Der Chor in den Tragödien des Sophokles: Person, Reflexion, Dramaturgie [1 ed.] 9783823380955, 3823380958

Ausgehend von der formalen und inhaltlichen Differenz von Chor- und Sprechpartien innerhalb der Tragödie bietet dieser B

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German Pages 796 [797] Year 2017

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Inhalt
Danksagung
A Einleitung: Thema, Instrumentarium, Methode
I. Vorbemerkung: Struktur der Einleitung
II. Meinungen zum Chor: Forschungsabriss
III. Der Chor: Phänomen – Dichtung – Formteil
1. Sitz im Leben: „song-and-dance culture“, Kult, Polis
2. Chor und Dichtung: Chorlyrik und Tragödie
3. Der Chor als Formteil der Tragödie
3.1 Spektrum I: der tragische Chor als (kollektive) dramatis persona
3.2 Formale Gegebenheiten: Konventionalität – Dualismus Sprechpartien-lyrische Partien – Erscheinungsbild des Chors
IV. Chorische Reflexion – Reflexionsstrategien
1. Reflexion und Handlung
2. Spektrum II: Reflexionsstrategien
2.1 Begriffsklärung
2.2 Thematisch-begriffliche Reflexion
2.3 Imaginativ-visualisierende Reflexion
3. Spektrum III: Dramaturgische Funktionalisierung
3.1 Begriffsklärung
3.2 Fokussierung
3.3 Kontextualisierung
4. Chorische Binnengliederung – dramaturgische Implikationen des Einzelstücks
V. Zielsetzung, Aufbau und Vorgehen der Arbeit – praeliminaria
1. Zielsetzung und wesentliche Charakteristika dieser Untersuchung
2. Aufbau der Arbeit, methodische Entscheidungen und Vorgehen im Einzelnen
3. praeliminaria
3.1 Datierung und Chronologie
3.2 Text und Textkritik
3.3 Abkürzungen, Zitation u. Ä.
B Einzelinterpretationen sowie Gesamtschauen der Großabschnitte
I. Chöre wehrfähiger Männer
1. Philoktet
Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur
Interpretation
Prolog (v. 1 – 134)
Par­odos bzw. Wechselgesang (v. 135 – 218)
Erstes Epeis­odion (v. 219 – 675)
Stasimon (v. 676 – 729)
(Schlaf-)Lied (v. 827 – 864)
Kommos Philoktet-Chor (v. 1081 – 1217)
Exodos (v. 1222 – 1471)
Zusammenfassung
2. Aias
Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur
Interpretation
Prolog (v. 1 – 133)
Par­odos (v. 134 – 200)
Amoibaion Tekmessa-Chor (v. 201 – 256)
Kommos Aias-Tekmessa-Chor (v. 348 – 429)
Erstes Stasimon (v. 596 – 645)
Zweites Stasimon (v. 693 – 718)
Drittes Epeis­odion und Abtritt des Chors (v. 719 – 814)
(Monolog des Aias,) Epiparodos und Kommos Chor-Tekmessa (v. 815 – 960)
Drittes Stasimon (v. 1185 – 1222)
Viertes Epeis­odion und Exodos (v. 1223 – 1420)
Zusammenfassung
Gesamtschau zu den Chören wehrfähiger Männer
II. Frauenchöre
1. Trachinierinnen
Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur
Interpretation
Prolog (v. 1 – 93)
Par­odos (v. 94 – 140)
Chorlied im ersten Epeis­odion (v. 205 – 224)
Erstes Stasimon (v. 497 – 530)
Zweites Stasimon (v. 633 – 662)
Drittes Stasimon (v. 821 – 862)
Lyrische Wechselpartie Chor-Amme mit anschließender Szene (v. 863 – 895 bzw. 946)
Viertes Stasimon (v. 947 – 970)
Wechselgesang und Exodos (v. 971 – 1278)
Zusammenfassung
2. Elektra
Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur
Interpretation
Prolog (v. 1 – 85)
θρῆνος/Monodie Elektras und Kommos / Par­odos (v. 86 – 250)
Erstes Stasimon (v. 472 – 515)
Zweites Epeis­odion und Kommos Elektra-Chor (v. 516 – 870)
Zweites Stasimon (v. 1058 – 1097)
Drittes Stasimon mit anschließendem Wechselgesang (v. 1384 – 1441)
Exodos (v. 1442 – 1510)
Zusammenfassung
Gesamtschau Frauenchöre
III. Greisenchöre
1. Oidipus Tyrannos
Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur
Interpretation
Prolog (v. 1 – 150)
Par­odos (v. 151 – 215)
Erstes Stasimon (v. 463 – 511)
Erstes Amoibaion (v. 649 – 696)
Zweites Stasimon (v. 863 – 910)
Drittes Stasimon (v. 1086 – 1109)
Viertes Stasimon (v. 1186 – 1222)
Kommos / zweiter Wechselgesang v. 1297 – 1366 / 68)
Exodos (v. 1369 – 1530)
Zusammenfassung
2. Oidipus auf Kolonos
Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur
Interpretation
Prolog (v. 1 – 116)
Par­odos (v. 117 – 253)
Wechselgesang im ersten Epeis­odion (v. 510 – 548)
Erstes Stasimon (v. 668 – 719)
Amoibaion im zweiten Epeis­odion (v. 833 – 843, 876 – 886)
Zweites Stasimon (v. 1044 – 1095)
Drittes Stasimon (v. 1211 – 1248)
Amoibaion (v. 1447 – 1499)
Viertes Stasimon (v. 1556 – 1578)
Kommos (v. 1670 – 1750)
Zusammenfassung
3. Antigone
Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur
Interpretation
Prolog (v. 1 – 99)
Par­odos (v. 100 – 162)
Erstes Stasimon (v. 332 – 383)
Zweites Stasimon (v. 582 – 630)
Drittes Stasimon (v. 781 – 800)
Kommos (v. 806 – 882)
Viertes Stasimon (v. 944 – 986)
Fünftes Stasimon (v. 1115 – 1152)
Kommos (v. 1155 – 1353)
Zusammenfassung
Gesamtschau Greisenchöre
C Synthese und Ausblick
1. Rückblick auf die Arbeit und ihre Teile
2. Allgemeine Gesichtspunkte der sophokleischen Chorführung
3. Verhältnis der drei Spektren zueinander: chorisches Koordinatensystem
4. Erste Folgerungen
5. Der Chor als Rahmen der sophokleischen Tragödie: Versuch einer Wesensbestimmung
6. Ausblick: Weitung der Perspektive und mögliche Nutzbarmachung der Arbeit
Bibliographie
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Der Chor in den Tragödien des Sophokles: Person, Reflexion, Dramaturgie [1 ed.]
 9783823380955, 3823380958

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DRAMA 20 Studien zum antiken Drama und zu seiner Rezeption Bernhard Zimmermann (Hrsg.)

Bastian Reitze

Der Chor in den Tragödien des Sophokles Person, Reflexion, Dramaturgie

Der Chor in den Tragödien des Sophokles

DRAMA

Neue Serie . Band 20

Studien zum antiken Drama und zu seiner Rezeption

Herausgegeben von Bernhard Zimmermann

Bastian Reitze

Der Chor in den Tragödien des Sophokles Person, Reflexion, Dramaturgie

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG · Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: [email protected] Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISSN 1862 – 7005 ISBN 978-3-8233-

in memoriam amici Marc Baum 1985 – 2014

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

A

Einleitung: Thema, Instrumentarium, Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

I.

Vorbemerkung: Struktur der Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

II.

Meinungen zum Chor: Forschungsabriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16

III.

Der Chor: Phänomen – Dichtung – Formteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

1. 2. 3.

IV.

Sitz im Leben: song-and-dance culture, Kult, Polis . . . . . . . . . . . 31 Chor und Dichtung: Chorlyrik und Tragödie . . . . . . . . . . . . . . 33 Der Chor als Formteil der Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Spektrum I: der tragische Chor als (kollektive) dramatis 3.1 persona . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Formale Gegebenheiten: Konventionalität – Dualismus 3.2 Sprechpartien – lyrische Partien – Erscheinungsbild des Chors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

Chorische Reflexion – Reflexionsstrategien – Dramaturgische Funktionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1. 2.

3.

4.

Reflexion und Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spektrum II: Reflexionsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Thematisch-begriffliche Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Imaginativ-visualisierende Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Spektrum III: Dramaturgische Funktionalisierung . . . . . . . . . . Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Fokussierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Kontextualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Chorische Binnengliederung – dramaturgische Implikationen des Einzelstücks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51 51 53 53 54 56 57 57 59 61 62

8

V.

Inhalt

Zielsetzung, Aufbau und Vorgehen der Arbeit – praeliminaria . . . . . . . . .

1. 2. 3.

Zielsetzung und wesentliche Charakteristika dieser Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau der Arbeit, methodische Entscheidungen und Vorgehen im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . praeliminaria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Datierung und Chronologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Text und Textkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Abkürzungen, Zitation u. Ä. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3

66 66 68 73 73 76 78 79

B

Einzelinterpretationen sowie Gesamtschauen der Großabschnitte . . . . .

I.

Chöre wehrfähiger Männer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

1.

Philoktet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur . . . . . . . . . . . . . . 81 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Prolog (v. 1–134) S. 83 – Parodos bzw. Wechselgesang (v. 135–218) S. 86 – Erstes Epeisodion (v. 219–675) S. 101 – Stasimon (v. 676–729) S. 116 – (Schlaf-)Lied (v. 827 –864) S. 134 – Kommos Philoktet-Chor (v. 1081–1217) S. 145 – Exodos (v. 1222–1471) S. 158

2.

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur . . . . . . . . . . . . . . Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Prolog (v. 1–133) S. 170 – Parodos (v. 134–200) S. 175 – Amoibaion Tekmessa-Chor (v. 201–256) S. 183 – Kommos Aias-Tekmessa-Chor (v. 348–429) S. 188 – Erstes Stasimon (v. 596–645) S. 198 – Zweites Stasimon (v. 693–718) S. 206 – Drittes Epeisodion und Abtritt des Chors (v. 719–814) S. 217 – (Monolog des Aias,) Epiparodos und Kommos Chor-Tekmessa (v. 815–960) S. 223 – Drittes Stasimon (v. 1185–1222) S. 233 – Viertes Epeisodion und Exodos (v. 1223–1420) S. 248

3.

162 167 167 170

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Gesamtschau zu den Chören wehrfähiger Männer: Abhängigkeit, Imagination, Fokussierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

Inhalt

II.

9

Frauenchöre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

1.

Trachinierinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur . . . . . . . . . . . . . . 264 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

Prolog (v. 1–93) S. 265 – Parodos (v. 94–140) S. 270 – Chorlied im ersten Epeisodion (v. 205–224) S. 279 – Erstes Stasimon (v. 497–530) S. 287 – Zweites Stasimon (v. 633–662) S. 299 – Drittes Stasimon (v. 821–862) S. 309 – Lyrische Wechselpartie Chor-Amme mit anschließender Szene (v. 863–895 bzw. 946) S. 325 – Viertes Stasimon (v. 947–970) S. 331 – Wechselgesang und Exodos (v. 971–1278) S. 336

2.

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elektra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur . . . . . . . . . . . . . . Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Prolog (v. 1–85) S. 349 – θρῆνος/Monodie Elektras und Kommos/ Parodos (v. 86–250) S. 354 – Erstes Stasimon (v. 472–515) S. 369 – Zweites Epeisodion und Kommos Elektra-Chor (v. 516–870) S. 382 – Zweites Stasimon (v. 1058–1097) S. 394 – Drittes Stasimon mit anschließendem Wechselgesang (v. 1384–1441) S. 408 – Exodos (v. 1442–1510) S. 419

3.

III.

340 346 346 349

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 Gesamtschau Frauenchöre: emotionale Bindung, bipolare Imagination / Visualisierung, kontextualisierende Deutung . . 428

Greisenchöre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434

1.

Oidipus Tyrannos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur . . . . . . . . . . . . . . 434 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Prolog (v. 1–150) S. 437 – Parodos (v. 151–215) S. 439 – Erstes Stasimon (v. 463–511) S. 450 – Erstes Amoibaion (v. 649–696) S. 462 – Zweites Stasimon (v. 863–910) S. 470 – Drittes Stasimon (v. 1086–1109) S. 488 – Viertes Stasimon (v. 1186–1222) S. 498 – Kommos/zweiter Wechselgesang v. 1297–1366/68) S. 510 – Exodos (v. 1369–1530) S. 519

2.

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 Oidipus auf Kolonos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur . . . . . . . . . . . . . . 528

10

Inhalt

Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531

Prolog (v. 1–116) S. 531 – Parodos (v. 117–253) S. 534 – Wechselgesang im ersten Epeisodion (v. 510–548) S. 550 – Erstes Stasimon (v. 668–719) S. 559 – Amoibaion im zweiten Epeisodion (v. 833–843, 876–886) S. 580 – Zweites Stasimon (v. 1044–1095) S. 586 – Drittes Stasimon (v. 1211–1248) S. 601 – Amoibaion (v. 1447–1499) S. 614 – Viertes Stasimon (v. 1556–1578) S. 628 – Kommos (v. 1670–1750) S. 635

3.

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antigone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur . . . . . . . . . . . . . . Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

642 650 650 653

Prolog (v. 1–99) S. 653 – Parodos (v. 100–162) S. 656 – Erstes Stasimon (v. 332–383) S. 668 – Zweites Stasimon (v. 582–630) S. 686 – Drittes Stasimon (v. 781–800) S. 698 – Kommos (v. 806–882) S. 711 – Viertes Stasimon (v. 944–986) S. 718 – Fünftes Stasimon (v. 1115–1152) S. 732 – Kommos (v. 1155–1353) S. 743

4.

C

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 748 Gesamtschau Greisenchöre: Polisidentifikation, Prinzipienreflexion, Kontextualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 755

Synthese und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Rückblick auf die Arbeit und ihre Teile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 765 Allgemeine Gesichtspunkte der sophokleischen Chorführung 766 Verhältnis der drei Spektren zueinander: chorisches Koordinatensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 769 Erste Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773 Der Chor als Rahmen der sophokleischen Tragödie: Versuch einer Wesensbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 778 Ausblick: Weitung der Perspektive und mögliche Nutzbarmachung der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 782

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783

1. 2. 3.

Textausgaben, Kommentare, Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . 783 Lexika und Lexikonartikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 785 Monographien, Zeitschriftenartikel und weitere Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. .. .. .. .. .. .. 786

Danksagung Das vorliegende Buch ist die geringfügig überarbeitete Fassung der gleichna‐ migen Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie, die dem Fachbereich 07 Geschichts- und Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im November 2015 vorgelegt wurde; das Promotionskolloquium fand im Juli 2016 statt. Es ist mir eine freudige Pflicht, an dieser Stelle einer Reihe von Personen meinen Dank auszusprechen. Allen voran danke ich meinem Doktorvater, Herrn Prof. Jochen Althoff (Mainz), der das Entstehen dieser Arbeit sowie meine Stu‐ dien im Ganzen stets mit besonderem Interesse, persönlichem Einsatz sowie Rat und Hilfe begleitet und gefördert hat. Frau PD Annemarie Ambühl (Mainz / Leiden) danke ich für die Übernahme des Korreferats sowie manchen wertvollen Hinweis. Auch den weiteren Gut‐ achtern, den Mainzer Professoren Wilhelm Blümer, Tamara Choitz und Ulrich Volp, gilt mein besonderer Dank. Herrn Prof. Bernhard Zimmermann (Freiburg) danke ich sehr für die unkom‐ plizierte Aufnahme der Arbeit in die DRAMA-Reihe; dem Narr Verlag Tübingen, im Besonderen Herrn Tillmann Bub, bin ich für die reibungslose Zusammenar‐ beit bei der Realisierung des Buchs, der Geschwister Boehringer Ingelheim Stif‐ tung für Geisteswissenschaften für die Gewährung eines Druckkostenzu‐ schusses sehr dankbar. Mein Dank gilt zudem allen ehemaligen Lehrern, Freunden und Bekannten, die mir beim Korrekturlesen der Arbeit geholfen haben. Besonders verbunden bin ich darüber hinaus dem Gymnasium an der Stadt‐ mauer, Bad Kreuznach, den Damen und Herren Karl-Ulrich Nordmann, Jo‐ hannes Th. Thormaelen, Etta Engelmann, Dr. Hans Lier, Renate Peukert, Gunt‐ hard Müller und Benedikt Kloppenborg – sowie freilich dem ganzen Mainzer ‚Seminar für Klassische Philologie‘, im Besonderen Frau Dr. Rebekka Schirner, Frau Simone Arzt sowie meinen collegis maioribus und Freunden Günter Böck‐ eler und Dr. Wolfram Brinker. Für ihren Rat, ihren Zuspruch und ihre Freundschaft (weit über die Angele‐ genheiten des Verfahrens hinaus) danke ich einer Reihe lieber Menschen, im Besonderen Tobias Chr. Weißmann, Jacqueline Beisiegel und Ina Maria Theile.

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Danksagung

Von Herzen danke ich schließlich meiner Mutter Claudia Reitze sowie meiner Frau Johanna Reitze, ohne deren Unterstützung, Geduld und Rückhalt dieses Buch, wie so vieles, nicht hätte entstehen können. Gewidmet ist die Arbeit dem Andenken meines Schul- und Studienfreundes Marc Baum. Nur allzu gerne würde ich mit ihm noch einmal über Literatur, Philosophie und die Gegenstände dieses Buches sprechen. Sein Humor, sein wacher Verstand und sein unglaublich feines Gefühl für Sprache und Dichtung bleiben mir unvergessen. Mandel, im Juni 2017                      Bastian Reitze

A Einleitung: Thema, Instrumentarium, Methode

I. Vorbemerkung: Struktur der Einleitung In dieser Einleitung soll mit dem tragischen Chor das Thema der Untersuchung, das der Interpretation zu Grunde liegende Konzept sowie die im Hauptteil an‐ gewandte Methode vorgestellt werden. Aufgabe dieser Einleitung ist es dabei einzig, den Rahmen der eigentlichen Untersuchungen abzustecken; sie ist dem‐ entsprechend möglichst kurz gehalten und verweist regelmäßig auf weitere Forschungsliteratur, die bei weitergehenden Fragestellungen oder dem Wunsch nach thematischer Vertiefung im Einzelnen konsultiert werden kann. Der Forschungsabriss (II) sucht dabei, die vorliegende Arbeit innerhalb der wissenschaftlichen Beschäftigung zu verorten und benennt grundlegende An‐ sichten und Konzepte, die dieser Arbeit zu Grunde liegen. Im Sinne einer the‐ matischen Hinführung soll der folgende Abschnitt (III) zunächst die Veranke‐ rung des Phänomens „Chor“ in der griechischen bzw. attischen Lebenswelt, dann die Eigenheiten der chorischen Dichtung, schließlich die Verbindung zwi‐ schen Chor und Tragödie kurz aufzeigen. Mit dem Chor als festem Formteil der Tragödie, wie sie uns vorliegt, beschäftigt sich der letzte Unterabschnitt. In Abschnitt IV sollen daraufhin die für die Einzelanalysen zentralen Kon‐ zepte chorischer Reflexion und ihrer basalen dramaturgischen Funktionalisie‐ rung ausgeführt werden, bevor der die Einleitung beschließende Abschnitt V konkret das Ziel und die Methode der Arbeit formuliert und einige praeliminaria angibt.

II. Meinungen zum Chor: Forschungsabriss1 In ihrer „Introduction“2 gibt K ITZINGER einen kenntnisreichen und konzisen Überblick der neuesten (hauptsächlich der angelsächsischen Forschung ent‐ stammenden) Positionen hinsichtlich des Chors und seiner Verwendung in der attischen Tragödie. Entsprechendes leistet G RUBER in seinem umfangreichen Methodenkapitel mit speziellem Blick auf die deutschsprachige Forschung.3 Eine besonders weite Perspektive nimmt G OLDHILL in seinem Abriss zur modernen Forschungsgeschichte ein.4 Auf diese Überblicke sei hier besonders verwiesen. Einen speziellen Fokus auf die Aufarbeitung des neunzehnten Jahrhunderts legt S ILK5, der sich mit Hegel und Nietzsche einem über die eigentliche altphilologi‐ sche Beschäftigung hinausgreifenden Rahmen zugewendet hat. Als prägend für die allgemeine Beschäftigung mit dem Phänomen „Chor“ innerhalb der Tragödie (und dort im Besonderen für die deutsche Forschung) hat sich die auf K RANZ zurückgehende Angabe dreier „Funktionen“ des Chors erwiesen.6 Dem Chor, so die von M ÜLLER zitierte Version, wird dabei zuge‐ schrieben, „erstens Person des Stücks zu sein, zweitens Instrument zur Beglei‐ tung, Gliederung, Vertiefung und drittens ‚Organ des dichterischen Ich‘“.7 Auch wenn diese griffige Dreiteilung weder der Komplexität des Phänomens „tragi‐ scher Chor“ noch der umfangreichen wissenschaftlichen Auseinandersetzung 1

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Die Forschungsliteratur zum (tragischen) Chor ist ebenso unüberschaubar wie die zu Sophokles. Hier kann daher nicht der Versuch unternommen werden, eine umfassende Würdigung aller Beiträge und Forschungsrichtungen oder auch nur eine annähernd vollständige Bibliographie zu geben. K ITZINGER (2008). The choruses of Sophoklesʼ Antigone and Philoktetes: a dance of words, Leiden, S. 1 – 10. G RUBER (2009). Der Chor in den Tragödien des Aischylos: Affekt und Reaktion, Tü‐ bingen, S. 1 – 43. G OLDHILL (1997). „Modern critical approaches to Greek tragedy.“ in: The Cambridge Companion to Greek Tragedy, hrsg. v. E ASTERLING (1997), Cambridge, S. 324 – 347. S ILK (1998 b). „‘Das Urproblem der Tragödie’: notions of the chorus in the nineteenth century.“ in: Der Chor im antiken und modernen Drama, hrsg. v. R IEMER und Z IMMER‐ MANN (1998), Stuttgart und Weimar, S. 195 – 226. Mit K RANZ (1933). Stasimon: Untersuchungen zu Form und Gehalt der griechischen Tragödie, Berlin, beginnen sowohl G RUBER (2009) S. 1 ff. als auch R UTHERFORD (2012). Greek Tragic Style: form, language and interpretation, Cambridge, S. 223 f. K RANZ (1933) S.  171; M ÜLLER (G.) (1967). „Chor und Handlung bei den griechischen Tragikern.“ in: Sophokles, hrsg. v. D ILLER (1967), Darmstadt (Wege der Forschung Band XCV), S. 212 – 283.

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gerecht zu werden vermag,8 bietet es sich an, an ihr als einem Leitfaden einige wesentliche Deutungsansätze auszuführen und die vorliegende Arbeit im Kon‐ text der Sekundärliteratur zu verorten.9 Es erscheint ratsam, die von K RANZ als letzte aufgeführte Funktion des Chors hier in aller Kürze als erstes zu behandeln: Die auf im Wesentlichen Schlegel und Schiller zurückzuführende Anschauung des Chors als „Sprachrohr des Dichters“ bzw. als „idealisiertem Zuschauer“10 trennte die lyrischen Partien des Chors vom eigentlichen Handlungsverlauf. Als Sprecher der innerhalb der Deu‐ tung auf ihr reflektorisches Moment reduzierten Chorpassagen erscheint dabei letztlich der Dichter selbst, der qua Chor zu seinem Publikum spricht, es ermahnt oder unterweist und ihm so den gedanklichen Rahmen zum Verständnis des jeweiligen Stücks (und darüber hinausgehender Sachverhalte) an die Hand gibt. Wenn auch dieses Verständnis der reflektorischen Qualität einzelner Chorlieder gerecht zu werden scheint, läuft es dennoch Gefahr, in einer methodisch nicht haltbaren Weise Aussagen des Chors für Äußerungen des Dichters zu halten. Rekonstruktionen der Anschauungen des Dichters, gar seiner Theologie anhand der Chorpartien einer bestimmten Tragödie sind daher mit äußerster Vorsicht zu handhaben; dem Verständnis des Einzelstücks als eines dramatischen Kunst‐ werks dienen die Ansätze der Sprachrohr-Theorie nur selten. Den Chor (nur) als Mitspieler der Tragödie zu sehen, war und ist innerhalb der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Tragödien Ausgangspunkt vielfäl‐ tiger Arbeiten: Zu erweisen, inwieweit der Chor als ein Mitspieler, ein Akteur im dramatischen Gefüge bezeichnet werden kann, ob und wie sein spezifischer Charakter ausgeformt ist, inwiefern dieser Charakter konsistent ist und in wel‐ chem Verhältnis schließlich der so als Mitspieler verstandene Chor zu den an‐ deren Akteuren sowie den Geschehnissen steht, kurz: die Untersuchung des

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Eine besonders eingehende Beschäftigung mit der Nachwirkung der funktionalen Drei‐ teilung des Chors durch K RANZ findet sich zudem bei G RUBER (2009) S.  1–16. Einen konzisen Überblick über generelle Tendenzen und Entwicklungen innerhalb der (angelsächsischen) Sophokles-Forschung bis in die neueste Gegenwart gibt D AVIDSON (2014). „Scholarship on Sophoclean Drama, Eighteenth Century to the Present.“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy III, hrsg. v. R OISMAN (2014), Malden (MA), S. 1223 – 1230. Die entsprechenden Zitate sowie eine ausführlichere Diskussion (die sich mutatis mu‐ tandis von Aischylos auch auf Sophokles übertragen lässt) finden sich bei G RUBER (2009) S. 2 ff.

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Chors als dramatis persona ist die selbstgesteckte Aufgabe zahlloser Analysen.11 Besonderen Rückhalt erhält diese Aufgabenstellung dabei durch die Bemerkung des Aristoteles zum richtigen Gebrauch des Chors12, die man so zu untermauern sucht.13 Als umfassendere Studien in diesem Bereich zu mehreren bzw. allen erhal‐ tenen Tragödien unseres Autors verstehen sich dabei die Arbeiten von G AR‐ DINER 14 und P AULSEN 15. So konstatiert erstere eine Fehlentwicklung, die sich bei der ausschließlichen Beschäftigung mit den poetischen Qualitäten der analy‐ sierten Chorpartien einstelle: Yet in these examinations of the lyrics the chorusʼ character has been largely neglected, to such an extent that the odes often seem to take on an existence apart from the chorus that sing them.16

Die Aufgabe ihrer Arbeit charakterisiert sie demnach folgendermaßen: This investigation therefore attempts to redress the existing imbalance between the study of poetry and the study of character by analyzing the roles of the chorus in each of Sophoclesʼ extant tragedies and determining the extent to which he meant the au‐ dience to perceive the chorus as a character in the play.17

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So bereits M UFF (1877). Die chorische Technik des Sophokles, Halle. C OLEMAN (1972). „The Role of the Chorus in Sophoclesʼ Antigone.“ in: PCPS 18, S. 4 – 27. E SPOSITO (1996). „The Changing Roles of the Sophoclean Chorus.“ in: Arion 4.1, S. 85 – 114. S CHWINGE (1971). „Die Rolle des Chors in der sophokleischen Antigone.“ in: Gymnasium 78 (1971), 294 – 321. Poetik 1456 a 25; siehe unten Seite 38f. Vgl. S EGAL (1995). Sophoclesʼ Tragic World: Divinity, Nature, Society, Cambridge (Mass.) S. 184: „In the case of Sophocles there has been a fairly general agreement, supported by the judgement of Aristotle, that the chorus is an integral part of the action. It is also agreed that the Sophoclean chorus does not speak out of character and has a fairly consistent role as an actor“. G ARDINER (1987). The Sophoclean Chorus: A Study of Character and Function, Iowa City. P AULSEN (1989). Die Rolle des Chors in den späten Sophokles-Tragödien: Untersu‐ chungen zu „Elektra“, „Philoktet“ und „Oidipus auf Kolonos“, Bari. G ARDINER (1987) S. 4. Eine ganz ähnliche Entwicklung konstatiert H OSE (1990) für die Beschäftigung mit Euripides im zwanzigsten Jahrhundert: „[…] teilte sich die Forschung über den Chor in zwei Richtungen: die eine konzentrierte sich auf den Chor als dramatis persona, die andere auf das Chorlied“ (H OSE (1990 / 1). Studien zum Chor bei Euripides, Stuttgart, S. 13). A.a.O. S. 5. Bereits K IRKWOOD (1958) bemerkt: „It will be necessary to consider what the chorus is, as well as what it says or sings – the personality and the words – together as often as they belong together“ (K IRKWOOD (1958). A Study of Sophoclean Drama, Ithaca (NY), S. 186).

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Auch P AULSEN sieht das Hauptanliegen seiner Studie mit Rückgriff auf die oben ausgeführte funktionale Dreiteilung […] in einer Untersuchung der ersten der genannten Funktionen. Es soll bewiesen werden, daß der Chor Mitspieler und Person des Stückes ist und somit den Schau‐ spielern vergleichbar.18

Eine besonders radikale Position vertritt dabei M ÜLLER: Er kommt zunächst, vornehmlich ausgehend von seiner Interpretation der Antigone, zu dem Ergebnis „1. Der Chor ist eine konsequent denkende Person. 2. Alle Äußerungen des Chors dienen dem Dichter dazu, Gestalt und Größe der Protagonistin heraus‐ zuarbeiten“.19 Er sieht damit das aristotelische Postulat vom mitspielenden Chor verwirklicht20 und wagt die vorsichtige Generalisierung: „Es ist zu vermuten, daß der Chor in den anderen Tragödien des Sophokles keine grundsätzlich an‐ dere Funktion hat“.21 Im Gegensatz dazu steht der leitende Gesichtspunkt seines Antigone-Kom‐ mentars: Dort will M ÜLLER gerade aus den Aussagen des als einer dramatis per‐ sona verstandenen Chors dennoch die Stimme des Dichters erschließen und so auf Basis des gefundenen „Doppelsinns“ den „theologischen Sinn der Tragödie“ herausarbeiten.22 Die genuin dramaturgische Komponente der einzelnen Partien zu untersuchen, liegt ihm allerdings fern. Während er es rundheraus ablehnt, in den Aussagen des Chors die eigene Meinung des Dichters zu sehen23 – also dem Chor die dritte Funktion vollständig abspricht – , glaubt er dennoch, durch die Annahme des Zweit- und Drittsinns geradezu e negativo die Ansichten des Dichters sowie dessen Einschätzung des Geschehens aus den Chorpartien he‐

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P AULSEN (1989) S. 19. M ÜLLER (G.) (1961). „Überlegungen zum Chor der Antigone.“ in: Hermes 89 (1961) S. 398 – 422, S. 422. „Wenn dies richtig ist, dürfen wir uns der Übereinstimmung mit Aristoteles freuen“ a. a. O. Inwieweit M ÜLLER s strenge Auffassung des Chors als eines Akteurs der Tragödie und ihrer Struktur gerecht wird, bleibt zu fragen; in ihrer letzten Konsequenz scheint er eher zu versuchen, die Richtigkeit der aristotelischen Aussage zu bestätigen und so mehr Aristoteles verteidigen als die Dichtungen des Sophokles in ihrer je eigenen Komposition als dramatische Werke nachvollziehen zu wollen. A. a. O. M ÜLLER (1961) S. 7: „Über das anerkannte Maß hinaus wird in den Worten des Textes Doppelsinn gefunden, der es erlaubt, hinter die Meinung der handelnden und irrenden Personen die Aussage des Dichters zu hören“. M ÜLLER (1967) S. 227 im Speziellen zum Chor des Oidipus Tyrannos: „Es muß gesagt werden, daß jedes Wort, das aus dem Munde des Chors kommt, […] weit entfernt davon ist, eine Deutung des Geschehens vom Dichter aus zu geben, sondern nur eine Beur‐ teilung von irrenden Menschen, irrenden Mitspielern gibt“.

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rausarbeiten zu können.24 Die Ergebnisse – gerade in seiner Interpretation der Antigone – sind im Einzelnen allerdings zweifelhalft.25 Einen ähnlichen Zugang wie G ARDINER und P AULSEN beschreitet bereits K IRK‐ WOOD ,26 wenn er auch einen für diese Untersuchung entscheidenden Gesichts‐ punkt hinzufügt. Einer simplen Gleichsetzung der Reflexionen des Chors mit denen des Dichters erteilt er dabei zunächst eine Absage;27 für ihn steht vielmehr der Personencharakter des Chors im Vordergrund. So gibt er an, die Aussagen des Chors untersuchen zu wollen als utterances by characters in plays – strange characters, no doubt, with a penchant for lyrics and abstraction, but characters nevertheless, neither omniscient nor stupid, but limited like other characters by the natural limitations of their position and their in‐ terest in the action.28

Dass damit nicht das gesamte Spektrum der chorischen Präsenz abgedeckt werden kann, gesteht er ein: „We shall find that this approach is not altogether sufficient in itself and that there is a degree of abstraction in some odes that does not reflect the personality of the particular choral group“.29 Ausgehend von der spezifischen Wirkung der kontrastiv vor der entscheidenden katastrophalen Wendung positionierten Lieder im Aias (zweites Stasimon), der Antigone (viertes Stasimon) und dem Oidipus Tyrannos (drittes Stasimon) hält er zunächst fest: „They are integral and contributing parts in the dramatic structure“,30 bevor er schließlich ganz zu Recht verallgemeinert: […] these odes are not isolated phenomena but simply the most striking examples of a customary Sophoclean technique in which the choral odes influence the rhythm of the play by a contrast or some similar structural effect.31 24 25 26 27

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M ÜLLER (1961) S. 7: „Der Doppelsinn ist vor allem konstitutiv für die Chorlieder, die vordergründig niemals das Urteil des Dichters wiedergeben, sondern es in einem zweiten oder öfter sogar dritten Sinn durchhören lassen“. Vgl. dafür die Untersuchung der Antigone ad locum, im Besonderen seine Analyse des vierten Standliedes. K IRKWOOD (1958). „4. The Role of the Chorus.“ in: A Study of Sophoclean Drama, ders., New York. S. 181 – 250. „But it is a dangerous, though easy, step to assume therefore that these reflections are intended to represent Sophoclesʼ reflections on the action in which they occur and to treat them as clues provided by the poet for the understanding of his play“ S. 183, sowie „[…] to accept choral reflections as the poet’s reflections with respect to the drama is not a universally safe procedure“ S. 184. Ders. S. 186. A. a. O. Ders. S. 201. A. a. O.

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Während K IRKWOOD so die Sprachrohrfunktion des Chors ablehnt, verortet er sich im Rahmen der von K RANZ eröffneten Trias zwischen der ersten und zweiten Funktion des Chors. Gemein ist den aufgeführten Ansätzen dabei, dass sie von einer durchgängig kohärenten Charakterzeichnung des Chors ausgehen, der so als ein Akteur unter anderen am dramatischen Geschehen partizipiert und dem Dichter als zusätzlicher Schauspieler zur Verfügung steht. Inwiefern sie dabei einerseits dem aristotelischen Postulat, andererseits der Realität der Tragödien gerecht werden, bleibt indes fraglich.32 Die der reinen dramatis persona-Theorie verhaf‐ tete Ausdeutung hat daher in der Forschung einigen Widerstand hervorgerufen. Besonderen Fokus auf die eher strukturellen Momente des Chors und damit den zweiten der von K RANZ aufgeführten Punkte legt dagegen B URTON,33 der als Ziel seiner Untersuchung angibt: […] to determine their [d. h. der Chorlieder] different kind of relevance, their functions as instruments of dramatic irony, […] and their effects upon the minds and emotions of audience and reader as required by the dramatist at each stage in the movement of his plots.34

Er geht dabei von einer fundamentalen Differenz zwischen Chor und Akteuren aus: „In its role as singers the chorus is distinct from the actors“35 sowie: […] the chorus as singers are kept distinct from the other dramatis personae and […] this distinction is due mainly to their being a group, not an individual.36

Hinsichtlich der Kohärenz der Person des Chors ergeben sich aus dieser Einsicht besondere Schlussfolgerungen: Further, since the chorus has a group personality, we do not expect from it the same consistency or coherence of character as we expect from an individual.37

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Zur Auseinandersetzung siehe unten. B URTON (1980). The Chorus in Sophoclesʼ Tragedies, Oxford. Sein methodischer Zugang sowie sein grundlegendes Verständnis des Chors bzw. der chorischen Partien und ihrer so umrissenen „Funktion“ sind für die vorliegende Arbeit zentral; B URTON bleibt trotz des Alters seiner Ausführungen gerade auf Grund der textnahen Herangehensweise so ein wichtiger Referenzpunkt. B URTON (1980) S. 1. Ders. (1980) S. 3. Ders. (1980) S. 4. Ders. S. 3.

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Gegen das strenge Diktum des Chors als reinen Mitspielers betont B URTON so die dramaturgische Einbindung der Chorlieder als Strukturmoment der Tra‐ gödie; gelegentliche Inkongruenzen in der Zeichnung des Charakters nimmt er dabei mit Blick auf die vom Dichter intendierten dramaturgischen Implikati‐ onen – meines Erachtens zu Recht – in Kauf.38 Dieser eher formale Ansatz, der die verschiedenen Formteile der Tragödie im Einzelnen beleuchtet und damit einen Beitrag zum Verständnis des jeweiligen Stücks leisten möchte, ist mit Blick auf Sophokles – abgesehen von Kommen‐ taren zu einzelnen Tragödien39 – in der Folgezeit etwas in den Hintergrund ge‐ treten.40 Die neuere, vor allem angelsächsische Forschung, hat – bedingt durch ein verstärktes Interesse an den performativen Komponenten des antiken Dramas – einen anderen Ansatz gefunden, der im Besonderen die rituellen Di‐ mensionen der chorischen Präsenz innerhalb der Tragödie betont und diese im politischen Kontext der Gattung sowie einem generell soziokulturellen Rahmen

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Vgl. dazu exemplarisch die Behandlung des Stasimons des Philoktet durch B URTON (1980) S. 238. Damit steht er letztlich in der Tradition, die Tycho von W ILAMOWITZ (1917) in Opposition zur psychologisierenden Deutung seiner Zeit begründet hatte und die den Fokus der Betrachtung weniger auf die Zeichnung der Charaktere als auf die formalen Zusammenhänge, den Aufbau der einzelnen Szenen, ihre Komposition, kurz: auf die „dramatische Technik“ des Dichters legte. Inkonsequenzen und Widersprüche in Charakterzeichnung und Handlung nahm W ILAMOWITZ dabei nicht nur in Kauf, er scheint sie teilweise regelrecht gesucht zu haben (W ILAMOWITZ , Tycho von (1917). Die dramatische Technik des Sophokles, Berlin.). Man wird sich D AVIDSON s Urteil über (den viel gescholtenen) W ILAMOWITZ anschließen („While his thesis clearly went too far, […] he nevertheless created the platform for a more nuanced appreciation of Sophoclesʼ art“ S. 1226) und trotz aller teilweise berechtigten Kritik die Bedeutung seines Ansatzes für eine Würdigung der Tragödien als literarischer Kompositionen wertschätzen. So u. a. D AVIES (1991). Sophocles Trachiniae with introduction and commentary, Ox‐ ford; M ARCH (2001). Sophocles Electra edited with introduction, translation and com‐ mentary, Warminster; F INGLASS (2007). Sophocles Electra edited with introduction and commentary, Cambridge; S CHEIN (2013). Sophocles: Philoctetes, Cambridge. R IEMER ((1998). „Chor und Handlung in den Tragödien des Sophokles.“ in: Der Chor im antiken und modernen Drama, hrsg. v. R IEMER und Z IMMERMANN (1998), Stuttgart und Weimar, S. 89 – 111.) konzentriert sich im Wesentlichen auf die Aussagen des Chorfüh‐ rers innerhalb der Sprechpartien der Tragödien. Für die vorliegende Arbeit, die sich besonders den lyrischen Partien widmet, ist er daher von untergeordneter Bedeutung. Einen „Rückgriff“ auf die Betrachtung formaler Momente stellt R UTHERFORD (2012) dar.

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zu verorten sucht.41 Entscheidenden Anstoß bei dieser Rekontextualisierung gaben dabei W INKLER und Z EITLIN.42

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Einen ebenfalls konzisen Überblick über generelle Tendenzen der Tragödienforschung des zwanzigsten Jahrhunders mit besonderem Blick auf diesen „performative turn“ gibt R ADER (2014). „Scholarship on Greek Tragedy, Twentieth Century to the Present.“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy III, hrsg. v. R OISMAN (2014), Malden (MA), S. 1218 – 1223. Vgl. H ALL (1999). „Actor’s song in tragedy.“ in: Performance culture and Athenian democracy, hrsg. v. G OLDHILL /O SBORNE (1999), Cambridge, S. 96 – 122, S. 101 f.: „The German-speaking philological tradition has produced important books about the formal and metrical elements of tragedy […] The French and Americans (at least since the 1960s), on the other hand, have written about gender, polis group identity, democ‐ racy, myth, and the interpenetration of cultural artefacts such as plays and vase-pain‐ tings with the more civic discourses. In Britain until recently scholars at Oxford largely read the analytical Germans, while those at Cambridge preferred the synthetic French“. So verallgemeinernd ihre Zuweisung ist, trifft sie doch eine gewisse Tendenz; die klare Trennung zwischen „deutscher“ und „französischer“ Schule ist allerdings nach dem „performative turn“ nicht mehr durchzuführen. Vgl. darüber hinaus u. a.: H ENRICHS (1994 – 5). „‘Why should I dance?’ The Chorus in Greek Tragedy and Culture.“ in: Arion 3.1, S. 56 – 111; L ONSDALE (1993). Dance and Ritual Play in Greek Religion, Baltimore; N AGY (1994 / 5). „Transformations of Choral Lyric Traditions in the Context of Athenian State Theater.“ in: Arion 3.1 (1994 / 5), S. 41 – 55; eine Gegenposition bietet R OSENMEYER (1993). „Elusory Voices: Thoughts about the Sophoclean Chorus.“ in: Nomodeiktes: Greek Studies in Honor of Martin Ostwald, hrsg. v. R OSEN und F ARRELL (1993), Ann Arbor, S. 557 – 71, „The new orthodoxy, with its sights trained in the community and its rituals and institutions, glances away from the author and his idiosyncratic and un‐ welcome authority. […] On this view poetry loses its privileged status as literature and is collapsed into the reservoir of communication by which the group talks to itself. The concern with institutions, social stratification, and tribal poetics has swamped our abi‐ lity to submit to the poetry as poetry and as a very special artifact“ (S. 563). W INKLER /Z EITLIN (edd.) (1990). Nothing to do with Dionysos? Athenian Drama in Its Social Context, Princeton (NJ). Im Besonderen hat W INKLER s eigene These, die Chöre der Tragödienaufführungen seien von Epheben gebildet worden, nachgewirkt (S. 20 – 62); vgl. G OULD (1996). „Tragedy and Collective Experience.“ in: Tragedy and the Tragic Greek Theatre and Beyond, hrsg. v. S ILK (1996), Oxford, S. 217 – 243 und G OLD‐ HILL (1996). „Collectivity and Otherness – The Authority of the Tragic Chorus: Response to Gould.“ in: Tragedy and the Tragic Greek Theatre and Beyond, hrsg. v. S ILK (1996), Oxford, S. 244 – 256.

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G OULD sucht im Anschluss daran ganz allgemein den Chor als ein zentrales Moment der Tragödie43 und „des Tragischen“44 neu zu denken und betont im Besonderen die „Andersartigkeit“ („otherness“) des Chors, die er allerdings nicht nur auf den bereits von B URTON entwickelten Gegensatz zwischen den Einzel‐ akteuren und dem Kollektiv „Chor“ beschränkt, sondern sozio-politisch aus‐ deutet: [T]he ‘otherness’ of the chorus, its essential role within the tragic fiction, resides indeed in its giving collective expression to an experience alternative, even opposed, to that of the ‘heroic’ figures. […] That ‘otherness’ of experience is indeed tied to its being the experience of a ‘community’, but that community is not that of the sovereign (adult, male) citizen-body.45

Diese Präsenz einer in einer größeren sozialen Gemeinschaft gegründeten Gruppe „Chor“46 kontextualisiere dabei „das Tragische“47 durch Rückgriff auf ererbte Geschichten sowie ererbte gnomische Weisheit eines kollektiven sozi‐ alen Gedächtnisses und der mündlichen Tradition.48 Dass diese allgemeine Ein‐ sicht erst in der Auseinandersetzung mit den einzelnen Stücken wirkliche Er‐ kenntnisse liefern kann, ist G OULD bewusst: For the ‘othernessʼ of the chorus, we must acknowledge, takes no single form, and no one formula will define it for us. It can only be defined in terms of the very variety of the different perspectives which the playwright may impose upon his tragic fic‐ tion. […] The collective experience and the collective voice of the chorus may oppose that of the individual tragic agent in an almost bewildering variety of ways.49

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G OULD (1996) S. 217:„Aristotle (notoriously) could define ‘tragedy’ without reference to the chorus, but we can hardly do so. […] [I]f we are trying to clarify for ourselves the notions of ‘tragedy’ and ‘the tragic’, in their fifth-century Greek context at least, we must inevitably come to grips with the essential and distinctive part played by the chorus in our construction of such terms“. G OULD (1996) S. 234: „But however we read it, the role of the chorus remains a distinctive and necessary part of the tragic perception in ancient Greek culture. It cannot be dis‐ carded, and we diminish our understanding of ‘the tragic’ if we allow ourselves to overlook it“. Ders. S. 224. Kritisch dazu G RUBER (2009), der besonders das dem Chor eigene Identifi‐ kationspotential gegenüber dem Rezipienten herausstellt (vgl. S. 55 ff. sowie S. 65: „Schon allein durch seine Existenz als χορός der song-and-dance culture dürfte der Chor der Tragödie beim Zuschauer einen Vertrauensvorschuss haben“). G OULD (1996) S. 233: „a social group which roots in a wider community“. G OULD (1996): „to ‘contextualiseʼ the tragic“ a. a. O. G OULD (1996): „the inherited stories and the inherited, gnomic wisdom of social memory and of oral tradition“ a. a. O. G OULD (1996) S. 233.

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Dass der Chor dabei allerdings ein Akteur des Geschehens bleibt, steht für G OULD außer Frage; seine allgemeinen Bemerkungen zur „Rolle“ des Chors und dessen Einbindung ins dramatische Geschehen50 sowie seine Absage an die Gleichsetzung „Äußerung des Chors = Äußerung des Dichters“51 sind dabei im Wesentlichen so zentral wie bekannt. Seine Ausführungen zur dauernden Prä‐ senz des Chors als eines zentralen Moments52 sind dabei größtenteils nachvoll‐ ziehbar.53 G OULD zieht daraus folgende Konsequenzen: After the opening scene […] nothing is spoken, nothing experienced […] except in the presence of that collective, emotionally involved witness. There is no privacy in that world, and even the silence of the choral presence can exert a palpable force.54

Dies scheint mir allerdings zweierlei zu verkennen: Zum einen nimmt sich der Chor (wie die Einzelanalysen der sieben Sophokles-Tragödien zeigen werden) oft genug aus dem eigentlichen Bühnengeschehen völlig zurück und ist zwar physisch präsent, übt jedoch kaum einen wirklichen Einfluss auf das dramati‐ sche Handeln der Akteure aus. Zum anderen bildet gerade die Gesprächssitua‐ tion Protagonist-Chor oft eine besonders intime Szenerie, in der erst das volle Seelenleben der Figur seinen Ausdruck findet.55 G OLDHILL56 legt in seiner Beantwortung des Aufsatzes von G OULD einen etwas anderen Fokus: Mit Blick auf die soziokulturellen Implikationen sowie die kul‐

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G OULD (1996) S. 231: „We misread them [d. h. die Äußerungen des Chors] as soon as we think of them as in any sense a privileged presence within the tragic fiction“ sowie: „We must read each choral utterance as the response of this chorus, at this point in the tragic fiction, to what has occured, a response which is no more protected from fallibility than any other“. G OULD (1996) S. 231: „The chorusʼs voice is not ‘the poetʼs voice’“. G OULD (1996) S. 232: „[…] equally of the essence of the chorusʼs role is the theatrical and dramatic fact of its collective presence. […] The continuity of fictional experience […] is powerfully enacted in this continuous massed presence of the chorus“. Die Behandlung der „Ausnahmen“ von G OULDS Diktum „the dramatic space is never empty“ (S. 232) – in unserem Kontext v. a. der Ab- und Wiederauftritt im Aias – in Anm. 86 (S. 242) kann nicht überzeugen. Inwieweit es ein Aspekt der Andersartigkeit („aspect of its ‘othernessʼ“) ist, dass der Chor – anders als die Akteure – innerhalb der tragischen Erfahrung („tragic experience“) verbleiben müsse und eben nicht abtreten könne („it cannot exit“), erschließt sich so nicht. G OULD (1996) S. 232. So besonders in der Elektra, in der die Situation Chor-Protagonist nicht nur konstitutiv für die emotionale Ausleuchtung der Protagonistin ist, sondern auch wesentliche dra‐ maturgische Funktionen übernimmt. G OLDHILL (1996).

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II. Meinungen zum Chor: Forschungsabriss

tisch-politischen Momente57 will er G OULDs Ansatz weiterdenken und aus‐ führen. Im Besonderen fragt er nach der Autorität des Chors und seiner „Stimme“58 angesichts der von G OULD hypostasierten „Marginalität“ der Person des Chors in sozialer Hinsicht. Sein Fazit bleibt vor dem Hintergrund der ent‐ falteten Details allerdings sehr allgemein: The chorus both allows a wider picture of the action to develop and also remains one of the many views expressed. The chorus thus is a key dramatic device for setting commentary, reflection, and an authoritative voice in play as part of tragic conflict.59

Besonderen Widerhall finden die Ausführungen von G OULD und G OLDHILL in den theoretischen Ansätzen, die konkret nach der Autorität („authority“), d. h. der Verlässlichkeit chorischer Aussagen in verschiedenen Kontexten fragen. So postuliert S ILK60 ausgehend von einer Unterscheidung der Stilebenen in ver‐ schiedenen Chorpartien das Vorhandensein mehrerer „Stimmen“ („voices“), deren Gesamtheit den Chor einer jeweiligen Tragödie ausmacht.61 Diese „Poly‐ phonie“ des Chors gibt ihm dabei Anlass zur berechtigten Warnung, dem Chor in seinen Aussagen generell mehr Kohärenz zuzuschreiben als ihm innewohnt: [W]e must, of course, listen to each play, and each lyric, to decide how much coherence and how much uniformity there actually is – and we must be prepared for the degree of coherence and uniformity to vary from play to play, as also within each play.62

Festzuhalten bleibt, dass die Ansätze von G OULD (und G OLDHILL) im Wesentli‐ chen nachvollziehbar sind und gerade das bereits bei B URTON herausgestellte Moment der „otherness“ als Gegenmoment der reinen dramatis persona-Theorie 57

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Ob die Wahl der Identität des Chors sich tatsächlich, wie G OLDHILL S. 247 f. ausführt, so eng an rituell-kultische Gruppen der Polis Athen (junge Mädchen, alte Männer …) an‐ lehnt und somit ganz wesentlich von außerdramatischen Faktoren bestimmt ist, bleibt fraglich. G OLDHILL (1994) S. 252 f. sowie im Besonderen S. 253: „[…] while Gould is certainly right not to cede the chorus the authority of the poet’s voice or of a simple, privileged, de‐ terminative view of the action, his rejection of any authority or privileged presence inevitably distorts the way that tragedy engages with the question of authority and the collective“. G OLDHILL (1994) S. 255. S ILK (1998 a). „Style, Voice and Authority in the Choruses of Greek Drama.“ in: Der Chor im antiken und modernen Drama, hrsg. v. R IEMER und Z IMMERMANN (1998), Stuttgart und Weimar, S. 1 – 26. S ILK (1998 a) S. 24: „[…] the different varieties of choral lyric style that a given chorus presents, even perhaps within a single ode, themselves constitute different voices, de facto. These ‘different’ voices are the chorus“ (Hervorhebungen im Original durch Kur‐ sivdruck). S ILK (1998 a) S. 25.

II. Meinungen zum Chor: Forschungsabriss

27

für die vorliegende Untersuchung von einiger Bedeutung ist. Allerdings bleibt zu betonen, dass gerade die von den Autoren gefällten Generalaussagen über den Chor, die Tragödie und das Tragische dazu neigen, ein zu einheitliches Bild der besonders komplexen und reichhaltigen Phänomene zu zeichnen. Dass sich zu einzelnen Kernaussagen dabei immer wieder konkrete Gegenbeispiele finden lassen und von den Autoren auch eingeräumt werden,63 muss im Ergebnis dazu führen, die allgemeinen Thesen mit einiger Vorsicht anzunehmen und sie ge‐ gebenenfalls an den Werken selbst zu überprüfen. Die vorliegende Arbeit stellt, wenn auch unter anderen methodischen Vorzeichen und mit einer anderen Zielsetzung, womöglich eine Basis für dieses Vorgehen dar. Die Frage der Performanz des antiken Dramas und im Besonderen der Tra‐ gödie verfolgen schließlich G OLDHILL/O SBORNE64 und die in ihrem Sammelband vertretenen Wissenschaftler weiter. Von gewisser Bedeutung für die vorlie‐ genden Studien sind dabei die Ausführungen von H ALL65 zur Darbietung lyri‐ scher Partien durch die Schauspieler. Sie sieht in diesem Phänomen eine beson‐ dere soziologische Komponente,66 die eine zeitgeschichtliche Deutung der Gattung Tragödie und ihrer Formen herausfordert.67 In Auseinandersetzung mit Schlegels These vom Chor als idealisiertem Zu‐ schauer68 versucht C ALAME ,69 das Wesen des tragischen Chors innerhalb eines komplexen theoretischen Rahmens zu bestimmen: In those textual games played by word and action on gender and on the mask, in the many dimensions in which its voice plays a part, does the figure of the tragic choros

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So z. B. Abtritt des Chors im Aias gegen G OULD s These von der Dauerpräsenz des Chors (G OULD (1996) S. 242) oder die Erwähnung einer (chorischen) Gruppe alter Frauen in Aischylosʼ Eumeniden v. 1027 gegen die These, es habe solche Gruppen nicht gegeben (G OLDHILL (1994) S. 247 f.). G OLDHILL /O SBORNE (edd.) (1999). Performance culture and Athenian democracy, Cam‐ bridge. H ALL (1999). H ALL (1999): „Tragic song and metre, therefore, are not to be separated from the soci‐ ology of tragedy, and what is relevant to the sociology of tragedy is relevant to the sociology of the polis“ S. 121. Inwieweit angesichts des rudimentären Überlieferungsstands der attischen Tragödie auf der einen, der teils nur wenig gesicherten Kenntnis der „Soziologie“ antiker Gesell‐ schaften auf der anderen Seite eine solchermaßen sozio-historische Analyse der Tra‐ gödien zu tragfähigen und allgemeingültigen Ergebnissen kommen kann, bleibt aller‐ dings fraglich. Zu Schlegel und der Überwindung der These vgl. u. a. H OSE (1990) I S. 32 f. C ALAME (1999). „Performative aspects of the choral voice in Greek tragedy: civic identity in performance.“ in: Performance culture and Athenian democracy, hrsg. v. G OLDHILL / O SBORNE (1999), Cambridge, S. 125 – 153.

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II. Meinungen zum Chor: Forschungsabriss

coincide principally with the ideal spectator or with the actual spectator, with the virtual author, or, as performer, with the real author, or just with the figure of a (masked) actor engaged in a dramatic plot?70

In der Folgezeit haben die referierten theoretischen Ansätze zum Teil eine auf Sophokles bzw. einzelne Stücke konkretisierte Anwendung gefunden.71 K IT‐ ZINGER wählt im Anschluss an die ausgeführten theoretischen Ansätze in ihrer Studie zu den Chören der Antigone und des Philoktet einen differenzierten und im Ganzen nachvollziehbaren Ausgangspunkt. Ihrer Untersuchung stellt sie dabei zwei Grundannahmen voraus: Während sie zunächst postuliert that, in Sophokles, the words of the chorusʼ songs provide evidence for a consistent choral perspective, from play to play and from scene to scene within a play, however much the song is also integrated into the particular circumstances of the chorusʼ cha‐ racter and of the plot,72

stellt sie im Anschluss an B URTON und G OULD mit Nachdruck fest: „that the chorusʼ function cannot be understood by analogy with the actors“.73 Zwischen den Akteuren und dem Chor herrsche vielmehr „essential difference“,74 die weder die Beteiligung des Chorführers an den Sprechszenen noch das Vorhan‐ densein gesungener, d. h. lyrischer Partien der Akteure aufhebe, sondern sich vor allem im Wechsel von Epeisodien und Stasima verwirkliche75 und Ausdruck einer unterschiedlichen Sicht auf die Welt darstelle.76 Ihr Interesse gilt dabei vor allem der Sprache der Chorpartien,77 in der sie – zusätzlich zu Musik, Gestik und Tanz – die Differenz zwischen Chor und Akteuren besonders realisiert sieht. 70 71 72 73 74 75

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C ALAME (1999) S. 130. Vgl. u. a.: E SPOSITO (1996). „The Changing Roles of the Sophoclean Chorus.“ in: Arion 4.1, S. 85 – 114; L ADA -R ICHARDS (1998). „Staging the Ephebeia: Theatrical Role-Playing and Ritual Transition in Sophoclesʼ Philoctetes.“ in: Ramus 27.1 (1998), S. 1 – 26. K ITZINGER (2008) S. 2. K ITZINGER (2008) S. 3. K ITZINGER (2008) S. 1. K ITZINGER (2008) S. 8: „But these moments do not dissolve the fundamental difference between the two, which is visible and audible in the alternation of episode and stasimon and also, as we shall see, in the shared song of a kommos […]“. Dass dieses auf einem nachvollziehbaren Gedanken fußende theoretische Konstrukt allerdings in der kon‐ kreten Überprüfung an den Texten problematisch wird, zeigt bereits die Beschäftigung mit dem Aias, in dessen zweiten Kommos sich Chor und Protagonist in ganz eigener Form zueinander verhalten. Siehe die Diskussion ad locum. K ITZINGER (2008) S. 10: „In Sophocles these differences are indicative of fundamentally different ways of seeing the world“. K ITZINGER (2008) S. 10: „The division between chorus and actors […] exists vividly in the different modes of their expression“.

II. Meinungen zum Chor: Forschungsabriss

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Den Versuch, die Gattung Tragödie, konkret den Oidipus auf Kolonos, dezi‐ diert mit den Begriffen und Methoden der Narratologie zu interpretieren, un‐ ternimmt im Anschluss an G OWARD78 schließlich M ARKANTONATOS .79 Unter den Gesichtspunkten der vorliegenden Arbeit lässt sich festhalten: M ARKANTONA‐ TOS ʼ feinsinnige Interpretationen einzelner Chorpassagen sind besonders ge‐ winnbringend.80 Sowohl in der theoretischen Auseinandersetzung mit seinem Konzept einer „dramatischen Narratologie“ als auch bei der Analyse des Dramas selbst spielen dabei beispielsweise mit dem Tempo der „Erzählung“,81 der Frage nach der Lokalisation der „dramatisch erzählten“ Handlung82 und dergleichen gewisse Momente eine bedeutende Rolle, denen auch in der vorliegenden Arbeit besondere Aufmerksamkeit gilt. Einen übergeordneten, theoretischen Stand‐ punkt zum Chor, etwa eine „Narratologie des Chors“ entwickelt er dabei (noch) nicht. Zu einer konkreten Auseinandersetzung mit den einzelnen Dramen des So‐ phokles, ihrer Dramaturgie bzw. ihrer dramatischen Faktur kommt es bei den referierten, teilweise sehr theoretischen Ansätzen und Studien nur am Rande. Anders gesagt: Die Ablösung des dem Text verpflichteten werkästhetischen Standpunkts durch die vielfältig ausgestalteten performativen, soziokulturellen bzw. rezeptionsästhetischen Kategorien lässt eine vertiefte Fokussierung auf die Tragödie als dramatische Komposition geraten erscheinen. In derselben Weise glaube ich, die von G RUBER in Folge der „performativen Wende“ eingeforderte „Rekontextualisierung“83 der Tragödie um ein entscheidendes Moment erwei‐ tern zu können – schließlich ist auch die Wissenschaft nach der performativen Wende der Notwendigkeit nicht enthoben, nach den inneren Gesetzen einer Gattung, eines einzelnen Dramas zu fragen. Während ferner mit der Studie von H OSE84 eine umfassende Interpretation der euripideischen Chorlieder vorliegt und sich die Arbeit von G RUBER85 den Chorpartien der aischyleischen Tragödien (freilich unter einem genuin rezept‐ ionsästhetischen Standpunkt) nähert, gibt es in der Nachfolge von B URTON keine

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G OWARD (1999). Telling Tragedy: Narrative Technique in Aeschylus, Sophocles and Euripides, London. M ARKANTONATOS (2002). Tragic Narrative: A Narratological Study of Sophoclesʼ Oe‐ dipus at Colonus, Berlin, New York. Vgl. die Verweise in der Einzelanalyse ad locum. Vgl. M ARKANTONATOS (2002) „Time Games“ S. 7 ff. V.a. bei der Behandlung des zweiten Standliedes S. 100 ff. G RUBER (2009) S. 11. H OSE (1990 / 1). G RUBER (2009).

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II. Meinungen zum Chor: Forschungsabriss

Gesamtschau der sophokleischen Chorlieder, deren Fokus auf einer textnahen Interpretation der Chorpartien sowie ihrer dramaturgischen Funktionalisierung läge.86

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G ARDINER (1987) und P AULSEN (1989) verfolgen, wie gezeigt, mit ihren Arbeiten andere Ziele.

III. Der Chor: Phänomen – Dichtung – Formteil 1. Sitz im Leben: song-and-dance culture, Kult, Polis Es ist im Wesentlichen das Verdienst der philologischen und historischen For‐ schung im Anschluss an den performative turn der späten sechziger und frühen siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, die historischen, soziokulturellen und politischen Begleitumstände des Phänomens „Chor“ erneut in Erinnerung gerufen und es so innerhalb der Lebenswelt der griechischen Antike rekontex‐ tualisiert zu haben. Mit Blick auf die bereits im Forschungsabriss erwähnten Arbeiten im Allgemeinen sowie im Besonderen auf G RUBERs einleitende Aus‐ führungen zur Einordnung des Chors in der griechischen song-and-dance culture und – mit einigen der speziellen Intention geschuldeten Abstrichen – seine Be‐ merkungen zum Chor als „Boden der Tragödie“1 kann sich der folgende Abriss in aller Kürze auf einige entscheidende Punkte beschränken. Dabei ist nicht intendiert, eine umfassende Einordnung der angesprochenen Phänomene zu geben oder größere historische Entwicklungslinien nachzuzeichnen, sondern einzig einige Aspekte, die zum Verständnis des methodischen Rahmens dieser Arbeit sowie der Einzelanalysen notwendig sind, ins Bewusstsein zu rufen. Chor, Chorgesang und (chorischer) Tanz waren bereits seit frühester Zeit2 ein gemeingriechisches, im Alltag fest verankertes Kulturphänomen;3 anders ge‐ sagt: Das Phänomen „Chor“ ist konstitutiver Bestandteil der als song-and-dance culture passend umschriebenen griechischen Gesellschaftsordnung. Als fester Bestandteil rituell-kultischer Anlässe und Handlungen kann besonders die Be‐

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G RUBER (2009) S. 28 – 43 bzw. 44 – 70. Zur Erwähnung „chorlyrischer“ Gattung bereits in den homerischen Epen vgl. G RUBER (2009) S. 28 f. S WIFT ((2010). The Hidden Chorus: echoes of genre in tragic lyric, Oxford, S. 36): „Choral performance permeated every aspect of Greek life, whether private or public, religious or secular“; sowie L EY (2014). „Chorus.“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy I, hrsg. v. R OISMAN (2014), Malden (MA), S. 220 – 224: „The chorus is […] a defining feature of ancient Greek society“.

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III. Der Chor: Phänomen – Dichtung – Formteil

deutung des Chors für die griechische Religiosität kaum überschätzt werden:4 Als Repräsentation eines kultischen Kollektivs kommt ihm dabei eine besonders integrative und identitätsstiftende Rolle zu, der zudem das Moment der Öffent‐ lichkeit innewohnt.5 Die Zuordnung gewisser Chöre und Formen chorischer Dichtung zu bestimmten kultischen Festen und ihre Assoziierung mit den ent‐ sprechenden Gottheiten ist dabei konstitutiv und prägt die Chorlyrik, der sich der folgende Abschnitt etwas genauer widmen wird, maßgeblich. Die solchermaßen im kulturellen Horizont verorteten Chöre waren dabei nach Kriterien wie Geschlecht und Alter der Choreuten homogen zusammen‐ gesetzt und rekrutierten sich aus fest umrissenen Segmenten der Gesellschaft. Vor allem Knaben- bzw. Heranwachsenden- sowie Mädchenchöre waren dabei innerhalb der Erziehung und Bildung der Jugend von enormer Bedeutung.6 G RUBER betont dabei im Besonderen die Rolle der Erziehung zur „Ordnung“ (τάξις), die durch die chorische (bei jungen Männern: proto-militärische) Aus‐ bildung geleistet wurde; er geht dabei soweit, anzunehmen, dass man die Be‐ griffe „Chor“ und „Ordnung“ „im Verständnis der Antike […] fast gleichsetzen kann“.7 Es nimmt angesichts dieser Bündelung entscheidender sozialer und religiöser Dimensionen nicht wunder, dass die Chorkultur auch im politischen Kontext der griechischen Stadtstaaten, d. h. in der Polis-Kultur, institutionalisiert und instrumentalisiert wurde.8 Mit Blick auf die dramatischen Formen, deren Ur‐ sprung in den chorischen Gattungen zu suchen ist, ist die Förderung und Insti‐ tutionalisierung des Dionysoskults im sechsten Jahrhundert von entscheidender 4

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Vgl. G RUBER (2009), der konzise zusammenfasst: „Dieser Sitz im Leben kann näher de‐ finiert werden als eine prinzipielle Gebundenheit von Chor und chorischer performance an Kult und Fest“ S. 29; sowie Z AMINER (1997). „Chor.“ in: DNP Band 2, Sp. 1141 – 1144: „Im Leben gehörten chorische Gesänge und Tänze zu Kult und Fest (Götter- und He‐ roenfeste, Totenkult, Hochzeit, sportliche und musische Wettkämpfe, Festmahl, Wein‐ lese)“. Vgl. K AIMIO (2014). „Chorus and Citizenship.“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy I, hrsg. v. R OISMAN (2014), Malden (MA), S. 224 – 225, S. 224: „Choral performance is by nature a social act and flourished in the context of occasions emphasizing community feeling, like religious ceremonies and initiatory rites“. Vgl. G RUBER (2009): „Innerhalb von Kult und Fest dient der Chor insbesondere der Er‐ ziehung der Jugendlichen, die an der Schwelle zum Erwachsenenalter und somit vor dem Eintritt in die Gemeinschaft stehen, welche sie als Männer und Frauen, durch Kriegsdienst und Kindergeburt, fortan erhalten sollen“ S. 31 sowie die folgenden Aus‐ führungen im Einzelnen. Vgl. auch W INKLER /Z EITLIN (1990). G RUBER (2009) S. 43. Zur Institutionalisierung des Chorwesens in Athen vgl. im Besonderen W ILSON (2000). The Athenian Institution of the Khoregia: The Chorus, the City and the Stage, Cam‐ bridge.

2. Chor und Dichtung: Chorlyrik und Tragödie

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Bedeutung:9 Diese zunächst in Korinth, später in Athen durchgeführten religi‐ onspolitischen Maßnahmen etablierten im Besonderen die Gattung des Dithy‐ rambos in einem politischen Umfeld und verankerten die Chorkultur als ele‐ mentaren Bestandteil der institutionellen Selbstvergewisserung und -inszenierung der Polis im Rahmen verschiedener kultischer Feste und Ri‐ tuale.10 Wir dürfen also davon ausgehen, dass das (der Moderne meist fremde) Phä‐ nomen „Chor“ in der Lebenswirklichkeit der Autoren und Rezipienten der uns vorliegenden Tragödien einen entscheidenden Platz einnahm und in besonderer Weise mit einigen für das Selbstverständnis des Einzelnen und das der poli‐ tisch-kultischen Gemeinschaft zentralen Assoziationen verbunden war.

2. Chor und Dichtung: Chorlyrik und Tragödie Die früheste uns fassbare literarische Ausprägung der griechischen Chortradi‐ tion stellen im Wesentlichen die überlieferten Reste der Dichtungen von Alkman, Stesichoros und Ibykos aus dem siebten bzw. sechsten Jahrhundert v. Chr. dar.11 Die für die frühe griechische Lyrik ohnehin typische schlechte Überlieferungslage erlaubt es nicht, sich ein wirklich umfassendes Bild von den einzelnen Dichtern, den Gattungen oder dem literarischen Umfeld zu machen. Am greifbarsten ist uns das Genre der Chorlyrik daher erst in Form der beiden herausragenden Dichter Pindar12 (geb. 522 bzw. 518, gest. nach 446) und Bak‐ chylides13 (Lebensdaten umstritten), die als geringfügig jüngere Zeitgenossen des Aischylos (525 / 24 – 456 / 55) parallel zum attischen Tragödienschaffen wirkten. Als literarisch geformte Gebrauchsdichtung im besten Sinne war die Chor‐ lyrik geprägt von einer Vielzahl verschiedener Gattungen und Formen, die je

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Vgl. dazu Z IMMERMANN (2011). „Drama: 1. Einleitung und 2. Die attische Tragödie.“ in: Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit, hrsg. v. Z IMMERMANN (2011), Mün‐ chen, S. 451 – 610, S. 462 ff. Vgl. S WIFT (2010): „The role of the chorus in Athenian life is not in doubt“ S. 39. Zum Chorwesen vgl. u. a. Z ARIFI (2007). „Chorus and dance in the ancient world.“ in: The Cambridge Companion to Greek and Roman Theatre, hrsg. v. M C D ONALD und W ALTON (2007), Cambridge, S. 227 – 246. Vgl. zu den einzelnen Autoren die konzisen Überblicke sowie die Literaturangaben bei Z IMMERMANN (2011). Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit, München, S. 180 ff. Vgl. Z IMMERMANN (2011) S. 231 ff. Vgl. Z IMMERMANN (2011) S. 223 ff.

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III. Der Chor: Phänomen – Dichtung – Formteil

nach Anlass, religiös-kultischer Verortung, Darbietungsweise sowie Inhalt und Grad der Emotionalisierung des Liedes differenziert waren. Für uns sind diese vielfältigen Gattungen der Chorlyrik (z. B. Linos, Paian, Threnos, Hymenaios, Hyporchema, Embaterion, Hormos, Hymnos, Prosodion, Dithyrambos, Parthe‐ nion) nur noch in Ansätzen trennscharf zu greifen; das klarste Bild lässt sich auf Basis der Werke der beiden Dichter Pindar und Bakchylides vom Genos des Epinikions entwerfen, wohingegen andere Genera für uns reine Namen bleiben. Wir dürfen allerdings davon ausgehen, dass sowohl Dichter als auch Publikum der attischen Tragödie des fünften Jahrhunderts mit den verschiedenen Cha‐ rakteristika der einzelnen Gattungen auf Grund ihrer Verortung in der kultur‐ ellen Lebensrealität vertraut waren. Die attische Tragödie ist sowohl kultisch, gattungstechnisch als auch hinsicht‐ lich ihrer Stellung innerhalb des sozialen Gefüges der Polis aufs Engste mit der Chorlyrik verknüpft – mehr noch: Sie ist selbst für Aristoteles eine genuin cho‐ rische Gattung.14 Dass sich die dramatischen Formen in Griechenland auf Grundlage der chorischen (Dionysos-)Dichtung entwickelt und von der Gegen‐ überstellung eines Vorsängers und des zugehörigen Chors ihren Anfang ge‐ nommen hat, galt bereits Aristoteles als gesichert.15 Auch wenn dabei die genaue Rekonstruktion möglicher „protodramatischer“ Gattungen sowie die Zwischen‐ stufen zwischen reiner Chorlyrik und bereits etablierter dramatischer Form im Einzelnen schwer nachzuvollziehen sind,16 ist es auch heute noch communis opinio, in kultischen, ursprünglich narrativen Dionysos-Gesängen, im Beson‐ deren in den Dithyramben, die Keimzelle der attischen Tragödie zu sehen.17 Dabei spielt für das Anliegen dieser Untersuchungen weniger die detaillierte Entwicklung dieser Gattung eine Rolle. Festzuhalten bleibt, dass spätestens mit 14

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Vgl. Z IMMERMANN (2011) S. 458: „Er [Aristoteles] definiert demnach, wie dies im offi‐ ziellen athenischen Sprachgebrauch üblich war, Komödie und Tragödie als chorische Gattungen, in denen das tänzerische Element im Lauf der Entwicklung zugunsten des sprachlichen an Bedeutung verlor“ (in leichter Oppostion zu G OULD (1996), hier zitiert S. 24, Anm. 43). G RUBER (2009) bezeichnet den Chor im gleichnamigen Kapitel dement‐ sprechend als „Boden der Tragödie“ S. 44 ff. Arist. Poetik 1449 a 2 ff. Vgl. Z IMMERMANN (2011) S. 458: „Den Sitz im Leben und den Ursprung der beiden dramatischen Hauptgattungen sieht Aristoteles im Dionysoskult und den mit ihm verbundenen, ursprünglich improvisierten chorischen Formen, im Dithyrambos und in den Phallika“. Vgl. Z IMMERMANN (2011) S. 451: „Die Entstehung der dramatischen Gattungen Tragödie, Komödie und Satyrspiel gehört seit der Antike zu den mit großem spekulativen Auf‐ wand äußerst kontrovers diskutierten Fragen“; sowie R UTHERFORD (2012) S. 39: „Evi‐ dence for the original form of Greek tragedy as developed in the sixth century is in‐ adequate“. Vgl. dazu im Besonderen G RUBER (2009) „Entstehungsfragen“ S. 44 – 49.

2. Chor und Dichtung: Chorlyrik und Tragödie

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Thespis in den dreißiger Jahren des 6. Jahrhunderts18 der tragödientypische Du‐ alismus von (Chor-)Gesang und Sprechpartien etabliert wurde.19 Der Übergang vom narrativ-reflektierenden Gestus der (frühen) Chorlyrik zu einer nachahm‐ enden, dramatischen Form der Darstellung, in der dem Chor selbst eine gewisse Rolle zukommt, war damit geleistet.20 In der weiteren Entwicklung der Tragödie hat dann – vor allem durch Ais‐ chylos als erste zentrale Figur – die Ausweitung der Sprechpartien, die Einfüh‐ rung eines zweiten Schauspielers21 und die damit verbundene Kürzung der Chorpassagen das (für uns nach Aristoteles) charakteristische Profil der Tra‐ gödie als einer durch die Nachahmung von Handlungen bestimmten Bühnen‐ form geprägt.22 Das fünfte Jahrhundert markiert dabei mit den Eckdaten 499 / 98 (erste Teilnahme des Aischylos am Agon) und 405 (Tod des Sophokles) bzw. 401 (posthume Aufführung des Oidipus auf Kolonos) den chronologischen Rahmen dieser Entwicklung und zugleich ihre Blütezeit. Ihren Sitz hatte diese neue Kunstform – komponiert in Tetralogien, bestehend aus drei Tragödien und einem Satyrspiel23 – innerhalb der Agone an bestimmten Dionysosfesten Athens: den Lenäen sowie den Großen (Städtischen) und den Kleinen (Ländli‐ chen) Dionysien.24 Die tragischen Agone blieben nichtsdestoweniger im offi‐

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Thespisʼ erste „Tragödien“-Aufführung fand nach allgemeiner Meinung zwischen 535 und 533 statt. Zur Datierung sowie der Kritik daran vgl. Z IMMERMANN (2011) S. 484. Folgen wir der konventionellen Datierung (vgl. L ATACZ (2003). Einführung in die grie‐ chische Tragödie, Göttingen, S. 79), dann fand der erste Tragödien-Agon unter der Mit‐ wirkung des Thespis um das Jahr 534 statt. Dass damit gerade die Rolle des Chors einer fundamentalen Wende unterzogen wurde, betont zu Recht Z IMMERMANN (2011), der von einem „radikalen Bruch mit chorischen Traditionen“ spricht. Vgl. unten 3.1. Aristoteles Poetik 1449 a 15 ff.; vgl. Z IMMERMANN (2011) S. 499. Die beiden Pole, zwischen die für Z IMMERMANN (1993). „Das Lied der Polis: Zur Ge‐ schichte des Dithyrambos.“ in: Tragedy, comedy and the polis: papers from the Greek Drama Conference, Nottingham, 18 – 20 July 1990, hrsg. v. S OMMERSTEIN et alii (1993), Bari, S. 39 – 54 die Gattung des Dithyrambos „eingespannt“ ist („[…] auf der einen Seite steht der Kult, auf der anderen die Ästhetik und das Bestreben des Dichters, das Kultlied in eine künstlerische, ansprechende Form zu bringen“ S. 53), wird man mutatis mutandis auch für die Tragödie annehmen dürfen. Angesichts ihrer mit großem Aufwand re‐ konstruierten Vorgeschichte, Entstehung und gesellschaftlichen Verankerung darf nicht vergessen werden, dass ihre uns vorliegende Gestalt auch von literarischen, damit formalästhetischen Kriterien bedingt ist, zu deren Betrachtung ein werkimmanenter Ansatz eingenommen werden muss. Zu den besonderen Implikationen dieser Komposition in Tetralogien vgl. den ent‐ sprechenden Abschnitt dieser Einleitung IV. 4 (S. 62). Zur Festgeschichte und den diesbezüglichen Fragestellungen vgl. P ICKARD -C AMBRIDGE (21968). The Dramatic Festivals of Athens, Oxford.

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III. Der Chor: Phänomen – Dichtung – Formteil

ziellen Verständnis chorische Aufführungen, was sich an der Nomenklatur der entsprechenden Vorgänge zeigt.25 Dabei hat die Entwicklung der Dramatik aus der Chorlyrik diese keineswegs vollständig absorbiert. Gerade im angesprochenen und anderenorts26 wesentlich ausführlicher beleuchteten institutionellen Rahmen der mit den attischen Dio‐ nysosfesten verbundenen Wettkämpfe hatte die Chorlyrik weiterhin ihren festen Platz: Am ersten Festtag der Großen Dionysien, also am Vortag des Tra‐ gödienagons,27 fand die Dithyrambenkonkurrenz der die Phylen repräsentier‐ enden Chöre statt. Zudem fällt, wie bereits angesprochen, das Wirken der beiden herausragenden Lyriker Pindar und Bakchylides zum Teil mit der Schaffenszeit des Aischylos zusammen; die uns greifbarste Ausprägung der auftragsgebun‐ denen Chorlyrik fällt dementsprechend in die Blütezeit der attischen Tragödie. Auch hinsichtlich der Aufführungsbedingungen greifen Chorlyrik und Dra‐ matik eng ineinander: Die Tragödien- und Dithyrambenchöre wurden in klas‐ sischer Zeit nicht durch professionelle Sänger, sondern von Bürgern (bzw. an‐ gehenden Bürgern) der Polis Athen gestellt;28 ein fester Schauspieler- bzw. Choreutenberuf bildete sich erst gegen Ende des fünften Jahrhunderts heraus, während Sophokles der Überlieferung zufolge in seinen frühen Stücken noch selbst mitgespielt haben soll.29 Mit Chorlyrik und Dramatik haben wir es demnach mit zwei Ausprägungen der kultisch und politisch fest institutionalisierten (Gebrauchs-)Literatur zu tun, die miteinander in engstem Zusammenhang stehen. Das mit der Entwicklung der Dramatik aus der Chorlyrik begründete generische Verhältnis der beiden Großgattungen erschöpft sich nicht in einem Nacheinander in sich abgeschlos‐ sener literarischer Phänomene. In geradezu sublimierter Weise hat die Gattung der Tragödie vielmehr mit dem für sie konstitutiven Chor ihre Keimzelle in sich 25 26 27 28

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Vgl. G RUBER (2009) S. 62 f. Vgl. W ILSON (2000) S. 50 ff., P ICKARD -C AMBRIDGE (21988) S. 79 ff. Vergleiche dazu die Tabelle bei L ATACZ (2003) S. 45. Attischer Bürger zu sein, war Voraussetzung für die Mitwirkung in den tragischen Chören; vgl. dazu und zu anderen juristischen Begleitumständen K AIMIO (2014). Zur These, die tragischen Chöre seien von Epheben gestellt worden, vgl. den bereits zitierten maßgeblichen Beitrag von W INKLER /Z EITLIN (1990) S. 57: „[…] the chorus members were young men in (or viewed in relation to) military training“. Kritisch dazu K AIMIO (2014). Trotz dieser Differenzen kann man sich G RUBER (2009) S. 64 anschließen: „[D]er Zuschauer kann aus unmittelbarer eigener Erfahrung wissen, was es heißt, als Choreut zu singen und zu tanzen“. Die Information gibt die Vita des Sophokles (TrGF IV, T1, S. 30, Abschnitt 4): Der Dichter habe wegen seiner schwachen Stimme mit der Konvention gebrochen, selbst als Schau‐ spieler aufzutreten. Vgl. K OVACS (2014). „Actors and Acting.“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy I, hrsg. v. R OISMAN (2014), Malden (MA), S. 3 – 7.

