges the human figure, but it also creates distance and also is deceptive. It is the mask of our society, as it were." (Sellars S. 93).

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Untergruppen, bei Mnouchkine spricht die Chorführerin aus praktischen Gründen alleine. In Bessons Der Frieden übernimmt der Chorführer dagegen kurzzeitig auch die Rolle eines Gegenspielers des Protagonisten. Bei Heymes Die Perser kommt es zu einer zeitweisen Integrierung einer Hauptfigur in den Chor, was zu einer chorführerähnlichen Rolle führen kann. Die Auflösung des Chores in eine einzelne Erzählerfigur hingegen bringt einen Chorersatz, der besonders die vermeintlichen Sprechpartien des Chorführers übernimmt. Die (gemessen am antiken Chor unserer Meinung nach zu Recht) schwindende Bedeutung des Chorführers hängt auch mit der Verkleinerung der meisten Chöre zusammen; bei nur vier Choreuten etwa ist technisch ein Chorführer unnötig, seine Dominanz über die drei anderen wäre außerdem für eine einheitliche Gruppe zu deutlich. Je kleiner der Chor, um so wichtiger ist auch die einheitliche Zusammensetzung der einzelnen Mitglieder. Grundsätzlich beträgt die Anzahl der Chormitglieder in den meisten Chören des deutschen Theaters der Gegenwart unter 10 Personen. Entsprechend ist eine Individualisierung oder zumindest variierte Sprachund Bewegungsregie erleichtert, Spannungen im Gruppencharakter können inszenatorisch deutlicher genutzt werden.5 Ein Grund sind sicher auch die erleichterten Proben und der geringere technische wie finanzielle Aufwand. Bei besonders ehrgeizigen Projekten wie Steins Orestie oder älteren, klassizistischen Inszenierungen etwa von Seilner beträgt die Anzahl der Choreuten, der Antike entsprechend, um die 15; der Chor ist bei Seilner jedoch stärker ein einheitlicher Block als der auch in seiner Größe differenzierte Chor Steins. Wie wir bereits bei Reinhardt und Schleef feststellten, hat die Quantität des Chores nur bedingt (je nach der Regie) Auswirkungen auf die Qualität des Gruppencharakters, eher dient die Größe als Indikator für das jeweilige Chorkonzept. Ein Chor über 20 Personen dürfte unter die Kategorie 'Massenchor1 fallen, in dem die einzelnen Mitglieder ganz außerhalb des Interesses der Regie bleiben, oder der eher eine unchorische Volksmenge darstellt. Folgt man Oskar Schlemmer, kann eine Gruppe ab drei Darstellern als chorisch gedeutet werden - damit auch Schlemmers Das Triadische Ballett - da ab drei Personen "das monomane Ich und der dualistische Gegensatz überwunden sind und das Kollektiv beginnt." (Schlemmer Briefe S. 88). Uns scheint wegen der vielfaltigen, interessanten persönlichen Beziehungsmöglichkeiten in einer 'Dreierbeziehung1 die Mindestgröße von vier Chormitgliedern - wie in Brechts Antigone praktiziert - 'empfehlenswerter' zu sein, da intensive, allseitige, dem Chorcharakter zuwiderlaufende Beziehungen, die den Gruppenchrakter beschädigen, hier ungleich schwieriger entwickel- und darstellbar sind. Auch Peter Weiss benutzt für die Sänger in Marat/Sade vier Personen; damit schafft er eine eigene vom Hauptchor zu unterscheidende, aber auch zeitweise mit ihm verbundene Gruppe; eine Differenzierung zweier verschiedener Chorgruppen beobachteten wir auch bei Max Reinhardt.

Auch chorische Ensembles sind in der Regel Gruppen unter 10 Mitgliedern, zumal sich durch diese Inszenierungsform ein Streichen bzw. Zusammenlegen verschiedener Rollen anbietet. 127

4. Geschlecht und Alter der Chormitglieder In Mnouchkines Mädchenchor in Iphigenie in Aulis wirken in der Mehrzahl männliche Darsteller mit, im Männerchor im folgenden Stück einige Frauen; bei den Protagonisten dagegen stimmen Geschlecht von Darsteller und Figur überein. Durch die starke Stilisierung des Chores im Tanz gerät das Geschlecht der Choreuten zudem in den Hintergrund. Offensichtlich ist für Mnouchkine das Geschlecht des Chores nicht so entscheidend wie bei den Einzeldarstellern. Dabei stellt der Chor in dem Stück eine spezifische Frauengruppe dar, ein erotisches Interesse des Chores an den griechischen Soldaten könnte daher auch eine gewisse Rolle spielen.6 Die Weiblichkeit des Chores bildet jedoch nur einen Ausgangspunkt (liefert u.a. die Auftrittsmotivation) für den Chor, der, wie wir im Einführungskapitel sahen, nicht dramatis persona sein kann und damit auch nur 'am Rande' ein Geschlecht hat. 7 Das kommt bei Mnouchkine in der Mischung der Darsteller, aber auch dem Kostüm, den Masken und der weniger geschlechtsspezifischen als interkulturellen, allgemeinmenschlichen Tanzweise zum Ausdruck. Mnouchkine macht keinerlei Versuch, dem Chor eine klare Rolle zuzuweisen, außer der des Chores. Daher bleibt auch das Alter der Mädchen eher eine abstrakt-angedeutete Größe.8 Der 'Chor' hat kein Geschlecht oder Alter, dies haben nur die einzelnen Mitglieder; sie haben ihre Persönlichkeit im Chor jedoch weitgehend, bei Mnouchkine in stärkerem Maße als etwa bei Weiss, aufgegeben.9 Dennoch zeichnet sich der antike Chor, aber häufig auch Chöre zeitgenössischer Inszenierungen durch den einheitlichen Gruppencharakter aus: Anders als der eher volksähnliche Opemchor ist der Theaterchor in der Regel keine in Alter, Geschlecht oder sozialer Herkunft gemischte Gruppe. Diese Gleichheit dient jedoch weniger der Fixierung als v.a. der weitgehenden Vereinheitlichung der Gruppe. Erst im chorischen Ensemble und beim aufgelösten Chor, wie sie durch Brechts Konzept vom flexiblen Chor vorgegeben wurden, sind fast beliebige Mischungen möglich. Die weitgehende Geschlechtslosigkeit und das unbestimmte Alter des Chores konnten wir bereits bei Brechts diversen Chören und in Reinhardts Massenchor beobachten. Der Gebrauch anderer Medien schließlich führt die 'Zwitterhaftigkeit' 6

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Heymes Frauenchor in Die Perser funktioniert trotz der Änderung des Geschlechts; das Geschlecht ist zwar nicht gleichgültig, allerdings nicht von absoluter Bedeutung. Insofern vollendet sich in dem Chor von Iphigenie in Aulis das feministische Ideal, das Mnouchkine (nach Kiernander) vorschwebt: "The sex of the company members has ceased, as much as possible, to be an issue." (Kiernander S. 15). Ähnliches konnten wir bei Steins Greisenchor beobachten, der aus Männern unterschiedlichen Alters besteht. Das spezielle Alter der einzelnen Darsteller ist bedeutungslos. Entsprechendes gilt für eine Sportmannschaft, eine Partei oder einen Verein: So wie es absurd ist, wenn Fußballfans einer Mannschaft die andere Mannschaft bzw. deren Verein (in verhöhnender Absicht) als z.B. "Schwulen BVB" bezeichnen, da damit versucht wird, eine nur persönlich anwendbare Eigenschaft auf eine Gruppe zu übertragen, so gilt das auch für den Chor. Die Gruppe als solche, und darum geht es bei Sportmannschaft und Theaterchor, hat kein Geschlecht, Alter usw. Übrigens empfiehlt Peter Handke in seinen "Regeln für die Schauspieler" des Stückes Publikumsbeschimpfung u.a.: "Die Anfeueningsrufe und die Schimpfchöre auf den Fußballplätzen anhören." (S. 11).

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des Chores ins Extrem. Bei Meyerholds komischem Chor dagegen ist, entsprechend zu Aristophanes, Geschlecht, Alter und v.a. soziale Definition wichtiger.

5. Die Chorlieder in modernen Antikeninszenierungen Spätestens in den Chorliedern erfordert der Chor in Antikeninszenierungen ein klares Konzept. Darin wird er zum 'Hauptdarsteller', während er in den anderen Partien eventuell als Zuschauer im Spiel 'versteckt' werden kann. Die Probleme mit dem Theaterchor konzentrieren sich in den Liedern. Die Frage, ob er singen oder sprechen soll, ob gemeinsam oder durch Einzelsprecher usw., sind von Regie und Darstellern hier eindeutig zu beantworten. Auch wird dort das Verhältnis des Chores zum Publikum besonders wichtig, da die Protagonisten in der Regel in den Liedern keine Rolle spielen. Der Status des Chores wird hier offensichtlich. Angesichts dieser Schwierigkeiten überrascht es nicht, daß die Chorlieder in Antikeninszenierungen als erstes gekürzt, wenn nicht gar ganz gestrichen werden, und das nicht nur in völlig chorlosen Inszenierungen. Ursache dafür ist sicher auch der oft komplizierte, heute teilweise unverständliche Text der Lieder. Gerade in den Liedern lassen einige Regisseure immer wieder den griechischen Originaltext sprechen. Dadurch wird die Ferne des Chores betont und durch die Sprache eine Art Ersatz für die verlorene Musik geschaffen. Dabei sind die Gründe dafür durchaus unterschiedlich. Während Andrej Serban durch die intellektuell nicht verstehbare Sprache einen besonderen, emotionalen Zugang zur Tragödie erstrebt - wohl ähnlich wie Carl Orff - geht es bei Peter Stein eher (zu Beginn) um die Andeutung des uns fremden Ursprunges des Chores und anschließend um die Betonung und Hervorhebung zentraler (auch von anderen Choreuten übersetzter) Begriffe, Klaus Michael Grüber hingegen betont durch das Griechische die archaische Fremdheit des Chores (siehe unten 5.8 Der kaum definierbare Chor in Klaus Michael Grübers Inszenierung von Euripides ' Die Bakchen). Ein weitere sprachliche Besonderheit der antiken Chöre ist die komplizierte Metrik.10 Sie wird in deutschen Textfassungen (auch der Prosa-Übersetzung Steins) weitgehend nivelliert, als Prosa behandelt. Auch Schadewaldt strebte in der Hölderlin-Nachfolge in seinen "dokumentarischen" Übersetzungen, die den antiken Text nicht glätten, sondern in seiner Fremdheit belassen wollen, keine Wiedergabe der griechischen Metrik an (Schadewaldt Antikes Drama S. 16). Den Chor in Versen sprechen zu lassen, kann sich allerdings, etwa in Peter Weiss' Marat/Sade-Draiaa, als dem Chor angemessene sprachliche Behandlung erweisen; er wird so sprachlich von den Protagonisten in seiner Künstlichkeit abgehoben. Neben der Musik taucht in den Liedern auch die Schwierigkeit des Chortanzes auf. Hier zeigt sich, besonders in Deutschland, entsprechend der Chorbehandlung insgesamt eine 'Profanierung'. Der Chor und seine Lieder werden in das dramaturgische, selten feierliche Gesamtkonzept eingepaßt. Wie sich bei Heyme oder Stein zeigt, sind jedoch auch unter diesen Bedingungen vielfaltige und in sich überzeu10

Das quantitierende griechische Metram unterscheidet sich ohnehin grundsätzlich vom akzentuierenden und alternierenden deutschen, ist damit kaum übertragbar.

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gende Chorlieder darstellbar, auch wenn sie als solche vielleicht kaum noch erkennbar sind. Die Übergänge zwischen Epeisodia und Liedern sind bei Stein und Heyme fließend, dagegen trennen Schleef und Mnouchkine ausdrücklich. Ariane Mnouchkines Chor in Les Atrides ist ohnehin eine Ausnahme: er bildet als Tanzchor gerade mit den (allerdings von einer Einzelfigur gesprochenen) Liedern das Zentrum der Inszenierung. Bei nicht-antiken Chören wie bei Meyerhold oder Weiss stellen die Lieder kein Problem dar, sie fehlen oder sind spielerisch integriert und begründet; auch bei aufgelösten Chören werden z.T. die Texte berühmter Lieder von Einzeldarstellern gesprochen bzw. parodiert.

6. Sprechchor versus Gesangschor Die Lieder des antiken Chores wurden ausnahmslos gesungen; wie wir jedoch oben sahen, ist die antike Musik, also auch der Gesang, kaum mit der neuzeitlichen Musik vergleichbar. Insofern sind Sprechchöre auch aus historisierender Warte betrachtet nicht unbedingt eine illegitime Form für Antikeninszenierungen. Zudem konnten wir bisher feststellen, daß die Sprechchöre im Theater des 20. Jahrhunderts, v.a. der zweiten Hälfte, weitgehend 'musikalisch' behandelt sind. Der Sprechchor muß keineswegs ein politisch-indoktrinierendes Instrument sein, ein Sprechchor muß kein als Sprachrohr mißbrauchter Chor sein." Die sprachlichen Variationsmöglichkeiten durch mehrere Sprecher desselben Textes erzeugen durch rhythmische Wechsel, verschobene Einsätze usw. eine Art 'Sprachmusik'. Sie kann, wie bei Reinhardt oder Sellner, den Textinhalt (ähnlich der Oper) eher in den Hintergrund drängen oder, wie bei Stein, bestimmte Gedanken noch unterstreichen. Im übrigen ist der Sprechchor ein Anzeichen für die (bereits oben konstatierte) Verschleifung der Unterschiede von Episodia zu den Chorliedern; die Lieder sind nicht mehr durch Musik hervorgehoben. Mnouchkine zeigt mit dem Tanzchor in Les Atrides einen dritten möglichen Schwerpunkt für den Chor neben Gesangs- und Sprechchor. Andererseits konnten wir bereits mehrfach feststellen, daß Inszenierungen mit Sprechchören häufig durch (meist vom Band eingespielte) Musikuntermalung begleitet werden. Folglich verfügt das zeitgenössische Sprechtheater noch über andere Arten der Musik als nur den Chorgesang.12 Zusammen mit Hintergrundmusik wird das (chorische) Sprechen zum melodramatischen Sprechen; es gibt zudem, wie wir bei Heyme feststellten, Übergangsformen zwischen Gesang und Sprechen wie das Psalmodieren, den 'Singsang'. Ein Antikenchor ohne Musikuntermalung wie bei Stein ist eher die Ausnahme. Darstellerisch wie musikalisch überzeugend ist, wie in Weiss' Marat/Sade-Drama, die spielerische Einbindung der Musikanten, wobei " 12

Viktor Klemperers zeitgeschichtlich berechtigter Vorbehalt gegen Sprechchöre, "Gesang ist ehrlich, Sprechchor Betrug." (S. 166), ist demnach nicht allgemein zutreffend. Bei Max Reinhardt dient die Musik v.a. zur Stimmungserzeugung; dieser filmische, manipulative Gebrauch wird von Brecht sehr kritisch beurteilt. In der Tat besteht die Gefahr, daß durch Musikeinspielung, wie auch durch ausgeklügelte Beleuchtung, Schwächen in der schauspielerischen Darstellung übertüncht werden und die direkte, theaterspezifische Kommunikation zwischen Publikum und Bühne manipuliert wird.

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durch die Rahmenbedingungen auch kein perfekter Gesang erforderlich ist. Ein Sprechchor mit Gesangseinlagen liegt bei Marthalers Murx vor (siehe oben 3.5 Christoph Marthales komisches Chor-Ensemble in Murx), der a-capella-Gesang ist musikalisch anspruchsvoll und zugleich statisch, was allerdings mit der Rolle des Chores an diesen Stellen übereinstimmt. Tanz oder starke Bewegungsvielfalt des Chores sind bei einem Sprechchor deutlich leichter zu bewerkstelligen als bei einem Gesangschor. Außer den beiden Grundformen bieten sich jedenfalls viele Zwischenstufen an, eine verallgemeinernde Regel ergibt sich nicht.

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5. Hansgünther Heyme und der archaisierend sowie der historisierend eingesetzte Chor

DER KAPITÄN Heda! Was singen die Delphine? NICOLETTE Ich verstehe nicht. Es ist lateinisch. (Tankred Dorst, Die Mohrin)

5.1 Einführung zum Chorgebrauch Hansgünther Heymes Kein anderer Regisseur des deutschen Regietheaters hat so viele antike Stücke inszeniert wie Hansgünther Heyme. Auch seine Auseinandersetzung mit dem Theaterchor ist ungewöhnlich intensiv; der Gebrauch des Chores beschränkt sich dabei keineswegs auf Antikeninszenierungen. Für Heyme soll Theater immer von gesellschaftspolitischer Bedeutung sein, er will mit seiner Kunst die Gesellschaft verändern und verbessern.1 Er arbeitet stark vom Stücktext ausgehend; die historische Dimension des Dramas, auch seine Rezeptionsgeschichte, spielt in der Inszenierung oft eine wichtige Rolle. Gerade in der Inszenierung von Klassikern meint Heyme, historische Dimension und Gegenwartsinteresse verbinden zu können. Bei dieser Art der Stilisierung, die gerade auch den Umgang mit Sprache betrifft, spielt der Chor eine zentrale Rolle.2 Im historischen Rückblick lassen sich bei Heymes Umgang mit dem Chor verschiedene Phasen bzw. Schwerpunkte ausmachen: Die ersten Inszenierungen, etwa Antigone 1965 in Wiesbaden waren noch von der abstrakten, Zeitlosigkeit erstre-

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Zudem wandte sich Heyme (bereits in den 70er Jahren) mit seinem Theater gegen die Ästhetik der Massenmedien: "Theaterarbeit wendet sich stets an den Einzelnen, will es zumindest. Theater erwartet keine 'Massen-Reaktion', sondern agitiert gegen Masse. Theater versucht, die Zuschauer zu spalten." (Heyme Klassisches Theater heute S. 10). Heymes Mitarbeiter Paul Schalich äußert sich so über Heymes Arbeit: "So liegen ihm Stücke der Antike, des Barock oder Schillers besonders nahe. Wenn er sie wählt, sucht er vor allem das 'Chorische'. Das ist nicht nur als literarische Kategorie gemeint, sondern als die objektivierende Instanz in Stück und Inszenierung, die das übergreifende gesellschaftliche Interesse reflektiert. Nicht von ungefähr hat Heyme gerade als Regisseur von Chören immer beeindruckt. Sie sind bei ihm keine gedrillten Verkünder von Slogans, sondern Medien einer sensiblen Artikulation jenes allgemeineren Interesses oder auch heutiger Haltungen, natürlich rhythmisch geformt und herausgehoben." (Erken Heyme S. 106). Bei Heymes Chorarbeit ist der Musiker Wemer Haentjes zu erwähnen, der die meisten Chöre in Heymes Inszenierungen musikalisch betreute. Auch der Sprechgesang der Chöre wurde musikalisch notiert und in ein Taktschema gebracht.

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benden Inszenieningsform Gustav Rudolf Seilners beeinflußt,3 dann bis in die 70er Jahre versuchte Heyme Stück und Chor historisch festzulegen, wobei der Chor - in den Kölner Inszenierungen von König Ödipus/Ödipus auf Kolonos 1968 und Sieben gegen Theben/Antigone 1970 - zur dramatis persona 'Volk' wurde. Der Chor war in Antigone eine politische, manipulierte Gruppe der Öffentlichkeit. In dieser Phase legte Heyme (v.a. in Sieben gegen Theben) auch großen Wert auf den archaischkultischen Aspekt des Chores. Seit Beginn der 80er Jahre versuchte er dann Stück und Chor historisch auf verschiedene Ebenen zu verteilen, wodurch er einen differenzierten und in vieler Hinsicht vorbildhaften Umgang mit dem Chor erreichte.4

5.2 Kult und Archaisierung der Chöre Heymes in den 70er Jahren Die Archaisierung wie auch die distanzierende Historisierung Heymes (im folgenden Abschnitt) sind kein ausschließlich auf den Chor bezogenes Phänomen. Sie beziehen sich auf die Antikeninszenierungen insgesamt, prägen jedoch - und das ist für unseren Zusammenhang von Bedeutung - entscheidend auch die Behandlung des Chores. In beiden Fällen ist der Chor sogar in besonderem Maße von dieser Konzeption betroffen. Schon die Kombination der beiden Stücke Sieben gegen Theben von Aischylos und Antigone von Sophokles bei der Kölner Inszenierung von 1970 zeigt, daß es ein über die Texte hinausgehendes Interesse gab: Es geht bei Heyme, wie in so vielen Antikeninszenierungen anderer Regisseure, um die (fragwürdige) Inszenierung des 'Mythos', speziell um den Konflikt von Matriarchat und Patriarchat.5 Insofern wird auch historisierend inszeniert, als unter Ausschaltung der Entstehungs- und Aufführungszeit der Stücke die vermeintliche Zeit ihrer Handlung dargestellt werden soll.

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Heyme selbst nennt diese Inszenierung im Rückblick "das grausame Denk-End-Spiel" (Heyme Calkutta, ohne Seitenzahlen). Für seine Hilfsbereitschaft, besonders den uns ermöglichten Zugang zu zahlreichen hausinternen Videoaufzeichnungen, sei dem Dramaturgen Hanns-Dietrich Schmidt herzlich gedankt. In den fur die Inszenierung sehr aufschlußreichen Probennotizen, die im Programmheft abgedruckt sind, heißt es (ohne Seitenangaben): "In der europäischen Geschichte vollzieht sich etwa bis zur Wende vom 2. zum 1. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung ein bis in unsere spätbürgerliche Ära offen und latent nachwirkender Umbruch von matriarchalischen zu patriarchalischen Gesellschaftsformen. [...] Die Vorgänge [der Inszenierung] sind nicht in der Zeit angesiedelt, in welcher der Mythos um Theben von Aischylos und Sophokles zum Drama verarbeitet wurde, sondern in der Zeit, in der der Mythos entstand [...] Die Rückführung des Mythos auf seinen Ursprung, auf den frühgeschichtlichen Kultraum gibt den Vorgängen Modellcharakter." Problematisch bei dieser Ausgangshaltung ist der undifferenzierte Umgang mit dem Begriff 'Mythos', als gäbe es eine kanonische, unveränderbare Version der mythologischen Geschichten und die Auswirkung dieses Verständnisses auf den Umgang mit den antiken Tragödien. Kreon in beiden Stücken der beiden Dichter ist nicht dieselbe (mythologische) Figur, sondern eine jeweils neu gestaltete Figur, die nur den Namen gemeinsam hat. Die Zusammenfugung der beiden Stücke unter dem Oberbegriff des Mythos wird den Texten nicht gerecht und vereinnahmt sie einseitig.

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Daraus ergibt sich eine archaisierende, kultische Inszenierungsform,6 die über starke Emotionalisierung der Darstellung (v.a. in Sieben gegen Theben) keinerlei äußerliche Aktualität, wohl aber "Modellcharakter" auch für die Gegenwart beansprucht. Diese eindeutige Form der Historisierung bedeutet auch für den Chor eine klare Festlegung. Dabei unterscheiden sich dem Konzept nach die Chöre der beiden Stücke durchaus: Der Frauenchor [in 'Sieben gegen Theben'] hat fast rein kultischen Charakter, während die Ältesten von Theben [in 'Antigone'] bereits eine politische Öffentlichkeit repräsentieren. (Probennotizen)

"Die Frauen von Theben", die im Programmheft bezeichnenderweise nicht als Chor bezeichnet sind, stehen für das unterdrückte Volk bzw. die vom Patriarchat verdrängten Frauen einer vergangenen, matriarchalisch geprägten Gesellschaft, in der durch den Kult die Menschen unmittelbar mit der Natur verbunden waren. Begleitet wird dieser Chor durch "Kultische Flötenspieler und Trommler" (Personenverzeichnis), die das Volk "mit der vertrauten magischen Musik in die kultische Betäubung" bannen (Probennotizen). "Der Kultraum wird bestimmend für die Haltungen des thebanischen Volkes", Volk und Chor sind weitgehend identisch. Der Chor ist in seinem Verhalten durch sein unreflektiertes religiöses Verhalten geprägt, er begeht kultische Handlungen, gerät in "Trance- und Tanzhaltungen" und kriecht mehrfach "in panischer Angst zu einem Klumpen" zusammen. Die Panik der Frauen vor dem Krieg führt sie auch zeitweise gegen den Herrscher, ohne ihm jedoch bewußt, reflektiert etwas entgegenzusetzen.7 Das ganze Stück soll, so die Probennotizen "den Charakter einer Liturgie" haben, in deren Zentrum der archaische Frauenchor steht. Diese einseitige Ausrichtung des Chores bringt große Intensivität und Emotionaliät hervor, sie reduziert den Chor (und das gesamte Stück) jedoch auf eine beschränkte Figur hin. Die Einheit ist total, das Verhältnis zu den Protagonisten jedoch, da am differenzierten Originaltext bzw. der Übersetzung Schadewaldts festgehalten wird, unklar. Diese archaisierend-kultische Form des Umgangs mit dem Chor scheint für heute keine dramaturgischen Perspektiven zu eröffnen. 1979 inszenierte Heyme in Kalkutta mit einheimischen Schauspielern Antigone, gleichsam eine gemäßigte archaisierende Inszenierung, die jedoch anders als die vorausgegangenen Inszenierungen in Deutschland auf die kultisch-religiöse Gegenwart der Zuschauer und Mitspieler einging. Während die Einzeldarsteller aus dem Zuschauerraum heraus auftreten, gräbt sich der Chor "aus der Erde Calcuttas, im Gewand der reichen Kaste der Stadt, unter dem Publikum hervor" (Heyme 6

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"Die Bühne besteht aus einem abgeschlossenen, militärisch gesicherten Kultraum. Die Realien der Bühne (Lehmboden, Bronzekappen der Pfahlspitzen, Leder-Bekleidung usw.) deuten auf eine frühzeitliche Situation hin." (Probennotizen). Dabei zeigen die Probennotizen ein kompliziertes und in seiner krampfhaften Art, an der 'Mythos-Ideologie' festzuhalten, fast absurd anmutendes Gedankenkonstnikt: "Mit leisen 'Iuuuh'-Rufen, die sich steigern, in einen Tanzrhythmus übergehen und in einem orgiastischen Angstschrei sich entladen, reagiert der Chor auf Eteokles' Befehl, die Waffen zu bringen. Dieser Schrei, eine unreflektierte Reaktion, entlarvt die Hoffnung des Chors, von der Herrschaft des Eteokles und dem Elend des Kriegs befreit zu werden. Der Schrei ist eine Fehlleistung des Chors, der die Spannung der Verkettung zwischen Eteokles und dem Chor, der Identifikation Herrscher = Volk vergrößert. Der Chor [...] reagiert [...] verlogen."

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Calcutta). Die Inszenierung läßt sich als Übergangsstufe zwischen der archaisierenden und der historisierenden, mehrere Zeitebenen benutzenden Chorbehandlung Heymes ansehen.

5.3 Der Chor als historisierend-verfremdende Gruppe in Heymes Die Perser Heyme inszenierte 1983 im Kammertheater des Staatstheaters Stuttgart Aischylos' Tragödie Die Perser. Bühne und Kostüme der Darsteller, sowie die immer wieder eingespielte Instrumentalmusik schufen eine zweite, den Text erweiternde, Zeitebene. Das ist umso berechtigter, wenn man bedenkt, daß schon die griechische Tragödie zur Zeit ihrer Urauffiihrung in Athen Gegenwart und mythische Vergangenheit nicht klar voneinander trennt: Die Stücke spielen in einer mythischen Vergangenheit, vermischen diese jedoch (scheinbar unreflektiert) mit gegenwärtigen gesellschaftlichen Zuständen. Am deutlichsten wird diese Verbindung verschiedener Ebenen im Chor, der heroische Vergangenheit der Protagonisten und demokratische Gegenwart der Zuschauer miteinander verbindet. In Die Perser liegt ein Sonderfall unter den erhaltenen Tragödien vor, da es tatsächlich um ein historisches Ereignis der jüngeren Vergangenheit geht, das jedoch dadurch in die Ferne gerückt wird, daß es aus fremder, persischer Sicht die Ereignisse behandelt. Hier wird also auch eine lokale Vermischung vorgenommen, denn die Perser der Tragödie sprechen und denken durchaus griechisch, sind von griechischer Religion geprägt, andererseits sind ihnen die siegreichen Griechen bzw. Athener gegenübergestellt. Dieser zeitlichen wie lokalen Verbindung verschiedener Ebenen im Stück fügt Heyme in seiner Inszenierung eine weitere Ebene hinzu. Es wird ins Deutschland des ausgehenden 2. Weltkriegs transportiert, womöglich in die Reichskanzlei in Berlin. Unterstützt wird diese Umformung, die die griechisch-persische Ebene des Textes nie zu beseitigen versucht, durch Verweise auf preußische Vorgeschichte, die durch die Figur des Dareios (der bei Aischylos als Geistererscheinung auftritt) als preußischer König (Friedrich der Große) erscheint. In diese Umformung bzw. Erweiterung der historischen Ebenen des Textes ist der Chor einbezogen, ohne daß sie auf ihn begrenzt wäre. Der Chor in Heymes Die Perser besteht aus sechs Frauen. Alleine diese überschaubare Größe gibt ihm eine persönlichere Note als einer Chorgruppe von über 10 Personen, die Größe des Chores unterstützt den kammerspielartigen Charakter der Inszenierung, macht ihn allerdings in diesem Rahmen zu einer in sich geschlossenen Gruppe. Heyme verändert den Chor jedoch grundlegend gegenüber der Vorlage, indem er aus dem Chor der persischen Greise einen Chor junger Frauen macht. Die "Chordamen" (Flashar Inszenierung S. 269) oder "Chor der schicken Wehrmachtsmädchen" (Stadelmeier S. 17) warten auf ihre Männer. Diese Transformation funktioniert ohne Texteingriffe (außer daß die Frauen natürlich nicht als "Männer" oder "Greise" bezeichnet werden) erstaunlich gut, sie fällt dem mit dem Original nicht vertrauten Zuschauer wohl überhaupt nicht auf.

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Die soziale Stellung des Chores verändert sich durch diesen Wechsel nicht wesentlich, vor allen Dingen verändert sich die persönlich-emotionale Bindung des Chores zum Geschehen. Die Greise sind lebenserfahren und können, da sie persönlich ohnehin nicht mehr viel im Leben erwarten wird, die Ereignisse kühl und distanziert aufnehmen; die Frauen in Heymes Inszenierung dagegen stehen 'in der Blüte des Lebens', haben das halbe Leben noch vor sich und sind somit stark von den tragischen Ereignissen um den persischen Staat betroffen. Außerdem scheinen sie persönlich, als Frauen oder Geliebte, mit den im Botenbericht namentlich erwähnten Heerführern verbunden zu sein (was auch durch die überschaubare Größe von sechs Mitgliedern unterstützt wird). Ein erotisches Moment kommt durch den Frauenchor auch bei den Dareiosszenen ins Spiel (Dem 'Gespenst' gegenüber verhalten sie sich zeitweise wie neugierig-scheue und alberne Schulmädchen). Einen Wechsel bedeutet die 'Geschlechtsumwandlung' auch für das Verhältnis des Chores zur Protagonistin Atossa. Die emotionale Verbindung ist durch die ganz ähnliche persönliche Situation (verdeutlicht auch am ähnlichen Kostüm) intensiviert; an einigen Stellen wird Atossa sogar optisch in den Chor aufgenommen. Dennoch bedeutet der mit der Historisierung der Tragödie verbundene Wechsel zum Frauenchor nur eine leichte Akzentverschiebung, er hat keinen grundsätzlichen Wandel zur Folge. Durch den Frauenchor läßt sich der Kontrast zwischen kriegerischen Taten und Worten mit konkretem menschlichem Leid eindringlicher gestalten; gerade dann, wenn Heyme die historischen Ebenen des antiken Chores und der modernen, persönlich betroffenen Frauen immer wieder hart aufeinanderprallen läßt. In der ersten Szene, der Parodos des Chores, sitzen die sechs Frauen auf dem Boden um ein die Bühne anfangs bestimmendes, übergroßes Monumentalgemälde herum, 8 das leicht angeschrägt auf dem Boden liegt. Über den Abendkleidern (für die zu erwartende Siegesfeier und Heimkehr der Männer?) haben drei von ihnen Militärjacken, die anderen -mäntel, die sich jeweils leicht unterscheiden, geworfen. Die Sechs beginnen leise einen melancholischen Chorgesang, der wie zufallig aus ähnlichen Einzelstimmen zusammenwächst. Der martialische Text (der eigentlich zum Einzug des Chores auf die Bühne gesungen wurde) wird durch die melancholische, einem Kinderlied angemessene Vortragsweise der Frauen kontrastiert. Die Vortragsweisen des Liedes und die Positionen und Bewegungen des Chores dazu wechseln mehrfach: Unterbrochen wird das 'Lied' nach dem ruhigen Beginn von eingespielter instrumentaler, pompöser Hymnenmusik. Während diese Musik dann im Hintergrund weiterläuft, beginnt eine einzelne Choreutin im Sprechgesang das Lied fortzusetzen, nun jedoch auf kaum verhüllt verzweifelte Art, dies wird von anderen Einzelstimmen ergänzt. Anschließend tanzen zwei Choreutinnen langsam miteinander, die anderen wenden sich zueinander, während sie anfangs zwar gemeinsam, doch jede für sich gesprochen hatten. Sie schwanken dabei zwischen Angst und Langeweile, kindischem Schwärmen für die Männer und Emotionslosigkeit, Sprechen und Psalmodieren.

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Durch das im Orignal in der Stuttgarter Staatsgemäldesammlung ausgestellte Bild, "ein 100 Jahre alter Historienschinken, {Cleopatra am Nil von Hans Makart" (Flashar Inszenierung S. 269) kommt eine weitere dekadente historische Ebene in das Spiel: Der hohle Glanz einer verblichenen Vergangenheit wird zum optischen Zentrum der Bühne.