2. Chor und Dichtung: Chorlyrik und Tragödie

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integriert und, wie noch zu zeigen sein wird, transformiert. Gerade das institu‐ tionalisierte Nebeneinander der beiden Genres konstituiert dabei einen Rahmen gegenseitiger Beeinflussung und Nutzbarmachung. So verwundert es einerseits nicht, dass tragische Dichter auch Chorlyrik verfasst haben sollen (Sophokles wird die Autorschaft von Paianen zugeschrieben), andererseits ist ein Reflex der „Neuen Musik“, wie sie die Komposition der Dithyramben ab einem gewissen Zeitpunkt geprägt hat, in den Tragödien des Euripides zu finden.30 Auch dem tragischen Chor haften so trotz seiner Überführung und Implemen‐ tierung in eine andere Gattung entscheidende Charakteristika der selbststän‐ digen Chorlyrik und damit des kulturellen Phänomens „Chor“ an. Anders ge‐ sagt: Mit dem Chor ist ein den Zuschauern zutiefst vertrautes Moment der sie umgebenden und ihren Alltag maßgeblich prägenden song-and-dance-culture konstitutiver Bestandteil der Tragödie. Für den Rezipienten erfahrbar wird dieser Umstand in der eigentlichen Performativität des tragischen Chors, die in vielen Punkten der eines realen, d. h. der Lebenswirklichkeit entstammenden Chors entspricht: Der tragische Chor singt Lieder, die hinsichtlich ihres Inhalts oder ihrer (musikalischen) Form an real existierende Gattungen und Genres der Chorlyrik angelehnt sein können, er tritt als homogenes Kollektiv auf,31 seiner Performanz haftet im Rahmen des darzustellenden Mythos das Moment der Öf‐ fentlichkeit an, er ist mit einiger Regelmäßigkeit Träger gewisser angedeuteter oder ausgeführter Rituale (im Besonderen: Anrufung von Gottheiten) und hat „Zugang zum Bereich der Erinnerung“,32 d. h. kann sich gegebenenfalls Ein‐ sichten des kulturellen und gemeinschaftlichen Gedächtnisses der Polis bzw. der Gesellschaft zu eigen machen.33 Für das ursprüngliche Publikum war das Phänomen Chor also sowohl in seiner rituell-lebensweltlichen Ausprägung als auch in seinen literarischen Formen (und demnach auch innerhalb der Tragödie) kein den Seh- und Lebens‐ gewohnheiten fremdes Phänomen; vielmehr lässt sich mit L EY formulieren: „For Athenians, the tragic chorus was a part of their lives“.34 Als der Alltagskultur 30 31 32 33

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Vgl. Z IMMERMANN (1992) Dithyrambos: Geschichte einer Gattung, Göttingen, im Be‐ sonderen S. 117 ff. Vgl. G RUBER (2009) S. 53: „Gebunden ist jeder Tragödiendichter zunächst an die an‐ scheinend unbedingte Konvention der Homogenität und inneren Geschlossenheit des Chores, in dem das Individuum keine Rolle spielt“. Z IMMERMANN (2011) S. 551. Ähnlich G RUBER (2009), der festhält, dass auch der tragische Chor die von ihm ausge‐ machten „drei Merkmale […] des prädramatischen χορός, nämlich Gemeinschaft, Ord‐ nung, Emotionen“ behält und „in den Erwartungshorizont des Tragödienzuschauers“ integriert (S. 53). Vgl. L EY (2014).

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III. Der Chor: Phänomen – Dichtung – Formteil

entspringendes Moment ist der Chor für G RUBER ein besonderes Identifikati‐ onsmoment, das geradezu eine Brücke zwischen der den tragischen Mythos zeigenden Heroenwelt und dem Erfahrungsbereich der Rezipienten darstellt;35 zwischen Chor und Zuschauer bestehe dementsprechend eine „natürliche Nah‐ beziehung“.36 Mit dieser performativen Ähnlichkeit bzw. Verwandtschaft zum (dionysi‐ schen) Chor der song-and-dance-culture ist ein Pol der von Z IMMERMANN soge‐ nannten „janusköpfigen Natur“37 des tragischen Chors bezeichnet. Inwieweit der so verstandene Chor nun innerhalb der Tragödie selbst verankert ist, wird der folgende Abschnitt zeigen.

3. Der Chor als Formteil der Tragödie 3.1 Spektrum I: der tragische Chor als (kollektive) dramatis persona

Den tragischen Chor unterscheidet ein zentraler Umstand vom realen Chor, wie er zentraler Bestandteil der Lebenswirklichkeit der attischen Bürger war: Dem Chor kommt in jeder Tragödie eine je eigene, im Personenspektrum des Stücks verortete Rolle zu. Innerhalb der dramatischen Fiktion tritt der Chor demnach nicht als anonymer (dionysischer) Ritualchor auf, sondern nimmt an der Nach‐ ahmung der Handlung als (kollektive) dramatis persona teil.38 Als solche kann er klar benannt werden, steht zu den übrigen Personen des Stücks in einem konkret zu bestimmenden Verhältnis, kann über sich selbst sprechen und sich innerhalb seiner Ausdeutung der Situation verorten.39 Bereits in seiner Poetik formuliert so auch Aristoteles die Forderung, dass der tragische Chor ein den Schauspielern analoger Bestandteil des Dramenganzen sein soll:

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Vgl. im Besonderen „Identifikation durch Performativität“ S. 57 – 65. G RUBER (2009) S. 65. Z IMMERMANN (2011) S. 551. Vgl. Z IMMERMANN (2011) S. 467: „[D]ie Choreuten treten nicht mehr als Repräsentanten einer Gemeinschaft auf, die zur aitiologischen Erinnerung einer Konfliktbeseitigung einer Gottheit singen und tanzen, sondern sind Akteure in einem mythischen Spiel mit wechselnden Inhalten, deren Charakter zwischen dionysischem Chor und dramatischer Rolle oszilliert“. Im Besonderen zu dieser Identität des Chors sowie zum „Ich“ des tragischen Chors im Vergleich zum Dithyrambos und anderen Gattungen der Chorlyrik vgl. G RUBER (2009) S. 49 ff.

3. Der Chor als Formteil der Tragödie

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καὶ τὸν χορὸν δὲ ἕνα δεῖ ὑπολαμβάνειν τῶν ὑποκριτῶν καὶ μόριον εἶναι τοῦ ὅλου καὶ συναγωνίζεσθαι μὴ ὥσπερ Εὐριπίδῃ ἀλλ’ ὥσπερ Σοφοκλεῖ. τοῖς δὲ λοιποῖς τὰ ᾀδόμενα οὐδὲν μᾶλλον τοῦ μύθου ἢ ἄλλης τραγῳδίας ἐστίν· διὸ ἐμβόλιμα ᾄδουσιν πρώτου ἄρξαντος Ἀγάθωνος τοῦ τοιούτου. (1456 a 25 f.) Den Chor aber muss man wie einen der Schauspieler behandeln, er muss Teil des Ganzen sein und an der Handlung beteiligt sein, nicht wie bei Euripides, sondern wie bei Sophokles. Bei den übrigen Dichtern gehören die gesungenen Partien um nichts mehr zur jeweiligen Handlung als zu irgendeiner anderen Tragödie. Daher sind die gesungenen Partien bei ihnen Einlagen. Der erste, der damit begann, war Agathon. 40

Die geradezu vorbildliche Verwirklichung seiner Forderung sieht Aristoteles so in besonderem Maß bei Sophokles gegeben, dessen Chortechnik er nicht nur einerseits von der des Euripides, andererseits von der Praxis „anderer Dichter“ abgesetzt, sondern damit implizit empfiehlt und so zur nachahmenswerten Norm erhebt. Damit ist das Spannungsfeld des tragischen Chors eröffnet, wie es sich hin‐ sichtlich seiner Genese sowie seiner Verortung in der Tragödie selbst ergibt: Das aus der Lebenswirklichkeit sowie der an ihr orientierten (Gebrauchs-)Dichtung stammende Phänomen Chor bildet als konstitutiver Bestandteil der Gattung Tragödie nicht nur ihren literarischer Ursprung, sondern ist gänzlich in die dra‐ matische Struktur eingepasst, selbst dramatisiert und somit in einer übergrei‐ fenden Ordnung geradezu aufgehoben.

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Übersetzung: S CHMITT (2008). Aristoteles Poetik übersetzt und erläutert, Darmstadt, S. 26. Von besonderem Wert sind die Erläuterung und Diskussion der Stelle S. 568 – 576, in der S CHMITT u. a. festhält, dass es Aristoteles „nicht um das quantitative Verhältnis von Chor- und Schauspielerpartien, sondern um die funktionale Integration des Chors in die Handlung“ geht (S. 569). Im Sinne der aristotelischen Zielbestimmung der Tra‐ gödie, Furcht und Mitleid zu erregen (vgl. Poetik 1449 b 25 ff.), skizziert S CHMITT darüber hinaus, welchen Beitrag der Chor in seiner „vermittelnde[n] Funktion zwischen den tragischen Hauptpersonen und den Zuschauern“ (S. 572) zur Erreichung dieses Ziels leistet. Darüber hinaus erweist S CHMITT , warum der Chor im aristotelischen Sinne ein ‚Handelnder‘ genannt werden kann, und sucht so zu erweisen, ob Aristoteles „dem ‚lyrischen‘ Charakter der Chorpartien gerecht“ wird (S. 573 ff.).

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III. Der Chor: Phänomen – Dichtung – Formteil

Was lässt sich im Rahmen der hier zu gebenden Einführung zur Einbindung des Chors als einer kollektiven dramatis persona in den darzustellenden Mythos und die jeweilige Einzeltragödie festhalten?41 Im Bereich der mythologischen Tragödie, die den Anteil der tragischen Dich‐ tungen mit zeitgeschichtlichem42 oder frei erfundenem Inhalt43 überwogen haben wird, bietet die Besetzung des Chors dem Dichter die nahezu größten Gestaltungsmöglichkeiten.44 So sind die zentralen Figuren der Handlung bei einem mythologischen Stoff bereits mehr oder minder vorgegeben, die Rollen‐ zuweisung an den Chor jedoch unterliegt ausschließlich der dichterischen Ge‐ staltung. Zwei grundlegende Möglichkeiten, den Chor einer Tragödie mythi‐ schen Inhalts zu besetzen, führt H OSE auf:45 Entweder stelle der Chor die Verkörperung einer vom Mythos bereits gegebenen und in ihm notwendiger‐ weise handelnden Gruppe dar (z. B. die Freier der Penelope in einer Tragödie, die Odysseusʼ Heimkehr und Rache inszeniert), oder er bestehe aus Personen, 41

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Generelle Erwägungen zur „Dramatisierung“ eines Mythos durch den Dichter bietet F ÖLLINGER (2003). Genosdependenzen: Studien zur Arbeit am Mythos bei Aischylos, Göttingen, S. 25 ff. im Anschluss an Aristoteles sowie unter Einbeziehung neuerer Li‐ teratur; zum komplexen Verhältnis von (allgemeinem) Mythos und (konkretem) Plot vgl. zudem ihre (an Aischylos gewonnenen) allgemeingültigen Erkenntnisse S. 303, „daß jede dichterische Aneignung eines Mythos einen neuen Mythos schafft“, sowie, „daß man einen Mythos nicht von der erzählerischen Gestalt, in der er erscheint, trennen kann“. Neben den uns erhaltenen Persern des Aischylos können wir insbesondere in zwei Werken des Phrynichos Bearbeitungen zeitgenössischer Stoffe greifen: Wir besitzen Kenntnis von seinen Tragödien Einnahme Milets (492) sowie Phoinissen (476) (die Tes‐ timonien und Fragmente finden sich TrGF vol. 1, IV, 3; vgl. zur Einnahme Milets im Besonderen T 2, die Fragmente aus den Phoinissen tragen die Nummern F8 – 12). Mög‐ licherweise kann man in der Abkehr von zeitgenössischen und der Fokussierung auf mythologische Stoffe eine Entwicklung sehen, die die Gattung der Tragödie in den ersten Jahrzehnten ihrer Existenz besonders geprägt hat. Zu den Persern als einem „his‐ torischen Drama“ bzw. einem „Geschichtsdrama avant le lettre“, den damit zusammen‐ hängenden Fragen sowie weiteren Dramen zeithistorischen Inhalts vgl. F ÖLLINGER (2003) S. 241 ff., die zum Schluss kommt, dass angesichts der durch Aischylos geleisteten „Mythisierung der jüngsten Geschichte“ (S. 246) auch die vorliegende Tragödie in Ana‐ logie zu Dramen mythischen Inhalts behandelt werden könne. Vergleiche dazu die Bemerkung des Aristoteles zu einer Tragödie des Agathon, deren Handlung weder aus dem Mythos noch aus der Zeitgeschichte geschöpft wurde (Poetik 1451 b 21 ff.). Nach unserer Kenntnis hat Sophokles einzig Tragödien mythologischen Inhalts geschrieben. Vgl. B URIAN (1997). „Myth into muthos: the shaping of tragic plot.“ in: The Cambridge Companion to Greek Tragedy, hrsg. v. E ASTERLING (1997), Cambridge, S. 178 – 208, S. 198: „The choice of a chorus is one obvious way for the poet to articulate his approach to a legendary subject“. H OSE (1990) S. 16 f.

3. Der Chor als Formteil der Tragödie

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„die in der jeweiligen Sage nicht explizit erscheinen, jedoch leicht aus dem Be‐ reich, in dem die Sage angesiedelt ist, ergänzt werden können“.46 Dass in den überlieferten Tragödien die auf die zweite Art gebildeten Chöre weitaus über‐ wiegen, ist auf Grund der von H OSE aufgeführten dramaturgischen Schwierig‐ keiten eines dem Mythos bereits immanenten Chors nachvollziehbar. Die geplante Aussageabsicht der Tragödie, das intendierte Verhältnis der Personen zum Chor und die gesamte dramaturgische Komposition fließen so bei der Konzeption des Chors zusammen. Konkret gesagt: Indem Sophokles bei‐ spielsweise seinen Philoktet – im Gegensatz zu Aischylos und Euripides – auf einer völlig unbewohnten Insel sein Dasein fristen lässt, prägt er den Mythos gemäß seiner Konzeption der Tragödie und muss daher auch dem Chor eine speziell für diese Komposition passende Rolle zuweisen.47 Im Gegenzug kann man sich vorstellen, dass die Antigone eine völlig andere Tragödie wäre, wenn der Chor nicht aus dem politisch und religiös in das Leben der Polis eingebun‐ denen Rat der Alten, sondern zum Beispiel aus den Frauen der Stadt Theben bestünde (vgl. die Konstruktion in der Elektra). Nicht nur das Verhältnis der Choreuten zur Protagonistin und zu Kreon, sondern auch die Gedankenwelt der chorischen Reflexion, ja sogar die Sprache innerhalb der Chorlieder und damit die ganze dramaturgische Komposition wären andersartig.48 Eine ähnliche Über‐ legung ergibt sich, wenn wir uns eine Aiastragödie vorstellen, in der nicht wie bei Sophokles die Schiffsleute des Protagonisten, sondern die des Odysseus oder sonstige griechische Soldaten den Chor bildeten.49 Im uns überlieferten Werk des Sophokles lassen sich hinsichtlich der Rollen‐ identität der Chöre zweckmäßiger Weise drei Kategorien bilden, die sozusagen das Spektrum der vom Chor dargestellten dramatis personae umfassen: So stellt

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Ders. S. 17. So bildeten bei Aischylos und Euripides in ihren Philoktetdramen die Einwohner der Insel Lemnos den Chor, bei Sophokles sind es die Schiffsleute des Neoptolemos; vgl. die Ausführungen im entsprechenden Kapitel ad locum S. 82 ff. Vgl. B URIAN (1997) S. 198: „Sophoclesʼ choice of Theban elders for the chorus of Anti‐ gone, rather than companions or servants of the heroine, initially furthers her isolation but then permits a dramatically crucial shift in their understanding and sympathy“. So zu Aischylos auch G RUBER (2009) S. 52: „Was die Rollenidentität selbst betrifft, mit der der Chor für jede Tragödie neu ausgestattet wird, so steht es dem Dichter zunächst völlig frei, welche Personengruppe und welches Segment der Polisgemeinschaft, in‐ nerhalb derer der dargestellte Mythos spielt und die Einzelfiguren agieren, den Chor bildet – die Wahl steht aber in engster Verbindung mit der Gestaltung des Plots, so dass im Einzelfall unter Umständen Gedankenexperimente helfen können, die Besonderheit gerade des gewählten Chores zu erklären“.

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III. Der Chor: Phänomen – Dichtung – Formteil

der Chor in zwei Tragödien wehrfähige Männer50 dar (Philoktet 51 und Aias), ebenfalls in zwei Tragödien Frauen (Trachinierinnen und Elektra) sowie in drei Stücken Greise (Oidipus Tyrannos, Oidipus auf Kolonos und Antigone). Diese drei Gruppen eignen sich besonders gut dazu, als Kategorisierungsmoment die Rei‐ henfolge der Einzelinterpretationen im Hauptteil zu bestimmen.52 In der Regel hat der Chor zudem zu einer (oder mehreren) Person(en) eine he‐ rausgehobene Beziehung: Während dabei in einigen Fällen ein emotionales Nahbzw. Abhängigkeitsverhältnis zwischen Chor und dem entsprechenden Akteur vorliegt (vgl. das Verhältnis von Aias zu seinen Schiffsleuten), stehen sich an‐ dernorts Chor und Bezugsperson in unausgesprochener oder gar betonter Dis‐ tanz gegenüber. Gerade der Gesprächssituation Chor-Bezugsperson kommt so bei der Interpretation der Tragödie besondere Bedeutung zu (vgl. im Besonderen die Gesprächssituation Protagonistin-Chor in der Elektra). Nicht in allen Fällen ist dabei die primäre Bezugsperson des Chors auch der Protagonist der Tragödie: Von besonderem Interesse ist in diesen Fällen die Verortung des Chors in seiner gegebenen Rollenidentität zwischen zwei (oder mehreren) Akteuren des Stücks (vgl. Philoktet oder Antigone). Die Interpretationen des Hauptteils werden versuchen, auf Grundlage der jeweiligen Rollenidentität bestimmte für die einzelne Tragödie prägende Muster 50

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G RUBER (2009) weist darauf hin, dass „junge Männer im wehrfähigen Alter, die dem athenischen Zuschauer als unmaskierte Choreuten der vielen Dithyramben- und sons‐ tigen Chöre offenbar sattsam bekannt waren und […] wohl auch als Chorsänger für die Tragödien herangezogen wurden, im Gesamtspektrum der Tragödienchöre eine seltene Ausnahme sind“ S. 53. Vor diesem Hintergrund ist bei den beiden derartigen Chören im überlieferten Werk unseres Autors im Besonderen zu fragen, was Sophokles mit dieser Rollenzuweisung intendiert hat. Die in Prosa verfasste Hypothesis zum Philoktet gibt an, der Chor bestehe „aus den mit Neoptolemos segelnden Greisen“ (ὁ δὲ χορὸς ἐκ γερόντων τῶν τῷ Νεοπτολέμῳ συμπλεόντων, P EARSON (1924), zweite Hypothesis). Dieser wohl aus den Anreden des Neoptolemos als τέκνον (v. 141) und παῖ (v. 201) geschlossenen Annahme folge ich mit J EBB (2004) und K AMERBEEK (1980) ausdrücklich nicht. Ich teile dagegen K AMERBEEK s Einschätzung: „the sailors were presumably Achillesʼ companions“ (S. 45). Dass sie älter als der jugendliche Neoptolemos sind, steht dabei zwar außer Frage (auch wenn sich der Altersunterschied nicht konkret angeben lässt); in ihnen allerdings Greise zu sehen, verkennt meines Erachtens zum einen die vom Dichter als zentrales Moment der Cha‐ rakterzeichung seines Helden lancierte Jugend des Neoptolemos (vgl. J EBB (2004) S. 31: „As he [Neoptolemos] is so youthful […], they can adress him as τέκνον (141), παῖ (201). It does not follow that they were actually γέροντες, as the author of the prose Argu‐ ment […] calls them“). Zum anderen scheint mir die Annahme, solchermaßen nicht mehr wehrfähige Männer seien auf einer so wichtigen Mission wie der Rückholung des Philoktet Bestandteil der Schiffsbesatzung gewesen, geradezu widersinnig. Vgl. dazu innerhalb dieser Einleitung den Abschnitt V. 2 (S. 68 ff.).

3. Der Chor als Formteil der Tragödie

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innerhalb der sprachlichen Gestaltung der Chorpartien, der Gesprächssituati‐ onen zwischen Chor und Akteuren und der Verortung des Chors im Personen‐ spektrum herauszustellen. Im Folgenden soll daher ein rascher Überblick einige formale Gegebenheiten der chorischen Präsenz in Erinnerung rufen, um die jeweils konkrete Ausgestaltung des Wechselspiels von Chor und Akteuren im Einzelstück genauer untersuchen zu können. 3.2 Formale Gegebenheiten: Konventionalität – Dualismus Sprechpartien-lyrische Partien – Erscheinungsbild des Chors

Die attische Tragödie als eine zur Zeit des Sophokles innerhalb der Polis sowie der Lebenswirklichkeit der Athener fest verankerte Institution präsentiert sich in ihrer uns vorliegenden Gestalt als im besten Sinne „hybride literarische Form“,53 die aus verschiedenen (mehr oder minder selbstständigen) Genera und Formteilen zusammengesetzt ist. Sie unterliegt dabei einer Reihe von teilweise rigiden Konventionen, die teils ihrer Entstehungsgeschichte, teils ihrem insti‐ tutionellen Rahmen, d. h. ihrem Sitz im Leben der Polis, teils gattungsinternen Gegebenheiten geschuldet sind.54 Obwohl aber die Gattung bestimmten Kon‐ ventionen unterlag, gehen die einzelnen Dichter innovativ und kreativ mit diesen Regeln und Formgesetzen um, was auch den gelegentlichen Bruch mit einzelnen Konventionen einschließt.55 Anders gesagt: Man wird nicht fehlgehen, den Kompositionsprozess einer Tragödie gerade hinsichtlich ihrer formalen

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So R UTHERFORD (2012): „Greek tragedy is a hybrid form, and the different parts of the drama are differentiated in form and style“ S. 29; vgl. zudem H ALL (1997). „The sociology of Athenian tragedy.“ in: The Cambridge Companion to Greek Tragedy, hrsg. v. E AS‐ TERLING (1997), Cambridge, S. 93 – 126, S. 100: „An inclusive genre, it [die Tragödie] ab‐ sorbed multifarious metrical forms originating in places across the Greek-speaking world, such as Doric choral lyric and Aegean monody“. Vgl. E ASTERLING (1997). „Form and performance.“ in: The Cambridge Companion to Greek Tragedy, hrsg. v. E ASTERLING (1997), Cambridge, S. 151 – 177, die in einer Leitfrage bereits einige entscheidende und für das moderne Verständnis besonders fremde Kon‐ ventionen aufzählt (S. 152): „How could a genre as novel and sophisticated as tragedy have been hedged about by every kind of rule and restriction, with limits on the number of speaking actors, the showing of violent events on the stage, the relation of the chorus to the stage action, the distribution of spoken and sung parts, and even, perhaps, the choice of subject-matter, which must surely have been a deterrent to creative talent?“ Vgl. E ASTERLING (1997) a. a. O.: „[…] there is no evidence surviving from the fifth century which suggests that the dramatists were inhibited from experimentation, and plenty to indicate the opposite“.

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III. Der Chor: Phänomen – Dichtung – Formteil

Struktur als kreative Auseinandersetzung mit den bestimmenden Polen von „Tradition und Innovation“ zu verstehen.56 Angesichts der Formung, die die einzelnen Bestandteile der Tragödie ent‐ weder in ihrem eigenständigen kultischen bzw. literarischen Umfeld oder im Rahmen der Gattung Tragödie erlangt haben, sowie der Institutionalisierung der Tragödie und ihrem Bezug zur Lebenswelt der Rezipienten wird man davon ausgehen können, dass das Publikum mit den basalen Formteilen und Konven‐ tionen der Gattung bekannt war.57 Darunter verstehe ich kein poetisches Spe‐ zialwissen, sondern eine an den Sehgewohnheiten geschulte Vertrautheit und

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Zum Begriffspaar vgl. F ÖLLINGER (2003) S. 12, die ihre Studie der Untersuchung des Spannungsverhältnisses von Tradition und Innovation bei der „Arbeit am Mythos“, d. h. seiner „Dramatisierung“ widmet. Vgl. L ATACZ (2003) im Besonderen zur Vertrautheit des attischen Publikums mit den einzelnen Gattungen der Chorlyrik, besonders ihrer metrischen Gestaltung: „Da der Chorgesang in Griechenland eine uralte Tradition hatte […], mußten die unterschied‐ lichen Rhythmen und Melodien des Chores innerhalb der Tragödie für die athenischen Theaterbesucher des 5. Jh. bereits verschiedene Ausdruckswerte repräsentieren (an Rhythmus, Bauart, Melodieführung, aber auch an der gewählten ‚Tonart‘ konnten z. B. Gebetslieder, Trauergesänge, Hymnen, Hochzeitslieder usw. erkannt werden). Dadurch waren besonders eindringliche Assoziationseffekte zu erzielen“ (S. 69). Für uns sind diese „Assoziationseffekte“ nicht mehr greifbar. Vergleichbar sind allerdings verschie‐ dene Phänomene innerhalb der Musik der Barockzeit bzw. der Klassik: So sind die den höfischen Tänzen und ihren stilisierten Formen (Allemande, Courante, Sarabande, Gigue, Menuett usw.) eigenen Rhythmen fest mit dem jeweiligen Charakter des Tanzes verknüpft; dies prägt schließlich ihre Verwendung in umfassenderen Gattungen wie der Suite und, im Fall des Menuetts (sowie seiner „Umdeutung“ ins Scherzo), der Sym‐ phonie. Dabei waren gewisse Rhythmen durchaus mit Bedeutung aufgeladen: So ist der „Siciliano-Rhythmus“, ein fließender, punktierter 12 / 8 (bzw. 6 / 8)-Rhythmus, gegebe‐ nenfalls mit einem Holzblasinstrument als melodieführender Stimme (vgl. Vivaldi Mag‐ nificat RV 589, Aria „Domine Deus“ (Sopran mit Oboe), Händel „Der Messias“ Nr. 13 „Pifa“, Haydn „Die Schöpfung“, Teil I, Nr. 8, Arie „Nun beut die Flur das frische Grün“), in solchem Maß mit pastoralen, oft idyllischen Inhalten assoziiert, dass bereits der Be‐ ginn eines entsprechenden Instrumental- oder Vokalstücks beim zeitgenössischen Hörer dementsprechende Assoziationen hervorgerufen haben muss. Entsprechendes gilt für die Verwendung gewisser Tonarten, so d-Moll als geradezu „typische“ „Re‐ quiemtonart“ sowie das heroische Es-Dur aus Beethovens dritter Symphonie. Die Bei‐ spiele ließen sich beliebig fortsetzen. Auch wenn die Vergleiche nicht in allen Punkten mit den antiken Gegebenheiten übereinstimmen, lässt sich die grundlegende Vertraut‐ heit des Publikums mit gewissen Kompositionsmomenten auf diese Weise zumindest ansatzweise nachvollziehen.

3. Der Chor als Formteil der Tragödie

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Erwartungshaltung, die durch die konkrete Gestaltung des Dichters entweder erfüllt oder konterkariert wird.58 Wenn auch der Entwicklungsprozess der Gattung nicht mehr im Einzelnen nachzuvollziehen ist, bleibt eine Betrachtung der einzelnen Formteile von ent‐ scheidender Wichtigkeit.59 In Vorbereitung auf die Analyse der Einzeldramen, wie sie der Hauptteil dieser Arbeit bietet, sollen hier einige Bemerkungen60 folgen, um den Rahmen der im Wesentlichen unter formalen Gesichtspunkten stehenden Interpretation anzudeuten. Die Tragödie, wie sie im Mittelpunkt dieser Arbeit steht, ist auf Grund ihrer historischen Entwicklung formal besonders vielfältig, und diese Vielfalt lässt sich zweckmäßig nach der Art der Darbietung des dramatischen Texts gliedern: Auf der einen Seite stehen die gesprochenen (freilich metrisch komponierten) Passagen, die größtenteils den eigentlichen Akteuren, d. h. den je eine Person der Handlung verkörpernden Schauspielern zukommen, auf der anderen die gesungenen, mit Tanz unterlegten lyrischen Abschnitte, deren Darbietung im Wesentlichen dem Chor obliegt. Als Zwischenform können die rezitierten Par‐ tien angesehen werden, die im Wesentlichen klar funktionalisiert sind61 und sowohl dem Chor wie auch den Akteuren zukommen können. Während bereits die Sprechpartien einen gewissen Formenreichtum auf‐ weisen, der sich im Besonderen hinsichtlich der metrischen Gestaltung62 sowie 58

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Als besonders eindrückliches Beispiel bietet sich der Abgang und Wiederauftritt des Chors an, wie ihn Sophokles in seinem Aias inszeniert; angesichts des uns vorliegenden Überlieferungsstands wird man davon ausgehen können, dass dieser besonders effekt‐ volle Bruch mit der Konvention auch dem Publikum aufgefallen sein wird. Aber auch formale Eigenheiten wie die Komposition lyrischer Großpartien (so z.B: im Eingang der Elektra) oder der Verzicht auf die regelmäßige Einschaltung „konventioneller“ Stasima (Philoktet) werden ihre dramaturgische Wirkung nicht zuletzt auf Basis der Vertrautheit des Publikums mit den Formteilen der Tragödie erreicht haben. Vergleichbar ist bereits Aristotelesʼ Aufzählung der quantitativen Teile der Tragödie (Poetik 1452b14 – 27). Einen besonders konzisen Überblick über verschiedene Form‐ konstituenten der griechischen Tragödie im Allgemeinen gibt Z IMMERMANN (2011) S. 516 ff. Auch hier ist keine Vollständigkeit angestrebt; es soll vielmehr das kurz entfaltet werden, was zum Verständnis der Einzelinterpretationen nötig ist. So im Besonderen die sogenannten Marschanapäste, die den Auftritt des Chors be‐ gleiten können und dabei entweder einer lyrischen Parodos vorangehen (Aias) oder zwischen die Strophen des Auftrittsliedes gesetzt sind (Antigone). Der Einsatz des re‐ zitierten trochäischen Tetrameters zur Steigerung des Effekts in besonders bewegten, emotionalen Partien ist bei Sophokles im Gegensatz zu Aischylos eingeschränkt (Bei‐ spiele: Oidipus Tyrannos v. 1515 ff., Philoktet v. 1402 ff.); vgl. Z IMMERMANN (2011) S. 531. Zur Metrik der Sprechverse vgl. Z IMMERMANN (2011) S. 530 sowie W EST (1982). Greek Metre, Oxford, S. 81 ff.

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III. Der Chor: Phänomen – Dichtung – Formteil

der Sprechersituation differenzieren lässt,63 ist die Bandbreite der lyrischen Formen sowohl hinsichtlich der Metrik als auch der innerhalb des Dramas ver‐ wendeten oder verarbeiteten (chorischen) Gattungen besonders umfangreich. Dass dieser Dualismus und die mit ihm einhergehende Zuordnung (Sprech‐ partien: Akteure; lyrische Passagen: Chor) freilich kein trennscharfes Gesetz darstellt, beweist zum einen die Einbindung des Chors in die Sprechpartien, zum anderen die von Akteuren entweder unter sich (Monodien64 oder lyrische Du‐ ette65) oder im Austausch mit dem Chor dargebrachten lyrischen Abschnitte (Amoibaia66 bzw. epirrhematische Passagen).67 Der Chor legt so rein formal gesehen ein doppeltes Erscheinungsbild68 an den Tag: Neben den in dieser Arbeit im Vordergrund stehenden Liedern und lyri‐ schen Wechselpartien tritt der Chor auch mit den Personen des Dramas in Di‐ alog oder schaltet sich in die Unterhaltung mehrerer Personen ein und nimmt so an den ausgewiesenen Sprechpartien des Stücks teil. Dabei tritt höchstwahr‐ scheinlich der Chorführer aus der Riege der restlichen Choreuten heraus,69 spricht sozusagen in deren Namen und bedient sich der konventionellen Sprech‐ verse des Dramas (meist iambischer Trimeter). In zwei Fällen erscheinen dabei solche Einschaltungen des Chors geradezu standardisiert und klar funktionali‐

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Vgl. M ANNSPERGER (1971). „Die Rhesis.“ in: Die Bauformen der griechischen Tragödie, hrsg. v. J ENS (1971), München, S. 143 – 181 S EIDENSTICKER (1971). „Die Stichomythie.“ in: Die Bauformen der griechischen Tragödie, hrsg. v. J ENS (1971), München, S. 183 – 220. Vgl. Überblick und Materialsammlung bei B ARNER (1971). „Die Monodie.“ in: Die Bau‐ formen der griechischen Tragödie, hrsg. v. J ENS (1971), München, S. 277 – 320. Vgl. das Duett zwischen Elektra und Orest nach der Wiedererkennung Elektra v. 1232 – 1287. Vgl. Überblick und Materialsammlung bei P OPP (1971). „Das Amoibaion.“ in: Die Bau‐ formen der griechischen Tragödie, hrsg. v. J ENS (1971), München, S. 221 – 275. Zum Phänomen des „singenden Schauspielers“ vgl. H ALL (2002). „The singing actors of antiquity.“ in: Greek and Roman actors: Aspects of an ancient profession, hrsg. v. E AS‐ TERLING und H ALL (2002), Cambridge, S. 3 – 38. Vgl. H EATH (1987). The Poetics of Greek Tragedy, London, S. 152: „We can now see more clearly the importance of distinguishing the Chorusʼ role within the act from the Chorusʼ act-dividing role“. S CHMITT (2008) S. 573 teilt die Äußerungen des Chors in drei Formen, indem er die rein chorischen Lieder noch einmal von den Wechselgesängen unterscheidet. G RUBER (2009) S. 63 sieht in dieser „selbstverständlichen Annahme der Forschung, dass in den reinen Sprechpartien nur der Chorführer, nicht aber der gesamte Chor mit der Einzelfigur gesprochen habe […] möglicherweise ein Missverständnis“. Für ihn stehen der Annahme, der ganze Chor habe in den Sprechversen gemeinsam gesprochen, keine praktischen Einwände entgegen; zudem erhöhe dieses Vorgehen die Wirkung der Aus‐ sage und unterstreiche „auch im direkten Kontakt die Auswirkung der Handlung auf die Gemeinschaft“ S. 64.

3. Der Chor als Formteil der Tragödie

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siert: Zum einen kündigt der Chorführer oft den Auftritt sich nahender Personen an70 oder kommentiert den Abtritt von Akteuren.71 Zum anderen kommt es mit einiger Regelmäßigkeit dem Chorführer zu, einen längeren Monolog einer Person mit einer kurzen, meist einen iambischen Doppelvers umfassenden Be‐ merkung zu kommentieren; inhaltlich reichen die Kommentare dabei von Be‐ kräftigung des bzw. Zustimmung zum Gesagten72 über größtmögliche Ambiva‐ lenz73 bis hin zur Warnung vor anstößiger Rede und der Mahnung, Maß zu halten.74 Gerade in Konfliktstichomythien bilden die Kommentare des Chor‐ führers nach bzw. zwischen den Rheseis der Antagonisten solche moderie‐ renden Einwürfe, die sich teils durch eine besondere Wertschätzung beider Mo‐ nologe, und damit durch besondere Ambivalenz, auszeichnen, oder aber allgemein zur Mäßigung aufrufen.75 In beiden Fällen kommt den Äußerungen des Chorführers eine das Drama bzw. die entsprechende Szene strukturierende Bedeutung zu. Dass dabei auch der Verzicht auf die standardisierten Kommentierungen und Einwürfe einen besonderen dramaturgischen Wert haben kann, wird die Einzeluntersuchung am Rande ad locum erweisen. Die mit Musik und Tanz versehenen Lieder76 (Parodos, gegebenenfalls Epipar‐ odos sowie Stasima) dienen dagegen formal und oberflächlich betrachtet zu‐ nächst als zwischen die (meist durch Auf- bzw. Abtritte gegliederten77) Szenen

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Iambische Auftrittsankündigungen finden sich z. B. Aias v. 1040 ff. (verbunden mit dem Rat an Teukros, nicht weiter zu sprechen), Trachinierinnen v. 177 f., Oidipus Tyrannos v. 631 ff., Oidipus auf Kolonos v. 549 f. Schließt sich eine Auftrittsankündigung an ein Chorlied an, so ist sie oft in Anapästen komponiert (vgl. Antigone v. 155 ff., 376 ff., 626 ff.). So z. B. Antigone v. 766 f., 1091 ff., Trachinierinnen v. 813 f. Vgl. Aias v. 331 f., Oidipus Tyrannos v. 834 f. Vgl. Antigone v. 211 ff. Vgl. Oidipus Tyrannos v. 404 ff. Von besonderer formaler Strenge ist dabei das dritte Epeisodion der Antigone mit den moderierenden Einwürfen v. 681 f. und 724 f. Vgl. zudem Aias v. 1316 f., Elektra v. 369 f., 464 f. Von besonderem Wert bleibt zu formalen Gesichtspunkten sowie als „Materialsamm‐ lung“ R ODE (1971) Das Chorlied in: J ENS (1971) S. 85 – 115. Zur entscheidenden Wirkung von Auf- und Abtritten bei Aischylos vgl. die maßgebliche Arbeit von T APLIN (1977 und spätere Auflagen).

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III. Der Chor: Phänomen – Dichtung – Formteil

gesetzte reflektorische Passagen78 zur Trennung größerer Abschnitte („Akte“).79 Sie unterliegen in ihrer metrischen sowie sprachlich-motivischen Komposition in besonderem Maß dem Gestaltungswillen des Dichters,80 der dabei u. a. auf die Gattungen der Chorlyrik sowie deren Konventionen zurückgreift.81 So tragen einzelne Chorlieder innerhalb der Tragödie eindeutig strukturelle und inhalt‐ liche Merkmale gewisser Gattungen der eigenständigen, in der Regel im kulti‐ schen Rahmen zu verortenden Chorlyrik.82 Dabei sind, wie schon bei den Werken der selbstständigen (Chor-)Lyrik, sowohl Musik als auch Tanzfiguren für uns im Allgemeinen verloren. Wir dürfen indes, ungeachtet aller Diskussion um antike Musik im Allgemeinen sowie bestimmte performative Momente der antiken Tragödie im Speziellen, davon ausgehen, dass die in den Liedern vor‐ herrschenden Effekte und Emotionen auch in der Vertonung ihren Niederschlag

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Für R ODE (1971). „Das Chorlied.“ in: Die Bauformen der griechischen Tragödie, hrsg. v. J ENS (1971), München, S. 85 – 115 sind die in Form von Strophe und Gegenstrophe kom‐ ponierten, d. h. „antistrophischen“ Lieder des Chors im Wesentlichen „unmimetisch“, da sie eine Art Lyrik darstellen, „die eine Handlung oder einen Vorgang nur mittelbar zum Ausdruck bringt, etwa durch bloße Erzählung, oder die rein konsiderativ ist, mit möglichst wenig Elementen direkter Darstellung (wie Ausrufen der Freude oder des Schmerzes), die zwar nie ganz fehlen, aber sich häufig etwa nur in der Pathos-Färbung des Stils äußern“ S. 94. Mögliche „Lösungsansätze“ der Dichter, solchermaßen unmi‐ metische Lieder organisch in die ansonsten mimetische Tragödie zu integrieren, sie geradezu zu „mimetisieren“, beschreibt er auf den Seiten 100 – 103. Ob die Unterschei‐ dung in mimetische und unmimetische Äußerungen des Chors wirklich tragfähig ist, bleibt zweifelhaft; von besonderem Wert ist allerdings der Verweis auf die grundlegende Differenz zwischen den lyrischen Passagen des Chors und seiner Einbindung in die Sprechpartien. Vgl. H EATH (1987) S. 138: „The basic function of act-dividing lyric is, not suprisingly, to divide acts: to keep the successive units of predominantly spoken texture apart, and to fill in the gap left by their being kept apart with words that will keep the audience entertained […] Act-dividing lyric therefore performs its basic function by diversifying the main narrative text with contrasting and aesthetically heightened material“. Im Hauptteil dieser Arbeit wird es keine ausgreifenden metrischen Analysen geben. Ich verweise zu diesem Zweck auf die grundlegenden Werke zur griechischen Metrik (s. Literaturverzeichnis) und die jeweiligen Kommentare zu den einzelnen Tragödien. Grundlegend dazu: S WIFT (2010). So z. B. die dem Epinikion angelehnte Parodos der Antigone sowie das dritte Stasimon der Trachinierinnen, die Verwendung von Motiven des Invokationshymnos (viertes Stasimon der Antigone, „Schlaflied“ im Philoktet und andernorts) sowie die der Gattung des Paian nahestehenden Anrufungen Apolls in der Parodos des Oidipus Tyrannos.

3. Der Chor als Formteil der Tragödie

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gefunden haben und so die Bühnenwirkung des jeweiligen Stückes ver‐ stärkten.83 Während die vom Chorführer vorgetragenen Sprechverse (meist84) eine di‐ rekte Kommunikation mit den Personen des Dramas darstellen, steht der Chor während seiner Lieder allein im Zentrum der Aufmerksamkeit und hat keinen direkten Gesprächspartner, mit dem ein Austausch zustande käme.85 In der Regel befindet sich während eines Chorliedes keine Person mehr auf der Bühne. An‐ dernfalls tritt diese in den Hintergrund oder agiert stumm, wobei die Kommen‐ tierung der Handlungen dem Chor zufällt.86 Die Chorlieder in den Tragödien unseres Autors werden dabei – grob gesagt – inhaltlich durch Reflexion, Deu‐ tung und Verarbeitung sowie Vorahnung der dramatischen Handlung be‐ stimmt;87 sie stehen so der Handlung als solcher zunächst gegenüber und er‐ gänzen sie. Zu zeigen, in welchem Verhältnis diese Passagen zur Handlung, zum dramatischen Geschehen und den einzelnen Personen stehen, ist Aufgabe der Einzelinterpretationen im Hauptteil der vorliegenden Arbeit.88 Der folgende 83

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Vgl. L ATACZ (2003) S. 69: „Die Stasima sind gesanglich-tänzerische Höchstleistungen. Das gesungene Wort und die getanzte Figur stehen dabei in engstem Ausdruckszusam‐ menhang, die tänzerische Körpergestik unterstützt das gesungene Wort“. Für G RUBER (2009) stellt dieses emotionale, affektive Moment ein Grundkonstituens der chorischen Präsenz dar (vgl. den Untertitel „Affekt und Reaktion“ sowie den Abschnitt „πάθος durch λόγος: Die Affekte des Chores und ihre Transmission“, S. 70 ff.) Dagegen bleiben die „moderierenden“ Einwürfe des Chors in Agonszenen (z. B. viertes Epeisodion im Aias bzw. drittes Epeisodion in der Antigone) meist unbeantwortet, nehmen allerdings direkt Bezug auf die vorhergehenden Äußerungen der jeweiligen Personen. Dass dennoch die Ansprache einer Person bzw. eines konkreten Akteurs ein besonders prägendes Moment der chorischen Reflexion sein kann, wird der folgende Abschnitt ausführen. Wie z. B. während der Parodos des aischyleischen Agamemnon. In den Tragödien des Sophokles gibt es einige Fälle, in denen nicht genau zu klären ist, ob Akteure für die Dauer gewisser Chorlieder den dem Publikum sichtbaren Bühnenraum verlassen oder nicht, so z. B. Kreon während des dritten Stasimons und des folgenden Amoibaions in der Antigone. Vgl. B URIAN (1997) S. 199: „As moments of lyric reflection, choral odes draw the spec‐ tator away from the immediate concerns of the plot, while at the same time they ine‐ vitably have an effect on dramatic mood, providing a kind of objective correlative for the spectatorsʼs response to the action“. Inwieweit man bei den Reflexionen des Chors tatsächlich von einem „objektiven Korrelativ“ sprechen kann, bleibt allerdings fraglich. Die weitere Entwicklung der Tragödie hat es mit sich gebracht, dass die Chorlieder ihren inhaltlichen und dramaturgischen Bezug zur Handlung des Stücks schrittweise verloren haben und immer mehr zu formalen Abschnittsteilern wurden, die thematisch und motivisch für sich allein standen und schließlich völlig austauschbar wurden. Für diese Untersuchung mit ihrer Konzentration auf Sophokles spielt allerdings die weitere Gattungsgeschichte der Tragödie keine bedeutende Rolle mehr.

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III. Der Chor: Phänomen – Dichtung – Formteil

Abschnitt wird sich mit verschiedenen Techniken bzw. Strategien dieser spezi‐ fisch chorischen Reflexion beschäftigen.

IV. Chorische Reflexion – Reflexionsstrategien – Dramaturgische Funktionalisierung 1. Reflexion und Handlung Innerhalb der Tragödie besteht, wie bereits festgehalten, zwischen Chor- und Sprechpartien1 nicht nur eine formale, für den ursprünglichen Rezipienten au‐ diovisuell wahrnehmbare,2 sondern auch eine inhaltliche Differenz: Als im We‐ sentlichen reflektierende Partien eines Kollektivs3 stehen die lyrischen Ab‐ schnitte des Chors den eigentlichen dramatischen, d. h. die Aktion der Akteure darstellenden Teilen der Tragödie gegenüber.4 Da sich mit dem Chor ein im personellen Rahmen des dargestellten Mythos verorteter Sprecher, eine dramatis persona äußert, bilden den Gegenstand der Reflexion dabei allerdings letztlich das Bühnengeschehen bzw. mit ihm in Zu‐ sammenhang stehende Momente oder Phänomene. Auch wenn der Bezug der chorischen Partie zum dramatischen Rahmen nicht unmittelbar ersichtlich ist oder sich erst im Lauf des Liedes herauskristallisiert,5 ist bei unserem Dichter durchgängig ein Bezug der chorischen Reflexion zum Stückganzen bzw. zu ent‐ 1 2 3 4

5

Auf die Amoibaia, im Besonderen das sog. „Aktionsamoibaion“ (vgl. P OPP (1971) S. 253 ff.) wird in einem gesonderten Abschnitt eingegangen werden. Vgl. K ITZINGER s (2008) Konzept der „otherness“ bzw. „essential difference“, das im Be‐ sonderen auf die audio-visuellen Momente Musik und Tanz rekurriert; siehe S. 28, im Besonderen Anm. 75. Vgl. W ILLMS (2014). Transgression, Tragik und Metatheater: Versuch einer Neuinter‐ pretation des antiken Dramas, Tübingen, S. 375 zum Chor des Oidipus Tyrannos, „der ein Kollektivum repräsentiert und ein drameninternes Rezeptionsmedium bietet“. Die Unterscheidung von R ODE (1971) in wenig mimetische, antistrophisch gebaute Chorlieder, die hauptsächlich in der Tragödie vorkommen, auf der einen, sowie stark mimetische, astrophische Lieder, die im Besonderen im Satyrspiel zu finden sind (S. 113 f.), ist problematisch. Im Wesentlichen scheint er allerdings das Richtige zu treffen, wenn er den Chorliedern einen „unmimetischen“ Charakter zuspricht; damit scheint zudem die „otherness“ des Chors, wie sie gerade von K ITZINGER (2008) he‐ rausgestellt wurde, vorgezeichnet zu sein. Gerade diese Form der schrittweisen „Annäherung“ an den eigentlichen Berührungs‐ punkt zwischen dramatischem Geschehen und chorischer Reflexion ist, wie im Fol‐ genden theoretisch entwickelt und in den Einzelinterpretationen gezeigt werden wird, für Sophokles typisch. Damit verbunden ist freilich eine besondere Lenkung der Auf‐ merksamkeit und Perspektive des Rezipienten, was eigene dramaturgische Implikati‐ onen mit sich bringt.

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IV. Chorische Reflexion – Reflexionsstrategien

scheidenden Motiven festzustellen. Anders gesagt: Die chorische Reflexion steht immer in einem klar zu umreißenden Verhältnis zur eigentlichen Handlung oder zu ihr zu Grunde liegenden Motiven. Um den Nachweis der konkreten An‐ knüpfungspunkte und die Verortung der jeweiligen Chorpartien haben sich im Besonderen die dem (reinen) dramatis persona-Konzept verpflichteten Arbeiten verdient gemacht.6 Hinter die so deutlich vor Augen geführte Einbindung der chorischen Partien als Äußerungen einer dramatis persona zurückzufallen und, wie es die Sprachrohr-Theorie oder die Identifikation des Chors mit dem idea‐ lisierten Zuschauer insinuierte, die Chorpartien gänzlich von der Handlung zu trennen, ist auch angesichts der von der neueren Forschung betonten „other‐ ness“ des Phänomens Chor und seiner Rekontextualisierung im politisch-kul‐ tisch-sozialen Umfeld nicht statthaft. Die Analysen des Hauptteils werden die chorischen Partien und ihre Reflexion dementsprechend immer als Äußerung der im Geschehen verorteten Choreuten verstehen. Das Chorlied ist weiterhin, wie G RUBER formuliert, „der autonome Kommu‐ nikationsraum für die Lenkung der Perspektive des Zuschauers“.7 Dass den Lie‐ dern dabei genuin dramaturgische Funktionen wie die Steigerung oder Drosse‐ lung des dramatischen Tempos sowie die Gliederung und Strukturierung gewisser Abschnitte des Dramas oder des ganzen Stücks zukommen, ist folge‐ richtig; die Einzelinterpretationen des Hauptteils werden im Besonderen diese dramaturgischen Implikationen einer jeden Partie herauszustellen versuchen. Bereits G RUBER gibt daraufhin einen kurzen Abriss verschiedener Punkte, die in der Reflexion des Chors eine Rolle spielen können: die Einblendung ver‐ schiedener Zeitebenen, die Eröffnung einer anderen Perspektive hinsichtlich des Handlungsraums sowie eine Interpretation des Geschehens nach „ver‐ trauten Deutungsmustern“.8 Damit ist in aller Kürze bereits ein gewisses Pano‐ rama chorischer Reflexionsinhalte und -strategien umrissen, die sich auch bei unserem Autor finden. Um der tatsächlichen Fülle an reflektierenden Partien im Werk des Sophokles gerecht zu werden und angesichts der geradezu „chamäle‐ ongleiche[n] Multifunktionalität“, durch die sich nach W ILLMS der Chor im at‐

6 7 8

Vgl. im Einzelnen G ARDINER (1987) sowie P AULSEN (1989), aber auch schon, wenn auch unter etwas anderen Gesichtspunkten, B URTON (1980). G RUBER (2009) S. 516 f.; dort auch die anderen Zitate. Mit besonderem Blick auf Aischylos versteht er darunter im Besonderen den soge‐ nannten „Dike-Diskurs“, der im Werk dieses Dichters geradezu eine leitmotivische Be‐ deutung hat. Inwiefern sich auch bei Sophokles ein Leitmotiv bzw. ein Leitthema der chorischen Reflexion angeben lässt, wird erst nach den Einzelanalysen der Tragödien zu verhandeln und damit Gegenstand der Gesamtschau sein.

2. Spektrum II: Reflexionsstrategien

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tischen Drama auszeichnete,9 ist es geraten, der Untersuchung der einzelnen Dramen und Partien eine grundsätzliche Kategorisierung vorauszuschicken, die die zielgerichtete Untersuchung der Einzelpassagen und schließlich eine zu‐ sammenfassende Einordnung der behandelten Partien ermöglichen wird. Mit den folgenden grundsätzlichen Überlegungen soll so ein theoretischer Rahmen eröffnet werden, der zum einen mögliche Vorgehensweisen chorischer Reflexion vorstellen, zum anderen ihre basale dramaturgische Funktionalisie‐ rung kurz anreißen wird. Mit Hilfe des so entwickelten Instrumentariums können die Analysen des Hauptteils die konkrete Ausprägung der hier allge‐ mein entworfenen Sachverhalte untersuchen und ein detailliertes Bild der je‐ weiligen dramaturgischen Implikationen nachzeichnen. Neben das bereits erläuterte und mit Blick auf die vorliegenden Tragödien konkretisierte Spektrum der Rollenidentität des Chors, in das die Person des Chors sowie seine Beziehung zu den Akteuren innerhalb des gesamten Stücks eingeordnet werden kann, treten dabei zwei weitere Spektren, die die Einord‐ nung der Chorpassagen selbst ermöglichen sollen.

2. Spektrum II: Reflexionsstrategien 2.1 Begriffsklärung

Unter „Reflexionsstrategien“ soll der je eigene Zugang verstanden werden, den die Chorpartie bei der Beschäftigung mit ihrem Gegenstand beschreitet und der so die Chorpassage nicht nur in Bezug auf die in ihr verhandelten Momente der Handlung, sondern auch mit Blick auf ihre eigene sprachliche und poetische Gestalt maßgeblich prägt. Anders gesagt: Mit Reflexionsstrategie soll im We‐ sentlichen der Ansatz gemeint sein, der für die entsprechende Partie oder einen Teil derselben programmatische Bedeutung hat. Mit Blick auf die Vielfalt und Verschiedenheit der chorischen Reflexionen unseres Autors lässt sich guten Gewissens keine Einteilung in fest umrissene 9

W ILLMS (2014) S. 291; vgl. zudem S. 336, Anm. 130: „Grundsätzlich ist die Frage nach der Funktion des Chors schwierig zu lösen, wobei die einzelnen Hypothesen sich in unter‐ schiedlichem Umfang verifizieren lassen“. Bei aller Vertrautheit mit der modernen li‐ teraturwissenschaftlichen Forschung, aller methodischen Versiertheit und der teils sub‐ tilen theoretischen Durchdringung der von ihm behandelten Dramen scheint mir W ILLMS ʼ „Versuch einer Neuinterpretation des antiken Dramas“ dem zumindest für die attische Tragödie zentralen Phänomen des Chors in der Ausdeutung nur wenig Raum zuzugestehen. Inwieweit er der Tragödie in ihrer Genese sowie der konkreten Ausprä‐ gung (zumindest bei Aischylos und Sophokles) damit gerecht wird, bleibt offen.

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IV. Chorische Reflexion – Reflexionsstrategien

Typen oder Kategorien vornehmen.10 Vielmehr soll hier versucht werden, das weite Spektrum verschiedener Reflexionsstrategien bzw. -ansätze zunächst von seinen Enden her aufzuzeigen. Diese im Folgenden aufgeführten Randpunkte verstehen sich dabei als geradezu theoretische Extreme, die sich einerseits ge‐ genseitig kontrastiv definieren, andererseits in der konkreten Verwirklichung nie in Reinform auftreten; es wird daher den Einzelanalysen des Hauptteils zu‐ kommen, die jeweiligen Partien innerhalb dieses so umrissenen Spektrums ein‐ zuordnen. Als Rahmenpunkte des Spektrums der Reflexionsstrategien sollen hier das Kon‐ zept einer thematisch-begrifflichen von einer imaginativ-visualisierenden Refle‐ xion unterschieden werden. Diese Distinktion erfolgt dabei zwar zunächst abs‐ trakt, versteht sich aber als an der Realität der Chorpassagen entwickelt.11 Mit Blick auf die Interpretationen des Hauptteils sind der Beschreibung des jewei‐ ligen Reflexionsansatzes zudem einige die Interpretation leitende Fragen bei‐ gegeben; diese Leitfragen konstituieren so den methodischen Rahmen der Ein‐ zelanalysen. 2.2 Thematisch-begriffliche Reflexion

Unter thematisch-begrifflicher Reflexion verstehe ich eine chorische Auseinan‐ dersetzung mit dem jeweiligen, der Handlung entspringenden bzw. mit ihr in Verbindung stehenden Gegenstand, die im Wesentlichen bestrebt ist, ein (oder mehrere) mehr oder minder abstraktes Thema (bzw. Themen) zu verhandeln. Ein solcher Ansatz bedient sich dabei gedanklicher und weitestgehend unge‐ genständlicher Konzepte: Geleitet von einer teils deskriptiven, teils argumen‐ tativen Logik versucht eine derartige Reflexion, durch den Aufweis von Gründen, Folgerungen, Einschränkungen, Beweisen u. Ä. das in Rede stehende Thema darzustellen, es argumentativ zu durchdringen und gegebenenfalls die Position des Chors dazu zu markieren. Die Verbalisierung des Themas selbst kann dabei an verschiedenen Stellen innerhalb der reflektierenden Partie erfolgen, was den gedanklichen Aufbau der Passage wesentlich prägt. So kann eine Themenangabe durch ein Schlagwort 10 11

Bei Euripides scheint die Sachlage bereits eine gänzlich andere zu sein, wie die Eintei‐ lung und Kategorisierung der Chorpartien von H OSE (1990) vor Augen führt. Der theoretischen Darstellung der beiden Strategien sind in den Anmerkungen exemp‐ larische Belegstellen beigegeben; diese Stellenangaben sollen weder die Einzelanalyse der betreffenden Partie noch die in der Zusammenfassung erfolgende Gesamtschau ersetzen. Vielmehr sollen sie einen konkreten Eindruck von der beschriebenen Refle‐ xionsstrategie bieten und die Erwartungshaltung mit Blick auf den Hauptteil steuern.

2. Spektrum II: Reflexionsstrategien

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bereits zu Beginn der Partie erfolgen,12 die Mitte der Ausführungen bilden oder das Ende der Reflexion markieren. Ebenso ist es möglich, geradezu leitmotivisch an verschiedenen Punkten der Passage das eigentliche Thema aufzurufen. Das Thema selbst übt dabei wesentlichen Einfluss auf das Abstraktionsniveau und die sprachliche Gestaltung der Reflexion aus: So wird sich die Behandlung eines besonders unanschaulichen, spekulativen Themas (z. B. der Wandelbarkeit des menschlichen Schicksals13 oder bestimmter menschlicher Grundeigen‐ schaften14) von der eines dem Bereich der sinnlichen Wahrnehmung entnom‐ menen Themas (z. B. der konkreten Unwirtlichkeit des Krieges15 oder der Schwierigkeiten des Überlebens unter widrigen Umständen16) hinsichtlich der gedanklichen Tiefe und der gewählten Formulierungen und Begriffe unter‐ scheiden. In welcher konkreten Beziehung das so behandelte Thema (und dementspre‐ chend die gesamte Reflexion) zur dramatischen Handlung steht, kann dabei de‐ zidiert ausgesprochen oder auch nur implizit angedeutet werden.17 Das Verständnis derartiger Reflexionen ist zunächst davon abhängig, das ei‐ gentliche Thema bzw. die Themen zu bestimmen bzw. zu umreißen. Die nach‐ vollziehende Interpretation derartiger Partien legt ferner besonderen Wert auf das Verständnis der kausallogischen Verknüpfung der einzelnen Gedanken und das Erfassen der Gedankenbewegung, sowie gegebenenfalls auf die Rekon‐ struktion eines abstrakten, teils spekulativen Reflexionsrahmens, innerhalb dessen sich die konkrete Ausdeutung verorten lässt.

12 13 14 15 16 17

Vgl. Antigone, erstes Stasimon v. 332. Vgl. Oidipus Tyrannos, viertes Stasimon v. 1186 ff. Vgl. Antigone, erstes Stasimon v. 332 ff. Vgl. Aias, erstes und drittes Stasimon v. 596 ff. bzw. 1185 ff. Vgl. Philoktet, Parodos und Stasimon v. 169 ff. bzw. 676 ff. Die verschiedenen Strategien zur „Anbindung“ der Chorpartie an das Geschehen bzw. zur Verortung in der Handlung selbst werden im folgenden Abschnitt (IV, 3) behandelt werden; sie berühren bereits das, was unter „dramaturgische Funktionalisierung“ ver‐ standen werden soll.

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IV. Chorische Reflexion – Reflexionsstrategien

2.3 Imaginativ-visualisierende Reflexion18

Anliegen eines imaginativ-visualisierenden Reflexionszugangs ist es dagegen, ein möglichst plastisches, figuratives Bild zu entwerfen. Der dem dramatischen Geschehen entnommene Gegenstand der Reflexion wird so in eine oder mehrere imaginative bzw. visualisierende Szenen umgesetzt, die entweder detailliert und umfassend ausgestaltet oder im Sinne eines Schlaglichts kurz angerissen sein können. Dabei kann ein bildlich ausgestaltetes Motiv für eine Passage program‐ matische Wirkung haben und verschiedene Szenen miteinander verbinden.19 Es ist dabei von Zeit zu Zeit hilfreich, innerhalb dieses Reflexionsansatzes etwas weiter zu differenzieren: Unter Visualisierung soll das konkrete Sichtbar‐ machen eines der eigentlichen Handlung zugehörigen, den Rezipienten – d. h. dem Theaterpublikum – aber nicht erfahrbaren, weil hinterszenischen20 oder zurückliegenden21 Geschehens verstanden werden. Imagination meint dagegen die bildhafte Ausgestaltung eines der Handlung entsprungenen oder mit ihr in Zusammenhang stehenden Moments, das allerdings kein eigentliches zum engen Rahmen der Handlung gehörendes Geschehen darstellt. So kann bei‐ spielsweise eine der dramatischen Situation innewohnende Stimmung durch den Chor in einem Bild illustriert werden22 oder aber die Imagination von Orten oder Personen außerhalb des Handlungsorts zur Kontrastierung mit dem ei‐ gentlichen Geschehen erfolgen.23 18

19 20 21 22 23

Versteht man unter „Reflexion“ im strengen Sinne eine gedankliche Auseinanderset‐ zung mit einem gegebenen Thema bzw. eine „Vertiefung in einen Gedankengang“ (vgl. D UDEN (2006). Die deutsche Rechtschreibung, 24., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, hrsg. von der Dudenredaktion, Band 1, Mannheim / Leipzig / Wien / Zürich, S. 838, s.v.), ist der Gebrauch des Begriffs an dieser Stelle freilich problematisch. In Ana‐ logie zur oben mehrfach festgehaltenen Teilung der Tragödie in eigentlich dramatische, d. h. handlungstragende (mimetische) (Sprech-)Partien auf der einen Seite sowie den im weitesten Sinne reflektierenden, d. h. keine Handlung darstellenden (Chor-)Partien auf der anderen Seite, soll hier dennoch am Begriff der Reflexion festgehalten werden, auch wenn dabei gerade keine gedankliche Durchdringung, sondern vielmehr ein be‐ stimmter Modus der „Betrachtung“ (a. a. O.) gemeint ist. Gerade dieses auch vom D UDEN erwähnte Bedeutungsspektrum „Betrachtung“ kommt der hier eröffneten Kategorie „Imagination / Visualisierung“ besonders nahe. Vgl. Antigone, viertes Stasimon v. 944 ff., in dem das in mehrere Bilder umgesetze Motiv der Einkerkerung und des Verlusts des Lichts die motivische Klammer bildet, die die verschiedenen mythologischen Schlaglichter miteinander verknüpft. Vgl. Oidipus auf Kolonos, zweites und viertes Stasimon v. 1044 ff. bzw. 1556, die je eine hinterszenische Handlung visualisieren. Vgl. Antigone Parodos v. 100 ff. oder Trachinierinnen, erstes Stasimon v. 497 ff., die je ein zurückliegendes Geschehen visualisieren. Vgl. Oidipus Tyrannos, erstes Strophenpaar des ersten Stasimons v. 463 – 482. Vgl. Aias, erstes Stasimon v. 596 ff. mit der Imagination von Salamis sowie Aiasʼ Eltern.

3. Spektrum III: Dramaturgische Funktionalisierung

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Die Interpretation der durch den imaginativ-visualisierenden Reflexionszugang geprägten Partien hat ihr Augenmerk demnach im Speziellen auf die Gestaltung der poetisch-bildhaften Details zu richten und den Einsatz besonders promi‐ nenter poetischer Mittel (v. a. die Personifikation bzw. Prosopopoiie, gegebe‐ nenfalls die Narrativik der Passage) zu untersuchen. Gerade der Einsatz von Adjektiven, die Verortung des aufgeworfenen Bildes in Zeit und Raum (in Re‐ lation zum eigentlichen Bühnengeschehen) und das je eigene Verhältnis ein‐ zelner Bildebenen sind bei der nachvollziehenden Interpretation von beson‐ derem Interesse.

3. Spektrum III: Dramaturgische Funktionalisierung 3.1 Begriffsklärung

Dass den reflektierenden Chorpartien als Mittel zur Lenkung der Aufmerksam‐ keit des Zuschauers genuin dramaturgische Funktion zukommt, ist oben bereits angemerkt worden. Diese Arbeit verzichtet bewusst darauf, ein (theaterwissen‐ schaftlich-)theoretisch fundiertes, modernes Konzept von Dramaturgie zu ent‐ werfen. Was mit dem Begriff „Dramaturgie“ und der damit zusammenhän‐ genden dramaturgischen Funktionalisierung bzw. den dramaturgischen Implikationen verstanden werden soll, muss dennoch in aller Kürze umrissen werden. Dramaturgie meint im Rahmen dieser Arbeit die mit Blick auf die Lenkung der Aufmerksamkeit des Rezipienten vorgenommene Anordnung der einzelnen Formteile der Tragödie sowie ihre absichtsvolle Gestaltung im Einzelnen.24 Ganz vom jeweils dargestellten Mythos, dem Plot der Tragödie ausgehend, fragen die unter dem Schlagwort „Dramaturgie“ subsumierten Ansätze daher sowohl nach der Struktur der Tragödie im Ganzen, der Komposition ihrer Teile sowie der damit einhergehenden bzw. durch sie konstituierten Dramatisierung der ei‐ gentlichen Handlung bzw. der mit ihr in Zusammenhang stehenden Phänomene und Momente. Entscheidende Untersuchungsgegenstände sind dabei unter anderem die Steuerung des dramatischen Tempos, d. h. der bewusste Wechsel von Partien, die die Handlung beschleunigen, und solchen, die den Fluss des Geschehens verlangsamen, sowie der Einsatz bestimmter Formelemente zur Strukturierung

24

Dieses basale Verständnis weiß sich dementsprechend einem aristotelischen Konzept verpflichtet.

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IV. Chorische Reflexion – Reflexionsstrategien

des Dramas. Der besondere Fokus dieser Arbeit liegt dabei auf den Chorpartien sowie der chorischen Präsenz im Ganzen. Deren dramaturgischen Wert für das jeweilige Einzelstück herauszustellen sowie den Versuch einer Gesamtschau über die uns überlieferten Tragödien des Sophokles zu umreißen, ist eine Haupt‐ aufgabe der Untersuchung. Um den spezifischen dramaturgischen Wert einer untersuchten Chorpassage zu fassen, sollen dabei die durch ihre Gestaltung im Einzelnen sowie ihre Positionierung innerhalb des Stückganzen gegebenen dra‐ maturgischen Implikationen aufgespürt werden. Konkret wird daher gefragt werden, wie einzelne poetische bzw. reflektierende Momente und Gestaltungs‐ prinzipien dramaturgisch funktionalisiert werden. Im besten Fall lässt sich da‐ raufhin die dramaturgische Funktion einer ganzen Partie möglichst konzise an‐ geben. Wie bereits bei den Reflexionsstrategien muss auch hier eine grundlegende Einordnung und Kategorisierung vorgenommen werden, die als Leitfaden für die Interpretation der Einzelpassagen dienen kann. Der Fülle an Ansätzen zur Reflexion sowie ihrer konkreten Ausgestaltung in den jeweiligen Chorpassagen steht auch hier eine besonders vielgestaltige und je im Einzelfall zu betrachtende Fülle an dramaturgischen Implikationen gegenüber. Wieder scheint es dabei geraten, von einem breitgefächerten Spektrum auszugehen, das am besten er‐ neut über seine Ränder abgesteckt wird. Da, wie eben ausgeführt, unter Dramaturgie im Wesentlichen die der jewei‐ ligen Handlung angepasste, ihr entsprechende Komposition der einzelnen Formteile verstanden werden soll, spielt bei der Frage des Spektrums drama‐ turgischer Funktionalisierung das spezielle Verhältnis von chorischer Reflexion zu dramatischer Handlung eine entscheidende Rolle. Zwei Arten der Nutzbar‐ machung reflektierender Partien in Relation zur Handlung sollen dabei die Randpunkte des Spektrums bezeichnen. Wieder ist, wie oben, vorauszuschicken, dass diese beiden Punkte Extreme darstellen, die einzig den Rahmen umfassen, innerhalb dessen sich die konkreten, d. h. in den Stücken selbst zu erweisenden Funktionalisierungen und dramaturgischen Implikationen finden lassen. Inwie‐ weit eine Realisierung des einen oder anderen Funktionalisierungskonzepts in Reinform anzutreffen ist, wird die Einzelanalyse ad locum zu ergründen versu‐ chen. Entsprechendes gilt für das Verhältnis der beiden Funktionalisierungs‐ konzepte untereinander und den Übergang von einem zum anderen. Auch diese Entscheidung muss jeweils in der Untersuchung der Einzelstelle bzw. der vor‐ liegenden Tragödie erfolgen; eine Faustregel soll dabei erste Klarheit schaffen und den Blick auf die Problematik öffnen.

3. Spektrum III: Dramaturgische Funktionalisierung

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Im Bereich der möglichen Funktionalisierung chorischer Reflexion im Ver‐ hältnis zur Handlung sollen im Folgenden Fokussierung und Kontextualisie‐ rung25 als Eckpunkte des Spektrums unterschieden werden.26 Von der in diesem Spektrum verorteten dramaturgischen Funktionalisierung ist der jeweilige Re‐ zeptionsansatz – thematisch-begrifflich oder imaginativ-visualisierend – dabei zunächst unabhängig. Das heißt, dass theoretisch eine thematisch-begriffliche Reflexion sowohl im Sinne einer Fokussierung als auch einer Kontextualisie‐ rung funktionalisiert sein kann; Entsprechendes gilt für imaginativ-visualisie‐ rende Reflexionen. Es ist die Aufgabe der Gesamtschau am Ende dieser Arbeit, auf Basis der Einzelanalysen das Verhältnis dieser beiden Spektren zueinander näher zu bestimmen; für den Moment, d. h. die theoretische Erarbeitung der als Instrumentarium der Analyse verstandenen Begriffe, interessiert diese Relation noch nicht. 3.2 Fokussierung

Eine chorische Reflexion kann dazu dienen, auf ein bestimmtes Moment der Handlung dezidiert hinzuweisen und so die Aufmerksamkeit des Rezipienten darauf zu bündeln.27 Der Begriff „Moment“ ist dabei besonders weit gefasst: das Handeln eines Akteurs, die momentane oder generelle Situation eines Akteurs (gegebenenfalls des Chors selbst), eine Einwirkung von außen, der Ort des Ge‐ schehens, ein bestimmter Gegenstand, ein im Bühnengespräch aufgeworfenes Problem oder Thema – kurz: alles, was einen konkreten Bezug zur Handlung, zur Bühnensituation oder zum Bühnengespräch hat oder aus ihnen hervorgeht. Eine Fokussierung auf ein so geartetes Moment der Handlung verortet die chorische Reflexion und damit den Chor als ihren Sprecher dabei punktgenau im dramatischen Kontext; der konkrete Anknüpfungspunkt zwischen Chor‐ partie und Kontext ist in der Regel explizit bezeichnet: Stellt ein Akteur den

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26 27

Mit dem Begriff „Fokussierung“ glaube ich, dem bereits in „Reflexion“ innewohnenden optischen Bild zu entsprechen. Die analoge Bezeichnung „Streuung“ statt „Kontextua‐ lisierung“ trifft im Wesentlichen das Gemeinte, wird hier allerdings wegen der mögli‐ chen Konnotation „Ablenkung, Zerstreuung“ nicht systematisch verwendet. Der Be‐ griff „Kontextualisierung“ findet sich auch bei G OULD (2001). „Myth, Memory and the Chorus: ‘Tragic Rationality’“, in: Myth, Ritual Memory, and Exchange: Essays in Greek Literatur and Culture, Oxford, S. 405 – 414, S. 408 (in dieser Arbeit zitiert S. 256, Anm. 310). In Analogie zum vorhergehenden Abschnitt sind auch dieser Gegenüberstellung exemplarische Belegstellen aus dem zu behandelnden Textcorpus beigegeben; sie er‐ füllen die gleiche Funktion wie die Stellenangaben in Abschnitt IV, 2. Im optischen Bild (vgl. Anm. 25) entspricht dem die Sammellinse.

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IV. Chorische Reflexion – Reflexionsstrategien

Fokus der chorischen Reflexion dar, so kann er durch ein Demonstrativum28 oder eine andere Benennung29 bezeichnet, namentlich genannt30 oder auch angeredet werden.31 Den Bezug auf ein konkretes, womöglich der direkt vorausgehenden Szene entsprungenes Vorkommnis oder einen Gegenstand leisten entweder die konkrete Bezeichnung32 oder ein rückblickendes Demonstrativum.33 Den eigentlichen Rahmen der Handlung und einiger mit ihr zusammenhän‐ gender Phänomene verlässt eine fokussierende Reflexion dabei kaum; allenfalls bündelt sie eine Situation exemplarisch in der Fokussierung auf ein spezielles Moment derselben und entwirft so ein Panorama der jeweiligen Verhältnisse, wie sie sich aus Sicht der Choreuten darstellen. Als Faustregel kann zunächst gelten: Solange dabei der unmittelbare Bezugsrahmen der der Handlung imma‐ nenten Gegebenheiten nicht verlassen wird, ist die Grenze zur Kontextualisie‐ rung noch nicht überschritten. Dramaturgisch gesehen entspringt eine fokussierende Reflexion nicht nur konkret dem Geschehen, sondern wirkt im Gegenzug auch in besonders direkter Weise auf dieses zurück. Sie kann gerade hinsichtlich des dramatischen Tempos sowohl zu einer Steigerung als auch zu einer Drosselung desselben beitragen: Die konkrete, auf ein (innerdramatisch) problematisches Moment der Handlung fokussierende Reflexion reizt dabei die Erwartung einer (Auf-) Lösung, ist also im Wesentlichen dynamisch,34 wohingegen die auf einen erreichten Zustand fokussierende Reflexion eine eher statische Konstatierung und Bekräftigung darstellt35 – die möglicherweise als Folie einer plötzlich hereinbrechenden Wen‐ dung dienen kann.36 Wird diese Wendung durch den Rezipienten bereits anti‐ zipiert, so ist die entsprechende Chorpartie ein wesentlicher Bestandteil der In‐ szenierung dramatischer Ironie und damit klar dramaturgisch funktionalisiert. Die Analysen des Hauptteils werden zeigen, inwieweit darin ein geradezu stan‐ dardisierter Einsatz der chorischen Reflexion vorliegt. Die Interpretation der Chorpartien wird dementsprechend zu zeigen versuchen, inwieweit die Reflexion auf ein bestimmtes Moment der Handlung fokussiert, wie sich diese Fokussierung zum Rahmen der innerdramatischen Gegeben‐

28 29 30 31 32 33 34 35 36

Vgl. Oidipus auf Kolonos, drittes Stasimon v. 1239. Vgl. Oidipus Tyrannos, erstes Stasimon v. 484. Vgl. Aias, erstes, zweites und drittes Stasimon v. 609 f., 711, 717, 1213. Vgl. Elektra zweites Stasimon v. 1084 ff. Vgl. Elektra, erstes Stasimon v. 481. Vgl. Antigone, drittes Stasimon v. 793. Vgl. Trachinierinnen, zweites Stasimon v. 633 ff. Vgl. Aias, drittes Stasimon v. 1185 ff. Vgl. Trachinierinnen, zweites Stasimon v. 633.

3. Spektrum III: Dramaturgische Funktionalisierung

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heiten verhält und welche (gegebenenfalls standardisierten) dramaturgischen Implikationen sich gerade hinsichtlich des dramatischen Tempos daraus er‐ geben. 3.3 Kontextualisierung

Eine kontextualisierende Reflexion bezieht sich ebenfalls auf ein bestimmtes Moment der Handlung (worunter der oben gegebenen Definition entsprechend auch die momentane Gesamtlage der am Geschehen beteiligten Akteure ver‐ standen werden kann); anstatt dieses allerdings fokussiert zu betrachten und hinsichtlich einiger ihm immanenter Facetten auszuleuchten, sucht diese Re‐ flexion vielmehr, es in einen größeren Rahmen einzuordnen, der den unmittel‐ baren Bezugsrahmen des dramatischen Geschehens übersteigt.37 Dieses Kon‐ textualisieren eines Moments dient dabei dazu, eine weitere Deutungsebene einzublenden, vor der das dramatische Moment selbst bzw. auch die gesamte Handlung neu oder anders ausgedeutet werden können. Welche umfassenderen, den Rahmen des unmittelbaren dramatischen Ge‐ schehens übersteigende Kontexte kommen dabei in Frage? Eine reflektierende Partie kann das Geschehen bzw. einen Aspekt desselben in einen theologisch-re‐ ligiösen oder einen allgemeinphilosophisch-gnomischen Kontext einordnen und dabei entweder nur das Wirken (quasi-)göttlicher,38 abstrakter39 Mächte bzw. menschlicher Grundkonstanten40 feststellen, oder – in einem noch umfas‐ senderen Sinne kontextualisierend – dem Geschehen als Konkretisierung einer allgemeinen Wahrheit geradezu exemplarischen Charakter zusprechen.41 Ähn‐ liches gilt im Fall der Einordnung dramatischer Momente in den Zusammenhang der (Familien-)Geschichte42 oder beim Aufweis mythischer Parallelen,43 die eine Kontextualisierung des Bühnengeschehens ermöglichen bzw. andeuten. Ob dabei das dramatische Moment den Ausgangspunkt der Partie bildet oder die Reflexion erst konkretisierend auf das dramatische Moment zuläuft, bleibt im Wesentlichen der bewussten Komposition des Dichters überlassen, der damit je eigene dramaturgische Absichten verfolgt: Ein zu Beginn einer kontextuali‐ 37 38 39 40 41 42 43

In der Optik entspricht dies der Zerstreuungslinse. Vgl. Antigone, Parodos v. 100 ff. Vgl. Oidipus Tyrannos, zweites Stasimon v. 863. Vgl. Antigone, erstes Stasimon v. 332 ff. Vgl. Oidipus Tyrannos, viertes Stasimon v. 1186 ff. Vgl. Elektra, Epode des ersten Stasimons und erstes Strophenpaar des zweiten Stasimons v. 504 bzw. 1058 – 1081. Vgl. Antigone, viertes Stasimon v. 944 ff.

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IV. Chorische Reflexion – Reflexionsstrategien

sierenden Partie gesetzter Bezug zum dramatischen Kontext holt die Rezipienten geradezu in der Handlung ab und öffnet das Geschehen in Richtung einer wei‐ teren Deutungsebene,44 womit – über die gesamte Partie gesehen – grundsätz‐ lich eine Entschleunigung des dramatischen Tempos gegeben sein wird. Da‐ gegen bewirkt die entgegengesetzte Struktur, d. h. die Nennung des Anknüpfungspunkts erst am Ende der kontextualisierenden Partie, über alles gesehen eine beschleunigende Rückführung in die dramatische Realität, nachdem sich der Beginn der Passage zunächst vom unmittelbaren Kontext ab‐ gehoben haben wird.45 Näheres muss dabei die Einzelinterpretation ad locum zeigen; auch inwiefern eine der beiden Kompositionsformen für kontextuali‐ sierende (und andere) Chorpassagen typisch ist, wird sich erst nach Auswertung der Einzelergebnisse feststellen lassen. Die Interpretation solchermaßen kontextualisierender Passagen hat dement‐ sprechend im Besonderen den jeweiligen Anknüpfungspunkt zum dramati‐ schen Geschehen herauszustellen und den Rahmen zu umreißen, in den das Geschehen durch den Chor gestellt wird. Auf der Basis dieser durch die Refle‐ xion entworfenen Deutungsebene(n) müssen darüber hinaus die dramaturgi‐ schen Implikationen der entsprechenden Partie sowie ihre motivische Veran‐ kerung innerhalb des Dramenganzen untersucht werden.

4. Chorische Binnengliederung – dramaturgische Implikationen des Einzelstücks Von besonderer Bedeutung wird es bei der Interpretation der Einzeltragödien sein, den Beziehungen zwischen den Chorpartien selbst nachzugehen, d. h. zu fragen, ob gewisse Chorpartien einander ergänzen, aufeinander Bezug nehmen oder hinsichtlich ihrer Motivik, ihrer Reflexionsinhalte und -strategien bzw. der ihnen eigenen dramaturgischen Funktionalisierung miteinander korrelieren. Diese Bezugnahmen der Chorpartien untereinander sollen dabei unter dem Stichwort „chorische Binnengliederung“ zusammengefasst werden. Von besonderer dramaturgischer Bedeutung ist dabei das strukturierende Potential, das einer so gearteten chorischen Binnengliederung zukommt: Jen‐ seits der rein formalen Gliederung, die die regelmäßige Einschaltung lyrischer Partien mit sich bringt, ist dem Dichter mit den Chorpartien so ein besonders wirksames Mittel gegeben, seine Tragödie auch motivisch-thematisch zu glie‐ 44 45

Vgl. Antigone, viertes Stasimon v. 944 ff. Vgl. Antigone, erstes Stasimon v. 332 ff.; ähnlich Oidipus auf Kolonos, drittes Stasimon v. 1211 ff.

4. Chorische Binnengliederung – dramaturgische Implikationen des Einzelstücks

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dern bzw. zu runden. Um die Bedeutung zu ermessen, die dem strukturellen Potential chorischer Binnengliederung im Fall unseres Autors zukommt, muss ein besonderer Umstand des uns vorliegenden Werks ins Gedächtnis gerufen werden. Die uns vollständig überlieferten Tragödien des Sophokles waren nicht Be‐ standteile von Inhaltstetralogien,46 bei denen zumindest die drei zum Wettbe‐ werb eingereichten Tragödien (tragische Trilogie) als eine Folge von Fortset‐ zungsstücken abschnittsweise und chronologisch aufeinander aufbauend einen Mythos auf die Bühne brachten.47 Mit aller gebotenen Vorsicht lässt sich auf Grund der Quellenlage behaupten, dass gerade Sophokles ab einem gewissen Zeitpunkt48 die Abkehr vom (aischyleisch geprägten) Kompositionsschema der Inhaltstetralogie49 hin zur Komposition von drei (Tragödien) bzw. vier thema‐ tisch in sich geschlossenen Stücken propagiert hat.50 Die so zu einer Tetralogie zusammengefassten Stücke waren, wenn überhaupt, nur noch thematisch-mo‐

46 47

48 49 50

So der Begriff bei L ATACZ (2003) S. 170 et passim. Das sich daran anschließende Satyrspiel stand dabei entweder inhaltlich oder hinsicht‐ lich des dramatischen Personals in Beziehung zu den Tragödien und bildete so den Abschluss der in sich geschlossenen Tetralogie. Zum Satyrspiel vgl. L ÄMMLE (2011). „Das Satyrspiel.“ in: Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit, hrsg. v. Z IM‐ MERMANN (2011), München, S. 611 – 663. Dass Sophokles auch mindestens eine Inhaltstetralogie geschrieben hat, führt u. a. L A‐ TACZ (2003) S. 170 ff. am Beispiel der Telepheia aus; vgl. auch L ESKY (1972). Die tragische Dichtung der Hellenen, Göttingen, S. 260. Vgl. zur aischyleischen Tetralogie G ANTZ (1980). „The Aeschylean Tetralogy: Attested and conjectured groups.“ in: AJP 101, 2 (1980) S. 133 – 164. Vgl. E WANS (2014). „Sophocles: Dramatic Innovations.“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy III, hrsg. v. R OISMAN (2014), Malden (MA), S. 1276 – 1278, S. 1276: „He [So‐ phokles] also made single, unrelated plays the norm in his offering of three tragedies and a satyr play at each festival“. Als Erklärung dieser Entwicklung hat W EBSTER (1965). „The order of tragedies at the Great Dionysia.“ in: Hermathena 21 (1965), S. 21 – 28 eine Veränderung des Aufführungsmodus im tragischen Agon der Großen Dionysien vor‐ geschlagen (vgl. L ESKY a. a. O. sowie Z IMMERMANN (2002). „Tetralogie.“ in: DNP Band 12 / 1, Sp. 195): Demnach wären ab 450 / 49 nicht mehr die drei zusammenhän‐ genden Tragödien eines Dichters hintereinander, sondern pro Tag nur noch eine Tra‐ gödie jedes Dichters aufgeführt worden; später hätte man diese Regelung allerdings wieder zu Gunsten einer durchgängigen Aufführung der jeweiligen Trilogie fallen ge‐ lassen. Wie auch L ESKY bemerkt, ist gerade der letzte Punkt „nicht erweisbar“ (a. a. O.).

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IV. Chorische Reflexion – Reflexionsstrategien

tivisch miteinander verknüpft.51 Eine Rekonstruktion der so gearteten sopho‐ kleischen Tetralogien ist allerdings bereits auf Grund der mangelnden Zeugnisse sehr schwierig: Bei vielen Stücken ist schlicht nicht bekannt, mit welchen an‐ deren Dramen sie in einer Tetralogie zusammengefasst waren. Dass von einem Großteil der Tragödien einzig die Titel bekannt sind, erschwert eine Gesamt‐ schau zudem. Beginnend mit Aristoteles52 scheint darüber hinaus auch die Tra‐ gödienphilologie der späteren Zeit kein besonderes Gewicht mehr auf die Tri‐ logien- bzw. Tetralogienkomposition gelegt zu haben (vgl. die uns vorliegende

51

52

Die Bemerkung der Suda, Sophokles habe als Erster das στρατολογεῖσθαι durch das δρᾶμα πρὸς δρᾶμα ἀγωνίζεσθαι ersetzt (A DLER (1971). Suidae Lexicon IV, Stuttgart, S. 402), ist verschiedentlich dahingehend gedeutet worden, als habe er die Abkehr von der Inhaltstetralogie initiiert (so z. B. L ATACZ (2003) S. 170). Diese Zuschreibung ist al‐ lerdings unhaltbar. Zum einen ist die Bedeutung des Infinitivs στρατολογεῖσθαι strittig, zum anderen waren bereits die Perser des Aischylos (und damit das älteste uns ganz überlieferte Drama) mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht Bestandteil einer Inhaltstet‐ ralogie, sondern bildeten ein Einzelstück innerhalb einer (vermutlich) thematisch ge‐ schlossenen Trilogie bzw. Tetralogie (vgl. R OSENBLOOM (2006). Aeschylus: Persians, London, S. 15: „As it stands, the Persians is both the sole surviving historical tragedy and the only self-contained tragedy in Aeschylusʼ extant oeuvre“; sowie G ARVIE (2009) S. Xl ff.; zur in Rede stehenden Trilogie vgl. zudem F ÖLLINGER (2003) S. 237 ff., die aus‐ gehend von der „Unmöglichkeit, einen gemeinsamen Handlungsstrang für die Stücke der Trilogie oder sogar Tetralogie auszumachen“ (S. 239) mit aller Vorsicht schließt: „Als thematische Gemeinsamkeit ergäbe sich also die Hybris, die von dem unvorsichtigen und pietätlosen Umgang mit außergewöhnlichen Mitteln herrührt“ S. 241). Auf Basis der in Anm. 50 erwähnten These von W EBSTER (1965) erwägt bereits L ESKY (1972) die Umdeutung der Suda-Bemerkung: „Das bekannte δρᾶμα πρὸς δρᾶμα ἀγωνίζεσθαι (Wettbewerb von Stück gegen Stück) der Suda bekäme so einen besonderen Sinn“ (a. a. O.): In diesem Fall würde die Suda Sophokles nicht die Veränderung gewisser Kompositionsprinzipien, sondern die Umstrukturierung des tragischen Agons in seinem Ablauf zuschreiben. Inwieweit Sophokles auf den Ablauf des Agons Einfluss hatte oder die Suda schlicht eine Fehlinformation bietet, ist allerdings nicht zu klären. Auf keinen Fall aber hält eine starre Gleichsetzung „Aischylos: Inhaltstetralogien“, „So‐ phokles: Einzelstücke“ der genaueren Überprüfung der komplexen (und uns nur zum Teil bekannten) Gegebenheiten stand. Besonders vorsichtig, aber der Sache ange‐ messen, bemerkt D UGDALE (2014). „Features of Greek Tragedy.“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy I, hrsg. v. R OISMAN (2014), Malden (MA), S. 507 – 513, S. 507: „Aeschylus favored tetralogies, while Sophocles and Euripides seem to have preferred putting on four unrelated plays“. In der Poetik herrscht bereits die Betrachtung des Einzeldramas vor. Dass Aristoteles damit ein zentrales Moment der historischen Tragödien, ihrer Entwicklung und insti‐ tutionellen Verankerung außer Acht lässt, erklärt sich teils aus dem zeitlichen Abstand, der ihn von der Blütezeit des attischen Theaterwesens (und des attischen Polis-Systems) trennt, teils aus seiner grundsätzlichen Intention. Entsprechend fehlt in seiner theore‐ tischen Darstellung von Tragik und tragischer Schuld jedes theologisch-religiöse Mo‐ ment, was dem in vielen Tragödien selbst thematisierten Diskurs nicht gerecht wird.

4. Chorische Binnengliederung – dramaturgische Implikationen des Einzelstücks

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Auswahl von sieben Einzelstücken sowie der darin enthaltenen byzantinischen Trias zu Schulzwecken). Auch wenn uns so in Sophoklesʼ Fall die Vergleichsmöglichkeiten genommen sind,53 lässt sich schließen, dass sich die Komposition einer in den Verbund einer Inhaltstetralogie eingebundenen Tragödie von der eines als Einzelstück kom‐ ponierten Dramas unterschieden haben muss: Die Anordnung der einzelnen Formteile, Szenen und Auftritte, die Phasierung des Stücks und demgemäß die poetisch-motivische Arbeit im Einzelnen dienen dem Aufbau eines auf die Dauer eines Stücks bemessenen Spannungsbogens. Dass in diesem Zusammenhang gerade die Gestaltung der Chorpassagen und ihre dramaturgische Funktionali‐ sierung auch diesem Zweck dienen, ist folgerichtig. Konkret gesagt: Die formale Geschlossenheit, gar die durch offensichtliche Bezüge und Spiegelungen inhalt‐ licher54 oder formaler55 Natur erzeugte Rundung einer der uns überlieferten Tragödien festzustellen, ist vor dem Hintergrund dieser Überlegungen alles an‐ dere als banal.

53

54 55

Zu bedenken bleibt weiterhin, dass uns zwar mit der Orestie des Aischylos eine tragische Trilogie erhalten geblieben, das zugehörige Satyrspiel allerdings verloren ist. Selbst von Aischylos, als dessen „Charakteristikum“ die Inhaltstetralogie gilt, besitzen wir dem‐ nach keine einzige vollständige Folge vier zusammenhängender Stücke. Vgl. erstes und drittes Standlied des Aias. Vgl. besonders Oidipus auf Kolonos und Elektra.

V. Zielsetzung, Aufbau und Vorgehen der Arbeit – praeliminaria 1. Zielsetzung und wesentliche Charakteristika dieser Untersuchung Die vorliegende Arbeit setzt es sich zur Aufgabe, die „chorische Technik“1 des Sophokles eingehend zu beleuchten. Zu diesem Zweck soll auf der Basis einer detaillierten Interpretation der einzelnen Chorpassagen innerhalb der Tragö‐ dien ein möglichst umfassendes Bild des Formteils „Chor“ bei Sophokles ge‐ geben werden. Im Vordergrund steht dabei zunächst das vertiefte Verständnis der entsprechenden Partie bzw. der in Rede stehenden Tragödie auf Basis des in dieser Einleitung entwickelten Instrumentariums. Ausgehend von den so erar‐ beiteten Einzelergebnissen soll ein schrittweiser Überblick über größere Ein‐ heiten (Lied / Chorpartie – Einzelstück – Gruppe – Gesamtwerk) generelle Er‐ kenntnisse zur chorischen Technik bzw. zur Chorführung herausarbeiten. Im Besonderen wird dabei zu fragen sein, ob, und wenn ja, was für ein Zu‐ sammenhang zwischen den drei in der Einleitung eröffneten Spektren (Person / Rollenidentität, Reflexionsstrategie, dramaturgische Funktionalisie‐ rung) besteht, d. h. ob sich feste Zuordnungen ausmachen lassen und was damit für die Betrachtung der Tragödien im Ganzen gewonnen ist. So ist die vorliegende Arbeit sowohl hinsichtlich ihrer grundsätzlichen Auffas‐ sung der Tragödie als auch mit Blick auf ihre Zielsetzung und den zu unter‐ suchenden Gegenstand im Ganzen S PIRAs wohlbegründeter Ansicht ver‐ pflichtet: Daß Handlung und Charaktere, in anderen Worten, dramatische Technik und Psy‐ chologie, untrennbar voneinander der Gesamtkonzeption des Dramas dienen, ist un‐ sere feste Auffassung.2

Bereits in ihrer Konzeption, das Phänomen Chor im Rahmen der drei oben ent‐ worfenen Spektren zu untersuchen (und damit das Gegeneinander einer – ver‐ meintlich aristotelischen – reinen dramatis persona-Auffassung, einer aus‐ 1 2

So bereits H OSE (1990) I S. 13 zu Euripides. S PIRA (1960). Untersuchungen zum Deus ex machina bei Sophokles und Euripides, Kallmünz / Opf. S. 12.

1. Zielsetzung und wesentliche Charakteristika dieser Untersuchung

67

schließlich dramentechnischen Betrachtung sowie einer einzig an rituell-performativen Aspekten oder den theologisch-geistesgeschichtlichen In‐ halten der Chorlieder interessierten Beschäftigung zu überwinden), weiß sich diese Untersuchung auf der von S PIRA innerhalb der Forschung ausgemachten und beschrittenen via media zwischen den Extremen.3 Wenn sich der Fokus der Interpretationen dabei auch von Zeit zu Zeit auf Einzelaspekte (wie beispiels‐ weise die Einbindung der chorischen Person in das Personenspektrum der Tra‐ gödie oder die strukturelle Verankerung gewisser Lieder) konzentriert, so wird doch an dieser für das Selbstverständnis der Arbeit konstitutiven Ausrichtung festgehalten. Dass dabei das besondere Augenmerk eher auf die formalen As‐ pekte der einzelnen Tragödien sowie des Dramas überhaupt gerichtet ist, ver‐ steht sich vor diesem Hintergrund nicht als Abweichung von der angespro‐ chenen via media, sondern als besonders geeignetes Instrument, den Untersuchungsgegenstand adäquat auszudeuten; „denn in der dramatischen Form erscheint ja alles, was interpretiert und nach dessen Sinngebung gefragt werden kann“.4 Die vorliegende Arbeit ist diesen Überlegungen und Verortungen entspre‐ chend im Wesentlichen deskriptiv und werkimmanent ausgerichtet. Sie wird dabei im Besonderen den bereits angedeuteten strukturellen, d. h. im besten Sinne dramaturgischen Effekten der einzelnen Lieder nachgehen. In ihrer grundlegenden Intention weiß sie sich dabei in besonderer Nähe zu G RUBER: Sie sucht in ihrer Frage nach der Dramaturgie des Einzeldramas zu ergründen, welche Bedeutung das jeweilige Chorlied bzw. die Gesamtheit der chorischen Passagen eines Dramas für die Komposition des Stücks besitzt; sie fragt daher mittelbar auch, „auf welche Weise der Chor im Ablauf einer Tragödie die Re‐ zeptionshaltung des Zuschauers prägt“.5 Der Rezeptionsästhetik G RUBERS setzt sie allerdings den fokussierten Blick auf das Wechselspiel der Formteile der

3

4 5

S PIRA (1960). „Das entspricht dem mittleren Weg, den die Forschung betreten konnte, nachdem Tycho von Wilamowitz die Fessel einer zu engen psychologischen Betrach‐ tungsweise einmal gesprengt und (wenn auch nun seinerseits etwas extrem) die Be‐ deutung der dramatischen Technik in das Blickfeld gerückt hatte.“ a. a. O. S PIRA (1960), a. a. O. G RUBER (2009) S. 27.

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V. Zielsetzung, Aufbau und Vorgehen der Arbeit – praeliminaria

Tragödie entgegen und weiß sich damit einer eher produktions- bzw. werkäs‐ thetischen6 Position verpflichtet. Das Ziel der Arbeit, das Verständnis des jeweiligen Einzelstücks als einer dra‐ matischen Komposition zu fördern, rückt sie von Zeit zu Zeit in die Nähe einer geradezu kommentierenden Auseinandersetzung und macht gegebenenfalls die deutende Wiedergabe längerer Textpartien nötig.

2. Aufbau der Arbeit, methodische Entscheidungen und Vorgehen im Einzelnen Der Aufbau der vorliegenden Arbeit ergibt sich aus der oben umrissenen Ziel‐ setzung: Die Gestaltung und Anordnung ihrer Teile versucht dabei, das oben erwähnte schrittweise Überblicken der dem Gegenstand eigenen Abschnitte zu spiegeln. Den Hauptteil der Arbeit (B) bilden dementsprechend die Einzelinterpretati‐ onen der sieben uns vorliegenden Tragödien des Sophokles (samt den Gesamt‐ schauen der einzelnen Großabschnitte). Wie oben bereits bemerkt, sind diese Einzelinterpretationen nach den Rollenidentitäten der jeweiligen Chöre kate‐ gorisiert:7 So kommen zunächst die Tragödien mit Chören wehrfähiger Männer in den Blick, daraufhin die mit Frauen-, schließlich die mit Greisenchören. So‐ wohl die Anordnung dieser Großabschnitte selbst als auch die Reihenfolge der ihnen zugehörigen Einzeltragödien unterliegt dabei inhaltlich-formalen Ge‐

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7

Wie bereits dargelegt, entzieht sich der eigentliche Produktionsprozess der Tragödien, d. h. das konkrete Vorgehen des Dichters in der Komposition des einzelnen Dramas, unserer Kenntnis. Der Begriff „Produktionsästhetik“ wäre daher im strengen Sinne un‐ haltbar. Da hier nun die Stücke bzw. der Text der Stücke den alleinigen Ausgangspunkt der Interpretation bildet, bietet es sich an, von einem „werkästhetischen“ Zugang zu sprechen. Vergleichbar ist bereits G ARDINER (1987) mit ihren Kategorien „Men at War“, „Men at Home“, „Women“.

2. Aufbau der Arbeit, methodische Entscheidungen und Vorgehen im Einzelnen

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sichtspunkten, die die Interpretation selbst ergeben und die entsprechenden re‐ sümierenden Partien sozusagen im Rückblick erläutern werden.8 Die den sieben Dramen gewidmeten Abschnitte sind dabei ganz parallel auf‐ gebaut: Der Interpretation der einzelnen Partien geht jeweils unter der Über‐ schrift „Vorbemerkungen“ eine kurze Angabe des Inhalts der Tragödie sowie ein Überblick zum Personal und entscheidenden strukturellen Momenten voran.9 Eine Zusammenfassung wird im Anschluss an die Analyse die entscheidenden Punkte der Einzelinterpretation der Chorpartien prägnant zu wiederholen su‐ chen. Sie wird dazu das gesamte Drama in den Blick nehmen, eine Übersicht der Chorlieder geben und den Blick auf größere Formaleinheiten innerhalb des Stü‐ ckes weiten. Im Besonderen wird dabei gemäß den in der Einleitung eröffneten Kategorien nach dem Verhältnis des Chors zur jeweiligen Bezugsperson, nach den Reflexionsstrategien, der dramaturgischen Funktionalisierung der Chor‐ partien sowie nach ihrer Binnengliederung und damit gegebenenfalls ihrer strukturierenden Funktion zu fragen sein. Eine vergleichende Gegenüberstellung der hinsichtlich der Rollenidentität des Chors zusammengehörigen Tragödien bieten die sog. Gesamtschauen am Ende der jeweiligen Großabschnitte. Sie dienen dazu, Parallelen und Unter‐ schiede der Chorführung der entsprechenden Dramen aufzuzeigen, und orien‐ tieren sich dabei gezielt an den in der Einleitung beschriebenen Spektren. Dabei verstehen sie sich jeweils als Zwischen-Fazit, das auf Basis der Einzelinterpre‐ tationen entscheidende Punkte herausstellt und den Blick weitet. Der mit „Synthese und Ausblick“ überschriebene Abschnitt C stellt den ab‐ schließenden Versuch dar, die in den Einzelinterpretationen herausgearbeiteten und in den Gesamtschauen abschnittsweise miteinander verglichenen Ergeb‐ nisse zu einem Gesamtbild zusammenzuführen. Dabei sollen zunächst einige allgemeine Gesichtspunkte der sophokleischen Chorführung beleuchtet 8

9

Zur auf den ersten Blick ungewöhnlichen Anordnung des späteren Philoktet vor dem früheren Aias vgl. die Gesamtschau des entsprechenden Abschnitts (B, I, 3.) sowie die Synthese (C, 3.). Dass dabei die ohnehin unsichere Chronologie der Stücke für die vor‐ liegende Studie allenfalls eine untergeordnete Bedeutung besitzt, entfaltet zudem der entsprechende Abschnitt der Einleitung (V, 3.1). Die Anordnung der drei Stücke mit Greisenchören (Oidipus Tyrannos, Oidipus auf Kolonos, Antigone) ermöglicht zum einen den linearen Nachvollzug der in ihnen dargestellten mythischen Episoden. Dass die drei Stücke dabei nicht als aufeinander folgende Teile einer tragischen Trilogie komponiert wurden und zu unterschiedlichen Zeit entstanden sind, bleibt davon völlig unberührt. Zum anderen entspricht gerade die Schlussstellung der Antigone denselben inhaltlichen Gesichtspunkten, die die Positionierung des Philoktet am Beginn der Untersuchung rechtfertigen. Vgl. auch dazu die angegebenen Abschnitte dieser Arbeit. Ich folge damit F ÖLLINGER (2003), die den Einzelbetrachtungen der Aischylos-Tragödien ebenfalls kurze Inhaltsübersichten voranstellt.

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V. Zielsetzung, Aufbau und Vorgehen der Arbeit – praeliminaria

werden, bevor sich je ein Unterabschnitt mit dem Verhältnis der drei in der Einleitung entworfenen Spektren sowie einigen sich daraus ergebenden Folge‐ rungen mit Blick auf das Gesamtwerk auseinandersetzt. Ein kurzer Ausblick wird versuchen, mögliche Nutzbarmachungen der hier vorgelegten Analysen und Ergebnisse zu umreißen. Einige methodische Entscheidungen haben dabei besonderen Einfluss auf die Gestaltung der Interpretationen im Einzelnen; sie sollen daher hier kurz ausge‐ führt werden. Die zu untersuchenden, zumeist lyrischen Partien des Chors sind bereits sprachlich und inhaltlich so komplex, dass mit Blick auf die Zielsetzung dieser Arbeit mit einem reinen Überblick oder einer kurzen Inhaltsangabe nicht be‐ sonders viel gewonnen wäre. Da die Analyse im Einzelfall zeigen will, welche Bedeutung gerade der sprachlich-poetischen Komposition der einzelnen Chor‐ partien (d. h. dem Gedankenfortschritt, der Verknüpfung einzelner Bilder, Ge‐ danken oder Motive) sowohl mit Blick auf die Verortung des Liedes im Ablauf der Handlung als auch seiner dramaturgischen Funktionalisierung zukommt, ist es unausweichlich, den entsprechenden Partien größtenteils in einer engen, textnahen Interpretation zu folgen. Gerade die dramaturgischen Zusammenhänge und Strukturen der Chorlieder einer Tragödie können dabei meines Erachtens nur sinnvoll untersucht werden, wenn die Lieder (und die für die Dramaturgie bedeutsamen Aussagen des Chors innerhalb der Sprechteile des Dramas) zunächst für sich und im Zusammenhang mit dem Handlungsverlauf betrachtet werden.10 Erst auf Basis eines so gearteten textnahen Nachvollzugs sowie einer teilweise kleinteiligen Betrachtung können die einzelnen Aspekte der Chorführung eines Dramas bzw. einer Gruppe von Dramen beleuchtet werden. Die vom Dichter festgelegte Reihenfolge der Gedanken und Reflexionen, d. h. das konkrete Nacheinander der einzelnen Sätze, Strophen und Abschnitte ist dabei konstitutiv; fragt man so nach der konkreten Einbettung des Liedes im Zusammenhang des Dramas, ist ein Nachvollzug der zu untersuchenden Partie in der Reihenfolge der Rezeption und somit ein (zumindest erster) Durchgang durch den vorliegenden Text notwendig. Da ferner gerade die Verortung der jeweiligen Lieder im Kontext des Stückes, d. h. im Besonderen der motivisch-thematische Konnex zwischen Sprechpartien

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Einen anderen, systematischen Ansatz verfolgt dagegen H OSE (1990 / 1), der die ein‐ zelnen Tragödien des Euripides nicht Stück für Stück durchgeht, sondern die Chorlieder nach bestimmten (dramaturgischen) Kategorien sortiert und sie dann im Einzelnen ausdeutet.

2. Aufbau der Arbeit, methodische Entscheidungen und Vorgehen im Einzelnen

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und lyrischen Abschnitten, zu erfragen ist, müssen auch gewisse nicht-chori‐ sche Passagen einer genaueren Untersuchung unterzogen werden (im Beson‐ deren freilich die Prologe, denen als Startpunkt der Tragödien herausgehobene Bedeutung gerade auch hinsichtlich ihrer Beziehung zur Parodos zukommt). Die entsprechenden Passagen dieser Arbeit sind dabei nicht als Digression zu ver‐ stehen, sondern wollen in besonders fokussierter Weise die Ausdeutung des folgenden (oder vorangehenden) Chorliedes ermöglichen. Kurz gesagt: Die Einzelinterpretationen folgen so dem Verlauf des jeweiligen Stücks sowie den einzelnen Partien im Wesentlichen linear; einzelne Vor- oder Rückblenden ergeben sich dabei aus der Sache selbst: So ist es beispielsweise bei der Einordnung einer gewissen Passage in den übergeordneten Kontext des Dramas notwendig, das Verhältnis des in Rede stehenden Abschnitts zu voran‐ gegangenen oder kommenden Partien zu beleuchten. Am grundlegenden Cha‐ rakter der Einzelanalyse als eines Durchgangs durch die entsprechende Tra‐ gödie ändert dies allerdings nichts.11 Trotz der formalen und thematischen Vielfalt der zu betrachtenden Chor‐ lieder sowie der jeweils unterschiedlichen Einbindung in den Zusammenhang des Dramas ist es geraten, die Interpretation der chorischen Passagen einem groben Schema folgen zu lassen: So geht der eigentlichen Interpretation eine Hinführung zur Partie voraus, die die vorhergehende Sprechszene rekapituliert. Es folgt in der Regel ein rascher formaler Überblick über die eigentliche chori‐ sche Partie, wobei neben der Angabe des grundlegenden Themas besonders die Ausdehnung, die metrisch-strophische Gliederung,12 die (intendierte) Ge‐ sprächssituation und etwaige gattungseigene Merkmale im Vordergrund stehen. Daran schließt sich ein detaillierter Nachvollzug der Partie an, der im Beson‐ deren die Gedankenbewegung, die motivische Arbeit und die sprachliche Aus‐ gestaltung beleuchten wird. Es wird dabei nötig sein, gewisse Abschnitte sehr textnah zu paraphrasieren, andere – v. a. kommatische Partien – können hin‐ gegen kursorisch abgehandelt werden. Dem differenzierten und deskriptiven Nachvollzug der Einzelheiten folgt in der Regel ein zusammenfassender Über‐ blick, der versucht, zum einen die dramaturgischen Implikationen der Partie

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Die vorliegende Arbeit folgt methodisch so B URTON (1980) sowie G RUBER (2009), der ebenfalls zum Schluss kommt: „Insofern rechtfertigt es sich, die Tragödie so zu unter‐ suchen, wie sie der Zuschauer präsentiert bekommt, also in ihrem linearen Ablauf“ S. 101. Ausführliche metrische Analysen finden sich in der vorliegenden Arbeit allerdings nicht. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die entsprechenden Kommentare (besonders neueren Datums), die sich ad locum der Metrik der Chorpartien widmen.

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V. Zielsetzung, Aufbau und Vorgehen der Arbeit – praeliminaria

herauszustellen, zum anderen ihre Relation zu den anderen lyrischen Partien des Dramas zu beleuchten. Angesichts des Ziels sowie des angedeuteten Vorgehens dieser Arbeit ist er‐ sichtlich, warum in diesem Rahmen weder eine Behandlung der Tragödienfrag‐ mente noch der Satyrspiele unseres Autors geleistet werden kann: Die unzu‐ reichende Überlieferung macht es unmöglich, dem Fortgang der jeweiligen Dramen zu folgen oder gar einzelne Partien genauer zu analysieren, um auf dieser Basis valide Erkenntnisse zur Dramaturgie der Einzelstücke zu ge‐ winnen.13 Die Arbeit will und kann trotz ihres Umfangs und der Behandlung aller sieben überlieferten Stücke zudem keine umfassende Gesamtinterpretation der Tragö‐ dien liefern. Dass im hier gewählten formalen Zugang zu den Tragödien eine Reihe von Aspekten unbearbeitet bleibt, dass womöglich mit der Betonung der kompositorischen Prinzipien ein einseitiges Bild der dramatischen Werke ge‐ zeichnet wird und die vorgelegte Studie den Dramen nicht in Gänze gerecht werden kann, ist mir bewusst. Grundsätzlich bleibt dabei allerdings zu bedenken: Weder darf der unzurei‐ chende Überlieferungsstand der Werke unseres Autors auf der einen noch die Unkenntnis über die konkrete Musik, den Tanz und sonstige mit der Auffüh‐ rungspraxis unmittelbar verbundenen Phänomene auf der anderen Seite außer Acht gelassen werden. Gerade die Beschäftigung mit dem Chor innerhalb der Tragödie hat so einige Leerstellen anzuerkennen, die eine umfassende Würdi‐ gung des sophokleischen Werks gerade hinsichtlich seiner Wirkung auf das Publikum ohnehin weitestgehend unmöglich machen.14 Auch die verdienstvolle Auseinandersetzung mit den historischen Umständen der Gattung Tragödie und ihrer soziokulturellen Verankerung innerhalb der Polis Athen darf dabei nicht über den Umstand hinwegtäuschen, dass selbst ein rezeptionsästhetischer An‐ satz zum Verständnis der Einzelstücke mit dieser generellen Unkenntnis umzu‐ 13

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Eine Beschäftigung mit dem Chor der Satyrspiele bedürfte darüber hinaus einer eigenen theoretischen Erörterung gattungsspezifischer Besonderheiten (v. a. die „permanente Identität des Chors“ (L ÄMMLE (2011) S. 612), d. h. seine über alle Stücke hinweg kon‐ stante Rolle) sowie ihrer Verortung im Verhältnis zu den anderen dramatischen Gat‐ tungen. Die Überlieferungssituation sowie die ernüchternde Kenntnis der Gattung und der ihr eigenen Gesetze und Formen lässt dies allerdings nur in begrenztem Umfang zu. Darüber hinaus bleiben angesichts der ernüchternden Quellenlage viele konkrete Ein‐ zelfragen sowohl zur Entstehung und Einstudierung der einzelnen Dramen (konkret: „Wie hat man sich den Kompositionsprozess einer Tragödie vorzustellen?“, „Wie liefen die Proben mit Schauspielern, Musikern und dem Chor ab?“) als auch zu den Rezi‐ pienten selbst („Wie war das Publikum zusammengesetzt?“, „Welche Vorkenntnisse in‐ haltlicher oder formaler Natur hatte das Publikum?“) offen.

3. praeliminaria

73

gehen hat.15 Gerade die von neueren Tendenzen mit einiger Entschiedenheit ins Feld geführte Rekontextualisierung der attischen Tragödie scheint allzu oft die Leerstellen innerhalb der Überlieferung sowie unsere Unkenntnis aus dem Blick zu verlieren; dass gerade eine zielgerichtete Fokussierung auf die inneren Struk‐ turen der Tragödien und ihre Kompositionsprinzipien das Verständnis fördern kann, will dagegen die vorliegende Arbeit zeigen. Die diese Arbeit im Wesent‐ lichen prägende Konzentration auf den Text der sophokleischen Tragödien ver‐ steht sich so nicht als andere Aspekte ausblendende Reduktion, sondern ist sich ihrer Beschränkung durchaus bewusst. Gemäß ihrem Ziel, zunächst das Ver‐ ständnis der Einzeltragödien zu fördern, schließlich ein Gesamtbild des sopho‐ kleischen Chorgebrauchs zu zeichnen, sieht sie allerdings in der Beschäftigung mit dem Tragödientext den angesichts der Überlieferungslage einzig gangbaren Weg.

3. praeliminaria 3.1 Datierung und Chronologie

Sowohl die relative wie auch die absolute Datierung der sieben uns erhaltenen Tragödien des Sophokles ist besonders umstritten.16 Der Mangel an äußeren Zeugnissen hat zur Folge, dass sich einzig die Aufführungen zweier Tragödien durch äußere Indizien sicher datieren lassen: Philoktet im Jahr 409, Oidipus auf Kolonos posthum im Jahr 401.17 Die Datierungsversuche der anderen fünf Stücke

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G RUBER (2009) S. 24 f., der einen dezidiert rezeptionsästhetischen Ansatz verfolgt, betont daher zu Recht mehrmals, nicht den tatsächlichen Rezipienten der (aischyleischen) Tragödie, d. h. den zuschauenden Athener im Theater des fünften Jahrhunderts, son‐ dern den dem Text immanenten, sogenannten impliziten Rezipienten im Blick zu haben. Besonders schwierig gestaltet es sich dementsprechend, das zeitliche Verhältnis der Tragödien unseres Autors zu Werken anderer Dichter zu bestimmen und gegenseitige Abhängigkeitsverhältnisse oder Einflüsse zu konstatieren. Notorisch umstritten ist dabei das Verhältnis der sophokleischen zur euripideischen Elektra; vgl. u. a. V ÖGLER (1967). Vergleichende Studien zur sophokleischen und euripideischen Elektra (Diss.), Heidelberg. Gerade dieses Beispiel lehrt, dass selbst mit der Datierung der Aufführung eben nur der Zeitpunkt der Produktion gewonnen ist, wohingegen über die eigentliche Entstehungs‐ zeit des Dramas damit noch kein Urteil gefällt ist.

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V. Zielsetzung, Aufbau und Vorgehen der Arbeit – praeliminaria

divergieren teils erheblich.18 Angesichts dieser grundlegenden Schwierigkeiten sowie der ohnehin dürftigen Kenntnis des Gesamtwerks unseres Dichters ist Z IMMERMANN zu Recht den Versuchen, Entwicklungslinien innerhalb der uns vorliegenden Stücke erkennen zu wollen, mit einiger Vorsicht entgegenge‐ treten.19 Selbst aus der oft zu Rate gezogenen Stelle in Plutarchs de prof. in virt. (79 B), in der man ein verlässliches Selbstzeugnis des Sophokles über den Wer‐ degang seiner Kunst gesehen hat,20 gewinnt man bei genauerer Untersuchung kein zufriedenstellendes Konzept, das aus sich heraus Anhaltspunkte für eine Chronologie der sieben uns erhaltenen Tragödien liefern könnte.21 Die Ansätze, aus den Tragödien selbst auf Basis innerer, d. h. sprachlicher, stilistischer,22 dra‐ maturgischer oder sonstiger Kriterien eine Chronologie zu entwickeln,23 können

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Vgl. vor allem die Trachinierinnen, deren Produktion von 457 bis in die 430er Jahre angesetzt wird (vgl. L EVETT (2014). „Sophocles: Women of Trachis (Τραχίνια).“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy III, hrsg. v. R OISMAN (2014), Malden (MA), S. 1323 – 1328, S. 1323), sowie der Aias, der entweder als besonders frühes Werk in die 450er Jahre, oder als recht spätes Werk in die Zeit zwischen 435 – 425 datiert wird (vgl. R OSENBLOOM (2014). „Sophocles: Ajax (Αἴας).“ in: The Encyclopedia of Greek Tra‐ gedy III, hrsg. v. R OISMAN (2014), Malden (MA), S. 1255 – 1264, S. 1256 f.). Weiteres zu den Datierungen der einzelnen Stücke ad locum. Z IMMERMANN (2011) S. 575. Vgl. im Besonderen B OWRA (1967): „Sophokles über seine eigene Entwicklung.“ in: So‐ phokles, hrsg. v. D ILLER (1967), Darmstadt (Wege der Forschung Band XCV), S. 126 – 146, der nicht nur zu erweisen sucht, dass Plutarch ein wörtliches (gesprochenes, nicht durch ihn selbst verschriftliches) Zitat des Dichters darbietet, sondern die darin entdeckte Entwicklung des Sophokles sowie das Zitat selbst zeitlich verortet (seines Erachtens vor 421) und mit Triptolemos, Aias und Antigone exemplarische Stücke der drei Schaffensperioden angibt. Fraglich sind zunächst Herkunft und Zuverlässigkeit des von Plutarch angeführten „Zitats“. Ob dabei einzig die Entwicklung der Sprache bzw. des Stil, oder aber des ge‐ samten künstlerischen Schaffens, mithin das „Dichten“ selbst zur Debatte steht, ist ebenso unklar wie die genaue Bedeutung einzelner, für die Aussage des gesamten Satzes zentraler Begriffe wie v. a. das ohnehin umstrittene διαπεπαιχώς. Darüber hinaus bietet Plutarch die Bemerkung des Dichters nicht, um Informationen über dessen künstleri‐ sches Schaffen zu geben, sondern nutzt das sprachlich zudem höchst undurchsichtige Testimonium als Vergleichsglied für die von ihm hypostasierte Entwicklung im Redestil (?) der φιλοσοφοῦντες. Vgl. z. B. die Datierung der Elektra durch V ÖGLER (1967) S. 86 ff. Besonders prominent ist die v. a. von W EBSTER (21969). An Introduction to Sophocle s, London vertretene Ansicht, erst mit dem Fortschreiten seiner dramatischen Technik habe Sophokles die „Diptychon-Struktur“ der als früh gekennzeichneten Stücke (i.B. Aias und Trachinierinnen, z.T. noch Antigone) überwunden, um mit dem Oidipus Ty‐ rannos schließlich zum Typus des dramatisch einheitlichen Stücks zu gelangen. So u. a. L ATACZ (2003) S. 173 ff., der diese Entwicklungshypothese mit dem erwähnten, Plutarch entstammenden Testimonium zu verbinden sucht.

3. praeliminaria

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daher keine letzte Gültigkeit beanspruchen.24 Auch die Datierung auf Grund von Anspielungen oder Reflexen auf außerdramatische Gegebenheiten innerhalb der Stücke ist letztlich nicht zwingend und vielfach äußerst spekulativ.25 Diese Arbeit will dementsprechend dezidiert keinen Beitrag zur Datierungs‐ debatte liefern. Es wäre methodisch völlig unhaltbar, aus der Untersuchung eines – wenn auch zentralen – Kompositionsmoments wie der dramaturgischen Einbindung und Funktionalisierung der Chorpassagen einen Maßstab gewinnen zu wollen, an dem sich die untersuchten Stücke chronologisch einordnen ließen.26 Angesichts der von Z IMMERMANN angedeuteten Gefahr von „Zirkel‐ schlüssen“27 ist es zudem ratsam, den Einzelinterpretationen keine Vorstel‐ lungen von künstlerischer Entwicklung zu Grunde zu legen und so etwa von vorneherein davon auszugehen, der Gebrauch des Chors oder die dramatische

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So auch L EFKOWITZ (2014). „Sophocles: Literary Biography.“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy III, hrsg. v. R OISMAN (2014), Malden (MA), S. 1291 – 1295, S. 1292: „Mo‐ dern attempts to provide a chronology for the undated plays are based primarily on stylistic criteria, which are necessarily subjective and conjectural, given the small size of the database on which all such judgements must be made“. So wird zur Datierung des Oidipus Tyrannos gelegentlich mit dem Ausbruch der „Pest“ in Athen im Jahr 430 (bzw. ihrem erneuten Hereinbrechen 427) als terminus post quem argumentiert (v. a. K NOX (1956). „The date of the Oedipus Tyrannus in Sophocles.“ in: AJP 77 (1956), S. 133 – 147). Wirklich zwingend ist der freilich thematisch besonders passende Zusammenhang zwischen der aktuellen Seuche in Athen sowie der auf Grund von Oidipusʼ Verfehlungen in Theben grassierenden verheerenden Krankheit allerdings nicht; vgl. W INNINGTON -I NGRAM (1980). Sophocles: An Interpretation, Cambridge (im Speziellen zur Datierung nach 427) S. 342: „This argument is plausible, but less com‐ pelling“. Wie eine solche Datierung aus inneren Kriterien zu falschen Ergebnissen führen kann, beweist die Frühdatierung der Hiketiden des Aischylos, die man auf Grund der promi‐ nenten Rolle des Chors teilweise sogar für das älteste Stück hielt, bevor man die Perser sicher datieren konnte; vgl. Z IMMERMANN (2011) S. 563 sowie zur Datierung der Hike‐ tiden L OSSAU (1998). Aischylos, Hildesheim, Zürich, New York, S. 66. Z IMMERMANN (2011) S. 563.

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V. Zielsetzung, Aufbau und Vorgehen der Arbeit – praeliminaria

Komposition der erwiesen späten Stücke Philoktet oder Oidipus auf Kolonos seien per se elaborierter als die der früheren Dramen.28 Da die vorliegende Arbeit alle sieben erhaltenen Stücke unseres Autors be‐ leuchtet, muss eine Reihenfolge der Einzeluntersuchungen gefunden werden. Wie bereits angedeutet, ist dafür die Rollenidentität des Chors entscheidendes Ordnungsmoment; innerhalb der das Spektrum gliedernden drei Gruppen (wehrfähige Männer, Frauen, Greise) erfolgt die Reihenfolge der Einzelinter‐ pretationen, wie oben bereits ausgeführt, dabei nach inhaltlichen Gesichts‐ punkten, die in der Gesamtschau ausgeführt werden sollen. Vergleiche oder kontrastive Gegenüberstellungen einzelner Stücke bzw. gewisser struktureller Momente werden sich dabei aus der Sache selbst ergeben und nicht allein auf Grund (angenommener) chronologischer Nähe ins Auge gefasst werden. 3.2 Text und Textkritik

Die lyrischen Partien der Tragödie gehören bereits auf Grund ihrer sprachlichen Schwierigkeit zu den textkritisch umstrittensten Abschnitten der jeweiligen Stücke. Während Gestalt und Sinn einzelner Abschnitte bereits innerhalb der hellenistischen Redaktion der Texte Anlass zu textkritischen Bemerkungen und vorgeschlagenen Änderungen boten (die uns zum Teil in den Scholien greifbar sind)29, ist im Besonderen die moderne Philologie von Beginn ihrer Beschäfti‐ gung mit Sophokles an den vielfältigen Schwierigkeiten des Texts zunehmend mit einer Flut an Konjekturen begegnet. Eine philologische, d. h. textnahe Aus‐ einandersetzung mit den Tragödien und speziell den Chorpartien wird sich daher neben divergierenden Lesarten und größeren Textausfällen auch immer 28

29

Auch die Annahme eines „Altersstils“, die vor allem die Einschätzung des Oidipus auf Kolonos geprägt hat, ist weder auf Basis des Texts noch methodisch haltbar. Angesichts des Mangels an Vergleichsstücken aus der letzten Lebensphase des Dichters (der un‐ gefähr acht Jahre früher aufgeführte Philoktet ist, wie die Interpretation zeigen wird, formal und strukturell ganz anders geartet und behandelt zudem einen völlig anderen Mythos) lassen sich keine Kriterien aufstellen, die einwandfrei das Vorhandensein eines mehr oder minder fest umrissenen „Altersstils“ erweisen könnten. Bestimmte, dem Oidipus auf Kolonos eigene teils thematisch-motivische, teils dramaturgisch-struktu‐ relle Momente dagegen rundheraus als Kennzeichen des „Altersstils“ anzusehen, ver‐ kennt den Umstand, dass die kompositorischen Mittel des Dichters zunächst dem the‐ matisierten Mythos, d. h. der Handlung entsprechend ausgesucht sind. Das angedeutete Vorgehen einer Konstruktion des „Altersstils“ wäre so einer der von Z IMMERMANN angedeuteten Zirkelschlüsse. Die Überlieferung des Textes überblickt M ARKANTONATOS (2014). „Sophocles: Trans‐ mission of Text.“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy III, hrsg. v. R OISMAN (2014), Malden (MA), S. 1316 – 1321.

3. praeliminaria

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wieder den bald geglückten, bald zweifelhaften Rekonstruktionsversuchen mo‐ derner Gelehrter widmen müssen. Nach P EARSON liegen mit der Ausgabe von L LOYD -J ONES /W ILSON die voll‐ ständig überlieferten Tragödien unseres Autors bereits in der zweiten Edition innerhalb der Oxford Classical Texts (OCT) vor. Als Zielpublikum ihrer Ausgabe (sowie der gesamten OCT) schwebt ihnen dabei „a wider circle of readers“30 vor, der sich nicht allein auf Mitglieder des akademischen Betriebs („professional scholars“) beschränke.31 Die selbstgestellte Aufgabe, diesem weiteren Adressa‐ tenkreis einen Sophoklestext zu bieten, der ohne größere Unterbrechungen ge‐ lesen werden kann,32 lässt die Herausgeber schließlich formulieren: „This policy has led us to adopt a number of emendations which may seem radical.“33 In der Tat zeigt sich bei der genauen Interpretation einiger (Chor-)Passagen, dass L LOYD -J ONES /W ILSON dazu neigen, sich gegen einen gut oder gar einhellig über‐ lieferten Textbestand und für eine Konjektur oder einen anderen Eingriff in den Text zu entscheiden.34 Auch mit dem Setzen von cruces zur Bezeichnung ver‐ derbter Stellen sind sie bei weitem vorsichtiger als noch P EARSON ,35 der im Ganzen gesehen einen wesentlich konservativeren, d. h. strenger am überlie‐ ferten Bestand orientierten Text bietet. Man fühlt sich daher gezwungen, der Kritik, die M ARKANTONATOS grundsätzlich an modernen Editoren sowie im Spe‐ ziellen an der Ausgabe von L LOYD -J ONES /W ILSON übt, zumindest in Teilen zu‐ zustimmen:

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L LOYD -J ONES /W ILSON (1990). Sophoclis fabulae recognoverunt brevique adnotatione critica instruxerunt, Oxford, Preface S. vi; ebendort die anderen Zitate. Inwieweit diese Zielsetzung allerdings der Realität entspricht oder Wunschdenken ent‐ springt, ist zweifelhaft. Auch die Ausgabe von L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) bietet si‐ cherlich keinen wesentlich „populäreren“ Zugang zu den Tragödien unseres Autors, als es die Ausgabe von P EARSON (1924). Sophoclis Fabulae recognovit brevique adnotatione critica instruxit, Oxford, tat. In diesem Zusammenhang besonders erwähnenswert ist dagegen die Ausgabe der Tragödien und der wichtigsten Fragmente in drei Bänden von L LOYD -J ONES /W ILSON (1994). Sophocles: edited and translated, I-III, Cambridge (MA), die dem Text eine mit Gewinn zu lesende englische Übersetzung beigibt. L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) S. vi: „a text which can be read with few interruptions“. Vgl. L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) S. vi. So z. B. die Änderung der dialektal gefärbten Formen Antigone v. 110 und 113, sowie die teils zweifelhaften Änderungen überlieferter Textbestände wie z. B. Oidipus Tyrannos v. 464, Oidipus auf Kolonos v. 1733, Antigone v. 603 et passim; siehe jeweils Interpretation ad locum. Besonders umfangreichen Gebrauch dieser ultima ratio im Umgang mit (vermeintlich) unheilbar verderbten Stellen macht D AWE in seinen Ausgaben (vgl. Literaturverzeichnis unter 1); dabei bietet er, wie auch M ARKANTONATOS (2014) S. 1320 feststellt, leider oft einen durch lacunae und Konjekturen entstellten Text, dem zu folgen daher selten ge‐ raten erscheint.

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V. Zielsetzung, Aufbau und Vorgehen der Arbeit – praeliminaria

It is sad that some modern editors of Sophocles have chosen to deviate from the time-honored paradosis, putting all their energies into proposing attractive but ines‐ sential changes so as to prove that the lectio tradita is incorrect. […] Lloyd-Jones and Wilson have produced a text which is more readable, but their willingness to accept uncertain readings as safe restorations of Sophoclesʼ words undermines their achievement.36

Die textkritischen Ausführungen im Rahmen der Einzelinterpretationen sollen dabei jeweils zum Verständnis der einzelnen Stelle beitragen; es ist dabei von Zeit zu Zeit geraten, dem Text von L LOYD -J ONES /W ILSON eine Alternative ent‐ gegenzusetzen. Im Umgang mit verderbten Stellen soll hier allerdings nicht der Anspruch erhoben werden, letztgültige Entscheidungen zu fällen. 3.3 Abkürzungen, Zitation u. Ä.

Wie bereits in Teil A werden in den Einzelinterpretationen die zitierten Werke bei ihrer ersten Nennung mit vollem Titel zitiert, danach mit Verfassernamen und Jahreszahl. Einschlägige Nachschlagewerke werden wie folgt abgekürzt: LSJ

A Greek-English Lexicon compiled by H. G. L IDDELL and R. S COTT […] revised and augmented by H. St. J ONES, 1961, Oxford.

KG

R. K ÜHNER /B. Gerth, Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache, Satzlehre (zwei Bände) 41955, Hannover.

DKP

Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike auf der Grundlage von Paulyʼs Re‐ alencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, bearb. und hrsg. v. K. Z IEGLER , W. S ONTHEIMER und H. G ÄRTNER, Stuttgart 1964 – 1975.

DNP

Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hrsg. v. H. C ANCIK/H. S CHNEIDER, Stuttgart 1996 – 2002.

RE

Paulyʼs Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, neue Bearb. beg. v. G. W ISSOWA, fortges. v. W. K ROLL u. K. M ITTELHAUS, hrsg. v. K. Z IEGLER , Stuttgart u. a. 1893 ff.

LIMC

Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae, Zürich u. a. 1981 ff.

36

M ARKANTONATOS (2014) S. 1320.

B Einzelinterpretationen sowie Gesamtschauen der Großabschnitte

I. Chöre wehrfähiger Männer 1. Philoktet Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur

Neben dem Oidipus auf Kolonos ist die vorliegende Tragödie die einzige in So‐ phoklesʼ überliefertem Werk, deren Aufführung sich sicher, d. h. auf Basis ex‐ terner Quellen, datieren lässt: Sie fand im Jahr 409 im Rahmen der städtischen Dionysien statt.1 Zunächst soll hier kurz die Handlung repetiert werden. Philoktet, der vom sterbenden Herakles als Dank für letzte Dienste seinen Bogen samt Pfeilen geschenkt bekommen hatte, war den Griechen vor Troia zu einer unerträglichen Last geworden: Auf Grund eines Schlangenbisses am Fuß verletzt war er zum einen militärisch nicht mehr zu verwenden, zum anderen verhinderten seine Schmerzensäußerungen sogar die Durchführung kultischer Handlungen im Heereslager (vgl. v. 8 f.). Die Atriden beschlossen daraufhin, ihn auf der Insel Lemnos auszusetzen, wobei Odysseus diese Aufgabe übernahm. Philoktet steht seitdem den militärischen Führern sowie insbesondere Odysseus mit besonderer Abneigung gegenüber. Als die Belagerung Troias nach neun Jahren schließlich keinen erkennbaren Fortschritt mehr zeigt, erinnern sich die Griechen eines Orakels: Zur Eroberung der Stadt seien Philoktet, sein Bogen sowie die zugehörigen Pfeile notwendig.2 Auch die Rückholaktion übernimmt Odysseus, dem Neoptolemos, Achills Sohn, zur Seite gestellt ist. Das vorliegende Drama nun schildert beginnend mit der Ankunft dieser griechischen Gesandtschaft die Geschehnisse auf Lemnos selbst: Odysseus, der um Philoktets Groll gegen ihn weiß, kann Neoptolemos davon überzeugen, mit einer List das Vertrauen des Einsiedlers zu gewinnen, um so in den Besitz des Bogens zu kommen und die Rückführung nach Troia vorzube‐

1 2

Vgl. R OISMAN (2014). „Sophocles: Philoctetes (Φιλοκτήτης).“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy III, hrsg. v. R OISMAN (2014), Malden (MA), S. 1309 – 1316, S. 1309. Die Datierung stützt sich dabei auf die Angaben der Hypothesis (Text bei P EARSON (1924)). Die genaue Forderung des Orakels ist nicht auszumachen, da Sophokles auf eine un‐ abhängige Wiedergabe des Spruchs verzichtet. Dem Problem widmet sich V ISSER (1998). Untersuchungen zum Sophokleischen Philoktet: Das auslösende Ereignis in der Stück‐ gestaltung (Diss.), Stuttgart und Leipzig, ausführlich, vgl. S. 1. Eine im Ganzen über‐ zeugende Lösung des Problems skizziert bereits S PIRA (1960) in seinem „Exkurs zum Helenosorakel“ S. 31 f.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

reiten. Trotz seiner moralischen Vorbehalte willigt Neoptolemos ein und führt Odysseusʼ Plan zunächst zielstrebig aus, bis ein akuter Krankheitsausbruch bei Philoktet sein Mitleid erregt und er sich schließlich in offener Konfrontation mit Odysseus dazu durchringt, den zwischenzeitlich an sich genommenen Bogen an Philoktet zurückzugeben und ihm die Fahrt in die Heimat in Aussicht zu stellen. Erst der Auftritt des Herakles als eines deus ex machina kann Philoktet kurz vor der in Angriff genommenen Abfahrt davon überzeugen, sich dem Willen der Heeresführung zu beugen und mit Neoptolemos nach Troia zu segeln. Mit dem Auszug des Personals in Richtung Kriegsschauplatz endet die Tragödie. Das vorliegende Drama ist, wie noch gezeigt werden wird, gerade in formaler Hinsicht bemerkenswert:3 Der im Rahmen der uns überlieferten Tragödien un‐ seres Dichters einmalige Einsatz des deus ex machina,4 die fast ausschließliche Dialogisierung chorischer Partien und die besonderen Implikationen, die die von Odysseus erdachte Intrige sowie ihr Scheitern für den Ablauf des Stücks mit sich bringen, werden dabei im Folgenden besonders zu untersuchen sein. Eine Ent‐ scheidung unseres Dichters hebt sein Philoktet-Drama gegenüber den Bearbei‐ tungen desselben Stoffs durch die beiden anderen Tragiker5 heraus: Sophokles lässt Lemnos unbewohnt sein, sodass Philoktet als Einsiedler sein Leben fristet.6 Den Chor, der so nicht aus Einwohnern der Insel bestehen kann, bilden, wie bereits erwähnt, die Schiffsleute des Neoptolemos, die zu ihrem Herrn in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis stehen, gegenüber Philoktet aller‐ dings eine je eigene Haltung an den Tag legen. Dass ihnen dabei einzig in der Mitte der Tragödie eine rein chorische Reflexion in Form eines Stasimons zu‐ kommt, ist ein besonders eigenwilliges Kompositionsmoment, dessen drama‐ turgische Implikationen zu beleuchten sein werden. Zu den bereits erwähnten, genuin mythologischen Personen – d. h. solchen, die namentlich aus dem troianischen Sagenkreis bekannt sind – tritt des Wei‐

3 4

5 6

Vgl. T APLIN (1978). Greek Tragedy in Action, London, S. 153: „Although he was very old, possibly over 90, when he composed Philoctetes, Sophocles is here especially bold and novel in his structural techniques“. Eine überzeugende, weil aus der Analyse der inneren Struktur der Tragödie gewonnene Deutung des deus ex machina als einer vom Dichter durch Ethopoiie dramentechnisch aus dem Stückganzen entwickelten „rettende[n] Epiphanie in einer menschlichen Grenzsituation“ (S. 32) sowie eine Verortung des dramaturgischen Kunstgriffes „im dichterischen Werk des Sophokles“ gibt S PIRA (1960) S. 27 – 30 sowie S. 32. Vgl. dazu die maßgebliche Arbeit von M ÜLLER (C. W.) (1997). Philoktet: Beiträge zur Wiedergewinnung einer Tragödie des Euripides aus der Geschichte ihrer Rezeption, Stuttgart und Leipzig. Dazu vgl. die Ausführungen zum Prolog weiter unten.

1. Philoktet

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teren ein Späher auf, dem als vermeintlichem Kaufmann in der durch Odysseus lancierten Intrige besondere Bedeutung zukommt.7 Interpretation Prolog (v. 1 – 134)

Ausgangspunkt der Handlung ist die Ankunft von Odysseus und Neoptolemos auf der Insel Lemnos, die allein von Philoktet bewohnt wird. Odysseus infor‐ miert in einem Monolog (v. 1 – 25) seinen Begleiter – und damit auch das Pub‐ likum – über die wesentlichen Gegebenheiten, indem er den Ort der Handlung, die Vorgeschichte und die wissenswerten Umstände über die Zielperson Phi‐ loktet kurz thematisiert. Mit dem Auftrag, die Wohnhöhle des Gesuchten aus‐ findig zu machen, wendet er sich schließlich direkt an Neoptolemos (v. 16 f.). Damit verbunden ist eine genauere Beschreibung der Lokalität, wie sie das Büh‐ nenbild angedeutet haben wird. Die Höhle ist bald ausgemacht; die im folgenden kurzen Wechselgespräch (v. 26 ff.) ausgetauschten Informationen machen deut‐ lich: Dies ist ohne Zweifel die Wohnstätte Philoktets, der sie nur kurz verlassen zu haben scheint und sich wohl noch in unmittelbarer Nähe aufhält (v. 40 ff.). Odysseus geht daraufhin dazu über, die eigentliche Mission sowie die anzu‐ wendende Methode darzulegen:8 Auch wenn es für Neoptolemos eine schwie‐ rige, seiner Natur widerstrebende Aufgabe sei, müsse er die Seele des Philoktet

7

8

Der Philoktet ist die einzige uns erhaltene griechische Tragödie mit rein männlicher Besetzung (vgl. H ALL (1997) S. 105. Das „Fehlen“ einer Frau im Personenspektrum lässt sich meines Erachtens schlichtweg aus dem behandelten Mythos und der Sophokles eigenen Gestaltungsabsicht erklären: Zum einen ist es im Rahmen der Aussendung einer Delegation des griechischen Heeres nach Lemnos nicht einsichtig, welche Frau aus welchen Gründen hier auftreten sollte. Da Sophokles des Weiteren die Insel bis auf den Haupthelden unbewohnt sein lässt, kann keine Frau innerhalb des Stücks auftreten. Einzig die Erscheinung einer weiblichen Gottheit bliebe dann als Möglichkeit übrig (vgl. Athenes Rolle im Aias); Sophokles allerdings entscheidet sich gegen diese Option, schon allein weil mit Herakles bereits eine quasi-göttliche Macht auftritt. Ob sich in diesen bewussten Entscheidungen hinsichtlich der Darbietung des Mythos von Seiten des Dichters ein genuin soziokulturelles Moment verbirgt, muss also bezweifelt werden. W EBSTER (1970). Sophocles Philoctetes, Cambridge erkennt ganz zu Recht: „The pro‐ logue has two sections: 1 – 49, setting the scene, 50 – 134, making the plan“ S. 66. Die angedeutete Parallele zum Prolog der Elektra ist dagegen nur teilweise von Bedeutung: Zwar ist die grundlegende Aufteilung ähnlich, die formale Gestaltung allerdings (zwei ausführliche Monologe mit angeschlossenem kurzen Zwiegespräch) sowie die perso‐ nelle Konstellation (Elektra als Protagonistin bricht mit ihrem Schrei geradezu in das Bühnengeschehen ein, während sie im Prolog selbst nicht thematisiert wurde) unter‐ scheiden sich vom vorliegenden Philoktet gerade hinsichtlich der dramaturgischen Wirkung allerdings wesentlich.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

geradezu mit Worten täuschen (v. 54 f.), um ihn so zur Rückkehr ins Heerlager vor Troia zu bewegen. Neoptolemos solle angeben, er sei auf dem Rückweg vom Kriegsschauplatz, trage großen Groll gegen die Griechen, die die Waffen seines Vaters nicht ihm, sondern Odysseus übergeben hätten. Bei diesem Trugszenario, so Odysseus, könne er selbst auf Grund seiner Vergangenheit nichts ausrichten, Neoptolemos müsse es gelingen, die unbesiegbaren Waffen zu rauben (drastisch formuliert in der Wendung κλοπεὺς γενήσῃ v. 77 f.). Auch wenn ihm diese Tat zunächst widerstreben sollte, so müsse er sie dennoch wagen; etwaige Bedenken hätten hier keinen Platz (v. 79 – 85). Es folgt eine Auseinandersetzung zwischen den beiden Prologsprechern, in der die von Odysseus intendierte Methode sowie deren moralische Einordnung diskutiert werden. Neoptolemos sei, so bekundet er, zwar bereit, Philoktet die Waffen unter Gewalt (πρὸς βίαν) zu entwenden, nicht aber durch List und Be‐ trug. Odysseus argumentiert dagegen: Gewaltanwendung habe selbst gegen den invaliden Philoktet keine Aussicht auf Erfolg, und außerdem könne auch Neo‐ ptolemos, den ein Orakelspruch als Bezwinger Troias verheißen habe, ohne die in Frage stehenden Waffen sein Ziel nicht erreichen9. Achills Sohn ist schließlich überzeugt: Mit der Aussicht, bei Erfolg seines Plans sowohl „klug als auch gut“ genannt zu werden (σοφὸς κἀγαθός v. 119),10 gibt er alle moralischen Bedenken auf (πᾶσαν αἰσχύνην ἀφείς v. 120). Odysseus instruiert ihn abschließend (v. 123 – 132): Während Neoptolemos hierbleiben und Philoktet gegenübertreten solle, werde er selbst die Szenerie verlassen und, wenn die Zeit allzu lang zu werden drohe, den mitgebrachten Späher als Kaufmann verkleidet hinzuschi‐ cken. Mit einem Gebet um den Beistand von Hermes, Nike und Athene (v. 133 f.) begibt sich Odysseus zu seinem Schiff und überlässt Neoptolemos die Situation. Mit Vers 135 beginnt daraufhin die Parodos des Chors. Folgendes soll zusammengefasst werden. Der vorliegende Prolog ist in dra‐ maturgischer Hinsicht von herausragender Meisterschaft: Mit der Ankunft auf Lemnos beginnt das Drama mit dem natürlichen Anfangspunkt der darzustel‐ lenden Handlung; die Einführung in Ort, Zeit und Personal geschieht dabei ganz aus der dramatischen Fiktion heraus und bildet den Auftakt zur sich entspinn‐ enden Bühnenhandlung. Gerade die Suche und Beschreibung der Wohnstätte des Philoktet ist von wirkungsvoller Drastik und sinnlicher Erfahrbarkeit; indem das Gespräch der beiden Akteure dabei den Schauplatz konkret aus‐ 9

10

Auf die vielfältigen Probleme, die sich bei der Betrachtung dieses Orakelmotivs und seiner dramatischen Realisierung ergeben, kann und soll hier nicht im Einzelnen ein‐ gegangen werden. Ich verweise dazu exemplarisch nur auf die Studie von V ISSER (1998), im Besonderen die Seiten 1 – 5. Zu dieser bekannten Junktur und ihrer konkreten Ausdeutung vgl. S CHEIN (2013) S. 143.

1. Philoktet

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leuchtet, bindet es die Handlung ganz intensiv an den Bühnenraum. Anders gesagt: Der in besonderer Weise gestaltete Bühnenraum ist selbst entschei‐ dendes Moment der Handlung. Der Hauptheld ist dabei zwar als Person nicht anwesend, aber dennoch durch die Beschreibung seines Lebensumfelds, der von ihm genutzten Werkzeuge und Einrichtungen sowie auf Grund der Annahme, er befände sich ganz in der Nähe, vor dem geistigen Auge der Akteure und des Publikums in hohem Maße präsent. Hier bereits wird der Auftritt des Protagonisten vorbereitet und rückt in den Erwartungshorizont der Rezipienten. Mit den Instruktionen des Odysseus ist weiterhin der Ablauf des Stückes grob gezeichnet: Neben Philoktets Erscheinen ahnen Zuschauer (und Leser) ebenso mögliche Trugreden des Neoptolemos, den mit einiger Sicherheit erfolgenden Auftritt des Spähers und – als Kulminationspunkt – eine mögliche Konfronta‐ tion Philoktet-Odysseus bereits voraus. Zugleich mit diesen dramaturgischen Implikationen zeichnet Sophokles im vorliegenden Prolog die Charaktere der beiden Akteure trennscharf und ein‐ fühlsam: Indem sich dabei über die moralische Bewertung der anstehenden Handlungen eine belebte Diskussion entwickelt (vgl. die Stichomythie der Verse 100 – 122), stellt schon der Prolog eine lebendige, konfrontativ-dialogisierende Szene dar; der Einstieg in das Drama präsentiert so nicht bereits fertige Ergeb‐ nisse in Form unwiderruflich feststehender Entschlüsse, sondern ist selbst schon Teil der dramatischen Problematisierung, der Auseinandersetzung mit einem der Handlung und der Personenkonstellation innewohnenden Sachverhalt. Der Kunstgriff unseres Dichters, Philoktet auf einer unbewohnten Insel hausen zu lassen, wurde oben bereits erwähnt. Aischylos und Euripides folgten dagegen der Tradition11 und brachten in ihren Bearbeitungen die Einwohner von Lemnos gar als Chor auf die Bühne.12 Sophokles hat es dabei nicht versäumt, schon ganz zu Beginn der Tragödie auf diesen Umstand hinzuweisen (Odysseusʼ Feststellung über Lemnos: βροτοῖς ἄστιπτος οὐδʼ οἰκουμένη v. 2) und so die mögliche Erwartungshaltung des Publikums in besonderer Weise zu brechen. Nach dem innerdramatisch motivierten Abtritt des Odysseus, der in seinen In‐

11 12

W EBSTER (1970): „Both Aeschylus and Euripides had accepted the tradition of an inha‐ bited Lemnos“ S. 66. Vgl. auch die folgende Anm. Vgl. dazu die ohnehin für den Vergleich der drei Tragödien grundlegende 52. Rede des Dion von Prusa (C ROSBY (1956). Dio Chrysostom with an English translation IV, Cam‐ bridge (MA), besonders Abschnitte sieben und fünfzehn, S. 342 und 350). Verwiesen sei auf den gewinnbringenden Vergleich des sophokleischen mit dem rekonstruierten eu‐ ripideischen Drama bei M ÜLLER (1997).

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I. Chöre wehrfähiger Männer

struktionen den intendierten Gang der Handlung bereits insinuiert hatte,13 kann daher nicht der Auftritt der lemnischen Bevölkerung folgen. Die auf der Bühne präsente Personenkonstellation könnte sich daher einzig im Auftritt des Titel‐ helden selbst wesentlich öffnen, d. h. einen wirklichen Handlungsfortschritt in‐ szenieren. Die ebenso der dramatischen Fiktion geschuldete andauernde Büh‐ nenpräsenz des Neoptolemos macht darüber hinaus bereits vor dem Eintreffen des Chors deutlich, dass mit der Parodosszenerie nichts unmittelbar Neues etab‐ liert werden kann. Neoptolemos bildet in diesem Sinn geradezu die dramatische Brücke, die die beiden Formteile Prolog und Parodos verbindet und so in einen durchgängigen Handlungsfluss einordnet.14 Parodos bzw. Wechselgesang (v. 135 – 218)

Die Auftrittsszenerie des Chors15 gestaltet Sophokles an unserer Stelle als um‐ fangreiche lyrische Partie, die die Formteile Parodos und Kommos miteinander verknüpft und damit einen wirkungsvollen dramatischen Akzent setzt. Machen wir uns zunächst die formale Struktur des Ganzen klar, bevor wir die Passage im Einzelnen durchgehen.16 Das Wechselgespräch entwickelt sich zunächst in der Abfolge zweier Stro‐ phen des Chors (v. 135 – 143 sowie 150 – 185), auf die Neoptolemos in anapästi‐ schen Versen antwortet (v. 144 – 149 sowie 159 – 168, unterbrochen durch den 13 14

15

16

M ÜLLER (1997) spricht S. 222 in dieser Beziehung von Odysseusʼ „Rolle des Regisseurs, der die Fäden des Intrigenspiels vermeintlich souverän in der Hand hält“. Ganz anders der gewollte Bruch zwischen Prologszene und Parodos als „Neubeginn“ der Bühnenhandlung im Aias oder der Antigone, in abgeschwächter Form in den Tra‐ chinierinnen. Ähnlich wie an unserer Stelle des Philoktet, allerdings nicht in letzter Konsequenz (keine „Dauerpräsenz“ eines wirklichen Prologsprechers) im Oidipus Ty‐ rannos und der Elektra. Der Oidipus auf Kolonos bietet in dieser Hinsicht die ähnlichste formale Gestaltung, wobei dort allerdings der Titelheld selbst samt einem weiteren Akteur (Antigone) die dramatische Brücke darstellt. So konstatiert auch B URTON (1980) S. 228: „in the earlier ones [d. h. den früheren Stücken] there is a break after the prologue, so that the parodos constitutes a fresh start“, sowie speziell zum Philoktet: „both pro‐ logue and parodos are essential parts of the action“. Die darin enthaltene Kontrastierung früher und später Dramen sowie die implizit angedeutete „Entwicklung“ hin zu einer durchgehenden Handlung ist allerdings problematisch. Gerade S CHMIDT (1973). So‐ phokles Philoktet: Eine Strukturanalyse, Heidelberg, S. 55 lässt es bei der Analyse der vorliegenden Szenerie nicht unversucht, „exemplarisch einige Merkmale für die Ent‐ wicklung der dramatischen Formen im sophokleischen Werk aufzuzeigen“. Vgl. dazu den Abschnitt V. 3.1 der Einleitung. Zur Frage, wann genau der Chor auftritt und wie sich dementsprechend sein Vorwissen gestaltet, vgl. die Diskussion bei V ISSER (1998) S. 113 f. und ihr Fazit S. 114: „Sophokles hat das Vorwissen des Chores so gestaltet, daß man seine Genese nicht im vollen Um‐ fang rekonstruieren kann“. Vgl. zum Folgenden W EBSTER s (1970) Analyse S. 79.

1. Philoktet

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Chor in Vers 161). Die folgenden zwei Strophenpaare des Chors (v. 189 – 190) werden durch Neoptolemos erneut in Anapästen kommentiert (v. 191 – 200), worauf sich wiederum ein Strophenpaar des Chors anschließt, das durch zwei kurze Zwischenfragen (v. 201 und 210) unterbrochen wird. Die folgende Tabelle soll dies verdeutlichen: Sprecher

Anzahl der Verse

Metrik17

strophische Einordnung

Chor

9

„lyrisch“

Strophe A

Neoptolemos

6

anapästisch

Chor

9

„lyrisch“

Neoptolemos + Chor (!)

9 1

anapästisch anapästisch

Chor

11

„lyrisch“

Strophe B

Chor

11

„lyrisch“

Gegenstrophe Bʼ

Neoptolemos

10

anapästisch

Chor + Frage durch Neopt.

8

„lyrisch“

Strophe C

Chor + Frage durch Neopt.

8

„lyrisch“

Gegenstrophe Cʼ

Gegenstrophe Aʼ

Betrachten wir zunächst kurz diesen formalen Befund: Sophokles komponiert an unserer Stelle einen besonders vielfältigen Wechselgesang, der neben (lyri‐ scher) Rede und (anapästischer) Gegenrede dem Chor Raum für eine ausführ‐ liche und ununterbrochene lyrische Ausleuchtung – geradezu eine Kurzode v. 169 – 190 – lässt und schließlich in ein bewegtes Vorausahnen des bevorste‐ henden Auftritts Philoktets mündet. Die Auftrittsszene des Chors zeichnet sich so – neben ihrer Länge von über 80 Versen – durch die Verbindung unterschied‐ licher Formteile aus, mit der sich, wie der inhaltliche Durchgang zeigen wird, eine spezielle, gegliederte dramaturgische Wirkabsicht verbindet. Die Passage soll im Detail nachvollzogen werden. Der Chor wendet sich mit seiner ersten Äußerung direkt an Neoptolemos, dem er als seinem „Herrn“ 17

Die Angabe der Spalte „Metrik“ dient nur zur Unterscheidung von genuin lyrischen sowie rezitativisch anapästischen Versmaßen und verweist daher zur genaueren Klä‐ rung auf die Analysen der Kommentare (z. B. W EBSTER (1970) S. 79, 82, 84).

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I. Chöre wehrfähiger Männer

(δέσποτʼ) mit besonderer Verehrung gegenübersteht: Was, so fragen die Schiffs‐ leute, müssen sie in der aktuellen Situation, d. h. als Fremde in der Fremde, ver‐ bergen, was dürfen sie gegenüber dem „argwöhnischen Mann“ (ἄνδρʼ ὑπόπταν) aussprechen (στέγειν ἢ λέγειν)? Neoptolemos soll ihnen dies darlegen, da er sich durch die spezifische Fähigkeit (τέχνα) eines Regenten in besonderer Weise auszeichne.18 Schließlich sei auf Neoptolemos, wenn auch jung (vgl. die Anrede ὦ τέκνον19), die gesamte altehrwürdige Macht (seines Vaters und von dessen Vorfahren) gekommen. Ein zweiter Imperativ schließt die Strophe ab und fordert den Angesprochenen erneut auf, darzulegen, wie der Chor ihm zur Seite stehen soll (ὑπουργεῖν). Mit besonderen sprachlichen Mitteln gestaltet Sophokles einige zentrale Mo‐ mente der Aussage. So prägt die Strophe ganz der emotional fragende Duktus des Chors: Das zu Beginn verdoppelte τί wird im folgenden Vers (136) wieder aufgegriffen und leitet zudem den letzten Vers (143) vor Neoptolemosʼ Antwort ein. Damit in Verbindung stehen die schon erwähnten zwei Imperative φράζε und ἔννεπε, einmal nach der durch τί eingeleiteten Frage, einmal davor. Das klangliche Spiel mit ξένᾳ ξένον spiegelt sich kurz danach in τέχνα τέχνας, was die beiden Pole des Reflexionshorizonts deutlich hervortreten lässt: auf der einen Seite die fremde und unbekannte Situation, auf der anderen die überlegene Qualität des Neoptolemos. Der Angesprochene richtet den Blick des Chors in seiner ersten anapästischen Partie zunächst auf die Wohnstätte Philoktets (δέρκου θαρσῶν) und erbittet sich daraufhin vom Chor für den Fall von dessen Auftreten eine der Situation ange‐ messene Unterstützung (τὸ παρὸν θεραπεύειν) unter seiner Anleitung (πρὸς ἐμὴν χεῖρα). Der Chor unterstreicht in seiner Antwort (v. 150 ff.) zunächst die enge Bin‐ dung zwischen ihm selbst und Neoptolemos: Gerade auf den Vorteil20 ihres Herrn bedacht zu sein, ist für die Schiffsleute schon lange (πάλαι) Gegenstand ihrer Sorge. Die Doppelung μέλον μέλημα bildet dabei (zusammen mit dem nachklappenden μοι) die sprachlich durch Alliteration und etymologisches Spiel 18 19 20

Eine syntaktische Klärung der Passage und der passivischen Form ἀνάσσεται bietet K AMERBEEK (1980). The Plays of Sophocles, Commentaries Part VI The Philoctetes, Leiden, S. 44. Dazu W EBSTER (1970) S. 80: „The sailors were brought to Troy by Achilles so that Ne‐ optolemos is at least ten years younger than they are“. Zur Übersetzung „Vorteil“ vgl. J EBB (2004). Sophocles: Plays. Philoctetes, hrsg. v. E AS‐ TERLING , Cambridge (main text as reprint of J EBB 1898), ad locum: „‘for thine occasion’ i.e., ‘for the moment at which a thing can be done for thine advantage’ […] And how naturally ὁ σὸς καιρός might approximate (esp. in lyric poetry) to the sense of τὸ σὸν κέρδος, is suggested by such phrases as that in Her[odot]. I. 206 […].

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herausgehobene Verbalisierung des innigen Vertrauensverhältnisses zwischen dem Chor und seinem jugendlichen Kapitän.21 Der Blick der Choreuten wendet sich im Anschluss erneut in die dramatische Gegenwart: Jetzt (νῦν δέ in Ab‐ grenzung von bzw. Fortführung des πάλαι v. 150) solle Neoptolemos sie mit weiteren Informationen versorgen und ausführen, welche Behausung Philoktet genau bewohnt. Dies zu wissen sei sicherlich nicht unvorteilhaft (ἀποκαίριον), um nicht vom plötzlich heranstürmenden (προσπεσών) Einsiedler überrascht zu werden. Den Schluss der Gegenstrophe bildet die Aneinanderreihung von drei Fragen nach den genauen Umständen der Wohn- und Aufenthaltssituation Philoktets: „Um welchen Ort geht es genau, was ist sein genauer Wohnsitz, welchen Pfad benutzt er, d. h. wo ist er im Moment, in seiner Höhle oder außer‐ halb?“ Die referierte Passage spiegelt in gewisser Weise die erste Strophe wider und entwickelt sie auf Grund der bereits gegebenen Antwort weiter. Erneut ist die Äußerung des Chors, nach der Versicherung der Sorge um Neoptolemos, vom fragenden Duktus geprägt: Wurden bei der ersten Äußerung des Chors Instruk‐ tionen über das weitere Vorgehen erbeten, so steht hier nun die konkrete In‐ formation über die Zielperson und ihren Aufenthaltsort im Vordergrund. Wieder sind es vier durch eine Form von τίς eingeleitete Fragen, die sich um einen die Beantwortung erbittenden Imperativ gruppieren (λέγʼ v. 153). Nachdem bereits Neoptolemos in Vers 146 f. Philoktet zum Subjekt einer er‐ wartbaren Handlung gemacht hat, tritt der Protagonist auch in der Gegen‐ strophe immer mehr in den Fokus der Betrachtung: War er zunächst nur reines Gegenüber (πρὸς ἄνδρʼ ὑπόπταν v. 136), so richtet sich das Interesse des Chors nun konkret auf sein Tun und seine Lebenswirklichkeit; Philoktet erscheint demgemäß als Subjekt der Fragen nach Wohn- und Aufenthaltsort (ναίει v. 154, ἔχει v. 154, 157), wobei sein Auftreten als konkrete Aussicht in die Reflexion einbezogen wird (προσπεσών v. 156). Neoptolemos verweist zunächst wieder auf die „doppeltürige“ Behausung und wird daraufhin sogleich vom Chor unterbrochen, der sich nach dem aktu‐ ellen Aufenthaltsort Philoktets erkundigt (v. 161). Die Apostrophierung des Protagonisten in diesem Vers als ὁ τλήμων ist von besonderer Bedeutung: Zum ersten Mal innerhalb der lyrischen Partie wird die Figur des Haupthelden mit einem Adjektiv bedacht, das Mitleid und Anteilnahme von Seiten des Chors erkennen lässt. Der die Symmetrie der Sprecherverteilung (siehe Tabelle oben) brechende Vers enthält so eine Andeutung des im Folgenden bestimmenden emotionalen Blicks auf den Protagonisten; seine besondere Stellung korrespon‐

21

J EBB (2004): „with a certain emphasis“ S. 34.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

diert mit der perspektivischen Verschiebung, die sich in den folgenden beiden Strophen des Chors (v. 169 – 190) zu einem ausgreifenden Panorama weiten wird. Die Frage des Chors beantwortet Neoptolemos im Anschluss: Philoktet be‐ finde sich, so viel sei ihm klar, in der Nähe auf Nahrungssuche; immerhin, so sage man (λόγος ἐστί), sei es die grundlegende Art und Weise seines Lebens,22 in mühseliger Weise mit seinen Pfeilen auf die Jagd zu gehen, wobei sich jedoch keine Linderung seiner Übel einstelle. Die wesentlichen Fakten der dramatischen Situation sind so an den Chor weitergegeben; die Information über die aktuelle Lage hat damit ein Ende ge‐ funden und ist, nach einer Bemerkung zum allgemeinen Zustand Philoktets, unversehens in die Imagination des von Schmerzen geplagten Jägers überge‐ gangen. Gerade die eindrucksvolle Junktur στυγερὸν στυγερῶς bzw. σμυγερὸν σμυγερῶς23 sowie der Hinweis auf die fehlende – und damit impliziert: er‐ sehnte – Heilung nehmen Abstand vom rein informierenden Sprachduktus und bieten der Ausgestaltung des konkreten Bildes den direkten Anknüpfungspunkt für die einsetzende Reflexion des Chors.24 So beginnt schließlich auch die zusammenhängende Passage chorischer Aus‐ leuchtung mit der betonten Bekundung des eigenen Mitgefühls (v. 169). Dabei rahmen das Prädikat οἰκτίρω „Mitleid fühlen“ und das herausgehobene ἔγωγʼ „ich für meinen Teil“ das Objekt νιν, was die emotionale Nähe zwischen dem Chor und dem Protagonisten geradezu greifbar werden lässt. Grund und Ge‐ genstand der Sympathie entfaltet das Folgende wortreich: Ohne je das vertraute Gesicht eines sorgenden Mitmenschen zu sehen, sei Philoktet zutiefst unglück‐ lich und immerzu allein (δύστανος, μόνος αἰεί v. 172) – eine differenzierende und ausgestaltende Fortführung des so bedeutenden ὁ τλήμων aus Vers 161. Die eigentliche Ursache dieses Leidens benennt der Chor erneut unter betonter Stellung der Prädikate νοσεῖ und ἀλύει: Philoktet leide an einer bösartigen Krankheit und sei außer sich bei jeder neuen Anwandlung seiner Not. Der af‐ fektvollen Frage in Vers 175, wie Philoktet dem nur standhalten könne (πῶς ποτε πῶς ἀντέχει), antwortet ein gedoppelter Anruf (v. 177 ff.) der Hände, d. h.

22 23

24

K AMERBEEK (1980) S. 48: „genus, modus“; W EBSTER (1970) S. 81: „the essential character of his life“. Die bei P EARSON (1924) und L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) in den Text aufgenommene und durch das Scholion zur Stelle motivierte Konjektur von Brunck ist umstritten. W EBSTER (1970): „Oxford text unnecessarily alters the MSS στυγερὸν στυγερῶς ‘wret‐ chedly’ to σμυγερὸν σμυγερῶς ‘painfully’: the scholiast’s note ἐπίπονος ‘laboriously’ would explain the former as well as the latter“ S. 81. K AMERBEEK (1980) führt S. 48 weiter an: „στυγερός can very well mean ‘wretched’ (Trach. 1016)“. B URTON (1980) S. 229: „action yields place to reflection“.

1. Philoktet

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der Macht und der Kunstgriffe, der Götter (παλάμαι θεῶν25) und der unglück‐ seligen Menschengeschlechter, deren Leben das Normalmaß übersteigt (μὴ μέτριος αἰών). Damit schließt die Strophe nach der konkreten Mitleidsäußerung gegenüber Philoktet mit der Frage nach seiner augenscheinlich überragenden Leidensfähigkeit und einer generellen Einordnung in die moralisch-theologi‐ schen Kategorien von göttlichem Einfluss und menschlicher Maßüberschrei‐ tung. Einen erneuten Blick auf den einsamen Helden wirft die Gegenstrophe. Unter der betonten Voranstellung des οὗτος – der Bezug ist jedem offensichtlich – entwickelt sie den Kontrast von Anspruch und Wirklichkeit, den die Figur Phi‐ loktets in den Augen des Chors darstellt: Er stehe zwar hinsichtlich seiner Ab‐ kunft einem Spross vornehmer Familien in nichts nach, friste aber dennoch sein Leben aller Dinge beraubt (πάντων ἄμμορος), einsam und getrennt von anderen Standesgenossen unter wilden Tieren. Von Schmerzen und Hunger geplagt leide er so an nicht zu beschwichtigenden schweren Sorgen (ἀνήκεστʼ ἀμερίμνητα βάρη). Dabei begleite sein jammervolles Klagen (πικραῖς οἰμωγαῖς) das Echo.26 Die ausführliche Äußerung des Chors hat damit ein Ende gefunden. Die beiden Strophen erweisen sich bei genauerer Untersuchung als in besonderer Weise motivisch und sprachlich aufeinander abgestimmt. Zentrales Thema der Partie ist die Einsamkeit des Haupthelden, was sich in den leicht variierten For‐ mulierungen μόνος αἰεί (v. 172) und μοῦνος ἀπʼ ἄλλων (v. 183) widerspiegelt. Während dabei die erste Strophe das Augenmerk auf die körperlichen Gebre‐ chen Philoktets, den Mangel an ihm entgegengebrachter Fürsorge und seine 25

26

Man kann mit gutem Recht den bei J EBB (2004) S. 37 und W EBSTER (1970) S. 82 f. gege‐ benen Gründen folgen und mit D AWE (1979). Sophoclis Tragoediae: II Trachiniae, An‐ tigone, Philoctetes, Oedipus Coloneus, Leipzig und L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) die Konjektur Lachmanns θεῶν für θνητῶν akzeptieren. Zweifelnd zeigt sich allerdings K AMERBEEK (1980) S. 49: „I prefer to retain the mss reading […], but not without misgiv‐ ings“. Neben metrischen Gründen (vgl. W EBSTER (1970)) spricht für die Änderung des über‐ lieferten Texts der Kontrast zwischen göttlicher Einwirkung und menschlichem Un‐ glück, wobei das schillernde Wort παλάμη ein Panorama unterschiedlicher Deutungen aufwirft („cunning, art, device, either in good or bad sense“ LSJ). Vom Standpunkt der logischen Abfolge ließe sich einwenden: Eine wirkliche Antwort auf die vorhergehende Frage kann Vers 177 nur sein, wenn darin ein Bezug auf Philoktet und seine Fähigkeit, Leid zu ertragen, gegeben ist. Mit dem textkritischen Problem verbunden ist damit die Entscheidung, den zweifachen Ausruf (oder zumindest seinen ersten Teil) als Antwort auf die aufgeworfene Frage verstehen zu wollen, oder beides – Frage und Ausruf – als affektvolle Äußerungen nebeneinander zu stellen. Letzteres scheint plausibler. Der Text ist hier wie auch schon in Vers 187 heftig umstritten. Hier soll sich keine erneute textkritische Untersuchung anschließen, ich folge L LOYD -J ONES /W ILSON (1990).