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Die Widersprüche bestehen auch bei einzelnen Chormitgliedern, etwa wenn eine ihre Partie ruhig beginnt und dann bis zur Hysterie heftiger wird. Daraufhin kommen die sechs Frauen zusammen und stellen sich in einer Linie dem Publikum frontal gegenüber, dazu sprechen sie unisono (die Musik ist verstummt), dabei jedoch mit vielen dynamischen und rhythmischen Variatonen. Das Sprechen ist nun sachlich, bedeutungsvoll, wird aber schließlich aggressiv und emotional, was zur Auflösung der Gruppierung in Einzelstimmen und -figuren führt. Nun gehen alle einzeln an die Bar an der Bühnenrampe, wo die sich ergänzenden Einzelstimmen zwischen Begeisterung, Furcht und Sachlichkeit schwanken. Schließlich stellen sie sich, mit dem Rücken zum Publikum vor das Bild, betrachten es und sprechen wieder dem Publikum zugewendet, nun eng beieinander stehend, langsam, unisono mit langen Pausen; 9 auch hier liegt eine merkwürdige Mischung aus Angst und emotionsloser Konzentration vor. Auf vielfaltige Weise wird in diesem wie in den anderen Chorliedem mit Kontrasten gearbeitet. Der Chor in Die Perser wechselt zwischen verschiedenen Spielund Sprecharten: Vom vereinzelten über verschobenes gemeinsames Sprechen bis zum einheitlichen Unisonosprechen; dabei handelt es sich nicht nur um Sprechen, sondern auch um Sprechgesang oder Psalmodieren, das sich z.T. auch zum echten Gesang entwickelt. Neben der durch den Chor geschaffenen musikalischen Ebene gibt es auch die durch die eingespielte Instrumentalmusik. Der Gesang und das Psalmodieren des Chores erfolgt immer ohne Musikbegleitung, a capella, allerdings gibt es, dann jedoch eher kontrastierende, leise Hintergrundmusik. Besonders die Sprechpartien werden durch instrumentale Begleitung zum melodramatischen Sprechen. Durch die verschiedenen Möglichkeiten der Variation der Chorstimmen durch den Gebrauch von Einzelstimmen bis zur Gruppe von sechs Personen und verschiedene Grade von zeitlicher Gemeinsamkeit dabei ergibt sich ein reiches von Heyme genutztes Spektrum der sprachmusikalischen Chorbehandlung. Die dadurch in Verbindung mit den Bewegungen entstehende Abwechslung, die Kontrasteffekte und die Dynamik des Chores machen ihn zum 'musikalischen' Zentrum der Aufführung. Beachtenswert ist auch die Gestaltung der Wechsel von den Chorpartien zu solchen, in denen der Chor im Hintergrund bleibt. Wie auch in anderen Inszenierungen versucht Heyme, die Wechsel fließend zu gestalten, so daß Positionswechsel schon während der Lieder oder Epeisodia stattfinden. Das hat zur Folge, daß der Chor gerade während der meist vergleichsweise kurzen Lieder sehr 'bewegt' wirkt und insgesamt dynamisch erscheint. Auch der Wechsel zwischen Ordnung und Unordnung beim Chor hängt damit zusammen. Streckenweise ist die Gruppe sprachlich und in Bewegungen oder Aufstellungen geordnet und einheitlich, zum Teil ungeordnet, anarchisch. Der Chor durchläuft diverse andere dynamische Entwicklungen zwischen Extremen - aufgrund der wesentlich größeren Variationsbreite gegenüber Einzelfiguren sind sie besonders wirksam, wegen des weniger festgelegten Charakters der Figur fallen sie zugleich leichter: Auseinander- und Zusammenstreben der Gruppe, Ordnung und Unordnung, Ernsthaftigkeit und Albernheit, Ehrlichkeit und Verlogenheit usw. sind Hier erfaflt in der Fernsehaufzeichnung die Kamera (ausnahmsweise) nacheinander die einzelnen Gesichter.

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dynamische Entwicklungen im Bereich von Bewegung, Stimme, aber auch Charakter bzw. Emotion. In den Gruppierungsmöglichkeiten nutzt Heyme alle möglichen Kombinationen der Sechsergruppe: Vereinzelung, (teilweise) Pärchenbildung, zwei Dreiergruppen und die geschlossene Gesamtgruppe, sowie deren Verbindung mit einer außenstehenden Figur (Atossa). In Die Perser gibt es keine Chorführerin, die Frauen sind quasi gleichberechtigt, j e nach Szene geraten einzelne eventuell kurz in den Vordergrund. Durch die gleichartigen, aber v.a. durch die unterschiedlichen Farben der individuell unterschiedlichen Kleider wird die Gleichheit und die gleichzeitige Selbständigkeit der Frauen unterstrichen. Die Behandlung des Chores ist eine behutsame Mischung aus Individualisierung innerhalb der Gruppe und ihrer Geschlossenheit nach außen. Der Chor ist nicht, wie einige Kritiker meinten, "aufgelöst" oder "individualisiert", wohl aber aufgelockert und andeutungsweise aus Individuen bestehend. Wie Heyme hier die Verbindung verschiedener Zeiten glückt, er das alte Stück dadurch, ohne es grundsätzlich zu verfalschen, fur 1983 brauchbar macht, indem er verfremdend die Antike benutzt, so glückt ihm diese Verbindung auch beim Chor: Als einerseits - im Sinne der Antike - geschlossene, unauflösliche Gruppe, die andererseits - im Sinne des ausgehenden 20. Jahrhunderts - aus nicht uniformierten, mit eigenem Willen versehenen Gruppenmitgliedern besteht. Ähnlich konträr ist das Verhältnis zwischen emotionalem und distanziertem Verhalten. Starke Gefühlsäußerungen und Gleichgültigkeit wechseln einander in rascher Folge ab, so daß die wahre, dauerhafte Einstellung des Chores nicht auszumachen ist, er bleibt als Figur geheimnisvoll unentschieden. Gerade dadurch zieht er das Interesse des Publikums auf sich. Die Brüche entlarven einerseits die Falschheit oder den Selbstbetrug der Offiziersfrauen, deuten jedoch zugleich ihre eigene Tragik an. Eine endgültige Einordnung und Beurteilung (oder gar Verurteilung) ist dem Zuschauer kaum möglich, da der Chor eben nicht eindeutig und ausschließlich mit deutschen Offiziersfrauen der 40er Jahre gleichzusetzen ist. Am Ende der Inszenierung spricht der Chor ein ironisches Schlußwort über die Unangreifbarkeit Persiens (ein Text aus der Parodos), er ergreift dabei Fahnen und Uniformen (darunter eine der Bundeswehr) und wendet sich deutlich an das Publikum - erstmals während der Aufführung; der Bogen ist nun auch in die Gegenwart geschlagen. Vorher spielte der Chor immer für sich oder nach vorne, in eine unbestimmte Vergangenheit oder Zukunft hinein. Durch die Schaffung einer zweiten konkreten historischen Ebene des Spiels erreicht Heyme eine Aktualisierung des alten Stückes. Er beläßt jedoch durch die sich eng an Aischylos haltende Übersetzung Wolfgang Schadewaldts, die jeder oberflächlichen Vereinnahmung widerstrebt, die antike Zeitebene. Daher kann diese 'Aktualisierung' - anders etwa als die platte, heute längst nicht mehr aktuelle Textbearbeitung Mattias Brauns von 1961, die Aischylos für ihre Zwecke vereinnahmt und ihm nichts von sich 'zurückgibt', außerdem wegen ihrer geistigen Enge längst veraltet ist - auch auf den antiken Text zurückverweisen. Beide Zeiten bleiben neben der Aufführungsgegenwart präsent; es handelt sich eben nicht um eine Aktualisierung, sondern um eine verfremdend-distanzierende Historisierung. Der Chor ist antiker Tragödienchor und zugleich Gruppe von Offiziersfrauen des 2. Weltkrieges. Daher bleiben die Emotionen der Frauen unbestimmt und wechselhaft. Diese

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Nichtfestgelegtheit des Chores ist keine modische, letztenendes sinnlose Spielerei, sondern dient zur Darstellung gesellschaftlich-historischer Brüche und Inkonsequenzen, und entspricht der Flexibilität und 'Charakterlosigkeit' des Theaterchores. Das Konzept der Inszenierung und des Chores im Speziellen ist kompliziert, jedoch auch unmittelbar wirkungsvoll, da es mit dem Mittel der spannungsreichen Kontrastierung auch auf einer sinnlichen, 'musikalischen' Ebene wirkt. Der Gefahr der Unverbindlichkeit aufgrund des komplizierten historisierenden Konzeptes entgeht Heyme durch einen Chor hochprofessioneller Einzeldarsteller, die gerade sprachlich-musikalisch stark gefordert und dabei hervorragend aufeinander 'eingespielt' sind.

5.4 Andere Inszenierungen Heymes mit historisierend eingesetztem Chor Ein mit Die Perser ähnliches Konzept im Umgang mit dem Chor wandte Heyme bereits bei der Inszenierung von Die Phoinikierinnen 1981 an. Dieser Chor ist noch einheitlicher als der von Die Perser, er hat zudem noch stärkere Spuren der archaischen Chöre der 70er Jahre, doch sind diese (etwa durch den Gebrauch von Mikrophonen) bereits verfremdend kontrastiert. Dadurch und durch das von einem verunglückten Auto bestimmte Bühnenbild wird eine nicht genauer definierte Gegenwartswelt mit der Antike konfrontiert. Ähnlich charakterisiert wie der Chor in Die Perser waren die Chöre in der Essener Doppelvorstellung von Euripides' Iphigenie in Aulis und Die Troerinnen 1986 und in Helena, 1992 in Bremen aufgeführt. Eine klare historische Zuordnung des Frauenchores in Abendkleidern der 30er Jahre zum Thema des Stücks fällt schwerer, dennoch funktioniert auch dieser 'Damenchor' in seiner differenzierten Darstellungsweise. Die Distanz und Ironie der Chorbehandlung trifft hier mit dem Chortext des Stückes des Euripides zusammen, so daß der Chor in der Inszenierung Ursache für komische Effekte ist.10 Für die Komödienchöre Heymes in den Aristophanesinszenierungen von Die Vögel 1980 in Stuttgart und Der Frieden 1995 bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen gilt dagegen, daß sie durch Betonung der didaktischen Seite der Stücke sehr schwer und humorlos geraten." 1984, ein Jahr nach Die Perser, inszenierte Heyme in Stuttgart Schillers 'Trauerspiel mit Chören' Die Braut von Messina.12 Der Schlüssel zur Inszenierung dieses problematischen und heute kaum gespielten Stückes ist dabei der Umgang mit dem 10

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Uns unverständlich und glücklicherweise in der Inszenierung nicht sichtbar ist die im Programmheft gemachte Feststellung (Heymes bzw. des Dramaturgen Hanns-Dietrich Schmidt), der Chor erfahre während des Stückes eine Entwicklung. Für den Chor in Iphigenie in Aulis ist gar die Rede von einer "psychologisch ganz genau" beschriebenen Entwicklung. Die Musik und etwa die Szene mit dem Jungen, der kein Friedenslied kennt, in Der Frieden entsprechen fast genau der Inszenierung Bessons (siehe oben S. 107), zeugen jedoch über 30 Jahre später aufgeführt von einer fast reaktionären Ästhetik. 1986 in Essen wiederaufgenommen, von dort stammt auch die dieser Besprechung zugrundeliegende Videoaufzeichnung. Zum Stück siehe oben S. 40ff. 139

Chor und die historisierende Annäherung an den Text. In diesem Falle wird der Chor der zentrale Faktor für Historisierung: die Handlung ist auf den historischen Machtwechsel von feudaler Aristokratie zum biedermeierlichen Bürgertum ausgerichtet. Aus dem gräzisierenden Stück Schillers macht Heyme eine Inszenierung über die Zeit Schillers. Der Chor übernimmt dabei die Rolle des Bürgertums, das zwar noch nicht aktiv handelt, jedoch auch als Zuschauer Partei ist, die auf das Kommen 'ihrer' Zeit wartet. Dem Chor wird also eine eindeutige Rolle im Stück zugewiesen, die sich mit der Zuschauerfunktion verbinden läßt. Diese Rolle als versteckte Opposition zu den Protagonisten entspricht tatsächlich dem Text, v.a. die Mutter äußert sich ihren Söhnen gegenüber ängstlich und zugleich aggressiv über den Chor. Für diesen Chor stellt die Zweiteilung in Gegenchöre - wie wir oben sahen, ein deutlicher Mangel an dem Stück - kein großes Problem mehr dar. Die Differenzen, die sich aus der Anhängeschaft zu den beiden verschiedenen sich bekriegenden Brüdern ergeben, werden hier zu einer letztenendes unwichtigen Reminiszenz an vergangene Zeiten, da jeweils die parteiisch-untertänige Hingabe der Teilchöre an die Brüder stark relativiert ist.13 Die Chöre sind nur scheinbar noch gespalten bzw. sie sind dabei, die Spaltung zu überwinden und damit zukünftig mächtig zu werden (und sich dann als Chor aufzulösen). Durch die Historisierung des Stückes und die konkrete Festlegung des Chores auf eine Zeit und eine Gruppe schafft Heyme in diesem Fall mit einer bestimmten Gruppe, die in der Gesellschaft noch inaktiver Gegenspieler ist, quasi innerhalb der Spielfiktion, ein Äquivalent für den Sonderstatus des antiken Chores: In der sozialen Abgrenzung hat der Chor seine formale Identität gefunden. 14

Dieses Rezept ist jedoch nicht beliebig auf andere Dramen anwendbar. Der Umgang Heymes mit dem Chor in Die Braut von Messina ist ein besonders deutliches Beispiel für den gelungenen Einsatz einer historisch bewußten und verschiedene Zeitund Rezeptionsebenen berücksichtigenden Dramaturgie des Chores. Durch die hier vorbildlich gelöste Frage des Status' des Chores sind auch die schwerwiegenden

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Heymes Dramaturg für diese Inszenierung, Günther Erken, schreibt in seinem Probenbericht: "Schließlich täuschte uns die anfangs starke parteiliche Verbundenheit der beiden Halbchöre mit den feindlichen Brüdern über ihre Eigenständigkeit [.. .] Auf die nächstliegende konzeptionelle Lösung kamen wir erst kur vor Probenbeginn. Vermittelt wurde sie einerseits durch eine fortschreitende Vereinfachung des Bühnenraums, in dem schließlich die Merkmale 'bürgerlicher' Intimität dominierten, und andererseits durch die aus Schillers Vorwort abgeleitete Erkenntnis, daß der Chor auf der Bühne natürlich auch das reflektierende Publikum der Schiller-Zeit vertritt und insofern dessen 'bürgerliches' Interesse an den dargestellten Vorgängen bekundet. Der Chor, an dessen Wiedereinführung ins Theater dem Autor so gelegen war, das sind also in Heymes Inszenierung Bürger der kommenden Generation, denen wirtschaftlich und bald auch politisch die Zukunft gehört. Sie füllen symbolisch und oft auch realiter die Zuschauerbänke vor der Bühne adliger Extravaganzen und Horrorgeschichten [...] Die 'Braut von Messina' ist, trotz ihrer Stilmarke, ein Spiegel der deutschen Gesellschaftslage um 1803." (Erken TH1/85 S. 31). Erken TH 1/85 S. 34.

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Darstellungsprobleme gelöst." Die Historisierung des Textes fuhrt auch zu seiner Theatralisierung; das betrifft in erster Linie den Chor, denn die Historisierung bezieht sich besonders auf ihn. Er verdankt ihr seinen besonderen Status in der Inszenierung. Der ganz in das Spiel hineingezogene Chor verfolgt die Tragödie der aristokratischen Familie als interessierter und indirekt beteiligter Zuschauer. Das Drama wird zum Spiel im Spiel, wobei dieses Spiel durch seine historisch-politische Verbindlichkeit 'ernst' bleibt. So bildet sich, wenn der Chor Mitgliedern der Familie gegenübersteht automatisch das Unisonosprechen oder -singen heraus, während es auch innerhalb eines Teilchores, wenn er alleine auf der Bühne ist, zu einer Diskussion der Einzelnen untereinander kommt. Der Chor bildet sich aus Individuen, die (besonders bei direkter Konfrontation mit der aristokratischen Familie) durch ihre gemeinsame soziale Position eine enge Gruppe darstellen. Einerseits ist der Chor abwartender Zuschauer, sein Verhalten der Familie gegenüber ist jedoch auch ironisch oder gar zynisch und bösartig. Am Ende triumphiert er über die Familie, er steht tableauartig mit Fahnen ausgestattet im Zentrum der Bühne und schreit die Schlußworte der Braut hinterher, die den Choreuten gerade noch die Füße geküßt hatte. Zuvor war dagegen die Familie im Zentrum der engen Bühne und der Chor meist auf den Bänken an der Seite. Die 'uniforme' Zukunft durch das fahnenlièbende Bürgertum zeigt sich auch in zwei Kindern, die in Anzüge gezwungen wie die erwachsenen Männer auftreten. Die Relativität der Abgrenzung der beiden Teilchöre untereinander spiegelt sich auch in den Kostümen: Der Chor ist in schwarz oder/und weiß gekleidet, (mit Stock und) Hut; die Mitglieder der Aristokratenfamilie dagegen tragen bunte, ausgefallene Kleider. Die Trennung der Teilchöre in schwarz und weiß ist jedoch nicht konsequent durchgehalten, jeweils vermischen sie sich durch Abweichungen einzelner, etwa mit weißer Hose zum schwarzen Gehrock usw. Diese Mischung der Farben zieht sich durch das ganze Stück, indem bei jedem neuen Auftritt einige Kleidungsstücke gewechselt werden. Eine andere wichtige Inszenierung, bei der der Chor im Mittelpunkt stand, war 1969 Schillers Wallenstein. Heyme stellt den Text um, so daß Szenen aus dem Prolog Wallensteins Lager als chorische Einlagen das Geschehen der beiden übrigen Teilstücke unterbrechen. Er schafft so - und durch Textprojektionen - ein chorisches Stück, in dem die Figuren in einen größeren gesellschaftlichen Rahmen gestellt werden. Die Fernsehaufzeichnung der Inszenierung zeigt jedoch einen - gemessen an Heymes späteren Inszenierungen - vergleichsweise primitiven Umgang mit dem Chor der Soldaten, der entweder unisono oder in Einzelfiguren und ohne 15

"Indem die Männer miteinander sprechen, verständigen sie sich auch und werden zu einem einzigen Chor. Für ihn sieht Schiller schon bald zwei Refrains vor. Heyme will sie nicht in einstudiertem Unisono sprechen lassen, obwohl auch dieser Formanspruch früher oder später erfüllt werden muß. Lange quält er sich mit Übergangsformen, um das allmähliche Finden des Chorischen darzutun, bis er merkt, daß das Problem weder psychologistisch ("Wiederholen wir einen Robert-Satz?") noch durch sprechtechnische Tüftelei, sondern nur inhaltlich zu lösen ist. Er streicht die Refrains und läßt dafür den ganzen Chorauftritt in ein zweizeiliges Tutti wie in das {Communiqué einer neuen Gesinnungsgruppe münden. Die folgende Fürstenbegrüßung kann dann sogar gesungen werden." (Erken TH 1/85 S. 34).

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große Differenzierung meist forciert spricht. Es handelt sich nicht um einen historisierenden Chor, die Zeitebene des Stückes bleibt bei leichten Verfremdungen bzw. Abstraktionen des Bühnenbildes gewahrt.16 Die spezifische, auf die historisierende Form angewandte Spielweise des Chores entwickelte Heyme später.

5.5 Zusammenfassung des historisierenden Chores bei Heyme und seine Einordnung in die Typologie des Chores Die Chorbehandlung Heymes in Die Perser, Die Braut von Messina oder Helena ist komplizierter, differenzierter, aber (heute) auch wirkungsvoller als etwa in Sieben gegen Theben einige Jahre zuvor. Dort oder in Wallenstein ist der Chor eine einheitliche, in sich ungebrochene Gruppe.17 In den historisierend-distanzierenden Inszenierungen dagegen wird er zur zeitlich, wie als Gruppe und damit mit allen Darstellungsmitteln offenen, brüchigen Gruppe, deren 'Verletzlichkeit' ihre gesellschaftspolitische Aktualität und ihren ästhetischen Reiz ausmachen. Heyme nutzt die vielfachen Variationsmöglichkeiten chorischen Spielens und Sprechens intensiv, so daß sich sein historisierender Chor ähnlich dem in Peter Weiss' Marat/Sade-Drama durch große Flexibilität auszeichnet; er erreicht demnach auch einen starken sinnlichen Eindruck. Anders als Reinhardt und Meyerhold benutzt er den Chor nicht nur als (musikalischen) Sprechchor, sondern auch als psalmodierenden Chor und als Gesangschor; dabei erreicht Heyme auch durch die Übergänge zwischen den verschiedenen Stufen dynamische Wirkungen. Dennoch ist die Konzeption des historisierend eingesetzten Chores eine komplizierte, der ausgreifende dramaturgische Überlegungen zugrunde liegen. Das anspruchsvolle, den Intellekt des Zuschauers fordernde Konzept ist bezeichnend für das deutsche Regietheater, das besonders bei Heyme oder Stein von dramaturgischen Vorarbeiten geprägt ist. Ohne den Einfluß Brechts kaum denkbar, dient es zur Nutzung von Klassikern für gegenwärtiges Theater, wobei mit den Widerständen dieses Verhältnisses produktiv umgegangen wird. Der Status des Chores in der Inszenierung wird nicht wie beim modellhaften, vereinfachenden, archaisierenden Konzept nur vermeintlich historisch - als bestimmte Gruppe in der Geschichte übergangen, sondern mitproblematisiert. Und darin besteht die Legitimation der 16

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Viel eher erinnert der konventionelle Umgang mit dem Chor im ungewöhnlichen, neuen Rahmen an Brechts dramaturgisch innovativen, bühnentechnisch jedoch 'enttäuschenden' Gebrauch des Chores. Der Chor in Wallenstein und sein durchgehender Einsatz in der Inszenierung bringt jedoch auch "archaisierende Züge" (Hinck S. 372) in das Stück, aktualisiert es dadurch andererseits. Schadewaldt spricht von: "Re-antikisierung, Re-gräzisierung Schillers" (Brief S. 146). Eine Relativierung dürfte unsere These der 'klarverlaufenden' historischen Entwicklung des Chorgebrauchs bei Heyme, die für die frühen Inszenierungen nicht anhand von Videoaufzeichnungen nachprüfbar ist, durch eine Bemerkung im Programmheft zur Wiesbadener Atas-Inszenierung von 1967 erfahren: "Nur sinnfällige Momente bedürfen der engagierten Gestaltung, um, wieder gebrochen, damit distanziert und überschaubar zu werden. Erreicht wird dies u.a. durch Trennung von Gestik und Wort."

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Form Chor in einer Inszenierung wie Die Perser. So wie die (mindestens) zwei Zeitebenen, künstlich gegeneinander gestellt, verbunden werden, so wird der künstliche Chor in diesem historisierenden Spiel mit einer Gruppe einzelner Menschen verknüpft und zugleich kontrastiert; er besteht gerade aus seiner permanenten Infragestellung heraus. Implizit, selten auch direkt, wird so bei Heyme die Beziehung des Chores z u m Publikum zum Zentrum des Chores, er ist keine runde Figur, sondern angesichts der historischen Risse, voller Brüche und dennoch nicht aufgelöst. Konsequenterweise benutzt Heyme in der Regel traditionelle Bühnenformen, die das Gegenüber von Zuschauern und Spiel bewahren. 1 8

5.6 Andere Beispiele zum historisch-distanzierenden Chor Es handelt sich hier fast ausschließlich um Antikeninszenierungen oder -bearbeitungen, da das wichtigste Ziel dieses Ansatzes j a die Wieder-holung und Aktualisierung ist bzw. der Versuch, dem Verhältnis zwischen antiker Vorlage und gegenwärtigem Theater neue Aspekte abzugewinnen. In Lore Stefaneks Freiburger Inszenierung der Hölderlinversion der Antigonae von 1988 wurde der Chor ähnlich wie bei Heyme historisierend eingesetzt. Allerdings ist hier die Brückenfiinktion des Chores klarer herausgehoben: Acht j u n g e Frauen und Männer "in Biedermeier-Kostümen [...] die offenbar zum Picknick ausgeschwärmt waren" (Jörder S. 46) treffen auf eine antike Trümmerlandschaft und die antiken Protagonisten, die durchweg, auch die Antigone, von älteren Schauspielern gespielt werden. Die jungen Expeditionäre, abenteuerbegierig, wie sie sind, werden rasch hineingezogen in die Ereignisse, geraten in ein Wechselbad der Empfindungen und Nachempfindungen, sind einmal Kreons soldatische Befehlsempfänger, dann der Bautrupp, der das steinerne Grab errichtet, dann Antigones Klagechor, hin- und hergerissen scheinen sie, auf der Suche nach einem Standort. Sie singen trotzig ihre vaterländischen Lieder, wie sie sie gelernt haben, von Schiller bis Uhland, und zitieren und rezitieren, mal auf griechisch, mal aus dem Hölderlin-Band, oft ahnend mehr als wissend die alten Chorgesänge: "Ungeheuer ist viel. Doch nichts ungeheurer, als der Mensch." (S. 46). Der Chor nimmt bei Stefanek eine historische Ebene alleine für sich ein - anders als in Heymes Antikeninszenierungen, ähnlich wie in Die Braut von Messina, allerdings konkreter, nicht nur konzeptionell angedeutet - und verbindet damit zwischen Antike und gegenwärtigem Zuschauer, da der Chor sich "mit unseren Augen gewissermaßen" (S. 46) dem Spiel der antiken Figuren nähert. Diese zuschauerähnliche Vermittlerrolle des Chores, die ihn auch als mitspielenden Zuschauer legitimiert und einen in sich schlüssigen Status des Chores in der Inszenierung schafft, ist noch weiter differenziert. Der Chor vertritt die Zeitebene der deutschen Textbearbeitung, er scheint jedoch auch das Geschehen nicht ganz zu begreifen, er löst sich nie ganz

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Wie wir sahen (siehe oben S. 107Í), nutzt Woody Allen in Mighty Aphrodite den Chor für komische Historisierung, grundsätzlich liegt auch den Chor-Parodien dieses Prinzip zugrunde. Bei Heyme jedoch wird die Distanzierung kaum für komische Wirkungen genutzt. 143

von seinem beschränkten Soldatenliedgut. Diese jungen Deutschen des 19. Jahrhunderts stehen also einerseits dem Zuschauer nahe, die Regie stellt jedoch auch in Frage, ob sie uns wirklich näher bzw. sympathischer sind als die antiken Gestalten. Luca Ronconi wandte in seiner Orestie von 1972 ebenfalls das Prinzip verschiedener historischer Spielebenen an. Jedes Stück der Trilogie ist einer Epoche zugeordnet; es gibt einen archaisch-mittelalterlichen Agamemnon, Die Choephoren spielen in einer bürgerlich-neuzeitlichen Welt und Die Eumeniden in einer gegenwärtig-zukünftigen. Der Chor unterscheidet sich dabei nicht von den Protagonisten. Er ist (im Agamemnon) sogar in Kostümen und jugendlichem Alter nicht von Wächtern oder Boten zu unterscheiden. In die Lieder optisch untermalende Tableaus sind sogar die Einzelfiguren integriert. In den Tableaus wird das Spiel mit der Geschichte durch diese Verbindung von Chor und Einzelfiguren zum Theater im Theater. Auch in Die Bakchen, 1973 am Wiener Burgtheater inszeniert, spielt Ronconi mit den Epochen und schafft dadurch ein metathetrales Spiel. Allerdings ist hier das Verhältnis des Chores dazu ein ganz anderes: Er ist von den Protagonisten deutlich abgesetzt, bewegt sich kaum und hält sich oft am vorderen Bühnenrand der sich sonst verwandelnden Bühne auf; zwischen Publikum und Darstellern ist er "Vermittler im Sinne von Brechung" (Jäger S. 16). Bei der Düsseldorfer Inszenierung von Die Perser, 1986 in der Regie von Francois Michel Pesenti, erscheint der Chor von den historisch gekleideten Protagonisten abgesetzt, als von heute stammend; er wird also anders als bei Heyme selbst gerade nicht historisiert, erfüllt eher ähnlich wie bei Stefanek eine die Zeiten verbindende Funktion.

5.7 Weitere Beispiele zum archaisierend oder kultisch eingesetzten Chor Gustav Rudolf Seilner prägte in den 50er und 60er Jahren durch seine zeremoniellabstrakten Inszenierungen im "ortlosen" Raum (Seilner S. 79) die Antikenrezeption auf der Bühne. 19 Auf der "Spielinsel" versucht Sellner, "den Menschen und seine Szene zu isolieren, ihn gewissermaßen insular aus seiner Umgebung herauszuheben." (S.26). In diesem dezidiert ahistorischen Inszenierungskonzept wird die antike Tragödie zu "Zeremonie und Ritual" (S. 27), nach Meinung eines Kritikers gerieten die Figuren zu "Schachfiguren". Der "statuarisch geführte Chor" (Flashar Inszenierung S. 202) hat in diesem artifiziell-kultischen Theater eine zentrale, pseudoreligiöse Funktion. Das gesamte Konzept erscheint heute fragwürdig, und der Umgang Seilners mit dem Chor bietet wenige Perspektiven. Er benutzte Stabmasken oder ein "Zeremonialtuch" (Sellner S. 24), Elemente, die ernstgenommen wie bei Sellner heute komisch anmuten. Der Inhalt der Chorlieder tritt hinter die musikalische Sprachbehandlung zurück. In den "fugai" gesprochenen (S. 66), zwischen zwei

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Auch Heyme konnte sich dem Einfluß Sellners anfangs nicht entziehen, wie sich aus den Photographien in Schadewaldt Antikes Drama auf dem Theater heute ergibt (Beide griffen vorzugsweise auf die Übersetzungen Schadewaldts zurück).

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Halbchören, Einzelsprechem und Gesamtchor aufgeteilten Liedern wird der Chor ausschließlich zum sinnleeren Musikersatz.20 In diesem Zusammenhang seien auch die (zum Teil von Sellner inszenierten) Antikenopem Carl Orffs erwähnt. Wie bei Sellners Inszenierungen handelt es sich dabei um eine hochartifizielle Art der Archaisierung. Orff benutzt afrikanische Instrumente, um die rituelle, archaische Dimension der griechischen Tragödie musikalisch wiederzugewinnen; eine aktuelle, politische Seite kann und will er so, wie Sellner und im Gegensatz zu Brecht, nicht aufzeigen. Benno Bessons Inszenierung von Heiner Müllers Bearbeitung von Sophokles'/HöIderlins Ödipus Tyrann 1967 am Deutschen Theater ist die wirkungsvollste Tragödieninszenierung der DDR, sie wies auch für den Westen - gerade im Kontrast zu Sellner - neue Wege für die Antikenrezeption Richtung Archaisierung.21 Das Stück ist in eine frühantike Urzeit bzw. an einen fernen, etwa afrikanischen Ort verlegt. Hauptthema ist das im Drama gezeigte Spannungsverhältnis zwischen Individuum (Ödipus) und der Gesellschaft (andere Figuren und Chor), der Chor wird konkret zum Gegenspieler des Ödipus.22 Es findet also eine historische Konkretisierung statt, der es allerdings nicht um historische Genauigkeit - die Bühne und die Figuren bleiben in einer Kunstwelt - sondern um einen gesellschaftspolitischen Modellfall geht. Für den Chor versucht Besson, mit der Unterstützung eines algerischen Trommlers (und bei den Proben mit afrikanischen Tänzern), eine intensive Körperlichkeit zu erreichen.23 Zugleich gewinnt die Sprache des Chores durch die totale Einheitlichkeit und die starke Rhythmisierung, unterstützt oder kontrapunktiert durch die Trommel, sowie die (aufreizende) Emotionslosigkeit eine körperliche, räumliche Qualität. Die körperliche und sprachliche Einheit des Chores wird auch durch die Maskierung (aller Darsteller) unterstützt. Über die Körperlichkeit der rhythmisierten Sprache bei Besson hinaus erstrebte Andrej Serban in Sophokles' Elektro 1973 eine physische "vibration" des Publikums

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Dieses Prinzip der Texteinteilung entspricht weitgehend der bei Max Reinhardt. Speziell der Einfluß auf Heymes archaisierende Inszenierungen ist deutlich. Besson: "Ich verstehe den Chor als Hauptrolle, der Gegenüber des Ödipus. Im Chor wirken deshalb erste Schauspieler des Theaters mit." (Kranz S. 126). Nach eigenen Angaben gelang dies nur unvollständig: "Spontan konnten sie anfangs nur wenig liefern, nur Weihnachts- und Marschlieder. Bewegungsmässig war es noch schlechter, Marschschritte, immerhin etwas. Aber eine differenziertere Intelligenz konnten die Schauspieler aus ihren Körpern nicht beziehen, so sehr sie sich bemühten. Das wurde offenbar, als Afrikaner kamen und zeigten, wie man tanzen kann. Das ist ein Fakt, der sehr zu denken geben muß; wir können aus Beziehungen zu afrikanischen Ländern ungeheuer viel gewinnen zur Hebung der Kultur bei uns. Die Intelligenz hört nämlich nicht auf mit dem Rechnen. Ein dummer Körper ist immer etwas Unangenehmes. In dieser Hinsicht hat der Chor zumindest einiges erreicht in vier Monaten Arbeit. Das ist immer noch wenig und der Chor weiß das - im Vergleich zu dem, was ein afrikanischer Chor leisten könnte und was in anderer Weise, stärker bestimmt durch orientalische Einflüsse, ein griechischer Chor geliefert hat. Auf jeden Fall ist es so, daß der Chor das Bestreben hat und die Möglichkeit sieht, sich mit der Intelligenz zu bewegen und eine Einheit von Intelligenz und körperlicher Sensibilität wieder herzustellen, und das als Individuen in der Gemeinschaft eines Chores zu tun. Was für uns schwer ist, heute. Wir haben da nur noch sehr verarmte Ausdrucksformen, Grölen und Schunkeln." (Müller Ödipus Tyrann S. 165f).