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I. Chöre wehrfähiger Männer

ungebrochene Duldsamkeit legt, verschiebt die Gegenstrophe den Fokus auf die soziale Dimension: Sie malt dabei ein eindrucksvolles Bild der „Gesellschaft“ des Helden aus „gefleckten“ und „zottigen“ Tieren, ruft die in der ersten Strophe ausgeführte Krankheit in ὀδύναις in Erinnerung und verweist mit Rückgriff auf Vers 162 ff. auf den Hunger als drängende Sorge Philoktets. Gezeichnet wird so das Bild eines in Sorgen und Kummer gefangenen, seiner ihm eigentlich zu‐ kommenden Stellung beraubten und in unwürdigen Verhältnissen lebenden Heros. Die auf ihn bezogenen Adjektive spiegeln diesen erbarmungswürdigen Zustand: δύστανος, μόνος, δύσμορος in der Strophe, ἄμμορος (was das voran‐ gegangene, den eigentlichen Anspruch markierende οὐδενὸς ὕστερος mit der Kraft der Realität geradezu aufhebt), οἰκτρός und μοῦνος in der Gegenstrophe. Dass dabei pro Strophe je drei Begriffe den aktuellen Zustand des Helden aus‐ leuchten und zudem in beiden Strophen durch ἔχων bzw. μὴ ἔχων dem Mangel an menschlicher Zuwendung ganz konkret die Fülle an Sorgen gegenüberge‐ stellt wird, ist ein Ausweis der besonders abgestimmten und feinen Kompositi‐ onsabsicht. Die Thematisierung des Echos am Ende der Gegenstrophe schließt dabei die Imagination der Lebensumstände Philoktets treffend ab: Indem mit diesem Phänomen die einzige Antwort auf die Klagen des Helden, sein alleiniger Gesprächspartner benannt wird, setzt es den Protagonisten in Beziehung zu seiner menschenleeren Umwelt und charakterisiert so seine Einsamkeit und Verlassenheit indirekt aus dem entworfenen Bild heraus. Im Vergleich zum Ende der Strophe (v. 177 ff.) lässt sich feststellen: Während dort die allgemeinere Per‐ spektive göttlichen und menschlichen Handelns bzw. Erleidens angeschnitten wurde, bieten die vorliegenden Verse 188 ff. ein zwar indirektes, allerdings ganz aus der konkreten Situation entnommenes Panorama, das den Fokus wieder auf die in Raum und Zeit lokalisierbare dramatische Situation zurückführt. Wie schon beim ersten Strophenpaar der lyrischen Szene (v. 135 – 143 sowie 150 – 158) begegnet also auch hier eine Abfolge sprachlich und motivisch aufei‐ nander abgestimmter Strophen, die einen inhaltlichen Fortschritt bzw. eine Si‐ tuationsdeutung unter zwei unterschiedlichen Aspekten bieten. Sophokles ver‐ steht es dabei, zwei dramaturgische und motivische Impulse für den Fortgang der Reflexion bzw. der Handlung zu setzen: Zum einen wird kurz eine allge‐ meine, theologisch umfassende Deutungsebene eingeblendet, was seinen Nach‐ hall in Neoptolemosʼ Ausdeutung v. 192 ff. finden wird. Zum anderen lässt sich in οἰμωγαῖς (v. 190) und der Echo-Thematik bereits ein Hinweis auf die während des dritten Strophenpaars vom Chor vernommenen Lautäußerungen Philoktets (αὐδὰ τρυσάνωρ v. 208 f.) lesen, die schließlich in seinem Auftritt nach Vers 219 / 220 gipfeln werden. Anders gesagt: Die emotionale, mitleidsvolle Partie dient nicht nur der Imagination des Protagonisten und der bildhaften Ausge‐

1. Philoktet

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staltung seiner Lebensumstände, sondern bringt die Reflexion selbst wesentlich voran und bereitet die folgenden Entwicklungen bzw. Ausführungen bereits vor. Kommen wir zur Antwort des Neoptolemos in den Versen 191 – 200. Wie be‐ reits erwähnt, deutet er die Situation Philoktets unter theologischen Vorzeichen: Nichts von alledem, so bekennt er, setze ihn in Erstaunen; es seien die göttlichen Leiden (θεῖα παθήματα) der grausamen Chryse, die Philoktet auszuhalten habe. Des Weiteren ist er überzeugt: Es sei schlicht nicht möglich (οὐκ ἔσθʼ), dass die aktuellen Leiden des Helden ohne göttliche Einflussnahme (οὐ θεῶν μελέτη) bezüglich des Untergangs Troias zu Stande gekommen seien. So werde der Held seine Waffen erst gegen die Stadt richten, wenn die richtige, d. h. gottbestimmte Zeit ihres Untergangs gekommen ist; bis dahin – so der implizite Schluss – sei es ihm durch das verhängte Leid unmöglich, in den göttlichen Plan einzugreifen. Damit hat der mittlere Abschnitt der Passage ein Ende gefunden. In Vers 201 wird der Chor mit dem Hinweis auf hinterszenische Geräusche das Eintreffen Philoktets in greifbare Nähe rücken und so die Reflexionen und Einordnungen zu Gunsten der Vorbereitung auf den bevorstehenden Auftritt des Protagonisten unterbrechen. Machen wir uns daher klar: Die anapästische Antwort des Neo‐ ptolemos leistet eine für das Drama wesentliche Konkretisierung der durch den Chor angedeuteten Motivik. Während in Vers 177 ff. allgemein das Unheil eines maßüberschreitenden Lebens – eventuell mit einem Hinweis auf den göttlichen Einfluss – thematisiert wurde, steht für Neoptolemos die Existenz eines hinter den Geschehnissen waltenden göttlichen Plans außer Frage. Mit der Einordnung der aktuellen Lage Philoktets in den Troia-Kontext ist die durch den Chor re‐ flektierte und imaginierte Situation im Handlungsgefüge verortet. Anders ge‐ sagt: Die Bildhaftigkeit und Emotionalität der Kurzode (v. 169 – 190) findet hier ihren Kontrapunkt in einer auf die großen Zusammenhänge der Handlung ge‐ richteten Ausdeutung, die Zuschauern und Lesern wesentliche, im Prolog be‐ reits entfaltete Motive wieder in Erinnerung ruft. Wenn an unserer Stelle aller‐ dings Neoptolemos seine Rolle bei der Einnahme Troias verschweigt (vgl. v. 114 ff.), so ist dies der ausschließlichen Fokussierung auf Philoktet und seine Rolle in der dramatischen Gegenwart sowie der intendierten Zukunft ge‐ schuldet. Dem so erreichten Ausblick in die Zukunft nach einer geglückten Mission auf Lemnos, d. h. der Zielvorstellung, die der Intervention von Odysseus und Neo‐ ptolemos zu Grunde liegt, ist reflektorisch nichts mehr hinzuzufügen. Mit Vers 201 erfährt die Szenerie eine besondere Dynamik. Der Chor unter‐ bricht seinen Herrn und gibt – nach einem vernehmbaren hinterszenischen Ge‐ räusch – auf die Frage „Was ist das?“ Antwort: Man hat das Getrappel Philoktets als eines gequälten Mannes vernommen, auch wenn es (noch) nicht genau zu

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lokalisieren ist (v. 204). Die Wirkung der ebenso deutlich gehörten Stimme (ἐτύμα φθογγά) bildet das verdoppelte βάλλει in Vers 205 wirkungsvoll ab; Phi‐ loktet, so die Konsequenz der Lautäußerungen, scheint unter Schmerzen seinen Pfad entlang zu kriechen (ἕρποντος). Auch der von Erschöpfung zeugende Laut (αὐδὰ τρυσάνωρ) ist dem Chorführer nicht verborgen geblieben, da er ganz vernehmlich zu hören war (v. 209). Beachtenswert ist die sprachlich fein abgewogene Komposition der Strophe: Drei klangliche Phänomene – κτύπος, φθογγά und αὐδά – bilden den Anlass der Äußerung und erfahren innerhalb der Strophe ihre Ausgestaltung. In jeweils paralleler Stellung ist der Nennung des Geräuschs zunächst das Prädikat vo‐ rangestellt – προὐφάνη, βάλλει βάλλει sowie (οὐδέ) λάθει; während dabei κτύπος durch kein kongruentes Adjektiv ausgestaltet wird, gesellt sich zu φθογγά die Angabe ἐτύμα, αὐδά wird durch die beiden Angaben βαρεῖα (vor‐ gestellt) und τρυσάνωρ (nachgestellt) eingerahmt. Schritt für Schritt wird so an Hand der Begriffe das Bild des kranken Philoktet entfaltet, bis schließlich mit seiner deutlich vernehmbaren Stimme (διάσημα) geradezu seine ganze Person vor dem geistigen Auge der Zuschauer präsent ist und sie seinen baldigen Auf‐ tritt erwarten. Die Gegenstrophe beginnt erneut mit einer Aufforderung des Chors an seinen Herrn, die dieser für eine kurze und affektvolle Frage unterbricht. So wird Ne‐ optolemos auf die neue Situation aufmerksam gemacht: Philoktet ist nicht au‐ ßerhalb seines Wohnsitzes (ἔξεδρος), sondern in der Höhle angelangt, d. h. dem eigentlichen Bühnengeschehen ganz nahe gekommen (ἔντοπος v. 211).27 Was folgt, ist eine weitere Beschreibung der wahrgenommenen Geräusche und Laut‐ äußerungen des Heros, diesmal weniger durch beigestellte Adjektive, sondern in bildhaften Vergleichen: So gleiche sein Rufen nicht dem Gesang der Syrinx, die ein Hirte bei sich trägt; vielmehr lasse er strauchelnd und durch Not ge‐ zwungen (πταίων ὑπʼ ἀνάγκας) einen weithallenden Klageschrei (τηλωπὸν ἰωάν) erschallen, als sähe er einen für ankommende Schiffe äußerst ungastlichen Ankerplatz.28 Noch einmal bekunden die Choreuten daraufhin die Gewalt und Lautstärke Philoktets (προβοᾷ τι δεινόν), bevor dieser in Vers 219 endgültig in den für Neoptolemos, den Chor und die Zuschauer sichtbaren Bereich tritt.

27 28

Zur möglichen Positionierung der Schauspieler und des Chors im Bereich der Bühne vgl. W EBSTER (1970) S. 84 f. Ich kann K AMERBEEK (1980) S. 54 nicht folgen, der im Bild vom ungastlichen Ankerplatz den Blick Philoktets auf das an der Küste der Insel liegende Schiff des Neoptolemos und seiner Mannschaft erkennt. Vielmehr wählen die Seeleute hier ein Bild aus ihrem all‐ täglichen Erfahrungsschatz.

1. Philoktet

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Machen wir uns kurz den Zusammenhang dieses letzten Abschnitts klar, bevor wir die Passage im Ganzen überblicken. Mit der Gegenstrophe ist Phi‐ loktets Präsenz auf ein Höchstmaß gesteigert: Während zunächst, d. h. in den Versen 201 – 209, noch die Lautäußerungen selbst Gegenstand der Betrachtung und zugleich grammatikalisches Subjekt waren, fokussiert sich an unserer Stelle die Betrachtung ganz auf den Protagonisten selbst. Er ist Handlungsträger, selbst das zu beschreibende Phänomen und daher Subjekt der ausgreifenden Periode v. 212 ff. Die dabei seinen Lauten zukommenden Beschreibungen werfen zu‐ nächst das kontrastreiche Bild eines wandernden Hirten auf, bilden dann die Realität ab und enden in einem Vergleich, der ganz aus der nautischen Perspek‐ tive der Schiffsleute gesprochen ist. Man mag in dieser Dreigliedrigkeit einen Widerhall der prominenten Dreigliederung in der vorangegangenen Strophe erkennen und den dort gegebenen Ausgestaltungen so die Vergleiche der Ge‐ genstrophe zur Seite stellen. Das „Echo“29 der Junkturen κατʼ ἀνάγκαν und ὑπʼ ἀνάγκας (v. 206 und 215) ist dabei ein wirkungsvolles Mittel, den zentralen Gedanken des Strophenpaars zum Ausdruck zu bringen. Wie schon im vorangegangenen Abschnitt das Motiv der Einsamkeit durch die Wiederholung des Begriffs μόνος bzw. μοῦνος (v. 172 und 183) als wesentliches Moment der Reflexion herausgearbeitet wurde, so verknüpft auch hier das Echo die Zusammengehörigkeit des Strophenpaars und stellt mit Philoktets Not einen bedeutenden dramatischen Umstand dar. Wir sind unversehens dazu gekommen, das Verhältnis des letzten Strophen‐ paars zu den anderen Teilen der umfangreichen lyrischen Szene klarzustellen. Ohne Vollständigkeit anstreben zu wollen, müssen die wesentlichen und ins Auge stechenden Bezüge hier aufgeführt werden. Gerade mit dem ersten Stro‐ phenpaar der Passage (v. 135 – 168) steht der Schlussabschnitt in vielfältiger be‐ grifflich-motivischer Verbindung: Dem fragenden τίς τόπος (v. 157) steht zu‐ nächst das unbestimmte ἤ που τᾷδʼ ἢ τᾷδε τόπων (v. 204), schließlich das bestimmte ἔντοπος (v. 211) gegenüber. Das mit dieser letzten Angabe kontras‐ tierende οὐκ ἔξεδρος (v. 211) spiegelt zudem die Frage τίς ἕδρα, ebenfalls aus Vers 157, sowie die Bezeichnung ἔνεδρος (v. 153). Auch die Frage nach dem Weg des Helden (τίνʼ ἔχει στίβον v. 157) klingt in der lokal noch unscharfen Formu‐ lierung φθογγά του στίβον ἕρποντος v. 206 erneut an. Die schlichte Benennung des Helden als „Mann“ (ἀνήρ v. 212) ist eine Reminiszenz an die erste Apostro‐ phierung des Protagonisten als ἀνὴρ ὑποπτάς (v. 136). Während der Chor zudem in der ersten Gegenstrophe noch die Furcht äußerte, den herannahenden Phi‐

29

So die Formulierung von B URTON (1980) S. 230, der es leider versäumt, darin eine Pa‐ rallele zum Zentralbegriff des zweiten Strophenpaars zu sehen.

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loktet im Ernstfall nicht wahrzunehmen (μή με λάθῃ v. 156), ist der nun an das Ohr der Choreuten dringende Ruf des Gequälten untrüglich: οὐδέ με λάθει (v. 207 f.). Es ist nach dieser Aufzählung offensichtlich: Die beiden Strophenpaare sind absichtsvoll in der Form von Frage und Antwort aufeinander hin komponiert. Die Sprechersituation ist dabei annähernd gespiegelt: Während zunächst Neo‐ ptolemos den Chor mit den nötigen Informationen versorgte, ist es am Ende der Partie am jugendlichen Kapitän, sich selbst über die Vorgänge ins Bild setzen zu lassen. Die virulenten Fragen vom Beginn der Partie werden so beantwortet. Aber auch das inmitten dieser motivisch-begrifflichen Klammer positionierte eigentliche Lied, d. h. das zweite Strophenpaar v. 169 – 190, klingt in einigen For‐ mulierungen der Schlusspartie wieder an: Auf die strukturelle Ähnlichkeit mit Blick auf die Betonung eines Zentralbegriffs ist bereits hingewiesen worden; augenfällig sind weiterhin die Spiegelung von τηλεφανής (v. 189) in τηλωπόν (v. 216), die erneute Verwendung des Partizips ἔχων (v. 213, vgl. v. 171 und 187) sowie die möglicherweise bewusste Anspielung auf die Tierthematik aus Vers 184 im Bild des Hirten v. 214 f. Diese Wiederaufnahmen und Spiegelungen er‐ schöpfen sich dabei nicht in reiner Wiederholung oder Ausmalung bereits be‐ handelter Sachverhalte, sondern sind auf Grund ihrer dramatischen Brisanz wesentlich dazu geeignet, die eigentliche Handlung erneut anzustoßen und fortzuführen. Die gesamte Auftrittsszenerie des Chors kann nun überblickt werden. Kurz lässt sich zusammenfassen: Die im ersten Strophenpaar ausgetauschten Infor‐ mationen setzt der Chor im mittleren Abschnitt der Passage in ein vitales Bild vom Protagonisten um und bereitet damit zugleich dessen Auftritt vor, den das dritte Strophenpaar als affektvolle Liminalszene in greifbare Nähe rückt. Es bietet sich an, die Passage in die drei Abschnitte Information und Erkundung, Imagination und Ausdeutung sowie Auftrittsvorbereitung zu gliedern. Wenn B URTON30 und P AULSEN31 darin das strukturelle „Schema A-B-A“32 erkennen, so treffen sie sicherlich den richtigen Sachverhalt. Gerade die oben angeführten vielfältigen Bezüge zwischen dem ersten und dem dritten Strophenpaar spre‐ chen in dieser Hinsicht für sich. Allerdings läuft die gewählte Formulierung Gefahr, die komplexe Struktur der Partie zu vereinfachen. Statt eines simplen dacapo – um, der Sache ganz und gar angemessen, mit Begriffen der Musik zu reden – bietet sich an, etwas differenzierter von einer Abfolge Exposition – 30 31 32

B URTON (1980) S. 229. P AULSEN (1989) S. 78 f., ähnlich auch S CHMIDT (1973) S. 54 f. P AULSEN (1989), vgl. B URTON (1980) S.  229: „the same circular or ABA construction in the parodos“.

1. Philoktet

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Durchführung – Reprise zu sprechen und so das Verhältnis der einzelnen Teile zueinander genauer zu fassen.33 Grundthema und Ausgangspunkt der gesamten Partie ist dabei mit Philoktet der Protagonist selbst: Sein elendes Leben auf der sonst menschenleeren Insel bildet in der bildhaften Ausgestaltung des zweiten Strophenpaars die Mitte des Abschnitts. Gerahmt wird diese dabei durch die Erkundung der konkreten Le‐ bensumstände des Helden durch den Chor sowie die schrittweise Konfrontation mit dem realen Philoktet, der schließlich auf der Bühne erscheinen wird. Die Szenerie entfaltet in dieser Hinsicht gerade gegen Ende eine enorme Sogwir‐ kung, die rückblickend geradezu das dramatische Crescendo der bisherigen Ab‐ folge von Prolog und Auftrittsszene des Chors darstellt. War Philoktet bereits seit den ersten Worten des Odysseus (v. 4 ff.) Gegenstand und Bezugspunkt von Handlung und Reflexion, so sind mit der lyrischen Partie der Protagonist selbst, das Verhältnis der Akteure einschließlich des Chors untereinander und die ge‐ samte dramatische Umwelt in höchstem Maß ausgeleuchtet. Schon angesprochen wurde der durchgehende Handlungsfluss im Übergang vom Prolog zur Auftrittsszene des Chors. Indem der Chor keine leere Bühne betritt, sondern sich zu Neoptolemos als einem der Prologsprecher gesellt und mit ihm in ein Gespräch eintritt, ist die gesamte folgende Szenerie als direkter Anschluss an die vorangegangene Unterredung etabliert: Kein Neubeginn, son‐ dern dramatische Kontinuität prägt das Bühnengeschehen.34 Dementsprechend sind bestimmende Motive und Strukturmomente des Prologs auch für die lyri‐ sche Passage von Bedeutung: Zunächst ist letztere wesentlich dialogisch, d. h. Austausch zwischen Mannschaft und Kapitän. Statt dem Zwiegespräch Odys‐ seus-Neoptolemos also eine rein reflektierende, monologische Partie folgen zu lassen, belebt Sophokles die bereits etablierte und mit dem Abtritt des Odysseus zu einem ersten Ende gekommene Dynamik des Dialogs neu.

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Vgl. dazu K ORZENIEWSKI (1962). „Zum Verhältnis von Wort und Metrum in Sophoklei‐ schen Chorliedern.“ in: Rheinisches Museum für Philologie 105 (1962), S. 142 – 152, der sich auf den Seiten 144 – 148 der Parodos des Philoktet widmet und gerade auch mit Blick auf die Metrik von einer „konzentrischen Struktur“ der lyrischen Partie (S. 147) spricht. Die von B URTON (1980) S. 229 und P AULSEN (1989) S. 78 f. aufgeführte Ähnlichkeit der vorliegenden Passage mit der Parodos der Elektra stößt spätestens hier an ihre Grenzen: Zwar mag die Dreiteilung beider Abschnitte ein übereinstimmendes Moment dar‐ stellen, hinsichtlich der dramaturgischen Wirkung allerdings unterscheiden sie sich maßgeblich. Während hier einer der Prologsprecher auf der Bühne verbleibt und zum direkten Gesprächspartner des Chors wird, unterbricht Elektra als Protagonistin durch ihren Schrei das Prologgespräch, etabliert sich und ihre eigene Anwesenheit auf der Bühne (vgl. den langen anapästischen Monolog v. 86 – 120) und tritt erst dann mit den aufgetretenen Frauen in ein Zwiegespräch.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

Die Erkundung des dramatischen Raums, d. h. der Bühne, sowie die Beschrei‐ bung der Höhle und der Lebensbedingungen Philoktets bilden zudem eine wei‐ tere Brücke zwischen Prolog und Parodos. Indem auch der Chor über einige wesentlichen Momente der Handlung informiert wird und sich selbst ein Bild von der Lage macht, wiederholt sich die strukturelle Ausgangssituation des Prologs. Wenn dabei die beiden dialogisch strukturierten Strophenpaare eine reflektierende und imaginierende Kurzode umrahmen, ist das Prologgespräch in einer anderen Personenkonstellation, also unter veränderten Vorzeichen, ge‐ spiegelt und – unter Einschaltung und Nutzbarmachung eines anderen Formele‐ ments – geradezu fortgeführt. Damit allerdings nicht genug. In entscheidender Hinsicht kontrastiert die Auftrittsszene des Chors mit dem Prolog und setzt sich in wesentlichen Ele‐ menten von ihm ab: Zum einen lenkt die lyrische Passage den Blick ganz und gar auf den Protagonisten und blendet dabei die moralische Diskussion sowie das Unbehagen des Neoptolemos angesichts der geplanten Intrige aus. Indem er seiner Mannschaft als „souveräner Führer in der Kopie des Od[ysseus]“35 gegenübertritt und zudem das ausgemalte Leid einzuordnen und zu deuten ver‐ steht (v. 191 ff.), ist die Problematik seines Vorhabens und der in Rede stehenden Täuschung ganz aus dem Blick geraten. Statt einer Problematisierung des wei‐ teren Vorgehens, wie es die einleitende Frage des Chors (v. 135 f.) vermuten ließ, entfaltet sich eine farbenreiche Imagination des Protagonisten, wobei zudem das Verhältnis zwischen den verschiedenen Akteuren (Neoptolemos, Chor, Phi‐ loktet) ausgeleuchtet wird. Damit Hand in Hand geht die zweite Verschiebung gegenüber dem Prolog: Während sich Odysseus und Neoptolemos in ihrer Unterredung vom Schicksal des Philoktet mehr oder minder unbeeindruckt zeigten, nimmt der emoti‐ onal-mitleidende Blick in der lyrischen Passage eine zentrale Rolle ein. Hatte also der Prolog im Wesentlichen den intendierten Fortgang der Handlung im Blick, reflektiert die Auftrittsszenerie des Chors ein bedeutendes Moment der Handlung in emotional-bildhafter Ausgestaltung. Die Auftrittsszene des Chors ist so von einer besonderen Spannung geprägt: Als Fortführung struktureller Momente des Prologs unter Verschiebung entschei‐ dender Vorzeichen reiht sie sich in die dramatische Kontinuität, vervollständigt dabei allerdings durch eine Perspektiv- und Akzentverschiebung das Bild vom

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S CHMIDT (1973) S. 55.

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Protagonisten und der gesamten dramatischen Ausgangssituation.36 Die weit‐ greifende Imagination des Protagonisten innerhalb seiner Umwelt bildet dabei den Auftakt zum Auftritt Philoktets und dem damit verbundenen Fortschreiten der Handlung. Zudem ist, wie sich später zeigen wird, mit der breit entfalteten Mitleidsthematik ein Grundmotiv der chorischen Reflexion an unserer Stelle prominent etabliert.37 Die ausführliche Passage nimmt damit eine besondere Gelenkfunktion zwi‐ schen dem Prolog und dem ersten Epeisodion ein. Gerade mit Blick auf die sich anschließende Szene lässt sich weiterhin feststellen, dass die Imagination der widrigen Lebensumstände des Haupthelden in dessen ausgreifendem Monolog (v. 254 – 316) in gewisser Weise beantwortet und gespiegelt wird.38 Insofern voll‐ zieht sich die Exposition des Heros, seiner Geschichte und seiner Situation in einem Dreischritt: Der Prolog hatte kurz sowohl den eigentlichen Akt der Aus‐ setzung durch Odysseus thematisiert sowie einen ersten Blick auf die Figur Phi‐ loktets geworfen. Die lyrische Passage, v. a. die Kurzode v. 169 – 190, war dem‐ gegenüber trotz ihres Mangels an konkreter Erfahrung von bildhafter Drastik und detaillierter Ausgestaltung geprägt, während Philoktets eigene Worte er‐ neut eine umfassende, d. h. seine Aussetzung, die Beschreibung der Insel sowie der momentanen Situation bietende Ausleuchtung aus der Perspektive des Be‐

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38

So auch S CHMIDT (1973) S. 55, der als Hauptfunktionen der Passage festhält: „Fortset‐ zung der Exposition“ und „Beginn der Intrige“. Gewinnbringend sind dabei seine Aus‐ führungen über die „Hauptfunktionen der Parodos bei Sophokles“. Auf die Funktion der Partie als Exposition der dramatischen „Rolle“ des Chors geht S CHMIDT (1973) S. 53 f. ein, der im Besonderen die „Treue und Ergebenheit“ der Matrosen ihrem Herrn gegenüber betont und darin ein besonderes Charaktermerkmal des „ein‐ fachen Mannes“ erblickt. Die thematischen (und teilweise begrifflichen) Bezüge sind klar: So ergeben sich als Überschneidungspunkte der beiden Partien die Motive der Krankheit (v. 173 νόσον ἀγρίαν und 265 f. ἀγρίᾳ νόσῳ sowie 313), der Hilflosigkeit (v. 170 ff. und 281) sowie des Hungers bzw. der Jagd und Nahrungssuche (v. 162 ff., 185 ἐν ὀδύναις ὁμοῦ λιμῷ τ’ und 312 f. ἐν λιμῷ τε καὶ κακοῖσι 287 ff.). Auf die kommentierenden Verse des Chors 317 f. und ihre Einordnung wird weiter unten eingegangen.

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troffenen darstellen werden.39 Die lyrische Passage ist so motivisch und thema‐ tisch geklammert.40 So vielgestaltig die Passage in formeller Hinsicht ist, so polyvalent erscheint sie mit Blick auf die dramaturgischen Implikationen. Zusammengefasst soll festgehalten werden: Sophokles versteht es, der Auftrittsszene des Chors als einer traditionell an Handlungsfortschritt armen Stelle innerhalb des dramati‐ schen Ablaufs dennoch besondere dramatische Brisanz und Dynamik zu ver‐ leihen.41 Die Rahmung der rein reflektierenden Partie (v. 169 – 190) durch die dialogisch gestalteten Strophenpaare verankert dabei die Imagination fest im Ablauf des Gesprächs und der Handlungsentwicklung. Mit der oben erläuterten motivisch-thematischen Klammerstellung ist gerade der reflektierend-imagi‐ native Teil auf dramatische Fernwirkung konzipiert und reiht sich als zweites, ausführliches und wesentlich emotionales Moment in die ausgreifende Schil‐ derung des Protagonisten. Mit der Gestaltung der Partie als einer umfangreichen Komposition von drei formal unterschiedenen Abschnitten setzt Sophokles des Weiteren gleich zu Beginn des Stücks einen wesentlichen Akzent, der den Auftritt des Protago‐ nisten umso wirkungsvoller in Szene setzt. Dass mit der Gesprächssituation Neoptolemos-Chor zudem eine typische und die weiteren chorischen Partien entscheidend prägende Konstellation etabliert ist, wird sich im Fortgang des Stückes zeigen.

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41

Eine inhaltliche Gliederung der Rhesis sowie eine strukturell-rhetorische Einordnung bietet ebenfalls S CHMIDT (1973) S. 73 ff. Es ist daher fraglich, inwieweit S CHMIDT (1973) S. 58 f. Recht hat, wenn er kontrastierend feststellt: Der erste Teil des ersten Epeisodions sei „in den Dramen bis zum OT“ – den sog. älteren Stücken – „noch eindeutig Teil der Exposition“, während die Veränderungen im Aufbau der „späteren Stücke“ „zweifellos eine Straffung des vor allem informier‐ enden und exponierenden Teiles“ darstellten. So liegt doch gerade hier eine besondere Form der „Parallelkomposition“ (S. 55), der „Wiederholung in anderer Kunstform“ (S. 56) vor, nur eben nicht als reine Wiederaufnahme der Prologinformationen im Auf‐ trittslied des Chors, sondern in der Form der Beantwortung durch einen folgenden Monolog, was der lyrischen Partie – nach den motivischen Andeutungen im Prolog – eine reizvolle Mittelstellung einräumt. S CHMIDT (1973) S. 59 formuliert in diesem Zusammenhang sehr treffend: „Zum anderen wird der Ablauf der Parodos in ‚Geschehen‘ umgesetzt“.

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Erstes Epeisodion (v. 219 – 675)42

Unter zwei Gesichtspunkten ist das folgende Epeisodion für unsere Untersu‐ chung von Bedeutung: Zum einen überrascht seine ausgreifende Länge: Erst nach Vers 676 – also nach mehr als 450 Versen – werden mit Philoktet und Neoptolemos die zentralen Akteure die Bühne verlassen und der Chor sein (erstes) Stasimon beginnen.43 Das umfangreiche Epeisodion umfasst dabei das erste Gespräch zwischen Neoptolemos und dem aufgetretenen Philoktet, das Erscheinen und den Abtritt des von Odysseus bereits im Prolog angekündigten (vorgeblichen) Kaufmanns (v. 126 bzw. 627) sowie eine erneute Unterredung der beiden verbliebenen Personen. Sophokles lässt dabei Auf- und Abtritt des dritten Schauspielers zu einem wesentlichen Strukturmoment des Epeisodions werden, das die Handlung bedeutend voranbringt: Die durch den Kaufmann intendierte Eile (vgl. v. 620) prägt das weitere Geschehen und bietet zur vorangegangenen Unterredung zwischen Neoptolemos und Philoktet in ihrer ausgreifenden Weit‐ schweifigkeit einen wirkungsvollen und dynamischen Gegenpol. Von besonderem Interesse sind weiterhin die im besten Sinne sparsam,44 aber mit besonderer Absicht eingebundenen chorischen Äußerungen innerhalb des ersten Epeisodions. Neben der standardisierten Auftrittsankündigung v. 539 ff. und der kurzen, aber bedeutsamen Kommentierung v. 317 f. fallen dabei beson‐ ders die beiden metrisch korrespondierenden Strophen v. 391 – 402 sowie 506 – 518 ins Auge. Machen wir uns vor einer kurzen Analyse dieser Partien den Ablauf der Situation überblicksartig klar. Mit dem Auftritt des Protagonisten in Vers 219 entspinnt sich zwischen ihm und Neoptolemos eine erste Unterredung, in der die beiden Gesprächspartner die nötigen Informationen untereinander austauschen. Zunächst ist es an Phi‐ loktet, Herkunft, Namen und Zielort seines Gegenübers zu erfahren: Die Freude, Griechen getroffen zu haben (v. 234 f.), wird dabei durch die Überraschung, ge‐ rade den Sohn Achills vor sich zu wissen, noch übertroffen (v. 242) und findet im Erstaunen über die Teilnahme des jungen Mannes am Kriegszug gegen Troia seinen Höhepunkt (v. 246). Neoptolemos – ganz seiner Rolle innerhalb der Int‐ rige gemäß – gibt sich unwissend (v. 253) und bietet so dem Protagonisten die 42 43

44

Die besonderen Formen chorischer Präsenz im vorliegenden Epeisodion machen eine ausführliche Behandlung dieses Abschnitts nötig. Geradezu exemplarisch kann dabei Wesentliches zur Chorführung der gesamten Tragödie erarbeitet werden. Die außerordentliche Komposition der Tragödie wird besonders deutlich, wenn man sich folgenden Sachverhalt vor Augen hält: Bereits mit dem Ende des ersten (und ein‐ zigen) Stasimons in Vers 729 ist die arithmetische Mitte des Stücks annährend erreicht (Gesamtumfang 1471 Verse, Mitte in Vers 735). B URTON (1980) S. 231: „In the following long epeisodion (219 – 675) Sophocles uses his chorus sparingly“.

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Möglichkeit zu einer umfangreichen Vorstellung seiner Person, der Vorge‐ schichte und der momentanen Situation (v. 254 – 316). Schon oben wurde auf die besondere Einbindung dieses Monologs in den Ablauf der expositorischen Teile des Dramenbeginns hingewiesen. Es reicht daher, Folgendes zu bemerken: Die Zuschauer – ebenso wie die an der Szene beteiligten dramatischen Personen – erfahren aus dem Mund Philoktets keine wesentlichen neuen Informationen; die emotionale Ausgestaltung der sogar Neoptolemos bereits bekannten Fakten (Philoktets Identität, seine Krankheit, Aussetzung, Ernährung auf der Insel sowie deren Beschaffenheit und die daraus folgende Einsamkeit) lässt allerdings aufhorchen. Indem hier der Betroffene selbst zum ersten Mal umfangreich seine Perspektive der Dinge darlegt, wird aus dem bisher maßgeblichen Reden über den Protagonisten die Selbstdarstellung des entscheidenden Charakters. Dass mit den Ausführungen Philoktets die Imagination des Chors in gewisser Weise gespiegelt bzw. beantwortet wird, ist oben schon erwähnt worden. Es überrascht daher nicht, dass die erste Kommentierung des Monologs (v. 317 f.) gerade dem Chorführer zufällt; vielmehr ist dieser anscheinend standar‐ disierte Hinweis auf die Sympathie mit dem Sprechenden bewusst in den Zu‐ sammenhang eingepasst.45 Machen wir uns klar: Philoktet hatte zum Abschluss seiner Ausführungen dargelegt, wie zufällig und unfreiwillig auf Lemnos Ge‐ landete ihn zwar mit Worten bedauerten, ihm Essen und Kleidung bereitstellten, ihn jedoch trotz seiner Bitten nicht nach Hause brächten (v. 305 ff.). Nach einer zusammenfassenden Verfluchung der aus Sicht des Protagonisten für seine Leiden verantwortlichen Heerführer bekundet schließlich der Chor sein Mitge‐ fühl: „Auch ich scheine gleich den hier angekommenen Fremden dich zu be‐ mitleiden, Sohn des Poias“ (v. 317 f.). Bemerkenswert ist dabei der Rückgriff auf den Beginn des zweiten Strophenpaars: Hatte dort die zweite Strophe in Vers 169 mit den Worten οἰκτίρω νιν ἔγωγʼ – also der betonten Formulierung einer eigenen Position – begonnen, so bietet die Formulierung an unserer Stelle κἀγὼ ἐποικτίρειν σε sogar eine wörtliche Reminiszenz. Die kurze, formal dem Stan‐ dard chorischer Kommentierung folgende Äußerung ruft so erneut die ausgrei‐ fende Imagination und deren emotionale Färbung ins Gedächtnis; die Ausfüh‐ rungen des Protagonisten werden endgültig zur lyrischen Partie vom Eingang des Stücks in Beziehung gesetzt, geradezu gerahmt und damit fest im motivi‐ schen Ablauf der einzelnen Teile verortet. 45

Zwar hat W EBSTER (1970) durchaus Recht, wenn er die Kommentierung des Chors als konventionelles Moment bezeichnet („The usual two lines of chorus to mark the end of a major speech“ S. 92), die betont wörtliche Beziehung zum Beginn des zweiten Stro‐ phenpaars der „Parodos“ (v. 169) macht jedoch die besondere Einordnung und Bewer‐ tung der Passage nötig.

1. Philoktet

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Die Frage, ob der Chor an unserer Stelle echtes Mitleid bekundet oder gera‐ dezu heuchelnd zum Mitspieler der Intrige wird, ist so schwierig wie um‐ stritten – und für die vorliegende Untersuchung von geringer Bedeutung. Ein rascher Blick auf die gängigen Ansichten soll genügen: Während B URTON be‐ merkt „the coryphaeus comments on Philoctetesʼ speech with an expression of pity“46 und K AMERBEEK vorsichtig anmerkt: „some irony is perhaps to be per‐ ceived“,47 ist sich S CHMIDT sicher: Es bleibt völlig im Unklaren, ob er [sc. der Chor] wirklich beeindruckt und von echtem Mitleid erfaßt ist oder ob ihn der Einsame nur wie die vorher Angekommenen dauert, die ihm kleine Trostgaben zukommen ließen. […] Nach den bewegenden Strophen in der Parodos läßt sich eine herzliche Teilnahme an den Klagen des Ph[iloktet] erwarten, wie sie einige Interpreten deshalb auch gefunden haben. Statt dessen reagieren die Seeleute jedoch mit allem Bedacht verstellt!48

Sicherlich weist S CHMIDT dazu mit Recht auf die „geschraubte Formulierung“ hin, „die, in sich schon zweideutig und vage, durch das ἔοικα noch halb wieder zurückgenommen wird“.49 Ob man allerdings dem Chorführer eine innere An‐ teilnahme gänzlich absprechen kann, scheint mit Blick auf die Reminiszenz an Vers 169 und der dort ausgedrückten emotionalen Einbindung fraglich. Die durch die Formulierung intendierte Ambivalenz ist zwar offenkundig, lässt sich allerdings aus der dramatischen Situation heraus als ein vorsichtig abwartendes und dennoch strategisch kluges Herantasten an die beherrschende Figur des Protagonisten deuten.50 Der Wahrheitsgehalt der Mitleidsbekundung steht dabei zunächst nicht zur Debatte. Anders gesprochen: Die kurze Kommentierung durch den Chor(-führer) bietet den Auftakt für die sich anschließende Unterre‐ dung zwischen Philoktet und Neoptolemos und ist zu diesem Zweck so unver‐ fänglich wie möglich.51 Ob dabei einem Gefühl der Anteilnahme Ausdruck ver‐ liehen wird oder die Bemerkung als reine Verstellung zu werten ist, bleibt zunächst unbeantwortet, ja wird bewusst in der Schwebe gehalten. Solange die sicherlich intendierte Ambivalenz der Aussage vom Rezipienten wahrge‐

46 47 48 49 50 51

B URTON (1980) S. 231. K AMERBEEK (1980) S. 69. S CHMIDT (1973) S. 79. A. a. O. In diese Richtung weist V ISSER (1998) S. 115: „[…] er [der Chor] drückt sein Mitleid aus, allerdings ohne sich auf bestimmte Handlungsweisen festzulegen und ohne Konse‐ quenzen daraus zu ziehen“. So auch S CHMIDT (1973) a.a.O: „Daher bemüht er sich nach Kräften, in dieser schwe‐ benden Situation nichts zu verderben“.

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nommen wird und so ihre Wirkung entfaltet, ist eine Diskussion der inneren Beweggründe des Akteurs von geringerer Bedeutung. Zunächst sollen die weiteren Äußerungen des Chors innerhalb des Epeis‐ odions betrachtet werden. Dem kurzen Wechselgespräch der beiden Akteure in den Versen 319 – 342, in dem der Protagonist mit der Nachricht vom Tod des Achill konfrontiert wird, schließt sich die ausführliche Trugrede des Neopto‐ lemos an (v. 343 – 390). Wortreich schildert er darin seine (angebliche) Kränkung durch Odysseus und die Atriden, die ihm die Waffen seines verstorbenen Vaters vorenthielten. Wirkungsvoll wird dabei die erfundene Situation durch die scheinbar wörtlich wiedergegebenen Reden der Beteiligten (Atriden, Neopto‐ lemos selbst sowie Odysseus) ausgestaltet (v. 364 – 367, 369 f., 372 f. und 379 – 381). Diese heftige Auseinandersetzung, so Neoptolemos, sei der Grund für seine Ab‐ reise von Troia gewesen (v. 383). Letztlich mache er jedoch nicht Odysseus, sondern die Atriden für die erlittene Entehrung verantwortlich; deswegen sei ihm selbst und den Göttern jeder willkommen, der den in Rede stehenden An‐ führern feindlich gesonnen sei (v. 385 – 390). Dabei bildet diese implizite Verflu‐ chung den Schlusspunkt der Ausführungen, der durch das vorgeschaltete λόγος λέλεκται πᾶς (v. 389) besonders herausgehoben ist. Der über die Intrige infor‐ mierte Zuschauer und Leser hört den jungen Mann an dieser Stelle geradezu aufseufzen: Er hat sich bei seiner ersten Begegnung mit Philoktet bewährt, seine moralischen Zweifel überwunden und eine überzeugende Trugrede dargeboten, die ihre Wirkung nicht verfehlen wird. Von besonderer Bedeutung für unsere Untersuchung sind die folgenden Verse 391 – 402. Sophokles lässt auch hier auf einen wichtigen Monolog eine kurze Kommentierung durch den Chor folgen, erweitert allerdings den standardi‐ sierten Doppelvers52 (vgl. v. 317 f.) hin zu einer vollklingenden Orchestration der verklungenen Rhesis des Akteurs. Der formalen Analyse der Passage wird ihr inhaltlicher Nachvollzug und ihre motivische Einordnung folgen. Eingeschaltet ist an unserer Stelle eine im Wesentlichen in iambischen und dochmischen Versen53 komponierte Strophe,54 die ihre metrische Entsprechung in den Versen 507 – 518 finden wird. Diese – zumindest in den Tragödien unseres 52 53 54

Vgl. die S. 102, Anm. 45 zitierte Bemerkung W EBSTER s sowie seine Bezeichnung der Passage als „excited iambo-dochmiac strophe (instead of the normal two lines of iambic comment after a major speech)“ S. 95. Eine metrische Analyse bietet W EBSTER (1970) S. 96. Zur Frage der Gattung bemerkt J EBB (2004): „This strophe […] is a ὑπόρχημα, or ‘dance-song’“ (S. 70) und nimmt daher eine besonders ausgeprägte Untermalung durch Tanz an. Wie schon in den Trachinierinnen (v. 205 ff.) ist allerdings mit dem nicht exakt zu fassenden Begriff ὑπόρχημα auch hier nichts Wesentliches gewonnen (siehe dazu S. 190 ff.).

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Dichters55 – einmalige Konstruktion56 eines durch Sprechpartien der Akteure geteilten Strophenpaars stellt zunächst ein wesentliches und wirkungsvolles Strukturmoment der Szene dar. Die Einschaltung der lyrischen Partie bedeutet in diesem Sinn in beiden Fällen zunächst eine Unterbrechung des Handlungs‐ flusses; Zuschauer und Leser sind sich gleich mit dem Strophenbeginn der be‐ sonderen Aufmerksamkeit bewusst, die der aktuellen Szenerie durch die lyrische Zäsur beigelegt wird. Der Grund dieser herausgehobenen Gestaltung an unserer (ersten) Stelle ist offensichtlich: Wie schon ausgeführt, hat der Monolog des Neoptolemos die Realisierung der im Prolog geplanten Intrige geleistet.57 Die umfangreiche Schilderung Philoktets in den Versen 254 – 316 hat damit ihre Be‐ antwortung gefunden: Nachdem der Protagonist seine Vorgeschichte detailliert vorgebracht hatte, referierte Neoptolemos mit der fiktiven Streitszene das an‐ geblich ausschlaggebende Ereignis der momentanen Situation. Die Vorstellung der beiden Akteure ist damit beendet, beide sind über den Hintergrund, die ak‐ tuelle Situation und die Absichten bzw. Wünsche des jeweils anderen informiert. Die mutwillige Täuschung des Protagonisten durch seinen Gesprächspartner und die damit forcierte Informationsungleichheit zwischen Philoktet und den restlichen Akteuren sowie den Rezipienten erfüllt die Szenerie dabei mit enormer Brisanz. Wenden wir uns dem Inhalt der Partie zu. Die gesamte Strophe ist eine An‐ rufung der Erde (Γᾶ), deren Rang als Göttermutter ihr eine besondere Verehrung zukommen lässt. Die Ansprache der Gottheit im ersten Vers ist dabei durch zwei der Namensnennung vorangehende Adjektive sowie eine folgende Angabe zur genealogischen Einbindung ausgestaltet, die drei besondere Eigenschaften der 55

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Die von J EBB (2004) S.  70 angeführte Parallele unserer Stelle zum Oidipus auf Kolonos v. 1086 f. sowie W EBSTER s (1970) Vergleiche mit Passagen beider Oidipustragödien (S. 96) verfehlen, wie auch schon B URTON (1980) S. 232 gesehen hat, die formale Son‐ derstellung unserer Passage und damit den Kern der Sachlage. B URTON (1980) S. 232: „This is an effect unique in extant Sophocles and is found else‐ where only in Euripidesʼ Orestes 1353 ff. = 1537 ff. and Hippolytos 362 ff. = 669 ff., a much longer interval; and there, the antistrophe to the chorusʼs strophe is sung by an actor“. Auch der formale Vergleich der Orestes-Stelle mit unserer Passage erweist signifikante Unterschiede: Bei Euripides eröffnet die Äußerung des Chors v. 1353 – 1365 einen aus‐ führlichen lyrischen Wechselgesang mit dem neu hinzutretenden Phryger, an den sich vor der „Gegenstrophe“ (v. 1537 – 1549) noch ein stichomythisches Zwiegespräch des‐ selben mit Orest (v. 1506 – 1526) und ein Monolog des Protagonisten (v. 1527 – 1536) an‐ schließen. Während also im Orestes die Strophe in eine lyrische Großpassage mit Be‐ teiligung des Chors eingebunden ist und diese geradezu einleitet, die Gegenstrophe die Szene dagegen abschließt, steht das Strophenpaar bei Sophokles eingerahmt von reinen Sprechpartien, in denen dem Chor keine umfangreichen Wortmeldungen zukommen. Vgl. J EBB (2004) S. 70: „[…] the Chorus seizes this moment in order to deepen the im‐ pression left on the mind of Philoctetes“.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

Gottheit vor Augen führen und damit die Identifikation mit drei göttlichen Per‐ sonen ermöglichen: Γᾶ hat eine besondere Beziehung zu Bergen (ὀρεστέρα), ist „allnährend“ (παμβῶτι) und zudem, wie der zweite Vers darstellt, die Mutter des Zeus. Damit sind drei Gottheiten – Gaia, Kybele und Rhea – zu einer umfas‐ senden göttlichen Person vereinigt,58 die geradezu als Übergottheit das Pantheon der olympischen Götter mit ihrem Oberhaupt Zeus zu überbieten scheint. Es passt dabei ins Bild, dass als göttliche Macht ausschließlich Zeus bisher vom Chor namentlich erwähnt wurde (v. 140); unsere Stelle kontrastiert in ihrer aus‐ greifenden Hinwendung zu einer göttlichen Person so mit der bisherigen Zu‐ rückhaltung des Chors. Ganz in der Form eines traditionellen Götteranrufs59 schließt sich an die na‐ mentliche Nennung der Gottheit ein Relativsatz mit der Angabe eines bevor‐ zugten Herrschaftssitzes an: Hier ist es der große, goldführende Fluss Paktolos in Kleinasien (τὸν μέγαν Πακτωλὸν εὔχρυσον), den Gaia bewohnt (νέμεις). Die eigentliche invocatio der Göttin ist damit abgeschlossen; es folgt die Erinnerung an eine bereits erfolgte Anrufung, wobei Ort und Anlass dieses (fiktiven) Gebets die logische Verbindung zur dramatischen Situation schaffen. Dort nämlich (κἀκεῖ) – gemeint ist, wie aus dem Folgenden hervorgeht, das Heerlager vor Troia – habe der Chor sich schon einmal an die Gottheit gewandt (σὲ ἐπηυδώμαν), als nämlich (ὅτʼ) die gesamte Hybris der Atriden seinen Herrn, d. h. Neoptolemos, getroffen hatte. Ein zweiter, ebenfalls durch ὅτε eingeleiteter Temporalsatz konkretisiert die erlittene Schmach und wiederholt den uner‐ hörten Sachverhalt: Die Waffen seines Vaters (τὰ πάτρια τεύχεα) seien nicht Neoptolemos, sondern Odysseus zugesprochen worden. Eingebettet in diese Ausführung ist ein erneuter, emotional aufseufzender Anruf (ἰὼ μάκαιρα) der herrschaftlich thronenden Gottheit.60 Betont nimmt die Bezeichnung σέβας ὑπέρτατον – „Gegenstand allerhöchster Verehrung“ – für die in Frage stehenden Waffen61 die Schlussstellung der Strophe ein. So abrupt wie die Strophe begann, schließt sie an diesem Punkt; Philoktet meldet sich zu Wort und bekundet seine Sympathie mit dem entehrten Neoptolemos. Machen wir uns rückblickend bewusst: Mit dem Bezug auf die Erzählung des Neoptolemos sind die Choreuten ganz im eigentlichen Thema angelangt. Wäh‐ 58 59 60 61

Vgl. dazu J EBB (2004) S. 70: „[…] these characters are completely fused in the unity of the ματὴρ πότνια“ sowie W EBSTER (1970) S. 96 und B URTON (1980) S. 232. Vgl. F UHRER (1998). „Hymnos.“ in: DNP Band 5, Sp. 789, wo die „klassische“ Dreiteilung des hymnischen Gebets in invocatio – pars epica – precatio ausgeführt wird. Vgl. dazu W EBSTER (1970) S. 97; anders J EBB (2004) S. 71 f. Dass die Junktur kein zweiter Vokativ ist, sondern als Apposition zu τεύχεα verstanden werden muss, ist bei den Kommentatoren unbestritten, so J EBB (2004) S. 72, W EBSTER (1970) S. 97, K AMERBEEK (1980) S. 78.

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rend der Anruf der Gaia zu Beginn der Strophe noch überraschend und im Kon‐ text der Szene zunächst fremd wirkte, hat die Passage in Vers 396 f. ihre thema‐ tische (und arithmetische) Mitte erreicht. Ein doppeltes Hinweisen prägt diese Zentralpartie der Strophe, bettet sie in die aktuelle Situation ein und macht ihr spezifisches Zeitverhältnis deutlich: Während das Demonstrativpronomen τόνδʼ (v. 396) auf den präsenten Neoptolemos verweist und ihn erneut als Opfer der Entehrung in den Vordergrund rückt, weist die dreimalige Konkretisierung der Szene des Waffenstreits in die Vergangenheit. Schrittweise führt der Chor dabei zum Kern der Situation: Das noch unbestimmte κἀκεῖ (v. 395) wird durch die beiden Temporalsätze mit Leben gefüllt, die Schlusspartie der Strophe wie‐ derholt in unvermittelter Abfolge mit dem erneuten Anruf der Göttin sowie der Angabe des Nutznießers Odysseus und des Streitgegenstandes drei wesentliche inhaltliche Momente. Die Anmaßung der Atriden als ausschlaggebendes Mo‐ ment nimmt dabei die Mitte der Ausführungen ein (ὕβρις in v. 397). In diesem Sinne ist die Strophe des Chors eine komprimierte, emotionale Ausleuchtung der entscheidenden Motive des vorangegangenen Monologs; sie unterstreicht die Opferrolle des Neoptolemos, hebt die Verantwortlichkeit der Atriden heraus und bekundet die – vom Standpunkt des über die Intrige informierten Zu‐ schauers und Lesers – doppelbödige Verstrickung des Chors in den Handlungs‐ ablauf. Versuchen wir weiterhin, die Partie im Ganzen zu überblicken und einzu‐ ordnen. Die Passage führt in geradezu exemplarischer Weise einzelne Formteile eines klassischen Gebetshymnos vor Augen: namentliche Invokation der Gott‐ heit, genealogische Angabe, Hinweis auf eine bevorzugte Kultstätte sowie die Ausgestaltung einer bereits erfolgten Anrufung.62 Der Verzicht auf eine verba‐ lisierte Aktualisierung (precatio, eingeleitet durch καὶ νῦν63 oder ähnliches), d. h. auf eine konkrete Bitte in der momentanen Situation, ist dabei genauso ab‐ sichtsvoll auf die dramatische Einbindung abgestimmt wie die Erwähnung der einzelnen, formal traditionellen Motive. Wie gesehen, stellen die Kompilation der drei Gottheiten zur angerufenen Mutter Erde und der betonte Hinweis ihrer genealogischen Einordnung eine Überbietung der bisher durch den Chor getä‐ tigten theologischen Aussagen dar. Die Erwähnung des Paktolos als eines klein‐ asiatischen Flusses mag des Weiteren der groben geographischen Hinführung zur entscheidenden Szene dienen, während die Angabe κἀκεῖ sowie die zwei 62

63

So auch S CHMIDT (1973) S. 88: „In einem Gebet, das in der Form auch nicht den kleinsten Anstoß gibt, das die Beinamen der angerufenen Göttin, ihre Stellung im Geschlecht der Götter und ihren Lieblingsaufenthalt nennt, beschwören sie die hehre Göttermutter Kybele / Ge […]“. Vgl. Antigone v. 1140 oder Oidipus Tyrannos v. 167.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

ὅτε-Sätze das von Neoptolemos referierte Geschehen direkt in den Blick nehmen. Der Chor projiziert sich dabei in die fragliche Situation zurück und gibt an, was er damals tat bzw. sagte. Indem er so seinen Beitrag in Erinnerung ruft, verortet er sich im vergangenen Geschehen, komplettiert Neoptolemosʼ Schil‐ derung der angeblichen Entehrung und reichert sie durch eine theologische Note an. Dass dabei die in Rede stehende Situation mitsamt der Götterinvokation fiktiv ist und als Bestandteil der Intrige zur Täuschung des Protagonisten bei‐ trägt, verleiht der dramaturgischen Eingliederung und Nutzbarmachung der traditionellen Motive eine nicht zu überbietende dramatische Brisanz. Sophokles lässt also den Chor an unserer Stelle eine in hohem Maße kon‐ ventionelle Strophe singen, deren einzelne Motive allerdings passgenau in den dramatischen Kontext eingearbeitet und auf Grund der speziellen Situation ge‐ radezu pervertiert sind. Er kappt dabei das gewohnte Schema des Gebetshymnos und lässt die aktuelle Bitte ersatzlos wegfallen, da ganz allein die imaginierte und fiktive Szene der Vergangenheit im Fokus steht. Mit Blick auf diese Eng‐ führung der standardisierten Form liegt nur der Rumpf eines eigentlichen Ge‐ betes vor. Die ins Zentrum gerückte Erinnerung an eine bereits erfolgte Invo‐ kation der Gottheit nimmt dabei die im vorangegangenen Monolog beschrittene Methode der Situationsausdeutung wieder auf: Indem der Chor sich die (fiktive) Szene vergegenwärtigt und sich in dieser verortet, setzt er Neoptolemosʼ He‐ rangehensweise fort; die lebhafte Wiedergabe der wörtlichen Reden aus den Versen 364 ff. wird so an unserer Stelle durch den emotionalen Einwurf des Chors gespiegelt. Mit Blick auf die Rolle des Chors lässt sich dabei festhalten: Die Schiffsleute erweisen sich in der Anwendung des typisch chorischen Schemas64 der Verge‐ genwärtigung und Selbstverortung als treue Diener ihres Herrn; sie lassen ihm zudem gerade durch das Fehlen einer dezidiert aktuellen Bitte an die Gottheit alle Möglichkeiten, die Unterredung mit Philoktet im Folgenden nach seinen Maßstäben zu gestalten. Die kommentierende Strophe des Chors lässt so Neoptolemosʼ Monolog mehr als nur nachklingen, sie orchestriert ihn im Sinne einer Coda und ist zum Fort‐ gang der Handlung hin offen. Der bisher spannungsreichste Moment der Tra‐ gödie – die seit dem Prolog erwartete Konfrontation des Protagonisten mit der Intrige – hat damit eine besonders wirkungsvolle Ausgestaltung erfahren, deren formale Einzigartigkeit die Wichtigkeit des dramatischen Moments widerspie‐ gelt. S CHMIDTs geradezu überschwängliches Lob der kurzen Partie mit Blick auf

64

Vgl. z. B. die Vergegenwärtigung des Kampfes um Deianeira im ersten Stasimon der Trachinierinnen.

1. Philoktet

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die Gestaltung als Lügenrede („Diese Chorstrophe ist ein wahres Meisterstück! Die Mittel sind so vorzüglich gewählt, der Ton so echt, daß von daher die Lüge nicht mehr greifbar wird“65) lässt sich aus der Perspektive dieser Untersuchung nur wiederholen: Die vorliegende Passage zeigt zum einen exemplarisch, wie präzise die einzelnen, formal durchaus unterschiedenen Teile der Tragödie mo‐ tivisch und dramaturgisch ineinandergreifen und aufeinander abgestimmt sind. Zum anderen demonstriert sie – wie der Überblick über das gesamte Epeisodion noch fundierter zeigen wird – die bewusste, ökonomische und wirkungsvolle Handhabung traditioneller chorischer Gattungen, Motive und Methoden durch den Dichter sowie deren Kombination und Umdeutung mit Blick auf ihre Funk‐ tionalisierung in der jeweiligen dramatischen Situation. Eine volle Würdigung der chorischen Präsenz im vorliegenden Epeisodion lässt sich jedoch erst unter Einbeziehung der zweiten eingeschobenen Strophe (v. 507 – 518) erreichen. Die weitere Handlungsentwicklung soll rasch überblickt werden. Philoktet zeigt sich von Neoptolemosʼ Erzählung und der chorischen Inter‐ vention beeindruckt: Er ist überzeugt, Leidensgenossen vor sich zu haben, die wie er Opfer der Atriden und des Odysseus geworden sind.66 Aus Philoktets Erstaunen, wie der große Aias (Αἴας ὁ μείζων v. 411) die Entehrung des Neo‐ ptolemos nur hinnehmen konnte, entwickelt sich ein Zwiegespräch, in dessen Verlauf Neoptolemos den Protagonisten über die Verfassung einiger bedeu‐ tender Griechen informiert. Entsetzt muss Philoktet dabei erfahren, dass gerade die von ihm hochgeschätzten Mitstreiter entweder bereits gestorben sind oder schwere Schicksalsschläge erleiden mussten.67 Dagegen ist, nach Neoptolemosʼ Auskunft, der verhasste Thersites noch am Leben, was Philoktet schließlich zu einer Klage über die Ungerechtigkeit göttlichen Wirkens hinreißt (v. 446 – 452). Neoptolemos bekundet daraufhin, Troia und die Atriden nun gänzlich hinter sich lassen zu wollen; seine Heimatinsel Skyros genüge ihm vollkommen (ἐξαρκοῦσα v. 459), da auch er die Überlegenheit der moralisch Schlechten über die Guten – wie sie im griechischen Heerlager herrsche – nicht ertragen könne. Mit dem betonten νῦν δʼ setzt Neoptolemos in Vers 461 einen neuen drama‐ tischen Impuls, der die Erfüllung seiner Mission vorantreiben soll: Nun werde 65 66 67

S CHMIDT (1973) S. 89. Das durch ὡς ἔοικε (v. 403) mit Rückblick auf Vers 317 intendierte Spiel mit dem Wis‐ sensvorsprung der Zuschauer und Leser ruft mit der doppelbödigen Struktur den wahren Sachverhalt der Situation erneut ins Gedächtnis. Zu diesem, der Sphäre des Epos entlehnten Moment der „Heldenschau“ („review of heroes“ W EBSTER (1970) S. 97) vgl. S CHMIDT s (1973) Ausführungen unter der Überschrift „Troiahelden“ S. 91 – 98.

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er sich zu seinem Schiff begeben, um sich dort auf die Abfahrt von Lemnos vorzubereiten. Nach einer ersten Verabschiedung (καὶ σύ, Ποίαντος τέκνον, χαῖρʼ ὡς μέγιστα) und der erstaunten Nachfrage Philoktets („Schon brecht ihr auf?“ v. 466), bekräftigt er erneut seine feste Überzeugung, nun sei der richtige Moment gekommen, die Insel zu verlassen (καιρὸς γὰρ καλεῖ). Mit der mit Vers 468 einsetzenden Rede Philoktets schließt sich der dritte umfangreiche Monolog des Epeisodions an, an dessen Ende erneut eine Kommentierung durch den Chor erfolgt. Vergegenwärtigen wir uns Inhalt, Aufbau und Motivik der mehr als 35 Verse umfassenden Rhesis. Unter Aufbietung aller ihm zur Verfügung stehenden Mittel fleht Philoktet sein Gegenüber an, ihn nicht auf Lemnos zurückzulassen. Auch wenn ihm dabei klar sei, welche Schwierigkeiten mit dem Transport des Schwerkranken ver‐ bunden seien (δυσχέρεια τοῦδε τοῦ φορήματος v. 473 f.), stellt er Neoptolemos, sollte er sich seiner erbarmen, eine wesentliche Vermehrung seines Ruhms in Aussicht (πλεῖστον εὐκλείας γέρας v. 478). Neoptolemos solle es wagen (τόλμησον) und ihn dabei an der Stelle auf seinem Schiff unterbringen, wo er den Mitreisenden am wenigsten zur Last falle (v. 481 ff.). Unter Anruf des Zeus (πρὸς αὐτοῦ Ζηνὸς ἱκεσίου v. 484) bittet Philoktet, Neoptolemos solle ihn entweder zu sich nach Hause oder nach Euboia bringen; von dort habe er es nicht mehr weit in seine Heimat, wo er seinen Vater wie‐ derzusehen hoffe. Schon lange habe er zudem die Sorge, sein Vater sei gestorben: Denn trotz wiederholter Nachrichten, die er den zufällig auf Lemnos Gelandeten mitgab, sei noch keine Antwort eingetroffen. Vielleicht, so die Überlegung des Protagonisten, sei dieser Umstand allerdings auch den Boten geschuldet, die, ohne sich um ihn zu kümmern, nur auf ihre eigene Heimfahrt bedacht gewesen seien (v. 488 ff.). Jetzt aber (νῦν δʼ v. 500) sei es an Neoptolemos, ihn zu retten und sich seiner zu erbarmen (σὺ σῶσον, σύ μʼ ἐλέησον v. 501). Eine allgemeine Überlegung schließt den Monolog ab: Vor dem Hintergrund des gefahrenreichen menschlichen Lebens sei es geboten, dass gerade diejenigen, die vom Leid un‐ berührt sind, aufmerksam auf das Unheil anderer achten, um nicht unversehens selbst zu Grunde zu gehen (v. 502 ff.).68

68

L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) athetieren die Verse 504 – 506. Dem Monolog ist nichts Wesentliches mit diesen Versen genommen; inwieweit die in ihnen ausgedrückte Ver‐ allgemeinerung der momentanen Lage tatsächlich als echt zu beurteilen ist oder als spätere Randglosse verworfen werden muss, bleibt fraglich. Angesichts der einhelligen Überlieferung bedarf eine Streichung der Verse allerdings einer besonderen Rechtfer‐ tigung. Unter den Gesichtspunkten dieser Untersuchung ist diese Frage jedoch von untergeordneter Bedeutung.

1. Philoktet

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Der von Neoptolemos in Vers 461 gesetzte Impuls hat seine Wirkung nicht verfehlt: Nachdem der Handlungsfluss in der Heldenschau der Verse 412 ff. zu einem Ruhepunkt gekommen war, beschleunigt und emotionalisiert sich das Bühnengeschehen an unserer Stelle erneut. Bestimmendes Moment des vorlie‐ genden Monologs ist dabei die gehäufte Verwendung von Imperativen, die bald positiv – θοῦ με v. 473, τλῆθι v. 475, ἴθʼ v. 480, τόλμησον und ἐμβαλοῦ v. 481 usw. (besonders beachtenswert: ἔκσωσον v. 488 wieder aufgegriffen in σῶσον v. 501) – bald verneint – μὴ λίπῃς v. 470, μή μʼ ἀφῇς v. 486 – der Szene ungeahnte Intensität und Dynamik verleihen. Die Berufung auf Zeus in seiner Schutzfunk‐ tion gegenüber Bittflehenden in Vers 484 sowie die kurze allgemeingültige und geradezu warnende Ausführung zur Wandelbarkeit des menschlichen Glücks v. 502 ff. erfüllen eine doppelte Funktion: Zum einen unterstreichen sie die Emo‐ tionalität der Ausführungen und führen die Verzweiflung Philoktets vor Augen, der beim Versuch, Neoptolemos zu überzeugen, buchstäblich sämtliche Register zieht. Zum anderen ermöglichen sie trotz ihrer streiflichtartigen Kürze Phil‐ oktets Situation innerhalb eines allgemeineren, theologischen Kontextes zu ver‐ orten. Die Reaktion des Chors in der sich anschließenden Strophe wird diese Andeutung aufgreifen. Nach der Schilderung seines Elends im ersten ausgreifenden Monolog des Epeisodions (v. 254 – 316) hat sich der Protagonist an unserer Stelle zum zweiten Mal ausführlich zu Wort gemeldet. Zugleich bildet die vorliegende Rhesis nach der eingeschalteten Lügenrede des Neoptolemos (v. 343 – 390) den dritten um‐ fassenden Wortbeitrag der Szene. Von besonderem Interesse ist für die vorlie‐ gende Untersuchung die sich nun anschließende (dritte) Kommentierung durch den Chor. Wie schon angesprochen folgt in Vers 507 das metrische Pendant zur Chorstrophe v. 391 – 402. Vollziehen wir zunächst Inhalt und sprachliche Ge‐ staltung nach, bevor wir eine motivische und dramaturgische Einordnung ver‐ suchen. Wie schon der Protagonist in seinem eben verklungenen Monolog, so wendet sich auch der Chor direkt an Neoptolemos: Der Imperativ οἴκτιρ(ε) mit dem angeschlossenen Vokativ ἄναξ („Hab Erbarmen, Herr!“) eröffnet die Strophe volltönend. Parataktisch angeschlossen folgt als Begründung der emotionalen Involvierung der Verweis auf Philoktets herausragendes Schicksal: Das Maß an leidvollen, unerträglichen Torturen (δυσοίστων πόνων ἆθλʼ),69 das Philoktet ge‐ radezu „gesammelt“ (ἔλεξεν) habe, wünscht der Chor keinem seiner Freunde. Wenn, so der Chor in erneuter Hinwendung an seinen Herrn (ἄναξ v. 510), Neoptolemos Hass gegen die Atriden hege, so würde er selbst (der Chor) die

69

Vgl. J EBB (2004) S. 89: „ordeals consisting in πόνοι, sufferings“.

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üble Tat der griechischen Feldherren zu Philoktets Vorteil umdeuten,70 diesen auf dem Schiff dahin bringen, wohin es ihn verlange, und so einer göttlichen Vergeltung entfliehen (θεῶν νέμεσιν ἐκφυγών). Der Aufbau und die sprachliche Gestaltung der wiedergegebenen Konditio‐ nalperiode sind dabei sprachlich besonders ausgefeilt: Während der konditio‐ nale Vordersatz – eingeleitet durch ein fortführendes δέ – sich der Gefühlsre‐ gung des angesprochenen Akteurs versichert, entwickelt der Hauptsatz den Vorschlag der Choreuten. Dabei wird das Prädikat (πορεύσαιμʼ ἄν) durch zwei Partizipien gerahmt, von denen das erste (μέγα τιθέμενος) die beabsichtigte Rettung als Umdeutung der Verhältnisse interpretiert, das zweite (ἐκφυγών) einen Nebenzweck des Vorhabens angibt. Die betonte Selbstverortung des Chors (ἐγὼ μέν, „ich für meinen Teil“ v. 511) auf der einen, die vorsichtig-höfliche Formulierung auf der anderen Seite (Verwendung des potentialen Optativs71) unterstreicht dabei den Vorschlag des Chors als selbstbewussten Diskussions‐ beitrag, illustriert jedoch gleichzeitig das Verhältnis der Schiffsleute zu ihrem Herrn. So wird auf ein mit Vers 511 korrespondierendes und damit inhaltlich kontrastierendes δέ bewusst verzichtet: Die Strophe bleibt in diesem Sinne offen und fordert Neoptolemosʼ Antwort geradezu heraus. Dass dabei die Erwähnung der θεῶν νέμεσις das Ende der Strophe bildet, ist freilich nicht zufällig: Der Chor konkretisiert damit die moralisch-theologischen Streiflichter des vorangegan‐ genen Monologs – v. a. die Berufung auf Zeus v. 484 – und lässt so hinter seinem Vorschlag, Philoktet nach Hause zu bringen, die Drohkulisse einer möglichen göttlichen Vergeltung aufscheinen. Zum eingeforderten Mitleid (v. 507) und dem Hass auf die Atriden (v. 510) gesellt sich so die Furcht vor einer derartigen Be‐ strafung als drittes Argument für ein beherztes Einschreiten von Seiten des Neo‐ ptolemos und seiner Mannschaft; als drastischster Beweggrund nimmt es dabei die Schlussstellung innerhalb der Partie ein. Wie lässt sich die Strophe in den dramatischen Kontext einordnen? Die Partie bietet ein konzentriertes Abbild der aktuellen Situation sowie der involvierten Personen: Sie führt erneut Philoktets Leid vor Augen, leistet die Selbstverortung des Chors im dramatischen Diskurs und zielt auf Neoptolemosʼ Antwort sowie sein aktives Einschreiten. Damit kommt ihr eine besondere Übergangsfunktion zu: Indem der Chor vor der entscheidenden Antwort seines Herrn auf Philoktets Bitte die Situation pointiert zusammenfasst und selbst engagiert Partei ergreift, markiert er eine brisante Gelenkstelle der Handlung. Anders gesprochen: So‐ phokles zögert an diesem Punkt der Tragödie den Fortgang der Geschehnisse

70 71

Vgl. W EBSTER (1970) S. 102: „converting the harm done by them into a gain for him“. Vgl. J EBB (2004) S. 89, der die Formulierung als „a respectful suggestion“ beezeichnet.

1. Philoktet

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erneut für einen Moment heraus; statt Neoptolemos sofort zu Wort kommen zu lassen, rekapituliert der Chor den erreichten Status und vertieft den Eindruck des verklungenen Monologs. Wie ist die Strophe nun konkret in den Kontext eingepasst, welche Methode wendet Sophokles zur Vertiefung des dramatischen Moments an? Aufschluss‐ reich ist der Beginn der Partie: War schon in Philoktets Monolog der Imperativ das zentrale sprachliche Phänomen, so setzt auch die Strophe des Chors diese Anrede an Neoptolemos fort und reiht sich damit in die Gesprächssituation ein. Mit dem Sprecherwechsel ist dabei freilich eine Perspektivverschiebung ver‐ bunden: Aus dem Reden des Protagonisten wird erneut ein Hinweisen auf und Sprechen über ihn. Ein grundlegendes Moment der vorangegangenen Rhesis ist damit wieder aufgenommen und dient unter veränderten Vorzeichen als Auftakt der chorischen Kommentierung. Dass dabei gerade der Aufruf zum Mitleid diese herausgehobene Stellung einnimmt, ordnet die Strophe in den motivischen Ho‐ rizont der Choräußerungen ein: Die erste ausführliche Leidensschilderung in‐ nerhalb der Parodos mit ihrem betonten οἰκτίρω (v. 169) wird an unserer Stelle durch den Imperativ οἴκτιρε wieder aufgerufen; das zentrale Motiv des Mitleids ist so im aktuellen Kontext verankert und erscheint mit Blick auf die im Raum schwebende Täuschungsabsicht des Neoptolemos geradezu pervertiert.72 Aus dieser Perspektive nimmt weiterhin die begriffliche Reminiszenz aus Vers 318 (ἐποικτίρειν σε) eine Mittelstellung ein. Weiterhin leistet die kurze Strophe schon mit dem Verweis auf die Leiden des Protagonisten sowohl die Selbstverortung des Chors als auch eine persönliche Emotionalisierung: Dem konstatierenden Ausruf, Philoktet habe ein hohes Maß an Leid zu ertragen, folgt der Wunsch nach Verschonung der eigenen Freunde. Indem der Chor so das vor Augen liegende Elend Philoktets bis zu einem ge‐ wissen Grad in Beziehung zu sich und seiner eigenen Lebenswirklichkeit setzt, bekundet er (erneut) seine emotionale Involvierung. Gerade der Bezug auf die korrespondierende Strophe v. 391 – 402 ergibt so eine grundlegende strukturelle Parallele: Hatte sich der Chor dort in die von Neo‐ ptolemos entworfene (fiktive) Szenerie der Vergangenheit zurückprojiziert und damit seine aktive Rolle am damaligen Geschehen bekundet, so verorten sich die Schiffsleute an unserer Stelle ganz bewusst in der dramatischen Realität. War im ersten Fall ein konkreter Bezug auf die Gegenwart oder die Zukunft bewusst ausgeblieben, so leistet die zweite Strophe genau dies: Sie wirkt in ihrer Kon‐ zentration bündelnd und stellt mit dem Vorschlag der Choreuten einen mögli‐ 72

So auch B URTON (1980) S. 233: „In its opening words, οἴκτιρ’ ἄναξ, the theme of pity, echoed from the central section of the parodos, is heard again. It has now become an essential element in the duping of Philoctetes […]“.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

chen Fortgang der Handlung in Aussicht. In beiden Fällen setzen die Strophen dabei Strukturen und Motive des jeweils vorangegangenen Monologs fort und orchestrieren diesen durch den Wechsel von Sprecher und Perspektive. Als verbindendes Motiv der beiden Strophen fallen bei näherer Betrachtung zudem die Atriden, ihr Handeln und die Reaktion darauf ins Auge: War dabei in der ersten Strophe die Hybris der Feldherren (v. 395 f.) unmittelbarer Grund des referierten Götteranrufs, so ist der Hass auf Agamemnon und Menelaos (v. 510) in der zweiten Strophe emotionales Ausgangsmoment der ausgespro‐ chenen Empfehlung.73 Betrachten wir an diesem Punkt kurz den Fortgang des Epeisodions, um ab‐ schließend zu einer Einordnung und Bewertung der chorischen Präsenz im Ganzen zu kommen. Neoptolemos tritt im Anschluss an die Chorstrophe in ein kurzes Gespräch mit dem Chorführer ein. Dieser versichert ihn, trotz der möglichen Belästi‐ gungen durch Philoktets Krankheit zu seinem eben vorgebrachten Vorschlag zu stehen. Neoptolemos gibt sich daraufhin überzeugt und willigt ein, den Kranken auf seinem Schiff mitzunehmen. Philoktet ist von Freude und Dankbarkeit über‐ wältigt: Vor der Abfahrt lädt er seinen „Retter“ ein, die Höhle in Augenschein zu nehmen, in der er sein Dasein in den letzten Jahren gefristet hat. So könne Neoptolemos seine Leidensfähigkeit und Duldsamkeit erst recht bemessen; denn, so der Protagonist, keiner, der auch nur den Anblick der Behausung erlebt habe, könne wohl das ertragen, was er selbst ausgehalten habe (v. 536 f.). Er allerdings habe gezwungenermaßen74 gelernt, sich auch mit Üblem zufrieden zu geben (v. 538). Bevor sich die Akteure daraufhin in das Bühnengebäude zurückziehen, un‐ terbricht der Chor die angestoßene Aktion: In einer drei Verse umfassenden Auftrittsankündigung (v. 539 – 541) weist er auf zwei sich der Szenerie nähernde Schiffsleute hin, von denen der eine der Mannschaft des Neoptolemos angehört, der andere den Choreuten unbekannt (ἀλλόθρους) ist. Diese, so die Aufforde‐ rung, sollten vor dem Eintritt in die Höhle erst angehört werden. In Vers 542 entfaltet der aufgetretene Kaufmann in direkter Ansprache an Neoptolemos schließlich den Grund seines Kommens. 73

74

Zur Frage, wie die Wahrhaftigkeit der chorischen Aussagen an unserer Stelle zu be‐ werten ist, äußert sich S CHMIDT (1973). S. 105 erneut äußerst kritisch: „Die Fürsprache klingt erneut so verwirrend echt, daß man unsicher werden könnte, ob nicht der Chor jetzt aus aufrichtigem Mitleid bitte. Aber der Inhalt zeigt deutlich, wie kaltblütig auch diese ‚warme‘ Fürsprache vorgespielt wird“. Zur Diskussion vgl. V ISSER (1998) S. 123. Geschickt nimmt Philoktets ἀνάγκῃ (v. 538) dabei einen Zentralbegriff aus dem dritten Strophenpaar der Parodos wieder auf (vgl. v. 206 f. und 215 f.).

1. Philoktet

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Zuschauer und Leser sind sich dabei freilich bewusst, dass Odysseus seine Ankündigung aus dem Prolog verwirklicht hat: Der zur Szene gestoßene Kauf‐ mann ist in Wahrheit der in den Versen 127 ff. vorgestellte Späher, dessen Auf‐ trag es ist, Neoptolemos geeignete Argumente für seine Mission zu liefern und so den Fortgang der Intrige zu beschleunigen. Der Chor folgt der Szene im Weiteren wortlos: Sowohl in die Unterhaltung der drei Akteure (v. 542 – 627) als auch in das sich anschließende erneute Zwie‐ gespräch zwischen Philoktet und Neoptolemos (v. 628 – 675) mischt er sich nicht mehr ein. Erst nach deren endgültigem Abtritt beginnt der Chor sein Stasimon in Vers 676. Der Inhalt der Kaufmannszene und des angeschlossenen Dialogs soll daher hier zunächst nicht ausgeführt werden; vor der Behandlung des Standliedes wird eine kurze Rekapitulation die entscheidenden Momente he‐ rausarbeiten. An dieser Stelle soll zunächst ein Überblick über das gesamte Epeisodion in seiner formalen Gestaltung erfolgen. Machen wir uns dazu Folgendes bewusst: Die ausgreifende Szene zerfällt in drei Teile: kurzer Wortwechsel zwischen Neoptolemos und Philoktet, Kauf‐ mannszene sowie anschließender Austausch der auf der Bühne Verbliebenen. Der Auftritt des Kaufmanns in Vers 542 unterbricht den von den Akteuren auf der Bühne intendierten Fortgang der Handlung und stellt nach Neoptolemosʼ Ankündigung aus Vers 461 ff., Lemnos verlassen zu wollen, einen zweiten dra‐ matischen Impuls dar, der den bis dahin entwickelten Status der Handlung in eine neue Richtung lenkt. War die Szenerie nach Neoptolemosʼ Einwilligung und Philoktets euphorischer Reaktion in Vers 538 zu einer ersten Auflösung gelangt, so steigert der Auftritt des Kaufmanns – und damit das hinterszenische Ein‐ greifen des Odysseus – die dramatische Brisanz erneut. Nach dem Abtritt des dritten Akteurs in Vers 627 hat sich erneut eine dem ersten Teil des Epeisodions vergleichbare Gesprächssituation eingestellt: Wieder stehen sich Neoptolemos und Philoktet gegenüber, wieder scheint die Abreise von Lemnos unmittelbar bevorzustehen. Während dabei der Chor dem zweiten und dritten Teil des Epeis‐ odions still folgt, ist seine Präsenz bis zum Auftritt des dritten Schauspielers von entscheidender struktureller und motivischer Bedeutung. Die drei ausführlich besprochenen Äußerungen des Chors markieren dabei jeweils das Ende wich‐ tiger Monologe und reflektieren formal wie inhaltlich das unmittelbar Voraus‐ gegangene. Sie sind, wie gezeigt wurde, passgenau in den dramatischen und motivischen Kontext eingearbeitet: Gerade die Reaktion auf Philoktets ersten Monolog (v. 317 f.) war trotz ihrer standardisierten Form bereits von besonderer Brisanz geprägt gewesen, hatte sie doch zum einen die Ambivalenz der chori‐ schen Haltung vor Augen geführt, zum anderen in besonderer Weise auf das bereits entfaltete Mitleidsmotiv angespielt.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

Besonderes Augenmerk verdienen indes die beiden lyrisch komponierten Äußerungen des Chors innerhalb der Szene: Indem Sophokles hier den kon‐ ventionellen Doppelvers der chorischen Kommentierung in einer (für uns) bei‐ spiellosen Komposition an zwei Stellen durch korrespondierende Strophen er‐ setzt, schafft er einen besonderen Akzent. Für die Dramaturgie der Szene ist damit zweierlei gewonnen: Zum einen ist die Fülle chorischer Präsenz innerhalb der Szene punktuell nutzbar gemacht; zum anderen sind die lyrischen Passagen so fest im dramatischen Ablauf eingebunden, dass sie die Handlung nicht un‐ terbrechen, sondern geradezu fortsetzen und intensivieren. Dass an den ent‐ sprechenden Stellen kein Spannungsabfall eintritt, ist der Fortführung struktu‐ reller und sprachlicher Motive aus dem unmittelbar Vorangegangenen in den Strophen selbst geschuldet. Anders gesagt: Sophokles integriert die chorische, d. h. lyrische Ausdeutung der Situation, wie sie im Regelfall ein strophisches Chorlied (oder ein lyrischer Wechselgesang) leistet, mitsamt der einhergehenden Bühnenwirkung (Musik, Tanz) in die Szene selbst und macht sie zudem zum strukturellen Bestandteil des Epeisodions.75 Die metrische Korrespondenz der beiden Strophen ist dabei ein entscheidendes Moment: In den Trachinierinnen ist das Lied des Chors im ersten Epeisodion (v. 205 – 224) – formal die am ehesten vergleichbare Stelle unseres Dichters – ein spontaner, nicht strophisch komponierter Freudenausbruch.76 Hier ist der Eindruck ein anderer: Die Komposition trägt zur Strukturierung der Passage bei und stellt eine Verbindung zwischen den beiden Strophen her. Sie sind in besonderer Weise aufeinander abgestimmt, nehmen dabei unterschied‐ liche inhaltliche Momente und Zeitebenen in den Blick und geben so der ge‐ samten Szene einen strukturellen Rahmen. Stasimon (v. 676 – 729)77

Der Fortgang des ersten Epeisodions nach dem Auftritt des angeblichen Kauf‐ manns wurde bereits angedeutet. Hier soll ein kurzer Überblick zur Einordnung genügen.