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im Artaudschen Sinne, indem er ausschließlich die Originalsprache Griechisch mit ihrem "caractère fondamental" (Ertel Le Sens S. 16) benutzte.24 Statt durch Verständnis oder artifizielle Distanziertheit soll v.a. der Chor durch intensive Emotionalität wirken. Noch weniger artifiziell, nämlich voller unartikulierter Laute, Schreien und einem unkoordnierten 'Dauertanz', war die Aufführung der Brechtschen Antigone durch das Living Theatre, 1967 auf Gastspielaufenthalt in Krefeld. Die 22 Mitwirkenden versuchen, die Zuschauer in das exzessive Erleben von gemeinschaftlich erfahrenen extremen Gefuhlslagen zu integrieren. Durch Fanatismus der Darsteller an Stelle von Professionalität wird die Schaffung eines pseudo-rituelles Theaters angestrebt, dem jedoch jede Grundlage fehlt. Dennoch dürfte das Living Theatre in seiner starken Körperlichkeit auch in der Darstellung des Chores, etwa auf Grübers Die Bakchen, wichtigen Einfluß ausgeübt haben. 25 Dieser fundamental-archaisierende Zugang zum Chor ist ähnlich ahistorisch wie bei Sellner; er erhebt durch seine verleugnete Künstlichkeit einen diffusen, pseudo-religiösen Anspruch. Auch Pier Paolo Pasolini strebte einen archaisierenden Umgang mit dem antiken Chor an; doch war sein ethnologischer Ansatz wesentlich pragmatischer (und intelligenter). In dem Dokumentarfilm Appunti per una Orestiade africana (Notizen für eine afrikanische Orestie) von 1969, zeigt er seine Vorbereitungen für den nie gedrehten Film einer afrikanischen Orestie. Pasolini setzt Volk und Chor gleich und sieht gerade im afrikanischen Alltag mythologische und sakrale Spuren. Chor bzw. Volk sollten Hauptdarsteller des Films werden. Diese Art der Archaisierung verweist auch auf eine historisierende Darstellungsweise; Pasolini interessiert sich für Brüche auch in der afrikanischen Tradition und sucht Parallelen zur Antike und zur modernen westlichen Welt. Die Nähe zu Besson und Heyme (in beiden 'Phasen') ist deutlich. Ein tatsächlich ausgeführter Ansatz der Verbindung afrikanischer Gegenwart mit antiker Textvorlage ist das Stück The Bacchae of Euripides {Die Bakchen des Euripides) des Nigerianers Wole Soyinka, 1973 als Auftragswerk in London uraufgeführt, also primär für ein europäisches Publikum geschrieben. Soyinka besteht in einer Vorbemerkung auf dem Festcharakter des Stückes, das im Untertitel "A Communion Rite" heißt - entsprechend dem 'untragischen', festlich-rituellen Finale. Dennoch ist diese 'afrikanische' Tragödie differenziert, sie verbindet ganz verschiedene Elemente. Für den Chor versucht der Autor eine Mischung unterschiedlichster Bestandteile: Er besteht einerseits - neu gegenüber der Vorlage von Euripides - aus Sklaven, quasi dem unterdrückten Volk und andererseits aus den Anhängerinnen des Dionysos; erst wenn die beiden Teilgruppen zusammengefunden haben ist der "Chor" vollständig (und wird im Text dann so bezeichnet). Verbunden sind hier Frauen und Männer, Einheimische und Fremde, politisch Unterdrückte (auch auf

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Carl Orff vertonte den Prometheus mit dem original griechischen Text, wobei die Wirkung des Textes durch die Musik eher musikalisch-verfremdet wird. Es gab jedoch schon 1960 in Syrakus eine Inszenierung der Orestie von Vittorio Gassman und Luciano Lucignani, an deren Anfang und Ende von Trommeln begleitet "ekstatische Tänze eines exotischen Voodoo-Balletts" (Bierl Die 'Orestie' S. 37) zu sehen waren. Die streckenweise Archaisierung des Chores dient hier, in einer Freilichtaufführung in einem antiken Theater, zur Darstellung einer paradiesähnlichen Urgesellschaft.

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militärische Regimes ist angespielt) und religiöse Eiferer, außerdem wünscht Soyinka ausdrücklich eine weitgehende ethnische Mischung der Darsteller. Im zentralen, langen, gemeinsamen Lied sollen - so die Regieanweisung - urtümliche und Popkulturelemente zusammentreffen. Offensichtlich ist auch die Mischung afrikanischer Urkultur und christlicher Elemente, ζ. B. im Gospelchor (und in der christusähnlichen Dionysosfigur). Dabei soll der Chor durchaus ambivalent, auch "häßlich" wirken. Soyinkas archaisch-moderner Chor verbindet heutiges Afrika und vergangenes Griechenland und wird so gerade für europäische Zuschauer zu einem glaubhaften und neuartigen Theaterinstrument. Ähnliches gilt für den Gebrauch von Gospelgesängen in dem Chor schwarzer Soldaten in Peter Sellars Ajax (siehe oben 4.7 Der polyphone 'Hörspielchor' in Peter Seilars' Ajax). Ein europäischer Versuch, christliche Religion und Theaterchor zu verbinden, ist T.S. Eliots Murder in the Cathedral (Mord im Dom), das 1935 in der Kathedrale von Canterbury uraufgeführt wurde. Der Chor der Frauen von Canterbury ist Zeuge und Kommentator der Ereignisse, zugleich soll er als Gemeinde die Verbindung zum Publikum herstellen und Theater und Gottesdienst einander annähern. Die Ähnlichkeit zu Max Reinhardts Versuchen eines Massentheaters, besonders mit dem in London erstmals gezeigten The Miracle ist evident, ebenso die Folgenlosigkeit beider Versuche im Europa der zweiten Jahrhunderthälfte.26 Gerlind Reinshagen stellt - und dies ließe sich als Gegenreaktion deuten - in dem Stück Die fremde Tochter die krampfhafte Suche nach Gemeinschaft mit möglichen faschistoiden Entwicklungen kritisch dar und benutzt religiös geprägte Chorformen zur formalen Darstellung ihrer Zweifel. Dabei wird durch den distanzierten Gebrauch von pseudoreligiösen Theaterformen auch das Theatermittel Chor in Frage gestellt. Archaisierung scheint (heute) nur in Verbindung mit historischer Distanz oder aber verbunden mit wirklichen, lebendigen kulturellen 'Bräuchen' eine für die Behandlung des Chores hilfreiche Form zu sein. Bei historisierenden, die Distanz zur Antike produktiv einbeziehenden Inszenierungen dagegen kann gerade der Sonderstatus des Chores hilfreich werden.

5.8 Der kaum definierbare Chor in Klaus Michael Grübers Inszenierung von Euripides' Die Bakchen Der Chor in Klaus Michael Grübers Euripides-Inszenierung, 1974 an der Berliner Schaubühne gezeigt, paßt auf den ersten Blick in das Schema des damals häufig benutzten archaisierenden Konzeptes. Es relativiert sich jedoch schon durch den Prolog, die Szene vor dem Auftritt des Chores: Dionysos wird auf einer fahrbaren Trage von vier total vermummten Robotermenschen (mit Fechtermasken, für Flashar "an Raumfahrer erinnernd", Inszenierung S. 246) in einen von sterilem Neonlicht erhellten Raum geschoben. Diese futuristische Künstlichkeit ist von Anfang an gebrochen, durch zwei Pferde in einem an die Rückwand angrenzenden, durch eine Glasscheibe einsehbaren Raum. Die Robotermenschen erweisen sich später als die Diener von Pentheus, sie lassen sich in der Folge auch als Gegenchor zum eigentli26

Gelungener sind die oben erwähnten jüdisch-christlichen Chöre Racines und Miltons. 147

chen Chor ansehen. Dieser Frauenchor zerstört bzw. unterbricht die künstlich-technische Welt, indem eine Frau das Neonlicht ausschaltet, die anderen den Holzboden aufreißen und die darunter vergrabene 'Natur' in Form von Gras, Trauben, Salat, Federn usw. hervorholen; außerdem befindet sich dort Wasser, der Chor legt ein Feuer und gräbt an anderer Stelle zwei Menschen, Teiresias und Kadmos, heraus. Dieses natürliche Chaos wird von den Dienern des Pentheus in kürzester Zeit wieder beseitigt, u.a. durch eine lärmende Kehrmaschine. Das archaisierende Element ist also deutlich gebrochen, es ist durch die Konfrontation mit einer anderen historischen Ebene, die fast science-fiction-Charakter hat, relativiert. Für den Frauenchor an sich gilt weitgehend der kultisch-archaische Charakter. Er zeigt sich auch beim 3. Stasimon, wenn der Chor während seines Sprechgesangs ein gemeinsames Mahl einnimmt. Auch der teilweise Gebrauch griechischer Wörter oder Satzteile deutet auf die Ursprünglichkeit des Chores, ebenso sein anfängliches Lallen und Zur-Sprache-finden. Der Inhalt der Chorlieder geht dennoch nicht verloren, er wird durch das fugenartige Sprechen (im 4. Stasimon) sogar, anders als bei Reinhardt und Sellner, hervorgehoben und betont. Wichtiger als die gebrochene, historisierende Archaisierung scheint jedoch für diese umstrittene Inszenierung die Offenheit, Vieldeutigkeit sowie die kryptische und zugleich höchst suggestive Bildlichkeit zu sein. Thema der Stückes ist nicht von ungefähr (in Gestalt des Dionysos) das Theater selbst und sein Verhältnis zur modernen Welt; es handelt sich um eine Selbstreflexion, die jedoch zugleich die das Theater umgebende und bedingende Welt thematisiert. Der Chor hat darin eine zentrale Rolle, wobei er nur selten als traditioneller Theaterchor erkennbar wird; in seiner 'vielfältigen Formlosigkeit' entspricht er so der Inszenierung im Ganzen. Bei Grübers Inszenierung stößt eine Typologie des Chores in besonderem Maße an ihre Grenzen, da nur weniges eindeutig einzuordnen ist. Die Inszenierung und ihr Umgang mit dem Chor ist hochartifziell und andererseits unangestrengt, unaufdringlich, scheinbar organisch-unkünstlich und daher kaum analysierbar. Dennoch birgt der Chor einige grundlegende, beschreibbare Ansätze (die zur Infragestellung bisher festgestellter Umgangsformen mit dem Chor dienen können). Er ist durchgehend intensiver Zuschauer und -hörer der Ereignisse und verbindet sich dadurch auf ungewöhnlich intensive Weise mit allen Protagonisten, auch mit seinen 'Gegnern'. Dionysos wird vom Chor anfangs mit Gegenständen aus dem Boden geschmückt; die Zuneigung hat dabei auch eine erotische Komponente (die andererseits in hohem Maße auch zwischen den verfeindeten Protagonisten vorhanden ist). Anders als in Heymes Die Perser, wo der Frauenchor bei der 'Enthüllung' des Königs sich selbst nicht ganz ernstnehmen kann, ist das Verhalten des Chores bei Grüber nie ironisiert, andererseits jedoch als Spiel auch nicht krampfhaft aufdringlich. Bei der Auseinandersetzung zwischen Pentheus und Dinoysos im 2. und 3. Epeisodion dient der Tisch, um den der Chor sitzt, als Kampfplatz; der Chor wirkt unbeteiligt, andrerseits scheint er den Rahmen für das Spiel abzugeben, er steht außerhalb und über dem Spiel. Deutlich ist das auch im 4. Stasimon: Der Chor befindet sich im von der übrigen Bühne abgegrenzten Zuschauerraum und 'kommentiert' mit seinem Lied das Spiel, während die Bühne leer ist und Pentheus im Nachbarraum auf einem von Dionysos geführten Pferd sitzt. Während dieses Liedes, in dem der Chor "Dike", Gerechtigkeit und damit Rache an Pentheus fordert, wird

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der auch tatsächlich getötet werden. Der Chor als Zuschauer scheint hier die Fäden in der Hand zu halten. Er erinnert jedoch auch an innere Stimmen von Einzelfiguren, wenn eine Choreutin den Text des Dionysos spricht und wenn am Ende der Chortext von männlichen eingespielten Stimmen, womöglich der Protagonisten, ergänzt wird. Ein wichtiger weiterer Aspekt, hier nicht zu trennen vom Verhältnis zu den Protagonisten, ist das Verhältnis der einzelnen Chormitglieder zur Gruppe. Es gibt kaum eine deutlich als artifiziell erkennbare Choreographie der Gruppe; allerdings gegen Ende einmal um so deutlichere, wenn die Choreutinnen von antiken Vasenabbildungen bekannte Mänadenstellungen einnehmen. Selten spricht der Chor gemeinsam oder chorisch-künstlich, nur in einem Lied gibt es einen (gemeinsamen) Sprechgesang. Im 2. Stasimon jammern die Frauen gemeinsam, währenddessen sprechen jeweils einzelne von ihnen über diese gemeinsame Geräuschstruktur den Text. Anschließend jedoch wird eine Choreutin zum Medium des gefangenen Dionysos, sie spricht 'seinen' Text, schließlich spricht eine andere gemeinsam mit ihm, Grüber läßt also ein Chormitglied und einen Protagonisten unisono sprechen. Dadurch wird der Übergang vom Chorlied zum Epeisodion fließend, formal unfaßlich. Das 1. Stasimon vollendet sich erst in der an den Text ansschließend eingespielten Instrumentalmusik. Der weitgefaßte Gruppencharakter zeigt sich auch durch das voneinander entfernte Sitzen während der Zuschauerszene. Die Gemeinsamkeit des Chores zeigt sich v.a. im intensiven Zuhören, andererseits ist Pentheus ein befremdeter und zugleich konzentrierter Zuhörer und -schauer des 1. Stasimons. Die Relationen zwischen Protagonisten und Chor sind zum Teil umgekehrt, zumindest geöflhet, dennoch bleibt der Chor immer als solcher kenntlich, er wird nicht aufgelöst.27 Die mit großer Intensität des Spiels verbundene Offenheit des Chores kann auch zur Einladung an die Zuschauer werden: Ein Chor, in den man sich fast physisch hineinfinden, beinahe einleben kann. 28

Die Schlußszene zwischen Agaue und Kadmos findet ohne den schon abgegangenen Chor statt und wirkt dementsprechend nicht nur privat, sondern auch besonders bedrückend.29

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Bruno Ganz, der in Die Bakchen die Rolle des Pentheus spielte, meint, Grüber sei immer ein radikaler Regisseur; zum Chor in der Inszenierung sagt er: "Er hat sie als Ganzes sehr wild gemacht, aber das Verrückte an diesem Chor war, daß jede Frau individuell war. Jede der Bakchen war kenntlich von den anderen unterschieden." (Carstensen S. 100). Iden Die Schaubühne S. 178. Einen vorzeitigen Abgang des Chores für eine lange, 'private' Schlußszene gibt es auch in Heymes Inszenierung von Die Phoinikierinnen. Allerdings läßt Heyme den Chor für ein Schlußlied wieder auftreten, eine Inkonsequenz, die auf ein anderes, formaleres Verhältnis zum Chor als bei dem unkonventionellen Grüber hindeutet. 149

6. Das Drama Marat/Sade von Peter Weiss und der spielerisch-flexibel eingesetzte Chor

La difficoltà non è dei personaggi principali. Ciò che importa sopra tutto è la magia; creare, voglio dire, l'attrazione della favola.

COTRONE

ILSE Questo sì.

E come fate a crearla? Vi manca tutto! Un' opera corale...

COTRONE

(Luigi Pirandello, I giganti della montagna)

6.1 Einführung zu Weiss' Marat/Sade In diesem Kapitel steht ein dramatischer Text im Mittelpunkt der Überlegungen; dennoch bleibt die Bühnenwirksamkeit des Chores auch hier das zentrale Anliegen. Die besondere Bedeutung des Stückes in unserem Zusammenhang ergibt sich daraus, daß es sich eher um eine Spielvorlage als um ein literarisch ambitioniertes Drama handelt. Weiss schrieb das Stück während der Proben für die Uraufführung 1964 um, die zahlreichen Regieanweisungen sind durch die Komplexität der Handlungsebenen von besonderer Bedeutung für das Verständnis bzw. die Umsetzung auf der Bühne, der Haupttext an sich ergäbe wenig Sinn.1 Die theatralische Wirkung dieses (ersten größeren und) weltweit vielgespielten Stückes von Weiss erklärt sich auch aus dem vielfaltigen und virtuosen Gebrauch bühnenwirksamer Mittel, zu denen zentral der Chor gehört.2 Dabei sollte betont werden, daß der Chor in Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marais dargestellt durch die Schauspielergruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade, wie das Stück vollständig heißt, nicht nur formal flexibel eingesetzt ist, sondern in seiner Theatralität auch die inhaltlichen Aspekte des Dramas auf der Bühne umzusetzen hilft.3 Die Komplexität des Stückes ergibt sich aus der drei historische Ebenen schaffenden Struktur einer im Spiel dargestellten Theaterauffiihrung; dazu kommt die Andererseits spiegelt, wie wir noch sehen werden, die Aufführungsgeschichte dennoch eine große Offenheit und verschiedene Deutungsmöglichkeiten des Textes wider. "Nach ein paar Vorübungen, Einaktern und so, kam dann dieser Stoff. Der Bahnenapparat dazu, die bühnentechnischen Mittel, die Bewegungen auf der Bühne, das Gestische, die Tänze, Chöre, Pantomimen - alles das war es eigentlich, was in mir selbst den Spaß am Theater wieder weckte." (Peter Weiss im Gespräch mit Ernst Schumacher, TdZ 16 /1965. Aus Braun S. 108). Grundlage für unsere Untersuchung ist die fünfte und letzte Fassung des Autors von 1965.

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permanente Ambivalenz aller Aussagen durch die unscharfe Trennung der Ebenen voneinander: Erstens die Ebene der realen Auffuhrung, die sich nach der jeweiligen Auffuhrung richtet - , Weiss dachte sicherlich an die Bundesrepublik der 60er Jahre: Sie entsteht durch direkte Wendungen an das Publikum (etwa im Prolog), aber v.a. durch Anspielungen über die anderen Ebenen. Die zweite Ebene ist die Heilanstalt Charenton im napoleonischen Frankreich, genauer eine Theaterauffurung unter der Leitung des dort 'inhaftierten' Marquis de Sade im Jahre 1808.4 Die dritte Ebene zeigt 15 Jahre zurückliegende, im Kern historische Ereignisse um die Ermordung des radikalen Revolutionärs Marat 1793 in Paris. Die Vermischung der Ebenen zeigt sich besonders bei einigen Personen. Der Anstaltsdirektor Coulmier, der die Auffuhrung durch den Prolog einleitet und ansonsten (unzufriedener und eingreifender) Zuschauer ist, scheint sich der Anwesenheit eines auch ihn betrachtenden Publikums außerhalb der Bühne bewußt zu sein; er beendet auch die (gespielte) Aufführung bzw. verdeckt sie durch das Ziehen des Vorhangs vor dem realen Publikum, als sie außer Kontrolle zu geraten droht, und alle Ebenen endgültig untrennbar zu werden scheinen. Der Marquis de Sade inszeniert nicht nur das Spiel, sondern ist auch selbst als Mitspieler Teil der Darstellung. Die übrigen Darsteller der Aufführung in der Irrenanstalt sind Patienten: Der Darsteller des Marat leidet wie die von ihm gespielte Figur an einer Hautkrankheit, eine Verbindung der Ebenen wie sie bei den anderen Darstellern und ihren Figuren außer dem ehemaligen Mönch, der den radikalen Revolutionär Jacques Roux spielt und dabei seine eigenen politischen Ansichten äußert - nicht besteht. Bei der Darstellerin der Charlotte Corday, der Mörderin Marats, kontrastiert sogar die Schlafkrankheit mit ihrer aktiven Rolle; sie ist die einzige, die im gesamten Stück (durch den Mord) tatsächlich handelt. Der Ausrufer und die vier Sänger leiten das Spiel weitgehend, geben Einleitungen und Erläuterungen, wobei die Sänger immer wieder auch eine Rolle als Vertreter des Volks spielen. Der Ausrufer dagegen bleibt außerhalb des Spiels, er vertritt vielfach Sade als Spielleiter und improvisiert (scheinbar), um Coulmier zu beruhigen. Sowohl die Sänger als auch der Ausrufer haben also zum Teil chorähnlich kommentierende Aufgaben.

6.2 Der Chor in Marat/Sade Neben den Einzelfiguren, sowie dem Ausrufer und den Sängern gibt es noch den aus Patienten bestehenden Chor. Er hat keine feste, durchgehende Rolle, die Patienten spielen "Nebenfiguren, Stimmen, Pantomimen und Chor" (Personenverzeichnis, Weiss Marat/Sade S. 8);5 der Chor ist also nicht eindeutig als Rolle definiert, teilweise berührt er sich als Volksmassse eng mit den vier Sängern. Die Patienten, so

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In den 'Anmerkungen zum geschichtlichen Hintergrund unseres Stückes' schreibt Weiss, daß Sade tatsächlich Theaterauflührungen in der Anstalt von Charenton leitete. Im Personenverzeichnis ist also nicht von einer Figur "Chor" die Rede, in den Personenbezeichnungen im Text jedoch werden die Patienten als "Chor" bezeichnet.

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das erläuternde Personenverzeichnis, geben sich, wenn sie nicht in das Spiel eingreifen, ihren autistischen Übungen hin. Einige von ihnen führen stereotype Bewegungen aus, drehen sich im Kreis, hüpfen, murmeln halblaut vor sich hin, brechen in scheinbar unmotiviertes Lachen oder Schreien aus, oder verharren während des ganzen Spiels in einem Stupor. Andere lassen sich willenlos hierhin und dorthin schieben. Es gibt aber auch ein paar, die die Handlung aufmerksam betrachten und daran erinnern, daß in Charenton nicht nur Geisteskranke interniert waren, sondern auch Menschen, die der napoleonischen Gesellschaft aus politischen Gründen unliebsam waren. (S. 8f.)

Die Zusammensetzung des Chores ist also disparat; er besteht aus Kranken und politischen Häftlingen, einige der Patienten leiden gerade an extrem unsozialem Verhalten, das sie für die Darstellung eines Chores eigentlich kaum geeignet erscheinen läßt. Paradoxerweise entsteht durch das Spiel dennoch zeitweise, auf der zweiten Ebene eine starke Gemeinschaft. Auch die Passivität und Willenlosigkeit mancher Patienten erscheint als weiteres Hindernis für einen Koordination und Präzision erfordernden Theaterchor. Der Hinweis auf politische Häftlinge wiederum unterstreicht die Ernsthaftigkeit und politische Bedeutung des Chores und seiner gesellschaftlichen Andeutungen und Aussagen. Die Künstlichkeit des im Spiel entstehenden Chores wird sprachlich durch den Gebrauch von Versen, gerade beim Chor und den Sängern auch rhythmischer Verse mit Endreim (Blankvers), gezeigt. Hinzu kommt auch der (in den Regieanweisungen recht genau beschriebene) Einsatz von Musik, v.a. bei Chor und Sängern.6 Der einheitlich gestaltete Bühnenraum - der als Theater benutzte Badesaal der Anstalt der für zwei Ebenen und innerhalb der dritten Ebene für verschiedene Orte (in Paris) den optischen Rahmen bildet, wird durch sprachliche Beschreibungen des Ausrufers und der Sänger, sowie durch pantomimische Einlagen des Chores in konkrete Spielplätze verwandelt. Der Chor hat entscheidenden Anteil am epischen Rahmen des Stückes. Er ist zugleich Mittel zur Verknüpfung der unterschiedlichen Spielebenen7 und der Belebung, sprich Theatralisierung dieser Verknüpfung, wie auch Partei der Geschehnisse bzw. Beschreibungen der Ebenen. Der Chor bringt alleine durch seine Anwesenheit auch eine konkrete politische Dimension in die zum Teil hochphilosophischen Diskussionen zwischen Marat und Sade und bildet durch seine bloße Existenz einen Kontrast zum Individualisten Sade. Als Volk ist ihm eine eindeutige Opferrolle zugewiesen, auch als Zuschauer und -hörer ist der Chor betroffene Partei bzw. Opfer. In der 24. Szene 'Diese Lügen die im Umlauf sind' hält Marat eine Rede über die Rechte der Arbeiter und die Reichen "in ihren neuen Burgen aus Marmor und Stahl" mit deutlichen Anspielungen auf die erste Spielebene, die bundesrepublikanische Nachkriegsgegenwart. Die Patienten treten "langsam zum Mittelgrund vor, bleiben dort lauschend stehen" und treten dann zusammen mit den Sängern weiter "nach vorn". Das typisch chorische, intensive Zuhören ergibt sich hier aus einer direkten

Die Angabe "Musik von Hans-Martin Majewski" bedeutet, daß Weiss die Musik als zum Text gehörend, das Drama konstituierend ansieht. Es liegt hier also auch eine Verbindung verschiedener historischer Ebenen vor, siehe 5. Kapitel.

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Betroffenheit als Volk. Es ist das Anliegen von Weiss, zu verdeutlichen, daß der Chor sowohl Zuschauer als auch betroffenes Opfer der Politik ist, ebenso wie die realen Zuschauer auch zu Opfern werden können, daher auch die enge, vielfältige Verknüpfung aller Ebenen. Das zeigt sich auch in der 19. Szene 'Erste Agitation des Jacques Roux'. Es bleibt nicht nur offen, auf welcher Ebene der ehemalige Mönch spricht, sondern auch innerhalb welcher die zuhörenden Patienten sich um ihn herum scharen. Welche Ebene auch immer gemeint sein kann, die Patienten stellen das Volk dar, für das die Situation immer gleich schlecht ist. Der Chor ist nicht nur von den Sängern kaum zu unterscheiden, sondern auch für Einzeldarsteller offen, wie sich besonders am Ende zeigt: Alle Patienten schließen sich zum marschierenden, gewaltsamen 'totalen' Chor zusammen, bei dem die Grenzen zwischen gespielter Revolution und tatsächlichem Aufruhr in der Anstalt endgültig zur Unkenntlichkeit verwischt sind. Zuvor, beim Todesschrei Marats waren alle Darsteller bis auf den lachenden Sade zu "einem heroischen Tableau" erstarrt. Der 'totale' Chor ist auch ein Kunstgriff des gespielten Regisseurs Sade. Durch theatrale Kunstmittel wie Gesang, Pantomimen, Tableaus usw. dient der Chor zur akustischen und optischen Belebung des ansonsten diskussionslastigen Stücks, wobei diese Belebung, wie wir bereits sahen, nicht rein ästhetischer Natur ist, sondern auch inhaltliche, politische Dimensionen hat.8 Durch den Chor als Zeugen der Gespräche und zugleich von den Entscheidungen der Diskutierenden Betroffenen wird die Auseinandersetzung intensiviert, was dazu führt, daß es nicht bei einem privaten, unerheblichen Geplauder bleibt. Er fiihrt die politische Dimension persönlicher Schicksale vor Augen, nimmt ihnen nicht ihre individuelle Bedeutung, stellt sie aber in einen größeren Zusammenhang. Der Chor trägt andererseits als innere Stimme bzw. Vision oder durch kontrastierende Pantomimen zur Charakterisierung der Protagonisten bei. Während der Charakter des Chores als Volk unbestimmt und schwankend bleibt, sind die Einzeldarsteller sehr klar, teilweise auch typisiert, beschrieben. In der 10. Szene 'Lied und Pantomime von Cordays Ankunft in Paris' wird durch eine Pantomime einzelner Patienten das von den Sängern beschriebene "Straßenleben" von Paris illustriert; aus dem lebendigen Treiben in den Straßen entwickelt sich dann ein Totentanz, dabei stellen zwei Patienten ein Pferd dar, das einen Karren mit Verurteilten zieht, von anderen wird eine Guillotine dargestellt. Die Wendung der Szene ins Unwirkliche des Totentanzes scheint Cordays subjektive Empfindungen widerzuspiegeln und nicht mehr ihre objektiv wahrnehmbare Erfahrung wie zu Beginn der Szene. Die Pantomime des Chores, begleitet von den Versen der Corday, dient zur differenzierten Darstellung des Innenlebens der Figur. Vor der Ermordung (in der 29. Szene 'Vorbereitungen zum dritten Besuch') wird die von der Schlafkrankheit übermannte Darstellerin der Corday vom Chor (und zuerst dem Ausrufer) durch anschwellendes

In der 27. Szene 'Die Nationalversammlung' stellt der Chor zwei gegeneinanderstehende Parteien dar, die Girondisten und die Jakobiner. Die beschriebenen Arten der Unmutsbzw. Zustimmungsäußerungen der beiden Chöre zu Marats (imaginärer) Rede sind vielfältig: Zwischenrufe, Buh-Rufe, Pfiffe, Füßetrampeln, Füßescharren, Zischen, Geschrei der Empörung, Zungenschnalzen und schließlich ein Sprechchor. Hierin läßt sich auch eine Anspielung auf Theaterpublikum sehen, gegen Ende der Szene werden die Unterschiede zum braven deutschen Bildungsbürger-Theaterpublikum jedoch immer deutlicher.

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Flüstern zum Wachen aufgefordert, der Chor stellt hier weniger Visionen der Figur dar, sondern eher eine innere Stimme, wobei auch hier durch die Namensnennung der Figur, nicht der Darstellerin, die Ebenen wieder vermischt sind. In Verbindung mit der Hauptfigur Marat hat der Chor noch weit ausführlichere Szenen mit seinen Visionen (26 'Marats Gesichte') oder imaginierten Vorgängen, wie in der 27. Szene 'Die Nationalversammlung'. Das Verhältnis des Chores zu Sade ist weit distanzierter: In der schon erwähnten 19. Szene 'Erste Agitation des Jacques Roux' hält Sade eine Rede an Marat, in der er individuelle berufliche Leistungen lobt, die Sänger zeigen dabei eine Pantomime, "in der dargestellt wird, daß alles was Sade nennt, nur dem zugute kommt, der es sich kaufen kann".9 Diese Pantomime ist also eine kontrapunktische Kommentierung von Sades Rede.10 Durch die starke, überwiegend positive Ausrichtung des Chores auf Marat wird dessen Bedeutung im Drama gegenüber dem fast übermächtigen Regisseur und Antipoden Sade gestärkt; außerdem wird der Revolutionär stärker mit dem Volk in Verbindung gebracht als der Individualist Sade, dessen Auspeitschung durch Corday (in der 21. Szene) der Chor offensichtlich ignoriert. Der Chor der Patienten ist (auch innerhalb des Spiels im Spiel) Zuschauer und Kommentator der Geschehnisse. Zusammen mit dem Ausrufer und den Sängern schafft er eine epische Verknüpfung der verschiedenen Zeitebenen. Dabei dient der Volkschor v.a. zur Belebung des von dem Ausrufer und den Sängern geschaffenen Spielrahmens. In der 5. Szene 'Huldigung Marats', der ersten Szene, in der der Chor aktiv wird und spricht, sprechen bzw. singen ausschließlich die Sänger und der Chor. Sie tragen den mit einem Blätterkranz gekrönten Marat, den sie aus seiner Badewanne gehoben haben, "rings um die Spielfläche". Der Rückblick auf Ereignisse im Jahr 1789, wodurch in dieser Szene sogar eine vierte Zeitebene entsteht, wird vom Chor durch seine illustrativen Äußerungen belebt. Dem Text ist dabei, wie so oft in dem Drama, nicht zu entnehmen, welchen Bewußtseinsstand der Chor dabei hat, ob er einen Revolutionschor von 1793 spielt, der wiederum einen Chor von 1789 spielt oder ob der Chor der Patienten sich direkt in die vierte Ebene einfühlt; jedenfalls ist der Inhalt ambivalent teilweise auf alle Ebenen anwendbar (z.B.: "Hängt sie auf die Generäle / Die Spekulanten an die Pfähle"). Der ansonsten wortgewaltige, aber machtlose Marat kommt in der Szene gar nicht zu Wort, er wird vom Chor zum Zeugen von Ereignissen aller Ebenen angerufen." Die Hauptfigur wird damit zum Zuschauer und zum urteilenden Zeugen, in späteren Szenen auch gegenüber Geschehnissen nach seinem Tod. Die Inszenierung dient Sade bzw. Weiss also zum Dialog mit einem Toten. Der Chor, wie auch die Sänger und der Ausrufer helfen Sade, die Vergangenheit spielerisch lebendig werden zu lassen und - denn zur eindimensionalen, rein erzählerischen Erinnerung

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Dieser Teil der Szene taucht erst in der fünften Textfassung auf. Die "Kopulations-Pantomime" in der 30. Szene 'Dritter und letzter Besuch der Corday1 ist dagegen eine reine Illustration der Worte Sades, die durch die Wiederholung des Refrains durch den Chor noch weiter untermalt werden. "DIE VIER SÄNGER UND DER CHOR Marat was ist aus unserer Revolution geworden / Marat wir wolln nicht mehr warten bis morgen / Marat wir sind immer noch arme Leute / und die versprochenen Änderungen wollen wir heute" (S. 21).

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würden Einzelfiguren ausreichen - durch epische Verknüpfung und deren Belebung die unterschiedlichen Zeitebenen mit der Gegenwart in einen spielerischen Dialog zu bringen. Die Ebenen sind dabei nicht hierarchisch gegliedert, sondern beeinflussen sich wechselseitig. Das gesamte Stück ist im Grunde eine 'Huldigung Marats', die einzige Aktion ist die lange vorbereitend beschriebene, immer wieder verzögerte und am Ende durchgeführte Ermordung Marats, wobei in der 5. Szene die 'Huldigung' eigentlich eine Anklage der Zustände und die Bitte um Abhilfe ist.12 Die Einzeldarsteller in Marat/Sade sind stark typisiert; der Darsteller des Duperret z.B. wird ausschließlich als Erotomane gezeigt. Sade und auch der leidende Marat sind die einzigen Charaktere und Persönlichkeiten im Drama. Der Chor dagegen ist weder typisiert, geschweige denn charakterisiert. Die Aufsplitterung in zwei gegeneinander stehende Gruppen in der 27. Szene dauert nicht lange und bleibt ganz ohne Folgen fur die Zusammengehörigkeit. Der Chor als Figur innerhalb des Spiels im Spiel existiert im Grunde gar nicht, er ist nur als Funktion dauerhaft und grundsätzlich vorhanden. Es handelt sich um ein Instrument der (gespielten) Inszenierung, das - wie auch die Sänger - je nach den dramaturgischen Erfordernissen einsetzbar ist und dann immer kurzzeitig eine volksähnliche Rolle einnimmt. Die Flexibilität aufgrund der vielfaltigen Funktion, die den Chor ausmacht, führt in der 13. Szene 'Marats Liturgie' zu einem klaren Bruch der Rolle als Volk. In einer ironischen Liturgie Marats stellt der Chor anfangs die betende Gemeinde dar und bildet am Ende einen "Pantomimenzug", in dem "Würdenträger der Kirche angedeutet" werden. Die ersten Inszenierungen des Dramas gingen auf ganz unterschiedliche Weise mit dem Text und seinem Chor um. In der Berliner Uraufführung unter der Regie Konrad Swinarskis war der Chor auf seine Kommentarfunktion konzentriert, indem er im Bühnenhintergrund in ein bienenwabenartiges Chorgestühl, das die einzelnen Choreuten auch isolierte, gesetzt wurde. Demgegenüber gerieten die Sänger als aktive Volksvertreter in den Vordergrund. Die zweite Inszenierung war die Peter Brooks in London, sie schöpfte die spielerischen Möglichkeiten des Chores viel stärker aus.13 Brook nimmt den Chor der 12 Darsteller als Gruppe ernst, zeigt dabei jedoch deutlich individuelle Züge aller Mitglieder. Die schwierige, gleichzeitig das Stück auszeichnende Verbindung von spielerischer Form und politischen Inhalten wird hier durch ein auf Menschen und nicht auf Thesen basierendes Theater vollständig eingelöst. Die Rostocker Inszenierung Hanns-Anselm Pertens dagegen, ebenfalls von 1964, konzentrierte sich im Gegensatz dazu auf die Botschaft, daß Marat im Recht sei. Der Chor wird zum politischen Opfer, es handelt sich ausschließlich um politische Gefangene, nicht um Kranke. Der Chor in dieser Inszenierung wurde eindimensional und verlor damit ganz seinen vom Text angelegten

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Das Verhältnis des Chores zu Marat hat damit starke Ähnlichkeit zu dem des Chores gegenüber Ödipus; andererseits mag Marats fast ritualisierte Opferung an die des Tragödiengottes Dionysos erinnern. Auf dieser Inszenierung basierend entstand auch eine Verfilmung Brooks.

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theatralischen Reiz.14 Eine weitere wichtige Inszenierung des selben Jahres ist die von Hansgünther Heyme in Wiesbaden. Günther Rühle schrieb dazu: Dieses Stück verändert [...] das Theater [...] Es weckt im Ensemble wieder die totale Lust am Zusammenspiel; am gemeinsamen Schrei, am wüsten Exzeß. 15

6.3 Zusammenfassung des spielerisch-flexiblen Chores bei Weiss und seine Einordnung in die Typologie Weiss benutzt in Marat/Sade einen Chor aus Patienten (und politischen Häftlingen), womit die Darsteller, nicht jedoch ihre Funktion in der Darstellung beschrieben wird. Allerdings ergibt sich diese Funktion aus der Art der Darsteller, denn beide Ebenen bleiben immer verbunden; daraus erklärt sich auch die extreme Flexibilität des Chores im Stück. Weiss gelingt durch diese Konstellation eine in sich schlüssige und dem Sonderstatus des antiken Chores sehr nahekommende Chor-Konstruktion, da die enge Verbindung von Institution und Figur aus der Antike durch die gespielte Darstellung spielerisch und, dadurch in sich glaubhaft, 'wiederholt' wird. Das Spiel im Spiel ermöglicht einen Dialog der Ebenen und Zeiten in einem an sich undramatischen Stück. Hier liegt die besondere Funktion des Chores in dem Drama; die Charakterisierung der Einzelfiguren durch den Chor, seine volksähnliche Rolle sind nicht neu, einmalig bei Weiss ist jedoch der spielerische Rahmen, den der Chor abgibt und der zugleich die Existenz des Chores selbst legitimiert - auch Heyme benutzt, wie wir sahen, den Chor zur Verbindung verschiedener historischer Ebenen, er geht jedoch weniger spielerisch vor, sondern vielmehr 'streng', mit dramaturgisch-historischem Unterbau. Es bleibt in Marat/Sade jedoch nicht bei der bloßen Spielerei; die (politische) Verbindlichkeit ergibt sich aus den inhaltlichen Parallelen der Patienten, die als Volk Opfer sind, zu dem von ihnen Dargestellten, sowie zur Realität des wirklichen Publikums (der ersten Ebene), das sich seiner Opferrolle in einer 'kranken' Gesellschaft nur noch nicht bewußt ist. Die 'Durchläs-

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Weiss lobte die Rostocker Inszenierung ausdrücklich gegenüber der West-Berliner, an der er selbst u.a. auch als Bühnenbildner, aber auch durch ständige Texteingriffe während der Proben beteiligt war. Die fünf Textfassungen spiegeln auch sein persönliches Unbehagen mit dem für manche marxistische Kritiker (etwa durch die Theaterwirksamkeit) formalistischen oder (durch den Regisseur Sade) individualistischen Stück wider. Allerdings ist selbst in der letzten Fassung noch das Verhältnis Marats zu Sade - und das macht auch die Qualität des Textes aus - politisch oder moralisch nicht eindeutig zu klären. Peter Zadek äußert sich interessanterweise aus entgegengesetzter weit- oder theateranschaulicher Sicht: "Ich habe die Urfassung von 'Marat' von Peter Weiss gelesen, bevor das Stück für die Inszenierung von Konrad Swinarski in Berlin umgeschrieben wurde. Sie las sich wie Genet, es war ein Alptraum von einem Stück, das vom Bauch her geschrieben war. Ein wildes Stück. [...] Das Stück sah nun [in der Druckfassung] plötzlich aus wie eines von Brecht [...] es war zu einem 'Explaining-Theater1 geworden. Das ist meiner Ansicht nach eine Katastrophe [...]" (Kässens/Gronius S. 192). Der Film Brooks zeigt, daß Zadek übertreibt. Frankfurter Allgemeine Zeitung 23.9.64.

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sigkeit' der Ebenen bezieht sich also auch auf die Grenzen des Theaters, auf die reale Aufführungssituation. Auch im Verhältnis zu den Einzelfiguren zeigt der Chor seine außerordentliche Flexibilität. Aufgrund des Spiels im Spiel, das die künstliche Entstehung dieses Chores organisch und unproblematisch werden läßt, ergibt sich auch die große Spannweite seiner Möglichkeiten und der offene Charakter. Der zeigt sich auch im Übergang zu dem Ausrufer und den Sängern. Streckenweise lassen sich die Sänger als Untergruppe des Chores ansehen, insgesamt sind sie jedoch vom Hauptchor deutlich unterschieden: Die Sänger stellen eine kleine Gruppe dar, sind jedoch auch als Volk eine selbstbewußte und aktive und insofern wenig chorische Partei.16 Auch Reinhardt benutzte, wie wir sahen, in König Ödipus zwei chorische Gruppen, die in einem abgestuften Verhältnis zur Handlung und zum Publikum stehen. Für den Ausrufer gilt, daß seine kommentierende und damit chorähnliche Funktion nur scheinbar ist; er ist der eigentliche Spielleiter bzw. Vertreteter des Leiters - des Marquis de Sade - und damit sein 'Sprachrohr', damit jedoch keineswegs das des wirklichen Autors. Ähnlich dem Chor der antiken Komödie ist der Chor der Patienten häufig Partei, in einer Szene sogar zerstritten, dennoch geht er nie ganz in der Rolle des Volkes auf. Durch die Verschachtelung der Ebenen bleibt er immer (darin ähnlich dem Tragödienchor) Zuschauer und Kommentator des Spiels und verbindender Rahmen. Im Bezug auf die sinnliche Ausnutzung der chorischen Mittel zeigt sich eine gewisse Verbindung zu Mnouchkines Les Atrides. Unverkennbar ist in epischer Dramaturgie und einfacher Sprache der Einfluß Brechts auf Weiss, wobei gerade durch den Chor der Patienten bei Weiss - vielleicht gegen seine eigentliche Intention eher eine Relativierung als eine klare Parteinahme erreicht wird. Die Nähe zu Brecht und die Vielfalt des Chores in Marat/Sade zeigt sich daran, daß dieser Chor einen großen Teil der oben festgestellten von Brecht in verschiedenen Stücken und Konzepten angelegten, unserer Typologie zugundegelegten Kriterien erfüllt: Er erweist sich im Finale als fur die Protagonisten offene Gruppe, stellt eine politische, auf parodistische Weise jedoch auch eine kultische Gruppe dar, dient zur Darstellung des Innenlebens von Einzelfiguren und entsteht innerhalb des Spiels als Chor im Spiel. Weiss' Chor ist außerdem das Volk, eine (passive) dramatis-persona-ähnliche Gruppe, zugleich jedoch kommentierender Zuschauer innerhalb des Spiels und v.a. die Sänger und der Ausrufer - außerhalb des Spielgeschehens stehender Kommentator und Erzähler. Andeutungsweise verbindet er auch das Spiel mit den realen Zuschauern. Der Chor der Patienten dient der epischen Verknüpfung und der Fokussierung auf Themen und Einzelpersonen. Nicht nur wegen dieser Fülle an Funktionen und Eigenschaften, sondern auch wegen ihrer gelungenen, in sich schlüssigen Verbindung stellt er einen Höhepunkt der Auseinandersetzimg dieses Jahrhunderts mit dem Chor dar, im Bereich Drama dürfte dieser Chor alles andere überragen.

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In der 28. Szene 'Anner Marat in deiner Wanne' sind Chor und Sänger scharf kontrastiert: Die Patienten werden nach einem Tumult in der vorangegangenen Szene von den Schwestern und Pflegern - deren Rolle innerhalb der Ebenen auch nicht einfach zu klären ist "nach hinten gedrängt", wo sie "ausgerichtet stehen, die Hände überm Kopf verschränkt". Die Sänger dagegen tanzen unbehelligt und strecken sich auf dem Boden aus. 157

6.4 Der flexible Dramenchor in Tankred Dorsts Die Legende vom armen Heinrich Der Chor in diesem aktuellen Beispiel für einen Dramenchor - das Stück wurde 1996 publiziert, die Uraufführung fand an den Münchner Kammerspielen am 26.2.1997 statt - zeichnet sich ähnlich dem in Weiss' Marat/Sade durch seine enorme Flexibilität aus. Er spielt keine durchgehende Rollenfigur, sondern übernimmt verschiedene Funktionen, wobei er auch kurzzeitig diverse, konkrete Rollen übernimmt. Im Personenverzeichnis als "Der Chor" bezeichnet heißt es in der ersten Szene "Der Chor als Wald". Er stellt demnach das Bühnenbild dar, genauso wie er im folgenden "als die Nachbarn" oder "als elegante Gesellschaft" die menschliche Umwelt spielt. Die rahmende Funktion des Chores für das gesamte Spiel geht weiter als bei Weiss, allerdings um den Preis einer gewissen Beliebigkeit. Denn der Chor bei Dorst wird als gegeben hingenommen, er entsteht nicht etwa als Spiel im Spiel, sondern dient je nach dramaturgischer Notwendigkeit für verschiedene Funktionen und bleibt damit ein Kunstprodukt. Bezeichnenderweise spielt der Gruppencharakter des Chores eine geringe Rolle. Er setzt sich in der Regel aus verschiedenen, sich ergänzenden oder widersprechenden Stimmen zusammen, etwa "als elegante Gesellschaft". Er hat eine intensive Beziehung zu den beiden Protagonisten, wird innere Stimme, erläutert auf einer lyrischen Ebene ihre Emotionen, ist andererseits - auch im abrupten Wechsel - kritischer oder altkluger Kommentator, der vor Beschimpfungen nicht zurückschreckt, dann wieder Erzähler der bisherigen Ereignisse.17 Durch eingestreute mittelhochdeutsche Texteinsprengsel stellt der Chor eine Verbindung zur Vorlage des Stückes, Hartmann von Aues Der Arme Heinrich her. Auch seine (neuhochdeutsch gesprochenen) Schlußworte sind die des Erzählers von Aue. Andererseits dient der Chor zur atmosphärisch-musikalischen Untermalung oder zur Illustration durch Tiergeräusche. Die Themen der 'Choreinlagen' sind, wenn sie sich nicht direkt mit den Protagonisten auseinandersetzen, 'chorische Probleme': So macht er sich in einer die Handlung unterbrechenden oder aussetzenden Einlage Gedanken über das Zuhören. Als elegante Gesellschaft gibt es verschiedene Stimmen zum Beobachten von Kunst oder Leben; das "Wie interessant!" des Chores kann durchaus als Parodie nicht nur der feinen Gesellschaft, sondern auch des Theaterchores insgesamt gesehen werden. Dorst deutet damit auch die Relevanz des Phänomens 'Chor' als 'allgemeinmenschlich' fur den Alltag aller Zeiten an. Das gelingt auch in der 14. Szene 'Momento'; das Thema der Szene wird von den Chorstimmen durchgespielt, von der Geschichte des Heinrich bis zum Cadillac in die Moderne hinein - Erinnerung als chorisches Thema über die Zeiten hinweg. Dabei reißen die einzelnen Chorstimmen persönliche Schicksale ihrer selbst an. Die Leichtigkeit der ironischen Behandlung des Themas der überzeitlichen Präsenz des Chores in Woody Allens Mighty Aphrodite erreicht Dorst jedoch nicht - eher gleicht sein historisierender Chor den Chören Heymes, die jedoch konkreter und verbindlicher konzipiert sind.

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Das Verhältnis des Chores zu dem (englischsprachigen) Sänger, der zwischen einzelnen Szenen auftritt und damit Chorlied-ähnliche Einlagen hat, bleibt unklar.

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Der Chor in Die Legende vom armen Heinrich ist eher eine Gruppe anonymer Figuren mit vielfachen chorischen Aufgaben als ein traditioneller Theaterchor. Die Einflüsse der Erzählerfigur in der Shakespearetradition und des lyrischen Chores im Nö-Theater sind offensichtlich (siehe unten S. 160, Anm. 22). Zugleich ist dieser Chor eine dichterische Utopie, die ihn im Theater leicht künstlich erscheinen läßt.18 Der Gebrauch der vielfaltigen dramaturgischen Mittel des Chores durch Dorst - die in der Uraufführung in der Regie von Jens-Daniel Herzog kaum ausgeschöpft wurden - und damit seine enorme Bedeutung in dem Drama zeigen jedoch die große Breite möglicher Funktionen des Theaterchores im zeitgenössischen Drama.

6.5 Andere Beispiele für den Chor als innere Stimme Bereits bei Peter Sellars' Chor in Ajax (siehe 4.7 Der polyphone 'Hörspielchor' in Peter Seilars' Ajax) konnten wir feststellen, daß er zur stimmlichen Darstellung bzw. Erweiterung der Hauptfigur dient. Er ist damit allerdings anders als in Marat/Sade nicht eigentlich innere Stimme, wohl aber Dolmetscher zur Umwelt. In Hölderlin von Peter Weiss treten verschiedene Chöre auf.19 In der 6. Szene ist der erstmals als feste Figur auftretende Chor ("Auf einem erhöhten Platz befindet sich der Chor." S. 107) nicht nur auf Hölderlins Seite; er stellt vielmehr eine innere Stimme Hölderlins dar: Die Aufgabe des Chors ist es, Hölderlins eigene Vision und Stimme zu erweitern. Was vom Chor ausgesagt wird, nehmen die Zuhörer auch als Äußerungen Hölderlins auf. 20

Der Chor stellt in dieser Szene, in der es um Hölderlins Drama Empedokles geht, einfache, grundsätzliche Fragen an Hölderlin, zeigt damit quasi die innere Logik seines Denkens und übernimmt dann zunehmend die Erzählung des Dramas, wobei 18

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Das Wunder durch die Liebe ereignet sich ganz am Ende des Stückes, es wird durch folgende Regieanweisung beschrieben: "Der Chor beginnt nun, Wörter zu suchen, Sätze und Teile von Sätzen, die das Wunder beschreiben, Wörter aus allen Sprachen der Erde und Wörter, die noch nie ein Mensch gesprochen hat und die es nicht gibt: sie versuchen, neue Wörter, eine neue Sprache zu erfinden. So entsteht ein großes, anschwellendes, hinund herwogendes Reden und Fragen, Erklären, Beteuern und Lobpreisen. Während dieses unablässigen Geredes dreht sich Heinrich und löst sich allmählich aus seinen Verbänden heraus. Sind Flecken und Verfärbungen der Stoffbahnen denn der Abdruck seiner Wunden, das Abbild seines geschundenen Körpers? Nein, mehr und mehr erkennen wir jetzt, daß es ein Abbild der Welt ist, durch die Heinrich und Elsa gegangen sind bis hierher: Berge, Hügelketten, Seen, Flüsse, Städte und Dörfer, Felsgebirge, Wälder, Meer und Himmel." (S. 99). Am Ende gibt es ein Tableau aller Darsteller, ähnlich dem Ende in Marat/Sade, oder an anderer Stelle auch eine illustrierende Pantomime. Die Chöre am Ende der 5. Szene bilden sich aus (anonymen) Gästen und aus der Szene bereits bekannten Einzelfiguren; Weiss schafft damit etwas ähnliches wie die von Brecht angestrebten flexiblen Chöre von freiwilligen Einzelnen, deren momentane Gemeinsamkeit dadurch stilisiert überzeichnet hier gegenüber dem unverstandenen und stumm bleibenden Hölderlin - theatralisch deutlich wird. Regieanweisung S. 107.

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einzelne Figuren aus dem Chor heraustretend Gestalten in dem Stück darstellen, das Drama ansatzweise sogar spielen. Wenn Hölderlin erschöpft v o m Erleben der imaginären Szene kurz vor Ende dieser Szene abgeht, bleibt der Chor mit den Zuhörern auf der Bühne, er fuhrt das Gespräch im Sinne Hölderlins fort - die Dichtung lebt auch ohne den Schöpfer weiter. Die Besonderheit dieses Chores als innere Stimme, die zur differenzierten Darstellung des Innenlebens der Figur Hölderlin dient, ist, daß die innere Stimme als Ausdruck des dichterischen Werkes nicht subjektiv begrenzt bleibt, sondern eine gewisse Objektivität erreicht; sie findet ihren realen Niederschlag im Werk des Dichters. Der Chor in Gerlind Reinshagens schon erwähntem Stück Drei Wünsche frei (siehe S. 121) dagegen bleibt, sofern er innere Stimme ist, ausschließlich an die Figuren gebunden und ist damit ephemere Beigabe durchschnittlicher Menschen: Auch ist es denkbar, daß zeitweise die Stimmen/Geräusche keine realen sind, sondern, je nach der inneren Verfassung der Personen halluzinierte. Auf jeden Fall beeinflussen sie als eine Art Musique concrète - deutlich das Verhalten der Figuren.21 Allerdings sind diese inneren Stimmen keine individuellen, emotionalen Äußerungen, sondern spiegeln als Hymnen, "Männersprüche" usw. eher den gesellschaftlichen Druck auf den Einzelnen wider. Subjektiver ist der Chor in T.S. Eliots The Family

Reunion

(Der Familientag).

von Die Eumeniden

In dieser modernen, christianisierten Version

existiert der Chor als personifiziertes (schlechtes) Gewissen der

Hauptfigur nur für diese. Auch in Dorsts Die Legende

vom armen Heinrich

ist der

Chor, wie wir bereits bemerkten, teilweise innere Stimme, wodurch er mit dem Chor im Nö-Theater eine gewisse Ähnlichkeit zeigt. 22 21 22

Regieanweisung S. 274. Im traditionsreichen japanischen Nö-Theater besteht der Chor aus acht Mitgliedern, die während der Aufführung am Rande der Bühne in zwei Reihen unbeweglich am Boden sitzen. Sie sind nur durch ihre Stimmen bei monoton psalmodierendem Gesang - auch von Musikern begleitet - am Geschehen beteiligt. Entsprechend dieser 'Körperlosigkeit' stellt der Chor keine Figur im Stück dar, sondern ist eher sprachmusikalische Begleitung v.a. der Hauptfigur, 'Shite'. Das zeigt sich auch darin, daß er nie genauer (etwa als "Chor junger Frauen") charakterisiert ist. Der Chor übernimmt teilweise Formulierungen der Figur und entwickelt diese weiter, führt Sätze der Figur weiter oder umgekehrt, die Verbindung ist in diesen Fällen eine sehr enge, der Chor bringt auf lyrische Weise das Innenleben der Einzelfigur zur Geltung (oder deren spirituelle Verbindung mit der Welt), während der Einzeldarsteller sich im Tanz ausdrückt. Der Gebrauch des Chores scheint durchaus praktische Gründe als Ursache zu haben: "Ursprünglich sang der Shite selbst während seines Tanzes. Dann wurden die 'dö-on' eingeführt (unisono-Sänger), um seinen Gesang zu verstärken, während seine ganze Kraft von seinem Tanz in Anspruch genommen wurde. Später übernahm der Chor den Text des Schauspielers als Ersatz für seinen Gesang." (Bülow S. 84). Ähnliches - in umgekehrter Richtung - war bei Mnouchkines zu beobachten, wo wegen des intensiven Chortanzes die Texte nur von der Chorführerin gesprochen werden. Der Chor ist wie die Musiker rein technisches, abstraktes Mittel und wie das gesamte NöTheater ein hochartifizielles 'Kunstprodukt'. Bei allen Unterschieden zum griechischen Theaterchor dürfte gerade die Nichtexistenz einer Figur Chor in der Handlung eine deutliche Parallele darstellen: Im Kontrast mit volksähnlichen Chören im abendländischen Theater, die in der Aristoteles-Nachfolge eine dramatis persona darstellen sollen, kann die Berücksichtigung des Nö-Chores viel zum Verständnis des antiken Chores beitragen, gerade weil wir und unsere Forschung so vom

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6.6 Weitere Beispiele für die Überbrückung der Distanz zwischen Bühne und Publikum durch den Chor Peter Weiss macht in Marat/Sade den Chor nicht nur zum betroffenen Zuschauer, sondern versucht gerade über den Chor das reale Publikum indirekt anzusprechen. Brecht hatte in den Aufiührungen der Lehrstücke sogar versucht, Publikum und Chor zu einer Einheit zu verbinden. Auch in Max Reinhardts Arenainszenierungen ist eine, allerdings rein emotionale, Annäherung von Chor und Zuschauern angestrebt. In den beiden unbekannteren und relativ erfolglosen Dramen seiner Trilogie des 'Theaters auf dem Theater' strebte Luigi Pirandello eine Vermischung von Chor und Publikum an, genauer, das Publikum soll zum Chor werden. In Ciascuno a suo modo {Jeder auf seine Weise) treten in zwei 'choralen Zwischenspielen', in denen auf der Bühne das Theaterfoyer nachgebaut ist, Zuschauer und Kritiker auf, die als anonyme Einzelne oder in Gruppen für und gegen das Stück streiten, schließlich wird das Stück nach dem zweiten Zwischenspiel abgebrochen. In Questa sera si recita a soggetto (Heute abend wird aus dem Stegreif gespielt) geht es um die Auseinandersetzung des Regisseurs mit den Schauspielern und dem Publikum, wobei nun die Darsteller des Publikums tatsächlich im Zuschauerraum sitzen. Bei der Berliner Erstaufführung 1930 kam es - eigentlich im Sinne und zur Bestätigung des Stückes - zu einem Theaterskandal.23 Das Publikum wurde damit tatsächlich aktiv, allerdings nicht als begleitender Chor. Pirandello geht mit seinem chorischen Publikum einen Schritt weiter als ältere Dramatiker des Theaters auf dem Theater, etwa Tieck in Der gestiefelte Kater, da nun das Publikum anonym bleibt und somit zum, scheinbar unkoordinierten, Chor (mit teilweise nicht zuweisbaren Einzelstimmen) wird, und da Pirandello, wie Brecht - jedoch mit anderen Motiven - den Übergang in das reale Publikum anstrebt. Kurt Hübners Bremer Antigone von 1966 suchte auch mit Hilfe des Chores eine Verbindung mit dem Publikum herzustellen. Es geht jedoch nicht um eine Vermischung, sondern eher um einen intensivierten Dialog zwischen Bühne und Zuschauerraum. Im Parkett und auf den Rängen des Theaters sitzen 16 griechisch kostümierte Chordarsteller. Von ihren Plätzen aus sprechen sie einzeln oder in Gruppen mit den Darstellern auf der Bühne und gehen auf das Publikum ein, mit Fragen wie "Was hättest du getan?". Dieser rein sprachliche und nüchterne Chor (ohne Musik) dient zur Vergegenwärtigung der antiken Tragödie über die Rampe der Guckkasten-

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abendländischen, dramatischen Theatermodell geprägt sind. Gemessen an seinem Status in der Institution des Nö-Theaters und in den Auffuhrungen im Verhältnis zu Protagonisten und Publikum gleicht der Nö-Chor eher dem antiken Theaterchor als mancher abendländische der letzten Jahrhunderte. Der Chor im japanischen Theater ist noch deutlicher als der antike Theaterchor durch seine Funktion bestimmt, eine Charakterisierung als Figur im jeweiligen Drama ist nicht möglich bzw. sinnlos. Der entscheidende Unterschied ist allerdings seine lyrische Fixierung und unkritische Verschmelzung mit den Einzelfiguren sowie seine Körperlosigkeit. Bei den Uraufführungen der anderen beiden Stücke der Trilogie, von Sei personaggi in cerca d'autore (Sechs Personen suchen einen Autor) und von Ciascuno a suo modo (Jeder auf seine Weise) in Rom bzw. Mailand kam es ebenfalls zum Skandal.

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bühne hinweg.24 In gewisser Weise wird dieser 'Zuschauerchor' zum historische Ebenen verbindenden Chor, wie auf weniger offensichtliche Weise bei Heyme. Auch Peter Brook postierte den Chor in seiner Inszenierung von Senecas Oedipus 1968 in London im Zuschauerraum. Die Choreuten sind anfangs an die Säulen unter Galerie und Rängen gelehnt und bewegen sich im Zuschauerraum; der Chor äußert sich teilweise unartikuliert in Urlauten, Zischen, Summen usw., ist jedoch (auch mit Unterstützung elektronischer Musik) musikalisch "orchestriert" (Esslin S. 8). Er bringt das kultisch-rituelle Element der Inszenierung auch 'unter' die Zuschauer; hier geht es um eine Annäherung einer archaisierenden Inszenierung an die Zuschauer mit Hilfe des Chores als verbindendes, aber dennoch artifizielles Mittel. Im amerikanischen Avantgarde-Theater der 60er Jahre dagegen wird eine Verbindung von Darstellern und Zuschauern im Extrem angestrebt bzw. vollzogen. Schon bei Pirandello ist der Übergang von Kunst in Alltagsrealität angedeutet und damit der Wandel vom Theater ins Happenning, wie er sich dann bei Julian Becks und Judith Malinas Living Theatre oder Richard Schedulers Performance Group (siehe oben S. 121) darstellt. In Paradise Now des Living Theatre konnten Mitglieder des Publikums an einer Massenumarmung mit engem Körperkontakt (fast bis hin zu sexueller Vereinigung) teilnehmen.25 Auch der Wiener Aktionskünstler Hermann Nitsch plante für sein 6 tage-spiel eine Teilnahme der Zuschauer an der Aktion, wobei er auch einen Chor einsetzt.26 Im Happening, das die Grenzen zwischen Zuschauern und Darstellern aufheben will, sind auch die Rollenfiguren zugunsten der Person des Darstellers in den Hintergrund geraten, das Ensemble stellt ein gleichberechtigtes Kollektiv dar. Das Happening hat an sich, abgesehen vom Gruppenchrakter in diesen Beispielen, grundsätzlich chorähnlichen Charakter, als es dabei nicht um Figuren oder Rollen geht, sondern um die Darsteller selbst in einer öffentlichen Aktion.

6.7 Der Chor als Gruppe aller Darsteller In Brechts Antigone ist durch das Sitzen auf der Bank angedeutet, daß der Chor und alle Darsteller ein Ensemble sind, das sich den Figuren nur kurzzeitig "ausleiht". Auch bei Meyerhold und Marthaler konnten wir schon 'chorische' Ensembles beobachten. Die Kasseler Antigone von 1969 in der Regie von Kai Braak stellt im Bereich von Antikeninszenierungen und Darstellungen des Chores ein bemerkenswer-

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Die Protagonisten auf der Bühne wirken durch Licht von unten und vor einem monumentalen Kopf als Hintergrund der Bühne wie Marionetten; die Bilder der Hauptdarsteller erinnern an die abstrakten Inszenierungen Sellners, außerdem greift Hübner auf die anspruchsvolle Hölderlinbearbeitung zurück. Augusto Boals südamerikanisches 'Theater der Unterdrückten' kennt in Anlehnung an Brechts Lehrstücke keine Zuschauer, nur gleichberechtigte Spieler. Die Partitur für die "DIONYSOS-Iiturgie" am dritten Tag im Schlachthaus sieht vor: "Die Zuschauer wälzen sich schreiend auf den gedärmen, auf dem fleisch und in den blutlachen. Sie trampeln auf den blutigen gedärmen herum. / geschrei des chores / lärm des Orchesters / geschrei und getrampel der Zuschauer" (S. 296f.).

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tes Beispiel für spielerische, flexible Gruppentheaterarbeit dar.27 Als zweiter Teil der Doppelinszenierung - der erste Teil war die traditionell im Sellner-ähnlichen Stil inszenierte Hölderlinbearbeitung Antigonae in der Regie von Ulrich Brecht - erarbeiteten unabhängig von der anderen Inszenierung acht Schauspieler (davon drei Frauen) mit dem Regisseur und der Souffleuse in einem kollektiven Probenprozeß eine Aufführung der modernen Übersetzung von Claus Bremer, als eine "Gruppe, die gemeinsam 'Antigone' spielt." (Probennotizen in Sophokles / Hölderlin / Bremer S.l 15). Die Zuteilung der Rollen ist flexibel, auch Einzelfiguren werden von mehreren gespielt, mit aufgeteilten Texten und chorischem Sprechen - der Chor teilweise auch nur von einem Darsteller.28 Beim chorischen Sprechen geht es dabei nicht um präzises Unisonosprechen: "Die 'Verwischung' ist einkalkuliert" (S. 118).29 Die Darsteller zeigen die Künstlichkeit der Darstellung, wobei die Spontanität der Probenarbeit in der wiederholten Aufführung künstlich konserviert ist.30 Entsprechend einfach ist die Bühne gehalten, die untere Ebene auf der Höhe der Zuschauer, die schmale höhere Ebene vor einer Wand, auf die der alleinige Choreut des 1. Stasimons mit Kreide die Worte "Nichts hat mehr Möglichkeiten als der Mensch" schreibt.31 Entsprechend der Textvorlage geht es in der insgesamt chorischen Inszenierung um die Vergegenwärtigung des Textes durch verfremdende Darstellung: Die Aufführung endet, wie sie angefangen hat: Wir sind wieder die Schauspieler, die Grappe, die sich die letzten Sätze des Chors vergegenwärtigt und für sich in Frage stellt. (S. 120)32

Die 'Chorisierung' des Stücks fuhrt auch zu einer Öffnung zum Publikum und dem Alltag. Bei Antigones Gang zum Grab, bei dem Antigone von jeweils einem Darsteller gespielt wird, trinken die anderen im kommentierenden Chor Cola und Bier. Diese Trivialisierung verweist auf die Würstchen mit Senf in Castorfs Alkestis (siehe unten S. 182). Die Parallele zu Castorf dürfte jedoch tiefer liegen, die Öffnung des Chores für die Einzelfiguren und seine Ausweitung auf das Ensemble sind nämlich auch Aspekte der Auflösung des Chores in Einzelfiguren, sein Ende als klar umrissene Figurengruppe in der Aufführung. In Peter Weiss1 Marat/Sade sind die Übergänge zu Ausrufer und Sängern teilweise schon fließend, andererseits weitet sich der

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Ein künstlerisch weniger wichtiges, jedoch politisch um so engagierteres Beispiel ist Günther Wallraffs szenische Dokumentation Nachspiele, 1986 bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen uraufgeführt. Alle der "beliebig vielen" (S. 5) Darsteller sollen sich die Rollen teilen, in der Tradition des Agitprop setzt Wallraff Sprechchöre ein. In den aufschlußreichen Probennotizen heißt es dazu: "Individuelle Aussagen könnten chorisch behandelt werden. Aussagen des Chors individuell." (S. 115). Die gemeinsamen Chorpassagen am Anfang oder Ende der Szene, die "Vorhangchöre behandeln wir immer gleich: jeder spricht mit seinem eigenen Tempo und seiner eigenen Melodie. Einzige Spielregel: erst mit der neuen Zeile anfangen, wenn alle mit der vorigen fertig sind." (S. 120). Genau diese Inkonsequenz beklagen auch einige der Schauspieler in der Dokumentation. Darunter schreibt ein anderer: "Peter ist doof 1 , unter Gebrauch des Vornamens des Chordarstellers. Auch der Chor in Steins Agamemnon versucht, wie wir sahen, sich den Text zur "vergegenwärtigen", allerdings ohne ihn in Frage zu stellen. Vielmehr bietet gerade der Text die Gewähr für die Existenz des Chores. 163

Chor am Schluß auch auf (fast) alle andere Figuren aus. Der Chor entsteht aus einer Spielgruppe heraus - die "Schauspielergruppe" taucht schon im Titel auf - die bei Weiss allerdings innerhalb der spielerischen Fiktion bleibt und damit reines Kunstprodukt ist. 33 Das Kasseler Antigone-Ensemble dagegen hat zum Ziel, "daß sich etwas von unserer nicht-autoritären Arbeitsweise" (S. 123) auf die Zuschauer überträgt. Zentrum der Inszenierung, die allerdings auch vom ästhetischen 'Resultat' der Auffuhrung her Beachtung verdient, ist die gemeinsame Probenarbeit und deren gesellschaftspolitische Bedeutung: Ein Stück, in dem eine durch die damalige Gesellschaft definierte Gruppe, der Chor, eine so große Rolle spielt, legt es nahe, eine Zusammenarbeit zu versuchen, die unserer Auffassung vom Zusammenleben in der Gesellschaft heute entspricht. (S. IIS) Der Chor ist hier also nicht nur ein künstlerisches Problem, sondern auch ein gesellschaftliches Modell und damit, jedenfalls in einer Idealvorstellung, prägend für die Institution Theater.

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Ein chorisches Ensemble als Rahmen für ein an sich 'unchorisches' Stück findet sich auch in George Taboris Die Kannibalen.