75

76 77

Was B URTON (1980) über die Parodos S. 231 sagt („Perhaps the most impressive feature of this parodos is its fusion of action and emotion into an intensely dramatic whole to which chorus and actor together make their contribution“), lässt sich so – mutatis mu‐ tandis – auch auf den ersten Teil des vorliegenden Epeisodions anwenden. Auch hier versteht es der Dichter, aus den unterschiedlichen Formteilen mitsamt ihren Implika‐ tionen ein wirkungsvolles Ganzes zu komponieren, das die dramatische Situation in ihrer Gesamtheit abbildet. Vgl. dazu die Behandlung der Stelle S. 279 ff. J EBB (2004) S. 111: „the only proper στάσιμον of the play“.

1. Philoktet

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In seiner Unterredung mit Neoptolemos entfaltet der aufgetretene Akteur den (vorgeschobenen) Grund seines Kommens: Er sei hier, um Neoptolemos zur Eile zu mahnen, denn Phoinix und die Söhne des Theseus verfolgten ihn bereits (διώκοντες v. 561). Odysseus und Diomedes seien dagegen bestrebt, Philoktet zu fassen und ihn nach Troia zu bringen. Unmittelbarer Beweggrund der ange‐ stoßenen Rückholaktion sei ein Orakelspruch des Seher Helenos: Ohne Phi‐ loktet in ihren Reihen sei es den Griechen nicht möglich, Troia einzunehmen. Odysseus habe sich daher bereiterklärt, den vormals Ausgesetzten nötigenfalls mit Gewalt ins Heerlager zu bringen. Nach Philoktets entsetztem Aufschrei, er werde gezwungen werden, gleich einem Toten erneut ans Licht zu kommen (v. 622 – 625), verlässt der Kaufmann zügig die Bühne. Philoktet ist sich im Folgenden der gebotenen Eile voll und ganz bewusst; er fordert Neoptolemos nachdrücklich auf, sich gleich in Bewegung zu setzen (χωρῶμεν v. 635, ἴωμεν v. 637). Dieser verweist auf die Notwendigkeit günstigen Windes und schlägt seinem Gesprächspartner vor, gemeinsam in der Höhle die Dinge zusammenzusuchen, die Philoktet am nötigsten hat. Neben einem be‐ stimmten Kraut (φύλλον τι v. 649), das zur Schmerzlinderung beiträgt, findet dabei der Bogen Philoktets besondere Erwähnung. Neoptolemos, der sich aus den Belehrungen des Odysseus der überragenden Bedeutung dieser Waffe be‐ wusst ist (vgl. v. 68, 77 f., 113), fragt mit ehrfurchtsvoller Scheu nach der Er‐ laubnis, das Requisit berühren, ja, es sogar einem Gott gleich küssen und ver‐ ehren zu dürfen (v. 656 f.). Philoktet gestattet seinem zukünftigen Retter freimütig den Umgang mit seinem ganzen Besitz – im Besonderen mit seinem Bogen, den er als Lohn für eine gute Tat erhalten habe (v. 667 ff.). Vor dem ge‐ meinsamen Abtritt in die Höhle bekundet schließlich Neoptolemos seine enge Bindung zum Protagonisten: Es betrübe ihn nicht, Philoktet kennen gelernt und als Freund gewonnen zu haben; denn einer, der nach erlittenen Widrigkeiten gutes Verhalten an den Tag legt, sei als Freund nützlicher als jeder Besitz.78 Nach Vers 676 verlassen die Akteure schließlich den für das Publikum sichtbaren Teil der Bühne, worauf der Chor sein Standlied beginnt. Machen wir uns die Situation kurz bewusst. Der Auftritt des Kaufmanns hat der Szene ungeahnte Dynamik verliehen: Vor der durch das doppelte Verfol‐ gungsszenario aufgebauten Drohkulisse zeichnet sich der baldige Aufbruch von Lemnos als unvermeidlicher nächster Schritt innerhalb der Intrige lebhaft ab. Die Thematisierung des Orakels ruft dabei – wie bereits erwähnt – bei Neopto‐ lemos und dem Publikum die Ausführungen des Odysseus vom Beginn der Tra‐ 78

Man wird die Verse 671 – 673 – auch gegen die MSS – mit W EBSTER (1970) („must be given to Neoptolemos“ S. 110), J EBB (2004) und L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) Neopto‐ lemos geben und damit der Wiederherstellung von Doederlein folgen.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

gödie ins Bewusstsein. Dem über die wahren Zusammenhänge informierten Leser und Zuschauer ist damit erneut vor Augen geführt, dass die Einnahme Troias als Endzweck hinter den Maßnahmen zur Täuschung des Protagonisten steht. Das Bühnengeschehen rund um die Akteure Philoktet und Neoptolemos ist damit schlagartig in den größeren Zusammenhang der gesamten Intrige ge‐ rückt. Anders gesagt: Der durch den Auftritt des dritten Schauspielers erfolgte Impuls hat die Perspektive des Geschehens geweitet und dabei grundlegende Momente der Handlung (den Orakelspruch, die beabsichtigte Einnahme Troias sowie Odysseusʼ hinterszenischen Einfluss) überdeutlich ins Gedächtnis ge‐ rufen. Ihre bühnenwirksame Umsetzung in dramatische Handlung erfährt die in der Kaufmannsszene angerissene Thematik schließlich im Spiel um den Bogen in den Versen 652 ff., das einen Kulminationspunkt des bisherigen Handlungsver‐ laufs darstellt: Als Moment höchster Vertrautheit zwischen Philoktet und Neo‐ ptolemos führt die Szene zugleich das Zielobjekt der Intrige mitsamt ihrem Endzweck – der Einnahme Troias – geradezu handgreiflich vor Augen.79 Dabei steht der Bogen zugleich sinnbildlich für die aktuelle Lage des Protagonisten, der auf seinen Einsatz als Jagdwaffe angewiesen ist (vgl. Neoptolemosʼ Vermu‐ tungen v. 165 sowie Philoktets eigene Ausführungen 287 v.). In diesem Sinn laufen beide motivische Linien – der Bogen als Waffe zur Eroberung Troias auf der einen, als notwendiges Jagdinstrument Philoktets auf der anderen Seite – an diesem Punkt zusammen und konzentrieren die Aufmerksamkeit des Publi‐ kums auf den Kern der dramatischen Situation.80 Halten wir daher fest: Die Aussendung des Kaufmanns durch Odysseus hat ihren innerdramatischen Zweck erfüllt und die beteiligten Akteure in be‐ triebsame Eile versetzt. Dramaturgisch gesehen macht sie die enorme Brisanz der Bühnensituation deutlich: Sie ruft die hinterszenische Präsenz des Odysseus sowie den von ihm intendierten Fortgang der Geschehnisse erneut ins Ge‐ dächtnis und bietet die Gelegenheit, in einer motivischen Engführung den Bogen als zentrales Utensil des Intrigenkomplotts (vgl. v. 113) zu inszenieren.81 79

80 81

Ich verweise in der Frage des „Bogen-Mann-Problems“, d. h. der Problematik, ob das Helenos-Orakel nur die Mitnahme des Bogens oder die Anwesenheit Philoktets selbst vor Troia fordert, ausdrücklich auf V ISSER (1998), zu unserer Stelle im Besonderen die Seiten 100 – 110. So auch V ISSER (1998) S. 109 f., die der „Hervorhebung des Motivs ‚Bogen‘“ eine „wich‐ tige rezeptionsrelevante Funktion“ zuerkennt. Es ist dabei höchst bemerkenswert, dass Odysseus gerade seine wahre Absicht – die Einnahme Troias – zum Gegenstand der Intrigenrede macht. Der geschickte Einsatz der „Wahrheit“ im trügerischen Kontext soll so Philoktet nur noch schneller zur ge‐ wünschten Handlung bringen.

1. Philoktet

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Mit dem Abtritt der beiden Akteure nach Vers 676 kommt die dramatische Spannung zu einem vorläufigen und vordergründig harmonischen Ruhepunkt. Die augenfällige Intimität zwischen Neoptolemos und Philoktet schließt den ersten Teil der Intrige und damit der gesamten Handlung: Das Vertrauen des Protagonisten ist erlangt, die anfängliche Fremdheit und Unsicherheit im Um‐ gang miteinander ist einem freundschaftlichen Austausch gewichen, dem wei‐ teren Ablauf der Intrige scheint nichts mehr im Wege zu stehen. Seinen sinn‐ fälligen Ausdruck findet der erreichte Status der Handlung in einem bis dahin nicht genutzten Effekt: Zum ersten Mal innerhalb der Tragödie – also seit mitt‐ lerweile über 670 Versen – leert sich die Bühne vollständig, worauf der Chor ungestört die dramatische Situation reflektiert.82 Das Lied entfaltet in zwei Strophenpaaren eine Gesamtschau der bisher ent‐ wickelten Handlung, wie sie sich vor den Augen der Choreuten abgespielt hat. Erneut steht dabei die Figur des Protagonisten im Mittelpunkt, dessen leidvoller Vergangenheit der Chor eine hoffnungsfrohe Zukunftsaussicht entgegenstellt. Das Lied beginnt mit einem sprachlich scharf gezeichneten Kontrast:83 Der Chor habe durch Erzählung (λόγῳ) zwar gehört, jedoch nie mit eigenen Augen gesehen (ὄπωπα δʼ οὐ μάλα), wie Zeus seinen ehemaligen Lagergenossen an einem umlaufenden Rad gefangen hielt (δέσμιον ἔλαβεν). Der mythologische Bezug ist durch die Erwähnung der Einzelheiten – Teilhabe am Lagerplatz der Götter sowie das drehende Rad als Folterinstrument – auch ohne namentliche Nennung des Helden84 klar: Die Rede ist von Ixion, der als Strafe für die miss‐ brauchte Gastfreundschaft des Göttervaters an ein drehendes (Sonnen-)Rad ge‐ heftet wurde.85 Der Bezug zum unmittelbar Vorangegangenen innerhalb der dramatischen Handlung ist dabei an unserer Stelle noch nicht klar,86 das plötzliche mytholo‐ 82 83 84

85 86

Zu den Vermutungen, die beiden Akteure Neoptolemos und Philoktet könnten bereits vor oder während der zweiten Gegenstrophe auf die Bühne bzw. in das Blickfeld der Choreuten und des Publikums kommen vgl. die knappen Ausführungen weiter unten. Der Text des Liedes ist in vieler Hinsicht äußerst umstritten. Ich folge hier der Ausgabe von L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) und lasse Fragen der Textkritik und -rekonstruktion, soweit sie das Anliegen dieser Untersuchung nicht wesentlich berühren, außer Acht. Die in den codices überlieferte Angabe Ἰξίονα hinter ποτέ wurde u. a. aus metrischen Gründen gestrichen (K AMERBEEK (1980) S. 104: „[…] leaving out Ἰξίονα, considered as intrusive gloss“). Zur Identifikation des Mythos bedurfte es vor antikem Publikum einer Namensnennung sicherlich nicht. Vgl. R OSCHER (1965). „Ixion.“ in: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie Band II. 1, hrsg. v. W. H. R OSCHER (1965), Sp. 766 – 772. So auch V ISSER (1998) S. 125: „Dieser Anfang [des Stasimons] muß zunächst befremden; denn Ixion ist bisher an keiner Stelle des Stückes erwähnt worden, und ein Zusam‐ menhang mit Philoktet ist zunächst nur schwer auszumachen“.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

gische Schlaglicht wirkt überraschend. Dagegen lässt der Hinweis auf die man‐ gelnde Augenzeugenschaft hinsichtlich der Ereignisse um Ixion eine Kontras‐ tierung mit tatsächlich Erlebtem erahnen, zumal die Formulierung des ersten Verses (676) besonderen Nachdruck auf diesen Umstand legt: Das zunächst völlig unbestimmte λόγῳ eröffnet das Stasimon und erweist sich sogleich als genauere Bestimmung des folgenden Prädikats ἐξήκουσα, dem das kontrastie‐ rende ὄπωπα direkt folgt. Von besonderem Interesse sind die Tempora der beiden Formen: Drückt der Aorist ἐξήκουσα das (einmalige) Hören der Ixion-Geschichte in der Vergangenheit aus, so forciert das negierte Perfekt ὄπωπα die fehlende Kenntnis aus eigener Erfahrung. Nach der betont an den Schluss der Periode gestellten Subjektsangabe des ὡς-Satzes – παγκρατὴς Κρόνου παῖς – setzt das folgende Perfekt οἶδα den spezifischen Tempusgebrauch des Eingangs fort. In den beiden Partizipien κλυών und ἐσιδών findet zudem die Begrifflichkeit „Hören und Sehen“ aus dem ersten Vers des Liedes eine Fortset‐ zung. Der Chor konstatiert, er kenne sonst keinen anderen Menschen, der mit einem feindlicheren Los zusammengetroffen sei, als es das Schicksal dieses (τοῦδʼ v. 681) Menschen ist.87 Der sich anschließende Relativsatz klärt den viel‐ leicht zunächst missverständlichen Bezug des Demonstrativpronomens: Der in Rede Stehende hat niemandem etwas zu Leide getan, niemanden getötet, son‐ dern ist als Gleicher unter Gleichen (ἴσος ἐν ἴσοις) so unverdient zu Grunde gegangen (ὤλλυθʼ v. 685). Gemeint ist damit freilich Philoktet, wobei eine Na‐ mensnennung, wie schon bei Ixion zu Beginn der Strophe, nicht nötig ist. In Analogie zu τοῦδʼ v. 681 sticht auch hier das hinweisende ὧδʼ (v. 685) hervor.88 Es lohnt dazu erneut ein Blick auf den Tempusgebrauch: Der demonst‐ rative Aspekt verbindet sich mit dem Aorist ὤλλυθʼ und schildert so ein Ge‐ schehen aus der Vergangenheit. Anders gesagt: Der Chor ist nach dem mytho‐ logischen Schlaglicht an unserer Stelle zwar bei Philoktet als der für die Reflexion entscheidenden Person, allerdings explizit (noch) nicht in der drama‐ tischen Gegenwart angekommen; was sich im Folgenden anschließt, versteht sich dezidiert als Blick in die Vergangenheit. Dem entspricht der konsequente Gebrauch der verbalen Vergangenheitsformen (Indikativ der Nebentempora sowie iterative Aoriste) im Folgenden.

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Wie schon V ISSER (1998) S. 125 gesehen hat, ist der Vergleichspunkt zwischen der my‐ thologischen Gestalt und dem Protagonisten der Bühnenhandlung ausschließlich die „Feindlichkeit des Schicksals“, während sich die beiden Personen sonst „kategorial“ unterscheiden. Sicherlich wird dabei – wie wohl schon in Vers 681 – eine in die Richtung der Höhle weisende Geste des Chors den Vortrag begleitet und die Identifikation mit dem Prot‐ agonisten deutlich gemacht haben.

1. Philoktet

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Ein weiteres Demonstrativpronomen markiert den Fortgang der Reflexion: Dieser staunenswerte Umstand (τόδε θαῦμα v. 686) hält den Chor in seinem Bann: Wie nur, so die angeschlossene Frage, konnte Philoktet, der doch ganz alleine das Brausen der Brandung hört, so sein tränenreiches Leben behaupten (κατέσχεν v. 690)? Auch hier gesellt sich zum Demonstrativpronomen τόδε (v. 686) mit οὕτω (v. 689) ein hinweisendes Adverb, das den Blick deutlich auf die geradezu vor Augen liegenden Lebensumstände des Protagonisten lenkt. Unter Rückgriff auf den Beginn des Stasimons hat sich bereits hier ein Kreis ge‐ schlossen: War dort die fehlende Augenzeugenschaft inhaltlich ein bestim‐ mendes Moment, so macht die Häufung der Demonstrativa an unserer Stelle klar, dass der Chor in Philoktets Fall auf eigene Erfahrung zurückgreifen kann und sich diese unter Verweis auf die Bühnensituation und das eben Erlebte ak‐ tuell ins Bewusstsein ruft. Der thematisch-perspektivische Rahmen ist damit abgesteckt: Es folgt ein erneuter Blick auf die Lebensumstände des Protago‐ nisten, der unter der Leitmotivik vom Beginn des Stasimons zum Panorama des feindlichen Schicksals (v. 681 f.) Philoktets wird, das – und das ist die Besonder‐ heit dieses Liedes – aus Sicht des Chors der Vergangenheit angehört. Die Gegenstrophe nimmt dementsprechend Philoktet selbst (αὐτός v. 691) in den Blick und stellt syntaktisch die Fortführung der bereits begonnenen Periode dar: Mit ἵνα (v. 691), „wo“, ist auf das konkrete Umfeld des Helden, seine Umwelt und damit die erlebte Bühnensituation verwiesen. Der ausgreifende Nebensatz präzisiert damit das „tränenreiche Leben“ (v. 659), erfüllt den abstrakten Begriff mit Leben und setzt die demonstrativen Gesten der vorangegangenen Strophe fort. Zunächst erfährt Philoktets Einsamkeit (und in Verbindung damit seine furchtbare Krankheit) ihre poetische Ausgestaltung: Der Heros sei alleine ge‐ wesen (ἦν) und habe weder Zugang zu einem Nachbarn89 noch einen Einhei‐ mischen als Leidensgenossen gehabt, bei dem er seine Krankheit hätte beweinen können. Die konkrete Ausgestaltung dieser Passage ist von herausgehobener und bisher ungekannter Drastik: Folgen wir dem Text von L LOYD -J ONES /W ILSON (1990), so kommen der Krankheit (νόσον) als dem Gegenstand von Philoktets Klage die Adjektive βαρυβρῶτα und αἱματηρόν – „tief nagend“ und „blu‐ tenden“ – zu, während das Stöhnen selbst (στόνον) als ἀντίτυπον – „widerhal‐

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So nach dem Text von L LOYD -J ONES /W ILSON (1990), die einer Konjektur von Bothe folgen. Ich tendiere an dieser Stelle allerdings mit J EBB (2004) und K AMERBEEK (1980) S. 106 zur Beibehaltung des (einhellig!) überlieferten πρόσουρος in Vers 691 (statt πρόσουρον) und lese: „Er war selbst sein eigener Nachbar, da ihm die Kraft zum Gehen fehlte“ (vgl. LSJ „power to step“ s.v. βάσις). Gegen dieses wirkungsstarke Oxymoron (vgl. K AMERBEEK a. a. O.) verblasst die konjizierte Lesart erheblich.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

lend“ – charakterisiert wird.90 Damit ist eine Funktion des nicht vorhandenen Leidensgenossen bestimmt: Er hätte als Gegenüber des gequälten Helden zu dessen Tröstung beitragen können. Damit nicht genug: Die in αἱματηρόν an‐ gerissene Blutmotivik erhält im folgenden, mit οὐδʼ ὅς angeschlossenen Rela‐ tivsatz (v. 696 ff.) ihre konkrete Ausgestaltung: Philoktet habe niemanden ge‐ habt, der den aus seinem Fuß hervorbrechenden warmen Blutstrom mit aufgehobenen Blättern hätte stillen können. Das Lied hat hier seinen Höhepunkt an anschaulicher und wortgewaltiger Schilderung gefunden. Dabei ist die Dar‐ stellung des Krankheitsanfalls keineswegs Selbstzweck und erschöpft sich nicht in der reinen Wiedergabe möglichst abstoßender Details. Sie ist vielmehr ein‐ gebunden in die Einsamkeitsthematik und stellt mit der Schilderung eines An‐ falls (σπασμός91 v. 699) den bitteren Alltag des einsamen Helden dar: Als Mittel der äußersten Drastik entwirft der Chor das Bild des einsamen Philoktet, dem nicht nur kein Gesprächspartner zur Verfügung stand, sondern der seinen Krankheitsanfällen hilflos ausgeliefert war.92 Vom fehlenden Eingreifen eines Nachbarn wendet sich der Blick in Vers 701 wieder auf Philoktet selbst, wobei der Subjektswechsel durch δʼ forciert wird: Der Held kroch hin und her und wandte sich dabei wie ein der Amme entrissenes Kind zu den Plätzen, wo sich auf Grund der Beschaffenheit des Weges Erleich‐ terung einstellte (πόρου εὐμάρεια), sobald die Not nachließ. Der eingebundene Vergleich des Protagonisten mit einem Knaben (παῖς v. 703) variiert das Motiv der unbedingten Hilflosigkeit und Einsamkeit unter anderen Vorzeichen und findet nach der farbigen Schilderung des Krankheitsanfalls ein intimeres, aber nicht weniger eindrucksvolles Sprachbild. Durch δακέθυμος ἄτα (v. 705) schließt die Gegenstrophe den Blick auf die Beschwernisse des Helden mit einem gewichtigen Begriff, der die umfassende Leidensthematik des Stasimons in dessen Mitte verbalisiert. Syntaktisch schließt die zweite Strophe an das Vorangegangene an und setzt die umfangreiche Periode mit Philoktet als ihrem Subjekt fort. Thematisch hat sich der Fokus allerdings verschoben: Nicht mehr die umfassende Einsamkeit und Hilflosigkeit des von seinem Leiden geplagten Helden, sondern sein ent‐ behrungsreicher Lebenswandel hinsichtlich der Ernährung steht nun im Blick der chorischen Reflexion. So habe der Heros als Nahrung keine Saat der Erde

90 91 92

Durch ihre Konjektur νόσον umgehen L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) die Häufung der sonst auf στόνον bezogenen Adjektive (so W EBSTER (1970) S. 112: „all the adjectives qualify στόνον“). So die lückenfüllende Konjektur von D AWE (1979), dem sich L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) anschließen, während J EBB (2004) vorschlägt, αἱμάς „Blutstrom“ zu ergänzen. Vgl. S CHMIDT (1973) S. 132.

1. Philoktet

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aufgesammelt (ἱερᾶς γᾶς σπόρον v. 707) noch irgendetwas anderes, von dem sich die betriebsamen Menschen sonst ernähren; einzig die Jagd mit Pfeil und Bogen habe es ihm gestattet, seinem Bauch etwas Nahrung zu verschaffen (ἀνύσειε γαστρὶ φορβάν v. 711). Die Mitte der Strophe nimmt darauf ein mitleidsvoller Ausruf ein:93 ὦ μελέα ψυχά (v. 712) – „Oh elendes Leben / oh elender Mensch!“94 Die lebhafte Imagi‐ nation des Protagonisten gipfelt an unserer Stelle in einer direkten Ansprache, die keinen Zweifel an der emotionalen Verfasstheit des Chors zulässt.95 Ein fol‐ gender Relativsatz bringt den Blick auf die Vergangenheit des Protagonisten zu seinem Abschluss und reichert die Nahrungsthematik der Strophe um ein wei‐ teres konkretes Bild an: Philoktet hat über die Dauer von zehn Jahren keinen Wein mehr genossen, sondern stehende Gewässer genutzt. Der Aorist ἥσθη (v. 715) ist dabei bewusst gesetzt: Er kontrastiert mit dem folgenden, die Gewohn‐ heit Philoktets verbalisierenden Imperfekt προσενώμα (v. 717) und macht so überdeutlich, dass dem Helden im angegebenen Zeitraum von zehn Jahren selbst einmaliger Weingenuss versagt blieb. Vor dem Hintergrund der Imagination des am Boden kriechenden Helden aus der ersten Gegenstrophe ergibt sich auch hier ein eindrucksvolles und lebhaftes Bild: So hielt Philoktet zunächst Ausschau (λεύσσων), um eine geeignete Was‐ serstelle ausfindig zu machen, und bewegte sich dann darauf zu (προσενώμα). Machen wir uns im Überblick klar: Das Motiv „Nahrung“ rahmt den ersten Teil der Strophe durch die Klammerstellung von φορβάν v. 707 sowie 711 be‐ grifflich. Die Verbindung zur vorangegangenen Gegenstrophe ist dabei von as‐ soziativer Bildhaftigkeit: War schon in der Krankheitsschilderung die Rede vom Aufnehmen der Blätter und Kräuter von der nährenden Erde (φορβάδος τι γᾶς v. 700), so nutzt die zweite Strophe die verwendeten Begrifflichkeiten zur poetischen Umsetzung der Nahrungsthematik. Kontrastiert werden dabei, ähn‐ lich wie in der zweiten Gegenstrophe, zunächst ein Mangel bzw. eine nicht an den Tag gelegte Verhaltensweise sowie die tatsächlichen Handlungen bzw. Zu‐ stände des Helden. Der zweite Teil der Strophe (v. 714 ff.) thematisiert in ähnli‐ cher Gegenüberstellung die Einschränkungen Philoktets hinsichtlich seines Trinkverhaltens, wobei, wie S CHMIDT zu Recht anmerkt, der Mangel an Wein‐

93 94 95

Vgl. B URTON (1980) S. 263: „a cry of compassion“. Vgl. W EBSTER (1970) zum folgenden Relativpronomen ὅς S. 113: „the sense construction shows how near ψυχή is to meaning the whole personality“. Dagegen S CHMIDT (1973), der S. 133 zum Schluss kommt, „daß es sich hier im Stasimon ebensowenig wie vorher in den beiden eingelegten Strophen […] um Mitleidsäuße‐ rungen des Chores handelt“.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

genuss die Implikation der Ausgeschlossenheit von menschlicher Gesellschaft beinhaltet.96 Eingebunden in dieses letzte Moment der Vergangenheitsbetrachtung ist dabei der betonte Hinweis auf die Dauer der Entbehrungen (δεκέτει χρόνῳ v. 715). Die mehr oder minder unbestimmten Angaben des Liedes werden so mit einer konkreten Zahl unterfüttert, deren Nennung gerade am Schluss des Lei‐ denspanoramas einen wirkungsvollen Kontrast zum sich anschließenden νῦν δʼ herstellt.97 Ein betontes, die abschließende Gegenstrophe einleitendes „jetzt aber“ (v. 719) bildet das Gegengewicht zum ausführlichen Blick in die Vergangenheit, wie ihn die ersten Strophen dargeboten haben. An unserer Stelle ist der Chor explizit in der Gegenwart, d. h. beim momentanen Stand der Dinge angekommen. Nun, da Philoktet auf den Sohn „anständiger“ Männer (ἀνδρῶν ἀγαθῶν) getroffen sei, werde er glücklich und groß (εὐδαίμων καὶ μέγας v. 720) aus jenen Übeln (ἐκ κείνων) hervorgehen.98 Auf den angesprochenen „Sohn“ (παῖς v. 719) bezieht sich der folgende Re‐ lativsatz: Dieser bringe Philoktet nach der Dauer vieler Monate99 auf dem Schiff zurück in dessen thessalische Heimat. Deren „mythologisch“100-geographische Bestimmung bildet den Schluss des Stasimons. Konkret spricht der Chor dabei von der heimatlichen Wohnstatt der maliadischen Nymphen (πατρίαν αὐλὰν Μηλιάδων νυμφᾶν) und den Ufern des Spercheios (Σπερχειοῦ ὄχθαι) – dem Ort, wo Herakles – der „Mann mit dem ehernen Schild“ (ὁ χάλκασπις ἀνήρ) – seine Apotheose erlebt und sich als Gott (θεός),101 hell erleuchtet von göttlichem Feuer, den Göttern genähert habe. Die erneut geographische Angabe Οἴτας ὑπὲρ ὄχθων – „über den Hügeln des Oita“ – schließt die Gegenstrophe ab.

96 97

98 99 100 101

Vgl. S CHMIDT (1973) S. 132. Mit einigem Recht wird man davon ausgehen können, dass mit der konkreten Zeitan‐ gabe auch die zehnjährige Belagerung Troias evoziert wird, deren Ende der Chor nun bereits vor Augen hat. Als Subordinierte des Neoptolemos werden die Schiffsleute schließlich auch an den kriegerischen Handlungen sowie dem Alltag im Heerlager be‐ deutenden Anteil gehabt haben. Eingeflochten in die Beschreibung der Lebensum‐ stände des Haupthelden ist so eine subtil auf sie selbst bezogene Aussage der Choreuten. J EBB (2004) S. 119: „will finish his course in happiness“. Zum Dativ πλήθει vgl. K AMERBEEK (1980) S. 109. V ISSER (1998) S. 131 verweist zu Recht auf diese problematische „Terminangabe“, deren Interpretation durchaus umstritten ist. Der Begriff „mythologisch“ ist in diesem Zusammenhang problematisch, da Herakles in innerem Zusammenhang mit der Handlung steht und nicht, wie Ixion, als kaum greifbares, im besten Sinne „mythisches“ (λόγῳ ἐξήκουσα) Exempel angeführt wird. So die bei L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) gegebene Konjektur Hermanns für das metrisch unpassende πᾶσι.

1. Philoktet

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Die Interpretation der Gegenstrophe ist in mancher Hinsicht problematisch. Die mit νῦν δʼ eingeleitete Periode bietet einen Blick in die Zukunft: Das Futur ἀνύσει steht zu den Vergangenheitsformen der verklungenen Strophen in augenfäl‐ ligem Kontrast und bildet geradezu den Fluchtpunkt der gesamten Gedanken‐ bewegung (vgl. ἐκ κείνων). Dabei verbalisiert das Partizip ὑπαντήσας (im Kon‐ trast zum vorigen οὐκ ἔχων v. 691) den der positiven Zukunftsaussicht zu Grunde liegenden Umstand. Vor dem Hintergrund der im Lied entfalteten Ver‐ gangenheit des Protagonisten ist damit die radikale Wende für Philoktet darge‐ stellt: War gerade seine Einsamkeit und die daraus resultierende absolute Hilf‐ losigkeit das bestimmende Moment seines Daseins auf Lemnos, so ist es die Begegnung mit dem namentlich ungenannten Neoptolemos, die sein „tränen‐ reiches Leben“ (v. 689) zu Glück und Größe wenden wird. Wie schon in den vorherigen Strophen (v. 684, 694, 696, 713) konkretisiert daraufhin ein Relativsatz die aufgeworfene Thematik und schildert die unmit‐ telbar bevorstehende Überführung Philoktets in dramatischer Vergegenwärti‐ gung als bereits gegenwärtiges Ereignis (ἄγει). Mit der mythologischen Aus‐ leuchtung der geographischen Angaben löst sich das Stasimon an seinem Ende (scheinbar) aus der unmittelbaren Fokussierung auf Philoktet zu Gunsten eines farbig ausgestalteten Schlaglichts auf die Apotheose des Herakles. Wie schon zu Beginn des Liedes, so scheint sich auch hier sein Ende vom unmittelbaren Zusammenhang innerhalb der Handlung abzuheben.102 Ich gehe aus den gegebenen Gründen (kontrastierender Tempusgebrauch, syntaktische Parallelen zwischen den Strophen, Bündelung der entfalteten Mo‐ tive in der zweiten Gegenstrophe sowie strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Beginn und Ende des Liedes), wie auch S CHMIDT, grundsätzlich von der „ein‐ heitlichen Konzeption“103 des Stasimons aus. Das augenscheinliche Auseinanderfallen des vom Chor gezeichneten posi‐ tiven Bildes der bevorstehenden Heimholung Philoktets und der tatsächlichen dramatischen Situation104 gab Anlass zu vielfältigen Lösungsvorschlägen. Die von V ISSER erstellte kenntnisreiche Übersicht105 lässt dabei zwei Grundpositi‐ 102

103 104 105

Dass an unserer Stelle jedoch keineswegs der dramatische Horizont verlassen wurde, wird die explizite Bezugnahme des Protagonisten auf den Tod seines Freundes im fol‐ genden Epeisodion (v. 801 f.) erweisen. Mehr dazu unten. Darüber hinaus darf man davon ausgehen, dass die Rezipienten von der besonderen Beziehung zwischen He‐ rakles und Philoktet (vgl. v. 262 !) wussten. S CHMIDT (1973) S. 132. So auch K AMERBEEK (1980) S. 109: „There is no break in the song“, der allerdings andere Schlüsse daraus zieht. V ISSER (1998) S. 129: „Die Erklärung des Chores, Neoptolemos werde Philoktet in die Heimat bringen, stimmt mit der unmittelbar vorliegenden Situation nicht überein“. V ISSER (1998) S. 129 – 133.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

onen deutlich hervortreten: Während auf der einen Seite versucht wird, die Aussage des Chors dramenimmanent, d. h. als dezidierte Ausdeutung der Situ‐ ation aus der Perspektive der Choreuten zu verstehen – wobei im Besonderen der mögliche Wiederauftritt bzw. das Erscheinen der abgetretenen Akteure be‐ reits in Vers 719 in Erwägung gezogen wird – , plädiert man auf der anderen Seite für eine Herauslösung der Partie aus dem unmittelbaren Kontext. So seien hier wahlweise die Erwartungen Philoktets, die Gedanken des Neoptolemos oder die auf das Ende der Tragödie hinweisende Stimme des Dichters zu ver‐ nehmen. Eine ausführliche Diskussion dieser Positionen soll hier nicht erfolgen, ebenso wenig eine favorisierende Übernahme einer Ansicht. Man wird sich V ISSER anschließen, wenn sie zugibt: Eine Entscheidung zwischen den Möglichkeiten (1) und (2) [d. h. der dramenimma‐ nenten Interpretation der Gegenstrophe oder ihrer Herauslösung aus dem Kontext] scheint mir hier – allein von der Basis des Textes aus – nicht mehr möglich zu sein.106

Demgegenüber will die vorliegende Interpretation versuchen, auf der Basis des durchaus ambi- und polyvalenten Texts einige genuin dramaturgische Implika‐ tionen des Liedes herauszustellen, die seine Positionierung, Gestaltung und Funktion erhellen.107 Ich gehe dabei mit B URTON davon aus, dass sowohl ein Wiederauftritt von Philoktet und Neoptolemos vor dem eigentlichen Ende des Liedes, d. h. in Vers 719,108 als auch die Annahme, die Choreuten sprächen in der

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108

V ISSER (1998) S. 133. So versuche ich auch hier erneut, den Chor und seine Lieder nicht nur partiell als ein „Instrument des Dichters“ zu verstehen (vgl. V ISSER (1998) S. 130), sondern ihn in seiner ganzen Präsenz als ein solches zu erweisen. Konkret: Nicht nur die zweite Gegenstrophe stellt eine – wie auch immer geartete – Einflussnahme des Dichters auf sein Publikum dar, sondern das ganze Stasimon ist wesentlich unter dramaturgischen und publikums‐ führenden Gesichtspunkten komponiert. Ich muss in diesem Sinn S CHMIDT (1973) S. 129 f. widersprechen, wenn er dem Chor des Philoktet die – um mit K RANZ (1933) zu sprechen – Funktion der „Begleitung, Gliederung, Vertiefung des Dramas“ nur mit Mühe zusprechen kann und in dieser Hinsicht von einem möglichen „Rollenwechsel“ des „ganz als Nebenperson gestalteten“ Chors spricht. Wie sehr gerade das Stasimon durch seine prominente, effektvolle Positionierung zur Gliederung der Tragödie bei‐ trägt, hat die vorliegende Interpretation auszuleuchten versucht. Schließlich äußert sich S CHMIDT selbst, wenn auch kurz, zur genuin dramaturgischen „Funktion“ des Liedes S. 134. So z. B. J EBB (2004) S. 119 zu v. 718 f. „As Ph. and Neoptolemos are now seen to be leaving the cave […]“; G ARDINER (1987) S. 34 f.: „Then, as the two actors appear from the cave, the chorus revert to the deception“ sowie in der zugehörigen Anm. 42 „This movement was assumed by Jebb and has been widely accepted […]“.

1. Philoktet

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Meinung, zumindest von den Akteuren gehört zu werden,109 nicht notwendig sind, um das Stasimon mitsamt seiner zweiten Gegenstrophe zu verstehen – ja dass sogar ein Wiederauftritt vor Vers 730 den intendierten Kontrasteffekt im Übergang vom Lied zur Szene mindern, wenn nicht gar zerstören würde.110 Es wird nun nötig sein, den unmittelbaren Kontext des Liedes und seine Wir‐ kung zu beleuchten. Zu diesem Zweck soll zunächst noch einmal der Aufbau des Liedes rekapituliert werden. Nach dem abrupten Beginn mit seinem Bezug auf Ixion konkretisiert die erste Strophe den dramatischen Bezug: Als Rahmenthema der folgenden Reflexion ist das unverhältnismäßige Leid des Protagonisten abgesteckt, dessen Schilde‐ rung den Mittelteil des Stasimons darstellt. Dabei sind die Einsamkeit und die konkreten Entbehrungen hinsichtlich der Versorgung mit Nahrung die zent‐ ralen Motive. Die in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Schilderungen ver‐ steht der Chor als der Vergangenheit zugehörig, wohingegen die zweite Gegen‐ strophe die grundsätzliche Wende des Geschehens thematisiert. Ganz in der imaginierten Szene aufgehend verschiebt der Chor dabei seinen Fokus vom un‐ mittelbar greifbaren Umfeld, d. h. der konkreten Bühnensituation als dem Ort von Philoktets Vergangenheit, hin zur außerhalb des lokalen Rahmens liegenden Heimat des Protagonisten. Innerhalb der ausgreifenden Imagination des Mittelteils erfahren wir also nichts wesentlich Neues. Vielmehr können wir sogar sagen: Sämtliche Motive, die im Stasimon ihre Ausgestaltung finden, sind im bisherigen Verlauf der Tra‐ gödie zumindest angeklungen, wenn ihnen nicht sogar zentrale Bedeutung zukam. Dabei fallen zunächst die zum Teil begrifflichen Bezüge zur Parodos ins Auge. Die Einsamkeit des Helden war schon in der Auftrittsszene des Chors bestimmendes Thema: Mit dem programmatischen μόνος (v. 688) ist ein Zent‐ ralbegriff dieser Partie (v. 172 sowie 182) wieder aufgenommen. Zudem wieder‐ holt die Partizipialkonstruktion οὐκ ἔχων […] τινʼ ἐγχώρων (v. 691) die Wortwahl der Parodos, in der es hieß μή […] σύντροφον ὄμμʼ ἔχων (v. 170 f.). Die Schilde‐ rung des Anfalls liest sich vor diesem Hintergrund geradezu als Konkretisierung der in der Parodos konstatierten νόσος ἀγρία (v. 173) und ὀδύναι (v. 185). Die dort aufgeworfene Frage nach dem schier unermesslichen Durchhaltevermögen des Protagonisten πῶς ποτε πῶς […] ἀντέχει (v. 175 f.) findet ihr Echo in Vers 687 ff.: πῶς ποτε πῶς […] κατέσχεν. Das einleitende τόδε […] θαῦμά μʼ ἔχει ist dabei die späte Antwort auf Neoptolemosʼ entschiedenes οὐδὲν τούτων 109 110

So z. B. S CHMIDT (1973) S. 132: „Sie [S CHMIDT s Interpretation] setzt voraus, daß der Chor das Lied wenigstens in der Annahme singt, daß Ph es hören könne“. B URTON (1980) S. 237: „This would destroy the intensely dramatic effect of the attack of agony following immediately upon the exalted optimism of the end of the song“.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

θαυμαστὸν ἐμοί v. 192. Weitere bereits in der Parodos angedeutete Nebenmotive und Parallelen sind außerdem das jammernde, widerhallende Klagen des Prot‐ agonisten (στόνος ἀντίπυρος ἀντίτυπος) schon in v. 186 ff., 208 f., 216 f. und das Bild des kriechenden Helden aus v. 206 f. (unter Wiederholung des Begriffs ἕρπω in v. 701, während das drastische εἰλυόμενος v. 702 Philoktets eigene Wortwahl εἰλυόμην aus v. 291 widerspiegelt). Auch die Nahrungsproblematik war bereits im Auftrittslied des Chors ange‐ sprochen worden (Neoptolemosʼ Erklärung v. 164 f. sowie λιμῷ v. 186); die kon‐ krete Ausgestaltung im Standlied speist sich dagegen im Einzelnen aus der Schilderung des Protagonisten, die er in den Versen 287 ff. gegeben hatte (vgl. v. a. die Angabe γαστρί v. 287 sowie 711 und die Thematisierung der Trankbe‐ schaffung v. 292 ff.). Dass dabei Philoktet auf Lemnos keine „helfende Hand“ zur Seite stand (v. 694 ff.), hatte er in seiner umfassenden Schilderung der eigenen Situation bereits selbst angedeutet (v. 280 ff.). Auch der zweite ausführlichere Monolog des Protagonisten (v. 468 – 506) dient dem Chorlied geradezu als motivische Fundgrube: So sind die geographischen Details – der Fluss Spercheios sowie das Oita-Gebirge – am Ende des Liedes bereits in Philoktets Bitte v. 488 ff. genannt worden. Eine subtilere Reminiszenz innerhalb des Stasimons erfährt des Weiteren die im direkt vorangegangenen Gespräch virulente Bogenthematik. So entsprechen die Aussagen zur Nahrungsbeschaffung mit Hilfe der Waffe in der zweiten Strophe (v. 710 f.) zwar durchaus der von Philoktet selbst gegebenen Schilde‐ rung, wiederholen damit die bereits etablierte Motivik und Bildersprache und insinuieren in keiner Weise einen direkten Bezug auf die Bedeutungsaufladung, die das Requisit im ersten Epeisodion erfahren hat. Andererseits stellt die pro‐ minente Bezugnahme auf die Apotheose des Herakles am Ende des Liedes einen – wenn auch zunächst vielleicht nicht direkt greifbaren – Bezug zur Bo‐ genthematik dar: Mit dem Wissen um die Vorgeschichte der Waffe als eines Geschenks an Philoktet für dessen aktives Einschreiten bei der Verbrennung des Herakles (v. 801 f.) erscheint die Schlussszene des Liedes in neuem Licht. Sie fungiert so nicht mehr als kontextfreier, mythologischer Abschluss eines Liedes, das seinen Fokus vom unmittelbaren dramatischen Geschehen abgewendet hat. Vielmehr berührt das Lied in dieser Partie ein zentrales Motiv der Tragödie in imaginativ-assoziativer Manier und leistet einen Beitrag zur unterschwelligen

1. Philoktet

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Heraklesthematik der Tragödie,111 die im Auftritt des Vergöttlichten in Vers 1409 kulminieren wird.112 Es ist klar geworden: Das Stasimon verarbeitet und intensiviert unter leichter Verschiebung der Perspektive Motive aus zentralen Partien der Tragödie teils expressis verbis, teils auf subtile Weise, die erst ein Blick über die gesamte Tra‐ gödie und die ihr zu Grunde liegenden Motivstränge zu Tage fördert. Das Lied beantwortet als rein chorische Passage im Besonderen die Parodos als bisher längste lyrische Partie sowie den Bericht des Protagonisten v. 254 – 316. Von entscheidender Bedeutung ist bei dieser Spiegelung und Wiederaufnahme die zeitliche Einordnung: Der Chor bezeichnet bewusst einen Wendepunkt inner‐ halb des Geschehens, indem er die Bündelung und drastische Ausarbeitung ent‐ scheidender Motive als Blick in die Vergangenheit inszeniert, dem eine dezi‐ dierte Zukunftsaussicht entgegengestellt wird. Das Standlied füllt so den nach dem Abgang der Akteure erreichten Ruhepunkt mit einer Gesamtschau über das Drama, wie es sich bis zu diesem Punkt ereignet hat. Dieser herausgeho‐ benen Funktion entspricht seine bewusste Positionierung im Rahmen der Bin‐ nenstruktur der chorischen Partien: Es markiert mit seinem Panorama bewusst die Mitte der Tragödie113 und kontrastiert mit den im ersten Epeisodion einge‐ passten Strophen. Während diese jeweils zur Intensivierung des aktuellen Mo‐ ments dienten und dabei nur einen begrenzten argumentatorischen bzw. emo‐ tionalen Aspekt entfalteten, bietet das Lied an unserer Stelle einen umfassenden, die unmittelbaren Grenzen des Bühnengeschehens übersteigenden Rundum‐ blick. In diesem Sinn bereitet es Zuschauer und Leser auf eine Wende innerhalb des Geschehens vor:114 Es markiert die Gelenkstelle der Handlung durch moti‐ vische Engführung im Rahmen einer sinnstiftenden Einteilung des Geschehens in Vergangenheit und Gegenwart / Zukunft. Seine besondere dramaturgische Brisanz erfährt das Stasimon aus der be‐ wussten Differenz zwischen dem in ihm ausgedeuteten Zeitverhältnis und dem unmittelbaren Zusammenhang innerhalb des Handlungsverlaufs. Konkret ge‐ sagt: Das Wissen des Zuschauers um die dramatische Situation mitsamt der zu 111

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So stellt auch W EBSTER (1970) an einigen Punkten der Tragödie subtile Bezüge zu He‐ rakles fest (vgl. seine Kommentierung zu Vers 453 mit Verweis auf Vers 4 S. 100). Die von ihm gerade in diesen geographischen Zuweisungen entdeckten Hinweise auf die Verbindung zwischen Philoktet und Herakles finden dementsprechend an unserer Stelle am Ende des Stasimons einen ersten Kulminationspunkt. Keine Erwähnung im vorliegenden Standlied finden dagegen die Orakel- sowie die Troiathematik. Vgl. S. 101, Anm. 43. So auch B URTON (1980) S. 238: „So that […] we are not unprepared for a peripateia of emotions, a change from pity to hope for the future“.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

ihrem Höhepunkt entwickelten Intrige macht ein affirmatives Nachvollziehen der chorischen Ausdeutung schwierig, geradezu unmöglich. Dabei fällt nicht nur die umstrittene zweite Gegenstrophe aus dem Rahmen. Schon der Blick in die Vergangenheit, wie ihn das Stasimon entwirft, ist dabei problematisch: So entspricht das hier in den ersten drei Strophen gezeichnete Bild des Protago‐ nisten nur zum Teil der im Drama bisher erlebten Präsenz. In seiner ausführli‐ chen Drastik und Zentrierung auf das Leid stellt es einen leichten Gegenpol zum bereits zitierten Monolog des Helden (v. 254 – 316) dar, der – neben Klage und Jammer – den Fokus eher auf die Bewältigung der einzelnen Probleme legte.115 Anders gesagt: Philoktet war auf der Bühne zwar durchaus als Leidender prä‐ sent, die ausgreifende Farbigkeit und Drastik entspringt allerdings an unserer Stelle – wie schon in der Parodos – der Imagination des Chors und hat keinen direkten Rückhalt im dramatischen Spiel. Diese subtile Akzentverschiebung findet ihren Gegenpart im Ausblick auf die Zukunft: Dass Philoktet nun „glück‐ lich und groß“ aus den gegenwärtigen Übeln hervorgehen werde, entspricht genauso wenig der Erwartung des informierten Zuschauers und der sich an‐ schließenden Szene wie die drastische Zeichnung der Vergangenheit der bishe‐ rigen Realisierung von Philoktets Leid auf der Bühne. Das reale, d. h. dramati‐ sche Zeitverhältnis, ist im Vergleich zum Stasimon gerade umgekehrt: Während die Bühnenhandlung bis jetzt einen zwar leidenden, jedoch standhaften und ausdauernden Philoktet inszeniert hat, gehört der vom Stasimon im Rahmen einer Vergangenheitsschau geschilderte Ernstfall der Einsamkeit und Hilflosig‐ keit, d. h. der Krankheitsanfall, der kommenden Szene an. Nicht nur, dass damit der optimistische Ausblick schlagartig mit der eindrucksvollsten, emotionalsten und eindringlichsten Szene kontrastiert; die Ausgestaltung der Vergangenheit realisiert sich als entscheidendes, die Peripetie auslösendes Moment der Tra‐ gödie in ungeahnter Drastik. Dass dabei dem leidenden Protagonisten bei seinem Anfall ein „Freund“ zur Seite steht, stellt natürlich eine gewisse Abwei‐ chung zu dem in der ersten Gegenstrophe präsenten und bestimmenden Ein‐ samkeitstopos dar. Die unverhohlene Anschaulichkeit der Szene ruft allerdings das im Stasimon evozierte Bild in seiner ganzen Wirkmächtigkeit wieder auf, während die von Neoptolemos an den Tag gelegte Hilflosigkeit angesichts der 115

Noch viel entschiedener S CHMIDT (1973) S. 129: „Während dort [im Monolog des Prot‐ agonisten] nach einer Andeutung des Ausmaßes alle Ausweglosigkeit gemeistert war, erscheinen hier [im Stasimon] die Entbehrungen als unbezwingbare Widerstände und sogar in einer bisher nicht vernommenen Dimension“. Seine Einschätzung, die Art der Darstellung von Philoktets Lasten sei hier im Stasimon „völlig unabhängig vom Leid‐ bericht“ scheint mir in Anbetracht der aufgezeigten Motivübernahmen etwas zu über‐ spitzt formuliert; die anschließende Feststellung, sie sei „seinem [d. h. des Leidberichts] Anliegen gerade entgegengesetzt“ (a. a. O.) trifft allerdings das Richtige.

1. Philoktet

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konkreten Phänomene des Anfalls und das völlige Schweigen des Chors bis Vers 827 die Krankheitssituation nur wenig beeinflussen. Halten wir fest: Die geradezu standardisierte Funktion eines Stasimons, die einbrechende Katastrophe bzw. Wendung auf der Folie einer positiven Zu‐ kunftsaussicht umso greller hervortreten zu lassen,116 ist an unserer Stelle meis‐ terhaft erreicht: Das Stasimon forciert den Wendepunkt innerhalb der Tragödie, untergräbt allerdings mit einer eigenen sinnstiftenden Zeitverortung des Ge‐ schehens das eigentliche Handlungsgefüge. Die Kontrastierung der unter‐ schiedlichen Bildwelten und Emotionen am Ende des Stasimons (Heimkehr und Größe Philoktets, Vergöttlichung des Herakles) und am Beginn der folgenden Szene (Ausgeliefertsein des Helden an Krankheit, Leiden und Schmerz sowie generelle Hilflosigkeit) potenziert dabei geradezu ihre Wirkung, da die positive Stimmung der Schlussstrophe gerade aus der Negierung just dessen gewonnen wurde, was das folgende Epeisodion inszeniert. Aus einem „nicht mehr“ wird so ein überdeutliches „jetzt gerade“. Das Zeitgefüge der chorischen Reflexion ist damit gebrochen: Die dramatische Realität pervertiert das vom Chor entworfene Deutungsschema, so wie das Lied in seinem Blick in die Vergangenheit bereits die Handlung selbst umgedeutet hatte. Man mag in diesem Zusammenhang von einer geradezu doppelten Pervertierung sprechen. Im bewussten Auseinanderfallen der dramatischen Sachlage sowie der cho‐ rischen Deutung liegt – wenn man sich von anderen Deutungsversuchen dis‐ tanziert und zudem versucht, den Text des Liedes ohne parallel einhergehendes Bühnengeschehen (Auftritt oder Erscheinen der Akteure117) als chorische Aus‐ deutung zu lesen118 – die Spannung des Stasimons und letztlich seine drama‐ turgische Absicht. Es fügt sich nicht in die Erwartungen des Publikums, sondern konterkariert diese bewusst. Die (antiken) Zuschauer werden sich der vorlie‐ genden Ambivalenz und der doppelten Pervertierung bewusst gewesen sein. Geht man neben einer zumindest rudimentären Informiertheit über die Grund‐ 116 117

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Exemplarisch geradezu das zweite Stasimon des Aias, das dritte Stasimon des Oidipus Tyrannos sowie das letzte Stasimon der Antigone. Es bleibt ohnehin auch an anderen Stellen innerhalb der sophokleischen Tragödien fraglich, ob ein „überraschendes“ Auftreten einer Person gegen Ende eines Liedes den Chor zu einer Themenänderung oder Perspektivverschiebung drängt (so z. B. die Epodos des ersten Stasimons der Elektra). Wie dort, so scheint auch an unserer Stelle der spontane Auftritt der Akteure als Hilfsmittel zum Verständnis des Chorliedes re‐ konstruiert; ob er dazu allerdings notwendig ist, bleibt gerade mit Blick auf das vorlie‐ gende Stasimon des Philoktet fraglich. Vgl. auch P AULSEN (1989) und seine Kritik zum „stillschweigenden Auftritt einer Person während eines Stasimons“ S. 88. W EBSTER s (1970) Deutung S. 114 bleibt – bei durchaus ähnlichen Herangehen – unbe‐ friedigend: „They simply accept the situation as Neoptolemos has put it. But, as in 391 f., they are more engaged than one expects a Sophoclean chorus to be“.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

strukturen des dramatisch verarbeiteten Mythos von einer gewissen Vertraut‐ heit mit den basalen Techniken der (sophokleischen) Tragödie, ihren Formteilen und deren genregemäßem Einsatz aus, dann wird man die (freilich unbewiesene und wohl auch unbeweisbare) Hypothese aufstellen dürfen, der Zuschauer im Theater habe ahnen oder gar wissen können: Je positiver der Chor in einer kri‐ tischen bzw. ambivalenten Situation die Zukunft zeichnet, desto näher, umfas‐ sender und katastrophaler ist die meist im direkten Anschluss folgende Wende. In anderen Worten: Die augenscheinliche Differenz zwischen Bühnenhandlung und chorischer Ausdeutung erlaubt an unserer Stelle einen Blick hinter die dra‐ matische Fiktion – die dennoch nicht aufgehoben ist – und lässt gerade einen informierten bzw. vertrauten Zuschauer die dramaturgische Funktion und den weiteren Fortgang des Bühnengeschehens erkennen.119 Mit diesem Deutungsversuch nehme ich eine mögliche Inkonsequenz inner‐ halb der Charakterisierung des Chors hinsichtlich seiner Stellung innerhalb der Intrige bewusst in Kauf. Ich stimme in diesem Punkt allerdings ganz B URTON zu, der im Bezug auf „Sophoclesʼ habit of using his choruses as an instrument with which to guide the mind and emotions of his audience in any direction required by the immediate dramatic context“120 anmerkt: This role of the chorus leads in occasion to inconsistencies between parts of the same song and between one song and another which can only be explained if we always remember the presence of an audience whose thoughts and feelings have to be en‐ gaged and directed.121

Dass das Publikum an einer so motivierten Inkonsistenz Anstoß genommen haben könnte, erscheint mir dabei zweifelhaft. An der grundsätzlichen Einbindung des Chors als Rolle innerhalb des Dramas will diese Ausleuchtung dagegen in keiner Weise rütteln.122 Will man das Ver‐ halten des Chors, genauer: das der Matrosen des Neoptolemos erklären, so wird man sich am besten M ÜLLER123 anschließen und von einem Irrtum, d. h. einer falschen Einschätzung der Lage, ausgehen. Diese Anschauung bleibt allerdings für sich gesehen unbefriedigend; die funktionellen, d. h. publikumswirksamen

119 120 121 122 123

Vgl. S CHEIN (2013) S. 228 f. B URTON (1980) S. 238. A. a. O. So will diese Untersuchung ja gerade den Chor nicht „auf eine Funktion als dramatisches Instrument des Dichters reduzieren“ (P AULSEN (1989) S. 19), sondern nur diese (im Ganzen unbestrittene) Funktion genauer illustrieren. M ÜLLER (1967) S. 216.

1. Philoktet

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Konsequenzen dieses Irrtums kann erst eine genuin dramaturgische Betrach‐ tung wie die hier vorgelegte erweisen. Bis zur Hälfte der Tragödie hat Sophokles bereits ein reiches Panorama un‐ terschiedlicher Formen chorischer Präsenz zum Einsatz gebracht: die dialogi‐ sche Parodos mit anapästischen Einschüben des Neoptolemos und umrahmter Kurzode, die korrespondierenden Strophen innerhalb des ersten Epeisodions sowie das traditionelle Standlied des Chors auf leerer Bühne. Während dabei die Parodos als dialogische Szene unter Dauerpräsenz des Neoptolemos und die in das erste Epeisodion eingestreuten Strophen sich in den dramatischen Fluss eingeordnet haben, fügt Sophokles an unserer Stelle eine bewusste Pause innerhalb der Handlung ein. Das Stasimon kommt dabei zwi‐ schen zwei äußerst dynamischen Szenen zu stehen: Während das vergangene Epeisodion die Annäherung zwischen Neoptolemos und Philoktet unter struk‐ tureller Präsenz des Chors inszenierte und die entscheidende Verschärfung der dramatischen Brisanz in Form eines außerszenischen Impulses verwirklichte, wird der kommende Auftritt der Akteure die bisher drastischste Szene der Tra‐ gödie darstellen. Es hat sich bei der Behandlung des Liedes gezeigt, dass Sophokles durchaus standardisierte strukturelle Eigenschaften und Motive eines Stasimons zur An‐ wendung bringt, die vereinfachend zusammengefasst werden können: Bezug zur Parodos unter Verschiebung der Perspektive; damit einhergehende Intensi‐ vierung und gesteigerte Drastik der Motivik, was den dramatischen Handlungs‐ fortschritt abbildet; der unmittelbaren Handlung scheinbar abgelöste Beginnund Schlussmotivik, dazwischen die ausgreifende Konkretisierung dramatischer Vergangenheit; positive Zukunftsaussicht unmittelbar vor dem Einbrechen der entscheidenden Wende. Die Singularität des Liedes verleiht dabei gerade diesen Strukturmerkmalen die entscheidende Wirkung: Indem die Reflexion des Chors hier zum ersten und einzigen Mal unter Rückgriff auf den bekannten Formenschatz des Stasimons erfolgt, ist die standardisierte Art cho‐ rischer Präsenz innerhalb der Tragödie zu einem einmaligen Ereignis geworden. Es konnte dabei gezeigt werden, dass die Verwendung der aufgezählten Merk‐ male des Stasimons an unserer Stelle durch ihre Einpassung in den dramatischen Kontext und ihre spannungsvolle Bezugnahme aufeinander (v. a. die doppelte Pervertierung innerhalb des Zeitgefüges) eine virulente dramaturgische Funk‐ tion erfüllt, die die Aufmerksamkeit des Publikums in besonderer Weise he‐ rausfordert.124 124

Eine ganz ähnliche, wenn auch in ihrer Kontrastivität abgeschwächte Parallele bilden das dritte Stasimon des Oidipus Tyrannos sowie das zweite Stasimon des Aias, die durch den informierten Rezipienten nicht affirmativ nachvollzogen werden können.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

(Schlaf-)Lied (v. 827 – 864)

Kommen wir zum zweiten Epeisodion, das bereits mit dem Wiederauftritt der beiden Akteure einen effektvollen Akzent setzt. Auf Neoptolemosʼ Aufforde‐ rung, die Höhle zu verlassen, antwortet Philoktet zunächst nicht (σιωπᾷς κἀπόπληκτος ἔχῃ v. 731). Seine Schmerzensschreie und Klagen (v. 732, 736, 739) wirken daraufhin als Realisierung des im Stasimon thematisierten „wider‐ hallenden Stöhnens“ (v. 694) und lassen das Publikum wohl bereits den wahren Sachverhalt erahnen: Ihn hat ein akuter und heftiger Krankheitsanfall ergriffen, der eine sofortige Abfahrt mit Neoptolemos unmöglich macht. Blicken wir kurz auf die Gliederung und Ausgestaltung der Szene, bevor wir uns der chorischen Äußerung zuwenden. Das emotionale Wechselgespräch der beiden Akteure vollzieht sich zunächst in der Form von Frage und Antwort: Neoptolemos sieht sich zur eigenen Überraschung mit dem leidenden Protago‐ nisten konfrontiert und sucht nach einer ersten Vermutung – „Hast du etwa Schmerzen auf Grund der an dich herangetretenen Krankheit?“ (v. 734) – die genauen Gründe für Philoktets Klagen und Jammern zu erfahren. Die Reakti‐ onen des Angesprochenen sind durch ein hohes Maß an Emotionalität und Si‐ tuativität gekennzeichnet: So scheinen ihm die Schmerzen teils das Reden un‐ möglich zu machen (so schon v. 731, ebenso 740 f.), teils bricht es aus ihm heraus, wobei vor allem die bemerkenswerte Häufung der verschiedenen Interjektionen (ἆ, ἰώ, ἀτταταῖ, παπαῖ, παπᾶ sowie der ganz aus Interjektionen bestehende Vers 746), die drastische und wiederholte Wortwahl (ἀπόλωλα v. 742 und 745, διέρχεται 743 f., βρύκομαι 745) sowie die gehäuften (Selbst-)Anrufungen (Phi‐ loktet an Neoptolemos: (ὦ) τέκνον v. 733, 742, 745 2x, 747, 753; ὦ παῖ 750, 753; Philoktet über sich selbst: δύστηνος, ὢ τάλας ἐγώ 744; Neoptolemos an Phi‐ loktet: δύστηνε σύ, δύστηνε 759 f.) die der Situation eigene Drastik, Dynamik und Unmittelbarkeit verbalisieren. Neoptolemos steht dem Geschehen zunächst hilflos gegenüber: Nachdem er sich grob über die Situation klargeworden ist, fragt er nach Philoktets Auffor‐ derung, Mitleid zu haben (v. 756),125 nach konkreten Handlungsanweisungen zur Unterstützung des Leidenden (v. 757 und 761). Dieser äußert nur einen gedop‐ 125

Eine bemerkenswerte Stelle: Zum ersten Mal fordert der Protagonist selbst expressis verbis zum Mitleid mit ihm auf. Das gerade in den chorischen Aussagen prominente Leitmotiv des οἰκτίρειν (v. 169, 318, 507) findet hier seinen drastischen Höhepunkt und dient zur Darstellung des dramatischen Fortschritts und der radikal gewandelten Sicht auf den Helden: Wieder ist das Reden über den Protagonisten vom Reden des Prot‐ agonisten selbst abgelöst worden (vgl. die mehrfache Information am Beginn des Dramas im Prolog, der „Pardos“ und schließlich der Rede Philoktets); Philoktet erscheint an dieser Stelle nun endgültig als die hilflose und von seiner Krankheit gezeichnete Figur, deren farbiges Bild das Stasimon in seinem Vergangenheitsblick zeichnete.

1. Philoktet

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pelten Wunsch: Neoptolemos solle ihn während des Anfalls und des darauffol‐ genden Schlafs nicht alleine lassen sowie seinen Bogen sicher verwahren und niemandem übergeben. In der Folge dieser Bitte kommt es mit Vers 776 f. zur Übergabe des zentralen Requisits: Neoptolemos ist nun im Besitz der Wunder‐ waffe und bittet nach dem Empfang des Utensils in bewusst ambivalenter Sprache um günstigen Wind für die bevorstehende Abfahrt (v. 779 ff.). Soweit der erste Teil der Szene, der in der Übergabe des Bogens gipfelt und damit das Spiel mit dem Requisit aus dem ersten Epeisodion (v. 654 ff.) fortsetzt. War Phi‐ loktet dabei zwischen den Versen 757 und 782 scheinbar von akuten Anfalls‐ symptomen verschont geblieben, so beschreibt er in einer zweiten längeren Rhesis (v. 782 – 805) zunächst das neu einsetzende Herausträufeln von Blut aus seinem Fuß und entfaltet daraufhin neben der Bitte, in seiner Situation jetzt nicht alleine gelassen zu werden (v. 789), ein Panorama seiner Emotionen: So erfolgt zunächst die anklagende Apostrophierung der für sein Übel Verantwort‐ lichen – Odysseus, Agamemnon und Menelaos – (v. 791 – 796), darauf die An‐ rufung des Todes (v. 797 f.) und die direkt an Neoptolemos gerichtete Aufforde‐ rung, ihn als letzten Freundschaftsdienst zu verbrennen (v. 799 ff.) und damit Philoktets eigenes Handeln an Herakles zu wiederholen. Ähnliche sprachliche Mittel wie die eben herausgestellten prägen auch diesen zweiten längeren Re‐ debeitrag: Während die Fülle der Interjektionen und ihre Dichte etwas nachlässt, beherrschen die vollklingenden Anrufungen die Passage und verleihen Phil‐ oktets verzweifelt-wütender Verfassung passenden Ausdruck. Es schließt sich trotz Neoptolemosʼ anfänglichem Schweigen zu den drasti‐ schen Bitten seines Gegenübers (v. 804 f.) ein erneutes kurzes Wechselgespräch der beiden Akteure an (v. 806 – 820), das in seinem schnellen Sprecherwechsel (v.a. v. 810, 814, 816) die Klimax der Szene darstellt. Inhaltlich bekundet Neo‐ ptolemos sein tiefempfundenes Mitgefühl (v. 806) und verpflichtet sich per Handschlag, am Ort des Geschehens zu bleiben und Philoktet nicht alleine zu lassen; dieser sinkt kurz darauf unter seinen Schmerzen zu Boden (v. 819 f.). Neoptolemos gibt seinen Matrosen darauf eine knappe Beschreibung des schweiß- und blutüberströmten Protagonisten und weist sie schließlich an, ihn ungestört liegen zu lassen. Mit Vers 827 beginnt der Chor daraufhin sein Lied. Machen wir uns vor der Beschäftigung mit der chorischen Partie Folgendes klar: Die zentrale Figur der gesamten Szenerie ist Philoktet: Seine Präsenz be‐ stimmt das Verhalten der anderen Akteure, stößt das Bühnengeschehen an und hält es am Laufen. Damit einher geht eine bisher ungeahnte visuelle Drastik: Schon der Auftritt des kriechenden Helden (vgl. Neoptolemosʼ Aufforderung ἕρπʼ v. 730) lässt ein Leitmotiv der Beschreibung Philoktets erfahrbar werden (vgl. die dezidierten Hinweise auf das Kriechen als Fortbewegungsart des Ge‐

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peinigten v. 207 und 701). Die Schmerzensschreie und Verlaufsbeschreibungen des Krankheitsausbruchs (vgl. verdoppeltes διέρχεται v. 743, προσέρπει, προσέρχεται v. 788 f. sowie das plastische στάζει φοίνιον κηκῖον αἷμα v. 783) geben ein detailliertes Bild der Situation. Die Schilderung eines Anfalls aus der ersten Gegenstrophe des Stasimons ist dabei gerade in der Blut-Thematik (vgl. v. 694 ff.) erneut evoziert und in doppelter Hinsicht überboten: Zum einen steht an unserer Stelle der rein imaginativen Drastik des Chors die dramatische, sich aktuell vollziehende Realität gegenüber. Zum anderen schildert hier der unmit‐ telbar betroffene Held sein Leiden selbst: Kein aus Mitleid motiviertes Hin‐ schauen, Beschreiben und reflektierendes Einordnen durch einen mehr oder minder außenstehenden Dritten beherrscht die Szenerie, sondern das an Drastik nicht zu überbietende augenblickliche Mitteilen des Gequälten selbst. Aus diesem Blickwinkel lässt sich eine mögliche formale Frage beantworten: Der Chor steht der gesamten Szenerie wortlos gegenüber, es erfolgt keine Kom‐ mentierung von seiner Seite. Hätte nicht gerade hier ein Kommos zwischen dem Protagonisten und den Matrosen, möglicherweise auch eine größere Ensem‐ bleszene unter Einbindung des Neoptolemos zur Vertiefung und effektvollen Ausgestaltung der Situation dienen können? Die Zurückhaltung des Chors lässt sich – abseits möglicher Erklärungen aus der Rollentypologie – auch unter for‐ malen Gesichtspunkten nachvollziehen: Indem am Beginn des zweiten Epeis‐ odions Philoktet alleine die Szenerie dominiert, ist seine herausgehobene, ge‐ radezu einsame Stellung wirkungsvoll herausgearbeitet. Sophokles gestaltet dabei einen bewussten Kontrast zum bildreichen Stasimon als umfangreicher chorischer Partie, die dezidiert eine Pause innerhalb des unmittelbaren Hand‐ lungsverlaufs füllt, und dem Weitergang des Bühnengeschehens, das sich ohne Unterbrechung bis zum Einschlafen des Protagonisten (und darüber hinaus) entwickelt. Anders gesagt: Der Auftritt des Protagonisten und sein Krankheits‐ anfall auf offener Bühne eröffnen den zweiten Teil der Tragödie mit der Peri‐ petie, bei deren Ausgestaltung der Dichter bewusst auf gewisse Effekte ver‐ zichtet. Statt also die Anfallsszene zu einer großen Chorszene auszubauen, lenkt Sophokles bewusst den dramatischen Fokus auf den Protagonisten, dessen Handlung und Präsenz gewisse Leitmotive der Beschreibung seiner Person ak‐ tuell auf die Bühne bringen. Philoktets Hinsinken und Einschlafen in den Versen 819 ff. lassen die unmit‐ telbare Drastik zu einem vorläufigen Ende kommen: Das Lied des Chors scheint zunächst, wie schon das Stasimon, die eingetretene Pause im Verlauf der Hand‐ lung zu füllen. Die Szenerie ist allerdings eine ganz andere: Neben dem Chor befinden sich Philoktet – wenn auch schlafend – und Neoptolemos weiterhin auf der Bühne. Das mit Vers 827 beginnende Lied wird sich so zu einer Unter‐

1. Philoktet

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redung weiten, die mit dem Verweis auf die Intrigensituation die Brisanz der Szene in Erinnerung rufen und verdeutlichen wird.126 Ein detaillierter Nach‐ vollzug gerade der ersten Strophe wird grundlegende Strukturen des Liedes he‐ rausstellen; die beiden weiteren Strophen können daraufhin kürzer abgehandelt werden. Die Aufforderung des Neoptolemos, den erschöpften Philoktet in Ruhe dem Schlaf zu überlassen (v. 826), findet ihre begriffliche Fortsetzung mit dem Beginn des Liedes: Ein direkter Anruf des Schlafes eröffnet die chorische Partie. Doch nicht nur die gedoppelte Wiederholung des Wortes Ὕπνος in Vers 827 macht die Kontextbezogenheit der chorischen Aussagen besonders deutlich: Indem der Schlaf als unkundig (ἀδαής) im Bereich von Schmerz (ὀδύνας) und Leiden (ἀλγέων) apostrophiert wird, ist die vorangegangene Szene mit ihrer drasti‐ schen Inszenierung von Philoktets Qualen verbalisiert und zugleich als ver‐ gangen gekennzeichnet. Nun solle eben der Schlaf kommen (ἔλθοις), wobei sich die Choreuten durch ἡμῖν (v. 828) bewusst als in die Situation involviert ver‐ stehen.127 Die Häufung der Adjektive (ἀδαής, εὐαής sowie das verdoppelte εὐαίων) erweckt neben der gezielten Ansprache des Gottes dabei den Eindruck eines kultischen Invokationshymnos, der die Epiphanie der betreffenden gött‐ lichen Person herbeisehnt. Die angeschlossene konkrete Bitte in den Versen 830 f. bietet im Einzelnen manche Schwierigkeit, v. a. hinsichtlich der konkreten Bedeutung von τάνδʼ αἴγλαν. Man wird wohl am besten mit J EBB αἴγλα als das „Traumlicht“128 ver‐ stehen, das der Schlaf dem Niedergesunkenen nun vorhalten soll. W EBSTER illustriert gerade mit Blick auf das abschließende Παιών (v. 832 / 3) – ein stere‐ otypes Epitheton des Asklepios – die begrifflich-genealogische Verbindung, die der Chor an unserer Stelle zwischen Ὕπνος und dem Gott der Heilung samt seiner Tochter Αἴγλα herstellt. Die in Frage stehende Junktur τάνδʼ αἴγλαν kann so ebenfalls als mit der Heilung einhergehender „Schimmer von Gelassenheit“ verstanden werden, der Philoktet nun zuteilwerden solle bzw. bereits zuteil ge‐

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Die Chorpassage ist gerade auf Grund ihrer äußerst ambivalenten und unkonkreten Sprache sehr schwierig zu verstehen; hinzu kommen auch hier textkritische Probleme (vor allem in der Gegenstrophe und der Epode), die hier allerdings nicht in extenso behandelt werden. Vgl. W EBSTER (1970) S. 121: „Their prayer for healing Sleep was genuine but not disin‐ terested, as the ethic datives ἡμῖν, μοι show“. So auch B URTON (1980) S. 241: „[…] the ethic datives ἡμῖν and μοι which stress the personal interest of the person praying“. So J EBB (2004) S. 135: „Rather τάνδʼ αἴγλαν is ‘dream-light’, – such as illuminates the visions that come in sleep“. Dieser Interpretation schließen sich auch LSJ an und ver‐ zeichnen s.v. αἴγλη unter Angabe unserer Stelle „dream light“.

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worden ist.129 Allen Deutungen gemein ist die von Ὕπνος erbetene „Bewusst‐ losigkeit“ Philoktets, der im Schlaf nicht mehr von seinen akuten Leiden gequält werden soll; dass er dabei von der aktuellen Situation, d. h. dem sich anschlie‐ ßenden Gespräch des Chors mit Neoptolemos nichts wahrnehmen kann, ist im‐ plizit bereits angedeutet und, wie der Verlauf des Liedes zeigen wird, elemen‐ tarer Bestandteil der Bitte an die Gottheit. Mit Vers 833 bricht der begonnene Invokationshymnos ab; der Chor richtet sein Augenmerk auf Neoptolemos und redet ihn mit ὦ τέκνον direkt an. Der Vokativ steht so im bewussten Kontrast zum vorangegangenen Ὕπνʼ (v. 827) und macht die Verschiebung der Perspektive deutlich: Nicht mehr der herbei‐ gerufene Schlaf steht im Fokus des Interesses, sondern Neoptolemos und sein weiteres Vorgehen. Dieser solle sich nämlich, so die Aufforderung der Schiffs‐ leute, über seinen eigenen Standpunkt klar werden (ποῦ στάσῃ), bedenken, welche Schritte er nun in Angriff nimmt (ποῖ βάσῃ), und wie mit den sich aus der Situation ergebenden Sachverhalten (τἀντεῦθεν) umgegangen werden soll. Der Chor scheint aus seiner Perspektive bereits die notwendigen Konsequenzen gezogen zu haben: Worauf, so die entschiedene Frage v. 836, müsse man noch warten; der richtige Augenblick, der Einsicht über alle Dinge besitze, gewinne jedenfalls großen Einfluss durch eine schnell ausgeführte Aktion. Erst die Antwort des Neoptolemos konkretisiert die allenfalls implizit an‐ deutenden und keineswegs leicht zu verstehenden Aussagen des Chors: Zwar höre Philoktet zur Zeit nichts, er aber, Neoptolemos, sehe, dass das ganze Un‐ ternehmen vergeblich in Angriff genommen wurde, sollte man jetzt mit dem Bogen nach Troia fahren, den Helden selbst aber auf Lemnos zurücklassen. Phi‐ loktets Herbeischaffung habe das Orakel gefordert, ihm gelte der Siegeskranz; überhaupt sei es schwere Schmach, sich einer mit Lügen ausgeführten und letztlich erfolglosen Mission zu rühmen. Machen wir uns an diesem Punkt bewusst: Der inhaltliche Fokus des Liedes und des daraus hervorgegangenen Austauschs zwischen Chor und Akteur hat sich im Lauf der Strophe auf eine andere Ebene verlagert. Nicht mehr das Leid des Protagonisten und die Möglichkeit, es zu lindern, stehen im Mittelpunkt. Vielmehr erfährt die gegenwärtige Lage Philoktets ihre polarisierende Ausdeu‐

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W EBSTER (1970) S. 121: „Paion, healer, is an epithet of Asclepius, and Aigla is his daughter, the gleam of serenity which the god of healing brings“. K AMERBEEK (1980) S. 120 legt sich in seiner Deutung nicht fest, zieht aber die beiden referierten Positi‐ onen – αἴγλα als „serenity“ oder „dreamlight“ – gleichberechtigt in Erwägung. B URTON (1980) S. 241 f. ist zu Recht überzeugt: „[…] that αἴγλα here is metaphorical. […] The use of αἴγλα instead of the more usual φάος or φέγγος is to be explained by the mythical association of αἴγλη with Asclepius“.

1. Philoktet

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tung im Kontext der Intrigensituation: Indem der Chor zwar äußerst ambiva‐ lent,130 für seinen Gesprächspartner aber durchaus verständlich, zum sofortigen Einschreiten auffordert, füllt er die entstandene Pause im Handlungsablauf mit ungeahnter Dynamik. Der Kontrast zwischen der Anrufung des Schlafs und der unerwarteten Gesprächsaufnahme mit Neoptolemos macht dabei den Wechsel der Fokussierung besonders deutlich. Die in der ersten Strophe virulente Zweiteilung der Blickrichtung – einmal auf den Protagonisten und seinen Zustand, einmal auf Neoptolemos und die sich aus der Situation für ihn ergebenden Konsequenzen – prägt auch den Fortgang des Liedes. Während sich Neoptolemos selbst nicht mehr zu Wort meldet und erst in Vers 865 dem Chor Stille gebietet, entfalten die Schiffsleute ihre Ausdeu‐ tung der momentanen Situation als selbstbewusste Handlungsempfehlung an ihren Herrn. So legen sie ihm in ausgesuchter Ambivalenz nahe, die nun ein‐ getretene Gelegenheit beim Schopf zu packen und zu seinen Gunsten zu nutzen. Ein kurzer Überblick über die beiden folgenden Strophen soll dies verdeutlichen. Den Bedenken des Neoptolemos hinsichtlich der durch den Orakelspruch geforderten Mitwirkung Philoktets an der Einnahme Troias tritt der Chor prag‐ matisch entgegen: Danach werde Gott selbst sehen (τάδε μὲν θεὸς ὄψεται v. 843). Ihr Herr solle im Moment, so die angeschlossene konkrete Bitte in den Versen 844 ff., nur leise antworten, da der Schlaf von Kranken „scharfblickend“ (εὐδρακὴς λεύσσειν) sei und so – implizit gesagt – die Gefahr bestehe, von Phi‐ loktet gehört zu werden. Weiterhin solle Neoptolemos genau Acht geben (ἐξιδοῦ v. 851), dass er das angedeutete Unternehmen (κεῖνο) in aller Heimlichkeit aus‐ führe; wenn er dagegen an seiner Meinung festhalte,131 könne man als verstän‐ diger Beobachter schon jetzt schwierige und ausweglose Ereignisse (ἄπορα πάθη) voraussehen. Gegen diese negative Zukunftsaussicht setzt die Epode mit Vers 855 einen erneut auffordernden Blick auf die aktuelle Gegenwart: Für Neoptolemos sei jetzt eine günstige Gelegenheit (οὖρος) eingetreten, da Philoktet gleich einem

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Vgl. S CHMIDT s (1973) Einschätzung S. 151 f.: „Alles, was der Chor äußert, bleibt wohl verschlüsselt; sein eigentliches Anliegen […] wird sogar mit keinem Wort, auch nicht in verstelltem Zusammenhang (852) angedeutet“. Das genaue Verständnis der hier wiedergegebenen Passage v. 849 ff. ist auf Grund der extrem ambivalenten und mehrdeutigen Sprache sehr schwierig und umstritten – so v. a. die konkrete Bedeutung von v. 849, der Bezug von κεῖνο (v. 850) und ὅν (v. 852) Vgl. dazu die Kommentare ad locum. Die Fülle an verschiedenen Überlieferungsvarianten erschwert das Verständnis zudem in textkritischer Hinsicht. Die hier gegebenen in‐ haltlichen Andeutungen erheben daher nicht den Anspruch eines detaillierten Nach‐ vollzugs des sophokleischen Textes, sondern wollen einzig eine grobe inhaltliche Ein‐ ordnung bieten.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

Toten ohne Macht über seinen eigenen Körper hingestreckt sei. Ein erneutes ὅρα (v. 862 vgl. v. 833) eröffnet eine letzte Aufforderung an Neoptolemos: Er solle zusehen, ob er der Situation angemessene Dinge spreche (καίρια φθέγγῃ); die Vorgehensweise mit der größten Aussicht auf Erfolg sei aus Sicht der Cho‐ reuten – bemerkenswert das betonte ἐμᾷ φροντίδι v. 864 – ein furchtloses Han‐ deln (πόνος μὴ φοβῶν κράτιστος). Die sorgfältige sprachlich-motivische Gestaltung der Chorpassage soll hier nicht unerwähnt bleiben.132 Zwei Aspekte treten dabei besonders deutlich hervor. Zum ersten: Wie schon erwähnt, prägt der gedoppelte Blick auf Philoktet und Neoptolemos die gesamte Partie.133 Wiederkehrendes und geradezu gliederndes Moment sind dabei die Anreden an Neoptolemos sowie die begriffliche The‐ matisierung des Schlafs, an deren gegenseitigem Wechselspiel innerhalb des Liedes die spezielle Perspektive des Chors auf die Situation verdeutlicht werden kann: Unterbricht der Vokativ (ὦ) τέκνον v. 833 in der ersten Strophe den durch das verdoppelte Ὕπνε volltönend begonnenen Invokationshymnos, so nimmt diese vertraute Anrede auch in den beiden folgenden Strophen prominente Stel‐ lungen ein. Sie eröffnet die Gegenstrophe (v. 843) und markiert so die bewusste Antwort auf Philoktets Einwand, wird in Vers 845 zur Intensivierung der Auf‐ forderung nach gedämpfter Lautstärke wiederholt und steht erneut am Beginn der Epode v. 855, um dem Angesprochenen die günstige Lage geradezu plastisch vor Augen zu führen οὖρός τοι, τέκνον, οὖρος. Wenn der Chor am Schluss des Liedes (v. 864) seinen Herrn mit παῖ anspricht, so lässt diese Variation aufmerken und macht den besonderen Nachdruck der vom Chor vorgebrachten Empfeh‐ lung erfahrbar. Die p-Alliteration des Vokativs mit dem aus Vers 835 übernom‐ menen φροντίδος und dem folgenden πόνος ist dabei ein starkes Mittel, das der Passage erneut Nachdruck verleiht; anders gesagt: Die in der ersten Strophe aufgeworfenen Fragen an Neoptolemos, v. a. πῶς δέ σοι τἀντεῦθεν φροντίδος v. 834, sind hier am Ende der Passage aus Sicht des Chors trotz aller Ambivalenz deutlich und unmissverständlich beantwortet. Demgegenüber erfährt der Schlaf als Gegenpol des chorischen Fokus im Lauf des Liedes je verschiedene Ausdeutungen: War er als Gottheit am Beginn der ersten Strophe noch Heiler und erbetener Wohltäter – mithin eine mit positiven

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Bei S CHMITT (1973) findet sich in diesem Zusammenhang S. 152 lediglich der Hinweis: „Auffallend sind weiter die zahlreichen Wiederholungen von Wörtern […], Wen‐ dungen […] und Gedanken“. So hält auch S CHMIDT (1973) zum Aufbau der Strophen S. 154 fest: „Die zweite und dritte Strophe sind wie die erste deutlich zweigeteilt: Der erste Teil richtet sich auf das Leiden des Kranken […], der zweite Teil auf die notwendige Tat“.