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Exkurs: Institutionelle und organisatorische Fragen des Chorgebrauchs

Das Kasseler Antigone-Team ist mit seiner kollektiven Arbeitsweise und dem über die Auffiihrung hinausreichenden Anspruch bezeichnend für die späten 60er und frühen 70er Jahre, die Phase der Mitbestimmung an deutschen Theatern. Es dürfte auch kein Zufall sein, daß ähnliches für weitere bedeutende Chorinszenierungen gilt. Mnouchkines Ensemble arbeitet als Kollektiv - wobei wir gerade bei Les Atrides auch die Bedeutung des 'infrastrukturellen' Rahmens für die Rezeption der Inszenierung andeuteten - ähnlich wie die Berliner Schaubühne mit ihrem Mitbestimmungsstatut, wo Stein die Orestie und Griiber Die Bakchen inszenierten. Die enge Verbindung von Institution Chor und der Figur im Spiel ist in Brechts Lehrstücken bzw. dem linken 'Theater der Kollektive' der 20er Jahre vorgeprägt. Insgesamt ist diese Verbindung für Inszenierungen von Chören bzw. die Organsation von Theatern für das etablierte deutsche Stadt- und Staatstheater allerdings wenig bestimmend. Der Chor im deutschen Theater hat keinerlei institutionellen Sonderstatus; die Versuche des Kasseler Antigone-Ensembles oder das Mitbestimmungsmodell blieben eine allerdings bemerkenswerte, zeitlich begrenzte Ausnahme. So bleibt letzten Endes nur die Beschränkung auf den rein künstlerischen Bewältigungsversuch für das Problem Chor. Im Sprechtheater, auch im institutionell und finanziell vergleichsweise gut ausgestatteten deutschen Theater, gibt es, anders als selbst an kleinen Opernhäusern, keine festen Chorensembles.1 Die Marginalität der Institution Theaterchor zeigt sich auch daran, daß chorisches Sprechen in der Schauspielausbildung keine Rolle spielt. Traditionell ist der Chor demnach im Sprechtheater nicht eingeplant. Auch in der vermeintlich auf Kollektiven aufbauenden DDR gab es keine Bemühungen in dieser Richtung. 2 Chöre werden in der Regel von jungen, unbekannten Schauspielern oder Schauspielschülern gespielt.3 Es gibt jedoch auch Beispiele für die Darstellung von Chören durch namhafte Schauspieler; Besson setzte im Ödipus Tyrann ganz bewußt

Siegfried Melchinger schreibt 1974 zum griechischen Nationaltheater in Athen, "dem Ensemble wurde ein professioneller Chor, wohl der einzige Schauspielerchor der Welt, angegliedert." (Aischylos S. 459). Für heute konnten wir für ein solches Ensemble jedoch keine Bestätigung finden. Das wurde bei einem Kolloquium des Theaterverbandes der DDR anläßlich der Schweriner 'Antike-Entdeckungen' 1983 deutlich. In einem Erfahrungsbericht zu den Schweriner Inszenierungen äußerte die Dramaturgin Bärbel Jaksch: "Es gibt also weder eine lebendige Aufführungstradition noch eine spezielle Ausbildung schauspielerischen Handwerks für Anforderungen dieser Stücke; das macht den Umgang mit Chören zum zentralen Problem jeder Inszenierung" (Stiftung S. 1). Anders als Komparsen nicht von Laien.

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"erste Schauspieler" ein, 4 Stein in der Orestie ebenfalls, wobei hier Darsteller ohne Solorolle im jeweiligen Stück der Trilogie in den Chor rückten. Auch in den anspruchsvollen, kleineren Chören Heymes sind erfahrene Darsteller gefordert. Max Reinhardt war für seine Massenchöre aus praktischen Gründen auf Laiendarsteller, die von Profis geführt wurden, angewiesen; anders politische Massenspektakel oder Theater der Laienspielbewegung, wo der Laie Teil des Programms ist. Auch Einar Schleef griff in Die Mütter auf Laien zurück, ebenfalls mit voller Absicht. Die institutionelle 'Freiheit' des Theaterchores scheint also durchaus auch Chancen für immer neue Ansätze zu bieten, sie wirkt gegen eine Erstarrung durch verkrustete Strukturen. Andererseits wäre sicherlich gerade in Produktionen kleinerer Theater zumindest eine schauspielerische Chor-Grundausbildung hilfreich für die Qualität von Theaterchören. Das Sprechheater dieses Jahrhunderts unterscheidet sich von dem vorangegangener Jahrhunderte durch die herausragende Rolle des Regisseurs und - davon nicht zu trennen - durch die große Bedeutung des Ensemblespiels. 5 Durch den Ensemblegedanken und die daraus folgenden Theaterstrukturen sind - auch ohne ausgeprägten, fest institutionalisierten Chor - die Grundlagen für den Einsatz des Chores erst geschaffen. Der von der Regie 'ernstgenommene' Chor ist Fortsetzung des Ensemblegedankens und profitiert von ausgebildeten Schauspielern, die nicht unbedingt Stars sein müssen. Der Chor erfordert wegen seiner besonderen, ungewohnten Anforderungen an ein kollektives Spiel eine besonders intensive Probenarbeit. Es dürfte kein Zufall sein, daß zahlreiche der von uns hervorgehobenen Chorbeispiele im Theater dieses Jahrhunderts ungewöhnliche lange Probenzeiten hatten.

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Siehe oben S. 145, Anm. 22. In Der Frieden besetzte er den Chor älterer Bürger dagegen, sicherlich auch absichtlich, mit Schauspielschülern. Unter beiden Aspekten stellt Max Reinhardt für Deutschland den wichtigsten Neuerer dar. Das chorische Ensemble bei Braak oder Marthaler ist die noch weitergehende Umsetzung des Ensemblespiels.

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7. Auflösung des Chores in Antikeninszenierungen, Anti-Chöre und Renaissance chorischer Elemente im zeitgenössischen Theater1

[...] die gelernten Chöre singen nicht mehr [...] (Heiner Müller) Habt ihr in den Nächten das schreckliche Heulen dieser Wachspuppen gehört, die in den Jahrmarktsbuden eingesperrt sind, den traurigen Chor dieser Rümpfe aus Holz und Porzellan, die mit den Fäusten gegen die Wände ihrer Kerker trommeln? (Bruno Schulz, Traktat über die Mannequins)

7.1 Der Anti-Chor in Christof Neis

Äntigone-kiszemerung

Ende der 70er Jahre gab es eine intensive Auseinandersetzung des deutschen Regietheaters mit der antiken Tragödie, 2 die eine Krise auch in der Behandlung von deren fremdesten Element, dem Chor zeigt. In Christof Neis Frankfurter Inszenierung der Hölderlinfassung der Antigone

von 1978 sind die Texte des Chores weitge-

hend gestrichen, nur zwei Lieder (darunter auch das berühmte 1. Stasimon) werden von einer Schauspielerin vorgelesen und damit v o m übrigen Spiel isoliert. Ansonsten ist eine Gruppe von sechs Figuren eingesetzt. Nel löst den Chor also nicht vollständig auf, er reduziert jedoch die Texte und trennt sie von der chorischen Gruppe. Sie ist nach außen hin eine Einheit, setzt sich aus verschiedenen Figuren zusammen, die allerdings aus einem sich ähnlichen, klischeehaften Personenkreis

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Dem Thema entsprechend ist dieses Kapitel selbst 'aufgelöst', da nicht in demselben Maße wie in den anderen Kapiteln ein Hauptbeispiel im Zentrum steht (Frank Castorfs Alkestis stellt allerdings insofern doch das Zentrum dieses Kapitels dar, als an diesem einen Beispiel die innere Verbindung der vermeintlich gegensätzlichen Kapitelteile "Auflösung und Antichöre" gegenüber "Renaissance" besonders deutlich wird). Wichtige Beispiele für den zweiten Teil dieses Kapitels, Schleef und Marthaler, wurden zudem schon in vorigen Kapiteln ausführlicher behandelt. Schließlich geht es uns in dem Kapitel stärker als in anderen um die historische Einordnung des Chorgebrauchs, auch wegen der damit verbundenen Einschätzung der Perspektiven des Chores oder chorischer Elemente im zukünftigen Theater. Flashar spricht vom "Antigone-Jahr 1979" (Inszenierung S. 252), in diesem Jahr waren drei der zehn auf das Berliner Theatertreffen eingeladenen Inszenierungen des deutschen Repertoirebetriebs ^niigone-Inszenierungen. Zudem inszenierte Heyme, wie erwähnt, im selben Jahr das Stück in Indien. Emst Wendt wie Nils Peter Rudolph verkürzten den Chor weitgehend auf eine Figur, die dritte Inszenierung ist die von Christof Nel. 167

kommen. Es sind eine Stripperin, ein Tourist in kurzen Hosen, ein Rocker, ein Kamevalsfunktionär und zwei Komiker oder Clowns. Gegenüber den Protagonisten zeichnen sich diese Spaßfiguren, der "Ersatzchor" (Flashar Inszenierung S. 250, auch Rischbieter S. 40) durch ihre Banalität aus. Sie sprechen oder singen keinen Hölderlin-Text, sondern beginnen mit dem Lied "Wenn ich vergnügt bin, muß ich singen". Schlager, Witze, Zoten und kölsche Kamevalssprüche stehen nicht nur im Kontrast zum Spiel der Einzelfiguren, sie wirken sich auch zunehmend vergewaltigend auf sie aus: Rüde platzen die Trivial-Figuren in die Szenen, ordinäre Witze reißend, gnadenlose Kalauer herausbrüllend. Sie steigern das gemeine, bösartige Trallala bis fast zur Unerträglichkeit.3

Neis 'Anti-Chor' entwickelt keinerlei Beziehung zum tragischen Geschehen und dessen Protagonisten, er bleibt oberflächlich und hört nicht zu; statt teilnehmender Außenstehender zu sein, wird er zum unmenschlichen Widerpart aller Protagonisten.4 Dieser Chor wird bei seiner der zeitgenössischen Vergnügungskultur entnommene Trivialität zum Ende hin brutal: Antigones Todesgang wird zum Eingekleidetwerden und erzwungenen fröhlichen Tanz mit dem Chor. Auch Kreon wird zum Opfer der ignoranten Spaßkultur, am Ende wird er gezwungenermaßen in die Mitte auf der Bank inmitten des Spießer-Chores gequetscht. Relativiert wird das negative Bild des Anti-Chores jedoch dadurch, daß er neben der oberflächlichen, unsensiblen Seite auch andere Aspekte in der Inszenierung zugewiesen bekommt. Der vom Gesetzesverstoß berichtende Wächter und der Bote von Antigones, Haimons und Eurydikes Tod werden jeweils von einem der Choreuten gespielt; der Wächter ist ängstlich, beim Boten ist nicht auszumachen, ob er sich vor Lachen oder Heulen am Boden windet, er selbst scheint seine Rede nicht zu verstehen. Neben diesen kontrastierenden, irritierenden Momenten innerhalb des Chores, gibt es noch die beiden ruhigen, konzentrierten Stellen, in denen der Chortext zweier Lieder vorgelesen wird - von einer Schauspielerin, die nicht zur Chorgruppe gehört; hier ist ein (hilfloser) Gegenentwurf zum lauten, dummen Chor angedeutet. Der Chor steht also ganz im Gegensatz zu den Protagonisten, die nicht schwarzweiß charakterisiert sind, sondern ernsthaft, verständnisvoll, dem fernen Text nachforschend (auch in der behutsamen Sprechweise). Die Ignoranz und Grausamkeit des Chores knüpft kritisch an die Unterhaltungskultur der Gegenwart an und zeigt die fast tragische Distanz zur ernsthaften griechischen Tragödie, die in der Übersetzung Hölderlins besonders deutlich ist. Nel thematisiert die Schwierigkeiten im Umgang mit dem antiken Theaterchor und setzt diese produktiv ein. Damit wird er zwar dem antiken Chor für sich genommen kaum gerecht, ob er jedoch die Tragödie beschädigt und ridiculisiert (Flashar Inszenierung S. 250), ist zu bezweifeln. Viel3 4

Iden Frankfurter Rundschau 6.11.1978. Dies läßt sich an der 'Touristen'-Metapher für den Chor verdeutlichen: Wie wir sahen, läßt sich der antike Chor - exemplarisch in Euripides' Iphigenie in Aulis - als scheue, neugierige Touristengruppe ansehen. In einigen Kritiken wird Neis Chor auch als "Touristen" bezeichnet; bei dieser Art von Touristen handelt es sich jedoch um intolerante, unflexible 'Eroberer1, die nicht willens oder fähig sind, in der fremden Umgebung dazuzulernen.

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mehr setzt Nel seine Schwierigkeiten künstlerisch um und schafft daraus eine originäre Lösung für das Chorproblem. Sein Anti-Chor ist keine Verweigerung der Auseinandersetzung mit diesem 'antiquierten' Theaterinstrument, auch handelt es sich nicht ausschließlich um eine vereinfachende Kritik der Gesellschaft der späten 70er Jahre, sondern um einen organisierten, berechneten Bestandteil der gesamten Inszenierung. Nel und sein Dramaturg Urs Troller suchen ein Äquivalent für den Sonderstatus des Chores in der Gegenwart;5 ihr Chor ist nicht nur eine Pflichtübung in einer Antikeninszenierung, sondern ex negativo Ausdruck der Suche nach neuen Formen und Inhalten bzw. künstlerische Darstellung der Probleme mit einem alten Theatermittel unter Einbeziehung gegenwärtiger gesellschaftlicher Zustände. Der Chor in Antigone ist streckenweise in Einzelne aufgelöst, teilweise agiert etwa die Untergruppe der beiden Komiker, andererseits ist er auch streng chorisch eingesetzt: Trostlos die unnachgiebige Präzision, mit der sie, gedämpft und strikt rhythmisiert, ihren Song trällern und tanzen.6

Die Chorkultur wird hier nicht nur parodiert, sondern in der negierenden Übertreibung mit neuen Funktionen versehen: Der hohle Anti-Chor wertet die Einzelfiguren wie die ferne Tragödie insgesamt auf, er dient zugleich zur Kritik an der Gegenwart. Indem er sie als oberflächlich und inhuman entlarvt, bringt er zugleich das Ferne näher.7 Ob dieses Konzept für die Behandlung des Antikenchores weiterentwickelbar ist, muß bezweifelt werden; eher stellt es eine interessante Lösung dar, deren Weiterführung jedoch in eine Sackgasse führen könnte, denn eine weitere Entwicklung von Neis Anti-Chores ohne das Unkenntlichwerden des Ausgangspunktes antiker Theaterchor - ist kaum denkbar. Neis Ansatz ist jedoch nicht nur originell,8 sondern auch eine ehrliche "Selbstreflexion des Regietheaters" (Erken Regietheater S. 372). Er ist konsequenter und ehrlicher als etwa Noelte (siehe oben S. 122) mit seinem kaum präsenten, aber als klassischem Chor 'verkleideten' Chorfragment.9 Auch kehrt er das Verhältnis vieler Antiken-Inszenierungen von Protagonisten zum Chor um, daß nämlich der Chor

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In einem Interview äußern sie. "Ja, wir haben gefragt, wo gibt es denn heute noch quasi Trivialmythen, oder genauer: wo gibt es heute Vorgänge, bei denen bestimmte gesellschaftliche Sachverhalte auf eine kollektive, gleichmäßige Wahrnehmung stoßen, also wo sich eine dem antiken Vorgang vergleichbare Form von Einheit der Bühne und des Zuschauerraums noch herstellt." (S. 37). Sie stellen auch fest, das antike Stück basiere "auf der kultischen Übereinkunft, auf etwas, was wir nicht mehr herstellen können. Dadurch sind wir eigentlich erst an diese Chorlösung herangekommen." (S. 33). Rischbieter S. 32. Darin ähnelt er den historisierenden Chören, besonders dem auf fragwürdige Weise vermittelnden Chor in Lore Stefaneks Freiburger Antigonae (siehe oben S. 143f ). Gerhard Stadelmeier schreibt: "Die bewußt provozierte Unerträglichkeit der Chorszenen ließ denn auch fast ein Kunst-, ein Theaterwunder sich vollziehen." (Stuttgarter Zeitung 7.11.1978). In dem Interview (siehe oben Anm. 5) sagen Nel/Troller, daß die Chöre "keinem Menschen mehr ganz verständlich sind."(S. 33). Allerdings machen sie es sich selbst mit der Hölderlin-Übersetzung - unnötig oder absichtlich - schwer. Das pure Lesen der beiden Lieder verdeutlicht die erwähnte Überforderung durch den Text. 169

stiliserter und - wie die Textvorlagen es nahelegen - fremdartiger spricht.10 Ein anderer wichtiger Aspekt ist die Unterscheidung zwischen Chortext bzw. seinem Sprecher und der Figur Chor in der Auffiihrung. In Neis Antigone ist der Chor bei allen inhaltlichen Änderungen zwar aufgelockert - deutlich auch dadurch, daß eine Frau den Männerchor 'unterwandert' - bleibt allerdings insgesamt als geschlossene Gruppe erhalten. Der Text dagegen ist zum einen Teil vollständig aufgelöst, d.h. gestrichen, zum anderen (beim Vorlesen) soweit unangetastet, daß quasi seine Nichtaufführung aufgeführt wird.

7.2 Weitere Beispiele für die Auflösung des antiken Chores In Barbara Bilabels Hamburger Medea von 1981 wurde der Chor auf eine Frau reduziert. Sie spricht die Chortexte und begleitet als meist mitfühlende Beobachterin Medeas Schicksal." Dabei nähert sie sich auch räumlich Medea immer mehr. Insgesamt zeichnet sich diese 'Chorfrau' allerdings nicht durch eine klare Linie aus; sie wechselt mehrfach das Kostüm und schwankt zwischen intensivem Mitleid und ignorantem Mißachten der Situation. In jedem Fall ist sie ein sehr privater Chor, da sie ausschießlich auf Medea fixiert ist; das Schlußwort aus deren Wohnzimmer direkt an das Publikum paßt deshalb nicht zum Übrigen. Die Chorfrau hat außer dem Chortext kaum chorische Elemente, auch als Einzelfigur bleibt sie jedoch blaß. Bilabel überträgt jedoch außerdem auf andere Figuren oder Gruppen chorische Funktionen: Die Amme spricht den Prolog quasi als Erzählerin, sie bleibt das gesamte Stück über auf ihrem Stuhl hinter dem Mikrofon im Hintergrund der Bühne; ohne daß sie je wieder eingreift, rahmt sie so die Auffiihrung. Eine Punkband von drei jungen Männern, von denen zwei auch Medeas (ältere) Kinder darstellen, gliedert ebenfalls das Stück. Ihre Lieder strukturieren stärker als die Monologe der Chorfrau die Szenen, sie erweitem oder kontrastieren zudem durch ihre persönlichen, emotionalen Äußerungen (etwa "Ich bin ein Glückstreffer") das Geschehen. Während der Szenen kommentieren sie als Kinder durch immer neue Verkleidungen oder stumme Aktionen wie das Verbrennen einer Puppe das Geschehen. Schließlich wird auch das Publikum als Ansprechpartner von Medea teilweise zum Chorersatz. Ihre Monologe, besonders die Äußerungen über das Schicksal der Frau in der Gesellschaft, richtet sie direkt an das Publikum bzw. die Frauen im Publikum, gegen Ende setzt sie sich auch zwischen die Zuschauer. Möglich ist diese enge Verbindung durch die Nähe von Bühne und Zuschauerraum und der gleichen Höhe von Spielfläche und unterster Sitzreihe in einer Studiobühne, dem Malersaal des Hamburger Schauspielhauses. Was auf den ersten Blick wie die Reduzierung des Chores auf eine Figur erscheint, ist also die Verteilung chorischer Funktionen auf verschiedene

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Helga Meister konstatiert, um ein besonders deutliches Beispiel zu nennen, bei der Uraufführung von Franz Werfeis Die Troerinnen des Euripides 1916 am Berliner Lessingtheater unter Viktor Barnowsky den starken Kontrast zwischen realistischem Spiel der Protagonisten und dem Klassizismus des Chores, was "fast zu einem Stilbruch" (S. 69) führte. Für Rolf Michaelis benimmt sie sich "ganz wie die neugierig tratschsüchtige Nachbarin aus Eimsbüttel" (S. 35).

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Elemente der AufRihrung. Die Einzelfigur mit den Chortexten hat dabei wenig 'chorischen' Sinn, sie scheint v.a. die Aufgabe zu erfüllen, die Texte des Chores nicht ganz streichen zu müssen. In sich schlüssiger, zeitgemäß und mehr als eine lästige Pflichtaufgabe sind die erzählende Amme, die Musikband und die Einbeziehung des Publikums. Der Chor ist also auf verschiedene, getrennte Figuren verteilt, der Text jedoch auf eine Person beschränkt. Nils-Peter Rudolphs Antigone am Berliner Schillertheater reduzierte den Chor auf eine Frau. Der Vortrag der Chortexte in der insgesamt stilisierten Inszenierung ist vom übrigen Geschehen auch dadurch deutlich getrennt, daß für die Chorfrau (Rotraud de Neve, dieselbe Darstellerin, die in Neis Frankfurter Antigone die Titelrolle spielte) ein separater Raum, eine schwebende Plattform über der Bühne zur Verfügung steht. Es bleibt jedoch nicht bei dieser Isolation des Chores als Einzelfigur, in den Epeisodia hält sie sich auch auf der Bühne auf; außerdem gibt es eine Gruppe von Greisen, die wohl das Volk von Theben repräsentieren sollen. Auch hier ist also genau betrachtet die Auflösung des Chores in eine Figur nicht konsequent durchgeführt.12 In Roberto Ciullis Düsseldorfer Alkestis nach Euripides von 1979 gab es keinen Chor mehr. Das wurde möglich, da die gesamte Struktur stark verändert ist; es handelt sich bei der Textfassung um eine Bearbeitung Ciullis und seines Dramaturgen Helmut Schäfer. Das Stück ist dabei in eine Trauerparty voller Oberflächlichkeiten aufgelöst; dabei sind neue Personen wie die Mutter Admets oder ein Animateur eingeführt. In dieser zeitgenössischen, trivialen und privatisierten 'Tragödie' ist kein Chor mehr nötig; einige Chortexte werden eingeflochten, so memoriert Admets Mutter, eine ehemalige Schauspielerin, Teile der Parodos. Die Wirkung dieser konsequenten Aneignung des antiken Themas in Ciullis Alkestis ist allerdings gering, die Bruchlosigkeit führt eher zu Langeweile als zu Spannung und neuen Einsichten.

7.3 Zusammenfassung der aufgelösten Antikenchöre und ihre Einordnung in die Typologie des Chores Offensichtlich ist ein einfaches Streichen des Chores in antiken Stücken für eine Aufführung im 20. Jahrhundert nicht ohne weiteres möglich. Auch die Reduzierung auf eine Person führt - ein Gegenbeispiel ist uns nicht bekannt - zu unbefriedigenden Ergebnissen oder erweist sich, wie wir sahen, als nicht konsequent durchgeführt bzw. eigentlich als eine Aufteilung chorischer Elemente auf verschiedene Figuren oder Elemente der Aufführung (wie Musik oder Einbeziehung der Zuschauer). Neis Antigone bietet das außergewöhnliche Beispiel für einen aufgelösten, zum AntiChor gewordenen Chor, der jedoch eine Auseinandersetzung mit dem antiken Chor darstellt.

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Das düfte ein wichtiger Hinweis auf die zentrale Bedeutung des Chores in den antiken Stücken sein. Wendt löst den Chor in seiner Antigone tatsächlich in nur eine Figur auf, die Inszenierung galt allerdings auch als wenig gelungen. Auch Hans Neuenfels' sehr umstrittene Frankfurter Medea von 1976 reduzierte den Chor auf eine Frau.

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Andeutungen für aufgelöste Chöre finden sich über das ganze Jahrhundert hinweg (und schon vorher), auch bei von uns als 'vorbildlich' beurteilten Chorinszenierungen. Der Chor in Steins Agamemnon ist, abgesehen vom Text, der ihn 'garantiert' zusammenhält, fragil und streckenweise nahe der Auflösung;13 auch Heymes historisierende Chöre sind nicht immer eine streng geschlossene Gruppe, zumal sie auch teilweise in Sprache und Bewegung individualisiert oder zumindest differenziert sind.14 Gerade diese Spannung, bis hin zu einer Bedrohung des Chores, macht seit Brecht den Reiz und die Aktualität dieser Chöre aus. Bei Braaks chorischem Ensemble konnten wir berereits andeuten, daß die Ausweitung des Chores auf alle Figuren nur eine (Gegen-)Seite der Auflösung eines klar umrissenen Chores ist.

7.4 Der Chor in dramatischen Antikenbearbeitungen Auch die Mehrzahl der dramatischen Antikenbearbeitungen des 20. Jahrhunderts sind in diesem Kapitel zu nennen. Die Neudichtungen antiker Stücke oder antiker Themen und Figuren, wie sie seit der Renaissance üblich sind, wissen in aller Regel nichts mit dem Chor anzufangen; er wird ganz weggelassen, in wenige oder nur eine Einzelfigur aufgelöst oder auf traditionelle, möglicherweise poetische, jedoch im Bezug auf die Theaterpraxis uninspirierte Weise benutzt (etwa bei Ezra Pound). Vor der philologischen Kritik ist dieser freie Umgang mit dem Chor wohl auch dadurch 'legitimiert1, daß dies schon im Klassizismus praktiziert wurde, so gibt es in Goethes klassischem Griechendrama, der Iphigienie, keinen Chor. Bezeichnend mag auch sein, daß Schillers Wiederbelebungsversuch mit Die Braut von Messina oder sein vielversprechendes Fragment Die Malteser gerade keine antiken Stoffe benutzen. Auch im 20. Jahrhundert gilt, daß innovative Chordramen, von denen wir oben einige erwähnt haben, meist keine Antikenbearbeitungen sind. Diese Stücke werden von der (Klassischen) Philologie trotz des Chores ignoriert, während die Veränderungen bei den Antikenbearbeitungen durch fehlenden oder reduzierten Chor nicht weiter kritisch untersucht werden. Hier werden offensichtlich andere Maßstäbe 13

Bierl schreibt über den Chor im letzten Teil von Mnouchkines Les Atrides: "Doch zeichnet sich zum Schluß in der spürbaren Ermattung der greisen, zerlumpten Weiber das Ende des Tanzes ab. Das Animalische manifestiert sich nun in Form von wirklichen Hunden auf der Bühne, während die Chormitglieder allmählich die Gestalt modemer, menschlicher Individuen annehmen, die den Kontakt zur dionysischen Chorgruppe verlieren." (Die 'Orestie' S. 75). Im ersten Teil, Iphigenie in Aulis, ist der Chor in der Inszenierung, wie wir sahen, äußerlich noch völlig unumstritten, er wird wie selbstverständlich gebraucht, im Schlußteil deutet sich dagegen seine Auflösung an.

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Auch Heyme löst Chöre auf oder reduziert sie auf eine Einzelfigur: In Die Phoinikierinnen läßt er ihn, wie wir bereits sahen, vor der Finalszene abgehen, um ein privates Gespräch zu ermöglichen. Der Chor in Der Frieden, 1995 bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen gezeigt, läßt teilweise die Protagonisten alleine auf der Bühne; er wird zudem durch eingegipste Invaliden dargestellt, die von aufgehängten Puppen 'begleitet' werden, so daß der tänzerische, naiv-freudige Komödienchor zu einem bitteren, grotesken Anti-Chor wird. In seiner Recklinghäuser Inszenierung der Sophokleischen Elektro von 1997 reduziert Heyme den Chor auf der engen Bühne gar auf einen opemhaft sprechenden oder singenden Einzeldarsteller.

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angelegt als bei Inszenierungen, von denen grundsätzlich eine Bewahrung des Chores erwartet wird. Wir sahen auch, daß die ersatzlose Streichung des Chores in Antikeninszenierungen nicht leicht möglich zu sein scheint, zu eng ist der Chor mit dem Übrigen verflochten. Andererseits legt gerade dies die These nahe, daß (chorlose) Antikenbearbeitungen nur oberflächlich eine Verbindung mit der Antike haben, äußerlich unantike Dramen dagegen im Grunde tiefere Verbindungen zum antiken Theater haben können. Grundsätzlich wird in dramatischen Antikenbearbeitungen aus dem antiken Chor häufig Volk, das nicht mehr chorisch spricht, allenfalls durch kurze gemeinsame Ausrufe, sondern in anonyme Einzelsprecher oder gar selbständige Figuren (mit Namen oder numeriert) aufgelöst ist. Die Chorlieder der antiken Vorlagen sind dabei ganz gestrichen. Ein solches Volk hat jedoch mehr Ähnlichkeit mit dem Volk bei Shakespeare als mit dem antiken Chor. Innerhalb Gerhart Hauptmanns Atriden-Tetralogie ist der Chor in Elektro ersatzlos gestrichen; in den drei anderen Teilstücken fällt auf, daß der "Chor" bzw. die "Greise" jeweils spät auftreten und dabei auf Einzelsprecher verteilt sprechen. Hugo von Hofmannsthals Elektro hat zwar keinen Chor, jedoch verschiedene Nebenfiguren, die ihn ersetzen; sie dienen zur Erweiterung der Welt der Protagonisten, allerdings in einem privaten Rahmen, eher als Anhängsel der Protagonisten. In Hauptmanns Iphigenie in Aulis hat der Chorführer lange Redeabschnitte, der Chor insgesamt nur eine kurze Äußerung. Ihm gegenüber gestellt ist das Volk mit gemeinsamen oder anonymen Stimmen. In Walter Hasenclevers Antigone wird aus dem Volk am Ende gar, ganz im Shakespearschen Sinne, "Der Pöbel" (S. 192). Die Emotionalisierung durch den Chor bzw. das Volk konnten wir im Zusammenhang mit der Inszenierung Reinhardts bereits bei Hofmannsthals Bearbeitung des König Ödipus beobachten. In Eugene O'Neills Mourning becomes Electro (Trauer muß Elektro tragen) sollen Nebenfiguren, "eher Typen von Städtern als Individuen, ein die Stadt repräsentierender Chor" (S. 93) sein; der Chor-Ersatz dient einzig zur Darstellung der Protagonisten, er ist ein dem traditionellen Bühnenbild vergleichbares Hilfsmittel. Der Einfluß des Dramas in der Shakespeare-Tradition macht sich auch bei der einzelnen Erzählerfigur bemerkbar. Die Auflösung des Chores in die Einzelfigur eines Erzählers führt zu einer qualitativen Veränderung, die eher Verbindungen zum "chorus"-Erzähler bei Shakespeare mit sich bringt als zum Theaterchor. Brecht versucht allerdings, besonders in den Kontrollchören (aber auch sonst) durch chorisches Ensemble und epische Dramaturgie, eine Synthese aus epischem Erzähler und Chor zu erreichen. In Jean Anouilhs Antigone übernimmt der Sprecher15 die Rolle des Chores, wobei er jedoch nur noch teilweise eine Anlehnung an ihn darstellt. Er führt das Publikum in das Stück ein und gibt anders als ein Chor Informationen zu den Figuren, versucht zugleich jedoch auch Atmosphärisches zu vermitteln. Die Privatheit des Stückes wird nicht nur durch die Reduzierung auf eine Figur unterstützt, sondern auch dadurch, daß er wiederholt von der Bühne abgeht. Er ähnelt jedoch insofern dem Chor, als er flexibel ohne festgelegte Persönlichkeit agiert; im Gespräch mit Kreon gleicht seine Position der des Chores in der antiken Vorlage. 15

Im französischen Original als "Le Choeur" bezeichnet, im Prolog allerdings als "Le Prologue". 173

Auch seine Äußerungen über die Tragödie und das Schlußwort sind, wenn auch inhaltlich modifiziert, formal dem griechischen Chor vergleichbare Äußerungen.

7.5 Die Entwicklung vom Einheitschor zum Chaoschor bei Heiner Müller Heiner Müllers Dramen sind auch in ihrem Umgang mit dem Chor deutlich von Brecht beeinflußt. In Der Horatier (1973 entstanden) heißt es im Sinne des verfremdenden Ensemblespiels in einer Anmerkung: Wer seinen Text gesprochen und sein Spiel gespielt hat, geht in seine Ausgangsposition zurück bzw. wechselt die Rolle.16 Die Episierung des Dramas treibt Müller hier allerdings weiter als Brecht; der Text ist fortlaufend ohne jede Sprecherangabe außerhalb des Primärtextes.17 Erzählung und theatrale Darstellung, jeweils durch eine Gruppe, gehen ineinander über, die Einzeldarsteller im chorischen Ensemble sind anonym und beliebig bzw. dem Inhalt entsprechend vertauschbar. Dieses Konzept ähnelt stark dem des totalen Chors bei Braaks Antigone, in beiden Fällen nähert sich der umfassende Chor einem aufgelösten an. Das Stück Mauser (1970) ist Fortschreibung und Umdeutung von Brechts Lehrstück Die Maßnahme. Hier sind Chor und Einzelner in der Sprecherzuteilung zwar angegeben, sie ist jedoch flexibel und relativ; die unentschiedene Angabe für den Protagonisten A und den Chor lautet häufig: "A [Chor]" oder "Chor [A]". In der Anmerkung zum Stück schreibt Müller: Die vorgegebene Textaufteilung ist ein variables Schema, Art und Grad der Varianten eine politische Entscheidung, die von Fall zu Fall getroffen werden muß. Beispiele für mögliche Varianten: Der Chor stellt dem ersten Spieler für bestimmte Partien einen Darsteller des ersten Spielers (Al) zur Verfügung; alle Chorspieler, nacheinander oder gleichzeitig, stellen den ersten Spieler dar, der erste Spieler übernimmt, während Al ihn darstellt, bestimmte Chorpartien. Kein Spieler kann einen andern durchgängig vertreten.18 Gegenüber dem Kontrollchor in Brechts Vorlage ist der totale Wahrheitsanspruch des Chores begrenzt, wenn nicht ganz zurückgenommen. Es geht in Brechts Maßnahme ohnehin nur darum, für das von der Partei bzw. dem Chor Vorformulierte das Einverständnis zu gewinnen, während bei Müller die Entscheidung des Publikums offen ist. Der Zuschauer selbst kann die Kontrolle durchführen:

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Mauser S. 54. In der oben auszugsweise zitierten Anmerkung wird grundsätzlich und für eine Stelle speziell auf die Verteilung der Sprecher eingegangen. Revolutionsstücke S. 29f. Die Interpretationen des Stückes um die Frage, ob Müller totalitäre Gewalt der Partei mit Mauser rechtfertigt oder nicht, lassen den wichtigen, nicht nur formalen Aspekt der 'offenen' Sprechzuteilung ganz außer acht.

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Aufführung vor Publikum ist möglich, wenn dem Publikum ermöglicht wird, das Spiel am Text zu kontrollieren und den Text am Spiel [...]; wenn die Reaktionen des Publikums kontrolliert werden durch Asynchronität von Text und Spiel, Nichtidentität von Sprecher und Spieler. (S. 29) Auch das kontrollierende Publikum ist nicht die 'letzte' Instanz, die Relativität aller Ebenen (und damit der Inhalte) ist das einzig Feststehende für den Dialektiker Müller.19 Bei aller Bedeutung, die Müller dem Kollektiv noch zumißt, zweifelt er an seiner chorischen - als formale wie inhaltliche Kategorie - Verbindlichkeit. Im Zusammenhang mit Mauser erklärte Müller folgerichtig seine "Verabschiedung des Lehrstücks".20 Der Sprechchor der 'Partei', von dem Müller formal noch ausgeht, löst sich in Mauser auf bzw. vermischt sich mit dem Einzelnen. Diese Entwicklung spitzt sich in Hamletmaschine (1979) zu: Die Einzelfiguren Hamlet und Ophelia sind zerstört, wofür auch der Chor bzw. die Chorfragmente ein Anzeichen sind.21 Landschaft mit Argonauten (1982 als Teil von Verkommenes Ufer) ist ein vergleichbarer apokalyptischer Text, ein 'chorisch-chaotischer' Monolog, zu dem der Autor in einer Anmerkung schreibt: Wie in jeder Landschaft ist das Ich in diesem Textteil kollektiv.22 Bei dem Brecht-Nachfolger Heiner Müller war der Chor, in der Bearbeitung Ödipus Tyrann (1967, siehe oben die Inszenierung Bessons, S. 145) oder in Prometheus (1968) noch konventionell am in sich geschlossenen Chor der Vorlagen Sophokles und Hölderlin orientiert (In Philoktet, 1958/64, verzichtete er wie so viele Antikenbearbeitungen auf einen Chor). Er erreicht über Mauser in Hamletmaschine und Landschaft mit Argonauten nun einen Grad von Auflösung und Vermischung mit Einzelfiguren, wie er kaum weiterführbar ist. Müller führt die Form des Chores, die (aus inhaltlichen Gründen) für ihn nach wie vor zentral bleibt, an die äußersten Grenzen oder darüber hinaus; der Chor wird zum Chaos und damit zum Zeichen der tiefgreifenden allgemeinen historischen Krise.23 Gerade die archaische Form des

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In der oben ausgesparten Textstelle schreibt Müller dementsprechend, das Spiel solle kontrolliert werden "durch Mitlesen der Chorpartie, oder der Partie des ersten Spielers (A), oder der Choipartie durch eine Zuschauergruppe und der Partie des ersten Spielers durch eine andere Zuschauergruppe, wobei das Mitzulesende im Textbuch unkenntlich gemacht ist, oder andere Maßnahmen". Die von Müller selbst geleitete Inszenierung 1991 am Deutschen Theater in Berlin war (in der Tradition des Brechtschen Lehrstücks) sehr statisch, eine "getragene Sprecheinrichtung" (Wille TH10/91 S. 4). In der zweiten Szene "Das Europa der Frau" lautet die Sprecherzuteilung: "Ophelia [Chor/Hamlet]". In der dritten, "Scherzo", gibt es in der "Universität der Toten" tote Philosophen und tote Frauen. Spectaculum 39, S. 183. Während Müller in der Anmerkung zu Mauser noch schrieb: "Erfahrungen sind nur kollektiv tradierbar;" (Revolutionsstücke S. 30), heißt es nun, 1992: "Kollektive brauchen länger, einzelne lernen schneller. Kollektive sind dümmer als einzelne. Das ist das Phänomen, das man jetzt erlebt: Zehn Deutsche sind dümmer als fünf. Das ist ganz logisch. Sie brauchen länger um zu kommunizieren, um ihre Erfahrungen zu verallgemeinem und daraus eine gemeinsame Erfahrung zu machen." (Gesammelte Irrtümer 3 S. 165). Damit ist 175

Chores bzw. Chorischen eignet sich zur Darstellung der postmodernen Orientierungslosigkeit, das chorische Chaos ist auch Anzeichen der Ablehnung jeglicher Autoritäten: Der Kommentar als Mittel, die Wirklichkeit des Autors ins Spiel zu bringen, ist Drama, nicht Beschreibung und sollte nicht an einen Erzähler delegiert werden. Er kann im Chor gesprochen werden; 24

7.6 Weitere Dramenbeispiele für Anti-Chöre, darunter solche mit ausdrücklicher Thematisierung des Problems 'Chor' In Eugène Ionescos "Anti-Stück" La Cantatrice chauve (Die kahle Sängerin) entwickelt sich am Ende aus dem Durcheinander der sinnlosen und zunehmend unartikulierten Äußerungen der vier Figuren ein fast chorisches Miteinander.25 Aus dem Chaos heraus entsteht ein Anti-Chor, der im Gegensatz zu den absurden Charakteren eine fast utopische Dimension haben könnte.26 Die Entwicklung nimmt bei dem ausgesprochenen Brecht-Antipoden Ionesco sozusagen die entgegengesetzte Richtung wie bei Heiner Müller - aus dem Chaos ins Chorische - das Ergebnis ist ähnlich. Gerlind Reinshagens Stücksammlung Chorische Stücke zeigt den Chor als gesellschaftliche Umwelt der Einzelfiguren weitgehend in einer negativen Rolle. In den Chören von Doppelkopf und Leben und Tod der Marilyn Monroe offenbaren sich eine unreflektierte und dem Einzelnen gegenüber ungerechte Haltung der Masse. Der klischeehafte Männerchor degradiert Marilyn Monroe auch mittels der gemeinsamen Sprache zum Sexobjekt, der Chor der Mitarbeiter und Freunde in Doppelkopf steht dem einzelnen Karrieristen in Egoismus in nichts nach. Der unsichtbare Chor aus Hymnen, Schlagern, Männersprüchen oder Sprechchören ("fast als Parodie", S. 280) unterdrückt in Drei Wünsche frei die Einzelfigur ("singt für sich, gegen den Chor", S. 275). In Die fremde Tochter schließlich entwickelt sich der Chor, wie wir sahen (siehe oben S. 147), aus der sozial engagierten Gruppe zur faschistoiden Sekte. Die Rolle des Chores bei Reinshagen spiegelt weitgehend die Unterdrückung durch die Gesellschaft und deren eigene geistige Beschränktheit wider, er ist inhaltlich eine Anti-Chor.

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ganz deutlich eine resigniert-pessimistische Gegenposition zum kollektivgläubigen Brecht erreicht. Anmerkung zu 'Anatomie Titus Fall of Rome' in Shakespeare Factory S. 224. Auch der Dramaturg Karl Mickel (siehe oben S. 66, Anm. 53) vollzieht die Abkehr von Brechts flexiblem, aber in sich gefestigten Chorkonzept: "Brechts Rat folgend, man könne den Chor im Enstehen zeigen, stelle man sein Verschwinden dar." (S. 30). Damit ist durch die künstlerische Thematisierung der Schwierigkeiten mit dem Chor auch ein zentraler Bereich vieler im folgenden Kapitel behandelter Dramen angesprochen. "(Alle miteinander in allerhöchster Wut schreien sich gegenseitig in die Ohren. Das Licht wird ausgeschaltet. Im Dunkeln hört man in gesteigertem Rythmus.) ALLE ES ist nicht dort, es ist da, es ist nicht dort [...]" (S. 47). Ähnlich wie bei Marthalers anfangs trostlos erscheinenden Chören.

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Der Chor in Ljudmilla Petruschewskajas Stück Der Moskauer Chor (Moskovskij chor), 1988 in Moskau uraufgeführt, bleibt ein Kunstprodukt, das in starkem Kontrast zum Egoismus und den sozialen Spannungen der Einzelfiguren steht. Die Szenen einer beengt lebenden und durch politische und soziale Verwerfungen zerrütteten Familie bilden das Zentrum, unterbrochen werden sie von kurzen Szenen, die die Proben des "Choraktivs" fur ihren Beitrag bei den VI. Weltfestspielen der Jugend und Studenten 1957 in Moskau zeigen. Die Proben zeugen von zwischenmenschlichen Problemen und Undiszipliniertheit innerhalb des Chores, der durch einige Figuren in 'Personalunion' mit der Familie verbunden ist. In der Schlußszene empfängt der Chor auf dem Bahnhof einen Gästechor aus Dresden; die innerfamiliären Konflikte erreichen hier einen Höhepunkt. Beide Chöre singen währenddessen gemeinsam das Finale von Beethovens neunter Symphonie: Beide Chöre singen. Sascha und Eva stehen neben der knienden Lisa, die sich nicht erheben will. Ende. 27

Der kommunistische, internationale und jugendliche Chor wird als hohles und weltfremdes Kunstprodukt entlarvt - eine Antwort auf Brechts Optimismus über Parteichöre, der durch die Deideologisierung in der zu Ende gehenden Sowjetunion obsolet wird. 28 Bei Petruschewskaja wird der Chor, auch wenn es sich um einen Gesangschor handelt, explizit zum kritisch behandelten Thema und Problem eines Stückes. Unter dem Eindruck des Faschismus, aber auch als Gegenkonzept zu Brechts Optimismus hinsichtlich der Kollektive setzt Elias Canetti das Theaterinstrument Chor ein, indem er es in Frage stellt.29 Der "Chor der Ungleichen" in Die Befristeten ist nicht nur ein Widerspruch in sich. In der durch eine pseudoreligiöse, geistige Führung erzwungenen Gemeinschaft ist die persönliche Abneigung der Miglieder untereinander um so größer. Der Chor ist "nur zum Schein" beisammen, alle warten "auf den Augenblick, da wir uns trennen werden." (S. 225).30 Das Finale der Komödie der Eitelkeit bringt eine 'Befreiung' der durch ein Bilder- und Spiegelverbot unterdrückten, zur Masse gewordenen Einzelmenschen: Von allen Seiten fließen Menschen zu. Jeder hält einen Spiegel oder ein Bild von sich hoch. Von tosenden Ich-Rufen widerhallt die Luft. Ich! Ich! Ich! Ich! Ich! Ich! Ich! Ich! Es wird kein rechter Chor daraus. (S. 184)

Canetti zeigt hier einerseits die Ambivalenz der vereinfachenden Gegenüberstellung von übertriebenem Individualismus und Massenverhalten, da sie einander bedingen können, andererseits die Differenz zwischen Masse oder vermeintlichem Kollektiv 27 28

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Regieanweisung S. 97. Alan Ayckboum nutzt auf Egoismus und Eitelkeiten basierende Widersprüche innerhalb einer Laientheatertiuppe bei der Einstudierung von The Beggar's Opera für seine Komödie A Chorus of Disapproval, wobei der Begriff'Chor 1 nur im Titel vorkommt. In Masse und Macht beschäftigt sich Canetti auch soziologisch mit dem entsprechenden Thema. Das Problem dabei ist, daß der "Augenblick" in diesem Stück für Tod steht. Der Chor ist demnach ein irdisches Übel, die Erlösung bleibt möglicherweise eine falsche Versprechung.

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und 'rechtem Chor1.31 Bei den kollektiven Ich-Schreien handelt es sich weniger um eine Chorparodie, sondern vielmehr um einen totalen Anti-Chor. Im ersten Akt des dreiaktigen Stückes Schlußchor von Botho Strauß steht eine Gruppe von 15 Männern und Frauen im Mittelpunkt, die in vier Reihen zu einem Gruppenphoto aufgestellt sind. Aus der Gruppe heraus ertönen Einzelstimmen, der als "F 1", "M 2" usw. bezeichneten Personen, Gesprächsfetzen oder small talk. Alle haben eine Identität, die durch den Gruppenaufbau jedoch unklar bleibt.32 Die beschränkte Freiheit in der Situation ist offensichtlich ungewohnt und unangenehm, sie wird auch wiederholt ausdrücklich angesprochen: M 15 M 5 M 3 F6 M 15

Paßt auf! Sie will raus. Hiergeblieben! Keiner verläßt die Wabe. Fehlt einer, fehlt alles. Ich seh jetzt schon aus wie später, wenn ich mir das Foto im Album anschaue. Und keiner wird mehr wissen, wer wer war. (S. 191)

Diese Spannungen verstärken sich dem Photographen gegenüber, der Schöpfer des Chores und Unterdrücker der Einzelnen ist. Der Chor besteht auf seiner "In-di-vidu-al-i-tät" (durch die Reihen laufend gesprochen). FOTOGRAF

Ich fotografiere euch so lange, bis ihr ein Gesicht seid. Ein Kopf - ein Mund - ein Blick. Ein Antlitz! Wir sind der Chor...

ALLE leise [...] ALLE donnernd Schluß! (S. 197)

Der Einzelne wird daraufhin vom Schluß-Chor durch "eine Kanonade kurzer lauter Befehle" willenlos zum Photographieren und schließlich zum Ableben gebracht ("Atem stop! Atem Ende! Licht aus!"). Die organisierte Masse, die keine Masse mehr sein will, dreht die Machtverhältnisse um und wird zum gewalttätigen Chor.33 Strauß operiert mit den Widersprüchen, die ein traditioneller Chor in der gegenwärtigen Gesellschaft bzw. dem Theater erregt und nutzt sie produktiv, zum Teil auch ironisierend, so erklingt während der Dunkelheit, in der der Photograph von der Bühne verschwindet "Leichter, mehrstimmiger Chorgesang" (S. 197). Alleine als Sprechchor hat die Gruppe Macht; die Warnung an den Photographen kurz vor seinem Ende "Geraten Sie nicht außer Kontrolle!" (S. 196) läßt den Chor auch als Anspielung auf Brechts Kontrollchor erscheinen. Eine eindeutige Interpretation fallt

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Gérald Stieg sieht in der Komödie der Eitelkeit einen Gegenentwurf zu Brechts Optimismus gegenüber dem chorischen Kollektiv in Die Maßnahme. In der Regieanweisung heißt es: "Eingeschränkte Bewegungsfreiheit. Man kann nur ein Wort in die Schar weifen und hoffen, daß sich der Richtige angesprochen fühlt. Ungewiß, wer zu wem gehört, und wenn: für wie lange? Manchmal nur die Spitze einer Verständigung, so wie ein Mensch im Schlaf auflacht." (S. 189). Auch einige Antikeninszenierungen deuten die Möglichkeit gewalttätiger Chöre an bzw. setzen sie um: In Berndt Rennes Die Frauen von Troja 1980 an der Ostberliner Volksbühne bedrohen die Frauen am Ende das Publikum mit Waffen, ehe sie sich anders besinnen. Die vier Chorfrauen in Herbert Königs Düsseldorfer Inszenierung von Ezra Pounds Bearbeitung Die Frauen von Trachis von 1985 töten sogar den (feindlichen) Boten.

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wesentlich schwerer als bei Canetti, Strauß nutzt vielmehr das zentrale Chorproblem, das Verhältnis des Einzelnen zur Gruppe, für Variationen formaler wie inhaltlicher Art über den post-modemen Chor. Der 'Schlußchor' muß nicht das Ende des Chores bedeuten, am Ende der Szene bleibt offen, ob er zusammenbleibt. Ernst-Jürgen Dreyer läßt in seinem Drama Die goldene Brücke einen einzelnen Choristen des Opernchores an einem kleinen DDR-Theater bei der Vollversammlung zu Worte kommen (Die Versammlung ist über Lautsprecher in der Kantine zu hören, der Chorist mit seinen privaten Sorgen wird in einer Theateraufiührung von Dreyers Drama folglich kaum als solcher wahrgenommen). Auch der Chor ist in der Kantine bei der Probe zu hören. Sein "Und eine frohe Zukunft lacht!" (S. 95) widerspricht auf tragikomische Weise den trüben Zukunftsaussichten am von der Auflösung bedrohten Theater, wie sie durch den Choristen benannt werden. In Peter Turrinis Die Schlacht um Wien erscheint kurz ein "Mönchschor", dessen "mittelalterlicher Chorgesang" (S. 57) sich schon von ferne im Wald ankündigt. Es zeigt sich jedoch, daß dieser Chor im Wienerwald der 90er Jahre ein Kunst-Chor ist, der Mönchschor besteht aus Richtern, die in ihrer Freizeit Mönche spielen. Bei Turrini vermischen sich Realität und Theater, dadurch hat auch der Chor eine Chance auf ein (künstliches) Leben in der vermeintlichen Alltags-Realität. Der Chor scheint bei Petruschewskaja, Canetti, Strauß, Dreyer oder Turrini ähnlich wie schon bei Nel angedeutet - gerade durch die ausdrückliche Thematisierung seiner Unzeitgemäßheit oder Fremdheit eine Möglichkeit zur Beschreibung der Welt und ihrer Widersprüche zu bieten. Damit ist eine ganz spezifische Form für einen neuen Sonderstatus des Chores in Theater und Gesellschaft gewonnen, die allerdings vom Publikum theaterhistorisches Vorwissen und dessen intensive Reflexion voraussetzen.

7.7 Der chorische Einzeldarsteller Nicht nur ein Ensemble oder eine Inszenierung kann chorisch behandelt werden, auch eine Einzelfigur, die nach unserer Auffassung per se nie einen Chor bilden kann, läßt sich chorähnlich einsetzen. Luca Ronconis Die Bakchen, 1978 in Prato inszeniert, wurden von nur einer Schauspielerin (Marisa Fabbri) gespielt. Mit 24 Zuschauem, also in der Größe eines Chores, bespielt sie verschiedene Räume in einer den Text verfremdenden und durch starke Abstraktion fast ritualisierenden Aufführung. Die Schauspielerin wird u.a. auch zum Chor, spielt alle Figuren, ohne sie imitierend nachzuahmen, die Einzelne wird zum chorischen Ensemble, das alle Rollen umfaßt und auf persönliche Charakterisierung keinen Wert legt, sondern auf eine abstrakte Gesamtwirkung abzielt. Dario Fos szenische Monologe wie Mistero Buffo haben insofern chorischen Charakter als ein Darsteller verschiedene Figuren spielt bzw. andeutet und dabei teilweise auch noch erzählerische Passagen einbaut. Statt eines Chor-Ensembles ist Fo chorischer Ensemble-Darsteller, durch die Vielzahl der dargestellten Figuren und die schnellen Wechsel zwischen ihnen regt er in engem Kontakt mit dem Publikum dieses an, in seiner Vorstellung aus dem Einzelnen Viele zu schaffen, es handelt sich also um ein 'imaginäres' Chor-Ensemble. Auch der Darsteller selbst verfügt 179

über einen chorischen Gruppencharakter, kann sein eigenes Spiel unterbrechen, indem er dem Publikum gegenüber eine besondere Nähe aufbaut. Fos chorische Figur mag an Müllers chorisch-dekonstruiertes Ich erinnern, allerdings ist der Ausgangspunkt bei Fo viel eher ein spielerisch-unbeschwerter als der geschichtsphilosophisch-pessimistische Müllers. Auch Kabarett oder ähnliche Ein-Personen-Shows sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Es wäre übertrieben, beim chorischen Einzeldarsteller - wie auch bei einer chorischen Inszenierung - von einem Chor zu sprechen, die Verbindungen durch chorische Elemente sind jedoch offensichtlich und mögen dem antiken Chor näher kommen als museale Theaterchöre. Der Spielleiter in Thornton Wilders Stück Our Town (Unsere kleine Stadt) ist nicht nur ähnlich Anouilhs Sprecher und Shakespeares "chorus" eine Erzählerfigur und damit kaum wirklich chorisch; vielmehr ist er die entscheidende regisseurähnliche Figur, die die 'triviale Tragödie' zusammenhält. Er schafft durch die verfremdend-episierende Spielleitung ein chorisches Ensemble und bezieht dabei auch vermeintliche Mitglieder des Publikums mit ein (wie wir v.a. bei Pirandello schon beobachten konnten). Durch die Relativierung aller Rollen innerhalb des Spiels im Spiel, auch dadurch, daß der Leiter teilweise selbst einspringt (oder daß bereits gestorbene Personen mitspielen) und er sogar die (lesende) Nachwelt anspricht, deutet gerade die dominierende Einzelfigur, die zwischen Spiel und Publikum steht, ein chorisches Gesamtspiel an.34 Der chorische Charakter des Ensembles wurde auch beim 1990 verstorbenen polnischen Theatermacher Tadeusz Kantor dadurch verstärkt, daß er selbst in seiner Funktion als Regisseur und Autor des stark autobiographischen Textes (meist unauffällig) auf der Bühne war und das Spiel durch kleine Eingriffe dirigierte. Das chorische Spiel nähert sich hier der Darstellung des Innenlebens einer Figur.35

7.8 Die Auflösung des Chores in Frank Castorfs Λ/Äes/w-Inszenierung Frank Castorf ging in der Auflösung des Chores einen Schritt weiter als die oben genannten Beispiele. Die Auflösung des Chores in der /4/ftertú-Inszenierung von 1993, bei den Wiener Festwochen und anschließend an der Berliner Volksbühne gezeigt, ist weder eine Reduktion auf eine Person noch die Schaffung einer Gruppe als Anti-Chor. Vielmehr verschwindet der Chor, obwohl weiterhin eine kleine Gruppe von Schauspielern dafür vorgesehen ist und die Chortexte nicht vollständig gestrichen sind, weitgehend aus der Aufführung. Die Texte sind nicht als Chortexte identifizierbar, die (ursprünglich dafür eingeteilten) Chor-Darstellerinnen agieren,

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Ein ironisch-komisches Spiel mit der Institution Chor liegt vor, wenn der Spielleiter im 2. Akt den zur Hochzeit gratulierenden, primitiven und unanständigen Chor der "baseball players" von der Bühne schiebt und stattdessen den frommen Hochzeitschor singen läßt. Bei Kantor werden auch Puppen der Darsteller - ähnlich wie am Ende von Meyerholds Der Revisor - zum stummen Chor, der in Kantors "Theater des Todes" als Figuren aus der Erinnerung den Tod überwindet.

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ohne daß sie sichtbar oder hörbar als Chor auftreten würden. Die einzige Chorszene sind die gemeinsamen Schlußworte, die zur Chor-Parodie werden. Die Anzahl der Chormitglieder ist nicht eindeutig festlegbar: Zu Beginn treten zwei Mädchen in BdM-Uniformen auf; sie sind der 'Chor' bzw. treten an seine Stelle. Die optische Gemeinsamkeit, das gemeinsame Wegtragen von Steinen und anschließend das Sitzen auf der Mauer oder das Heulen der beiden wegen einer geschälten Zwiebel machen aus dem uniformierten Duo noch keine chorische Gruppe. Der Auftritt der beiden erfolgt getrennt voneinander, zeitlich versetzt, die nicht gestrichenen Teile der Parodos werden zudem nur von einer der beiden gesprochen.36 In der undeutlichen Abgrenzung der beiden von den Einzelfiguren, etwa Apoll und Thanatos im vorhergehenden Prolog, und in den fließenden Übergängen zwischen den verschiedenen Szenen zeigt sich auch das ausgesprochen 'Unchorische' dieses Chores. Während die beiden auf der Bühne sind, tritt eine dritte Frau mit der gleichen Uniform auf. Sie spricht allerdings hier den Text der Dienerin, die aus dem Palast berichtet. In der Folge jedoch bilden die drei - die dritte Frau ist deutlich älter - eine eng verbundene Gruppe, etwa beim gemeinsamen Zuhören auf der Mauer. Castorfs Anti-Chor geht auch in Nebenfiguren auf, ohne jedoch eindeutig auf diese Rollen festgelegt zu sein. Die vierte Figur, die sich allerdings schon optisch abhebt, ist die Tochter von Alkestis und Admet; sie bleibt immer eindeutig dieser Rolle zugeordnet, agiert jedoch teilweise auch mit den drei anderen zusammen. Im Gespräch bzw. dialogischen Brummein mit Admet wechselt sie sich mit der Dienerindarstellerin ab, hier stellen diese beiden den Anti-Chor dar. Später wandelt sich die Zusammensetzung erneut, die Dienerin und eine der anderen Frauen bilden eine Einheit, während die Dritte Herakles gegenüber teilweise die andere Rolle eines Dieners übernimmt. Die Verwirrung und scheinbare Beliebigkeit zeigt sich auch im Kostümwechsel der drei, statt der Uniformen tragen sie am Schluß Sommerkleider. Die Öffnung des Chores bzw. des Chortextes bis hin zu seiner Unkenntlichkeit verdeutlicht sich auch dadurch, daß nicht nur ganze Lieder gestrichen sind, sondern auch Chorpartien von Einzelfiguren, von Herakles und Pheres, gesprochen werden. Pheres spricht beim Essen beiläufig von den Musen und Ananke, eine Parodie weniger des Chores als des hochpoetischen Textes. Eine Chorparodie liegt dagegen im (schon erwähnten) gemeinsamen Schlußwort der drei Frauen vor. Dies ist die einzige Chorstelle im klassischen Unisono; die Art des Vortrags, ans Publikum gerichtet und den Text wichtigtuerisch, aber ohne jedes Verständnis wie Schülerinnen herbetend, macht aus dieser letzten Chorszene die deutliche Parodie eines traditionellen (Schul-)Theaterchores werden. Nur hier läßt sich eindeutig von einem Chor sprechen. Dieses Schlußwort des Chores wird auch nicht das der Inszenierung insgesamt, es folgt noch der Abschied des Herakles, eine lange, weitgehend stumme aber für die Tragik des Stückes zentrale Szene zwischen Alkestis und Admet, sowie das spanische und damit (den meisten Zuschauern) unverständliche Schlußwort des Thanatos. Dem Chor sind also auch die letzten Worte genommen, ernst nimmt Castorf den Binsenweisheiten von sich gebenden antiken Chor ohnehin nicht. 36

Dabei handelt es sich ironischerweise zum Teil gerade um einen Chortext, der aus Einzelstimmen besteht, also (wenn auch anonyme) Personen andeutet. Gerade solch einen 'aufgelösten' Chortext läßt Castorf bezeichnenderweise ohne die Andeutung personeller Abgrenzungen von einer Person sprechen.

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7.9 Die Aufhebung des Chores in Castorfs Alkestis durch das chorische Ensemble Das Drama der beiden Ehegatten ist privatisiert, wie sich im vorzeitigen Abgang des Chores verdeutlicht. Die entscheidende Erklärung für Castorfs 'Nicht-Chor 1 ist das jedoch nicht. Die Alkestis Castorfs setzt Slapstick-Elemente und Blödeleien neben ernste, besinnliche Momente. Das ein Gespräch ersetzende Posaunenspiel Admets, das schließlich über brummelnden Singsang in Sprache übergeht, verbindet eine sinnlos erscheinende Einlage mit tiefem, die Thematik des Stückes (in einer heutigen Interpretation) entsprechendem Sinn. Der sich aus den Posaunentönen entwickelnde, gemeinsame Singsang bringt dabei auch für die Einzelfiguren kollektivästhetisierende, chorische Elemente. Das Aufbrechen der Handlungsstruktur in verschiedene Situationen gibt der gesamten Auffuhrung einen undramatischen, musikalisch-chorischen Charakter. Sinnlose dem Alltag entnommene, klischeehafte Aktionen - die Verteilung von Würstchen mit Kartoffelsalat ("mit oder ohne" Senf) in einer wohlgeordneten Reihe oder die wiederholten, unsinnigen Umbauten der Betonklotzmauer - erzeugen in ihrer vermeintlich ernsthaften Ausführung und der exzessiven zeitlichen Ausdehnung, ähnlich wie bei Marthaler, fast rituelle Gruppenhandlungen. Die Einzelfiguren sind dabei genauso wie die Chorfrauen keine geschlossenen Charaktere, auch die Protagonisten sind aufgelöst. Immer bleiben sie als die Darsteller präsent, die nicht auf Dauer in ihren Rollen aufgehen. Damit ist insgesamt für alle Figuren erfüllt, was Brecht für den Chor in seiner Antigone anregt: Man kann denken, daß der Chor sich einfach ausleiht zur Darstellung der Thebanischen Großen in der Handlung.37 Die Aufführung insgesamt hat also weitgehend chorischen Charakter, d.h. das Spielensemble ist dem Publikum gegenüber offen, das Spiel zeigt eher isolierte Situationen als ein geschlossenes Handlungsgefüge. Dementsprechend spielt auch die Zeit keine Rolle, es findet im 'Hier und Jetzt' statt, Historisierung ist demnach kein Thema. Ein klassischer Chor ist in diesem Theater, das happeningähnlichen Charakter hat, aber bei allem Spiel mit den Grenzen zwischen Bühne und Publikum diese nie bricht, unnötig.

7.10 Castorfs Alkestis und der grundsätzliche Unterschied zwischen dem Theaterchor als Ergänzung der Einzelfiguren und dem Chorischen als Grundlage des Ensemblespiels Damit offenbart Castorfs Alkestis ein entscheidendes Kriterium für die Einordnung des Theaterchores: Der Chor kann als eine Figur in der Inszenierung Ergänzung des übrigen dramatischen Geschehens sein; dies gilt grundsätzlich für den Chor in Antikeninszenierungen und wird seit den 70er Jahren zunehmend, so auch offensichtlich

37

Brecht Werke 25 S. 102. Schon zitiert auf S. 55, Anm. 17.

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von Castorf abgelehnt. Er kann aber auch - seit Brecht - sich mit den Einzelfiguren vermischen und so zum Grundelement der Aufführung werden, in dieser einerseits gelockerten und andererseits grundsätzlicheren Rolle benutzt ihn auch Castorf. Er ist also entweder herrschendes Prinzip - und als solches bedarf es keiner weiteren, auf den Sonderstatus reagierenden Legitimation für eine künstliche Figur - oder alternative Zugabe zum Einzelspiel. Häufig, etwa in Weiss' Marat/Sade, dürfte eine strikte Trennung beider Möglichkeiten schwer fallen, kommt es zu einem meist separaten Chor in einem dennoch insgesamt chorischen Ensemble. Die Trennung der beiden 'Chorformen' hängt mit dem Einsatz des Chores in Antikenstücken oder neuartigen Chordramen zusammen, allerdings nicht unbedingt: In Braaks Antikeninszenierung etwa liegt ein chorisches Ensemble bei weitgehend aufgelöstem Chor vor. Daß die Erweiterung des Chores auf das gesamte Ensemble zur Auflösung aller Formen (und damit auch des Chores) hinführen kann, haben wir bereits bei Heiner Müller festgestellt.38 Ein Hinweis für die Differenz beider Kategorien ist auch die für viele Antikeninszenierungen geltende Feststellung der Notwendigkeit, zwischen überliefertem Chortext und auf der Bühne agierender Chorgruppe zu unterscheiden. Alexander Langs Medea am Berliner Deutschen Theater von 1986 verzichtete auf jede Chorfigur; die Chortexte sind jedoch nicht ganz gestrichen, sondern auf verschiedene Figuren aufgeteilt, auch auf Medea selbst, v.a. jedoch auf den Erzieher, dessen Bedeutung durch seine dauernde Präsenz auf der Bühne und die von ihm gesprochenen Chortexte deutlich aufgewertet ist. Er spricht manche Chorlieder sogar gemeinsam mit Medea. Die Hauptfigur ist demnach Teil ihres eigenen Chores. Das oft sehr langsame Sprechen und die reduzierten Bewegungen sind stark stilisiert: Die Inszenierung braucht keinen Chor mehr, denn der kollektive Kommentar ist in der Sprache und der Bewegung jedes einzelnen Protagonisten enthalten.39 Die Inszenierung ist insgesamt chorisch in einem hochartifiziellen Sinne, die Figuren spielen im Brechtschen Sinne nur bedingt sich selbst.

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In der Vorbemerkung zu Strindbergs Traumspiel (Ett drömspel) von 1902, also dem Beginn unseres Jahrhunderts, heißt es zum das Spiel erklärenden Bewußtsein eines "Träumers" - was aber auch als programmatische Aussage zum chorischen Ensemble angesehen werden könnte: "Personen spalten sich, verdoppeln sich, vertreten einander, gehen in Luft auf, verdichten sich, zerfließen, treten wieder zusammen." (S. 3). CarpS. 10. 183

7.11 Weitere Beispiele für eine Renaissance des Chores bzw. des Chorischen im deutschsprachigen Theater der 90er Jahre Wolfgang Schadewaldt schrieb anläßlich der chorischen von 1969 an Hansgünther Heyme:

Wallenstein-inszenierung

Es ist fast komisch. Da suchen die Herren bei Inszenierungen antiker Chor-Tragödien sich um den Chor herumzudrücken. Sie führen ihn neu ein [...].40

Aus der Unterscheidung zweier grundsätzlich unterschiedlicher Arten des Choreinsatzes heraus läßt sich dieser "komische" Sachverhalt durchaus erklären. Die Differenzierung der beiden 'Chorarten' erklärt auch die ironisch anmutende Beobachtung, daß mit Frank Castorf ein und derselbe Regisseur in einer Antikeninszenierung den ursprünglichen Chor auflöst bzw. beseitigt, er in modernen Stücken ohne Chor jedoch Chöre neu einfuhrt. In Carl Zuckmayers Des Teufels General, 1996 an der Volksbühne in Berlin inszeniert, etwa integriert er nicht nur chorische Elemente, sondern schafft weitgehend ein chorisches Spiel.41 Die 'Nebenfiguren' bilden grundsätzlich ein chorisches Ensemble, aus dem sie sich zeitweilig als Einzelfiguren herauslösen, das aber immer den Rahmen bildet. Auch die Hauptfigur ist Teil des Ensembles, insofern als sich die Besetzung nach der Pause ändert (vor der Pause wird der General von einer Frau gespielt). Der Chor steht zum Teil gegen die Hauptfigur, besonders am Ende als braves, unwissendes Nazivolk - auch eine Anspielung auf den 'braven', durchschnittlich denkenden Tragödienchor. Der chorische Charakter der Inszenierung ist jedoch umfassender, das gesamte Spiel rahmend. Das Ensemble oder Teile von ihm sprechen unisono oder durcheinander; sie stottern, lallen oder kreischen gemeinsam, sprechen als Echo, fuhren echoartig illustrierende Gesten aus oder singen gemeinsam den Refrain eines Liedes der Hauptfigur. Castorf macht das Stück tatsächlich zur "Figurenrevue mit leichter Tendenz zum Kabarett" (Rühle TH 11/96 S. 13); dadurch gerät das ehemals aufwühlend-melodramatische Stück in einen komischen, aber auch grotesken Rahmen, in dem sich Melodrama und Parodie mischen. Der Chorgebrauch ist jedoch von grundsätzlicherer Bedeutung für Castorfs Regie. Das chorische Spielerensemble spiegelt nicht nur einen offeneren, antiillusionistischen Umgang mit dem Publikum und den Verzicht auf ein in sich schlüssiges Handlungsgefuge wider, sondern auch das Ende von geschlossenen, dramatischen Charakteren, individuellen, 'runden' Figuren. Die Einzelfiguren haben ihre persönliche, charakteristische Sprache verloren und besitzen nur noch eine chaotisch-chorische, ähnlich wie bei Ionesco oder Müller. Damit steht Castorf - bei aller Eigenart seiner Inszenierungen - keineswegs alleine; nicht nur Schleef schafft in seinem Faust 1990 Faust- und Gretchen-Kollektive,42 auch in

40 41

42

BriefS. 145f. Zumindest in Andeutungen sind chorische Elemente durchaus in der Textvorlage enthalten: gemeinsame Trinksprüche, Musik und Stimmen im Hintergrund oder gemeinsames Singen. Castorf 'vergewaltigt' das Stück also keineswegs, sondern betont entgegen der traditionellen Theaterregie bei Zuckmayer Angedeutetes. Wolfgang Engels Dresdener Faust aus demselben Jahr hatte für Faust und Mephisto zwei 'gemeinsame' Darsteller.