1. Philoktet

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Attributen versehene, personifizierte Abstraktion – , so thematisiert die Gegen‐ strophe die Gefahr, die der konkrete und „scharfblickende“ Schlaf des kranken Philoktet für Neoptolemos und den Chor in sich birgt: das Mithören der Intri‐ genpläne, bzw. genauer das Sehen (λεύσσειν) der wirklichen Gegebenheiten. Die Epode setzt dagegen ein anderes Bild: Der im Schlaf Hingesunkene gleicht in seiner Ohnmacht und Wahrnehmungslosigkeit einem Toten. Dieser Zustand, der dem Protagonisten jeden Kontakt zur und jede Interaktion mit der umge‐ benden Realität unmöglich macht, steht dabei in scharfem Kontrast zum ὕπνος ἄυπνος (v. 848) der Gegenstrophe, nimmt aber zugleich Begrifflichkeit und In‐ halt der ersten Strophe wieder auf und erweitert das dort gezeichnete Bild. So bezeichnet ἀνόμματος (v. 856) eben jenen Zustand, den die Bitte in den Versen 830 ff. herbeigesehnt hatte: War dort geradezu aus der Innenperspektive Phi‐ loktets von der αἴγλη – „dream light“ – die Rede, die den Augen des Helden vorgehalten werden sollte (ὄμμασι δʼ ἀντίσχοις), so verbalisiert nun νύχιος (v. 857) den augenscheinlichen Eindruck, den der Schlafende bei Betrachtern her‐ vorruft. Dass in beiden Fällen die identische Form von (ἐκ)τείνω (τέταται v. 831, ἐκτέταται v. 857) verwendet wird, macht die Bezugnahme umso deutlicher.134 Herausragende Aufmerksamkeit verdient zum zweiten der konsequent ab‐ sichtsvolle Gebrauch des Begriffsfelds „Sehen“ innerhalb der Passage. Die Po‐ larität des gedoppelten Blicks auf Philoktet und Neoptolemos tritt hier besonders hervor: Während der Schlaf Philoktet gerade seine Sehkraft nehmen bzw. ein‐ schränken soll (v. 830 f.) und der so versunkene Held schließlich ἀνόμματος (v. 856) genannt wird, bedient sich der Chor in den Aufforderungen an Neopto‐ lemos dezidiert der Begrifflichkeiten des Sehens und Hinschauens. So leitet der Imperativ ὅρα (v. 833) die dreigliedrige Frage nach Standpunkt und weiterem Vorgehen ein, ἐξιδοῦ (v. 851) fordert zum verborgenen Handeln auf, und ein erneutes ὅρα (v. 862) – diesmal durch βλέπ(ε) gesteigert135 – mahnt zu situati‐ onsangepasstem Sprechen. Dementsprechend versichert Neoptolemos den Chor in seiner Antwort, er „sehe“ (ὁρῶ v. 839), dass eine Abfahrt ohne Philoktet dem Orakelspruch widerspreche, wohingegen dessen leichter Schlaf in der Formu‐ lierung der Schiffsleute gerade auf Grund des „scharfblickenden Sehens“ (εὐδρακὴς λεύσσειν v. 847 f.) eine Gefährdung der vertrauten Gesprächssitua‐ tion darstellt. Schließlich verbalisiert das futurische ὄψεται (v. 843) die in Aus‐

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Vers 859 bereitet in textkritischer Hinsicht einige Probleme: Ersetzt man das einhellig überlieferte (!), allerdings dem Kontext völlig enthobene ἀλεής duch Reiskes Konjektur ἀδεής, liest sich die Parenthese als direkter Rückbezug auf Vers 827 und damit auf den unmittelbaren Beginn des Invokationshymnos. So die sicherlich richtige Konjektur von Hermann, der sich P EARSON (1924) und L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) anschließen.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

sicht gestellte göttliche Fürsorge um die konkrete Erfüllung der Prophezeiung, während die vom Chor antizipierten ἄπορα πάθη als im wahrsten Sinne „vo‐ raussehbar“ (ἐνιδεῖν v. 854) bezeichnet werden.136 Neoptolemosʼ Aufforderung in Vers 865, nun angesichts der wahrnehmbaren Bewegungen Philoktets Stille zu halten, bringt das Lied zu einem entschiedenen Ende. Der Protagonist erwacht und begrüßt sogleich das Licht; sein Monolog (v. 867 – 881) nimmt daraufhin nach einem Dank an Neoptolemos konkret die Fort‐ führung der Handlung, d. h. den Aufbruch zum Schiff in den Blick (v. 877). Vom verklungenen Chorlied hat Philoktet indes nichts wahrgenommen. Die darin erreichte Zuspitzung der Situation bildet in dieser Hinsicht eine Grundierung, auf der sich gerade das Lob, das der Protagonist Neoptolemos und seiner wohl‐ gearteten Natur (εὐγενὴς φύσις v. 874) entgegenbringt, umso kontrastreicher abhebt. Anders gesagt: Wurde in der chorischen Partie der Fokus dezidiert auf Neoptolemos und seine weiteren Schritte gelenkt, so spitzt sich diese Verengung durch Philoktets Aussagen weiter zu. Die Peripetie wird so in spannungsvoller Kontrastierung bereits antizipierbar. Machen wir uns an diesem Punkt klar: Der Begriff des Sehens ist für die Motivik des Liedes grundlegend; sie deutet damit den augenscheinlichen Zu‐ stand des Protagonisten aus und macht so die konkrete Bühnensituation poe‐ tisch nutzbar. Das Begriffsfeld „Sehen“ erfährt in dieser Hinsicht eine spezifische Erweiterung und dramaturgische Aufladung: Indem der Chor auf der einen Seite seine Bitte an den Schlaf richtet, auf der anderen Neoptolemos zu genauem Hinschauen und dementsprechendem Handeln auffordert, thematisiert er die virulente Intrigensituation bildhaft und geradezu handgreiflich. Sehen bedeutet in diesem Zusammenhang, Einsicht über die wahre Situation zu haben und die konkrete Bühnenrealität im Licht des Orakel- und Intrigenzusammenhangs zu begreifen. Anders gesagt: Der ständige Wechsel der Blickrichtung zwischen Philoktet und Neoptolemos wird durch die konsequente Motivik des Sehens zusammengehalten; diese ist der dramatischen Situation, d. h. konkret dem Ein‐ schlafen des Protagonisten, entnommen und bildet den Rahmen für die Aus‐ leuchtung der Szenerie und der sich aus ihr ergebenden Konsequenzen für die Handelnden. Der Aufbau des Liedes, seine charakteristische Perspektive und die damit ver‐ bundene geradezu dialektische Frage-Antwort-Relation der drei Strophen un‐ tereinander sind verdeutlicht worden. Die Passage erreicht durch diese über‐ 136

Es nimmt daher nicht wunder, dass Philoktets erste Worte nach seinem Erwachen (v. 867) der Begrüßung des Lichts (φέγγος) gelten: Auf der Folie des verklungenen Liedes erhält diese Freude am Wieder-sehen-Können eine geradezu pikante Note.

1. Philoktet

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legte Gestaltung und den konsequenten Einsatz einer unmittelbar aus dem Bühnengeschehen erwachsenden Motivik und Begrifflichkeit eine formale Ge‐ schlossenheit, die ihrer Positionierung innerhalb des Dramas entspricht: Zwar forciert das Lied den Fortgang der Handlung und weitet sich selbst zur dialo‐ gischen Szene. Nichtsdestoweniger füllt es eine Handlungspause, in deren klar konturiertem Rahmen die umfassende Reflexion zu stehen kommt. Die Szenerie des „Schlafliedes“ korrespondiert mit Blick auf die Gesprächs‐ situation mit der Parodos: Wieder stehen sich Neoptolemos und seine Mann‐ schaft gegenüber, wieder geht es in dieser vertraulichen Unterredung um das weitere Vorgehen (vgl. die ratsuchende Haltung der Choreuten in der Parodos), wobei sich das Verhältnis jedoch verschoben hat. Diesmal ist es nicht Neopto‐ lemos, der den Choreuten Andeutungen zum weiteren Vorgehen macht, sondern der Chor, der seinem Herrn ein gewisses Verhalten vorschlägt – situationsbe‐ dingt sehr klausuliert und ambivalent. Die Präsenz Philoktets auf der Bühne sorgt für einen grandiosen Effekt und inszeniert die Doppelstruktur der Intrigenhandlung plastisch: Während die drastische und effektvolle Handlung um Philoktet selbst zu einem Ruhepunkt gekommen ist, nimmt das Lied die unterschwellig virulente Intrigensituation forciert in den Blick. Damit ist die Intensität der vorangegangenen Szene um‐ geleitet: Nicht mehr die drastische Bühnenpräsenz des Protagonisten, sondern die spezifische Situation, in der sich Neoptolemos befindet, wird so als Leitthema der sich anschließenden Szene etabliert. Die Situation der Parodos ist auch mit Blick auf die Anwesenheit des Prot‐ agonisten wiederaufgenommen, geradezu transferiert und effektvoll auf die Spitze getrieben: War dort das Nahen Philoktets und damit seine gefühlte Prä‐ senz die Grundlage der bald angstvollen, bald neugierigen Stimmung, so be‐ findet sich an unserer Stelle Philoktet zwar leibhaftig auf der Bühne, ist Gegen‐ stand der Auseinandersetzung zwischen Chor und Akteur, nimmt aber nicht am Gespräch teil. Die Anzeichen seines Aufwachens veranlassen Neoptolemos, das Gespräch zu beenden (v. 865 f.), so wie die nahenden Schritte (v. 201) und das deutliche Rufen Philoktets (v. 205 f., 218) die Unterredung zwischen den Schiffs‐ leuten und ihrem Herrn zu einem Ende führten. Indem das Lied dabei zwischen der Beschreibung des schlafenden Philoktet und der sich daraus für Neoptolemos ergebenden Konsequenzen pendelt, ver‐ schiebt es den Fokus der Darstellung schrittweise auf Neoptolemos; dessen Handeln wird den weiteren Fortgang der Geschehnisse maßgeblich bestimmen. Machen wir uns daher klar: Das Lied blendet nach dem Höchstmaß an äußerer Drastik die virulente Intrigensituation ein und schafft damit den Übergang zur Konfrontation des Protagonisten mit der eigentlichen Realität. Es bereitet in

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seiner Umleitung der Drastik und der Problematisierung des Neoptolemos die folgende Szene vor: Wenn Neoptolemos im Anschluss (v. 895 ff.) an der Situation scheitert und seinen Gewissenskonflikt offenlegt, so nehmen seine Äußerungen die Begrifflichkeiten der Gegenstrophe (im Besonderen fassbar bei ἄπορον und πάθος) bewusst wieder auf. Deutlich hat sich so die Einschätzung des Chors realisiert, die in der Gegenstrophe antizipierte Situation ist eingetreten. Das Lied hat sich so aus der unmittelbaren Bezugnahme auf die konkrete Situation des Protagonisten zu einer hintersinnigen Ausleuchtung der dramatischen Realität gewandelt. Dass dabei dem impliziten Rat des Chors, Philoktet zu verlassen, die Andeutung größter Schwierigkeiten gegenübergestellt wird, erweist sich im Fortgang der Handlung als konkrete Zukunftsaussicht auf den weiteren Verlauf der Handlung. Die chorische Passage kommt so an einem – scheinbaren – Ru‐ hepunkt der Handlung zu stehen, greift die eingetretene Stimmung auf und moduliert sie in geschickt kontrastierender Weise zu einer brisanten Auseinan‐ dersetzung mit der Handlung kurz vor ihrem Wendepunkt. Die Form des Liedes spielt dabei meisterhaft mit der Erwartungshaltung des Publikums. Begann die Passage mit ihrer personifizierenden Ausdeutung als ein aus der Situation des Protagonisten motivierter Invokationshymnos, so markiert der Wechsel des Adressaten in Vers 833 das unvermittelte Eintreten in einen Dialog mit dem auf der Bühne verbliebenen Akteur. Aus dem Schlaflied wird so „ein Lied der leisen, aber umso stärkeren Verführung zum Verrat“,137 aus dem rein chorischen, stasimon-ähnlichen Gesang zur Szenentrennung wird ein Aus‐ tausch zwischen Chor und Akteur, eine Übergangsszene im besten Sinne. Selbst wenn Neoptolemosʼ Anteil an der Unterredung gering ist, evozieren doch die gehäuften Vokative (τέκνον v. 833, 843, 845, 855; παῖ v. 863 / 4) mitsamt den pro‐ minenten Imperativen (ὅρα v. 833, 862; πέμπε v. 846; ἐξιδοῦ v. 851; βλέπ(ε) v. 862) den Charakter eines lebhaften Diskussionsbeitrags von Seiten des Chors, der geradezu auf Antwort bzw. Reaktion ausgerichtet ist. Fassen wir zusammen: Sophokles nutzt die im Verlauf der Handlung einge‐ tretene Pause durch die Einschaltung einer chorischen Partie zur Umleitung der Drastik und der Wendung des Fokus. Die sich anschließende Peripetie ist damit vorbereitet; anders gesagt: Die Zuschauer sind sich der für Neoptolemos hoch‐ problematischen Situation erneut bewusst und können auf der Folie der im Lied implizit gegebenen Ratschläge die konfliktreiche folgende Szene bereits antizi‐ pieren. Das Gespräch zwischen Neoptolemos und dem Protagonisten in den Versen 867 ff. hat so als (erster) Wendepunkt innerhalb der Handlung ein cho‐ risches Präludium erhalten, das zum einen die vorangegangene Szene be‐

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R EINHARDT (31960). Sophokles, Frankfurt am Main, S. 190.

1. Philoktet

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schließt, dabei allerdings selbst bewusst Szene des Dramas, d. h. Dialog und Austausch zwischen Beteiligten, sein will. Anders gesprochen: Sophokles lässt an dieser Stelle der Handlung keine wirkliche Ruhe aufkommen. Statt in einem reinen Invokationshymnos an den Schlaf die unmittelbare Drastik der Anfalls‐ szene zu lindern und damit dem dramatischen Schwung einen Kontrapunkt entgegenzusetzen, heizt gerade die chorische Partie die dramatische Brisanz weiter an. Den Effekt des „lyric interlude“138 verstärken dabei die konkrete Bühnen- und Sprechsituation, das bewusste, die Erwartungen des Publikums unterlaufende Spiel mit festen Formen chorischer Beteiligung (Invokations‐ hymnos, Stasimon, lyrischer Austausch zwischen Akteur und Chor) und die subtile sprachlich-motivische Komposition, die der Ambivalenz, Uneindeutig‐ keit und „Chiffrierung“139 der Sprache eine besonders subversive Wirkung ver‐ leiht. Kommos Philoktet-Chor (v. 1081 – 1217)

Mit dem Wechselgesang v. 1081 – 1217 kommen wir zur letzten umfangreichen Chorpartie der Tragödie. Bevor die Gesprächssituation, die formale Anlage der Passage, ihre Motivik und Thematik sowie die dramaturgischen Implikationen erläutert werden, soll ein kurzer Überblick die Einordnung des Kommos in den Handlungsablauf ermöglichen. Nach dem Aufwachen des Protagonisten hatte Neoptolemos die Wahrheit nicht mehr zurückhalten können und Philoktet mit den Gegebenheiten kon‐ frontiert: Es sei notwendig (δεῖ v. 915, πολλὴ κρατεῖ ἀνάγκη v. 921 f.), gemeinsam nach Troia zu fahren und dort die Stadt einzunehmen. Philoktet reagiert er‐ schüttert; in einem ersten Monolog (v. 927 – 962) konfrontiert er seinen Ge‐ sprächspartner mit schwerwiegenden Vorwürfen: Er, ein Schutzbedürftiger (προστρόπαιος, ἱκέτης v. 930) sei getäuscht, geradezu hinters Licht geführt worden (besonders eindrücklich die Perfektformen ἠπάτηκας v. 929 und ἠπάτημαι v. 949). Wenigstens den Bogen solle man ihm zurückgeben, denn mit‐ samt diesem Utensil habe man ihm das Leben selbst geraubt (v. 931 ff.). Dem‐ entsprechend fällt das Urteil über seinen eigenen Zustand vernichtend aus: οὐδέν εἰμʼ ὁ δύσμορος (v. 951). Neoptolemos antwortet trotz der mehrfachen direkten Ansprache durch Philoktet nicht (v. 934 f., 951), bekundet allerdings nach der an ihn gerichteten Frage des Chors nach dem weiteren Vorgehen (v. 963 f.) sein überaus großes Mitleid (οἶκτος δεινός), das ihn nicht erst jetzt, son‐ dern schon vor längerer Zeit befallen habe. 138 139

So K AMERBEEK s (1980) Bezeichnung der Partie S. 119. W EBSTER (1970) bemerkt S. 119 schlicht „A lyric dialogue of unusual form“. So S CHMIDT (1973) S. 151.

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Bevor es zu einer Übergabe des Bogens und Entscheidung für oder gegen die Abfahrt nach Troia bzw. in Philoktets Heimat kommen kann, betritt Odysseus ohne Vorankündigung die Bühne. Zum ersten Mal treten so die drei wesentli‐ chen Akteure der Handlung in direkte Auseinandersetzung. Philoktet wird sich rasch bewusst, dass letztlich Odysseus für seine momentane Lage verantwort‐ lich ist (v. 978 f.), und droht schließlich, sich der Situation durch einen Sprung vom Felsen zu entziehen (v. 999 f.). Odysseusʼ Gehilfen packen den Protagonisten daraufhin und verhindern so die Selbsttötung. Philoktet, nunmehr festgehalten von Statisten, greift in einem zweiten Monolog (v. 1004 – 1044) Odysseus scharf an: Dieser habe Neoptolemos, den Philoktet unbekannten Knaben (παῖδα ἀγνῶτʼ ἐμοί v. 1008), geradezu als Schutzwehr (πρόβλημα) benutzt, um sein Vorhaben umzusetzen. Ein entschiedenes ὄλοιο (v. 1019) bringt Philoktets Ver‐ achtung und Entrüstung gegenüber Odysseus wirkungsvoll zur Sprache. Selbst die erfolgte Festsetzung und Überführung seiner selbst nach Troia, so Philoktet, werde für die Griechen keinen Vorteil bringen: In seinem Zustand – lahm und stinkend (χωλός, δυσώδης v. 1032) – stelle er bei der Eroberung Troias eher ein Hindernis als eine Unterstützung dar. Die Ursache seiner Aussetzung auf Lemnos, d. h. seine Krankheit und die daraus erwachsenen Probleme, seien schließlich noch immer virulent. Philoktet schließt mit einer Anrufung der Götter seiner Heimat (v. 1040 ff.): Diese sollten die für sein Leid Verantwortlichen allesamt (ξύμπαντας) bestrafen; denn selbst unter diesen widrigen Lebensbe‐ dingungen (ζῶ οἰκτρῶς v. 1043) könne Philoktet die Gewissheit um die Bestra‐ fung seiner Widersacher geradezu als Befreiung von seiner Krankheit em‐ pfinden. Wieder ist es der Chor, der nach dem Monolog des Protagonisten eine kurze Einschätzung gibt, diesmal in Form einer direkten Anrede an Odysseus (v. 1045 f.): Philoktet habe eine heftige Rede gehalten, die kein Anzeichen eines Nachgebens erkennen lasse. Der Angesprochene bekundet, er wolle nun nicht viele Worte machen. Zwar wünsche er, Odysseus, in der Regel, den Sieg aus einer Situation davonzutragen, Philoktet aber lasse er freiwillig zurück. Denn, so die Einschätzung, mit dem Besitz des Bogens bestehe keine Notwendigkeit, Philoktet selbst nach Troia zu bringen. Er gibt schließlich den Befehl, Philoktet loszulassen, und fordert Neoptolemos auf, nun mit ihm selbst zum Schiff zu gehen. Nacheinander wendet sich Philoktet daraufhin in je einem Doppelvers an Odysseus (v. 1063 f.), Neoptolemos (v. 1066 f.) und den Chor (v. 1069), verfehlt allerdings sein Ziel, die übrigen Akteure durch seine erschüttert-ungläubigen Fragen zum Bleiben zu bewegen. Der Chorführer macht sein weiteres Vorgehen von Neoptolemosʼ Vorgaben abhängig. Dieser gibt daraufhin in den Versen 1074 ff. eine – zumindest für den Moment – klare Handlungsanweisung: Er for‐

1. Philoktet

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dert den Chor auf, bei Philoktet zu bleiben, während er selbst mit Odysseus zu den Göttern beten wolle. Vielleicht, so seine Hoffnung, werde Philoktet noch zu einem anderen, der eigenen Sache günstigeren Entschluss kommen. Sobald er jedenfalls das Signal zum Aufbruch geben werde, sollten sich auch die Schiffs‐ leute rasch aufmachen. Nach diesen Worten verlassen Neoptolemos und Odys‐ seus das Geschehen, zurück bleiben Philoktet und der Chor. Machen wir uns an diesem Punkt die Bühnensituation erneut klar: Mit Neo‐ ptolemosʼ Eingeständnis in den Versen 895 ff. hat die bisher virulente Doppel‐ bödigkeit der Handlung ein Ende gefunden. Schrittweise erfährt nun auch der Protagonist die eigentlichen Hintergründe der Geschehnisse, wobei der über‐ raschende Auftritt des Odysseus in Vers 974 die Klimax der Szenerie darstellt: Zum ersten Mal stehen sich nun die beiden Antipoden der Handlung konkret gegenüber. Die seit dem Prolog bereits antizipierbare Konfrontation des ‚Strip‐ penziehers‘ Odysseus mit dem Hauptleidtragenden seiner Intrige bringt damit den Kern der Personenkonstellation auf die Bühne; Neoptolemos und der Chor folgen dementsprechend dem Streitgespräch der beiden Akteure lange Zeit wortlos, einzig die kurze Einschätzung des Chorführers v. 1045 unterbricht diese Zurückhaltung. Erst die Antwort auf Philoktets direkte Ansprache und die da‐ rauf von Neoptolemos gegebenen Handlungsanweisungen (v. 1072 ff.) bilden die erste Einschaltung der durch die Bühnenpräsenz des Odysseus und die Intensität des wortreichen Konflikts geradezu ins Abseits geratenen weiteren Charaktere. Mit Odysseusʼ Auftritt im entscheidenden, geradezu aporetischen Moment (vgl. Neoptolemosʼ hilflose Frage „Was sollen wir tun, Männer?“ und Odysseusʼ entsetzte Auftrittsworte „Was tust du da?“ v. 974) erfährt also die festgefahrene Szenerie eine ungeahnte und überraschende Dynamisierung und personelle Verschiebung. Während bis zu diesem Punkt die im „Schlaflied“ bereits antizi‐ pierte Problematisierung des Neoptolemos und seines Verhaltens dramatisch umgesetzt wurde, weitet und vertieft sich durch Odysseusʼ Auftreten die Di‐ mension des Geschehens. Die Feindschaft zwischen ihm und Philoktet wird dabei drastisch inszeniert: Das hochemotionale Rededuell der beiden, die An‐ kündigung des Selbstmords, die anschließende Fesselung des Protagonisten sowie seine Freilassung bringen einige Aktion auf die Bühne. Neoptolemos steht dabei geradezu zwischen den Fronten und kann erst am vorläufigen Ende des Streits als Herr der Schiffsleute aktiv in das Geschehen eingreifen bzw. dessen weiteren Fortgang ordnen. Für Philoktet scheint an diesem Punkt der Handlung alles verloren, seine Lage hat sich durch Odysseusʼ Eingreifen und den Abgang der Akteure in Vers 1081 noch einmal akut zugespitzt. Der sich anschließende Kommos überbietet in

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I. Chöre wehrfähiger Männer

dieser Hinsicht die bereits emotionalen Monologe in den Versen 927 – 962 sowie 1004 – 1044 und leuchtet so die erreichte Situation expressiv aus. Der eigentliche Wechselgesang besteht augenscheinlich aus zwei Teilen, die sich hinsichtlich ihrer Metrik, der Dialogstruktur und der jeweiligen Bühnenwir‐ kung unterscheiden:140 Auf die beiden Strophenpaare in den Versen 1081 – 1168 folgt eine Epode141 von beträchtlichem Ausmaß (v. 1169 – 1217). Die Verse 1218 – 1221 bilden im Anschluss daran als Auftrittsankündigung für Odysseus und Neoptolemos den konkreten Übergang zur folgenden Szene. Die Sprecher‐ verteilung in den Strophen ist dabei von ausgesuchter Regelmäßigkeit: Auf eine längere Partie des Protagonisten (im ersten Strophenpaar jeweils 14 Verse, im zweiten je 17) antwortet der Chor mit einer kürzeren Einschätzung und Bewer‐ tung (je zweimal 6 Verse in jedem Strophenpaar), sodass der Redeanteil Phil‐ oktets deutlich überwiegt (62 Verse gegenüber 24 Versen des Chors). Die Epode setzt gegen diese durchsichtige Struktur einen virulenten Akzent: Der rasche Sprecherwechsel, das Nebeneinander von kurzen und längeren Äußerungen und das gegenseitige Ins-Wort-Fallen der Gesprächspartner (v. a. in den Versen 1182 f.) lassen den Eindruck einer lebhaften und hochemotionalen Kommuni‐ kation entstehen, die sich schon rein formal vom eher statischen Austausch in den beiden Strophenpaaren abhebt.142 Blicken wir nach dieser ersten formalen Einschätzung zunächst auf die im Kommos behandelten Themen und Motive, um den inhaltlichen Aufbau der Partie zu erfassen. Philoktet gibt nach dem Abgang von Odysseus und Neopto‐ lemos seiner Erschütterung und dem Gefühl der Ausweglosigkeit in einem di‐ rekten Anruf seiner Höhle Ausdruck: Diesen Ort werde er nun nicht mehr ver‐ lassen, ja sogar an ihm sterben (v. 1084 f.). Nach einer Klageinterjektion (ὤμοι μοί μοι) folgen zwei schmerzerfüllte Fragen Philoktets: Warum (τίπτʼ v. 1089) werde die mit Leid angefüllte unselige Behausung ihm nun zur täglichen Um‐ gebung (τὸ κατʼ ἦμαρ), und woher solle er jetzt noch – d. h. nach Verlust des Bogens – die Hoffnung auf Nahrung schöpfen? Der Blick zu den am Himmel

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Vgl. v. a. zur Metrik W EBSTER (1970) S. 135 f., 138, 142 f. So die Bezeichnung W EBSTER s (1970) S. 135. K AMERBEEK (1980) S. 150: „the long epodic part“. K AMERBEEK (1980) spricht den Strophen S. 150 zu Recht „a formally ‘regular’ character“ zu und kontrastiert dazu: „the long epodic part shows a much more diversified pattern of exchange of longer or shorter utterings and answers between the two“. Vgl. zudem seine zutreffende Charakterisierung der Partie in Abgrenzung zum vorangehenden Teil der lyrischen Passage S. 160.

1. Philoktet

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entlangziehenden Vögeln ist dementsprechend resignierend: Philoktet kann sie nicht mehr einfangen.143 Der Protagonist scheint in dieser ersten Äußerung an einem wirklichen Aus‐ tausch mit den Schiffsleuten nicht interessiert: Der Fokus seiner Einschätzung liegt ganz auf den Umständen seines eigenen Daseins, wobei vor allem die Höhle und das Problem der Nahrungsbeschaffung im Vordergrund stehen. Eine direkte Ansprache der Choreuten findet nicht statt, die Anwesenheit derselben spielt für Philoktet an dieser Stelle (noch) keine Rolle. Dennoch melden sich die Choreuten im Folgenden zu Wort (v. 1095 – 1100) und versuchen, die von Philoktet aufgeworfenen Fragen zu beantworten: Er selbst sei für seine Situation verantwortlich. Nicht das Schicksal (ἁ τύχα) sei hier geradezu „von außen“ (ἄλλοθεν) am Werk, sondern er allein, der die Möglichkeit gehabt hätte, die günstigere Alternative zu wählen, habe sich entschlossen, dem Übleren (τὸ κάκιον) zuzustimmen. Diese alleinige Verantwortung Philoktets wird in der vorliegenden Passage prominent ausgestaltet: So eröffnet das be‐ tonte σύ τοι die direkte Wendung an den Protagonisten und rückt ihn selbst in den inhaltlichen Fokus. Indem die beiden einzigen finiten Verbformen (κατηξίωσας und εἵλου) sich gerade auf Philoktet beziehen, ist er als der ei‐ gentlich verantwortlich Handelnde gezeichnet, dessen Wahl die Ursache der momentanen Situation darstellt. Die betonte Anrede evoziert dabei eine Ge‐ sprächssituation, die so vom Protagonisten in seiner ersten Äußerung nicht in‐ tendiert war. Eine Antwort scheint Philoktet nämlich nicht erwartet zu haben und fährt auch im Folgenden fort, ohne direkt auf die Schuldzuweisung von Seiten des Chors näher einzugehen. Die Gegenstrophe eröffnet mit Vers 1101 ein erneuter Anruf, mit dem Phi‐ loktet diesmal konkret seine eigene Person (ὢ ἐγώ) thematisiert: Er selbst, elend (verdoppeltes τλάμων) und von Mühsal geradezu misshandelt (μόχθῳ λωβατός), werde nun zu Grunde gehen (ὀλοῦμαι). Drei Partizipien geben Gründe und Begleitumstände dieser vernichtenden Selbsteinschätzung an: die Wohnsituation (ναίων) in völliger Einsamkeit, die problematische Nahrungs‐ versorgung (οὐ φορβὰν προσφέρων) sowie der Verlust der eigenen Waffen (οὐ … ἴσχων). Dem gerade in den beiden letzten, verneinten Partizipien verba‐ lisierten Mangel setzt Philoktet mit ἀλλά (v. 1111) seine Sicht der Vorgeschichte entgegen: Undeutliche und verborgene Worte eines betrügerischen Verstandes hätten sich eingeschlichen (ὑπέδυ). Philoktet schließt mit einer Verfluchung: Er 143

Die Verse 1092 – 1094 sind textkritisch höchst umstritten. Ich folge dem Rekonstrukti‐ onsversuch von L LOYD -J ONES /W ILSON (1990), die zwar den überlieferten Textbestand im Wesentlichen durch Konjekturen ersetzen, dadurch allerdings eine mehr oder minder probate Lösung gefunden haben.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

wolle denjenigen, der das ersonnen habe, die gleiche Zeit seine eigenen Schmerzen erleiden sehen. Die mit einiger Sicherheit gegen Odysseus gerichtete Invektive (vgl. die fol‐ gende Strophe) veranlasst den Chor zu einer unmittelbaren Richtigstellung: Was den Philoktet hier in Besitz genommen habe (ἔσχʼ v. 1119),144 sei das Geschick von δαίμονες, keine List von Seiten des Chors (ὑπὸ χειρὸς ἐμᾶς). Mit Verflu‐ chungen anderer solle er sich daher zurückhalten; denn dem Chor liege daran (ἐμοὶ τοῦτο μέλει), dass Philoktet die gegenseitige Freundschaft nicht von sich stoße. Offensichtlich haben die Schiffsleute den Protagonisten zumindest leicht missverstanden: Die deutliche Betonung der eigenen Unschuld an Philoktets Leid (vgl. die betonte Hervorhebung der eigenen Person im Possessivpronomen ἐμᾶς v. 1119 sowie das Personalpronomen ἐμοί v. 1121) macht die eingenommene Abwehrhaltung augenscheinlich; dass Philoktet bei seiner Verwünschung kon‐ kret Odysseus vor Augen gehabt haben könnte, spielt für den Chor zunächst keine Rolle. Schwerer wiegt für die Schiffsleute der implizite Vorwurf, den die Junktur δολερᾶς φρενός v. 1112 möglicherweise beinhaltete; dementsprechend bildet die entschiedene Zurückweisung eines Betruges (δόλος v. 1117) den wört‐ lichen Anknüpfungspunkt zur Vorrede des Protagonisten. Der so aufgenom‐ mene Begriff δόλος wird scharf von πότμος δαιμόνων unterschieden und findet so seinen Platz in der bereits in den Versen 1095 ff. etablierten Terminologie. War dort Philoktet als βαρύποτμος angesprochen worden, der unter Einfluss eines besseren Daimon (λωίονος δαίμονος) anders entschieden hätte, so ist diese Motivik an unserer Stelle zur Junktur πότμος δαιμόνων verschmolzen, die in Abgrenzung zu δόλος erneut besonderes Gewicht erhält. Anders gesagt: Die zweite Wortmeldung des Chors stellt eine Konkretisierung und Verdichtung seiner ersten Aussagen dar, wobei der aus Philoktets Beitrag übernommene Be‐ griff δόλος als virulenter Gegenpol innerhalb der Bewertung die deutliche Selbstverortung des Chors im Geschehen evoziert. Ein wirklicher Dialog kommt allerdings auch an dieser Stelle nicht zustande, die Gesprächspartner reden vielmehr aneinander vorbei. Philoktet fährt in Vers 1123 erneut in seiner Klage fort, ohne konkret auf den Einwurf des Chors ein‐ zugehen,145 wobei er thematisch da einsetzt, wo er vor der Einschaltung des Chors stehen geblieben war: bei Odysseus als dem für sein Leid Verantwortli‐ chen.

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So auch W EBSTER (1970) S. 138: „This that caught you is fate […], not a trick […]“. Vgl. K AMERBEEK (1980) S. 155: „Just as 1101 Philoctetes continues as if the Chorus had said nothing whatsoever“.

1. Philoktet

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Das in Vers 1123 direkt nach der Klageinterjektion οἴμοι μοι eingefügte καί macht den direkten Anschluss an die vorherigen Äußerungen Philoktets greifbar: Subjekt der folgenden Periode ist der in den Versen 1113 ff. in den Blick geratene Urheber von Philoktets Leid und damit Odysseus, dessen Name aller‐ dings nicht genannt wird – und auch nicht genannt werden muss. Dieser, so die Imagination, sitzt nun auf der Fläche des Meers und verlacht Philoktet, während er mit dem Bogen des Helden geradezu dessen Nahrungsversorgung (τροφά) in den Händen schwingt. Ein Anruf der Waffe verleiht der Verzweiflung des Prot‐ agonisten besonderen Nachdruck (v. 1128 ff.): Der Bogen selbst sehe – wenn er Verstand habe – , dass ihn der jammervolle Gefährte des Herakles im Folgenden nicht mehr benutzen werde; vielmehr werde er nun einem listenreichen (πολυμήχανος v. 1135) Mann übergeben und könne dabei mitansehen, wie dieser verhasste Unhold eine Unzahl an betrügerischen und schändlichen Taten auf‐ blühen lasse (ἀνατέλλοντα), die er gegen Philoktet ersonnen habe. Der Protagonist ist auch an dieser Stelle ganz auf seine eigene Ausdeutung des Geschehens konzentriert: In einem schlaglichtartigen Bild stellt er sich Odysseus vor Augen und lenkt daraufhin den Blick ganz explizit auf den nun‐ mehr endgültig verlorenen Bogen. Die Ansprache der Höhle aus der ersten Strophe als einer unbelebten und doch für das Geschehen eminent wichtigen Entität wird dadurch noch gesteigert: Der Bogen, die zentrale Lebensversiche‐ rung Philoktets und essentielles Requisit des Dramas, wird hier nicht nur an‐ geredet, sondern geradezu beseelt und als Handlungs- bzw. Perspektivträger wahrgenommen. Der Besitzerwechsel der Waffe ermöglicht so einen erneuten intensiven Blick auf Odysseus und dessen schändliches Tun. An die Herkunft der Waffe erinnert die Selbstbezeichnung Philoktets als Ἡράκλειον (v. 1131), „Gefährte des Herakles“. Damit klingt neben der bereits entfalteten Nahrungs‐ thematik kurz eine weitere Bedeutungsebene des Bogens an, wie sie bereits in der Anfallsszene eingeflochten war (v. 799 ff.) und auch im Monolog des Prot‐ agonisten v. 943 angedeutet wurde: Die Waffe als Geschenk des Herakles ist fassbarer Beweis der engen Bindung zwischen diesem mittlerweile vergött‐ lichten Helden146 und dem Protagonisten. Gegen jedes Recht hat sich Odysseus, so die implizite Konsequenz, in diese vertrauensvolle Beziehung eingemischt und wird im Folgenden den geraubten Bogen zum stummen Augenzeugen seiner verwerflichen Handlungen machen. Die in Vers 1140 folgende Bemerkung des Chors versucht, der vernichtenden Kritik Philoktets an Odysseus eine andere Perspektive entgegenzusetzen. Den

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Vgl. dazu das Ende des Stasimons (v. 727 ff.), dessen bildmächtige Schlussszene die Apotheose des Herakles in Philoktets Heimat vor Augen führt.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

Anfang macht dabei eine gnomische Feststellung (v. 1140 – 1142):147 Es sei Auf‐ gabe eines Mannes, sein eigenes Rechtsverständnis (τὸ μὲν ὃν δίκαιον) vorzu‐ bringen; allerdings müsse er sich davor hüten, damit neidvollen Schmerz her‐ vorzurufen. Der Bezug des folgenden, konkret die Situation ins Auge fassenden κεῖνος (v. 1143) scheint nach Philoktets vorangegangenen Ausführungen deut‐ lich: Odysseus müsste gemeint sein. Jener habe, so der Chor, als Einzelner auf Anweisung (ταχθείς) vieler gehandelt und damit seinen Freunden gemeinsame Hilfe (κοινὰν ἀγωράν) geleistet. K AMERBEEK148 macht allerdings mit Blick auf den Bezug von κεῖνος auf eine durch den überlieferten Text bedingte Feinheit aufmerksam: Lesen wir in Vers 1144 das überlieferte Demonstrativpronomen im gen. sg. masc. τοῦδʼ,149 so sind mit κεῖνος (v. 1143) und der Form von ὅδε (v.1144) verschiedene Personen ge‐ meint. Der eigentlich Handelnde (κεῖνος) wäre dann Neoptolemos, der auf Ge‐ heiß des Odysseus (τοῦδʼ ἐφημοσύνᾳ) seinen Auftrag auszuführen suchte. Was zunächst wie eine textkritische Quisquilie wirkt, wäre für die Gesprächssitua‐ tion dennoch symptomatisch. Nicht nur, dass der Chor an unserer Stelle ganz und gar loyal gegenüber der Obrigkeit das Vorgehen gegen Philoktet in den Zusammenhang von Beauftragung und Dienst einordnet und so der emotio‐ nalen und zutiefst persönlichen Redepartie Philoktets ein abgeklärteres, den größeren Zusammenhang betrachtendes Moment entgegengestellt. Mit der feinen Differenzierung zwischen Odysseus und Neoptolemos verwehrt sich der Chor gegen eine Generalkritik des Protagonisten. Die gedankliche Hinwendung zu Neoptolemos (der zum Chor ohnehin in engerer Beziehung steht als Odys‐ seus) zeugt dabei nicht etwa von einem Missverständnis des Chors gegenüber Philoktets Aussagen – im Gegenteil: Gerade auf dieser Basis könnte sich ein Gespräch über Auftrag und Verantwortung entwickeln. Nichts davon geschieht: Auch dieser Einwurf des Chors verhallt, ohne bei Philoktet eine wirkliche Re‐ aktion hervorzurufen.150 Mit einem erneuten Anruf der ihn umgebenden Natur leitet der Protagonist die zweite Gegenstrophe ein: Sowohl Vögel als auch die einheimischen Land‐ tiere werden von nun an nicht mehr fluchtartig aus ihren Behausungen eilen, 147

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Die Verse sind hinsichtlich ihrer Bedeutung und ihres Bezugs sehr umstritten. Vgl. die divergierenden Lösungsvorschläge bei J EBB (2004) S. 179, K AMERBEEK (1980) S. 156 f. sowie die Diskussion bei W EBSTER (1970) S. 140. Die von L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) in den Text aufgenommene Konjektur von Kells (possessives ὅν statt εὖ in Vers 1140) erleichtert dabei das Verständnis wesentlich. K AMERBEEK (1980) S. 157. So der von L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) gegebene Text; anders noch die OCT von P EARSON (1924) (τοῦτ’) sowie die Teubneriana von D AWE (1979) (τάνδʼ). Auch dazu K AMMERBEEK (1980) S. 157: „Again there is no reply“.

1. Philoktet

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da Philoktet seine bisherige Stärke (ἀλκά) nicht mehr in Händen halte; eine wehmütige Selbstansprache v. 1152 rundet das Bild des verzweifelten Helden. Daraufhin wendet sich Philoktets Blick erneut den Tieren zu: Diese könnten nun unbesorgt herumkriechen – er stelle in seinem lahmen Zustand keine Ge‐ fahr mehr für sie dar – , ja, selbst zur Rache am eigenen Leib fordert er die Tiere indirekt auf, da er sein Leben ohnehin in Kürze verlieren werde. In zwei Fragen gibt er die Begründung dieser hoffnungslosen Zukunftsperspektive: Woher solle der nötige Lebensunterhalt kommen? Und wer könne sich selbst ernähren, wenn er über nichts mehr verfüge, das die lebensspendende Erde hervorbringt? Dem vernichtenden Bild des dem sicheren Untergang Geweihten setzt der Chor in seiner Erwiderung v. 1163 ff. geradezu eine Einladung entgegen. Phi‐ loktet solle sich, so die Aufforderung der Choreuten, nähern, wenn er dem Fremden, d. h. dem Chor, gegenüber die nötige Ehrfurcht habe (εἴ τι σέβῃ). Dieser jedenfalls sei ihm ein Nachbar in aller Wohlgesonnenheit. Allerdings solle Phi‐ loktet wissen, dass es an ihm liege, dem so sicher scheinenden Verderben zu entfliehen: Jammervoll sei es, dieses Verderben zu nähren (βόσκειν v. 1167), Philoktet dagegen unkundig, das damit einhergehende vielfache Leid zu er‐ tragen.151 Erst an diesem Punkt (v. 1169), d. h. nach knapp 90 Versen des einseitigen lyrischen Austauschs, wird Philoktet zum ersten Mal auf die Einlassungen des Chors reagieren. Der erste, statische Teil des Kommos hat damit sein Ende ge‐ funden. Machen wir uns daher kurz bewusst, was die lyrische Passage bis zu diesem Einschnitt geprägt hat. In ausgreifenden und hochemotionalen Bei‐ trägen kreiste Philoktet um das für ihn zentrale und folgenschwere Ereignis des scheinbar endgültigen Bogenverlustes, auf dessen Grundlage sich die Einschät‐ zung seiner Situation in bisher unbekanntem Maß dramatisiert hat. Während dabei die Angst, nunmehr der gewohnten Nahrungsbeschaffung nicht mehr nachgehen zu können und dadurch entweder dem Hunger oder den wilden Tieren schutzlos ausgeliefert zu sein, als Grundthema in allen Strophen anklingt, entfaltet Philoktet ein weites Panorama größtenteils bereits bekannter Motive: seine Wohnsituation und Einsamkeit, die erlittene Täuschung, der Hass auf Odysseus sowie das nahende Ende des eigenen Lebens. In einen Dialog mit dem Chor tritt er dabei nicht ein; auf die teils moralisierend-mahnenden, teils rich‐ tigstellenden Einwürfe des Chors zeigt der Protagonist keine erkennbare Reak‐ tion. Vielmehr verharrt er in einer geradezu monologischen Versunkenheit, die

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Ich folge damit dem Lösungsversuch K AMERBEEK s (1980) S. 159 f. und identifiziere den in Rede stehenden Leidtragenden mit Philoktet.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

die Rolle seiner eigenen Person im lokalen, personalen und zeitlichen Rahmen der Handlung grell ausleuchtet. Das sich anschließende Gespräch mit dem Chor können wir hinsichtlich der in ihm behandelten Thematik kurz zusammenfassen: Philoktet wendet sich in den Versen 1169 ff. zum ersten Mal direkt an die Choreuten, wirft ihnen vor, ihn an das alte Leid erneut zu erinnern, und fragt sie sichtlich erregt, warum sie ihn zu Grunde gerichtet und was sie ihm angetan hätten, als sie planten, ihn in das ihm verhasste Troia zu bringen (v.1175). Diese Überführung des Helden sei, so die Schiffsleute, allerdings die aus ihrer Sicht beste Lösung (v. 1176). Philoktet for‐ dert daraufhin den Chor auf, ihn zu verlassen (v. 1177). Dieses Ansinnen des Protagonisten scheint ganz der Intention der Schiffsleute zu entsprechen (φίλα ταῦτα παρήγγειλας ἑκόντι v. 1177 f.). Schon fordern sie einander zum Abtritt auf (ἴωμεν ἴωμεν v. 1179), da unterbricht sie Philoktet: Unter dem Anruf des Zeus erbittet er von ihnen, nicht fortzugehen (μὴ ἔλθῃς), sondern hier zu bleiben (μείνατε). Das Gespräch erreicht an dieser Stelle (v. 1180 ff.) einen ersten Höhe‐ punkt: Nachdem die Absicht des Chors, nun den Ort des Geschehens zu ver‐ lassen, die Szenerie unversehens dynamisierte und das vermeintliche Ende der Gesprächssituation in Aussicht stellte,152 wendet sich hier die Situation erneut. Philoktet scheint in seinem Sprechen ganz seinen Emotionen und dem ihn über‐ kommenden Leid zu folgen, eine rationale Auseinandersetzung mit ihm ist un‐ möglich. Der rasche Sprecherwechsel unserer Stelle (vgl. v.a. v. 1181 ff.) steht dabei in wirkungsvollem Kontrast zu den ausgreifenden Redepartien des ersten Teils. War dort die an den Tag gelegte Emotionalität besonders von eher dis‐ tanzierter Betrachtung und Reflexion geprägt, so entlädt sie sich nun in kurzen, konkrete Handlungen in den Blick nehmenden Anrufen. Philoktet bricht trotz der Mahnung des Chors, sich zu mäßigen, in Vers 1186 in eine erneute Wehklage aus, die nach der Anrufung seines δαίμων und seines Fußes in der Bitte an den Chor gipfelt, nun wiederzukommen. Die vorsichtig optimistische Frage des Chors v. 1191 nach einer möglichen Meinungsänderung sowie dem weiteren Vorgehen wird von ihm allerdings zurückgewiesen: Je‐ mandem, der von wildem Schmerz geplagt werde, dürfe man nicht zürnen, selbst wenn er gleichsam von Sinnen klage. Der Aufforderung des Chors, sich nach seinen Anweisungen in Bewegung zu setzen (v. 1196), erteilt der Protagonist eine entschiedene Absage: Mit größtem Nachdruck betont er, selbst wenn Zeus ihn mit den Strahlen seines Blitzes nach Troia senden wolle, nicht zu folgen. 152

Dass der Abtritt des Chors grundsätzlich nicht unmöglich wäre, zeigt der Aias. Hier allerdings wird dieser zwar denkbare, aber höchst seltenen Bühneneffekt lediglich in Erwägung gezogen.

1. Philoktet

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Ilion und alle Untergebenen des Odysseus, die ihn damals aussetzten, sollten, so der Wunsch des entschlossenen Helden, zu Grunde gehen. Eine Bitte richtet Philoktet daraufhin an die Schiffsleute des Neoptolemos: Ihn verlangt, wie das folgende Wechselgespräch (v. 1204 – 1211) herausstellt, nach einem Schwert, einem Beil oder einer sonstigen Waffe, mit der er sich selbst töten könne, um so seinen Vater im Hades aufzusuchen. Prägnant fasst Philoktet dabei sein mo‐ mentanes Trachten in Vers 1209 zusammen: φονᾷ φονᾷ νόος ἤδη „Nach Mord, nach Mord steht mir schon der Sinn!“ Wie schon in den Versen 1180 ff., so in‐ tensiviert sich auch an dieser Stelle das Gespräch: Die teilweise extrem kurzen Zwischenfragen des Chors (v. 1204, 1206, 1210, 1211) lassen den Eindruck einer hastigen, geradezu fieberhaften Kommunikation entstehen, die von den stür‐ mischen und wild auffahrenden Einwürfen des Protagonisten geprägt ist. Mit Vers 1213 scheint bei Philoktet dagegen die Resignation erneut die Oberhand zu gewinnen. Ein Anruf seiner Heimatstadt, die er, nachdem er sie als Unterstützer der verhassten Danaer verließ, wohl nie wieder zu Gesicht bekommen werde, gipfelt in den niederschmetternden Worten ἔτʼ οὐδέν εἰμι (v. 1217) „Darüber hinaus bin ich nichts mehr“. Dass Philoktet nach diesen Worten in seine Höhle geht und damit das unmittelbare Bühnengeschehen verlässt, zeigen die späteren Aufforderungen des Neoptolemos v. 1261 f. Halten wir daher fest: Die ausgrei‐ fende lyrische Passage mündet an unserer Stelle in den Abtritt des Protago‐ nisten, nachdem bereits in den Versen 1177 ff. das Abtreten des Chors unmit‐ telbar bevorstand. Mit Philoktets Abgang hat die prägende Gestalt der vorangegangenen Szene das Geschehen verlassen und die außergewöhnliche Gesprächssituation so ein Ende gefunden. Die Passage soll nun als Ganze in den Blick genommen werden. Motivisch schöpft der Wechselgesang in beiden Teilen aus den Monologen des Protago‐ nisten in der vorangegangenen Szene. Anders gesagt: Etwas wesentlich Neues teilt Philoktet nicht mit. Die teilweise begrifflichen Reminiszenzen an die vo‐ rangegangene Szene sind dabei offensichtlich; es genügt, die folgenden Punkte aufzuzählen: Der Anruf der Felsenbehausung zu Beginn des Wechselgesangs (v. 1081 f.) nimmt Vers 952 wieder auf; das nunmehr problematische, d. h. gefahr‐ volle Verhältnis Philoktets zu den ihn umgebenden Tieren, wie es im Besonderen die zweite Gegenstrophe verbalisiert, war bereits in den Versen 956 ff. ähnlich drastisch geschildert worden; die vernichtende Selbsteinschätzung, nunmehr dem Tode näher zu sein als dem Leben, ja geradezu nichts mehr zu sein (v. 1217), fand ihren prägnanten Ausdruck bereits in Vers 951. Die Bitte des Prot‐ agonisten an die Schiffsleute um eine geeignete Waffe zur Selbsttötung (v. 1204 ff.) spiegelt dazu die Androhung Philoktets in den Versen 999 ff., sich in den

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I. Chöre wehrfähiger Männer

Tod zu stürzen, wenn auch die unmittelbare Gefahr für das Leben des Helden an der früheren Stelle wesentlich virulenter war. Es dürfte bereits aus diesen Andeutungen klar geworden sein: Der Wechsel‐ gesang setzt die vorangegangenen Monologe des Protagonisten motivisch fort153 und stellt zugleich mit seinem statischen ersten Teil einen Kontrapunkt zur be‐ lebten vorangegangenen Szene dar. Nach der überraschenden Einschaltung des Odysseus in die Bühnenhandlung und dem aktionsreichen Rededuell zwischen ihm und dem Protagonisten kehrt so zunächst Ruhe ein. Die Gesprächssituation Protagonist-Chor ist im Ablauf der Tragödie dabei einmalig und markiert den vorliegenden Kommos als besonderen emotionalen Höhepunkt des Stückes. Seine Ausdehnung (über 130 Verse) ermöglicht die wort- und effektreiche Be‐ leuchtung der zutiefst verfahrenen Situation. Wie gesehen, versenkt sich Phi‐ loktet dabei zunächst ganz in die Klage über das erlittene Unrecht und stellt in einem umfassenden Blick sich und seine hoffnungslose Lage dar. Die Kommu‐ nikation mit dem Chor ist dabei einseitig: Auf die Bemerkungen der Schiffsleute geht Philoktet nicht ein, sondern setzt seine Klage geradezu monologisch fort. Der zweite, wesentlich dialogischere und aktivere Teil des Kommos greift die abgeklungene Dynamik wieder auf: Mit dem Spiel um den Abgang des Chors und der effektvollen Meinungsänderung Philoktets kommt einige Aktion auf die Bühne. Die Schlusspartie der Passage entfaltet daraufhin erneut das bereits mehrmals angeklungene Todesmotiv und mündet dabei in den spannungsrei‐ chen Abtritt des Protagonisten. Die energische lyrische Partie findet so einen dramatischen, d. h. aus dem Geschehen selbst motivierten, Endpunkt. Dabei entsprang die Belebung des zur Ruhe gekommenen Bühnengeschehens in Vers 1169 der Initiative des Protagonisten, d. h. sie erwuchs aus der lyrischen Partie selbst. Nicht die Einschaltung eines weiteren Akteurs leitete nach dem statischen und wenig handlungsintensiven Passus der Verse 1081 – 1168 zum ei‐ gentlichen Fortgang der Handlung über,154 sondern die dem Impetus Philoktets entspringende Wendung zum Chor sowie die damit einhergehenden Aufforde‐ rungen zum Abtritt bzw. Bleiben. Philoktet dominiert so erneut die lyrische Passage, die durch sein Sprechen und Handeln zu einer besonders dynamischen und betont brisanten Liminalszene wird.

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So auch B URTON (1980) S. 244: „The way to it [i.e. the lyric dialogue] has been prepared throughout the preceding iambic scene from 865, and it is a natural continuation in song of the last twenty or thirty lines of that scene“. Durch einen so gearteten Handlungsanstoß „von außen“ leitet der Dichter z. B. nach dem zweiten Kommos der Elektra v. 871 (Auftritt der Chrysothemis) oder dem ersten Klagegesang innerhalb der Antigone v. 883 (Einschaltung Kreons) unmittelbar in die sich anschließende Szene über.

1. Philoktet

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Die motivische Bündelung an unserer Stelle entfaltet erneut ein Panorama der Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit Philoktets und erlaubt so einen letzten ausführlichen Blick auf die Lebensumstände und die vermeintliche Zukunft des Haupthelden. Beim Blick auf die Binnenstruktur der chorischen Partien innerhalb der Tra‐ gödie fällt ein besonderes Moment der Kompositionsabsicht ins Auge: Die vor‐ liegende letzte Chorpartie des Dramas korrespondiert hinsichtlich der Ge‐ sprächssituation und Thematik in besonderer Weise mit der Parodos als der ersten chorischen Passage und beantwortet sie als deren Gegenstück. Unter‐ hielten sich nach dem Prolog des Dramas die Schiffsleute mit Neoptolemos über Philoktet, seine Lebensumstände und sein Schicksal, so ist hier der Protagonist selbst Gesprächspartner und zugleich inhaltlicher Hauptbezugspunkt. Die Rol‐ lenverteilung zwischen Chor und Akteur ist dabei geradezu vertauscht: In der Parodos waren die Aussagen des Chors von Mitleid und Anteilnahme geprägt, während Neoptolemos versuchte, durch das Aufzeigen konkreter Handlungs‐ empfehlungen und den Verweis auf das göttliche Wirken in Philoktets Schicksal eine abgeklärtere Position einzunehmen. Die Dominanz des Chors und seiner emotionalen Ausleuchtung war dabei gerade durch das eingeschobene rein cho‐ rische Strophenpaar (v. 169 – 190) offensichtlich, entfielen doch von den über 80 Versen der Passage nur rund 24 auf Neoptolemos. An unserer Stelle nun ist es der Protagonist, d. h. der dem Chor gegenüberstehende Akteur, dessen emo‐ tional aufgeladenes Selbstmitleid mit der zur Mäßigung ratenden Einordnung des Chors kontrastiert. Dementsprechend überwiegt hier, wie oben schon be‐ merkt, der Redeanteil Philoktets deutlich. Ein weiterer Vergleichspunkt bietet sich an: In der Parodos stand das Auf‐ treten des Protagonisten unmittelbar bevor und wurde besonders von den Cho‐ reuten mit einer Mischung aus Angst, Mitleid und einer Art von Neugierde bzw. Schaulust erwartet. Das Herannahen der Schritte belebte dabei die ausgreifende Reflexion im Mittelteil der Passage in Vers 201 ff., worauf das Rufen Philoktets seinen Auftritt in greifbare Nähe rücken ließ. Das vernehmliche ἰὼ ξένοι (v. 219) beendete schließlich die Parodos und damit das Gespräch zwischen Neo‐ ptolemos und seinen Schiffsleuten. Die Parodos bereitete so den Auftritt des Protagonisten und damit den Beginn der im Prolog intendierten Intrigenhand‐ lung vor. Ihre ‚Stretta‘ ab Vers 201 ließ sie dabei zu einer geradezu gedoppelten Liminalszene werden: Nicht nur wurde zu Beginn der Partie der Auftritt des Chors ereignis- und effektvoll in Szene gesetzt, ihren eigentlichen Kulminati‐ onspunkt fand sie im Erscheinen des Protagonisten. Der Kommos an unserer Stelle spielt erneut mit der Bühnenpräsenz des Prot‐ agonisten: Nachdem der Auftritt des Odysseus in der vorangegangenen Szene

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I. Chöre wehrfähiger Männer

der dominierenden Präsenz Philoktets einen natürlichen Widerpart entgegen‐ setzte, ist die lyrische Partie, wie gesehen, ganz von Philoktet bestimmt. Sein Abtritt ist der effektvolle Schlusspunkt der lyrischen Passage, die damit die aus‐ greifende und ununterbrochene Szene schließt, die mit dem Erwachen des Haupthelden v. 865 begonnen hatte.155 Die durchgehende Lyrisierung der Partie (in der Parodos kamen Neoptolemos bis auf die kurzen Beiträge im abschließenden Strophenpaar nur anapästische Verse zu) unterstreicht dabei die gesteigerte Emotionalität und Brisanz. Aus der Perspektive des mit dem Mythos in Grundzügen vertrauten Zu‐ schauers bildet der Kommos die spannungsreiche Einleitung der Schlusspartie des Stücks. So ist mit dem Abtritt des Protagonisten die Handlung zu einem Ruhepunkt gelangt, der allerdings nicht das Ende der Tragödie darstellen kann: Letztlich – so das Vorwissen des informierten Betrachters – wird Philoktet doch mit nach Troia fahren und dort seinen Beitrag zur Einnahme der Stadt leisten. Wie allerdings die Situation innerhalb der Tragödie aufgelöst werden kann, ist nach der umfangreichen lyrischen Partie nicht abzusehen. Eine Versöhnung des Haupthelden mit Odysseus scheidet nach der im Kommos deutlich herausge‐ stellten Verbitterung Philoktets jedenfalls aus. Sophokles forciert so an unserer Stelle gerade durch den scheinbar endgültigen Abtritt des Protagonisten den Fortgang der Handlung. Eine weitere grundlegende dramaturgische Funktion der umfangreichen und sowohl formal wie auch emotional herausragenden ly‐ rischen Partie ist damit bestimmt: Sie fordert die Erwartungshaltung des Pub‐ likums in besonderem Maß heraus. Was zunächst geradezu als lyrisches An‐ hängsel an die vorangegangene Szene wirkte, wird so zur effektvollen und spannungsreichen Einleitung der Schlusspartie der Tragödie. Exodos (v. 1222 – 1471)

Bis auf die zu einem gewissen Grad standardisiert zu nennenden Schlussverse der Tragödie (v. 1469 – 1471) meldet sich der Chor bzw. der Chorführer in der letzten Szene des Stückes nicht mehr zu Wort. Diese signifikante Zurückhaltung erstaunt zunächst, war doch der Chor im bisherigen Verlauf der Tragödie be‐ ständiger Gesprächspartner in groß komponierten lyrischen Dialogszenen (Par‐ odos, Austausch mit Neoptolemos im „Schlaflied“, Kommos mit Philoktet) und auch in den Sprechpartien durch kommentierende Einschätzungen präsent (so z.B. v. 317 f., 522 f., 1045 f.). Das erste Epeisodion hatte zudem gezeigt, wie sogar lyrische Partien in den Handlungsablauf integriert werden können. Die Schluss‐

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So auch B URTON (1980) S. 248: „So ends the powerful scene which began with the awa‐ kening of Philoctetes after his attack of agony“.

1. Philoktet

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partie der Tragödie spielt sich nun ganz ohne die Einschaltung des Chors ab. Wie lässt sich dieser bewusste Verzicht auf jegliche chorische Einschaltung ge‐ rade aus dramaturgischen Gesichtspunkten nachvollziehen? Machen wir dazu die folgenden Punkte klar: Die Exodos der vorliegenden Tragödie ist von ausgreifender Länge (rund 250 Verse) und dabei durch das Aufund Abtreten der Akteure in sich gegliedert (Auftritt von Neoptolemos und Odysseus v. 1222, Abtritt bzw. Verbergen des Odysseus v. 1258, Auftritt Philoktet v. 1263, Wiederauftritt Odysseus v. 1293, Abtritt desselben v. 1298, Erscheinen des Herakles v. 1409). Die Handlung ist dabei von unerwarteten Umschwüngen und erheblicher Brisanz geprägt: Nachdem Odysseus von Neoptolemosʼ Absicht gehört hat, Philoktet den Bogen zurückzugeben, droht er mit Waffengewalt, was Neoptolemos erwidert (v. 1254 ff.). Philoktets Wiedererscheinen steht in Kon‐ trast zu seinem als endgültig inszenierten Abgang am Ende des Kommos und gipfelt in der offenen Auseinandersetzung mit dem mittlerweile wieder auf der Bühne präsenten Odysseus (v. 1299 ff.). Auch hier droht die Situation zu eska‐ lieren: Die Androhung Philoktets, Odysseus mit einem Pfeil zu töten, präsentiert den Protagonisten in wiedererlangter Stärke. Die Kräfteverhältnisse zwischen ihm und Odysseus sind mit Blick auf die Fesselungsszene (v. 1003 ff.) gerade entgegengesetzt. Der Bedrohte entzieht sich der Situation durch Flucht. Mit Ne‐ optolemosʼ Monolog (v. 1314 – 1347) und der Antwort des Protagonisten (v. 1348 – 1372) kehrt vorübergehend etwas Ruhe ein. Das anschließende stichomy‐ thische Wechselgespräch der beiden (v. 1380 – 1392) und der Austausch in tro‐ chaeischen Tetrametern v. 1402 – 1408 beleben die Szenerie erneut und entwi‐ ckeln eine besondere dramatische Sogwirkung: Das Ende der Handlung steht nun endgültig bevor, nachdem Odysseus seinen Einfluss auf Philoktet und Neo‐ ptolemos gänzlich verloren zu haben scheint. Die Erscheinung des Herakles schließlich ist geradezu die Überbietung der an Wendungen und Umschwüngen reichen Schlussszene: Erst durch die Epiphanie des Halbgottes kommt das Büh‐ nengeschehen endgültig zur Ruhe, die klaren Anweisungen ordnen das weitere Vorgehen, deuten die Handlung abschließend und geben einen Ausblick auf die kommenden Geschehnisse um Troia. Das Bühnengeschehen innerhalb der Exodos ist, wie gesehen, von einiger Aktion geprägt und entfaltet durch seine unerwarteten Wendungen eine be‐ sonders mitreißende Dynamik. Das Fehlen chorischer Äußerungen unter‐ streicht dabei ein besonderes Moment der dramatischen Gestaltung: Die akti‐ onsreiche Darstellung lässt schlichtweg keine Zeit für eine reflektierende oder auch nur motivisch vertiefende Anmerkung des Chors, der in das eigentliche Handlungsgeschehen sowieso nicht mehr eingebunden ist. Anders stellte sich die Situation noch zu Beginn der Tragödie dar, als die Mithilfe der Schiffsleute

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I. Chöre wehrfähiger Männer

bei der Täuschung des Haupthelden ein wirklicher Bestandteil der Handlung war. Im Schlussteil der Tragödie dagegen entwickelt sich die Handlung aus‐ schließlich im engen Personengeflecht zwischen Neoptolemos, Odysseus, Phi‐ loktet und Herakles, ohne dass dem Chor noch eine signifikante Rolle zu‐ käme.156 Wenn dabei der Chor geradezu als Unbeteiligter dem Geschehen folgt und keine wahrnehmbare Einmischung zeigt, unterstreicht dies die rasche und in einigen Punkten nicht vorauszusehende Handlungsentwicklung. Anders ge‐ sagt: Der völlige Verzicht auf chorische Beteiligung verschiebt den dramatischen Fokus ganz auf das Beziehungsgeflecht der Akteure untereinander und bündelt die Aufmerksamkeit auf die finale Lösung des Konflikts. Zugleich wertet der Verzicht auf eine chorlyrische Passage innerhalb der Exodos den vorangegangenen Kommos mit dem Protagonisten auf und verleiht ihm im Nachhinein besonderes Gewicht: Der expressive und ausgreifende Wechselgesang ist die letzte Chorpartie der Tragödie. Die abschließenden Verse 1469 – 1471 fallen demgegenüber kaum ins Gewicht. Das im Austausch mit Phi‐ loktet erreichte Maß an Emotionalität, Bühnenwirkung und Spannung wird ge‐ rade nicht durch eine erneute lyrische Partie beantwortet, sondern findet seine Fortsetzung und schließlich seine Auflösung im konkreten Handlungsge‐ schehen. Im Sinne des ökonomischen Einsatzes chorischer Partien und ihrer Binnenstruktur über die ganze Tragödie hinweg setzt Sophokles mit dem Kommos so den bewussten Schlusspunkt chorischer Beteiligung, der als moti‐ vischer und szenischer Kulminationspunkt unübertroffen, ja: unangetastet bleibt. Auf die Schlussverse der Tragödie wurde mehrmals hingewiesen. Sie sind im besten Sinne konventionell zu nennen und zeugen doch von der besonderen Gestaltungsabsicht des Dichters. Beleuchten wir kurz ihre Einbindung in die Situation: Nachdem Philoktet die Stimme seines Freundes Herakles als solche erkannt hat (v. 1445 ff.), bekundet er, den gegebenen Anweisungen Folge leisten zu wollen, d. h. sich nun nach Troia zu begeben und dort die Griechen bei der Eroberung der Stadt zu unterstützen. Dem schließt sich Neoptolemos in einer kurzen Bemerkung (v. 1448) an, worauf Herakles zu schnellem Handeln mahnt. Philoktet nimmt daraufhin in einem letzten Monolog (v. 1452 – 1468) von seiner Behausung und der Insel Lemnos Abschied und bittet um die Begünstigung der unmittelbar bevorstehenden Seefahrt. Die drei Verse des Chors rufen daraufhin zunächst zum gemeinsamen Aufbruch; betont schließen sich dabei die Cho‐ 156

Vgl. B URTON s (1980) Einschätzung zum Ende des Kommos (v. 1217) S. 248: „At this point the sailorsʼ part is done, and we hear no more of them until the conventional anapaestic coda“.

1. Philoktet

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reuten selbst ein (χωρῶμεν) und leiten damit den Abgang des gesamten drama‐ tischen Personals ein. Diesem Auszug vorausgehen bzw. ihn begleiten soll die Anrufung der Meernymphen, denen als „Retter“ (σωτῆρας) die Sorge um den günstigen Ausgang der Heimfahrt obliegt. Dieses chorische Echo der Aussagen des Protagonisten schließt die Tragödie. Machen wir uns klar: Als einzige der überlieferten Tragödien unseres Autors schließt der Philoktet mit einer konkreten Handlungsanweisung, durch die der Chor seinen unmittelbar bevorstehenden oder schon eingeleiteten Abgang kommentiert. Die Konventionalität der Verse liegt dabei in ihrer kurzen, coda-artigen Prägnanz, die mit Verweis auf göttliche Mächte das Geschehen abzuschließen sucht. Ihren besonderen Reiz entfalten die scheinbar so beliebigen Verse durch ihre Positionierung am Ende der Szene und im Anschluss an Phi‐ loktets letzten Monolog. Dieser hatte sich dabei zum letzten Mal direkt an die ihn umgebende Natur, seine Wohnstatt und die Insel gewandt, wobei er das Ungemach seines Aufenthalts auf Lemnos in zwei kurzen Reminiszenzen auf‐ leuchten ließ (die Erinnerung an das Tosen des Meers und den damit einher‐ gehenden, Regen mit sich führenden Südwind v. 1455 ff. sowie das Echo des eigenen Klagens v. 1458 ff.). Die folgenden Anrufungen der Quellen (v. 1461), des „lykischen Tranks“157 (v. 1461) sowie der Insel Lemnos selbst (v. 1464) sind erneut ganz von der Hoffnung auf den bevorstehenden Aufbruch geprägt. Die Freude geht sogar so weit, den lemnischen Boden selbst aufzufordern: „Schicke mich zufrieden in glücklicher Fahrt!“ (v. 1465). Philoktet scheint sich an diesem Punkt nach der Einwirkung des Herakles mit der Insel geradezu versöhnt zu haben, die bald resignierende, bald aggressive Stimmung des Kommos hat sich hier am Ende der Tragödie aufgelöst. Der Wechselgesang des Protagonisten mit dem Chor dient dabei der unmit‐ telbaren Schlusspartie (v. 1452 – 1471) des Dramas als motivische Folie, auf der sich die schlagartig veränderte Stimmung wirkungsvoll abheben kann. An zwei Momenten lässt sich die Verwandtschaft der Szenen und die zu Grunde liegende Kompositionsabsicht aufzeigen: Die Anrufungen der unmittelbaren Umwelt als gliederndes und prägendes Moment bestimmen die Struktur beider Partien (vgl. v. a. die Ansprache der Behausung v. 1081 ff. sowie v. 1453). Mit der Aussichts‐ losigkeit des Kommos, an Ort und Stelle bleiben zu müssen, kontrastiert hier die freudige Erwartung; aus dem verzweifelten Anruf des gewohnten Umfelds ist der hoffnungsvoll-versöhnte Abschiedsgruß geworden.

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Zu dieser rätselhaften Bemerkung vgl. W EBSTER (1970) S. 159: „again something we have never heard of before“ und K AMERBEEK (1980) S. 194: „indubitably a spring sacred to Apollo Lycius, probably known to the audience, but for us unknown from elsewhere“.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

Die Ankündigungen des eiligen Abgangs reihen sich des Weiteren in die Kette der scheinbar unmittelbar bevorstehenden Abfahrten und Abtritte (so v. 461 ff., v. 637, v. 1408), setzen allerdings durch die bewusste Selbstaufforderung des Chors im Besonderen die Motivik des Kommos (v. 1177 ff.) fort. Hatte dort der Chor willig in die Bitte Philoktets, ihn zu verlassen, eingestimmt (ἴωμεν ἴωμεν v. 1179), um schließlich von ihm zurückgerufen zu werden, so kommen die Choreuten am Schluss der Tragödie erneut den Aufforderungen Philoktets nach. Diesmal allerdings setzen sie sich mitsamt den Akteuren in Bewegung und ver‐ lassen tatsächlich den Ort des Geschehens. Das in der lyrischen Partie virulente Spiel mit Abtritt und Bühnenpräsenz findet so am Schluss der Tragödie seinen natürlichen Zielpunkt. Es ist demnach alles andere als Zufall oder reine Konvention, dass der Chor mit seinen Schlussversen auf den Monolog des Protagonisten antwortet: Mit dem chorischen Echo ist neben der Motivik sowohl die Gesprächssituation als auch die zielgerichtete Funktion des Kommos – wenn auch kurz – in Erinnerung gerufen und beantwortet. Der Anteil des Chors in dieser finalen Liminalszene der gesamten Tragödie ist dabei so gering wie möglich, erlaubt allerdings doch die Reminiszenz an die umfangreichste chorische Partie des Dramas. Zusammenfassung

1. Mit Blick auf das erste der in der Einleitung entworfenen Spektren (Spektrum I: der tragische Chor als (kollektive) dramatis persona) lässt sich im Anschluss an die Einzelanalyse Folgendes festhalten: Wie auch im Aias ist der Chor der vorliegenden Tragödie hinsichtlich seiner Rollenidentität, d. h. als dramatis per‐ sona, wesentlich an einen Akteur, in diesem Fall an Neoptolemos gebunden. Als Subordinierte stehen die Choreuten dabei in einem besonderen Abhängigkeits‐ verhältnis zu ihrem Herrn, den sie in kritischen Situationen (vgl. erstes Epeis‐ odion, im Besonderen v. 391 ff.) vorbehaltlos unterstützen und dessen Position sie in Auseinandersetzungen (vgl. Kommos Philoktet-Chor v. 1081) vertreten. Dem Austausch zwischen dem Chor und Neoptolemos kommt dabei inner‐ halb der Tragödie entscheidende Bedeutung zu: Bereits die in Form einer Un‐ terweisungsszene gestaltete Parodos inszeniert die entsprechende Gesprächs‐ situation als bedeutsamen Rahmen der chorischen Präsenz. Das (zumindest partielle) Wissen des Chors um die eigentlichen Absichten der auf Lemnos ge‐ landeten Gesandtschaft des griechischen Heeres lässt den Chor dabei zum Mit‐ intriganten werden und unterlegt den Austausch zwischen Neoptolemos und seiner Mannschaft zudem mit besonderer Brisanz. Die Gesprächssituation dient gerade in ihrer Reinszenierung im Anschluss an das „Schlaflied“ (v. 827 ff.) zur

1. Philoktet

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Einblendung der virulenten Intrigensituation; in Abwesenheit des Odysseus übernimmt so die chorische Präsenz und ihre Einbindung in das Bühnenge‐ spräch die Funktion, die mit der Intrige gegebene doppelte Ebene im Bewusst‐ sein zu halten. Mit der Aufdeckung der Intrige durch Neoptolemos selbst (v. 895 ff.) verliert daraufhin auch der Austausch zwischen dem Chor und seiner rollenimma‐ nenten Bezugsperson an Relevanz: Der einzige lyrische Austausch des letzten Teils der Tragödie ist dementsprechend der Kommos zwischen Philoktet und dem Chor (v. 1081 ff.). Die spärlichen iambischen Einwürfe des Chors (v. 963 f., 1045 f., 1072 f. sowie die Auftrittsankündigung v. 1218 ff.) nach der Aufdeckung der Intrigensituation sind dahingegen kaum mehr als zum Teil dramaturgisch klar funktionalisierte Äußerungen, die zum einen die Ratlosigkeit des Chors, zum anderen seine ungebrochene Ausrichtung auf Neoptolemos verbalisieren; einen inhaltlich bedeutsamen Beitrag zur Handlung leisten sie nicht. Während die chorische Präsenz so im ersten Teil der Tragödie (d. h. vom Ende des Prologs bis zur Aufdeckung der Intrige) die der Handlung zu Grunde liegende Intrigen‐ konstellation inszeniert und so mitten im Geschehen verankert ist, verschiebt sich ihre dramaturgische Funktion zum Ende der Tragödie: Statt am Hand‐ lungsfluss aktiv teilzuhaben und, wie im „Schlaflied“, den Gang der Ereignisse beeinflussen zu wollen, kommt dem Chor mehr und mehr eine betrachtende Position zu, während sich das eigentliche Geschehen zwischen den Akteuren Odysseus, Neoptolemos und Philoktet (in wechselnden Kombinationen) ab‐ spielt. 2. Wie lassen sich die Chorpartien des Philoktet nun innerhalb des zweiten Spektrums (Spektrum II: Reflexionsstrategien) verorten? Zur Beantwortung dieser Frage ist es zunächst geboten, sich die in den Partien verhandelten Themen und Gegenstände erneut vor Augen zu führen. Neben Neoptolemos als rollenimmanenter Bezugsperson und hauptsächlichem Gesprächspartner des Chors bildet die Gestalt des Protagonisten das eigentliche inhaltlich-themati‐ sche Zentrum der chorischen Aussagen: Sein aktuelles Schicksal und der jewei‐ lige Grad seiner Präsenz sind in geradezu monothematischer Ausrichtung Ge‐ genstand aller lyrischen Partien. Während die Choreuten dabei in den dialogischen Partien, d. h. im Besonderen im direkten Austausch mit Neopto‐ lemos und dem Protagonisten selbst eine als pragmatisch zu beschreibende Hal‐ tung gegenüber Philoktet an den Tag legen, dominiert in den rein chorischen Passagen (v. a. im zweiten Strophenpaar der Parodos v. 169 ff. sowie im Stasimon 676 ff.) ein emotionaler Zugang, der im Besonderen das Moment des Mitleids und Bejammerns betont.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

In ihrer thematischen Ausrichtung auf den Protagonisten sind die chorischen Passagen immer punktgenau im dramatischen Geschehen zu verorten. Sie be‐ dienen sich dabei im Wesentlichen imaginierender Reflexionsstrategien: Im Vordergrund steht jeweils die möglichst anschauliche Darstellung der Situation des Protagonisten sowie einzelner Details (v. a. die Einsamkeit des Haupthelden sowie die Schwierigkeit der Nahrungsversorgung), die – über das ganze Stück betrachtet – geradezu leitmotivischen Charakter tragen. Die geradezu exklusive thematische Zentrierung der chorischen Reflexion auf den Protagonisten und die jeweilige dramatische Situation bringt eine be‐ sondere Verengung der Perspektive und die Ausblendung einiger mit der Hand‐ lung assoziierter Momente mit sich: So kommt innerhalb der chorischen Refle‐ xion weder der Vorgeschichte der Handlung (konkret: der Aussendung der Mission nach Lemnos, dem Helenos-Orakel oder gar den Ursachen für Phil‐ oktets Leiden) noch der moralischen Dimension der intendierten Intrige oder auch der Zielsetzung des Unternehmens, d. h. der Einnahme Troias, sowie der Bogen-Mann-Problematik besondere Bedeutung zu.158 Die Einblendung anderer Zeitebenen ist dementsprechend kein strukturelles Moment der chorischen Re‐ flexion;159 auch die das eigentliche Geschehen subtil konterkarierende zeitliche Verortung des entworfenen Panoramas innerhalb des Stasimons dient dabei der Ausleuchtung des dramatischen „Hier und Jetzt“, das seinerseits als mittlerweile überwundene Stufe ausgedeutet wird und damit als Ausgangspunkt einer al‐ lenfalls angedeuteten Zukunftsaussicht fungiert. Auch hinsichtlich des personellen Rahmens bieten die Chorpartien keine Weitung des Bezugsrahmens: Einzig Anfang und Ende des Stasimons mit ihrer mythischen Parallele (Ixion) sowie der Erwähnung des Herakles greifen über das eng umrissene Personenspektrum der bis zum Zeitpunkt des Liedes unmit‐ telbar mit der Handlung in Zusammenhang stehenden Gestalten aus. Während

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Der geradezu lapidare Verweis, ein Gott werde danach sehen (v. 843), ist in diesem Zusammenhang programmatisch. Anders die entweder der Einblendung der Vorgeschichte oder einer Zukunftsaussicht dienenden Chorpartien anderer Tragödien (vgl. Antigone, Parodos; Trachinierinnen, erstes Stasimon bzw. Elektra, erstes Stasimon; Aias, zweites Strophenpaar des ersten Stasimons). Eine andere Komposition wäre – mutatis mutandis – auch hier möglich gewesen: So hätte ein über die Hintergründe der Mission zumindest partiell infor‐ mierter Chor in seinem Auftrittslied gewisse Momente der Vorgeschichte sowie die Zielsetzung des Unternehmens anreißen können, um in einem zweiten Schritt von Neo‐ ptolemos über die konkreten Gegebenheiten informiert zu werden.

1. Philoktet

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Ixions Beispiel dramaturgisch nicht funktionalisiert wird, steht Herakles freilich in engem Zusammenhang mit dem Geschehen.160 3. Bis auf das einzige Stasimon sind alle Chorpassagen der vorliegenden Tra‐ gödie entweder dezidiert als Beitrag eines Austauschs mit einem der Akteure funktionalisiert oder in einen derartigen Unterredungskontext eingepasst (v. a. zweites Strophenpaar der Parodos). Sowohl die eigentlichen Amoibaia bzw. epirrhematischen Partien als auch die in den Lauf des Bühnengesprächs einge‐ setzten Strophen des Chors verstehen sich so bewusst als Bestandteil der Hand‐ lung und des dramatischen Fortschritts, auch wenn, wie im Fall der Parodos, genuin reflektorische Partien enthalten sind. Auf die regelmäßige Einschaltung chorlyrischer Stasima, wie sie den Ablauf anderer Tragödien maßgeblich prägen, verzichtet Sophokles im vorliegenden Stück dabei bewusst. Indem er die geradezu standardisierte Form chorischer Präsenz auf ein Mindestmaß reduziert, macht er die eigentlich konventionelle Situation des alleine auf der Bühne reflektierenden Chors zu einem besonderen Moment im Ablauf der Tragödie. Dieser Einmaligkeit des Stasimons wird durch die ihm eigene, in mehrfacher Hinsicht gebrochene Beziehung der Reflexion zur Handlung besondere Brisanz verliehen. Die chorische Stimme ist so weitestgehend dramatisiert, d. h. in den Aus‐ tausch der Personen eingebunden und als eine Stimme unter anderen klar funk‐ tionalisiert. 4. Welche genuin dramaturgischen Implikationen ergeben sich nun aus dieser Funktionalisierung der Chorpassagen (Spektrum III)? Einen umfassenden Re‐ flexionsrahmen, in den das Geschehen eingeordnet würde, bietet die chorische Reflexion nicht. Zwar setzt der Chor im zweiten Strophenpaar der Parodos Phi‐ loktets Schicksal in Beziehung zur allgemeinen Verfasstheit des menschlichen Lebens (v. 177 ff.) und beginnt das Stasimon mit einem mythischen Vergleich, der die Schwere des dem Haupthelden zugefallenen Schicksals herausstellen soll; diesen Verweisen kommt allerdings keine ausgreifende strukturelle oder thematische Bedeutung zu: So bleibt die kurze Apostrophierung der „Men‐ schengeschlechter“ in Vers 178 einzig ein Ausruf innerhalb der Imagination der Lebensumstände des Protagonisten, der Verweis auf Ixion zu Beginn des Stasi‐ mons dient nur als Kontrastfolie und spielt für den Fortgang des Liedes keine Rolle. Eine Auseinandersetzung mit den der Handlung zu Grunde liegenden Wirkmechanismen oder mit den durch sie aufgeworfenen Problemen (so z. B.