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Marthalers Goethes Faust Wurzel aus 1+2, 1993 in Hamburg aufgeführt, wird Gretchen vervielfältigt und anonym. Die Fragmentierung des Individuums ins Chorische - sei es streng wie bei Schleef, der damit eine Ausnahme bildet, oder sei es diöus-variabel wie bei Castorf oder mit Variationen, etwa der musikalisch-utopischen bei Marthaler - hat im Bereich des dramatischen Textes eine formale Entsprechung in der Collage. Elfriede Jelineks Wolken Heim, 1993 am Hamburger Schauspielhaus in der Regie von Jossie Wieler aufgeführt, 43 ist eine Collage spezifisch deutscher Texte von Fichte bis zu Briefen von RAF-Terroristen; das Wort 'Wir' ist von zentraler Bedeutung, der Dramentext ist fortlaufend ohne Personenangaben, d.h. auch formal ist der Text chorisch-beliebig strukturiert (Wieler verteilte ihn auf sechs Frauen). Christoph Schlingensiefs Theater, er inszeniert u.a. an der Berliner Volksbühne, basiert nicht nur auf dem Prinzip der Collage, ist wie das Theater Castorfs ohne Charaktere und Handlung und benutzt die direkte Wendung an das Publikum, es ist auch wie bei Marthaler ein ausgeprägtes Ensembletheater mit Performancecharakter. Dazu trägt bei, daß er - wie Schleef in Herr Puntila und sein Knecht Matti 1996 am Berliner Ensemble - zugleich Mitspieler und dirigierender Regisseur ist. Die Verbindung zwischen 'Chorführer' und Ensemble ist wie auch bei Wilder und Kantor (siehe oben 7.7 Der chorische Einzeldarsteller) paradoxerweise sehr eng. Einar Schleefs verzichtet in seinen Massenchören weitgehend auf die flexible Gestaltung und die mögliche Auflockerung des Theaterchores, wie sie seit Brecht denkbar und üblich sind, da für Schleef das chorische Prinzip totalen Anspruch auf Gültigkeit besitzt. Das Chorische beruht bei ihm nur zum einen auf der fragmentarischen Auflösung des Individuums, zum anderen ist sie ein grundsätzliches Prinzip der Gesellschaft und des Theaters, ob nun als positiv zu bewerten oder nicht. Schleef ist wohl der einzige Theatermacher, für den der Chor ein verbindliches Theaterinstrument ist und nicht (nur) ein flexibel einsetzbares Komposititionsprinzip (Droge Faust Parsifal, siehe oben 2.6 Einar Schleefs Massenchöre im Zeitalter der Postmoderne).^ Die komischen Qualitäten des chorischen Ensembles bei Christoph Marthaler haben wir bereits oben erwähnt. Durch die Musik erhält der Chor bei ihm, wie wir ebenfalls sahen, auch eine positive, utopische Note. Der besondere, zentrale Status des Chores ergibt sich aus dem alle Darsteller umfassenden Spielerensemble und dem außerhalb des Theaters existierenden, wenn auch in der gegenwärtigen, neuen Medienwelt etwas 'angestaubten', Gesangschor. Damit entspricht er genau der melancholisch geprägten, sanften Komik Marthalers45 und ist sowohl in seiner Künst43

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45

Die Uraufführung fand 1988 in Bonn statt. Tatsächlich sind, wie unsere Auswahl andeutet, das Hamburger Schauspielhaus und die Berliner Volksbühne wohl die wichtigsten deutschsprachigen Theater der 90er Jahre. Allerdings setzt auch er in seiner Düsseldorfer Salomé von 1997 einen Chor im Publikum ein. Auch in Jelineks Drama Stecken, Stab und Stangl werden Schauspieler im Publikum piaziert und im wörtlichen Sinne in das Spiel 'einbezogen'. Diese Grundstimmung spiegelt sich auch in den altmodischen, jedoch gerade durch ihre vermeintliche 'Abgelebtheit' Leben und Erinnerungen anregenden Bühnenkonstruktionen Anna Viebrocks. Ruedi Häusermanns Das ausgestopfte Reh, 1997 am Schauspielhaus Wien gezeigt, ist eine (die Kritiker) stark an Marthaler erinnernde Versammlung von 10 "Chormitgliedern", die

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lichkeit als auch im Bezug zur Außenwelt legitimiert. Zudem unterscheidet sich in seinem chorischen Ensemble - ähnlich wie bei Castorf - der einzelne Darsteller nicht grundsätzlich von der durch ihn dargestellten Figur. Bei Castorf springt der Darsteller (wie bei Brecht oder Aristophanes) dabei kurzzeitig in übertrieben theatralische Rollen. In Marthalers Collagen dagegen wird durchgehend keine ganz andere Rolle gespielt, ähnlich dem antiken Chor mit seiner nur graduellen Verwandlung.

7.12 Zusammenfassung zur Renaissance des Chores, Einordnung in die Typologie und Versuch einer historischen Einschätzung Der mit chorischen Strukturen verbundene Performancecharakter des gegenwärtigen Theaters ist - vielleicht abgesehen von den (ganz unterschiedlichen) Schleef und Marthaler - weniger utopisch-optimistisch als in den 70er Jahren. Offensichtlich dient er jedoch den fuhrenden deutschsprachigen Theatermachern der Gegenwart zur Beschreibung der postmodernen Welt. Der problematische Sonderstatus des Theaterchores ist in der gegenwärtigen Renaissance des Chores als Mischform gegenüber seiner traditionellen Rolle als ergänzendes Theatermittel quasi 'aufgelöst'; das Chorische ist ein künstlerisches Gestaltungsprinzip, keine Figur mehr, die einer besonderen Legitimation bedürfte. Damit kann dieser 'Chor' auch Parodie seiner selbst (bzw. des traditionellen Chores) sein, ohne sich zu beschädigen. Das chorische Ensemble zeugt von der Krise der Gesellschaft, auch der Einzelnen, der in jeder Beziehung aufgelösten Individuen.46 Dadurch ist auch ein utopisches Moment im Chor darstellbar, ohne unglaubwürdigkitschig oder ideologisch-aufdringlich zu sein. Die Qualität und der künstlerische Wert der chorischen Inszenierungen der Gegenwart, so prägend sie auch sein mögen, sind heftig umstritten. Ein Beispiel dafür ist Michael Simons Woyzeck an der Berliner Schaubühne von 1997.47 Die Renaissance des Chorischen, nicht aber des traditionellen Chores, geht einher mit einer tiefen Theaterkrise in Deutschland. Ob der verstärkte Gebrauch des chorischen Ensembles einen bzw. den Ausweg bietet, kann hier nicht beantwortet werden. Immerhin greifen die wohl vielversprechendsten Inszenierungen der jüngsten Zeit

gemeinsam nichts tun, Filme ansehen und a capella singen. Die Marthaler ähnelnde Mischung aus Trostlosigkeit, Melancholie und der Utopie, die sich in der Chormusik ausdrückt, erklärt sich wohl nicht nur durch die Herkunft des Regisseurs aus der Schweiz, eher schon aus seiner gemeinsamen Arbeit mit Marthaler (als Musiker und Darsteller

in Murx). 46

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Das Paradox zeigt sich etwa bei den populären, "Boygroups" genannten, Musikformationen: Jeder einzelne ist hier ein (künstlich 'fabrizierter') Star, die Bewegungsästhetik dieser Gruppen zeigt jedoch - vielleicht abgesehen vom 'Chorführer' - eine totale, maschinell anmutende Einheitlichkeit. In TH 7/97 sind eine positive und eine negative Kritik einander gegenübergestellt. Die negative von Franz Wille ist in ihrer Polemik ohne jede Argumentation, geschweige denn Information oder Analyse, ein schlagendes Beispiel für die tiefe Krise des deutschen Theaters, die auch die Theaterkritik betrifft.

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häufig oder auch grundsätzlich darauf zurück. Andererseits ließe sich die kühne These aufstellen, daß, so wie das abendländische Theater aus dem Chor heraus entstanden ist (oder doch sein soll), es nun bei seiner Rückkehr in den Schoß des Chores zu Ende geht. Dieser zugespitzten, apokalyptischen These aufgrund unserer Beobachtungen in diesem Kapitel steht jedoch auch entgegen, daß wir uns stark auf das deutschsprachige Theater beschränkten.

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8. Erwin Piscators chorischer Filmgebrauch und weitere alternative Medien oder Darstellungsformen für den Theaterchor

CHORUS

Now it's high watermark And floodtide in the heart And time to go. The sea-nymphs in the spray Will be the chorus now. What's left to say? (Seamus Heaney, The Cure at Troy)

8.1 Einführung zum Film im Theater Piscators unter besonderer Berücksichtigung von Rasputin Für Erwin Piscator war das Theater eine moralische und damit auch eine zutiefst politisch-parteiische Anstalt. Er beteiligte sich in der Weimarer Republik auch durch sein Theater am Wahlkampf der KPD. Die proletarische Masse stand im Zentrum der Aufführungen, diese wollte er andererseits als Publikum direkt mit seinem Theater erreichen. Aus der Ablösung des individuellen Helden als Hauptfigur durch die Masse und aus einer historisch-materialistischen Weltsicht ergab sich bei Piscator das epische Theater. Piscators Regie ist nicht etwa wegen seiner Probenarbeit mit den Schauspielern von theatergeschichtlichem Interesse, sondern wegen seiner biihnentechnischen Experimente, die sein episches Theater erst schufen. Dabei nimmt der Einsatz des neuen Mediums Film eine wichtige Rolle ein. Der Film (und Textprojektionen) als neuartiges Instrument im Theater, von Piscator konsequenter benutzt als je vor oder nach ihm, soll uns hier interessieren, v.a. hinsichtlich seiner dramaturgischen Möglichkeiten.1 In Rasputin, die Romanows, der Krieg und das Volk, das gegen sie aufstand 1927 in der Berliner Piscator-Bühne am Nollendorfplatz setzt Piscator den Film differenzierter ein als in den vorangegangenen Inszenierungen.2 Die Guckkastenbühne ist durch eine riesige Kugel ausgefüllt; diese ist drehbar und an verschiedenen Stellen zu öffnen, so daß kleine Schauplätze innerhalb der Kugel sichtbar werden. Für Piscator selbst sicher ein unzulässiger Ansatz: Wir wollen genau das tun, was er den bürgerlichen Kritikern vorwarf, nämlich daß sie versuchten, die Ästhetik von der politischen Botschaft zu trennen. Er betonte auch, den Film aus politisch-dramaturgischen Überlegungen heraus überhaupt benutzt zu haben und "nicht als interessante Bereicherung der Regiemittel" (Piscator Schriften 2 S. 52). In seiner rückblickenden programmatischen Schrift Das politische Theater konzentriert er seine Kommentare zum Film auf das Kapitel über Rasputin. 188

Auf geschlossene Teile der Kugel werden Filme projiziert, alternativ auch auf einen Gazeschleier vor der Kugel oder eine große Leinwand, die von oben herabgelassen wird; außerdem wird zeitweise an einer Seite neben der Kugel eine längliche Leinwand für Textprojektionen angebracht. In der Inszenierung der Piscatorbiihne wurde das reißerische Stück von Alexej Tolstoj und Pavel Schtschegolew um den geheimnisvollen Mönch am Zarenhof zu einer Auseinandersetzung mit dem vorrevolutionären Rußland mit Blick auf die bevorstehende Revolution. Der 1. Weltkrieg gerät damit auch in den Mittelpunkt, der Held Rasputin tritt in den Hintergrund und wird, wie alle Figuren bei Piscator, zum typischen Vertreter einer Klasse in einer bestimmten historischen Situation.

8.2 Der Chorus filmicus in Piscators Rasputin Gleich zu Beginn wird die historisierende Typologisierung durch Filme bzw. Projektionen deutlich. Zunächst ist ein einleitender Kommentar, der sich direkt an das Publikum wendet, eingeblendet: "Bitte nehmen Sie es uns nicht übel, wir fangen immer wieder von vorne an." (siehe McAlpine S. 171). Die anschließenden Bilder zeigen Bildnisse von Zaren in genealogischer Reihenfolge. Geichzeitig erscheinen auf der seitlich angebrachten Leinwand, "Kalender" oder "Notizblock" genannt, 3 Kommentare zu den jeweiligen Porträts ("Stirbt im Wahnsinn", "Endet durch Selbstmord" usw.). Das Bild wir hier durch den Text relativiert bzw. kommentiert. An anderen Stellen bilden synchron eingeblendete Filme einen Kommentar zum Bühnengeschehen und -text, bei dieser doppelten Einblendung wird jedoch das Bild durch den Text verfremdend kommentiert. Nach dieser ersten 'geschichtlichen Lektion' für das Publikum folgt in der anschließenden Filmcollage - dem ersten eigentlichen Film - der auf den durchsichtigen Vorhang vor der Bühne projiziert wird, die nächste Belehrung über die Zustände im vorrevolutionären Rußland, die (so die inhaltliche Implikation) zur Revolution führen mußten. Es werden Armut und Hunger gezeigt und im Kontrast dazu Feste bei Hof und Ballettaufführungen; die Collage endet "mit nutzlosen Massenstürmen russischer Regimenter in den Karpaten" (Piscator Das politische Theater S. 170).4 Daraufhin beginnt das eigentliche Theaterstück (wobei auch hier sieben von 15 Szenen neu hinzugefügt sind). Piscator selbst unterscheidet in Das politische Theater zwischen drei verschiedenen Arten des Films in Rasputin: dem Lehrfilm, dem dramatischen Film und dem Kommentarfilm. Zum Lehrfilm zählt er die Bilder der Zaren zu Beginn, sowie die anschließenden Bilder zur Lage vor Beginn der Revolution. Der dramatische Film Piscator schreibt: "Der Kalender war gewissermaßen ein Notizblock, auf dem wir fortlaufend die Ereignisse des Dramas dokumentierten, Anmerkungen machten, uns an das Publikum wandten usw. Um auch hier die Kontinutität einer Bewegung zu erreichen, wurde der Text in einer von unten nach oben laufenden sogenannten 'Rollschrift' projiziert." (Das politische Theater S. 168). In Konjunktur setzte Piscator projizierte Graphiken, Zeichnungen und Texte ein und hatte so quasi ein Textbuch auf der Bühne, vergleiche Müllers Mauser. Für die Filme in Rasputin wurden sowohl Spielfilme als auch Dokumentaimaterial benutzt. 189

ist für Piscator eine Möglichkeit, einfacher und schneller als mit Theaterszenen wichtige Handlungen zu zeigen.5 Er dient etwa in einer Szene zur Darstellung einer Traumvision der Zarin, widerspricht in einer anderen den Hoffnungen der Zarin, indem er simultan die (historisch gesehen erst) folgenden revolutionären Ereignisse sichtbar werden läßt, oder zeigt im Anschluß an die Darstellung des ruhigen, friedlichen Hauptquartiers des Zaren in einer Bühnenszene den (bevorstehenden) Zeppelinangriff auf dieses Hauptquartier; ebenfalls simultan werden an anderer Stelle auf drei Projektionsflächen deutsche, französische und russische Schlachtenbilder gezeigt.6 Der Kommentarfilm als dritte Kategorie kann sich, so in der ersten Einblendung in Rasputin, direkt an das Publikum wenden, Wendungen der Handlung beschreiben, er "kritisiert, klagt an, steuert wichtige Daten bei, ja, er treibt zuweilen direkte Agitation." und zwar als Kalender, den Piscator auch als "optisches Wort" (S. 171) bezeichnet. Er kann jedoch auch durch Bilder das Geschehen kommentieren, etwa wenn in der 6. Szene der patriotische Text eines deutschen, eines französischen und eines englischen Industriellen durch Bilder rauchender Fabrikschlote kontrastiert werden (womit die wahren Gründe für den Krieg gezeigt sind: kapitalistisches Gewinnstreben der Industriellen). Der so entstehende Kontrast kann laut Piscator "pathetisch oder satirisch" sein; etwa zu den Bildern toter Soldaten die eingeblendeten Briefzeilen des Zaren über das gesunde Leben im Felde. In diesem Falle entsteht die kommentierende Funktion also ohne ein theatrales Element durch das Gegenüberstellen zweier verschiedener - jeweils dokumentarisch belegter Projektionsarten, durch Bild und Text. Tatsächlich dürfte durch den starken Kontrast eine ironisch-verfremdende Wirkung ausgehen, durch die Suggestivität der filmischen Bilder und deren Dokumentarcharakter jedoch zugleich eine pathetischemotionalisierende, d.h. die Sympathien des Publikums werden im Sinne klarer Vorausberechnung gesteuert. Die Trennung der Filme in der Inszenierung von Rasputin in drei Kategorien ist in der Sache nur bedingt zutreffend. Zwar mögen diese drei Kategorien grundlegend sein, in vielen Fällen lassen sich die Filme jedoch nicht eindeutig einer von ihnen zuordnen. Der "dramatische Film" mit Szenen der Revolution beispielsweise ist zugleich kontrastierender Kommentar zu den Worten der Zarin. Der Blick des Filmes in die Zukunft ist gleichzeitig Kommentar und Belehrung usw. Grundsätzlich kommentiert der Film das Bühnengeschehen und ist damit zugleich auch lehrhaft eingesetzt; auch der sogenannte dramatische Film erfüllt in der Regel diese Funk-

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Für Brecht unterstützt der Film im epischen Theater damit das Wort, er entlastet es vom Zwang zur Information und bereichert es dadurch, die Personen können sich freier äußern: "Der Film macht dem Drama das Bett." (Brecht Werke 21 S. 197). Allerdings gilt dies doch wohl weniger für das Theater Piscators, der in der Regel literarisch wenig anspruchsvolle Dramen für sein episches Theater benutzte - erst nach dem Krieg inszenierte er ein Brechtstück - und auch nicht fur seine Schauspielerregie berühmt ist, sondern eher für Brechts eigenes, auf seinen Dramen basierendes Theater. Die Rekonstruktion gerade dieser Filmsequenz ist schwierig (McAlpine S. 173. Sie zählt noch einen weiteren Film zur Gruppe der dramatischen Filme in der Inszenierung). Insgesamt ergibt sich für Rasputin wie auch für andere Piscatorinszenierungen das Problem der Rekonstruktion der Filme, da sie ironischerweise - im Gegensatz zum Bühnengeschehen ist das Medium Film schließlich konservierbar - nicht erhalten sind. In zeitgenössischen Kritiken wird immer wieder die technische Unzulänglichkeit der Piscator-Filme betont.

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tion, wobei er auch Bühnenszenen ersetzen kann. Die Ermordung Rasputins wird (nach McAlpine S. 175) v.a. aus technischen Gründen filmisch gezeigt, nachdem die vorangegangenen gescheiterten Anschläge auf der Bühne gespielt wurden. In diesem Zusammenhang stehen auch die filmischen Massenszenen im Theater Piscators. Schon bei M a x Reinhardt stellten wir fest, daß sich Massenszenen im Film leichter verwirklichen lassen als auf der Theaterbühne. Dementsprechend nutzte Piscator den Film auch dazu, wobei er jedoch auch auf Massenszenen auf der Bühne nicht ganz verzichten wollte. 7 Der chorische Charakter des Films im Theater Piscators ergibt sich jedoch auch - und das ist der Ausgangspunkt für dieses Kapitel - aus formalen Gesichtspunkten. Piscator spricht im Zusammenhang mit dem Kommentarfilm, den wir jedoch als grundsätzlich für fast alle Filmszenen in seinem Theater ansehen, davon, daß er "die Handlung chorisch" begleite (S. 171). Er verweist auch zustimmend auf Bernhard Diebolds Vergleich mit dem antiken Theaterchor: So wechselt im griechischen Drama ein realistisches mit einem idealistischen Prinzip [...] so wechselt die antike Spieler-Szene mit dem - antiken Chor [...] Und der Film im Piscator-Drama wäre der moderne Chor. Nur daß dem Chorus ßlmicus [im Original hervorgehoben] gerade der realistische Teil zufällt, und der sprechenden Spieler-Szene die ideelle Rede. Die Parallele liegt tiefer. Viel tiefer. Wenn der antike Chor als idealer Zuschauer, als Weisheitssprecher, als Schicksalsahner, als richtender Dämon, als Collektivum einer Volkes-Gottes-Stimme auftrat, so schuf er für das individuelle Drama der Oreste und Klytämnestren zuerst die allgemeine Atmosphäre, färbte den Himmel mit schwarzem Schicksal, bannte das Herz mit Mitleid und Furcht, rief die Götter der Zeit an, jubelte über das Rechte und klagte über das Unglück der Menschen. Genau die gleiche psychische Funktion erfüllt mit tiefster Wirkung der Piscator-Film. Auch hier spricht der Chorus der Masse als Kollektivum und als Fatum.8 Diebold übersieht bei seinem Vergleich jedoch, daß der antike Chor den Helden keineswegs intellektuell überlegen ist, der Chor ist, wie wir feststellten, nie Sprachrohr des Dichters. Piscators kommentierender Film dagegen bezieht eindeutig Stellung und zwar ganz im Sinne des Regisseurs. 9 Die eindeutige Botschaft der Aufführung ergibt sich aus dem Film in seinem Verhältnis zum Bühnengeschehen; der Film erklärt historische Zusammenhänge, zeigt die Zukunft oder im Kontrast die Wahrheit über politische Motive, außerdem richtet er sich im Sinne des Regisseurs an die Zuschauer. Diese an sich gesehen unchorische Allwissenheit des Filmes ist bei Piscator eine kollektive Wahrheit, da für ihn die Zeit der proletarischen Masse gekommen ist und daher die historische Wahrheit bei der Masse liegt, wie sich in den Kriegs- und Revolutionsszenen zeigt. Das Individuum für sich genommen interessiert nicht und kann die Wahrheit nicht transportieren; der Film, der Massen zeigt oder sich auf sie bezieht, hat sie im Sinne Piscators jedoch sehr wohl 'gepach-

Diese (ihm auch auch von wohlmeinenden Kritikern vorgeworfene) Inkonsequenz zeigt sich auch am Ende von Rasputin, wenn sowohl im Film als auch auf der Bühne revoltierende Matrosen agieren. Das Piscator-Drama S. 9f. Maria Ley-Piscator spricht in diesem einseitigen Sinne anhand ihrer Beschreibung der Inszenierung von Krieg und Frieden davon, daß der Erzähler dem antiken Chor entspreche, "being the voice of the poet" (S. 18). 191

tet', "Er ist das Schicksal, die Weisheit. Er weiß alles" (Diebold Das PiscatorDrama S. 8). Insofern ist der Film doch chorisch, da kollektiv. Die Differenz zum antiken Chor, die unumstößliche "Weisheit", ergibt sich eben aus der starken Betonung eines Aspektes - dem Kollektivgedanken - unter neuen, modem-ideologisierten Bedingungen. Das Allgemein-Erlebnis, das antik Chorische der 'Masse Mensch' lebt photographisch, wissenschaftlich, objektiv auf diesem Geister-Film aus Luft und Zeitung. 10

Damit unterscheidet er sich auch von der chorus-Figur bei Shakespeare, der wir im Gegensatz zum Chorus filmicus keinen chorischen Charakter zubilligen. Es handelt sich also bei Piscator gerade wegen der Betonung des Kollektivs um eine variierte Form des Chorischen.11 Es läßt sich trotz der tiefgreifenden Differenz also nicht bestreiten, daß Piscators Theaterfilm entscheidende Parallelen zum Theaterchor aufweist. Im Unterschied zu reinen Volks-/Massenszenen gibt es auch formale Verbindungen mit dem Chor. Der Film unterbricht die dramatische Handlung, wenn auch mit anderen Folgen als beim antiken Chor. Er schafft, wie wir sahen, einen Kontrast zum Bühnengeschehen, indem er eine eigene Spielebene aufbaut. Anstelle des lyrischen Chorliedes tritt dabei das epische Bild, dessen suggestive Kraft in der Regel allerdings über die des Theaters hinausreichen dürfte. Durch Widersprüche zu den Bühnenfiguren werden unter Zuhilfenahme der glaubwürdigen Instanz des Filmes starke (negative oder ironisch-distanzierende) Emotionen beim Publikum geweckt. Diese emotionalisierende Wirkung des Filmes geht weit über die eines Chores hinaus. Die Absicht Piscators trifft sich, wenn auch aus geradezu gegensätzlichen Motiven, mit denen Max Reinhardts, der ein Aufgehen des Publikums in der Chormasse erstrebte.12 Er erstrebt eine totale Illusion, wie sie in den unvollendeten, da zu kostspieligen Plänen von Gropius' Totaltheater für Piscator sichtbar werden. Die angestrebte totale Lebendigkeit dieses Theaters reduziert die Kulisse einerseits und belebt sie andererseits; der Film kann dabei auch als Kulissenersatz dienen.13 Das epische Theater Piscators steht insofern in einem deutlichen Gegensatz zu dem Brechts, der nicht so sehr durch eine Sogwirkung, sondern durch die Freiheit ermöglichende Distanz für das Publikum dessen Belehrung erstrebte. Der Gebrauch des Trickfilms in Die Abenteuer des braven Soldaten Schweijk nutzt die grotesk-komischen Möglichkeiten des Films im Kontrast zur Bühnenhandlung; dabei gerät der dokumentarische Charakter des Filmeinsatzes in den Hintergrund, dennoch bleibt ein satirisch-entlarvender Wahrheitsanspruch für den

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Diebold in: Rühle Theater für die Republik S. 963. Auch Brecht spricht, wie wir oben sahen, vom Film in Piscators Theater als Chor. Er erwähnt auch den Prospekt, der durch den Film zu einem "neuen Mitspieler, ähnlich dem griechischen Chor" geworden sei (Werke 22.1 S. 544). Die Erweiterung dieses Chores um größeres Wissen, als es der antike Theaterchor besaß, wird dabei indirekt durch den Vergleich mit grundsätzlich unchorischen Geistererscheinungen oder Botenberichten ausgesprochen (Vgl. Brecht 21 S. 212 und Piscator Das politische Theater S. 170). Bezeichnenderweise führte Piscator 1925 im von Reinhardt gebauten Großen Schauspielhaus die politische Revue Trotz alledem auf. "Die lebende Kulisse ist der Film." (Piscator Schriften 2 S. 25).

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Film erhalten, die entlarvende Funktion wird sogar einer Spielfilm-/ Dokumentariilmszene oder einer Textprojektion gegenüber noch deutlich betont. Andererseits benutzt die letzte Szene von Hoppla, wir leben! Textprojektion zu fast melodramatischen Zwecken: Die Klopfzeichen von Häftlingen im Gefängnis werden durch Textprojektionen dem Zuschauer in Sprache übersetzt, die extreme Situation wird durch ein vermeintlich distanzierendes Mittel dem Zuschauer, indem er quasi angesprochen wird, direkt gezeigt. Eine weitere Parallele zum antiken Chor liegt in der Sprengung der Zeitebenen durch den Film. Über die Gegenwart der Bühnenpräsenz der Protagonisten hinaus werden Vergangenheit und Zukunft auf die Bühne gebracht - und zwar optisch und nicht wie beim Chor nur durch Chorlieder. Auch hierin zeigt sich die Allwissenheit des Chorus filmicus, zumal er sich nicht irrt, sondern die historische Realität zeigt. Die Zeitebenen überspannende Wirkung wird auch im Prinzip der Simultanszenen verdeutlicht; der Film ist ein entscheidender Baustein zu Piscators anti-aristotelischem, epischen Theater. Durch Film und Projektionen entsteht ein Rahmen für die Aufführung und damit ein neues Verhältnis des Theaters zur Welt (siehe McAlpine S. 62). Piscator ist damit mehr als ein Regisseur, er ist der allwissende Autor der Inszenierung, durch die das Drama aufgeführt und zugleich relativiert wird. Dabei wendet er sich, wie gleich zu Beginn in Rasputin, direkt an das Publikum und öffnet somit die dramatische Handlung, der Film verbindet ähnlich wie bzw. noch ausdrücklicher als der antike Chor das Publikum und seine alltägliche Umwelt mit der Kunstwelt auf der Bühne. Durch den Gazevorhang zwischen Bühne und Zuschauerraum, der sich zeitweise durch Filme und Projektionen in eine "vierte Wand" verwandelt (Diebold in: Rühle Theaterfiir die Republik S. 963), wird das Spiel der Darsteller vom Publikum deutlicher getrennt, andererseits zieht der Film die Zuschauer in das Spiel hinein. Letztlich strebt Piscator die Verbindung von Darstellung und Demonstration an, sowohl in dem Sinne, daß mit der Darstellung etwas Eindeutiges gezeigt werden soll, als auch, daß als Folge dieser Darstellung eine politische Aktion des Publikums erstrebt wird.14 Am Schluß von Rasputin läßt Piscator die Internationale singen, nachdem filmisch Revolutionsszenen in St. Petersburg gezeigt wurden, die von einer berühmten Lenin-Rede, der von einem Schauspieler dargestellt wird, gefolgt wird. Kunst tritt ganz in den Dienst der politischen Botschaft; der Film als dem Theater eigentlich fremdes Medium hilft entscheidend, das Theater von seiner autonomen Künstlichkeit zu 'befreien'.

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Brecht schreibt in diesem Sinne: "Für Piscator war das Theater ein Parlament [...] Anstelle der Rede eines Abgeordneten über gewisse unhaltbare soziale Zustände trat eine künstlerische Kopie dieser Zustände." (22.1 S. 544f ). Polgar kritisiert diese 'künstlerische' Einstellung: "Als wenn jemand sagte: 'Ich werde Ihnen jetzt zeigen, wie man Politik durch das Medium der Musik macht!' Und dies dann so ausführt, daß er auf das Klavier steigt und von dort herab eine politische Rede hält." (Polgar S. 201).

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8.3 Zusammenfassung des Chorus filmicus bei Piscator und seine Einordnung in die Typologie Piscator erweitert durch das neue Medium Film das Theater; das fremde Element kann nur mit einem besonderen Status (als "vierte Wand"), vergleichbar dem Chor integriert werden. Es stellt sich jedoch die Frage, ob diese Mischung funktioniert, 15 so wie auch die Wirkung von Reinhardts Massenchören höchst umstritten war, und ob Piscator nicht konsequenterweise das Theater durch eine multimediale Performance ersetzen sollte. Uns interessiert jedoch gerade der Kontrast von Film und Theater in Piscators Theater: Der Film (oder die Projektionen) relativieren das Bühnenschauspiel. In jedem Fall ist der Chorus filmicus eine zeitgemäße Alternative zum Chor, die auch für ein nicht ausschließlich an politisch einseitigen Botschaften interessiertes Theater eine Anregung bieten kann. Denn auch eine das Bühnengeschehen nicht eindeutig, sondern künstlerisch vieldeutig erweiternde Wirkung des Alternativmediums in chorähnlicher Rolle ist denkbar,16 es würde dem antiken Chor sogar eher entsprechen. Der chorähnliche Film stellt als gegen die dramatische Illusion wirkendes Element eine Alternative zu den Einzeldarstellern auf der Bühne dar; die chorische Wirkung ergibt sich jedoch nur aus der Kontrastwirkung, nicht aus dem Film alleine. Anders als der flexible Chor im Konzept Brechts und den Umsetzungen beispielsweise von Braak oder Peter Weiss im Bereich des Dramas macht der Chorus filmicus nur in der kontrastierenden Ergänzung innerhalb der Gattung Theater Sinn, nicht als Vermischung mit den übrigen theatralen Elementen.17 Der Chorus filmicus ist keine direkte Anknüpfung an die Antike wie in Antikeninszenierungen oder bearbeitungen; auch ist er wohl keine moderne, eigenständige, aber bewußt in der von der Antike ausgehenden 'Chortradition' angesiedelte Chorform, wie sie von Brecht oder Weiss benutzt werden. Die Parallele zum Theaterchor ist vielmehr eine zufallige, erst im Nachhinein erkannte. Piscator benutzt ein ganz neuartiges Instrument, dessen Wirkungen teilweise dem Chor entsprechen. Die Möglichkeit der Historisierung durch den Chor (und für ihn) hat Hansgünther Heyme, wenn auch weniger plakativ als Piscator mit seinen historisierenden Theaterfilmen, weitergeführt; Peter Weiss benutzt auch einen Schauspielerchor für episierende Zwecke, so auch zur Darstellung von Visionen und persönlichen Vor

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Siehe ganz unterschiedliche Kritiken über die Suggestionskraft von Film und Theater in den Inszenierungen Piscators in McAlpine S. 184ff. Oskar Schlemmer lobt Piscators Theater und meint, daß über die Faszination für seine Inszenierungen die politische Botschaft vergessen werden könne. Er wünscht auch, daß die Idee "von innen, nicht von außen kommen" (Piscator S. 26) solle, demnach nicht nur Politik Thema des Theaters zu sein habe. In Hoppla, wir leben! und Der Kaufmann von Berlin (sowie der Mordszene in Rasputin) tritt der Held des Bühnenstückes allerdings auch im Film auf; die chorische Wirkung des Films erstreckt sich damit auch auf die 'Hauptfigur', die nicht zuletzt durch den Film relativiert wird.