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Vgl. die Einordnung der Schlusspartie des Stasimons, wie sie in der Interpretation ad locum geleistet wurde.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

das Verhältnis von Gemeinschaft und Individuum, Fragen nach dem Wert der Pflichterfüllung, der Instrumentalisierung anderer, des Konflikts von Veranla‐ gung des Einzelnen und Anspruch der Gemeinschaft) werden nicht behandelt. Anders gesagt: Der Chor deutet das Geschehen nicht aus, er interpretiert es nicht und unterlegt es keinem größeren Sinnzusammenhang. Dementsprechend be‐ ansprucht der Chor auch keine besondere Autorität bei seinen Äußerungen: Weder intendiert er, allgemeine Wahrheiten vorzutragen, noch aus einer dem Geschehen enthobenen Position ein Gesamtbild der mit der Handlung assozi‐ ierten Momente zu liefern. Im Ganzen lässt sich festhalten, dass der Chor des Philoktet im besonderen Maß an der Handlung teilnimmt und sich als in das Geschehen eingebunden versteht. Die chorischen Partien dienen dementsprechend weniger der Ausdeu‐ tung und Kontextualisierung der Geschehnisse, sondern nehmen wiederholt den Haupthelden in den Blick, fokussieren also auf ein entscheidendes Moment der Handlung. Der weitgehende Verzicht auf eine Strukturierung der Tragödie durch regelmäßig eingeschaltete reine Chorpartien garantiert dem Stück im Ganzen einen durchgängigen Handlungsfluss, in den der Chor sowohl hin‐ sichtlich seiner Person als auch der von ihm getätigten Äußerungen eingewoben ist. Einzig für die Dauer des Stasimons wird das Voranschreiten der Handlung kurzzeitig angehalten und das dramatische Tempo gedrosselt – um sich im di‐ rekten Anschluss mit dem Krankheitsausbruch des Haupthelden mit unge‐ ahnter Dynamik wieder zu beschleunigen.

2. Aias

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2. Aias Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur

Der Aias 161 ist gemäß der allgemeinen Meinung eine der ältesten, wenn nicht die älteste der überlieferten Tragödien unseres Autors.162 Als wahrscheinliche Aufführungszeit werden die fünfziger Jahre des fünften Jahrhunderts ge‐ nannt.163 Wie auch der Philoktet, so ist die nach ihrem Haupthelden Aias be‐ nannte Tragödie im unmittelbaren Kontext der Kämpfe vor Troia angesiedelt. Auch dass in beiden Tragödien Odysseus, eine besonders prominente Gestalt

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In Abgrenzung zu der Tragödie, in der Sophokles den gleichnamigen Heroen Aias aus Lokris ins Zentrum stellt, trägt das vorliegende Drama auch den Beinamen Αἴας μαστιγοφόρος. Der Αἴας λοκρός dagegen ist nur in Bruchstücken überliefert; die Frag‐ mente finden sich in R ADT (1977). Tragicorum Graecorum fragmenta IV Sophocles, Göttingen unter den Nummern 10 ff. So die (zumindest in der deutschsprachigen Forschung) vertretene communis opinio; vgl. L ATACZ (2003) S. 168. Z IMMERMANN (2011) formuliert im Rahmen seiner zu unter‐ stützenden Kritik an Datierungsversuchen S. 575 besonders vorsichtig: „Ai. und Trach. gelten aufgrund der zweigeteilten Struktur („Diptychonform“) seit Webster und Rein‐ hardt (1976, 250) als frühe Stücke“, beginnt seine Darstellung der Tragödien allerdings wie selbstverständlich mit dem Aias. Dass die „Diptychonform“ an sich weder von dra‐ maturgischer Unbeholfenheit zeugt noch Momente einer besonders „archaischen“ Stufe der Gattungsentwicklung in sich tragen muss, zeigt ihr bewusster Einsatz durch Euri‐ pides (Alkestis, Hippolytos, Herakles), der sich dabei möglicherweise an Sophokles an‐ lehnt, das formale Schema allerdings mit besonderer Meisterschaft handhabt. Wenn der Aias unter die „frühen Stücke“ unserers Autors gezählt wird, darf freilich nicht aus den Augen verloren werden, dass Sophokles bereits im Jahr 470 zum ersten Mal eine Tet‐ ralogie aufführte und schon 468 seinen ersten Sieg bei den Dionysien errang (vgl. L ATACZ (2003) S. 162 f.). Er war demnach zum vermuteten Entstehungszeitpunkt des Aias bereits gute zehn Jahre aktiv und überdies erfolgreich als Dichter präsent. Mit dem Aias liegt so das Werk einer bereits etablierten Künstlergestalt vor, die mit den Kon‐ ventionen der attischen Bühne vertraut war und das Handwerk des (Tragödien-)Dich‐ tens vollauf beherrschte. Einen Überblick gibt R OSENBLOOM (2014) S. 1256 f. Demnach reichen die Datierungen von den 450er Jahren bis zu extrem späten Ansätzen (geschlossen aus einer möglichen Zugehörigkeit des Aias zur selben Trilogie wie der von Aristophanes in den Wolken zitierte Teukros: „[…] Ajax may have been performed somewhere in the vicinity of 423, the date of the Cloudsʼ first performance“ S. 1257). Vgl. im Besonderen den Ansatz von K AMERBEEK (1953). The Plays of Sophocles, Commentaries Part I The Ajax, Leiden, S. 15 ff., der trotz des Mangels an externen Datierungsmöglichkeiten auf Grund re‐ konstruierter politischer Zusammenhänge S. 17 vorschlägt: „[…] it would be not sur‐ prising if the tragedy of Ajax appeared to have been written shortly after Cimon’s death (449)“, und den Aias (mitsamt den Trachinierinnen) zu den frühen Stücken zählt.

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des entsprechenden Sagenkreises, eine zentrale Rolle spielt,164 bildet eine her‐ vorzuhebende Parallele zwischen Aias und Philoktet. Bedenken wir zudem, dass die Chöre der beiden Tragödien aus Schiffsmannschaften bestehen (einmal die des Neoptolemos, hier die des Haupthelden Aias), dass in beiden Fällen die Haupthelden geradezu paradigmatische Einzelgänger innerhalb bzw. gegenüber der als Gruppe gedachten griechischen Heermacht sind, dass schließlich beide Einzelgänger gegen die Atriden und / oder Odysseus einen besonderen Groll hegen, so scheinen die beiden Tragödien auf den ersten Blick einiges gemein zu haben. Dass die beiden Stücke trotz dieser Parallelen hinsichtlich ihres settings ganz verschieden sind, beweist bereits ein kurzer Blick auf die Handlung der vorliegenden Tragödie. Der griechische Heros Aias ist bei der Vergabe der Waffen des gefallenen Achill Odysseus unterlegen. Er gerät in Wut auf die Heerführer, im Besonderen auf Agamemnon und Menelaos, sowie auf Odysseus. Bevor er allerdings den Griechen gravierendes Leid zufügen kann, schlägt ihn Athene, die traditionelle Schutzgottheit des Odysseus, mit Wahnsinn, sodass er im Glauben, die ver‐ hassten Griechen zu bestrafen, auf Schafherden einstürmt und diese grausam niedermetzelt. Nachdem er wieder bei Sinnen ist,165 erkennt er die Bandbreite seiner Tat: Als Ausweg aus Schmach und Schande wählt er den Selbstmord und stürzt sich in sein Schwert. Im Anschluss daran thematisiert das sophokleische Drama den Streit um die Bestattung des Aias: Sein Halbbruder Teukros über‐ nimmt die Sorge um die Hinterbliebenen und drängt darauf, Aias eine Beerdi‐ gungszeremonie zukommen zu lassen. Die Atriden allerdings verbieten dies zu‐ nächst. Odysseus, der durch Athene schon zu Beginn der Handlung über den Geisteszustand des Helden, dessen Beweggründe und die grundlegende Abhän‐ gigkeit der Menschen vom Handeln der Götter informiert wurde, erreicht schließlich ein Umdenken bei Agamemnon: Aias darf bestattet werden; statt

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Die Charakterisierung des Odysseus ist dabei in beiden Stücken grundverschieden: Während er im Philoktet mit geradezu sophistischen Mitteln die Rückholaktion verfolgt und dabei Neoptolemos zwingt, gegen seine Natur zu handeln, verkörpert er im Aias, wie noch zu zeigen sein wird, Versöhnung und Menschlichkeit auch im Angesicht menschlichen Scheiterns. Ich gehe davon aus, dass Aias zwischen dem Ende des Prologs und v. 333 (seiner ersten hinterszenischen Wortmeldung nach dem Prolog) wieder klares Bewusstsein erlangt. Sowohl seine Äußerungen im Kommos zwischen ihm, Tekmesssa und dem Chor (v. 348 – 427) sowie im anschließenden zweiten Teil des ersten Epeisodions als auch seine „Trugrede“ (v. 646 – 692) sind dementsprechend bewusste Äußerungen. Auch der Ent‐ schluss zum und die Durchführung des Suizids sind meines Erachtens daher keine „Wahnsinnstaten“.

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Feindschaft und Missgunst stehen Menschenfreundlichkeit und Versöhnung am Ende des Dramas. Sophokles greift damit eine bekannte Episode des troianischen Sagenkreises auf und prägt sie mit Bezug auf andere literarische Vorlagen166 in besonderer Weise. Im Gegensatz zu Aischylos, der in seinem Aiasdrama den Streit um die Waffen des Achill dargestellt haben muss,167 verschiebt er den zeitlichen Aus‐ schnitt der Handlung: Er rückt den Selbstmord des Protagonisten in die Mitte des Stücks und lässt so den Haupthelden nur in der ersten Hälfte des Dramas überhaupt auftreten. Durch den Abtritt des Chors vor der Selbstmordszene (v. 813 f.) und seinem Wiederauftritt nach erfolgtem Suizid des Haupthelden (v. 866 ff.) ist das Drama rein äußerlich in zwei Blöcke geteilt (Diptychonform). Diese Trennung in die Zeit vor und nach dem Tod des Protagonisten bestimmt die Struktur der Tragödie in besonderer Weise und wird bei der Interpretation im Folgenden dementsprechend behandelt werden. Es wird dabei auch zu zeigen sein, inwieweit die chorischen Partien einem Auseinanderfallen beider Teile entgegenwirken. Der Chor besteht aus der Schiffsmannschaft des Aias, die zusammen mit Tekmessa (der „Frau“168 des Aias), Eurysakes169 (dem Sohn von Aias und Tek‐ messa) und schließlich Teukros (dem Halbbruder des Aias) die Angehörigen des Helden bilden. Diese stehen zum Haupthelden in einem besonderen Abhängig‐ keitsverhältnis: Aiasʼ Wohlergehen und sein Stand unter den Anführern des griechischen Heeres vor Troia sind Garant ihrer Sicherheit und Unversehrtheit. Der erste Teil der Tragödie spielt sich dabei im Wesentlichen innerhalb des durch die Angehörigen des Helden bezeichneten persönlichen Rahmens ab.

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Vgl. Odysseusʼ Treffen auf Aias in der Unterwelt bei Homer (Odyssee 11, 541 ff.). Einen knappen Überblick über Sophoklesʼ Behandlung des Aias-Mythos gibt R OSENBLOOM (2014) S. 1257 f. Schon der Titel des aischyleischen Dramas (ὅπλων κρίσις) deutet die veränderte The‐ matik an. Die Fragmente und ihre mögliche Einordnung in das Stück finden sich in R ADT (1985). Tragicorum Graecorum Fragmenta V, Göttingen unter den Nummern 174 ff. Dass Tekmessa durch Aias bei einem Kriegszug erbeutet wurde und damit streng ge‐ nommen eine Sklavin darstellt, hat in der vorliegenden Tragödie keine Bedeutung; ihre beinahe standesgemäße Stellung scheint vielmehr gerade ein Charakteristikum der so‐ phokleischen Version des Mythos zu sein (vgl. R OSCHER (1965). „Tekmessa.“ in: Aus‐ führliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie Band V, hrsg. v. W. H. R OSCHER (1965), Sp. 211 – 213, „Sophokles läßt jedoch das Sklavenlos der T[ekmessa] möglichst wenig drückend erscheinen; sie nimmt fast die Stellung einer rechtmäßigen Gattin ein und ist in treuer Liebe ihrem Herrn ergeben, an dessen Händen nicht, wie eine spätere Sage erzählte, das Blut ihres Vaters klebte“ (Sp. 211). Die Rolle des Knaben Eurysakes in der vorliegenden Tragödie ist stumm.

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Diesem engsten Kreis um Aias stehen mit Menelaos und Agamemnon die entscheidenden Befehlshaber der Griechen gegenüber; ihre Auftritte im zweiten Teil der Tragödie (Menelaos in v. 1047, Agamemnon in v. 1226) leiten dabei die entscheidenden Konfrontationsszenen ein. Odysseus schließlich hat eine ge‐ wisse Mittelstellung inne: Als Aiasʼ Gegner bei der Entscheidung um Achills Waffen und einflussreicher Feldherr scheint er dem Haupthelden zunächst kon‐ frontativ entgegenzustehen. Seine ihm im Prolog durch Athene vermittelte Ein‐ sicht in die wahren Gegebenheiten aber macht ihn in der zweiten Konfrontati‐ onsszene (v. 1318 ff.) zu einem Fürsprecher im Interesse von Aiasʼ Angehörigen. Der Aufbau des gesamten Stückes ist im besten Sinne unkonventionell170 und unterliegt, wie noch zu zeigen sein wird, ganz der dramatischen Aussageabsicht, Aias als Dreh- und Angelpunkt der Handlung ins Bild zu setzen. Interpretation Prolog (v. 1 – 133)

Bereits der die dramatische Handlung eröffnende Prolog ist eine Szene voller bildkräftiger Bühnenwirkung. Athene erscheint Odysseus, der am Rande des griechischen Lagers vor Troja die Behausungen des Aias inspiziert, um heraus‐ zufinden, was sich in der vergangenen Nacht dort tatsächlich abgespielt hat. Dabei kann Odysseus einzig die Stimme der Göttin wahrnehmen (vgl. v. 14 ὦ φθέγμʼ Ἀθάνας).171 Der Göttin kommen die ersten Worte der Tragödie zu: Sie begrüßt ihren Schützling, lobt seinen Spürsinn (v. 7 f.) und stellt in Aussicht, dass sie ihn hinsichtlich seiner Suche aufklären werde (v. 11 ff.). Odysseus verleiht daraufhin seiner Freude über die Erscheinung der Gottheit Ausdruck und er‐ klärt, dass er sich angesichts der allgemeinen Ungewissheit über die tatsächli‐ chen Vorfälle der letzten Nacht ein eigenes Bild der Situation zu machen ver‐ suche (v. 31 ff.). In einem durch einen Doppelvers der Göttin eingeleiteten stichomythischen Gespräch (v. 38 – 50) und einem sich anschließenden Monolog (v. 51 – 73) klärt Athene Odysseus über den wahren Sachverhalt auf: Aias sei auf Grund der Entscheidung der Heerführer, die Waffen des gefallenen Achill nicht ihm zuzusprechen, in Zorn geraten. Seinen Plan, ein Blutbad unter den Griechen anzurichten und dabei vor allem die Heerführer Agamemnon und Menelaos sowie Odysseus qualvoll zu töten, habe Athene selbst vereitelt, indem sie den 170 171

Vor allem im Vergleich mit der Antigone oder dem Oidipus Tyrannos. Vgl. dazu im Be‐ sonderen die Ausführungen zum Abtritt des Chors (im Anschluss an v. 813 f.) ad locum. Der die Gottheit darstellende Schauspieler wird möglicherweise auf dem θεολογεῖον oder einer anderen „Zwischenbühne“ aufgetreten sein, sodass er für das Publikum zwar sichtbar, dem restlichen Bühnengeschehen allerdings deutlich „enthoben“ war.

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Helden mit Wahnsinn geschlagen habe. Aias habe sich stattdessen auf eine Schafherde der Griechen gestürzt und diese gnadenlos niedergemetzelt. Im Glauben, Odysseus in die Hände bekommen zu haben, habe er dabei einen Bock mit in sein Zelt genommen, den er nun mit einem Lederriemen peitsche. Schließ‐ lich ruft Athene den wütenden Aias und fordert ihn auf, aus seinem Zelt zu treten (v. 71 ff.). Odysseus ist zunächst entsetzt und fürchtet, sollte Aias tatsäch‐ lich erscheinen, um sein Leben. Nachdem ihn Athene allerdings versichert hat, Aias könne ihn nicht wahrnehmen, lässt er die Göttin gewähren. Der Titelheld, von Athene erneut herbeigerufen, betritt daraufhin in Vers 91 die Bühne und bietet einen für Odysseus und das Publikum gleichermaßen schauderhaften Anblick: Blutbespritzt, mit dem Lederriemen bewaffnet und vom Wahnsinn getrieben wird er zum Demonstrationsobjekt göttlicher Macht. Nach einer kurzen Unterhaltung mit Athene, in deren Verlauf er sich mit seiner Tat brüstet und Athene sein Vorgehen gegen seine vermeintlichen Gegner schil‐ dert, tritt Aias nach Vers 117 wieder in sein Zelt, um sich erneut seiner „Aufgabe“ zu widmen, d. h. die vermeintlichen Griechenfürsten zu peinigen. Dabei ver‐ säumt er es nicht, Athene um ihren immerwährenden Beistand als „Kampfge‐ nossin“ (σύμμαχον v. 117) zu bitten. Odysseus offenbart in der Konfrontation mit dem gestürzten Helden seine edle Gesinnung: Nicht Triumph über den in der Entscheidung um die Waffen des Achill Unterlegenen, nicht Spott und Häme gegen den vom Wahnsinn Ge‐ triebenen, sondern Mitleid (ἐποικτίρω v. 121) und Einsicht in das unstete Wesen des Menschen sowie die Nichtigkeit seiner Existenz (v. 125 f.) prägen seine Re‐ aktion. Athene beschließt daraufhin den Prolog mit Worten der Warnung: Odysseus solle selbst kein überhebliches Wort den Göttern gegenüber verlieren und auch im Fall besonderer Überlegenheit gegenüber anderen keine Aufge‐ blasenheit (ὄγκον v. 129) an den Tag legen, da ein einziger Tag alles Menschliche (ἅπαντα τἀνθρώπεια v. 132) neigen und aufrichten könne. Mit einer besonders universellen Bemerkung tritt sie schließlich ab: Die Götter liebten die Beson‐ nenen, die Schlechten aber hassten sie (v. 133). Odysseus tritt, ohne dem göttli‐ chen Spruch zu antworten, ebenfalls ab; mit Vers 133 hat sich die Bühne gelehrt. Fassen wir einige Momente des Prologs mit Blick auf seine dramaturgischen Implikationen zusammen. Unter Einbeziehung der Höchstzahl von drei Ak‐ teuren komponiert Sophokles eine besonders eindrückliche und effektvolle Ein‐ gangsszene. Der Auftritt einer Gottheit im Prolog ist im Rahmen der uns über‐

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lieferten Tragödien des Sophokles einmalig.172 Der Unterschied zum typisch euripideischen Götterprolog ist dabei allerdings augenfällig:173 Hier erfolgt keine umfassende Einführung in den der Handlung zu Grunde liegenden Mythos, keine Vordeutung der Geschehnisse durch einen umfangreichen Monolog der Gottheit.174 Vielmehr ist der vorliegende Prolog bereits eine Dialogszene, die mit Odysseus und Aias die zwei zentralen Figuren der Bühnenhandlung exponiert. Die Einführung einer Gottheit als Akteur eröffnet Sophokles dabei eine Reihe dramaturgischer Möglichkeiten. Zum einen arrangiert er die Personenkonstel‐ lation geschickt um die Figur der Athene: Sie ist sowohl der Zentralpunkt des Prologgesprächs als auch die entscheidende Impulsgeberin. Im elaborierten Ge‐ flecht von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit differenziert Sophokles darüber hi‐ naus die Beziehungen der einzelnen Akteure untereinander: So ist Athene für

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Überhaupt ist der Auftritt von Gottheiten in den uns überlieferten Tragödien des Dich‐ ters ein äußerst sparsam eingesetztes dramatisches Mittel (vgl. E SPOSITO (2014 a). „Gods and Fate.“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy III, hrsg. v. R OISMAN (2014), Malden (MA), S. 1286 – 1291. Für acht der fragmentarisch überlieferten Tragödien rekonstruiert er insgesamt elf Theophanien): Die vorliegende Stelle ist die einzige, in der eine olym‐ pische Gottheit als Akteur in das Geschehen eingreift. Im Philoktet bringt dagegen der Auftritt / die Erscheinung des Herakles, immerhin eines vergöttlichten Heros, als eines deus ex machina am Ende der Tragödie (v. 1409) die entscheidende Wende der Hand‐ lung. Die Stellen sind trotz ihrer personellen Gemeinsamkeit – Aufritt einer Gottheit bzw. eines vergöttlichten Helden – nur äußerst bedingt miteinander vergleichbar. Be‐ reits die unterschiedliche Positionierung des „Götterauftritts“ – im Prolog oder ganz am Ende des Stücks – führt grundverschiedene dramaturgische Implikationen mit sich. E SPOSITO (2014 a) S. 1286 sieht in der kurzen Erscheinung Athenes im Prolog, nach dem die Handlung von Aias dominiert wird, paradigmatische Züge: „So Athena’s cameo appearance serves, as do Sophoclesʼ other brief theophanies, primarily as a springboard for exploring existential human struggles […]“. Vgl. die Prologe der Tragödien Alkestis, Hippolytos, Troerinnen, Ion und Bakchen. K AMERBEEK s (1953) Notiz S. 19 „Of all Aeschylusʼ extant prologues the one to Prome‐ theus is to a certain extent comparable with the prologue to Ajax“ ist nicht in Gänze nachzuvollziehen, da eine genaue Klärung der Berührungspunkte zwischen den beiden doch sehr unterschiedlichen Partien ausbleibt. Möglicherweise soll die behauptete Ähnlichkeit implizit die Frühdatierung des Aias untermauern, indem sie Sophoklesʼ Schaffen in die Nähe seines Vorgängers rückt. Ein Mehrwert unter unseren Gesichts‐ punkten lässt sich daraus allerdings nicht ziehen.

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Odysseus (und wahrscheinlich Aias)175 nur hör-, nicht aber sichtbar, Odysseus bleibt gänzlich Aias verborgen, während er den Titelhelden wiederum sehen kann. Dramaturgischer Nutznießer dieser so diffizilen Konstruktion ist dabei freilich das Publikum: Die Zuschauer sind über die genauen Vorgänge informiert und überblicken die Gesprächssituation im Ganzen. Ihr Wissen um die Zusam‐ menhänge teilen sie dabei mit Odysseus, der durch die Göttin eines besonderen Einblicks in die wahren Verhältnisse gewürdigt wurde. Die Einführung einer Gottheit als Prologsprecher ermöglicht es dem Dichter zudem, den Protagonisten selbst in die Wiedergabe des der Bühnenhandlung unmittelbar vorausgegangenen Geschehens einzubinden und darüber hinaus die hinterszenische und damit für das Publikum unsichtbare Ebene der Hand‐ lung (das Geschehen in der Hütte des Aias) zumindest partiell sichtbar zu ma‐ chen. Der Auftritt des Haupthelden, den die Göttin für eine kurze Zeitspanne aus seiner rasenden Tätigkeit herausruft, holt so das Geschehen der unmittel‐ baren Vorgeschichte geradezu in actu auf die Bühne. Das zum Verständnis der Haupthandlung nötige Vorwissen wird so nicht nur berichtet, sondern zu einem gewissen Teil selbst dargestellt und damit im besten Sinne dramatisiert. Die dabei schon rein visuelle Drastik ist für die Wirkung des vorliegenden Prologs prägend und geradezu konstitutiv. Anders gesagt: Die vorliegende Tragödie be‐ ginnt mit einem Schockeffekt, der allerdings zugleich durch Athenes Handeln und Deuten, d. h. innerdramatisch, eingeordnet und funktionalisiert wird. Zuschauer und Leser müssen sich im Folgenden nicht an den vom Chor be‐ schriebenen Vermutungen über die Ursache der Raserei des Aias beteiligen; ihnen ist vielmehr bereits im Prolog durch die Gegenüberstellung von Aias als dem gefallenen Helden und Odysseus, der darauf mit Mitleid reagiert, ein Grundmuster der gesamten Handlung in nuce präsentiert worden. Im Blick auf die kommende Bühnenhandlung nimmt der Prolog der Tragödie dabei trotzdem eine gewisse Sonderstellung ein: Von der eigentlichen Haupt‐ 175

Ein zuverlässiges Indiz, ob Aias die erschienene Göttin nur hören oder auch sehen kann, findet sich im Text nicht. Angesichts seiner Vorstellung, Athene stehe ihm bei der Aus‐ führung seiner Rache bei (vgl. die Konstatierung ihrer Hilfe v. 92 sowie die Bitte um weitere Hilfe v. 117), kann man zumindest die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Aias glaubt, Athene zu sehen, ihr also im Moment des Gesprächs leibhaftig gegenüberzu‐ stehen. Das oben ausgeführte Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit wäre in diesem Fall noch komplexer gestaltet und um die Innenperspektive eines Akteurs er‐ weitert. Nebenbei sei bemerkt, dass die Prologszene nicht zuletzt wegen dieser raffi‐ nierten Konstruktion gerade auch dem modernen Theater den Einsatz besonderer Ef‐ fekte ermöglicht (zu denken wäre an Klang- bzw. Videoinstallationen, die die Erscheinung der Gottheit und das Verhältnis der einzelnen Akteure dazu besonders deutlich ausleuchten).

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handlung scheint er in mancherlei Hinsicht getrennt zu sein. Als geradezu in‐ time, durch offensichtliches Götterhandeln geprägte Szene bildet der Prolog ein abgeschlossenes Ganzes, das in seinem setting einen Kontrapunkt zur weiteren Bühnenhandlung bildet. Als Mitwisser aus geradezu göttlicher Perspektive weiß sich der Zuschauer mit Odysseus dem eigentlichen Geschehen rund um Aias bis zu einem gewissen Grad enthoben; aus einer um die wahren Zusammenhänge und deren theologische Einordnung Wissender steht er der Handlung somit von vorneherein gegenüber. Es ist zudem ein fein komponierter Kunstgriff, den Ti‐ telhelden im Prolog als vom Wahnsinn Getriebenen vorzuführen, um dann die Handlung mit seinem Erwachen aus der Raserei erneut beginnen zu lassen. Schließlich fängt die eigentliche Tragödie aus Aiasʼ Perspektive in dem Moment an, in dem er sich seines Falls bewusst wird (referiert zunächst in Tekmessas Bericht v. 257 ff., dramatisiert schließlich mit eigenen Worten ab v. 333) und auf seine eigene Tat reagieren muss. Als vom Wahn Getriebener wird Aias im Fol‐ genden nicht mehr auftreten, er ist gleich mit seinem ersten Wiederauftritt nach dem Prolog (v. 348) ein gebrochener Held. Die heroischen und kämpferischen Qualitäten, die im Prolog ins Wahnhafte verzerrt waren, weichen zunächst Ent‐ setzen über die eigene Tat und münden schließlich in den Entschluss zum bzw. die Ausführung des Suizids. Die Odysseus und dem Publikum im Prolog ge‐ währte Einsicht bildet dabei die Folie, vor der sich dieses eigentliche Geschehen abspielen wird. Trotz des mitunter belebten Gesprächs, der ausgeklügelten Gesprächssitua‐ tion und der durch Auf- und Abtritt des Titelhelden geprägten Dynamik der Szene wird im Prolog keine Spannung aufgebaut oder ein für das Folgende wichtiger Impuls gegeben.176 Die sich auf der Bühne abspielende Szenerie wirkt dagegen im Wesentlichen statisch und in sich geschlossen. Die einzige perso‐ nelle Kontinuität zwischen dem Prolog und der folgenden Handlung ist dabei Odysseus, der nicht nur dem rasenden Aias, sondern auch seiner Leiche mit Mitleid und Menschlichkeit begegnen wird. Indem so die Prologszene ihren eigenen Kosmos bildet, ermöglicht sie, eine gewisse Distanz zum Geschehen einzunehmen: Die Ausführungen von Athene und Odysseus entwerfen bereits vor Beginn der eigentlichen Bühnenhandlung den Reflexions- und Deutungsrahmen, der die Einordnung des Kommenden in

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Anders z. B. in den Prologen der Antigone, der Elektra oder den Trachinierinnen, wo ähnlich intime Zusammenkünfte von Akteuren im Prolog mit einem für die weitere Handlung wichtigen Entschluss eines Handlungsträgers (Antigones Entschluss, ihren Bruder zu bestatten; Orests Planung der Rache an der eigenen Mutter) oder der Aus‐ sendung eines weiteren Akteurs (Hyllos als Kundschafter nach seinem Vater Herakles) und damit einem wichtigen dramatischen Impuls enden.

2. Aias

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einen weiteren Kontext ermöglichen wird. Als in sich geschlossener Einblick in die der Handlung zu Grunde liegenden Strukturen bildet der Prolog so im besten Sinne eine Vor-Szene, die bereits entscheidende Momente der Handlung an‐ deutet und einordnet. Folgendes lässt sich festhalten: Sophokles versteht es, durch die im Rahmen der von ihm überlieferten Tragödien einmalige Konstruktion des Dramenbeginns, Zuschauer (und Leser) zu Mitwissern der zweiten (göttlichen) Ebene der Hand‐ lung und so bereits von Beginn an zu Deutern des Geschehens zu machen. Weit über die rein funktionalen Erfordernisse eines Prologs (Einführung in Ort, Zeit und Personenkonstellation der Handlung) hinaus steckt der Dichter so den Rahmen der folgenden Bühnenhandlung besonders eindrucksvoll ab und weist den Rezipienten eine herausragende Stellung zu. Im besonderen In- und Mitei‐ nander von visueller Drastik und reflektierender Distanz gestaltet er die Pro‐ logszene des Aias zu einer im besten Sinne dramatischen Partie, deren funktio‐ nale Polyvalenz gerade auch dem im Anschluss auftretenden Chor eine spezifische dramaturgische Funktion zuweist. Parodos (v. 134 – 200)

Nach dem Abgang von Athene und Odysseus zieht der Chor der salaminischen Seeleute in die Orchestra ein. Diese Auftrittsszenerie ist dabei ein umfassender Großabschnitt, der sich vom Ende des Prologs in Vers 133 bis zum Beginn der Sprechverse des ersten Epeisodions in Vers 263 über mehr als 130 Verse er‐ streckt. Grob zerfällt die Passage in zwei Abschnitte: Dem rein chorischen Auf‐ trittslied (v. 134 – 200) folgt ein Amoibaion mit Tekmessa, die in Vers 201 mit den Schiffsleuten in einen Austausch eintritt. Beide Abschnitte lassen sich wiederum unter metrisch-formalen Gesichtspunkten in jeweils zwei Teile untergliedern: Innerhalb der eigentlichen Parodos folgen einer ausgedehnten anapästischen Passage (v. 134 – 171) je eine lyrisch komponierte Strophe, Gegenstrophe und Epode des Chors. Der Austausch des Chors mit Tekmessa ist zunächst ebenfalls in anapästischen Versen komponiert (v. 201 – 220), an die sich ein lyrisches Stro‐ phenpaar des Chors anschließt (v. 221 – 232 sowie 245 – 256), in dessen Mitte (v. 233 – 244) und an dessen Ende (v. 257 – 262) wiederum anapästische Verse Tek‐ messas zu stehen kommen. Bereits dieser kurze Überblick macht deutlich: Der vorliegende Abschnitt ist eine komplexe Komposition aus verschiedenen Form‐ teilen der Tragödie, in denen die chorische Präsenz in je eigener Form zu Tage tritt. Die vorliegende Komposition, besonders die Voranstellung einer ausge‐

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dehnten anapästischen Partie vor das eigentliche lyrische Auftrittslied, ist dabei im erhaltenen Werk unseres Dichters einzigartig.177 Es ist am zweckmäßigsten, zunächst den rein chorischen Abschnitt (v. 134 – 200) als eigentliche Parodos zu behandeln und sich danach dem Amoibaion zwischen Chor und Tekmessa zu widmen. Diese Teilung soll allerdings nicht über die grundsätzliche Zusammengehörigkeit der beiden Partien hinwegtäu‐ schen: Die volle Würdigung der Komposition unter unseren dramaturgischen Gesichtspunkten wird in der besonderen Gegenüberstellung der beiden Partien und einem Überblick zu leisten sein. Mit einer direkten Ansprache an Aias und einer Bekundung der Verbundenheit zu ihrem Herrn betreten die Choreuten die Orchestra (v. 134 ff.): Wenn es ihm, dem Herrn des „ringsumflossenen, meernahen Salamis“ (τῆς ἀμφιρύτου Σαλαμῖνος) gut gehe, seien sie selbst erfreut (ἐπιχαίρω). In kontrastiver Fort‐ führung der Periode (σὲ δʼ) bekennen die Choreuten allerdings, dass sie große Verdrossenheit (μέγαν ὄκνον) trügen sowie in Schrecken und Angst um ihren Herrn gesetzt seien (πεφόβημαι v. 139), seitdem ein „Schlag des Zeus“ (πληγὴ Διός v. 137) oder die verleumderische Rede von Seiten der Griechen (ζαμενὴς λόγος ἐκ Δαναῶν) gegen ihren Herrn angerückt seien. Mit Vers 140 kommt der Chor auf die aktuelle Situation zu sprechen und entfaltet im Folgenden ver‐ schiedene Gedanken in schneller Abfolge: Im Lauf der vergangenen Nacht sei lautes Lärmen (μεγάλοι θόρυβοι) bezüglich der Tat des Aias durch das Lager der Griechen gedrungen und hätte auch die Seeleute des Aias erreicht:178 Mit dem Schwert, so haben sie erfahren, soll ihr Herr die Schafe der Danaer getötet haben. Als konkretes Feindbild steht den Choreuten dabei Odysseus vor Augen (v. 148 ff.): Dieser erdichte die verleumderischen Reden über Aias, verbreite unter den Griechen die Kunde von den Geschehnissen der letzten Nacht und über‐ zeuge damit in besonderem Ausmaß (σφόδρα πείθει): Jeder, der Odysseusʼ Worte

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Vgl. K AMERBEEK (1953), dessen apodiktische Schlussfolgerung S. 46 hinsichtlich der Da‐ tierung des Aias allerdings mit einiger Vorsicht zu behandeln ist: „This form of parodos occurs nowhere else in Sophocles and is in itself a proof of the comparatively early date of the piece“. Hier nun zu fragen, wie genau die Schiffsleute des Aias an die ihnen vorliegenden Informationen gekommen sind, ist müßig; gar eine Pause zwischen Prolog und Auftritt des Chors anzunehmen, während derer der Chor die Reaktion des griechischen Heeres auf Odysseusʼ Bericht erlebt haben könnte, wie es S TANFORD (1963) S. 76 vorschlägt, geht an der Realität der dramatischen Illusion vorbei: Es spielt unter dramaturgischen Gesichtspunkten keine Rolle, wie die Choreuten an ihr Wissen gelangt sind; wichtig ist, was sie vorbringen und wie sich ihre spezifische Sicht der Dinge zum Prolog und damit dem Wissensstand des Publikums verhält.

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höre, reagiere mit Schadenfreude (χαίρει v. 152) und erhebe sich in abfälliger, hochnäsiger Weise über Aiasʼ Leid (καθυβρίζων). Es folgt eine kurze allgemeine Reflexion über das Verhältnis zwischen ge‐ sellschaftlich herausragenden und durchschnittlichen Personen, wie es sich aus der Perspektive der Schiffsmannschaft darstellt. Ein Held wie Aias biete auf Grund seiner seelischen und charakterlichen Größe, so der Chor, einige An‐ griffsfläche für derartige verleumderische Reden; wer nämlich über einen Nor‐ malmenschen wie den einzelnen, einfachen Seemann (κατὰ … ἐμοῦ v. 155) ab‐ wertende Gerüchte in die Welt setzt, werde kaum überzeugte Zuhörer finden. Die zur Begründung dieses Sachverhalts angeschlossene Sentenz v. 157 verba‐ lisiert, auf welche Motivation die Schiffsleute die Verleumdungen ihres Herrn zurückführen: Neid nämlich richte sich nur gegen denjenigen, der „besitzt“ (τὸν ἔχονθʼ), d. h. den besonders Einflussreichen. Dagegen stellten die „Kleinen“ (σμικροί v. 158) ohne die „Großen“ (μεγάλοι) einzig eine schwache Schutzwehr (σφαλερὸν πύργου ῥῦμα) dar, seien also auf die Hilfe der Mächtigen unmittelbar angewiesen.179 Denn, so der Chor, ein Geringer (βαιός v. 160) dürfte wohl „ge‐ meinsam mit Großen“ (μετὰ μεγάλων), ein Großer durch den Dienst der Ge‐ ringen (ὑπὸ μικροτέρων)180 aufgerichtet werden (ὀρθοῖθʼ v. 161). Nun aber werde ihr Herr Aias von Menschen verfolgt, die das nicht verstehen könnten; der Chor bekennt indes, selbst keine Kraft mehr zu haben (οὐδὲν σθένομεν v. 165), ohne die Hilfe seines Herrn den Anschuldigungen entgegen‐ zutreten. Die Choreuten sind sich gewiss, dass ein erneutes Auftreten des hel‐ denhaften Aias vor den Griechen für Ruhe sorgen werde, auch wenn diese jetzt noch hinter dem Rücken des Helden Verleumdungen ausstießen (v. 170 f.): Schnell dürften sie, so die Versicherung in v. 170 f., sobald Aias erscheine, „durch Schweigen wortlos in Angst geraten“ (σιγῇ πτήξειαν ἄφωνοι). Der erste anapästische Teil der Parodos hat hier sein Ende gefunden. Es ist für unsere Zwecke vorteilhaft, in der Wiedergabe des Liedes an dieser Stelle kurz innezuhalten. Einige Aspekte der wiedergegebenen Verse 134 – 171 sollen im Folgenden näher untersucht werden. Gleich vom Beginn ihres Auftritts steht für die Schiffsbesatzung des Aias ihr Herr im Mittelpunkt; der erste Teil der Par‐ odos ist so wirkungsvoll gerahmt von der direkten Anrede in v. 134 und einem bereits implizit mitgedachten Imperativ („Erscheine endlich, Aias!“) in v. 170, den die Verse 192 ff. in aller Deutlichkeit wieder aufgreifen werden. Erstaunlich

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Anspielungsreich greift Sophokles an dieser Stelle auf homerische Beschreibungen des Aias zurück, die sicherlich auch dem antiken Publikum bekannt waren (vgl. Od. 11, 556, Il. 3, 229). Vgl. K AMERBEEK (1953) S. 51: „supported by“.

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wenig beschäftigt die Choreuten bis zu diesem Punkt die eigentliche Tat des Aias, von der sie gehört haben: Gerade einmal fünf Verse (143 – 147) widmen sie der in indirekter Rede gestalteten Wiedergabe der Gerüchte. Besonderer Nach‐ druck liegt dagegen auf dem aus Sicht der Schiffsleute eigentlichen Skandal: der üblen Nachrede, der ihr Herr ausgesetzt ist. Mit Odysseus als Anstifter und Ver‐ breiter der Gerüchte entwerfen sie dabei geradezu den Gegenentwurf zum strahlenden Helden Aias. Die Schilderungen des Chors von der Initiierung einer Verleumdung, mehr noch: der Anstiftung zum Rufmord an Aias, stehen so in wirkungsvollem Kontrast zur tatsächlichen Geisteshaltung des Odysseus, der sich im Prolog als vorsichtiger Kundschafter und Anteil nehmender Betrachter erwiesen hatte. Von den heroischen Qualitäten seines Herrn ist der Chor indessen weiterhin überzeugt. Die Thematisierung der größeren Angriffsfläche, die ein gesell‐ schaftlich herausstehender Held gegenüber einem Normalmenschen biete (v. 154 – 157), dient dabei zugleich der Selbstcharakterisierung des Chores und der Darstellung seiner Ansichten: Im festen Menschen- und Gesellschaftsbild der Schiffsbesatzung begründen Adel und heroische, d. h. kriegerische Tugend den berechtigten Anspruch auf Gefolgschaft und Unterstützung (v. 161); auf Seiten des „Helden“ geht dabei eine zumindest implizite Verpflichtung zum Schutz seiner Untergebenen einher. Die Choreuten sind sich bewusst, welche Rolle sie in diesem wechselseitigen Gefüge spielen und in welcher Beziehung sie zu ihrem Herrn stehen. Ihre Schutzbedürftigkeit bejahen sie vorbehaltlos und stehen so in fester Treue zu Aias. Auf eine Selbstvorstellung ihrer Person oder gar auf Andeutungen ihrer Identität verzichten sie dementsprechend ganz; sie sind so ausschließlich über ihre Zugehörigkeit zu Aias definiert. Hinsichtlich der dramaturgischen Implikationen der Passage soll zunächst Fol‐ gendes festgehalten werden. Sophokles unterwandert mit der vorliegenden Partie eine mögliche Erwartungshaltung des Publikums: Statt die im wahrsten Sinne unerhörte nächtliche Tat des Haupthelden zum Gegenstand der ersten chorischen Wortmeldung zu machen, lässt er die Schiffsleute über das Perso‐ nenspektrum der an der Handlung beteiligten Akteure räsonieren. Damit ist einerseits die Selbstverortung der salaminischen Schiffsleute in ansprechender Weise gelungen; zum anderen ermöglicht die Konzentration auf die beiden Hauptakteure des Prologs und Antipoden der gesamten Handlung – Aias und Odysseus – die besondere Absetzung der Partie vom Prolog. Die durch den Chor in der anapästischen Partie entworfenen Bilder der beiden Heroen stehen dem Eindruck, den das Publikum im Prolog erhalten hat, diametral entgegen: Aias, der in Wahn Gefangene, ist in der Imagination des Chors immer noch der strah‐ lende Held, der seinen Untergebenen Schutz und Sicherheit garantiert, wohin‐

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gegen Odysseus, den wir im Prolog als vorsichtigen, abwägenden und besonders mitfühlenden Anführer kennengelernt haben, hier nun als Anstifter des Ruf‐ mords gegen Aias figuriert. Das Verhältnis dieses ersten Teils der Parodos zum eben verklungenen Prolog ist dementsprechend von starker Kontrastivität ge‐ prägt: Vor allem in der Ausleuchtung der beiden Zentralfiguren der Handlung (Aias und Odysseus) sowie ihrer Beziehung zueinander ist die Einschätzung der Schiffsleute dem Informationsstand der Rezipienten entgegengestellt. Ein rein affirmativer Nachvollzug der chorischen Partie ist dem Zuschauer daher nicht möglich. Der lyrische Teil des Einzugsliedes beginnt thematisch noch einmal an einem anderen Punkt. Die grobe Gedankenbewegung ist offensichtlich: Der Spekula‐ tion über die Ursache der Raserei des Aias folgt erneut die Beschäftigung mit dem zentralen Moment der üblen Nachrede, bevor die Aufforderung, Aias solle sich jetzt aus seinem Zelt begeben und den Gerüchten ein Ende machen, die Partie beschließt. Bevor wir uns der Dramaturgie der Parodos widmen, ist es geboten, die drei Strophen etwas genauer zu betrachten. Die ganze erste Strophe ist eine direkte, zweigeteilte, an Aias adressierte Frage (σε v. 172, σοί v. 179):181 War es Artemis, die Tochter des Zeus, die182 – betrogen um den Dank für einen militärischen Sieg (τινος νίκας v. 176), die einem Feind abgenommene angesehene Rüstung (κλυτῶν ἐνάρων) oder den Erfolg bei der

181 182

Der eingeschobene, an Artemis gerichtete Vokativ ὦ μεγάλα φάτις, ὦ μᾶτερ v. 173 kann dabei von der grundlegenden Adressierung an Aias nicht ablenken. Der Text ist an unserer Stelle (v. 176 – 177) in mancherlei Hinsicht umstritten, da man am überlieferten Textbestand Anstoß nahm. Vgl. die Diskussionen bei K AMERBEEK (1953) S. 52, der vorsichtig für eine Beibehaltung der Überlieferung plädiert („Probably the text can remain as it stands, but divided as by myself“) und S TANFORD (1963). So‐ phocles Ajax: edited, with introduction, revised text, commentary, appendix, indexes and bibliography, London, S. 81 f. In den Text von L LOYD -J ONES /W ILSON (1990), der dieser Untersuchung im Wesentlichen zu Grunde liegt, haben einige Konjekturen Ein‐ gang gefunden, die hier allerdings im Einzelnen nicht diskutiert werden sollen. Die Stelle behält trotz der Konjekturen im Einzelnen einige Schwierigkeiten.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

Hirschjagd (ἀδώροις183 ἐλαφαβολίαις)184 – ihn zu den Herden der Griechen ge‐ trieben habe; oder war es der mit seinem Beinamen Enyalios bezeichnete Ares185 (v. 179), der dem Helden so eine Schmähung (λώβαν) des Gottes beim gemein‐ samen Waffengang (ξυνοῦ δορός v. 180) durch die „nächtlichen Machen‐ schaften“ (ἐννυχίοις μαχαναῖς) heimzahlte? In einer ausführlichen Periode hat der Chor damit zwei göttliche Mächte auf‐ geführt, die wegen eines möglichen Fehltritts des Helden an ihm nun Rache genommen haben könnten. In ihrer Bilderwelt von Krieg und Jagd sprechen die Choreuten dabei ganz aus der Erfahrungswelt des adligen Herrn, dessen zentrale Lebensbereiche damit abgesteckt sind. Die Gegenstrophe liefert die Begründung (γάρ v. 182) der Annahme, Aiasʼ Handeln müsse göttlich motiviert gewesen sein, wobei die Schiffsleute immer noch ihren Herrn direkt ansprechen: Aus Überlegung und mit klarem Verstand (φρενόθεν v. 182) nämlich wäre er nie „so weit gegangen“ (ἔβας τόσσον) und in die falsche Richtung (ἐπʼ ἀριστερά) abgewichen. Es müsse daher, so die vor‐ sichtig im Optativ formulierte Vermutung, eine „göttliche Krankheit“ (θεία νόσος v. 185) vorliegen. Das Zugeständnis göttlicher Beeinflussung (v. 184 f.) mündet daraufhin gleich in den Wunsch, Zeus und Phoibos sollten die böse Rede der Griechen abwehren (v. 185 f.). Wenn aber (εἰ δʼ) die „großen Könige“ (μεγάλοι βασιλῆς v. 188), sowie der dem Geschlecht des Sisyphos entstammende König im Geheimen trügerische Reden verbreiteten (ὑποβαλλόμενοι κλέπτουσι μύθους v. 187 f.), dann, so die Aufforderung des Chors, solle Aias sich nicht durch sein Bleiben im Zelt noch weitere üble Nachrede zuziehen (κακὰν φάτιν ἄρῃ v. 190). Was so als konkrete 183 184

185

Dabei ist ἄδωρος freilich aus der Sicht der betrogenen Göttin gesprochen, die das ihr zustehende Dankesgeschenk nicht erhalten hat. Ich folge K AMERBEEK (1953), der S. 54 festhält: „three reasons are given in 176 – 177 for the anger of Artemis“; seine Einschränkung „The difficulty is that it is hard to see the difference between the first and the second reason“ ist nicht erheblich. Mit den ersten beiden Gründen einer möglichen Entehrung der Göttin liegt vielmehr ein Hendiadyoin vor; die Erwähnung der Rüstung als eines herausragenden Beuteprunkstücks stellt dabei einen besonderen Aspekt, eine Spezialisierung des in Rede stehenden Sieges dar. Besonders verdeutlicht wird die Kriegsthematik daraufhin durch die konkrete Einbe‐ ziehung des Ares. Darüber hinaus übersieht K AMERBEEK den in κλυτῶν ἐνάρων gege‐ benen subtilen motivischen Bezug auf die eigentliche Ursache von Aiasʼ Wahnsinn: die Entscheidung um die Waffen des Achill. Ich schließe mich der Textgestaltung von L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) an, die der Kon‐ jektur von Reise folgen und statt des überlieferten ἤ das Personalpronomen σοι lesen. Das bringt es mit sich, entgegen der Notiz im Scholion (vgl. K AMERBEEK (1953) S. 55) ἐνυάλιος als Beinamen des Ares zu verstehen statt zwei Gottheiten anzunehmen. Vgl. G ORDON (1997). „Enyalios.“ in: DNP Band 3, Sp. 1053 f. und seine Einschätzung: „In lit. Texten war E[nyalos]. meist nur Syn. für Ares“.

2. Aias

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Ausgestaltung der φάτις und ihrer Verbreitung begann, schließt am Ende der Gegenstrophe in der konkreten Ansprache der Schiffsleute an ihren Herrn. Der in die durch geminiertes μή verneinte Aufforderung eingesetzte Vokativ ἄναξ (v. 190) kontrastiert dabei wirkungsvoll mit der bewussten, die Namen der Gegner vermeidenden Umschreibung im Konditionalsatz. Dass mit den „großen Königen“ die Atriden, mit dem Nachfahren des Sisyphos Odysseus gemeint ist, steht dabei außer Frage. Mit Vers 190 ff. setzt der Chor die Ansprache an seinen Herrn auch zu Beginn der Epode fort: Aias solle sich nun aus seinem Sitz erheben, wo er die Kamp‐ fespause verbringe und zugleich den verachtenden Übermut seiner Gegner immer weiter anfache. Poetisch kleidet der Chor den Sachverhalt dabei in das besonders eindrucksvolle Bild eines Waldbrandes,186 das die Motivik der Ge‐ genstrophe prägt: Indem er nicht eingreift, entfache Aias eine „bis zum Himmel aufflackernde Ate“ (ἄταν οὐρανίαν φλέγων), während die furchtlose Hybris der Gegner unter dem geradezu bakchischen Taumel all derer, die durch ihre Reden äußerst Schmerzliches (βαρυάλγητʼ) hervorbrächten, in „luftigen Schluchten“ (ἐν εὐανέμοις βάσσαις) rase. Eine so knappe wie wirkungsvolle Bekundung des eigenen Leids der Schiffsleute (v. 200) beschließt daraufhin die Epode und führt aus dem poetischen Bild wieder in die dramatische Realität zurück. Die Gedankenbewegung des dreistrophigen Liedes ist augenfällig: Während die erste Strophe mit Artemis und Ares zwei mögliche göttliche Verursacher der Raserei des Aias nennt sowie das eventuell zu Grunde liegende Fehlverhalten des Helden anreißt, konstatiert die Gegenstrophe erneut den Einfluss göttlicher Mächte und erbittet von ihnen konkrete Hilfe bei der Abwehr der im Lager der Griechen kursierenden Gerüchte. Die schließlich an den eigenen Herrn adres‐ sierte Aufforderung bildet die Überleitung zur Epode, die den als Hybris und Ate bezeichneten verbalen Ansturm der Gegner des Aias in einem poetischen Bild ausgestaltet. Gegenüber der anapästischen Partie hat sich der Schwerpunkt der chorischen Darstellung nicht wesentlich verschoben: Mit der Thematisierung der üblen Nachrede und der Abwertung der aus Sicht des Chors dafür Verantwortlichen sind zentrale Momente der anapästischen Verse auch im lyrischen Teil promi‐ nent vertreten. Die Vermutungen hinsichtlich möglicher Ursachen für Aiasʼ Verhalten sowie die konkreten Aufforderungen, den Nachreden nun aktiv ent‐ gegenzuwirken, rahmen dabei die Auslassungen gegen die Atriden und Odys‐ seus. 186

Vgl. K AMERBEEK (1953) S. 60, der unter Angabe der Stelle den kühnen Bildgebrauch als Verarbeitung eines homerischen Bildes erklärt.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

Betrachten wir nach dieser kurzen Auflistung thematisch-motivischer und struktureller Momente einige dramaturgische Aspekte der Parodos. Der Chor ist mit seinem Auftritt gleich mitten im Geschehen angekommen; keine lange Erzählung der Ereignisse der vergangenen Nacht oder Reflexionen über den Krieg oder die allgemeine Lage bilden den Auftakt der eigentlichen dramati‐ schen Handlung nach dem Prolog, sondern die virulente Sorge der mit dem Prot‐ agonisten eng verbundenen Schiffsleute. Besonders fassbar wird dieser Umstand in der vom Chor intendierten Gesprächssituation: Die gesamte chorische Partie ist als Anrede an den nicht auf der Bühne präsenten Aias gestaltet. Nach dem im besten Sinne eigenartigen und vom eigentlichen Bühnengeschehen abge‐ trennten Prolog führt Sophokles mit dem Auftritt des Chors ins Zentrum der Handlung, d. h. zu Aias selbst, der zwar nicht real präsent ist, dafür allerdings als wesentlicher Bezugspunkt der chorischen Reflexion etabliert wird. Das Verhältnis der Parodos zum Prolog ist dabei, wie schon gesagt, besonders kontrastiv: Die im lyrischen Teil erneut verbalisierte Geringschätzung des Odys‐ seus – diesmal erweitert um die Spitze gegen die Atriden – verschärft das bereits entworfene negative Bild und steht im Gegensatz zu dem Verhalten, das Odys‐ seus selbst im Prolog an den Tag gelegt hatte. Hinsichtlich der Vorgeschichte der unmittelbaren Handlung gestaltet sich das Verhältnis von Prolog und Parodos bedingt durch den spezifischen Wissens‐ stand des Chors ebenfalls spannungsreich: Der Chor ist über die Hintergründe der nächtlichen Geschehnisse sowie deren genauen Ablauf nicht informiert. Dementsprechend entfällt jede Thematisierung des Waffenstreits sowie Ausge‐ staltung der hinterszenischen Vorgänge um Aias. Die Spekulationen über gött‐ liches Handeln als mögliche Ursache von Aiasʼ Verhalten in der Strophe (v. 172 ff.) wirken dabei als besonderer Kontrapunkt zur im Prolog inszenierten Götterhandlung, die die wahren Umstände bereits deutlich gemacht hat. Das Chorlied drängt dabei vor allem durch seinen imperativischen Charakter (vgl. v. 190 ff.) sowie seine fortgesetzte Stilisierung als Ansprache des Haupt‐ helden direkt zur dramatischen Handlung, indem es den Auftritt des Protago‐ nisten herbeisehnt. Dass dieser sich allerdings durch die Einschaltung der Un‐ terredung zwischen Tekmessa und dem Chor verzögert, wird die Spannung nochmals erhöhen. Das im Lied inszenierte Reden über Aias und seine Tat bzw. deren Folgen für die Angehörigen verdichtet so die dramatische Aufmerksam‐ keit. Anders gesagt: Die Parodos lenkt alle Konzentration auf Aias, indem sie die Beziehung zwischen ihm und seiner Schiffsmannschaft sowie das gestörte Verhältnis zwischen ihm und den anderen Griechen ausleuchtet. Im Vergleich mit der Charakterzeichnung des vorangegangenen Prologs lie‐ fert sie dabei einen Gegenentwurf: Der um den bevorstehenden Suizid wissende

2. Aias

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Zuschauer antizipiert, dass Aias im Folgenden als gebrochener, gefallener Held auftreten wird, und weiß zugleich, dass die Stilisierung, die ihm der Chor zu‐ kommen lässt, mittlerweile ihrer Grundlage entbehrt. Entsprechendes gilt mit Blick auf Odysseus: Mit dem Wissen um sein Handeln im Prolog erscheint die in der Parodos gegebene Ausleuchtung seines Tuns als Zerrbild der von Sorge um Aias und sich selbst sowie von starker Antipathie gegen „die Griechen“ ge‐ leiteten Schiffsleute. Amoibaion Tekmessa-Chor (v. 201 – 256)

Mit dem Auftritt der Tekmessa hat die eigentliche Parodos, d. h. das Auftrittslied des Chors, in Vers 201 ihr Ende gefunden. Die Erwartung des Chors allerdings, Aias möge erscheinen, ist enttäuscht worden. Statt seiner tritt Tekmessa, die Frau des Haupthelden187 auf, die, wie sie später angibt (v. 328 ff.), sich auf den Weg zur Schiffsmannschaft des Aias gemacht hat, um die Freunde ihres Mannes um Unterstützung zu bitten. Sophokles bedient sich an unserer Stelle eines Amoibaions, d. h. einer (kla‐ genden) Wechselpartie zwischen einem Schauspieler und dem Chor,188 um Tek‐ messas Auftritt wirkungsvoll zu inszenieren. Indem er so den ersten Auftritt der eigentlichen Bühnenhandlung mit einem (zumindest in Teilen) lyrischen Form‐ element beginnen lässt, schafft er einen gleitenden Übergang zur vorangegan‐ genen Parodos, die sich geradezu natürlich zu einem Wechselgespräch weitet. Zunächst soll die Struktur der Partie überblickt werden: Einem anapästischen Wechselgespräch zwischen Tekmessa und dem Chor(-führer)189 (v. 201 – 220) folgt eine lyrische Strophe des Chors (v. 221 – 232), auf die sich eine erneut ana‐ pästische Wortmeldung Tekmessas (v. 233 – 244) anschließt. Nach der die emo‐ tionale Reaktion der Schiffsmannschaft verbalisierenden Gegenstrophe des Chors (v. 245 – 256) kommt es Tekmessa in einem abschließenden anapästischen 187 188

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Zum problematischen Begriff „(Ehe-)Frau“ vgl. S. 169, Anm. 168. Die Partie als einen Kommos zu bezeichnen, lässt, streng genommen, ihre formale Komposition als einer durch anapästische Passagen durchsetzten Chorpartie außer Acht. Während Tekmessa dabei im Wesentlichen die Sachverhalte verbalisiert, kommt die eigentliche emotionale Ausleuchtung der Situation den lyrischen Abschnitten des Chors zu. Eine in Ansätzen vergleichbare Struktur bietet die Parodos der Antigone, in der allerdings die anapästischen Partien nicht von einem Akteur, sondern vom Chor‐ führer rezitiert werden. Zum Kommos im Allgemeinen vgl. Z IMMERMANN (1999). „Kommos [2].“ in: DNP Band 6, Sp. 682 – 683 bzw. P OPP (1971). Inwieweit die anapästischen Partien vom Chorführer alleine oder vom ganzen Chor rezitiert wurden, kann hier nicht geklärt werden. Vgl. dazu die analoge Diskussion zur Zuweisung der dem Chor zukommenden Sprechverse S. 46, Anm. 69. Im Folgenden wird in der Regel auf eine Differenzierung verzichtet und der Sprecher der in Rede stehenden Verse generell mit „Chor“ bezeichnet.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

Abschnitt (v. 257 – 262) zu, die neuesten Entwicklungen zu berichten. Ein iam‐ bischer Doppelvers des Chors (v. 263 f.) leitet daraufhin die folgende Sprech‐ szene ein. Formal gesehen mag man die vorliegende Partie dementsprechend als anapästischen Austausch zwischen Tekmessa und dem Chor(-führer) be‐ trachten, in den zwei metrisch korrespondierende Strophen des Chors einge‐ flochten sind. Auf einen detaillierten inhaltlichen Nachvollzug der Partie im Einzelnen soll hier verzichtet werden, ein grober Überblick mag genügen. In ihrer ersten ana‐ pästischen Partie (v. 201 – 220) lenkt Tekmessa das Augenmerk mit einer den Chor einschließenden Bekundung der eigenen Sorge und Trauer (v. 202 ff.) er‐ neut direkt auf Aias: Er, der „Gewaltige, Große, mit roher Kraft Ausgestattete“ (ὁ δεινὸς μέγας ὠμοκρατής v. 205)190 kranke an einem „trüben Sturm“ (θολερῷ χειμῶνι v. 206 f.). Der Chor fordert sie in seiner anapästischen Gegenrede an‐ schließend auf (v. 208 ff.), ihn über die aktuellen Geschehnisse in Kenntnis zu setzen; als „Lagergenossin“ (v. 210 ff.) des Helden werde sie sicher nicht un‐ kundig (οὐκ ἂν ἄιδρις) Auskunft geben können. Die Angesprochene zögert zu‐ nächst, stellt den Schiffsleuten dann allerdings in Aussicht, sie würden ein dem Tod geradezu gleiches Leid (θανάτῳ ἴσον πάθος) von ihr erfahren. Eine gene‐ relle Aussage stellt sie dabei an den Beginn ihres Berichts: Der in Wahn gefan‐ gene Aias sei in der Nacht in Schande geraten (ἀπελωβήθη v. 216 f.). Einen vir‐ tuellen Blick in das Bühnengebäude eröffnet sie ihren Zuhörern mit den Versen 218 – 220: Innerhalb des Zeltes könne man blutbeschmierte, gespaltene „Opfer‐ tiere“ sehen. Damit ist die in Vers 346 erfolgende Öffnung des Bühnengebäudes (bzw. der Einsatz des Ekkyklemas) bereits vorbereitet und ein besonders schau‐ derhaftes Detail zu antizipieren. Die Reaktion der Schiffsleute auf die Beschreibung der Zustände im Innern des Zeltes bietet die Strophe v. 221 – 232: Die Botschaft Tekmessas sei zugleich untragbar und unentrinnbar (ἄτλατον οὐδὲ φευκτάν sowie ἀέξει v. 226); das Bevorstehende (τὸ προσέρπον v. 227) erfülle sie (die Schiffsleute) mit Furcht (φοβοῦμαι); Aias, der „berühmte Mann“ (περίφαντος ἁνήρ v. 228), werde sterben (θανεῖται), da er mitsamt den Weidetieren auch die Hirten getötet habe (βοτὰ καὶ βοτῆρας). Tekmessa gibt daraufhin in den anapästischen Versen 233 – 244 eine zwar knappe, aber ausgesprochen drastische Schilderung von Aiasʼ Wüten gegen die Schafe; besonders erwähnt sie die Sonderbehandlung, die Aias zwei Widdern zukommen ließ: Während er dem einen Kopf und Zunge abgeschnitten habe,

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Vgl. K AMERBEEK (1953), der S. 62 ad locum zu Recht festhält: „Tecmessa’s description bears testimony to the dreadful awe she feels for her lord“.

2. Aias

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habe er den anderen an einen Pfeiler gebunden und ihn unter Ausstoßung übel‐ ster Schimpfreden (κακὰ δεννάζων) mit Peitschenhieben traktiert. Die Reaktion des Chors in der sich anschließenden Gegenstrophe (v. 245 – 256) zeugt von tief‐ ster Scham und Sorge: Es sei nun an der Zeit, mit verhülltem Haupt, d. h. un‐ kenntlich, der Szenerie entweder zu Fuß oder auf einem schnellen Schiff zu entfliehen. Die Atriden, so der Chor, stießen heftige Drohungen gegen sie (καθʼ ἡμῶν v. 253), die Mannschaft des Aias, aus: Sie fürchteten sich vor dem „stei‐ nigenden Ares“, d. h. der Hinrichtung durch Steinigung, die sie mit Aias erleiden müssten. Ihn, so die abschließende Bewertung des Chors, halte ein „unnahbares Geschick“ (αἶσʼ ἄπλατος v. 256). Tekmessa referiert daraufhin in den abschlie‐ ßenden anapästischen Versen 257 – 262 die neueste Entwicklung: Aias sei gera‐ dezu blitzartig wieder zu Verstand gekommen, leide aber nun angesichts des durch ihn verursachten Unheils außerordentlich. Mit einer von vorsichtiger Hoffnung angesichts des Wiedererwachens seines Herren getragenen Bemerkung des Chors in den Versen 263 f. geht die Wech‐ selpartie daraufhin fließend in den in iambischen Trimetern strukturierten Di‐ alog über. Im Folgenden sollen einige dramaturgische Implikationen der Partie genauer betrachtet werden. Während des Amoibaions tritt die eigentliche Handlung ge‐ radezu auf der Stelle: Tekmessa verleiht stattdessen ihrem Entsetzen, ihrer Trauer und ihrer Sorge um sich und ihren Mann Ausdruck, sie berichtet kurz, aber dennoch in eindrücklicher Weise von den Geschehnissen der vergangenen Nacht (v. 235 – 244), und endet schließlich mit der Aussage, dass Aias nun zwar zur Besinnung gekommen sei, sein Schmerz und Leid allerdings noch größere Ausmaße angenommen hätten. Der Chor antwortet auf die Andeutungen und Beschreibungen Tekmessas jeweils mit einer besonders emotionalen Bekun‐ dung seiner eigenen Betroffenheit und Furcht. Dabei erscheint die Äußerung der Seeleute zum sicheren Tod ihres Herrn in der ersten Strophe (περίφαντος ἁνὴρ θανεῖται v. 228 f.) als tragisch-ironische Andeutung der kommenden Ent‐ wicklungen; dass dabei den Choreuten allerdings nicht der Selbstmord, sondern eine Strafe durch die Heereskommandanten vorschwebt, zeigt sich an der Pa‐ rallelstelle der zweiten Strophe (v. 253 ff.):191 Fürchtet der Chor in der ersten Strophe noch unbestimmt das „Herankriechende“ (φοβοῦμαι τὸ προσέρπον v. 227), d. h. die nicht näher bezeichnete unmittelbare Zukunft, so bezieht sich die Angst in der zweiten Strophe konkret auf den Tod durch Steinigung. Dem prä‐

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Vgl. K AMERBEEK (1953) S. 66: „Here, too, there is dramatic irony. The Chorus do not, of course, think of suicide“.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

sentischen φοβοῦμαι aus v. 227 steht dabei das intensivierende Perfekt πεφόβημαι (v. 253) gegenüber, was den Zustand virulenter Furcht unterstreicht. An die Stelle des vom Chor herbeigesehnten Auftritts des Protagonisten ist also nach dem Ende der Parodos wiederum eine Passage getreten, in der über Aias und seine Taten gesprochen wird, er selbst aber nicht präsent ist und die Handlung dementsprechend ruht. Für Leserschaft und Publikum bringt der Wechselgesang (wie auch der folgende ausführliche Bericht Tekmessas v. 285 ff.) bis auf den Umstand, dass Aias mittlerweile wieder bei Sinnen ist, keine weitere, im eigentlichen Sinne neue Information, sondern einzig eine detailliertere Be‐ schreibung der in ihren Grundzügen bereits bekannten Vorgänge. Nach der Darstellung der Situation durch den Chor unter den für die salaminische Schiffs‐ mannschaft entscheidenden Gesichtspunkten erfolgt hier allerdings ein Per‐ spektivwechsel: Tekmessa ist nicht auf Spekulationen angewiesen, sondern war als Einzige dem Geschehen so nahe, dass sie als Augenzeugin auftreten und die Geschehnisse mit einiger Detailgenauigkeit berichten kann. Ihre Ausführungen in v. 241 ff. wirken dabei aus der Perspektive der Rezipienten wie eine nach‐ trägliche Beschreibung des im Prolog vorgeführten Protagonisten und seiner Tat. Während Tekmessa so das Geschehen zwar wiedergibt, es aber nicht völlig auszudeuten vermag – sie weiß zum Beispiel nicht, dass Aias die beiden Widder für seine Widersacher hält192 – , verstehen die Rezipienten auf Grund der im Prolog mitgeteilten Informationen die Hintergründe. Dass dabei Tekmessas Be‐ richt in Details von der im Prolog durch die Göttin gegebenen Erzählung ab‐ weicht, ist – wie auch K AMERBEEK festhält193 – ganz aus der dramatischen Situ‐ ation zu verstehen; die so bewusst lancierte Ambiguität zwischen den beiden Berichten unterstreicht dabei die formal gänzlich verschiedene Wirkung von informierendem (Götter-)Prolog auf der einen und emotionaler kommatischer Partie auf der anderen Seite. Der Kommos zwischen Tekmessa und dem Chor ist demnach ein erstes, das vom Chor herbeigewünschte Erscheinen des Haupthelden retardierendes Mo‐ ment. Statt nach dem andeutungsreichen und bildmächtigen Prolog und der zweifelnden, von Hoffnung auf ein Wiedererstarken des Protagonisten getra‐ genen Parodos die Handlung weiterzuführen, schaltet der Dichter hier ein er‐ neut reflektierendes Element ein, das die Ausgangslage der Tragödie aus einer

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Erst in ihrem Monolog wird sie von der Beschimpfung der Atriden durch Aias berichten (v. 301 ff.), bringt dabei allerdings nicht explizit zum Ausdruck, dass Aias die Tiere für seine Gegner hält. Vgl. K AMERBEEK (1953) S. 67: „Tecmessa relates what she has seen without having understood the background of the sinister happenings“. K AMERBEEK (1953): „It is therefore wrong to object that the representation of the facts does not in every respect tally with what was said in ll. 100 – 111“ a. a. O.

2. Aias

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neuen Perspektive beleuchtet. Dass die Partie dabei zugleich als besonders um‐ fangreiche und wirkmächtige Auftrittsszenerie Tekmessas dient, darf nicht ver‐ wundern:194 Die Komposition entspricht der dramaturgischen Relevanz der Rolle Tekmessas, die sich im Folgenden besonders in der Auseinandersetzung mit Aias selbst widerspiegeln wird. So ist Tekmessa zunächst der einzige Akteur auf der Bühne und somit alleiniger Gesprächspartner des Chors. Nach Aiasʼ Auftritt bildet sie den Widerpart des Protagonisten und bildet geradezu die Kontrastfolie seiner auf ein Höchstmaß gesteigerten heroischen Selbstbezüg‐ lichkeit. Bis zum Ende des ersten Epeisodions in Vers 595 steht sie so als Kont‐ rapunkt des Protagonisten im Zentrum der Bühnenhandlung und ist integraler Bestandteil des dramatischen Gefüges. Auch der folgende Dialog zwischen Tekmessa und dem Chor hat noch einmal die Wahnsinnstaten des Aias zum Gegenstand. Nach einer kurzen Erläuterung, dass ihr Mann jetzt, nachdem er wieder zu klarem Bewusstsein gekommen sei, größeres Leid zu tragen habe als vorher (v. 263 – 283), schildert Tekmessa auf Nachfrage des Chors erneut das gesamte Geschehen der vergangenen Nacht: Detailliert und an der Chronologie orientiert entfaltet sie vor dem Chor und dem Publikum die miterlebten Ereignisse. Ab Vers 310 ist sie in der dramatischen Gegenwart angelangt und beschreibt die Reaktion des aus dem Wahn erwachten Aias auf sein eigenes Tun. In einer weniger emotionalen Weise als noch im Amoibaion (beachtenswert sind v. a. die chronologische Reihenfolge des Er‐ zählten sowie das Fehlen emotionaler Interjektionen) gibt sie hier also den zweiten und abschließenden Bericht über die unmittelbare Vorgeschichte der Bühnenhandlung. Erst die zunächst hinterszenischen Einwürfe des Aias und sein Erscheinen ab Vers 348 werden die Handlung erneut in Gang bringen. Betrachten wir kurz die dramaturgische Gestaltung dieser Partie des Dramas bis zum erneuten Auftreten der Hauptperson. Schritt für Schritt deckt die Ent‐ wicklung nach dem Prolog bis zu diesem Punkt die Ereignisse vor dem Beginn des Dramas auf: In der Parodos ist der Chor über den genauen Hergang noch nicht informiert, sondern auf die im griechischen Lager zirkulierenden Speku‐ lationen angewiesen. Viel mehr als die Tat selbst stand dabei für die Schiffs‐ mannschaft, wie wir gesehen haben, die üble Nachrede, der Aias ausgeliefert ist, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und der Kritik. Der Auftritt Tekmessas lenkte daraufhin den Blick endgültig auf die Tat und ihre unmittelbaren Folgen für Aias selbst sowie für seine Angehörigen. Erst durch sie erfolgt die ausführ‐ liche Schilderung der einzelnen Vorgänge, die für die Zuschauer und Leser schon 194

Auf die besondere Bedeutung der Rolle der Tekmessa weist im Besonderen S TANFORD (1963) S. l f. hin.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

ab dem Prolog durch den Auftritt des blutverschmierten Helden bildmächtig präsent waren. Indem Sophokles die Parodos dabei organisch in ein Amoibaion münden lässt, komponiert er eine umfangreiche, insgesamt 128 Verse umfas‐ sende (v. 133 – 262), maßgeblich chorisch geprägte Partie. Dabei ist es allerdings nicht der Chor, der die unmittelbare Vorgeschichte des Dramas erzählt; vielmehr informiert eine andere Person die zunächst unwissenden Schiffsleute über den genauen Hergang der Ereignisse vor dem Beginn der Bühnenhandlung. Was ist damit für die Struktur des Dramas gewonnen? Versuchen wir, die spezifische Wirkung des vorliegenden Dramenbeginns e negativo zu umreißen: Die Konstruktion eines von vorneherein um die Vorgeschichte wissenden Chors hätte sicherlich schneller zu einem Handlungsfortschritt geführt. Nach einer die Geschehnisse der letzten Nacht imaginierenden Parodos195 hätte ein direkter Auftritt des Protagonisten das Geschehen unmittelbar dynamisiert. Im Vergleich dazu wirkt die vorliegende Struktur des Dramas geradezu stationär und mit der Forcierung des bildgewaltigen Prologs und den gedehnten emotionalen Pas‐ sagen im ersten Epeisodion mehr auf expressive Bühnenwirkung ausgelegt. Die Konstruktion eines zunächst nur halb informierten Chors gibt dem Dichter zudem die Möglichkeit, die Figur der Tekmessa organisch in das Geschehen einzuführen und mit ihr dem Chor vor dem Auftritt des Haupthelden einen Dialogpartner gegenüberzustellen, mit dem er hinsichtlich seiner Person be‐ sonders verbunden ist. Erst die durch Amoibaion und Sprechdialog ausgeführte zweimalige Schilderung der Umstände und Thematisierung des Aias bereitet endgültig den Boden für den (zweiten) Auftritt des Haupthelden und damit den Fortgang der Handlung. Die für ein modernes, handlungsorientiertes Ver‐ ständnis sich eher schleppend entwickelnde Eingangspassage der Tragödie zeugt so von der besonderen Kompositionsabsicht des Dichters, der einen sol‐ chermaßen effektvollen, das Publikum in mehreren Hinsichten überwälti‐ genden Beginn seines Dramas einer rasch vorantreibenden Handlungsentwick‐ lung vorgezogen hat. Kommos Aias-Tekmessa-Chor (v. 348 – 429)

Effektvoll gestaltet Sophokles das Erscheinen des Aias als Kulminationspunkt der bis hierher aufgebauten spannungsvollen Erwartung in sich erneut schritt‐ weise:196 Nach dem umfangreichen Monolog Tekmessas (v. 284 – 330) und einem Doppelvers des Chorführers (v. 331 f.) sind zunächst hinterszenische Klagerufe 195 196

Vgl. die Parodos der Antigone, in der der Chor die Ereignisse der soeben vergangenen Nacht referiert. Vgl. B URTON (1980) S. 20: „The gradual build-up of tension and expectation, retarded but never broken, culminates in the protagonist’s appearance heralded by cries off stage“.

2. Aias

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zu hören (v. 333 ff.), die schnell als von Aias kommend identifiziert werden. Während der Protagonist zunächst zweimal seinem gesammelten Schmerz durch die Klageinterjektionen ἰώ μοί μοι Ausdruck verleiht (v. 336 und 339), daraufhin mit ἰὼ παῖ παῖ (v. 339), wie Tekmessa schließt, seinen Sohn Eurysakes apostrophiert, ruft er in Vers 342 f. nach seinem Halbbruder Teukros. Mit den drei klagenden Ausrufen sowie der Frage nach Teukros tritt der wieder zu Sinnen gekommene Aias hier zum ersten Mal in das Bühnengespräch ein; seiner körperlichen, visuellen Präsenz im Bühnengeschehen ab Vers 348 geht so eine akustische Ankündigung voraus.197 In Vers 346 erfolgt schließlich die Öffnung des Bühnengebäudes bzw. das Herausrollen des Ekkyklemas,198 wodurch der Blick auf Aias freigegeben wird und er zum ersten Mal nach dem Prolog wieder auf der Bühne ist. Ausgelöst durch die sicherlich bildmächtig inszenierte Ansicht des Titelhelden inmitten des von ihm angerichteten Blutbades folgt auch hier mit dem zu untersuchenden Kommos ein äußerst emotionaler Formteil, in dem der Protagonist ausführlich seine eigene Lage ausleuchtet. Eine genauere formale Untersuchung des mit über achtzig Versen (347 – 429) sehr umfangreichen Wechselgesangs soll hier exemplarisch die Komposition eines ausgedehnten Kommos mit drei Beteiligten (Aias, Chor, Tekmessa) ver‐ deutlichen sowie zur Einordnung der Passage hinsichtlich ihres dramaturgi‐ schen Wertes beitragen. Das Amoibaion gliedert sich in drei Paare von Strophe und Gegenstrophe, die jeweils metrisch verschieden komponiert sind. Dabei kommen einzig Aias lyri‐

197

198

Die Konstruktion erinnert rein formal an den Auftritt der Titelheldin in der Elektra, deren visuelle Präsenz zunächst ebenfalls durch einen hinterszenischen Klageruf an‐ gekündigt wird (v. 77), deren Auftritt daraufhin ein Kommos mit dem Chor folgt. Bei genauerer Betrachtung zeigen sich jedoch Unterschiede: Während der völlig unerwar‐ tete Ausruf Elektras zum Abbruch der heimlichen Zusammenkunft von Orest und dem Pädagogen führt und somit das Prologgespräch beendet, ist Aiasʼ Wortmeldung an un‐ serer Stelle – wenn auch immer noch überraschend – einerseits wesentlich erwartbarer, andererseits nicht Anlass zum Abtritt anderer Akteure. Vielmehr erweitert sich durch Aiasʼ solchermaßen angekündigten Auftritt das Personenspektrum, die Szene bricht nicht ab, sie öffnet sich. Ein gleiches bzw. sehr ähnliches dramaturgisches Mittel – die Vorbereitung des Auftritts des Protagonisten durch dessen hinterszenisches Rufen – ist so in zwei verschiedenen Tragödien jeweils abgewandelt eingesetzt und hinsichtlich der dramaturgischen Wirkung unterschiedlich funktionalisiert. Z IMMERMANN (2011) S. 508 geht davon aus, dass Aias „inmitten des von ihm erschla‐ genen Viehs“ auf dem Ekkyklema aus dem Bühnengebäude gerollt wird. Als Mittel besonderer Drastik und Eindrücklichkeit kommt es Tekmessa zu, in einem Doppelvers (v. 344 f.) den eigentlichen Akt der Öffnung zu kommentieren und so das Geschehen durch Verbalisierung zu doppeln.

190

I. Chöre wehrfähiger Männer

sche, d. h. gesungene Verse zu;199 sein Redeanteil ist zudem der größte: Von den 86 Verszeilen200 entfallen siebzig auf ihn, auf den Chor zehn und auf Tekmessa sechs, wobei Letztere sich iambischer Trimeter bedienen.201 Die einzelnen Verteilungen innerhalb der Strophen sind von ausgeklügelter Komposition, die durch die folgenden Tabellen verdeutlicht werden sollen: 1. Strophe

1. Gegenstrophe

Sprecher

Verse 

Metrik 

Sprecher

Verse Metrik

Aias

6

Interjektion + doch./iamb./aeol.

Aias

6

Interjektion + doch./iamb./aeol.

Chor

2

iamb. Trimeter

Chor

2

iamb. Trimeter

199 200

201

202 203

202

203

Vgl. K AMERBEEK (1953) S. 83: „The first thing that deserves notice in this long kommos is that only the protagonist sings“. Die auch in der neuen Oxford-Ausgabe von L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) in eine ein‐ zelne Zeile gesetzten Interjektionen vor bzw. innerhalb der Äußerungen des Protago‐ nisten gebe ich in der Übersicht gesondert an; ob man sie in der Verszählung der fol‐ genden Zeile zuschlägt oder nicht, macht keinen großen Unterschied, solange man konsequent verfährt. Die Zählung der Verse ist ohnehin in einigen Fällen problematisch; die praktikable Zählung in Übereinstimmung mit der maßgeblichen Ausgabe bietet sich für unsere Zwecke an. Wie bereits oben erwähnt, findet sich hier keine ausgreifende metrische Analyse. Ich verweise dazu im Besonderen auf die einschlägigen Kommentare S TANFORD (1963) S. 254 ff. und J EBB (1896) Sophocles The Plays and Fragments with critical notes, com‐ mentary and translation in English prose: Part VII The Ajax, Cambridge, S. lxiii ff. Bzw. Zeilen der maßgeblichen Ausgabe L LOYD -J ONES /W ILSON (1990). Diese Spalte ist nur zum Überblick gedacht und soll die ausführlichen metrischen Ana‐ lysen der Kommentare nicht ersetzen (doch. = dochmische; aeol.= aeolische; iamb. = iambische Maße).

2. Aias

191

2. Strophe

2. Gegenstrophe

Sprecher

Verse Metrik

Sprecher

Verse Metrik

Aias

4

doch./iamb.

Aias

4

doch./iamb.

Tekmessa

1

iamb. Trimeter

Chor

1

iamb. Trimeter

Aias

2

iamb. Trimeter + Interjektion

Aias

2

iamb. Trimeter + Interjektion

Tekmessa204

1

iamb. Trimeter

Chor

1

iamb. Trimeter

Aias

5

doch./iamb.

Aias

5

doch./iamb.

Chor

2

iamb. Trimeter

Tekmessa

2

iamb. Trimeter

3. Strophe

3. Gegenstrophe

Sprecher

Verse Metrik

Sprecher

Verse Metrik

Aias

17

Interjektion + doch./iamb.

Aias

17

Interjektion + doch./iamb.

Tekmessa

2

iamb. Trimeter

Chor205

2

iamb. Trimeter

Die durchdachte Symmetrie des Wechselgesangs ist offenkundig. Halten wir einige wichtige Punkte fest: Im Zentrum des Kommos steht Aias mit seinen Ausführungen, die durch Tekmessa oder den Chor meist kurz kommentiert werden, wobei Äußerungen des Entsetzens (v. 354 f. u.a.) oder Einhalt gebietende Ausrufe (v. 368, 371, 386 u. a.) überwiegen. In noch höherem Maß als das erste

204

205

Ich folge damit wie auch die Herausgeber L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) auf Basis einiger MSS Müller, der aus Gründen der Symmetrie den betreffenden Vers (371) Tekmessa und nicht dem Chor zuteilt (anders D AWE (1996). Sophoclis Aiax, Stuttgart und Leipzig). Inhaltlich ist dabei die Sprecherverteilung an dieser Stelle letztendlich nicht zu klären; K AMERBEEK s (1953) Bemerkung S. 87 f. („Furthermore the cry πρὸς θεῶν has a more touching note than would be expected of the Chorus in this κομμός“) ist angesichts der im Amoibaion mit Tekmessa eingetretenen Entfremdung zwischen den Schiffsleuten und ihrem Herrn grundsätzlich nachzuvollziehen, stellt aber kein zwingendes Argu‐ ment für oder gegen die Zusprechung dar. Für S TANFORD s (1963) Ausführungen hin‐ sichtlich der Wortwahl ὕπεικε (S. 109 f.) gilt dasselbe. Die Zuteilung der Schlussverse an Tekmessa durch Hermann aus Gründen der Sym‐ metrie hat keinen Rückhalt in den MSS.