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Stellungen; ebenso Vsevolod Meyerhold, bei dem gerade in der Kontrastwirkung auch satirisch-komische Wirkungen erreicht werden.18

8.4 Wilfried Minks' Darstellung des Chores in König Ödipus mit Hilfe eines anderen Mediums 1994 inszenierte Wilfried Minks am Münchener Residenztheater König Ödipus von Sophokles. Er löst das Problem, Einheitlichkeit in einer Gruppe aus Einzelpersonen zu schaffen, mit Hilfe der Technik. Während der Chorlieder erscheint auf 15 Fernsehbildschirmen das gleiche Bild; das Gesicht einer Person, die zugleich die Texte spricht. Die Bildschirme sind über die ganze Bühne verteilt angeordnet; nach hinten werden ihre schwarzen Sockel höher, so daß das Gesicht fast auf menschlicher Normalhöhe ist, während es in den vorderen Reihen nur zu einem liegenden Menschen gehören könnte. Spricht die Figur auf dem Bildschirm nicht, also während der Epeisodia, dann erscheinen auf den Bildschirmen jeweils zwei Zahlenkolonnen (Es könnten digitale Uhren sein oder Angaben über die Zahl der Pesttoten). Die Darstellung des Chores durch die technische Vervielfachung einer Person schafft eine totale Einheit des Chores als Gruppe; zugleich wird der individuelle Aspekt der Mitglieder bzw. des vervielfachten Mitgliedes betont. Das seitliche Hinund Herpendeln der Bildschirme und Sockel bei einigen Liedern deutet auf stilisierte Art Tanzbewegungen und eine gewisse Eigenständigkeit der 'Chorsäulen' an. Die Identität des Chores bleibt unklar und geheimnisvoll, der Chor gehört in eine andere Sphäre als die Protagonisten. Er wird in eine fast übermenschliche Sphäre gehoben; auch dadurch, daß die Diener- bzw. Beraterfünktion während der Epeisodia für den Chor wegfällt. In diesen Teilen löst Minks den Chor in eine Dienerfigur auf, die mit dem Chor der Lieder wenig zu tun hat. Der Vorteil dieser Art der Inszenierung des Chores ist neben der schon erwähnten Verbindung von Individuum und absolut einheitlicher Gruppe die Betonung der Eigenständigkeit der Chorlieder als von den Epeisodia deutlich getrennte Abschnitte. Unterstützt durch Beleuchtungswechsel, sowie durch eine auf die Rückwand projizierte Photographie einer großen Stadt während der Lieder, und durch akustische Signale, die jeweils ihren Anfang und ihr Ende klar markieren, wird eine von den Handlungsabschnitten völlig isolierte Atmosphäre der ruhigen Betrachtung geschaffen. Während einiger Stasima brennen neben den Monitoren stehende Fackeln. Die Lieder werden zu einer eigenen Aufführung, lassen sich auch als Zentrum deuten, um das herum die Handlung abläuft. Die Nachteile dieses Chores sind allerdings schwerwiegend: Es gibt keine dauernde Präsenz des Chores über das gesamte Stück hindurch. Die Dienerfigur ist zwar als Chorersatz während aller Epeisodia anwesend; sie kann aber einen Chor, der in diesem Stück auch einen Ratgeber des Herrschers spielt, nicht ersetzen. Außerdem verbindet diese Figur wenig mit dem Chor der Lieder, er geht wie auch die anderen 18

Meyerhold benutzte, zeitlich vor der Inszenierung von Der Revisor, vor Piscator mit ähnlichen, chorischen Effekten Film im Theater. Auch Meyerhold war - zeitweise - ein Regisseur parteipolitischer Massenspektakel.

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Personen während der Lieder ab. Minks versucht, die öffentliche, politische Dimension der Tragödie durch Anspielungen auf das reale Publikum zu zeigen. Ödipus und Kreon wenden sich, wenn sie - etwa über das Wüten der Pest - zum Volk sprechen, an den Zuschauerraum. Das bleibt bei der Guckkastenbühne des Residenztheaters, die durch die Bühnengestaltung bzw. Bestuhlung auch nicht aufgebrochen wird, in seiner Wirkung sehr begrenzt. Der Chor als (optischer) Kontrast zu den Schauspielern fällt in dieser Inszenierung weitgehend aus. Erst am Ende, im Kommos kommt es zu Wortwechseln zwischen 'Bildschirmchor' und Ödipus. Das distanzierte, auf zwei unvereinbaren Ebenen ablaufende Gespräch zeigt dabei eindrucksvoll die Isolierung des Helden. Insgesamt erscheint diese Aufführung als interessanter, in vielen Aspekten vorbildlicher Ansatz zum Umgang mit dem Chor. Die Vorteile bedingen jedoch die Nachteile dieser Lösung (und umgekehrt); es ist eben unmöglich, dem antiken Chor in modernen Auffuhrungen nach wissenschaftlichen Kriterien vollständig 'gerecht' zu werden. Das zeigen alle Aufführungen. Es geht für das Chorkonzept und seine Umsetzung auf der Bühne um das Abwägen der jeweiligen Vor- und Nachteile und darum, je nach Konzept Prioritäten zu setzen.

8.5 Andere Alternativen für den Chor Im 4. Kapitel wurde in anderem Zusammenhang bereits Peter Handkes Stück Kaspar erwähnt (siehe oben S. 121). Der Chor der Einsager ist ein ausschließlich akustischer, unsichtbarer Chor, da er über eine Lautsprecheranlage zu hören ist (siehe auch Reinshagen Drei Wünsche frei). Auch hier ergibt sich eine totale Einheit unter Zuhilfenahme moderner Technik; verbunden ist sie allerdings, anders als bei Minks, mit Anonymität und einer beabsichtigten, beunruhigend unmenschlichen, mechanischen Note. Diese Art Chor gehört deswegen auch in den Bereich der negativen Anti-Chöre. Zudem handelt es sich bei Handke nicht um eine alternative Möglichkeit, mit dem antiken Chor umzugehen, sondern wie auch bei Piscator um eine neue Form, die dem antiken Chor ähnelt. In George Taboris Medeabearbeitung M hingegen sind die Wanzenstimmen (in der späteren Fassung nur noch eine Wanzenstimme) der Versuch, eine zeitgemäße Form für den antiken Chor zu finden, ähnlich Minks' Versuch. In ihrer anonymen, antihumanen Form kommen sie jedoch wiederum den Stimmen der Einsager in Kaspar sehr nahe. Zudem ermöglichen sie durch das technische Mittel der Tonaufnahme und -wiedergäbe die filmische Technik der - hier allerdings nur akustischen - Rückblende. Durch die Stimmprobe der Wanzenstimmen gerät der metatheatrale Charakter dieser Choralternative in den Vordergrund." Jean Cocteau sieht in seinem Stück Les Mariés de la tour Eiffel (Die Hochzeit auf dem Eiffelturm) zwei als Grammophone verkleidete Schauspieler u.a. als Äquivalent zum Chor:

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Vgl. auch die Betonung der Stimme in Seilars' 'Hörspielchor' (siehe 4.7 Der polyphone 'Hörspielchor' in Peter Seilars' Ajax).

Die menschlichen Phonographen, rechts und links der Bühne, wie der antike Chor, wie die beiden Präsentatoren eines Revuespektakels [...] (Vorwort S. 12). Die beiden sollen die Bühne einrahmen und die durch Tanz und Pantomime dargestellte "lächerliche" Handlung durch Kommentare oder Dialogtext (anstelle der Figuren) begleiten. Dabei handelt es sich um das surrealistische Spiel mit einem akustischen Medium als Chorersatz, das wiederum jedoch von Schauspielern als solches dargestellt wird, das alternative Medium ist also nur gespielt. Als alternatives Medium für den Chor läßt sich auch die oben unter anderen Gesichtspunkten erwähnte Möglichkeit, das Publikum als Chor zu benutzen, ansehen, etwa im 'Mitmachtheater' der 60er Jahre. Damit geraten wir auf einer assoziativspekulativen Ebene in den Bereich von als Choraltemativen - nicht Alternativen zum Chor, sondern Ähnlichkeiten mit dem Chor aufweisend - einstufbaren Beispielen aus Dramatik und Bühnenpraxis: Das (auf der Basis der Biomechanik) eng mit dem Körper des Schauspielers zusammenhängende, oft bewegliche Bühnenbild in Inszenierungen Meyerholds; 20 die Stühle in Ionescos gleichnamigen Stück als Zuhörer bzw. Vertreter der nur in der kranken Vorstellungswelt der beiden Hauptdarsteller existierenden Gäste. Auch ließe sich das von Harold Pinter ausgiebig eingesetzte Mittel des Schweigens im Dialog der Figuren (durch Regieanweisungen angegeben) als chorisches Zwischenspiel ansehen; in Ausdehnung des oben beschriebenen chorischen Ensembles und der chorischen Musikalität der Einzelpersonen (Marthaler) könnte man Georges Banu folgen, der über Tschechows Der Kirschgarten ( Visnevyj sad) schreibt: "Tschechow will hier eine komplexe Chorarbeit herstellen." (S. 70). 21 Mit unserer an der Antike orientierten Defintion des Theaterchores haben diese Formen jedoch nur marginal einen dramaturgisch nachvollziehbaren Zusammenhang.

8.6 Tierchöre als alternative Chorform Chöre sind von Anfang an 'tierisch'; 22 in der antiken Komödie und dem Satyrspiel besteht der Chor häufig aus Tieren. In Meyerholds Der Revisor erzeugen, wie wir sahen, tierähnliche Gruppen auch komisch-groteske Bilder oder Geräusche. 23 Insgesamt dienen in der Neuzeit Tierchöre jedoch weniger zu komisch-grotesken Wirkungen, sondern eher dazu, die 'verlorene' Unschuld und Einheit der Natur als Kontrast zur Welt der Menschen darzustellen. 24 In Tankred Dorsts Die Mohrin geschieht 20

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Bei Schleefs Faust konnten wir feststellen, daß sich die chorische Regie auch auf die Requisiten erstreckt (siehe oben S. 92), insofern sind auch diese 'Spekulationen' (zumindest teilweise) tatsächlich mit dem Theaterchor verbunden. Das Stück fällt in das Ende des 19. Jahrhunderts, ebenso Richard Wagners bereits oben erwähntes Konzept des unsichtbaren Orchesters als Äquivalent für den antiken Chor in seinen Bayreuther Aufführungen. Möglicherweise trugen die Choreuten der ersten 'tragischen Chöre' Bocksmasken. Siehe oben S. 100; dort auch Kortners Äußerung über den tierähnlichen Chor bei Reinhardt. Das umfassendste Beispiel für Natur-Chöre - neben Tieren auch Pflanzen und 'Naturwesen' wie Nymphen - liegt im 19. Jahrhundert; Goethes Faust II umfaßt in der klassisschen 197

das leicht ironisiert durch drei lateinisch singende Delphine, 25 Lothar Trolles Szene Gezwitscher und die Stimme der Sonne26 gibt als 'Sprechtext' nur Laute verschiedener Vögel wieder, was gerade durch seine Unverständlichkeit und 'Sinnlosigkeit' als chorische Harmonie erscheint. Romeo Castelluccis in jeder Beziehung alptraumhafte Inszenierung der Orestie von 1995 als "una commedia organica?" stellt den Chor dagegen eher in einen grotesken Zusammenhang; als Gruppe kleiner auf Metallschienen bewegter Gipshasen, die schließlich explodieren; die Eumeniden werden von wirklichen Affen 'dargestellt'. "Auch sonst entartet die Aufführung zu einem grotesken Gruselkabinett der reinen Körperlichkeit." (Bierl Die Orestie' S. 95). Entgegen dieser totalen Märchenhaftigkeit und Natürlichkeit ist der Tierchor in Jean-Paul Sartres Les Mouches (.Die Fliegen), einer Bearbeitung der zweiten Hälfte der Orestie, eine Allegorie für die unnötigen, von außen erzeugten Gewissensbisse. Sie verkörpern Unterdrückung als Plage und stehen in keiner Weise für eine natürliche Idylle; die Erinnyen sind zu schäbigem Ungeziefer verkommen. Bei Sartre ist die Tiergruppe zutiefst negativ gezeichnet; ihr Charakter ist nicht ausgeprägt chorisch, die Gruppe spricht weitgehend durch eine Sprecherin und zeichnet sich durch dienstbeflissenes Handeln aus. Ebenfalls metaphorisch, allerdings nur (durch Regieanweisungen) angedeutet, bildet Elfriede Jelinek in Stecken, Stab und Stangl einen tierischen Chor. Eine Gruppe von häkelnden Kunden, die beim Fleischer anstehen, nähen sich mehr und mehr zusammen, sie werden zur "Häkelraupe" (S. 85) oder "Häkelschlange" (S. 87 f.). Zudem spielt das tote Fleisch des Metzgers und Plüschtiere der Kunden eine Rolle in dem lächerlich-grausigen Häkelensemble.27 Die Alternativchöre zeigen insgesamt eine besondere, flexible Form einer möglichen Renaissance des Instrumentes Chor. Durch die Abwandlung wird dabei die Frage, ob es sich um einen Chor handelt oder nicht, häufig zum definitorischen Problem, das für die Theaterpraxis jedoch unerheblich ist.

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Walpurgisnacht u.a. einen Chor der Ameisen, die Kraniche des Ibykus, Lamien und Sirenen bis hin zum "Echo, Chorus der sämtlichen Kreise" (V. 8444) und "All - Alle" (V. 8484). In dem oben erwähnten Dokumentarfilm Appunti per una Orestiade africana (S. 146) spricht Pasolini davon, den Chor der Furien nicht durch Menschen, sondern durch Bäume oder eine verletzte Löwin darstellen zu wollen. Später untermalt ein quietschendes Saxophon Pflanzen im Wind als filmische Darstellung der Furien. Siehe das Motto vor dem 5. Kapitel. Abgedruckt in: TdZ 11/87. Die Uraufführung von 1996 im Malersaal des Hamburger Deutschen Schauspielhauses in der Regie von Thirza Bruncken drängt jedoch gerade diese 'tierischen' Choraspekte zugunsten einer Betonung der Welt des Fernsehens in den Hintergrund. Die Inszenierung von Bruncken berücksichtigt das gemeinsame Häkeln nur am Rande, die verschiedenartigen Tiermetaphern kommen nicht zur Geltung.

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Schluß

1. Abschließende Erweiterung der Typologie des Chores Wie sich bereits in der typologischen Auflistung im Brecht-Kapitel (siehe oben S. 7 Iff.) andeutete und im 6. und 7. Kapitel bestätigte, ist bezogen auf das chorische Ensemble eine Differenzierung der Typologie bzw. der Definition des Chores im Theater des 20. Jahrhunderts nötig. Es gilt grundsätzlich zu unterscheiden zwischen: 1. dem Chor als festumrissener Figurengruppe, 2. einem chorischen Inszenierungsprinzip, nämlich dem chorischen Ensemble aller Darsteller und 3. chorischen Elementen einer Inszenierung. Der antike Chor stellt eine klar von den Protagonisten abgegrenzte Gruppe dar, folglich wird in Antikeninszenierungen der Chor traditionellerweise so inszeniert. Auch thematisch nicht an die Antike gebundene Chöre - in Inszenierungen wie Meyerholds Der Revisor, Schleefs Faust oder in Dramen wie Weiss' Marat/Sade können als eigenständige Gruppe, die den Einzelfiguren gegenüberstehen, angesehen werden (siehe 1.). Dem steht das chorische Ensemble gegenüber, das nicht Teil der Inszenierung ist, sondern das gesamte Spiel prägt. Marthalers Murx oder Castorfs Alkestis sind dafür Beispiele. Bei Castorf ergibt sich, wie wir sahen, sogar die paradox erscheinende Situation, daß der Chor als eigenständige Gruppe, wie sie in der antiken Textvorlage erscheint, verschwindet, zugleich jedoch eine andere Form des Chores, nämlich eben das chorische Ensemble, auftaucht. Diese Form knüpft äußerlich weniger direkt an die Antike an, lockert den Chor auf und überträgt ihn zugleich auf alle Darsteller, schafft jedoch einen dem antiken Chor ähnelnden, besonderen, dem Publikum gegenüber offenen Status aller Spieler.' Die vermeintliche Auflösung des antiken Chores im Rahmen eines chorischen Ensembles bedeutet folglich nicht seine Beseitigung, sondern seine 'Aufhebung' auf eine andere, weniger offensichtliche Ebene (siehe 2.). Bei aller grundsätzlichen Verschiedenheit dieser beiden Chorarten treffen sie durchaus auch zusammen, was sich schon bei Meyerhold und stärker in Peter Weiss' Drama andeutet; es gibt dort den Chor der Patienten als Teil des Spiels und zugleich den Chor aller Spieler, der weitgehend mit dem Chor der Patienten zusammenfallt. Dieser Lockerung entsprechend kommt es auch viel eher zur Mischung von Frauen und Männern als in einer Figur 'Chor'. 199

In Brechts Antigone bestehen chorisches Ensemble und Chor als Teil dieses Ensembles quasi nebeneinander. Chorische Elemente sind gemeinsame Tätigkeiten mehrerer Figuren wie Gesang, Bewegen oder Zuschauen. Sie schaffen aus dem Ensemble der Darsteller erst ein wirklich chorisches Ensemble, sind selbstverständlich auch unabdingbar für einen Theaterchor, können jedoch auch relativ unvermittelt in insgesamt chorlosen Inszenierungen oder Stücken auftreten; das betrifft vor allem 'naturalistische' Gruppen (Volk), die kurzzeitig und nicht grundsätzlich (sondern eher zufallig wirkend) chorisch behandelt werden.2 Diese Arbeit beschäftigte sich nur in Verbindung mit den anderen beiden Chorformen mit chorischen Elementen (siehe 3.). Ausgangspunkt war der Chor als festumrissene Figurengruppe (1.). Der Chor kann also eine Theaterinszenierung ergänzen (1. u. 3.) oder sich quasi mit ihr mischen (2.), wobei er dann aufhört, ihr Teil zu sein (beides kann allerdings etwa bei Weiss auch miteinander verbunden werden). Das vermeintliche Ende des Chores bei Braak oder Castorf stellt also einen Neuanfang dar, der bei Brecht angelegt ist. Eine abschließende, klare Begriffsdefinition wird dadurch deutlich erschwert.

2. Resümee zum Chor im Theater des 20. Jahrhunderts Der Chor als Theatermittel bietet, wie wir sahen, - sei es als Chorgruppe oder als chorisches Ensemble - viele ganz unterschiedliche, optische oder sprachliche, Möglichkeiten zur Bereicherung des Theaters. Besonders im Rahmen der anti-aristotelischen Entwicklung dieses Jahrhunderts leistet er einem (post-)modernen, zeitgemäßen Theater wertvolle Dienste. Eine einheitliche Entwicklung ist dabei nicht abzusehen; in den letzten Jahren dieses Jahrhunderts gibt es so unterschiedliche Ausprägungen wie Massenchöre bei Einar Schleef, in Einzelfiguren aufgelöste Chöre oder Anti-Chöre und chorische Ensembles. Eine Prognose fur bestimmte Tendenzen in der Chor-Regie der nächsten Jahre erscheint daher unmöglich. Leider gibt es jedoch nach wie vor viele peinliche oder langweilige Chorinszenierungen, wobei gerade der traditionelle Chor als Teil einer (Antiken-) Inszenierung häufig (immer noch) große Schwierigkeiten darstellt. Aber es kann keineswegs so sein, daß man auf die Frage, wie geht man mit dem Chor um auf dem Theater, behaupten könnte, jetzt hätte man den Stein der Weisen gefunden. 3

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Nach unserer Definition kann eine Einzelfigur alleine grundsätzlich nicht chorisch eingesetzt sein; Ausnahmen bzw. Grenzfälle im Bereich des lockeren chorischen Ensembles sind jedoch möglich (siehe oben 7.7 Der chorische Einzeldarsteller). Eher läßt sich bei 'nicht-menschlichen' Inszenierungselementen wie Film (bei Piscator) oder Requisiten (siehe Schleef oder Ionesco) von chorischen Elementen sprechen. Die Grenzziehung fiir eine Definition ist dabei, wie wir im 8. Kapitel (8.5 Andere Alternativen fiir den Chor) sahen, schwierig. Nel/Troller (siehe oben 7.1 Der Anti-Chor in Christof Neis Antigone-Inszenierung) S. 39.

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Dieses Resümee praktischer Chorarbeit läßt sich also in mehrfacher Weise in unser Fazit einbinden: Zum einen als Hinweis auf die großen Probleme mit dem fremden Theatermittel, wie sie das Theater der Neuzeit durchziehen; zum anderen als Andeutung der immensen, kaum begrenzten Chancen, die der Chor und chorische Elemente fiir lebendiges Theater bieten. Schließlich deutet die Äußerung auch an, daß 'vorbildliche' Chorlösungen nicht beliebig kopierbar sind. Es gibt kein Patentrezept und folglich auch nicht 'den' wahren, zukünftigen Weg. Immer wieder muß das Theater sich dem 'Problem' Chor neu stellen, darin liegen Chancen wie Schwierigkeiten. Allerdings bedeutet das keine Beliebigkeit als Maß aller den Chor betreffenden Dinge; wir konnten durchaus zahlreiche gelungene und einige weniger überzeugende Chorkonzepte beobachten. Wir versuchten uns dem Phänomen Chor unter dramaturgisch- bühnentechnischer Betrachtungsweise zu nähern. Das 'Wesen' des Chores oder des Chorischen war nicht Thema der Arbeit.4 Es dürfte jedoch dennoch klar geworden sein, daß bei der Frage nach der Identität des Chores und seinem Gruppencharakter zentrale menschliche und gesellschaftliche Themen künstlerisch umgesetzt werden. Abschließend sei ein Satz aus dem Programmheft zu Grübers kryptischem, schwer einzuordnendem und damit trotz seiner Ausnahmestellung in der Summe jedoch stellvertretend bezeichnenden Chor in Die Bakchen zitiert. Er geht auf die unvermeidliche Künstlichkeit des Chores ein, behauptet gerade darin seine Relevanz für die Welt und definiert so den Chor durch seinen besonderen Status: Der Chor setzt dort ein, wo Realität nur durch Theatralität wieder zur Realität führen kann. 5

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Siehe die oben paraphrasierte Stelle von Cixous (auf S. 118), die den Chor als 'Summe der Menschheit' sieht. Die Dramaturgin der den Chor auf eine Figur reduzierenden AntigoneInszenierung von Nils-Peter Rudolph, Henriette Beese, schreibt in ähnlichem Sinne über den Chor: "Wenn wir uns die [das?] Chorwesen veranschaulichen wollen, hat es eine große Ähnlichkeit mit einem Künstler, der zuschaut, empfindet und seine Eindrücke und Reaktionen in gestalteten Ausdruck umsetzt, hier in die Chorlieder. Ein zugleich archaisches und utopisches Geschöpf, das auszudrücken befähigt ist: Ich will micht nicht individuieren, ich will alle Vielfalt menschlicher Möglichkeit in mir erhalten, ich will weder töten noch sterben (sterben muß ich schließlich sowieso), ich will lachen und weinen, sehen und hören, denken und fühlen, lieben und hassen, mitfühlend und gleichgültig sein, unterwürfig und frech, innerlich und äußerlich, weiblich und männlich, triebhaft und logisch, zärtlich und grausam, alt und jung, begeistert und lethargisch, sinnlich und spekulativ, ich will erinnern und vergessen. Das ist zugleich eine beängstigende Regression aufs Polymorph-Perverse, ein Ärgernis an Unentschiedenheit und eine befreiende Utopie von Leben." (S. 52). Einar Schleef sieht ähnlich ambivalent, allerdings sehr verengt, im Chor seit der Antike den Urkonflikt der Ausstoßung des Individuums aus dem Kollektiv, er erkennt darin das "Abendmahls-Motiv" wieder (S. 7). Antikenprojekt /, ohne Seite.

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IV. Anhang

Literaturverzeichnis

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-

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214

Köln: Sieben gegen Theben/Antigone. Bühnen der Stadt Köln, Schauspielhaus. Premiere 15.2. 1970. Regiebuch Max Reinhardts zu König Ödipus (basierend auf der Textvorlage: Hofmannsthal, Hugo von: König ödipus. Tragödie von Sophokles, neu übersetzt. Berlin 1910). Kopie im Besitz des Instituts für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilans-Univeristät München. Stein, Peter: Die Orestie des Aischylos (458 v. Chr. uraufgeführt) in Prosa-Übersetzung nacherzählt, Schaubühne am Halleschen Ufer Berlin, o.J. Stiftung der Akademie der bildenden Künste, Abteilung darstellende Kunst, Bereich Theaterdokumentatio: Die Vorbereitungen der Schauspieler auf die Mitarbeit im Chor des antiken griechischen Dramas. Einige Erfahrungen aus unserer Inszenierungsarbeit (von Bärbel Jaksch). - Kolloquium des Theaterverbandes zu den ANTIKE-Entdeckungen am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin, 28.1.1983. Bandmitschnitt der Diskussion. Wiesbaden: Der Aias des Sophokles. Hessisches Staatstheater Wiesbaden, Kleines Haus. Premiere 19. 2. 1967.

4. Nach Robert Matejka zitierte Zeitungsartikel Der Reichsbote, Berlin, 9.11.1910. Die Welt am Montag, Berlin, 11.11.1910. Fremdenblatt Wien 6.5.1911. Königsberger Hartungsche Zeitung 10.11.1910. Wiener Allgemeine Zeitung 7.5.1911 (Alfred Polgar).

215

Register

1. Die erwähnten Inszenierungen des 20. Jahrhunderts (nach Regisseuren)1 Arnold, Heinz: Antigonae (Orff)

120

Bamowsky, Viktor: Die Troerinnen (Werfel) 170 Besson, Benno: Der Frieden 107, 125, 127, 139, 166 - König Ödipus 125,145,166 Bilabel, Barbara: Medea 170f. Braak, Kai: Antigone 162-164, 166, 172, 174, 193ff., 200 Brecht, Bertolt: Antigone 52-55, 56f„ 124, 125, 127,162,200 - Die heilige Johanna der Schiachthöfe 68 - Mann ist Mann 68 - Die Maßnahme 71,125,161 - Die Mutter 67, 69 Brecht, Ulrich: Antigone 163 Brook, Peter: Marat/Sade 155f. - Oedipus (Seneca) 124, 162 Bruncken, Thirza: Stecken, Stab und Stangl 198 Castelluci, Romeo: Die Orestie 198 Castorf, Frank: Alkestis 9, 10, 110, 163, 167 180-186, 199f. - Des Teufels General 184 Ciulli, Roberto: Alkestis 171 Clever, Edith: Medea 122 Engel, Wolfgang: Faust

184

Fontheim, Matthias: Die Troerinnen Friedrich, Götz: König Ödipus 122

Gassman, Vitorio/Lucignani, Luciano: Die Orestie 146 Gösch, Jürgen: König Ödipus 126 Grüber, Klaus Michael: Die Bakchen 9, 110, 112, 115, 125, 129, 146, 147-149, 165,201 Häusermann, Ruedi: Das ausgestopfte Reh 185f. Hall, Peter: Die Orestie 125 Herzog, Jens-Daniel: Die Legende vom armen Heinrich 159 Heyme, Hansgünther: Aias 125, 142 - Antigone (Wiesbaden) 132f. - Antigone (Calcutta) 134f., 167 - Die Braut von Messina 42,124,125, 140-141, 142, 146, 152,236 - Elektro 172 - Der Frieden 139,172 - Helena 139 - Iphigenie in Aulis/Die Troerinnen 139 - König Ödipus/Ödipus auf Kolonos 133 - Marat/Sade 156 - Die Perser 111,114f., 118, 119, 122, 124-129, 135-139, 142, 143, 148 156, 158, 162, 172, 194 - Die Phoinikierinnen 139,149,172 - Sieben gegen Theben/Antigone 133134, 142 - Die Vögel 139 Wallenstein 114,142,184 Hübner, Kurt: Antigone 124, 161f.

109 Kayser, Karl-Georg: Antigone 126 Kiesewetter, Ekkehard: Lysistrata 109

Unter Verwendung der deutschen Stücktitel.

217

König, Herbert: Die (Pound) 178

Trachinierinnen

Lang, Alexander: Medea Living Theatre: Antigone - Paradise now 162

-

183 146

Marthaler, Christoph: Faust 104, 185 - Murx 9, 10, 104-106, 109, 130,162, 166, 167, 176, 182, 185Í, 197, 199 - Stunde Null oder die Kunst des Servierens 104 - Der Sturm 104 Meyerhold, Vsevolod: Morgenröte 109 - Der Revisor 9,94-104, 106f., 119, 124,128, 130, 142, 162,180, 194, 197, 199,200 Minks, Wilfried: König Ödipus 9, 195-196 Mnouchkine, Ariane: Les Atrides (Iphigenie inAulis) 9,115-120,121,122,124, 126, 128, 130,157,160,165,172 Müller, Heiner: Mauser 174,175,189 Nel, Christof: Antigone

167-170,171, 179

200 Neuenfels, Hans: Medea 171 Nitsch, Hermann: 6 tage-spiel 162 Noelte, Rudolf: König Ödipus 122, 124, 169 Performance Group: Dionysos 69 121, 162 Perten, Hanns-Anselm: Marat/Sade 155 Pesenti, Francois Michel: Die Perser 144 Piscator, Erwin: Hoppla, wir leben! 193f. - Der Kaufmann von Berlin 194 - Konjunktur 189 - Krieg und Frieden 191 - Rasputin 9, 124, 188-194, 196 - Schwejk 192 - Trotz alledem 192 Reinhardt, Max: Die Braut von Messina - Danton 77 - Dantons Tod 76f„ 89

218

76

Der Kaufmann von Venedig 76 König Ödipus 8, 10, 75, 77-87, 88, 89, 91, 100, 102, 103f., 107, 112, 117, 119, 124-130, 142, 145, 148, 157, 161, 166, 197 - Lysistrata 76 - Medea 75 - Das Mirakel 77,147 - Ödipus und die Sphinx 75f. - Die Räuber 76 Renne, Berndt: Die Troer innen 178 Ronconi, Luca: Die Bakchen (Prato) 179 - Die Bakchen (Wien) 144 - Die Orestie 144 Rudolph, Nils Peter: Antigone 167, 171, 201 Schleef, Einar: Faust 8, 10, 91-93, 124, 126, 127, 130, 167, 184Í, 197, 199f. - Herr Puntila und sein Knecht Matti 185 - Die Mütter 91,166 - Salomé 185 Wessis in Weimar 91 Schlemmer, Oskar: Chorische Pantomime/Maskenchor 121 Seilars, Peter: Ajas (Auletta) 122-123, 126, 143, 159, 196 Sellner, Gustav Rudolf: König Ödipus 110, 112, 119, 125, 127, 130, 132, 144ff., 162 Serban, Andrej: Elektro 129, 145 Simon, Michael : Woyzeck 186 Stefanek, Lore: Antigone 143f., 169 Stein, Peter: Antikenprojekt I (Übungen für Schauspieler) 110,111 - Die Orestie (Agamemnon) 9,110-115, 118-120, 122, 124-130, 142, 163, 165f„ 172 Swinarski, Konrad: Marat/Sade 155 Wendt, Ernst: Antigone 167,171 Wieler, Jossi: Wolken Heim 185

2. Die erwähnten Dramen des 20. Jahrhunderts Anouilh, Jean: Antigone 173f., 180 - Madame de... 121 Auletta, Robert: Ajax 122 Ayckbourn, Alan: A Chorus of Disapproval 177 Braun, Mattias: Die Perser 138 Brecht, Bertolt: Antigone 52-55, 56f., 58, 62, 65, 66, 70, 72, 74, 146, 182, 200 - Aufstieg und Fall der StadtMahagonny 72 - Die Ausnahme und die Regel 62, 65 - Das Badener Lehrstück vom Einverständnis 59, 65f., 71 - Der Brotladen 57, 61, 64, 72, 73, 74 - Die Dreigroschenoper 72 - Der Flug der Lindberghs 58 - Die heilige Johanna der Schlachthöfe 60, 61, 63Í, 68, 72, 73 - Herrnburger Bericht 60, 65 - Die Horatier und die Kwatier 65 - Der Jasager 59, 62 - Der kaukasische Kreidekreis 66 - Die Maßnahme 59,62, 71, 73, 125, 173, 174,178 - Die Mutter 57, 60, 6 I f f , 67f„ 72, 73, 74 - Schwejk 6 3 , 6 5 , 6 7 , 7 1 , 7 2 , - Die Tage der Kommune 60, 62, 63, 64, 67, 72, 73 Canetti, Elias: Komödie der Eitelkeit 177ff - Die Befristeten 177 Cocteau, Jean: Die Hochzeit auf dem Eiffelturm 196f. Dorst; Tankred: Die Legende vom armen Heinrich 9, 158-159, 160 - Die Mohrin 132, 197f. Dreyer, Emst-Jürgen: Die goldene Brücke 179 Dürrenmatt, Friedrich: Der Besuch der alten Dame 108f. Eliot. T.S.: Der Familientag Mord im Dom 147 Fo, Dario: Mistero Buffo

160

179f.

Frisch, Max: Biedermann und die Brandstifter 108 Goetz, Rainald: Krieg

109

Hacks, Peter: Der Frieden 107 Handke, Peter: Kaspar 121,196 - Publikumsbeschimpfung 128 - Die Stunde da wir nichts voneinander wußten 121 Hasenclever, Walter: Antigone 173 Hauptmann, Gerhart: Elektro 173 - Iphigenie in Aulis 173 Hochhuth, Rolf: Wessis in Weimar 91 Hofmannsthal, Hugo von: Elektro 173 - König Ödipus 77, 81 f., 173 - Ödipus und die Sphinx 75 Ionesco, Eugène: Die kahle Sängerin 176, 184 - Die Stühle 197 Jelinek, Elfriede: Stecken, Stab und Stangl 185, 198 Wolken Heim 185 Kaiser, Georg: Gas 88f. Von morgens bis mitternachts Kraus, Karl: Die letzten Tage der Menschheit 109

89

Maeterlinck, Maurice: Die sieben Prinzessinnen 121 f. Möller, Eberhard Wolfgang: Das Frankenburger Würfelspiel 90 Müller, Heiner: Anatomie Titus Fall of Rome 176 - Der Horatier 174 - Hamletmaschine 175 - Landschaft mit Argonauten 175 - Mauser 62, 174f., 189 - Ödipus Tyrann 145, 175 - Philoktet 175 - Prometheus 175 O'Neill, Eugene: Trauer muß Elektro tragen 173 Petnischewskaja, Ljudmilla: Der Moskauer Chor 177,179

219

Pirandello, Luigi: Heute abend wird aus dem Stegreif gespielt 161,180 - Jeder auf seine Weise 161 - Sechs Personen suchen einen Autor 161 Sartre, Jean-Paul: Die Fliegen 198 Strindberg, August: Ein Traumspiel 183 Reinshagen, Gerlind: Die fremde Tochter 146, 176 - Doppelkopf 176 - Drei Wünsche frei 121,160,176, 196 - Frenule Tochter 213 - Leben und Tod der Marilyn Monroe 176 Soyinka, Wole: Die Bakchen des Euripides 146f. Strauß, Botho: Schlußchor 178f. Tabori, Goerge: Die Kannibalen - M 196

220

164

Toller, Ernst: Masse Mensch 88f. Tolstoj, Alexej/Schtschegolew, Pavel: Rasputin 189 Trolle, Lothar: Gezwitscher und die Stimme der Sonne 198 Turrini, Peter: Die Schlacht um Wien 179 Vollmoeller, Karl Gustav: Das Mirakel 77 Wallraff, Günther: Nachspiele 163 Wangenheim, Gustav von: Die Mausefalle 68 Weiss, Peter: Hölderlin 159f. - Marat/Sade 9, 92, 118, 119, 125, 130, 142, 150-157, 158, 161, 163f., 183, 194, 199f. Wilder, Thornton: Unsere kleine Stadt 180,185 Zuckmayer, Carl: Des Teufels General 184