192

I. Chöre wehrfähiger Männer

wirkt das dritte Strophenpaar dabei nahezu als lyrischer Monolog, als Arie des Protagonisten, die nur noch durch zwei Einwürfe gegliedert wird.206 Wie schlägt sich dabei die Emotionalität der Szene in der sprachlichen Ge‐ staltung nieder? Beachtenswert ist zunächst die Häufung der Interjektionen, durch die in den Versen 333 ff. der Auftritt des Aias bereits angekündigt wurde. Innerhalb des Kommos sind sie wirkungsvoll an den Beginn der Strophen (erstes und drittes Strophenpaar) bzw. in deren Mitte (zweites Strophenpaar) gesetzt und leisten so einen nicht unerheblichen Beitrag zur Gliederung der Partie im Einzelnen. Die hinterszenischen Rufe des Protagonisten finden so in seinen Äu‐ ßerungen während des Kommos eine erweiterte Fortsetzung. Führen wir uns als Beispiel der affektgeladenen Stilisierung der Sprache des Weiteren das dritte Strophenpaar vor Augen: Jeweils durch eine Interjektion und die Anrede unbelebter Entitäten eingeleitet (ἰὼ σκότος, ἐμὸν φάος v. 394 – ἰὼ πόροι ἁλίρροθοι v. 412) kommen besonders wirksame poetische Mittel zur Anwendung: affektvolle Wiederholungen (ἕλεσθʼ ἕλεσθέ με v. 396, πολὺν πολύν με … v. 414 ), rhetorische und an sich selbst gestellte Fragen (ποῖ τις οὖν φύγῃ; ποῖ μολὼν μενῶ; v. 404), Steigerungen und Ausgestaltungen bereits getroffener Aussagen (οὐκέτι μʼ, οὐκέτʼ ἀμπνοὰς ἔχοντα v. 415). Die für uns verlorene Musik der Tragödie wird den Eindruck des Kommos noch verstärkt haben. Dabei ist bemerkenswert, dass die Emotionalisierung der Partie durch die Anwendung starker sprachlicher Mittel ausschließlich in den lyrischen Partien stattfindet und damit im Wesentlichen dem Protagonisten obliegt. Inhaltlich steht für Aias seine Tat und die sich daraus ergebende Entehrung gegenüber den anderen griechischen Kriegern im Mittelpunkt. Wir können die gedankliche Entwicklung der Partie für unsere Zwecke kurz nachvollziehen; da gedankliche und metrische Gliederung einander weitestgehend entsprechen, bietet sich ein rascher Durchgang der einzelnen Strophen an. Die erste Strophe ist dabei ein einziger Anruf des Protagonisten an seine Schiffsleute, in denen er die ihm allein verbliebenen treuen Freunde sieht (ἐμμένοντες ὀρθῷ νόμῳ v. 350): Sie sollten ihn, der gleich einer Welle vom Sturm umhergepeitscht werde, betrachten (ἴδεσθέ μʼ).

206

Vgl. K AMERBEEK s (1953) Einschätzung des Amoibaions S. 93: „essentially a monologue“, sowie B ARNER (1971) S. 315: „Im Aias bleibt sie [sc. die monodische Klage] noch so stark [sc. an das vorausgehende Amoibaion] gebunden, daß man nur zögernd von ‚Monodie‘ sprechen wird; immerhin ist bei v. 394 eine gewisse Zäsur spürbar: das Dialogische tritt zurück, die Klage wird leidenschaftlicher, auch prinzipieller, die lyrischen Partien schwellen plötzlich an“. Die ersten beiden Strophenpaare dabei „dialogisch“ zu nennen, ist allerdings angesichts der geradezu marginalen Beiträge von Chor und Tekmessa gewagt.

2. Aias

193

Die Gegenstrophe eröffnet eine erneute Apostrophierung der Schiffsmann‐ schaft, in der Aias den einzigen Helfer gegen sein Leiden sieht (μόνον πημονὰν ποιμένων ἐπαρκέσοντʼ v. 360). Die Hauptaussage birgt erneut ein Imperativ: Aias fordert seine Mannschaft auf, ihn zu töten,207 was die Choreuten in ihrer kurzen Antwort (v. 361 f.) freilich entrüstet ablehnen. Ein eindrückliches Bild seines moralischen Falls entwirft der Hauptheld in der zweiten Strophe: Wiederum in direkter Anrede seiner Mannschaft stellt er seine heroischen Qualitäten den Taten der vergangenen Nacht und der damit einhergehenden Entehrung entgegen. Nachdem er daraufhin Tekmessa davon abgehalten hat, sich ihm und der Hütte zu nähern (v. 369), kontrastiert er seine eigentliche Intention mit dem Ergebnis seines Wütens: Die eigentlichen Misse‐ täter (ἀλάστορας v. 373) habe er gehen lassen (μεθῆκα) und sich stattdessen mit dem Blut von Rindern besudelt. Die zweite Gegenstrophe richtet sich daraufhin ganz gegen Odysseus, der bereits den Schiffsleuten in der Parodos als Feindbild schlechthin vorschwebte (vgl. v. 148 ff. sowie 187 ff.): Unter wüsten Beschimpfungen unterstellt Aias ihm, er werde mit Gelächter auf die vorliegende Situation reagieren. Obwohl der Plan, die Heeresführer und Odysseus zu töten, nach dem Eingreifen der Athene ge‐ scheitert war und er sich mittlerweile mit dem Ergebnis seines Handelns kon‐ frontiert sieht, hegt Aias, wie die Verse 386 ff. zeigen, immer noch konkrete Rachegedanken: Die Anrufung des Göttervaters in Vers 387 eröffnet die Frage, wie Aias nach vollbrachter Tötung seiner Gegner (ὀλέσσας v. 390) schließlich den eigenen Tod finden könne (πῶς […] τέλος θάνοιμι καὐτός v. 391). Das dritte Strophenpaar konzentriert sich daraufhin ganz auf die bereits evo‐ zierte Todesthematik. Aias ruft die Unterwelt an, ihn als Bewohner aufzu‐ nehmen (v. 396 f.), da er selbst nicht mehr würdig sei, Götter oder Menschen zu sehen. Ihn martere die „wehrhafte Tochter des Zeus“, d. h. Athene; zudem be‐ stehe die Möglichkeit, dass das ganze, von den beiden Atriden geführte (δίπαλτος) Heer ihn auf Grund seiner entehrenden Tat töte (v. 408 f.). Die dritte Gegenstrophe schließlich stellt die Apostrophierung der unmittel‐ baren Umgegend des Handlungsraums dar: Aias bekundet in direkter Ansprache an die Natur, dass diese ihn bereits lange Zeit vor Troia festgehalten habe, er allerdings schon jetzt nicht mehr er selbst sei und kein „Atmen“ mehr besitze (οὐκέτʼ ἀμπνοὰς ἔχοντα v. 416 f.), d. h. nun bereits eigentlich nicht mehr lebe. Ein erneuter Anruf des Skamander wandelt den Gedanken daraufhin leicht ab:

207

Dass Aias dabei in συν-δάιξον die Schiffsleute zur Hilfe beim Selbstmord auffordert, wie K AMERBEEK (1953) S. 85 zu bedenken gibt („help me to slay myself“), ist nicht schlüssig.

194

I. Chöre wehrfähiger Männer

Unter keinen Umständen208 werde der apostrophierte Fluss „diesen Mann“ (ἄνδρα τόνδʼ v. 420 f.), d. h. Aias mehr lebend sehen – Aias, der mit keinem der übrigen Griechen vor Troia verglichen werden konnte. Nun aber, so sein hoff‐ nungsloses Fazit, sei er vor aller Augen solchermaßen entehrt (ἄτιμος ὧδε πρόκειμαι v. 426 f.). Die gedankliche Entwicklung der Partie schlägt einen motivischen Bogen, der alle bisher thematisierten Aspekte des Dramas aufnimmt und aus der Sicht des Protagonisten einem Ziel zuführt. Dabei werden die einzelnen Themen und Motive nicht der Reihe nach abgehandelt, sondern durch Wiederaufnahmen und Parallelen zu einem umfangreichen Panorama verknüpft: Während die erste Strophe vor allem als Bündelung der Aufmerksamkeit auf den Protagonisten und seinen Auftritt fungiert, entfaltet bereits die erste Gegenstrophe das viru‐ lente Todesmotiv (v. 361), das in der zweiten Gegenstrophe wiederholt wird (v. 391) und in der Anrufung der Unterwelt (v. 393 ff.) sowie den Versicherungen gegenüber der Natur (v. 416 ff.) innerhalb des dritten Strophenpaares seine Klimax erfährt. Solchermaßen gerahmt bildet die Kontrastierung der heroischen Vergangenheit gegenüber der ehrlosen Gegenwart den Gegenstand der zweiten Strophe, die Auseinandersetzung mit den Gegnern den der entsprechenden Ge‐ genstrophe. Beide Motive klingen daraufhin im dritten Strophenpaar erneut an (v. 423 ff. sowie 408 und 420). Dabei obliegt die motivisch-thematische Arbeit innerhalb der Partie ganz dem Protagonisten.209 Gegenüber den lyrischen Äußerungen des Aias sind die Kom‐ mentare und kurzen Antworten des Chors und Tekmessas von völlig unterge‐ ordneter Bedeutung: Die Versicherung an Tekmessa, „im Übermaß Zutref‐ fendes“ vorhergesagt zu haben (v. 354 f.), legt Zeugnis von der Überraschung des Chors ab, bleibt aber darüber hinaus wenig konkret; die Mahnungen an Aias, nicht durch weiteres Übel das bisher eingetretene zu vergrößern (v. 362 f.) bzw. sich seines Verstandes zu bedienen (v. 371), sind formal und inhaltlich konven‐ tionell, wohingegen sich die Einwürfe in den Versen 377 f.210 und 383 als geradezu nichtssagend erweisen. Die Schlussverse des Chors (v. 428 f.) verbalisieren zwar sinnfällig die Ratlosigkeit der Schiffsleute, entbehren sonst allerdings jeder spe‐ 208 209

210

Vgl. S TANFORD (1963) S. 114: „[…] this intensifying use of οὐ μή with aorist subjunc‐ tive […]‚no, no longer shall you look upon …‘“. Für P OPP (1971) ist die vorliegende Szene geradezu ein Paradebeispiel des von ihm sogenannten „Pathos-Amoibaion“ (S. 255 ff.), das er gegen das „Aktionsamoibaion“ (S. 253 ff.) abgrenzt. Als ein Hauptmerkmal des „Pathos-Amoibaions“ führt er zudem S. 257 an: „Der lyrische Part gehört notwendig dem Helden“. Geradezu programmatisch der Bezug von K AMERBEEK (1953) S. 88 auf Wilamowitz ad locum: „U. v. Wilamowitz (Vsk. 503 n. I) is right in saying that such a hackneyed thought needs no comment“.

2. Aias

195

zifischen Konnotation. Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusam‐ menhang einzig die im eigentlichen Sinne sympathische Bemerkung Tekmessas, die in Vers 393 f. ihrer tiefen Verbundenheit mit Aias Ausdruck verleiht und angibt, sich im Falle seines Todes den eigenen Tod zu wünschen. Das Todesmotiv als prägender thematischer Grundton der gesamten Partie wird hier in der Äu‐ ßerung der zentralen Nebenrolle gespiegelt. Dass die Einwürfe weiterhin auf Aias keinen Einfluss haben, er vielmehr unbeirrt mit seinen Ausführungen fort‐ fährt,211 ist sinnfälliger Ausdruck der geradezu monologischen Gesprächs‐ struktur der Partie.212 Tekmessa und der Chor sind so zwar am Amoibaion beteiligt, vertreten aber keine besonders profilierte eigene Position, die es erlauben würde, von ihnen als wirklichen Mitspielern zu sprechen. Sie sind vielmehr im Wesentlichen Folie und Resonanzboden der Emotionalität des Protagonisten; gerade die teilweise nichtssagenden Aussagen des Chors gehorchen dabei ausschließlich dramatur‐ gischen Maßgaben. Anders gesagt: Während der Chor in der Parodos seine de‐ zidiert eigene Ausdeutung der Lage gab, sich dabei im Verhältnis zu Aias posi‐ tionierte und so eine eigene Stellung zum Geschehen einnahm, befindet er sich an unserer Stelle nunmehr ausschließlich in dramaturgischer Abhängigkeit vom Protagonisten und etabliert keine eigene Sicht der Dinge. Machen wir uns also zusammenfassend klar: Sophokles gestaltet die vorliegende Partie als besonders effektgeladene und emotionsreiche Szene, die in geschickter Umkehrung formaler Prinzipien den Haupthelden in den Fokus der Aufmerk‐ samkeit stellt: Ausdeuter der Situation ist dabei Aias selbst, dem Tekmessa und der Chor als Resonanzboden seiner Äußerungen gegenübergestellt sind. Dass gerade ihm dabei die lyrischen Verse zukommen, er im letzten Abschnitt der Partie zudem fast ungestört singt und sich auch trotz der Einwürfe kein wirkli‐

211 212

Vgl. K AMERBEEK (1953) S. 89: „All words spoken to Aias lose their effect on him. He is caught in the consciousness of his tainted honour and is implacable“. Vgl. P OPP (1971) S. 256 f.: „Der Leidende hört in diesen Zwischenbemerkungen die Ab‐ lehnung, die ihn der Vereinsamung ausliefert; im übrigen ignoriert er sie: die Dialogi‐ sierung der Form hebt also gerade hervor, daß es sich wesensmäßig um einen Monolog handelt“.

196

I. Chöre wehrfähiger Männer

cher Austausch zwischen den Beteiligten entwickelt, ist eine besonders wir‐ kungsvolle Verkehrung möglicher Erwartungen.213 Welche dramaturgische Funktion nimmt diese Passage im Ablauf der Tra‐ gödie ein? Der analysierte Klagegesang inszeniert den ersten Auftritt des Haupt‐ helden, nachdem er aus seinem Wahn erwacht ist, als besonders effektvollen und emotionsgeladenen Moment. Die Schiffsmannschaft sieht sich nun mit ihrem Herrn konfrontiert, der von Anfang an den Mittelpunkt ihrer Reflexionen ausgemacht hatte. Betrachten wir den stetig ansteigenden Grad an Pathos in den vorangegangenen lyrischen Partien, so erscheint unsere Passage geradezu als Gipfel einer auf dieses Ziel hin komponierten Bewegung. Mit dem erneuten Auftritt des Aias schließt so ein erster dramaturgischer Großabschnitt, der von der Sorge des Chors und der schrittweisen Aufdeckung der Geschehnisse be‐ stimmt war. Auch inhaltlich greift der Wechselgesang, wie bereits gesehen, die Themen und Aspekte des vorangegangenen Abschnitts auf und führt sie in der direkten Auseinandersetzung mit dem Haupthelden und seinen eigenen Äuße‐ rungen einem (vorläufigen) Abschluss entgegen. Indem der Dichter so in der Person des Aias alle thematischen und motivischen Fäden zusammenführt, macht er die zentrale Stellung des Haupthelden innerhalb des dramatischen Geschehens und der dramaturgischen Komposition unmissverständlich deut‐ lich: Erst seine Erscheinung bündelt alle vorangegangenen Reflexionen und stößt die eigentliche Handlung erneut an. Ins Auge fällt bei der dramaturgischen Eingliederung des Kommos in das Ganze des Dramas ein weiterer Aspekt: Das erste Epeisodion erstreckt sich vom Ende der Parodos (v. 201) bis zum Beginn des ersten Standliedes (v. 596) über annähernd 400 Verse und erreicht so eine gewaltige Ausdehnung. Der analy‐ sierte Kommos nimmt innerhalb dieses Epeisodions die Mitte ein und trennt 213

Dass der sophokleische Aias als wehrfähiger, „athenischer“ Held, dem in der vorlie‐ genden Partie umfangreiche Singverse zukommen, im Rahmen der uns überlieferten Tragödien eine gewisse Sonderstellung einnimmt, bemerkt H ALL (1999), wenn sie S. 121 zugesteht: „Besides Sophoclesʼ Ajax, Athenian men tend not to sing […]“. Vgl. ihre Be‐ merkungen zur „Ausnahmesituation“ des Sophokles hinsichtlich des Einsatzes lyrischer Partien von Akteuren S. 112: „It is a distinctive and remarkable feature of Sophoclean heroic protagonists that they sing lyrics when in physical pain or extreme emotional turmoil, apparently regardless of gender. […] But Aeschylean and Euripidean singers are generally the‘othersʼ of the free Greek man in his prime“. Die besondere Wirkmacht der vorliegenden Passage hebt sich vor dem Hintergrund der bei den anderen Tragikern beobachteten Zurückhaltung, ihre männlichen Heroen singen zu lassen, besonders ab. Angesichts dieser „Sonderstellung“ des Sophokles und dem generellen Überlieferungs‐ stand sollte man darüber hinaus mit Generalisierungen zur soziokulturellen Differen‐ zierung gewisser innerdramatischer Formen in der attischen Tragödie des fünften Jahr‐ hunderts sehr vorsichtig sein.

2. Aias

197

sowohl formal durch den Auftritt eines weiteren Schauspielers als auch thema‐ tisch zwei ähnlich lange Abschnitte (v. 201 – 347: 146 Verse sowie v. 430 – 595: 165 Verse). Das erste Epeisodion erreicht so im Auftritt des Aias und seiner ly‐ rischen Auseinandersetzung mit Tekmessa und dem Chor sein thematisches Zentrum, das wiederum selbst die Überleitung zum folgenden Abschnitt dar‐ stellt. Der umfangreiche Kommos erfüllt damit in gewisser Weise die Funktion eines Stasimons, indem er Vorhergegangenes abschließt und das Kommende einleitet. Die geschickte Komposition des Dichters ermöglicht es, den Übergang zu einem neuen dramaturgischen Großabschnitt – der mit dem Selbstmord des Protagonisten enden wird – in thematischer und formaler Stringenz mit dem Vorangegangenen zu verbinden. Gerade die virulente Todesthematik der bei‐ nahe solistischen Äußerungen des fest entschlossenen Protagonisten im dritten Strophenpaar entfalten eine ungeheure dramaturgische Sogwirkung. Sie lassen den antiken, mit dem Mythos vertrauten Rezipienten den Tod des Aias bereits antizipieren. Dass allerdings nach dem Prolog und der Vorführung des wahn‐ sinnigen Helden sowie seinem zweiten, von emotionaler Klage und Pathos be‐ stimmten Auftritt inmitten des von ihm angerichteten Blutbades eine dritte drastische und bildgewaltige Szene den Selbstmord des Protagonisten insze‐ nieren wird, ist einem mit den Bühnenkonventionen seiner Zeit vertrauten Publikum noch nicht bewusst. Mit unserem Kommos erreicht so das Stück seinen vorläufigen und aus Sicht des Rezipienten nicht zu überbietenden Hö‐ hepunkt an drastischer Bühnenwirkung. Nicht so ausführlich soll der folgende Teil des ersten Epeisodions (v. 430 – 595) untersucht werden.214 Formal gliedert sich die Szene in drei ausgedehnte Mo‐ nologe (Aias v. 430 – 480, Tekmessa v. 485 – 524 und wiederum Aias v. 545 – 582), wobei sich zunächst eine stichomythische Partie (v. 525 – 544), schließlich eine teils antilabische Passage anschließt (v. 591 – 595). Dem Chor fällt dabei nur eine moderierende Rolle zu; seine Äußerungen beschränken sich – ähnlich wie im Kommos – auf abwehrende oder zur Vernunft rufende Einwürfe (v. 481 – 484; 525 f. und 583 f.). Das Publikum wird dabei im Lauf der Szene Zeuge, wie Aias nach einem Ausweg aus seiner entehrenden Lage sucht, den eigenen Tod in Erwägung zieht und schließlich die ersten Vorbereitungen seines bevorstehenden Selbstmords trifft. Es ist hier nicht der Ort, in den Monologen des Aias nach den Beweisen

214

Wie Sophokles seinen Aias dabei auf der Folie der homerischen Schilderung vom Ab‐ schied Hektors (Ilias 6, 369 ff.) geradezu als einen Anti-Hektor in Szene setzt, führt W INNINGTON -I NGRAM (1980) S. 16 ff. aus.

198

I. Chöre wehrfähiger Männer

seiner festen Entschlossenheit zu suchen.215 Bereits die Aussagen des Haupt‐ helden im Kommos (vgl. v. a. drittes Strophenpaar) haben meines Erachtens deutlich gezeigt, dass Aias seinen eigenen Tod fest vor Augen hat. Seine Aus‐ führungen im zweiten Teil des ersten Epeisodions wirken demgegenüber gera‐ dezu als in ihrer Emotionalität gedrosselte Rekapitulation des bereits erreichten Zustands unumstößlicher Gewissheit. Die emotionale Szene, in deren Verlauf Eurysakes auf Aiasʼ eigenes Geheiß mit den Taten des Vaters konfrontiert wird (v. 545 ff.) und der Protagonist im Folgenden jede Nachfrage nach seinen Plänen schroff zurückweist (v. 586), er‐ hält so ihre dramatische Spannung aus einem Ungleichgewicht: Während dem Publikum – bald aus Kenntnis des Mythos, bald aus den Äußerungen des Prot‐ agonisten selbst – der bevorstehende Tod des Aias bereits vor Augen steht, ent‐ zieht sich diese Aussicht dem Erfahrungshorizont der anderen am dramatischen Geschehen Beteiligten völlig: Weder für Tekmessa noch für den Chor ist ein Selbstmord des Helden denkbar. So stehen in einer ähnlichen Situation wie nach dem Prolog unwissende und rätselnde Personen einem informierten Publikum gegenüber. Das lange erste Epeisodion schließt mit der nach Fortsetzung drängenden Entschlossenheit des Protagonisten, durch dessen Andeutungen zu Tod und Selbstmord die Handlung wieder in Gang gekommen ist. Zum zweiten Mal nach dem Prolog herrscht unter den Angehörigen des Aias sorgenvolle Ungewissheit über das weitere Schicksal des Helden, nachdem sich die anfängliche Spannung durch den emotionalen und drastischen Auftritt des Haupthelden gelöst hatte. Mit der noch wirkmächtigeren Abfolge von zweitem Stasimon (v. 693 – 718), sorgenvollem Gespräch zwischen dem Boten, Tekmessa und dem Chor (v. 719 – 814) sowie dem Wiederauftritt des Chors nach dem Selbstmord des Aias (v. 866 – 960) wird auch dieser Spannungsbogen sein Ende finden. Erstes Stasimon (v. 596 – 645)

Aiasʼ sehr rabiater Vorwurf gegenüber seiner Frau bildet den Schluss des ersten Epeisodions (v. 594b f.): Sie scheine ihm Törichtes (μῶρα) zu denken, wenn sie glaube, sein eigenes Wesen (ἦθος) noch erziehen zu können. Solchermaßen zu‐ rechtgewiesen verlässt Tekmessa samt ihrem Sohn die Bühne; auch Aias tritt ab, bevor der Chor das erste Stasimon anstimmt. Im Folgenden sollen zunächst die Gedankenbewegung dieses Liedes, seine unmittelbare Einordnung in den

215

Im Besonderen v. 475 – 480 sowie K AMERBEEK s (1953) Einschätzung zu v. 479 f. S. 105: „The sentence is an admirable instance of concise directness“.

2. Aias

199

Handlungsverlauf sowie seine Wirkung auf die Rezipienten und damit seine dramaturgische Funktionalisierung untersucht werden. Scheinbar der Situation enthoben beginnen die Choreuten mit einem Anruf ihrer Heimatinsel Salamis, deren Apostrophierung als „berühmt“,216 „vom Meer gepeitscht“ (ἁλίπλακτος217), „glückselig“ (εὐδαίμων) und „allen sichtbare“ (περίφαντος218) sogleich kontrastiv der gegenwärtigen Lage der Schiffsmann‐ schaft gegenübergestellt wird: Seit einer unzählbaren Anzahl von Monaten, so die Klage der Schiffsleute, lagerten sie hier am Idagebirge219 und würden durch die Zeit geradezu aufgerieben (χρόνῳ τρυχόμενος v. 605). Ein die Situation be‐ sonders belastendes Moment verbalisiert der Chor mit der in Vers 606 f. ange‐ schlossenen Partizipialkonstruktion: Die Choreuten bekunden, Angst vor Hades zu haben, der sie möglicherweise vernichten werde (ἀνύσειν v. 607). Zwei ineinander verwobene Kontrastierungen gliedern dabei die Periode, die die ganze erste Strophe umfasst: Zum einen ist dem die Insel Salamis apostro‐ phierenden σὺ μέν (v. 596) das ἐγὼ δʼ aus Vers 600 entgegengestellt. Die durch die Personalisierung der Insel erreichte Kontrastierung der Heimat des Chors gegenüber seinem momentanen Aufenthaltsort setzt die Entfremdung der sa‐ laminischen Schiffsleute besonders deutlich in Szene. Zum anderen um‐ schließen die beiden (quasi-)topographischen Pole die Gedankenbewegung: So stehen sich das als ungenau lokalisierte (που) und damit besonders fern imagi‐ nierte, zugleich positiv konnotierte Idealbild der Heimat (κλεινὰ Σαλαμίς) sowie das als „abgeschieden“ und „unsichtbar“ bezeichnete Totenreich (ἀπότροπον ἀΐδηλον ᾍδαν v. 608) gegenüber; in der Mitte findet mit ἀνʼ Ἴδαν λειμῶνι die gegenwärtige Position der Sprecher Erwähnung. Dieser Topographie implizit eingeschrieben ist ein zeitliches Panorama, das mit Salamis die positiv konno‐ tierte Vergangenheit, mit Ida die aufreibende Gegenwart, schließlich mit Hades den Ausblick in eine zutiefst negative Zukunft umfasst. Die erste Strophe de‐ 216 217 218

219

S TANFORD (1963) S. 136 weist zu Recht auf den angesichts des attischen Publikums be‐ wusst lancierten Anachronismus hin, den eine Nennung der Insel Salamis im Wissen um ihre Bedeutung in den Perserkriegen beinhaltet. Neben ἁλίπλακτος ist auch ἁλίπλαγκτος überliefert; hinsichtlich des für unsere Zwecke marginalen Bedeutungsunterschieds sowie der genauen Überlieferungssitua‐ tion vgl. K AMERBEEK (1953) ad locum S. 127 f. Die von K AMERBEEK (1953) S.  128 gegebene Erklärung „it denotes the conspicuous position of the island“ wirkt zunächst etwas blass. Sieht man allerdings in der Nennung der Insel die erste von drei, die Periode gliedernden (quasi-)topographischen Angaben, so kontrastiert περίφαντος inhaltlich mit ἀΐδηλος (v. 607); siehe unten. Der Passus (im Besonderen v. 601) ist überlieferungstechnisch zutiefst verderbt und nicht zu heilen; L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) klassifizieren ihn als locus desperatus und setzen Vers 601 in cruces. Der Sinn der Aussage ist zwar verständlich, eine genaue (Nach-)Konstruktion des Textbestandes bleibt allerdings unmöglich.

200

I. Chöre wehrfähiger Männer

monstriert so die Einordnung der im Drama gegebenen räumlichen und zeitli‐ chen Situation aus der angstvollen Sicht des Chors und entwirft mit dem in Erwägung gezogenen eigenen Tod der Soldaten eine düstere Perspektive. Den Anschluss an die Gegenstrophe, die die gegenwärtige Lage thematisiert, bildet ein einfach anreihendes καί (v. 609 f.): Ihm, dem Chor, sei der „schwer zu behandelnde“ (δυσθεράπευτος) Aias als „Beisitzer / Kampfesgenosse“220 beige‐ sellt. Damit ist das Lied gedanklich bei Aias als seinem Zentralpunkt angelangt. Besonderes Augenmerk verdient dabei die Apostrophierung des Haupthelden als δυσθεράπευτος: Mit dem der medizinischen Fachsprache221 entlehnten Ter‐ minus wird sowohl in einem engen Sinn die Unheilbarkeit seiner „Krankheit“ (vgl. die Einschätzung als νόσος v. 185), d. h. seines Wahns bezeichnet, als auch in einem übertragenen Sinn der Schroffheit seines Wesens Rechnung getragen: Er ist auch in dieser Hinsicht schwer zu behandeln. Nach dem Einschub einer Klageinterjektion (ὤμοι v. 610) entwirft der Chor seine Sicht auf die dem Leid des Helden zu Grunde liegende Ursache: Er wohne einer göttlichen Manie bei (θείᾳ μανίᾳ ξύναυλος v. 611).222 Der folgende Rela‐ tivsatz setzt die direkte Apostrophierung der Heimatinsel fort: Hatte Salamis den Aias vormals (πρίν) als besonders kriegstüchtigen Helden (θουρίῳ κρατοῦντʼ ἐν Ἄρει v. 613 f.) ausgeschickt, so bedeute er nun für seine Freunde großes Leid (μέγα πένθος v. 615). Weiterhin seien die von ihm damals voll‐ brachten Taten größter heroischer Qualität (μεγίστας ἀρετᾶς) nun in der Wert‐ schätzung durch die Atriden gefallen, d. h. jeglicher Anerkennung beraubt. Mit der Kontrastierung πρὶν δή (v. 612) und νῦν δʼ (v. 614) fassen wir die zentrale Struktur der Periode bzw. der ganzen Gegenstrophe: Wieder ist die Gegenüberstellung von Vergangenheit und Gegenwart das entscheidende Re‐ flexionsmoment. Dabei verdeutlicht im Besonderen der Tempusgebrauch die elaborierte Verwebung der einzelnen Zeitebenen: Beginnend mit einer Aussage über die Gegenwart (Präsens ξύνεστιν v. 610) wendet sich der Blick zunächst auf die Vergangenheit des Aias als eines Kriegshelden zu Beginn des troiani‐ schen Feldzugs (Aorist ἐξεπέμψω v. 613), konstatiert den momentanen Zustand als Folge vergangenen Tuns (Perfekt ηὕρηται v. 615 f.) und fokussiert daraufhin geradezu komplexiv die völlig veränderte Wertschätzung der Taten des Aias (Aorist ἔπεσε v. 620). Wie schon in der Strophe durchschreitet der Chor auch

220 221 222

Zur genauen Bedeutung des der militärischen Fachsprache entnommenen ἔφεδρος ver‐ gleiche K AMERBEEK (1953) ad locum S. 129 f. sowie LSJ s.v. Vgl. den Gebrauch des vorliegenden Kompositums bei Hippokrates, Über den Arzt, 10, s. LSJ s.v. K AMERBEEK (1953) weist ad locum S. 130 zu Recht auf die begriffliche Spiegelung von θεῖα νόσος aus Vers 130 hin.

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hier Vergangenheit und gegenwärtige Situation und schafft dabei ein besonders eindrückliches Panorama. Der Chor macht sich so das bereits von Aias selbst angewandte Deutungsmuster der Gegenüberstellung eines heroischen „Früher“ mit dem zutiefst widrigen „Jetzt“ (vgl. v.a. v. 364 ff.) zu eigen und verwebt es aus seiner Perspektive zudem mit einer topographischen Einordnung. Nach Ver‐ gangenheit und Gegenwart, wie sie die erste Gegenstrophe ausgedeutet hat, wird das zweite Strophenpaar im Anschluss daran eine konkrete Zukunftsaus‐ sicht entwerfen. Halten wir kurz fest: Das erste Strophenpaar hat in einer umfassenden Be‐ wegung ein besonders perspektivreiches Panorama der aktuellen Situation ge‐ liefert, wie sie sich für die Schiffsleute darstellt. Motivisches Zentrum war dabei einerseits der Ort der Handlung, das Kriegslager vor Troia, das in der Strophe vor der Folie der Heimatinsel Salamis sowie des Totenreiches beleuchtet wurde, zum anderen Aias selbst. Der Chor reflektiert so – trotz des zunächst dem un‐ mittelbaren Kontext enthoben scheinenden Beginns – den Kern der Handlung selbst: Ort und Hauptperson des Dramas stehen im Zentrum des Stasimons und bilden den Ausgangspunkt der Überlegungen des Chors. In einer detaillierten Schilderung imaginiert der Chor im Folgenden die mög‐ liche Reaktion der als Greisin vorgestellten Eriboia, der Mutter des Aias, auf die Kunde vom Wahnsinn ihres Sohnes: Nicht den Schrei einer klagenden Nachti‐ gall (οἰκτρᾶς γόον ὄρνιθος ἀηδοῦς v. 629) werde sie ausstoßen, sondern schrille Klagelieder anstimmen (ὀξυτόνους ᾠδάς),223 durch Schläge auf die Brust dumpfe Töne von sich geben und sich das graue Haar raufen (v. 631 ff.). Dabei ist offen‐ sichtlich, dass das so imaginierte Trauerverhalten der Mutter zwar nur den Wahnsinn des Haupthelden zur Ursache hat (vgl. v. 325 f.), dennoch aber einer rituellen Totenklage gleicht. Diese Thematik nimmt der Beginn der folgenden Gegenstrophe auf: Aias, der „fruchtlos Krankende“ (ὁ νοσῶν μάταν v. 635), sei, so der Chor, besser im Hades verborgen. In einem Relativsatz fahren die Schiffsleute fort: Aias komme aus allerbester Familie, sei, wie K AMERBEEK224 es formuliert, hinsichtlich seiner Her‐ kunft zwar keinem anderen Griechen unterlegen, nun allerdings nicht mehr im

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Zur inhaltlich schwierigen Passage sowie der Unterscheidung der verschiedenen Kla‐ gearten vgl. S TANFORD (1963) S. 139 f. ad locum sowie L LOYD -J ONES (1985). „Sophocles, Ajax 624 f.“ in: Catalepton Festschrift für Bernhard Wyss zum 80. Geburtstag, hrsg. v. Christoph S CHÄUBLIN (1985), Basel, S. 16 – 18. Ich neige dazu, das gedoppelte αἴλινον v. 627 nicht als dritte Klageart, sondern als geradezu aus der Sicht der Mutter gesprochene Interjektion zu betrachten. K AMERBEEK (1953) ad locum S. 132.

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Bereich seines durch Erziehung erworbenen Wesens (συντρόφοις ὀργαῖς225 v. 639 f.), sondern bewege sich geradezu außerhalb desselben (ἀλλʼ ἐκτὸς ὁμιλεῖ v. 640). In Vers 641 wendet sich der Chor daraufhin direkt an Aiasʼ Vater, den er als τλᾶμον apostrophiert: Ein unerträgliches Unheil (δύσφορον ἄταν) warte da‐ rauf, von ihm in Erfahrung gebracht zu werden – ein Unheil, das kein Nach‐ komme des Aiakos bis auf den durch das wirkungsvoll an das Ende der Strophe gestellte Demonstrativum τοῦδε bezeichneten Aias je „genährt“ habe. Mit dieser die Imagination der klagenden Mutter aus der Strophe spiegelnden Fokussie‐ rung auf den Vater des Haupthelden schließt das Standlied; der Wiederauftritt des Protagonisten in Vers 646 eröffnet daraufhin das zweite Epeisodion. Einige Aspekte des Liedes sollen genauer untersucht werden. Der Chor meldet sich mit dem vorliegenden Stasimon nach einer langen gesprochenen Passage wieder zu Wort. Erneut steht Aias im Mittelpunkt der Überlegungen: Seine Tat, sein jetziger Zustand und sein Nachleben bzw. die Reaktion seiner engsten Fa‐ milienangehörigen bilden für die Schiffsmannschaft das gedankliche Zentrum ihrer Aussagen. Anders aber als in der Parodos oder dem Kommos mit Tekmessa ist der Chor jedoch hier nicht mehr auf Spekulationen oder die Informationen eines Dritten angewiesen, sondern durch eigene Augenzeugenschaft über den Zustand seines Herrn im Bilde. Dennoch stellt das Lied, wie B URTON zu Recht festhält, keine Reaktion auf das unmittelbar Vorausgegangene dar: „There is no comment on Ajaxʼ bitter words or Tecmessaʼs appeals, no expression of hope that she may prevail upon him.“226 Die erste Strophe bildet thematisch gesehen einen Auftakt zum kommenden Panorama der Auswirkungen und möglichen Reaktionen auf die Tat des Aias. Im Zentrum der ersten Überlegungen stehen dabei die Choreuten selbst. Sie thematisieren betont individualisiert (ἐγώ v. 600) ihre eigene Lage und bedienen sich eines zeitlichen Schemas, indem sie die Vergangenheit auf der Insel Salamis vor dem Krieg, die jetzige Situation vor Troia sowie die drohende Zukunft im Hades gegeneinander absetzen. Dieser Beginn des Standliedes ist zunächst im unmittelbaren Zusammenhang des Dramas überraschend und lässt den Rezipi‐ enten aufhorchen. Statt nämlich eine Kommentierung des eben von Aias an den Tag gelegten Verhaltens zu liefern, nimmt der Chor Bezug auf seine im Kommos mit Tekmessa bereits thematisierte Angst vor dem Tod (v. 227 und 253 ff.). An‐

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226

Zum vielschichtigen Begriff ὀργή vgl. LSJ s.v. „natural impulse or propensity […] hence, temperament, disposition, mood“ sowie der Verweis auf die Junktur ἀστύνομοι ὀργαί „social dispositions“ Antigone v. 356, sowie K AMERBEEK s Wiedergabe mit dem latei‐ nischen indoles (a. a. O.). B URTON (1980) S. 25.

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ders gesagt: Sophokles beginnt dieses Standlied nicht – wie noch die Parodos – mit einem sich direkt aus der Bühnenhandlung ergebenden Gegenstand. War dort der Protagonist vom ersten Wort an Gegenstand der Äußerungen, erfolgt hier nun die explizite Thematisierung des Protagonisten erst zu Beginn der ersten Gegenstrophe, in der Aiasʼ Anwesenheit als besonders negatives Moment der ohnehin schwierigen Situation eingeführt wird. Das Phänomen „Aias“ bildet dabei zwar das zentrale Moment, um das die Gedanken der Choreuten kreisen und auf das die Schilderung der Situation in der ersten Strophe hinausläuft, den Eingang des Liedes hat der Dichter allerdings bewusst anders gestaltet. Ist je‐ doch mit Vers 609 das Zentralthema einmal erreicht, wird es bis zum Ende des Stasimons nicht wieder verlassen. Den thematischen Höhepunkt des Liedes stellt der Beginn der zweiten Gegenstrophe (v. 635) dar: Ohne es zu ahnen, deutet der Chor an dieser Stelle den Fortgang der Handlung an und nimmt so aus der Perspektive des wissenden Zuschauers und Lesers in tragischer Ironie die kommenden Ereignisse bereits vorweg. Hinsichtlich der behandelten Thematik und Motivik unterscheiden sich die beiden Strophenpaare signifikant voneinander: Bildete im ersten Teil des Stasi‐ mons die konkrete Situation der Choreuten den Ausgangspunkt, ihr Verhältnis zu Aias sowie dessen Lage genauer zu bestimmen, so wirft das zweite Stro‐ phenpaar einen Blick in eine andere Sphäre, die vom momentanen Aufent‐ haltsort der Schiffsleute bereits topographisch sowie hinsichtlich des vom Chor imaginierten Personals verschieden ist. Dass darüber hinaus das zweite Stro‐ phenpaar eine ganz andere Zeit thematisiert, zeigt ein Blick auf den Tempus‐ gebrauch. Den ersten Teil des Standliedes prägt die Kontrastierung von Ver‐ gangenheit und dramatischer Gegenwart: Während das von Salamis gesagte Präsens ναίεις noch fast außerzeitlich-allgemeingültigen Charakter hat, be‐ zeichnen die weiteren (Perfekto-)Präsentien dezidiert die konkret fassbare Si‐ tuation vor Ort (εὐνῶμαι (v. 604 f.), ξύνεστιν (v. 610), ηὕρηται (v. 616)), der in der Gegenstrophe die Vergangenheit gegenübergestellt wird.227 Einzig die Aussicht, vor Troia zu sterben (Infinitiv Futur ἀνύσειν abhängig vom Partizip ἔχων v. 606 f.), eröffnet dabei eine futurische Perspektive. Die Imaginationen des zweiten Strophenpaars werfen dagegen teils dezidiert, teils implizit einen Blick

227

Dabei stehen σὺ μέν … ναίεις (Salamis) und ἐγὼ δʼ … εὐνῶμαι gerade durch ihre Gleich‐ zeitigkeit in einem besonders kontrastiven Verhältnis zueinander, das dem zunächst allgemein-überzeitlichen ναίεις eine doch konkrete und eben als Negativfolie fassbare Dimension verleiht.

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in die Zukunft: Den futurischen Hauptsatzprädikaten (σχήσει/ἥσει228 v. 630, θρηνήσει v. 632) der einen prospektiven Temporalsatz (ὅταν ἀκούσῃ v. 626) umfassenden Periode entspricht zu einem gewissen Grad μένει v. 642, das eben‐ falls eine in der Zukunft liegende Handlung bzw. das sich in der Zukunft ver‐ wirklichende Potential bezeichnet. Der Konzentration auf das dramatische Hier und Jetzt, wie es im Besonderen die erste Strophe geprägt hatte, ist so die Ima‐ gination einer unbestimmten, allerdings in greifbarer Nähe zu verortenden Zu‐ kunft entgegengestellt, die durch die tragische Ironie für den um den Mythos wissenden Rezipienten mit besonderer Brisanz angereichert wird. Anders ge‐ sagt: Stellen für den Chor die Klage der Mutter und des Vaters Ereignisse einer nicht weiter spezifizierten Zukunft dar, antizipieren die Rezipienten, dass sich die Imagination der rituellen Totenklage geradezu als Vorausdeutung der tat‐ sächlichen Geschehnisse erweisen wird. Mit der Thematisierung bzw. Anrufung der Eltern des Aias erweitert der Chor also gedanklich den Personenkreis und ordnet das aktuelle Geschehen sowie die Hauptfigur selbst in einen Kontext ein, der auch eine (wenn auch imaginative) Zukunftsaussicht bietet und so das unmittelbare Bühnengeschehen etwas über‐ steigt. Dabei wirkt in der ausgreifenden Imagination von Vater (Telamon) und Mutter (Eriboia) freilich die Thematisierung der eigenen Familie im letzten Mo‐ nolog des Protagonisten nach (v. 565 ff.): Dort hatte Aias den Chor aufgefordert, Teukros nach dessen Eintreffen an die Sorge um seinen Neffen Eurysakes zu erinnern; diesen solle er in die Heimat bringen, damit er sich dort um Aiasʼ Eltern kümmern könne (γένηται γηροβοσκός v. 570). In der Wiederaufnahme dieser Familienthematik, die in der Apostrophierung von Eriboia und Telamon gipfelt, setzt der Chor so die von Aias insinuierte Szenerie fort. Auch wenn sich der Fokus der chorischen Reflexion dabei von der Bühnensituation als solcher ent‐ fernt, bleibt der wesentliche Bezug zur Handlung und ihrem Zentralpunkt, d. h. zu Aias gewahrt: Nach dem detailreichen Blick auf die Gegebenheiten, mit denen sich die Schiffsleute als mit Aias eng Verbundene konfrontiert sehen, erfolgt die ebenfalls detaillierte Fokussierung auf einen anderen Bereich, in dem sich eben‐ falls Angehörige des Haupthelden mit seiner Person und seinem Tun konfron‐ tiert sehen und darauf reagieren müssen. Die im zweiten Strophenpaar imagi‐ nierte Szenerie bietet rein strukturell so geradezu die Verdoppelung der aktuellen Bühnensituation unter Veränderung des Personals (Eltern statt Frau und Freunde) sowie einer dadurch bedingten Intensivierung der Emotionalität. 228

L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) folgen gegen die einhellige Überlieferung ἥσει (so noch P EARSON (1924), außerdem K AMERBEEK (1953) und S TANFORD (1963)) hier der Konjektur von Reiske und setzen σχήσει in ihren Text. Neben der Überlieferungssituation spricht zudem die Parallele in Aiasʼ Todesmonolog v. 851 für die Beibehaltung von ἥσει.

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Gerade in dieser Perspektivverschiebung des zweiten Strophenpaars entfaltet das Stasimon dabei seine dramaturgische Fernwirkung, indem es mit der Zu‐ spitzung des ohnehin prominenten Todesmotivs das kommende Geschehen an‐ deutet. Die dabei eingeflochtene familiäre Dimension dient zudem der Wiederauf‐ nahme und Steigerung der Charakterisierung des Protagonisten. Die zweite Gegenstrophe legt besonderen Wert auf die Sonderstellung, die Aias gegenüber seiner Familie und seiner Sozialisation einnimmt: In der prägnanten Formulie‐ rung ἀλλʼ ἐκτὸς ὁμιλεῖ (v. 640) sowie dem Schlussgedanken der zweiten Ge‐ genstrophe (v. 644 f.) ist Aiasʼ Singularität besonders unterstrichen. Waren bisher aus Sicht des Chors die herausragende heroische Größe und Kriegstüchtigkeit des Haupthelden die entscheidenden Distinktionsmerkmale, die Aias im Ver‐ gleich zu den anderen Griechen eine herausragende Position garantierten, so fügt das vorliegende Standlied dieser Charakterzeichnung eine weitere Facette hinzu: Auch aus dem Rahmen seiner Familie, seiner engsten Umgebung fällt Aias heraus.229 Vergegenwärtigen wir uns darüber hinaus noch folgendes formale Moment, bevor wir abschließend die dramaturgische Funktion des Stasimons zu um‐ reißen versuchen: Mit der Beschreibung der Mutter des Aias entwirft der Chor nach den ausgedehnten Kommoi des vergangenen Epeisodions das Bild einer sich im Klagegesang ergehenden Frau; mit dem Ausruf αἴλινον αἴλινον v. 627 leihen die Choreuten der imaginierten Gestalt dabei geradezu ihre Stimme und bringen die vorweggenommene Totenklage auf die Bühne. Die Emotionalität der kommatischen Passagen wirkt hier im Chorlied nach: Kein ruhiges Abwägen der gegenwärtigen Lage, kein Panoptikum der Geschehnisse, sondern der prä‐ sente Eindruck imaginierter Stimmungen leitet den Chor in seinen Reflexionen. Selbst die Überlegung, der Tod des Aias sei für alle Beteiligten vorteilhafter (v. 635 ff.), überdeckt nur kurz und scheinbar rational die ungeheure Emotionalität, die sich gleich darauf im Anruf des Telamon Bahn bricht (v. 641 ff.). Abschließend soll Folgendes festgehalten werden: Das Chorlied verdichtet die emotionale Stimmung des Vorhergegangenen, fokussiert den Blick zunächst dezidiert auf die aktuelle Situation, die aus Sicht der Choreuten eine umfassende Ausdeutung erhält, und lenkt die Aufmerksamkeit schließlich auf das Kom‐ mende, indem es die durch den Protagonisten etablierte Todesmotivik in einer ausgreifenden Imagination verarbeitet. Als besonders wirkungsvoll erweist sich 229

Vgl. W INNINGTON -I NGRAM (1980) S. 36: „In both stanzas the Chorus attempt a lyric description of the diseased state of the hero’s mind; in both he is seen as having placed himself outside a certain range“.

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dabei die Kontrastierung der beiden Strophenpaare, die sich hinsichtlich ihres imaginierenden Reflexionszugangs entsprechen, dabei allerdings zwei verschie‐ dene Situationen in den Blick nehmen. Gerade mit der Erweiterung der perso‐ nalen, räumlichen und zeitlichen Perspektive, wie sie das zweite Strophenpaar vornimmt, geht zugleich eine Intensivierung der zentralen Motivik sowie der Emotionalisierung einher, die darüber hinaus den Fortgang des Stücks in den Blick nimmt. Die scheinbare Digression erweist sich so als tragisch-ironische Vorwegnahme des Kommenden, wobei die Imagination der Wehklage in der zweiten Strophe eine formale Reminiszenz an die vorhergehenden Amoibaia bietet. Machen wir uns zudem bewusst: Mit Aiasʼ Abtritt ist die Handlung zu einem abrupten Ruhepunkt gelangt; das eigentliche Geschehen wirkt geradezu einge‐ froren. Da das Zwiegespräch zwischen Aias und Tekmessa keine Lösung des die Situation bestimmenden Konflikts herbeigeführt hat, wird erst Aiasʼ entschie‐ denes Handeln, d. h. sein Selbstmord, die eigentliche Handlung weiterführen. Das in diese Pause des dramatischen Fortschritts eingesetzte Stasimon ver‐ dichtet die spannungsvolle Bühnensituation und führt sie – freilich in tra‐ gisch-ironischer Brechung – einer Lösung zu, die zugleich den Fortgang der Handlung bereits vorwegnimmt. Zweites Stasimon (v. 693 – 718)

Keine fünfzig Verse nach Ende des ersten Standliedes beginnt der Chor das zweite Standlied. Das gesamte zweite Epeisodion besteht dabei einzig aus einem Monolog des Haupthelden, der als sog. ‚Trugrede‘ des Aias ausgiebig in der Forschung behandelt wurde. Es ist in dieser Arbeit nicht der Ort, diese ohne Zweifel bedeutende und eindrückliche Passage ausgreifend zu analysieren;230 einzig einige Aspekte sollen hier den Überblick verschaffen, der zur Einordnung des zweiten Standliedes nötig ist. Dass ich die Partie dabei als wirkliche Trugrede des Aias verstehe, der bewusst seinen wirklichen Plan, d. h. die Durchführung

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Einen generellen Überblick über die Forschungsmeinungen gibt R OSENBLOOM (2014) S. 1259 f., der im Besonderen die in jüngster Zeit erwachsene Behandlung „metatheat‐ ralischer“ Aspekte dieser Partie auflistet. Ich verweise darüber hinaus noch auf P ARLA‐ VANTZA -F RIEDRICH (1969). Täuschungsszenen in den Tragödien des Sophokles, Berlin, S. 16 – 24; F UCHS (1993). Pseudologia ΨΕΥΔΟΛΟΓΙΑ: Formen und Funktionen fiktio‐ naler Trugrede in der griechischen Literatur der Antike, Heidelberg, S. 76 – 80, die kon‐ zise Übersicht der verschiedenen Lehrmeinungen bei G ARVIE (1998). Sophocles Ajax edited with introduction, translation and commentary, Warminster, S. 184 – 186; sowie die explizit diesem Abschnitt des Dramas gewidmete Appendix D bei S TANFORD (1963) S. 281 – 288.

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der Selbsttötung verschleiert, sei zum besseren Verständnis des Folgenden vo‐ rausgeschickt. Bereits die formale Komposition der Partie ist bemerkenswert: Nach dem überlangen, durch den Kommos zwischen Aias und dem Chor unterteilten ersten Epeisodion ist das zweite mit 47 Versen erstaunlich kurz.231 Zu einem Dialog kommt es dabei nicht: Die von Aias angeredeten Personen (Tekmessa in Vers 684 ff. und der Chor in Vers 687) antworten nicht.232 Aias verlässt die Bühne nach seinem Monolog; eine direkte Kommentierung durch Tekmessa unter‐ bleibt auch hier, sie tritt ebenfalls ab. Thematisches Zentrum des Monologs ist dabei der Gedanke der alles wan‐ delnden Zeit, die auch die festgefahrensten Positionen aufzuweichen im Stande ist. So beginnt Aias mit einer allgemeinen Aussage: Die Zeit bringe Dinge deut‐ lich hervor und verberge bereits Erschienenes wieder; nichts Unerwartetes gebe es, selbst der stärkste Eid und die sprödesten Entschlüsse würden von der Zeit gewendet. Auch er selbst sei, einem harten Stahl gleich, durch Tekmessa er‐ weicht worden (ἐθηλύνθην v. 651)233 und empfinde Mitleid beim Gedanken daran, seine Frau als Witwe unter Feinden, seinen Knaben als Waise zurückzu‐ lassen. Nun aber werde er zum Strand gehen und dort durch sühnende Reini‐ gung seiner Schandtat (λύμαθʼ ἁγνίσας ἐμά) dem Zorn der Göttin entgehen. Er werde sein Schwert, die verhassteste seiner Waffen (ἔχθιστον βελῶν v. 658), dazu an einem unbetretenen Ort vergraben, wo es niemand außer die Nacht und Hades sehen könne (v. 660). Nach weiteren Ausführungen bezüglich der in Rede stehenden Waffe kommt Aias auf sein Verhältnis zu den Atriden zu sprechen, die zu achten er nun lernen werde (v. 667): Sie seien schließlich die Anführer und man habe ihnen zu gehorchen (ὑπεικτέον v. 668). Nach weiteren, zutiefst ambivalenten Äußerungen zur Natur von Freundschaft und Feindschaft, die 231

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Beim Vergleich der beiden gänzlich verschieden komponierten ersten beiden Epeisodia der vorliegenden Tragödie bleibt bei der Frage nach den Konstituenten eines Epeis‐ odions nur die aristotelische Antwort (Poetik 1452 b 20 f.): Was an Sprechversen zwi‐ schen zwei Liedern des Chors zu stehen kommt, ist ein Epeisodion. Aspekte wie die Länge der Szenen oder die Sprecherverteilung auf mehrere Personen spielen dabei keine Rolle. Einmal mehr ist auch an diesem Punkt offensichtlich, wie die gesamte Kompo‐ sition des Aias nicht auf eine möglichst ausgewogene Gestaltung einzelner Formteile und ihr Verhältnis zueinander abzielt, sondern ganz dem Inhalt untersteht und die Zentralstellung des Protagonisten zu unterstreichen sucht. Möglicherweise geben Tekmessa und / oder der Chor ihrer Erleichterung angesichts der scheinbar glücklichen Wendung durch Gesten Ausdruck; zu Wort melden sie sich al‐ lerdings nicht. Auf die Unübersetzbarkeit des als acc. respectus beigestellten στόμα weist K AMERBEEK (1953) S. 135 ad locum hin: „It is the mouth of Ajax […] but at the same time the sharp edge of the sword to which he compares himself“.

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ebenfalls der alles verändernden Zeit unterlägen (v. 678 – 683), ordnet Aias an‐ schließend seine Angelegenheiten und gibt Aufträge an Tekmessa und den Chor: Seine Frau solle ins Haus zurückgehen und die Götter bitten, er, Aias, möge das, was ihm am Herzen liege, zu Ende bringen; die Schiffsmannschaft solle Teukros, wenn er auftauche, bitten, für Aias zu sorgen und die Choreuten selbst mit Wohlwollen behandeln (v. 684 ff.). Mit der Ankündigung, er selbst gehe nun dorthin, wohin man gehen müsse (ὅποι πορευτέον v. 690), und der Beruhigung, seine Angehörigen sollten ihn als Geretteten wissen, verlässt Aias die Bühne, um seine Pläne umzusetzen. Der hier allenfalls rasch und keinesfalls erschöpfend überblickte Monolog des Haupthelden ist dabei ein Musterbeispiel ambivalenter Sprache und andeu‐ tungsvollen Verschleierns der eigentlichen Absicht.234 Die bewusste Ambiguität der Aussagen macht meines Erachtens deutlich, dass dieses innerdramatische Missverstehen durch Aias intendiert ist, er also eine wirkliche Trugrede hält und die primären Adressaten seiner Worte – Tekmessa und den Chor – hin‐ sichtlich seines eigentlichen Plans absichtlich im Unklaren lässt.235 Versuchen wir, die Situation vor dem zweiten Stasimon hinsichtlich ihrer dramaturgischen Implikationen zu charakterisieren. Gerade die im ersten Sta‐ simon vorgenommene Fokussierung der Todesthematik, wie sie bereits im Amoibaion zwischen Aias und dem Chor von Bedeutung gewesen war, hat un‐ zweifelhaft deutlich gemacht, dass der Tod des Protagonisten Gegenstand der vorliegenden Tragödie sein wird. Aiasʼ Monolog spielt nun in besonders subtiler Weise mit dieser teils auf mythologischem Vorwissen beruhenden, teils aus den vorherigen Partien gewonnenen Erwartungshaltung der Rezipienten. Die vom Haupthelden an den Tag gelegte Ambivalenz hinsichtlich seines weiteren Vor‐ gehens lässt sich dabei innerdramatisch gut begründen: Aias stellt mit der Ver‐ schleierung seiner wahren Intentionen sicher, dass er den Selbstmord ohne

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Auf eine detaillierte Auflistung und Ausleuchtung der ambivalenten Motive und Sprachbilder wird hier mit Verweis auf die bereits zitierte Literatur (vgl. S. 206, Anm. 230) verzichtet. Anders B URTON (1980) S. 26 f.: „Although Ajax almost certainly does not intend to de‐ ceive either Tecmessa or his sailors about the decision to kill himself, Sophocles has worded his speech with such ambiguity of language that they are both completely de‐ luded“.

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Wissen seiner Angehörigen und damit ungestört vollziehen kann.236 Die Täu‐ schung ist so nicht nur innerdramatisch aus der Intention des Akteurs unaus‐ weichlich,237 sondern auch für den komponierenden Dichter unmittelbar not‐ wendig, um die vorderszenische Inszenierung des Suizids auf ansonsten leerer Bühne (die Orchestra eingeschlossen) zu ermöglichen. Aus Sicht der um den Ausgang wissenden bzw. ihn erahnenden Rezipienten enthält der Monolog damit freilich bewusste Irritationsmomente, die den rein affirmativen Nachvollzug der Partie unmöglich machen. Die Spannung des kommenden Chorliedes liegt für Zuschauer und Leser daher in der Bewertung der Reaktion des Chores. Konkret stellt sich so die Frage: Wie interpretiert die Schiffsmannschaft die Ausführungen ihres Herrn? Dass dabei die Reaktion einzig dem Chor zukommt, Tekmessa also keine eigene Ausdeutung der Situa‐ tion gibt, ist eine bewusste Reduktion der dem Dichter zur Verfügung stehenden

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Möglicherweise beweist Sophokles gerade mit der Zeichnung des im direkten Vorfeld seines eigenen Todes abgeklärt wirkenden, rational die Selbsttötung planenden Helden seine Beobachtungsgabe hinsichtlich psychologischer Beweggründe und Gegeben‐ heiten, wie sie im Besonderen bei Suizidenten anzutreffen sind (vgl. B RONISCH (2002). „Diagnostik von Suizidalität“ in: B RONISCH (2002). Psychotherapie der Suizidalität. Krankheitsmodelle und Therapiepraxis – störungsspezifisch und schulenübergreifend, Stuttgart, S. 9 – 15.; S. 14: „Vorsicht ist besonders dann geboten, wenn der Patient nach Suizidandeutungen […] ganz plötzlich, ohne dass sich Wesentliches in seinem Leben geändert hat, eine ‚unheimliche‘ Ruhe ausstrahlt“). Eine besondere psychologische Meisterschaft in Sophoklesʼ Zeichnung des Helden erkennt auch G ARLAND (2014). „Sui‐ cide in Greek Tragedy.“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy III, hrsg. v. R OISMAN (2014), Malden (MA), S. 1377 – 1379, S. 1378: „It is Sophocles in the Ajax who not only demonstrates the fullest awareness of complex psychodynamic formulation that results in the decision to take one’s own life, but who also provides the most detailed discussion in surviving Greek tragedy of the consequences for others of an act of self-destruction“. Dass Aias tatsächlich seine Meinung geändert haben könnte, von der Selbsttötung also absehen wolle (so K NOX (1964). The Heroic Temper: Studies in Sophoclean Tragedy, Berkeley and Los Angeles, M ARCH (1991). „Sophoclesʼ Ajax: the death and burial of a hero.“ in: BICS 38 (1991 – 3), S. 1 – 36, u. a.), erscheint aus vielerlei Gründen abwegig: Aias, der sich im kommenden Epeisodion das Leben nimmt, würde sich dann erneut ument‐ scheiden; die im Amoibaion zwischen ihm und dem Chor prominente Todesmotivik, ja seine Todessehnsucht, wie sie v. a. das dritte Strophenpaar verbalisierte, erschiene unter diesen Umständen völlig unglaubwürdig; schließlich wäre die Ambivalenz seiner Rede nicht als solche intendiert, was angesichts der geradezu gesuchten Zweideutigkeit mancher Passagen kaum glaubhaft ist. Vgl. K AMERBEEK (1953) S. 138 zu Vers 660: „It should be imagined how strange this verse would be if Ajax were not speaking in an ambiguous manner“. Eine gewisse Sonderstellung nimmt B OWRA (1952). Sophoclean Tragedy, Oxford ein: Er geht davon aus, dass sich Aias auf Grund erneuten göttlichen Einflusses gegen seine eigene Entscheidung tötet („Ajax acts against the decision which he here announces“ S. 40); G ARLAND (2014) formuliert S. 1259: „In this case, the speech achieves self-deception“.

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Mittel. Wir werden nach dem Überblick über das Lied auf diesen Punkt zurück‐ kommen. Für die Choreuten indes ist die Sachlage klar: Sie brechen mit ihrem zweiten Standlied238 in einen Jubelgesang aus. Keine Spur mehr von zweifelnd-ambiva‐ lenter oder hoffnungsloser Stimmung trübt die aufbrausende Freude über die erhoffte und eingetretene Genesung des Herrn. Die ganze erste Strophe des Stasimons ist der emphatische Wunsch um die Erscheinung zweier Gottheiten. Beginnend mit einer Aussage über seine mo‐ mentane Gefühlslage, die das überbordende Hereinbrechen einer glücklichen Erwartungshaltung239 beschreibt (v. 693), entlädt sich diese Freude in der gera‐ dezu leidenschaftlich-emotionalen Anrede an den herbeigesehnten Gott240 (v. 694 ff.): ἰὼ ἰὼ Πὰν Πάν, ὦ Πὰν Πὰν ἁλίπλαγκτε, Κυλλανίας χιονοκτύπου πετραίας ἀπὸ δειράδος φάνηθʼ ὦ θεῶν χοροποίʼ ἄναξ… Io, io, Pan, Pan, oh Pan, meerdurchirrender Pan, erscheine vom felsigen, schneeum‐ stöberten Kyllanischen Felsenrücken, oh Herr, Vortänzer der Götter …

Dieser „Tanzmeister“ der Götter solle, so die Choreuten, unter ihnen den Reigen selbst erfundener Tänze in Bewegung setzen (ὀρχήματʼ αὐτοδαῆ ἰάψῃς v. 699 f.).241 Ihnen, den Schiffsleuten, stehe nämlich der Sinn nun nach Tanz

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Auf die Nomenklatur des Liedes soll hier nicht weiter eingegangen werden. Die Dis‐ kussionen, ob das vorliegende Stasimon als Hyporchema bezeichnet werden kann (vgl. J EBB (1896) S. 109, K AMERBEEK (1953) S. 146), werden ganz analog im Fall des astrophi‐ schen Liedes im ersten Epeisodion der Trachinierinnen sowie des dritten Stasimons des Oidipus Tyrannos geführt; mit ausdrücklichem Verweis auf die Behandlung dieser Par‐ tien ad locum bleibe ich hier beim Begriff Stasimon. Zum vielschichtigen Begriff ἔρως und dessen spezifischer Konnotation ad locum vgl. K AMERBEEK (1953) S. 146: „It seems to convey […]: wishful expectancy. He who is seized by this feels winged with joy“. Warum es gerade Pan ist, den die Schiffsleute hier anrufen, erklärt B URTON (1980) S. 28, indem er auf die Rolle des Gottes als Tänzer sowie im Besonderen dessen kultische Verbindung zu Athen und Salamis, der Heimatinsel des Aias, eingeht. Auf die genaue Differenzierung der in v. 699 ihrer geographischen Herkunft nach be‐ nannten Tanzarten soll hier verzichtet werden. Der Vers bietet zudem eine textkritische Besonderheit, da sich die von den meisten Herausgebern übernommene Variante Μύσια statt des in den MSS einhellig überlieferten Νύσια einzig auf ein Papyrusfragment stützt. Zur Diskussion vgl. K AMERBEEK (1953) ad locum S. 147 f.

2. Aias

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(χορεῦσαι)242. Nicht als direkter Anruf, sondern als ein Wunsch (ξυνείη v. 705) ist die folgende Bitte um Erscheinung Apolls formuliert. Auch sie enthält, wie die vorangegangene Anrufung, mit der Nennung des Heimatortes (ὁ Δάλιος v. 704) und des Weges, den der Gott nehmen soll (Ἰκαρίων ὑπὲρ πελαγέων μολών v. 702), klassische Elemente des ὕμνος κλητικός.243 Darüber hinaus sind die beiden Götterinvokationen auch begrifflich parallelisiert: Beide Gottheiten werden als ἄναξ angesprochen (v. 698, 703), beide werden gebeten, mit den Schiffsleuten „zusammen zu sein“ (ξυνών v. 700, ξυνείη v. 705). Die mit fast kul‐ tischer Intensität vorgetragenen Wortwiederholungen bei der Anrufung Pans, das affektvolle Hysteron-Proteron der Verse 698 ff. – zunächst die Bitte an den Gott, selbst ξυνών, also in Gemeinschaft, zu tanzen, dann die Bekundung der eigenen Absicht – und die wirkungsvolle Anapher der Vorsilbe εὐ- in den letzten beiden Versen der Strophe (εὔγνωστος sowie εὔφρων) unterstreichen die hohe Emotionalität der chorischen Aussagen. Sophokles stilisiert hier einen Ausbruch von Erleichterung, wie man ihn nach der vorherigen Szene kaum erwartet hat. Die dadurch beim Rezipienten hervorgerufene Irritation wird dadurch verstärkt, dass der konkrete Grund der Ausgelassenheit des Chors noch nicht genannt wurde. Erst mit der Gegenstrophe kommt der Chor darauf zu sprechen und nennt mit einem einfachen und dennoch effektvoll stilisierten Satz die Ursache des Freudentaumels (v. 706): ἔλυσεν αἰνὸν ἄχος ἀπʼ ὀμμάτων Ἄρης. Gelöst hat das grausige Leid von den Augen Ares.

242

243

Es verwundert, dass der vorliegende Vers in der modernen Forschung nicht mehr Be‐ achtung gefunden hat, ist er doch geradezu das „Gegenstück“ zu Oidipus Tyrannos v. 896 τί δεῖ με χορεύειν. Während in dieser resignativen und dramenimmanent, d. h. aus der Perspektive der thebanischen Greise völlig zu rechtfertigenden Frage des Chors angesichts der Orakelkritik Iokastes verschiedentlich eine metadramatische und selbst‐ referentielle Äußerung des tragischen Chors an sich gesehen wurde (vgl. im Besonderen C ALAME (1999) S. 132 – 140), scheint der vorliegende Vers des Aias selten bzw. gar nicht in diese Richtung interpretiert worden zu sein. Geradezu entgegengesetzt zu den Ver‐ suchen, genuin kultische und womöglich metadramatische Aspekte in diesen selbstre‐ ferentiellen Aussagen zu finden, notiert B URTON (1980) S. 28 ad locum: „References to the act of dancing are not common in the lyrics of Greek Tragedy, and when they occur they remind us that the dance was not only an act of worship, as for instance in O. T. 896, but also an essential part of dramatic lyric“. Vgl. B URTON (1980), der S. 28 ad locum von „essential elements in ritual songs“ spricht. Vgl. dazu überdies die Behandlung des fünften Stasimons der Antigone.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

Die Klammerstellung von Prädikat und Subjekt betont wirkungsvoll die er‐ sehnte Heilung und die dafür verantwortliche Gottheit, die Assonanz der a-Klänge macht den Vers eingängig und hebt ihn klanglich von den vorange‐ gangenen und folgenden ab. Dem entspricht, dass diese vorliegende Begrün‐ dung des Jubels syntaktisch nicht an die vorangehende Strophe angeschlossen ist.244 Von der Emotion überwältigt stellt der Chor die erleichternde Aussage in den Raum, der Dichter überlässt es Lesern und Hörern, die logische Beziehung herzustellen. Auch ein Anschluss an die folgenden Verse unterbleibt: Wieder bricht der Chor in Jubel aus und beschreibt den neuen Zustand nach der ver‐ meintlichen Genesung des Haupthelden. Der Blick auf den Beginn der ersten Strophe erweist eine syntaktische und kompositionelle Parallele: Auch dort bil‐ dete eine syntaktisch an das Kommende nicht angeschlossene Aussage den Be‐ ginn, die in einen jubelnden Ausruf überging. Die Wiederholung der verdop‐ pelten Interjektion ἰώ an der metrisch korrespondierenden Stelle (v. 694 /704) unterstreicht zudem die Parallelisierung der Strophenanfänge. Inhaltlich unter‐ scheiden sich die beiden in Rede stehenden Verse freilich, indem sie das jeweilige Thema der Strophe angeben: Während Vers 693 die ekstatische Reaktion des Chors verbalisiert und damit den Blick auf die Choreuten und ihr Verhalten lenkt, fokussiert die Gegenstrophe auf Aias, in dessen Schicksal eine allgemeine Wahrheit erkannt wird. Verfolgen wir den Gedankengang der Gegenstrophe: Jetzt, nachdem Aias sein Leiden vergessen habe und mit größter kultischer Gesetzestreue den Göttern die ihnen gebührende Ehre zukommen lasse (εὐνομίᾳ σέβων μεγίστᾳ v. 713.), sei es wieder möglich, dass das helle Licht sich den schnellen Schiffen nähere (v. 708 f.). Das Stasimon nimmt hier Bezug auf den Beginn der Tragödie, an dem der anbrechende Tag Schritt für Schritt dem Chor die Taten der vergangenen Nacht offenbarte. Dabei verfinsterte sich für die Mannschaft des Aias die Zu‐ kunftsaussicht allerdings schrittweise, bis ihr Herr im vergangenen Auftritt (scheinbar) seine leidvollen Absichten aufgegeben hat. Das vorliegende Lied wird an dieser Stelle so zu einem erneuten Morgenlied, das, wenn auch zeitlich verspätet, den Anbruch des wahren Lichtes besingt. War in der Strophe die In‐ vokation von Pan und Apoll das bestimmende Strukturmoment gewesen, so entlädt sich die freudvolle Erleichterung der Choreuten an unserer Stelle in einem Anruf des Göttervaters.245 244 245

Vgl. K AMERBEEK (1953) S. 149: „The introductory sentence is a casual asyndeton“. Die Apostrophierung des Zeus hat an unserer Stelle allerdings kaum inhaltlichen Bezug zu den vom Chor geschilderten Umständen. Will man sie nicht als konventionelles Moment emphatischer Sprache verstehen, so bietet es sich an, in ihr die Beantwortung der Anrufung aus der Parodos (v. 185 f.) zu sehen.

2. Aias

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Ganz unter dem Eindruck des dem Lied vorausgegangenen Monologs steht der Chor thematisch, wenn er – erneut asyndetisch angefügt – fortfährt (v. 714): πάνθʼ ὁ μέγας χρόνος μαραίνει Alles löscht die lange Zeit aus.

Der Vers bietet textkritisch einige Schwierigkeiten, die auch sein Verständnis beeinflussen. Es ist daher nötig, sich die Sachlage kurz zu vergegenwärtigen.246 Das in den MSS einhellig im Anschluss an μαραίνει überlieferte τε καὶ φλέγει würde die thematische Parallele zu Aiasʼ allgemeingültigen Aussagen in den Versen 646 ff. um einen ähnlichen Bildgebrauch erweitern: Die als Feuer bzw. Flamme vorgestellte Zeit würde so alle Dinge bald „auslöschen“, bald „an‐ flammen“. Der von Aias selbst aufgerufene Gegensatz von ἄδηλα und φανέντα aus Vers 647 wäre so in einem poetischen Bild gespiegelt. Die nahezu gleiche Apostrophierung der Zeit (μακρός v. 646/μέγας v. 714) spricht zudem für eine bewusste Wiederaufnahme von Thematik und Begrifflichkeit aus dem Monolog des Protagonisten. Allerdings fehlt in der entsprechenden Stelle der Strophe (v. 701) die metrische Entsprechung. Die Beibehaltung des überlieferten Textbe‐ stands in Vers 715 führt so zur Annahme einer lacuna in Vers 701. Was dort aber im Anschluss an χορεῦσαι gestanden haben soll, ist kaum zu rekonstruieren, zumal der dort vorliegende Satz abgeschlossen und in sich stimmig ist – mehr noch: Er wirkt so, wie er vorliegt, gerade durch seine prägnante Direktheit, die einen Zusatz unmöglich erscheinen lässt.247 Das Verständnis von μαραίνει ohne den Zusatz τε καὶ φλέγει jedoch stößt ebenfalls auf gewisse Schwierigkeiten: Das konkrete, den Choreuten vorschwebende Objekt der allgemeingütigen Gnome „Alles löscht die große Zeit aus“ wäre in diesem Fall wohl Aiasʼ Wahn, den der Lauf der Zeit eben nun aus Sicht der Schiffsmannschaft beendet habe. Zwar wäre die Aussageabsicht in diesem Fall klar, die Bildebene „Feuer und Auslöschen“ würde allerdings allein durch μαραίνει aufgerufen und sofort wieder verlassen; sie bliebe in ihrer Einseitigkeit angesichts der Parallele zu Aiasʼ Einlassungen unbeantwortet. Auf semantische Schwierigkeiten des Gebrauchs

246 247

Vgl. die Diskussionen bei K AMERBEEK (1953) S. 150 f., S TANFORD (1963) S. 153 f., B URTON (1980) S. 29. L LOYD -J ONES /W ILSON (1990). Sophoclea: Studies on the text of Sphocles, Oxford äußern sich zur vorliegenden Stelle nicht. B URTON (1980) S. 29: „[N]othing could be added to the emphatic statement, νῦν γὰρ ἐμοὶ μέλει χορεῦσαι, without ruining its effect“.

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von μαραίνει ohne korrespondierendes zweites Prädikat macht zudem K AMER‐ BEEK aufmerksam.248 Eine Klärung der Passage ist hier nicht zu suchen und wird wohl auch ohne weitere Textzeugen nicht zu finden sein. Festzuhalten bleibt trotz aller Schwie‐ rigkeiten im Einzelnen, dass der Chor an unserer Stelle in bewusstem Bezug auf Aiasʼ Monolog eine allgemeine Wahrheit ausspricht, zu deren Einsicht er, wie das Folgende zeigen wird, durch den konkreten Fall der Wiedergenesung ge‐ kommen ist. Man wird sich zudem K AMERBEEK anschließen, wenn er angesichts der textkritischen Alternativen festhält: „In any case, the Chorus utter an am‐ biguity without being conscious of it.“249 Auch die direkt folgende Überlegung der Verse 715 ff. stellt eine Spiegelung von Aiasʼ Aussagen in seinem Monolog dar: Nichts, so die Choreuten, könne man als unsagbar (ἀναύδητον) bezeichnen; keine Wendung, sei sie auch noch so radikal, sei unmöglich, wenn selbst Aias unverhoffter Weise zu einer anderen Meinung gekommen sei (μετανεγνώσθη) und vom Hass und Streit gegen die Atriden Abstand genommen habe. Mit dieser zumindest vordergründig ver‐ söhnlichen Überlegung schließt das Chorlied; in Vers 719 beginnt der unter‐ dessen aufgetretene Bote seinen Monolog. Führen wir uns zunächst einige Momente der Komposition des Stasimons vor Augen. Das kurze Strophenpaar entfaltet in geradezu rauschhafter Manier eine situativ-emotionale Ausdeutung des aktuellen Handlungsstandes, wie er sich aus Sicht der (getäuschten) Choreuten darstellt. Während die Strophe dabei die Thematisierung von Tanz und Ekstase in Form der Anrufung zweier Gottheiten verbalisiert, kommt die Gegenstrophe zunächst auf die Ursache des Freuden‐ taumels zu sprechen, entfaltet daraufhin die sich daraus ergebenden Konse‐ quenzen (v. 708) und sieht schließlich im Geschehen um Aias einen Beweis der allgemeinen Wahrheit vom stetigen Wandel aller Dinge unter dem Einfluss der Zeit. Der besondere Tempus- bzw. Modusgebrauch des Liedes bildet diese Struktur des Gedankengangs wirkungsvoll ab: Die durch das dreimal innerhalb des Sta‐ simons gesetzte νῦν (v. 701, in rascher Wiederholung v. 707 und 708) besonders fokussierte Gegenwartszentrierung, ja geradezu das Aufgehen der Choreuten

248 249

K AMERBEEK (1953) S. 151: „But μαραίνειν connotes in the first place something beautiful that is made to waste away“. K AMERBEEK (1953) a. a. O.

2. Aias

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im Hier und Jetzt der dramatischen Situation250 korrespondiert einerseits mit dem durch den Aorist ἔλυσεν v. 706 als Geschehen der Vergangenheit bezeich‐ neten Grund der Freude sowie den zeitlos-allgemeingültigen präsentischen Verbformen μαραίνει (und φλέγει) (v. 714) und dem Potentialis φατίξαιμʼ ἄν (v. 715 f.), denen im angeschlossenen Nebensatz wiederum ein Aorist zur Bezeich‐ nung der an Aias vollzogenen Wendung beigestellt ist. Neben dem potentialen Optativ in Vers 715 f. kommt besonders dem kupitiven Optativ ξυνείη am Ende der ersten Strophe (v. 705) besondere Bedeutung zu. Die zuletzt genannte Form korrespondiert wiederum mit dem Imperativ φάνηθʼ aus Vers 697. Das Stasimon hinterlässt dabei für die um den Fortgang der Handlung und das Ende des Aias informierten Leser und Zuschauer einen äußerst bitteren Beige‐ schmack: Der ins Kultische gesteigerte Jubel, die ausbrechende Erleichterung des Chors bilden den Auftakt zum Höhepunkt des Dramas, dem Selbstmord des Protagonisten. Die sprunghafte Gedankenführung und die blockhafte Gegenüberstellung einzelner Teile sowie die asyndetischen Fügungen verstärken den Eindruck emotionalen und situativen Sprechens, während das Chorlied dennoch, wie wir gerade durch die Analyse der Beziehung zwischen den beiden Strophen hin‐ sichtlich Aufbau und sprachlicher Gestaltung gezeigt haben, in sich fein kom‐ poniert ist. Wir haben des Weiteren festgestellt, wie Sophokles das Stasimon thematisch und begrifflich mit dem unmittelbar vorausgegangenen Monolog des Aias verknüpft. Der Dichter zeigt so, wie überzeugend, ja suggestiv die Rede des Protagonisten auf die Schiffsmannschaft wirkt, wie diese wiederum einzelne Motive herauszulösen und sie im Sinne ihrer Zukunftsdeutung auszulegen ver‐ suchen. Die dramaturgische Funktion des Liedes ist offensichtlich: Gegen die bewusst lancierte Ambivalenz des vorangegangenen Monologs setzt es die entschie‐ dene – wenn auch falsche – Zuversicht, ja die an Drastik kaum zu überbietende Gewissheit, die der weitere Fortgang der Handlung als Produkt der Täuschung entlarven wird. Das Stasimon wird so zur geradezu überzeichnenden Folie, vor der sich das folgende Geschehen umso deutlicher abheben kann. Diese Funkti‐ onalisierung eines Chorliedes bzw. einer Partie mit Chorbeteiligung als über‐ bordend positive Kontrastfolie unmittelbar vor dem Eintritt der katastrophalen 250

Die beiden einleitenden Aoriste ἔφριξ' und ἀνεπτάμαν widersprechen dabei dieser Ge‐ genwartszentrierung nicht, sondern unterstützen sie vielmehr: Der Aorist bezeichnet hier (wie an anderen, vornehmlich der Tragödiensprache entstammenden Stellen) einen besonders emphatischen, emotionalen Zustand des Sprechenden. Zum sog. aoristus tragicus vgl. KG II, 163 f., § 386, 9 (v. a. Abschnitt b), sowie B URTONS (1980) Bezeichnung der Formen als „instantaneous aorist[s]“ (S. 27)

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I. Chöre wehrfähiger Männer

Wende im Handlungsverlauf ist ein beliebtes, geradezu standardisiertes Moment chorischer Präsenz und findet besonders in den Tragödien unseres Dichters beinahe regelmäßig Anwendung.251 Wenden wir hier den Blick allerdings von allgemeinen Gesichtspunkten zum konkreten Chorlied und beleuchten im Be‐ sonderen seine Einbindung in den Kontext der vorliegenden Tragödie. Das zweite Stasimon rekurriert, wie gesehen, nicht nur auf den Monolog des Protagonisten, den es unter Verkennung der Ambiguität volltönend orchestriert, sondern steht auch zum ersten Standlied in einem besonders kontrastiven Ver‐ hältnis: Sophokles lässt auf das resignierende Panorama der Lage vor Troia samt der imaginierten, an einem Leichenlied orientierten Klage der Eltern des Aias den Ausbruch ungemeiner Zuversicht folgen. Innerhalb kürzester Zeit stellt er so zwei emotional besonders unterschiedliche Partien gegenüber und inszeniert mit drastischen sprachlichen und poetischen Mitteln das Auf und Ab innerhalb der Gefühlswelt der Choreuten.252 Wie schon in der Abfolge von Prolog, Par‐ odos und den zwei Kommoi zu Beginn des Stücks reiht er auch hier Szenen von großer Drastik aneinander. Zuschauer und Leser der Tragödie sind sich mitt‐ lerweile der bevorstehenden Katastrophe endgültig bewusst: So exaltiert wie der Jubel des Chors nach der ambivalenten Rede des Protagonisten war, so sicher muss eine Enttäuschung dieser hoffnungsvollen Aussichten folgen. Der Chor bietet weiterhin mit seinen schnell wechselnden, aber dennoch in‐ tensiven Emotionen eine Folie, auf der sich der standhafte Charakter des Aias abzeichnet. Der Protagonist hat spätestens seit seinem auf den Kommos mit dem Chor folgenden Monolog (v. 430 – 480) seinen Entschluss gefasst und tritt als bereits zum Selbstmord Entschlossener ab diesem Punkt mit einer Selbstbeherr‐

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Vgl. B URTON (1980) S. 30: „Sophocles employs songs of this type in most of his extant plays. They express joy, or confidence in a happy issue, just before the revelation of a terrible truth and are thus a powerful instrument of dramatic irony“. Als weitere Bei‐ spiele seien genannt: drittes Stasimon des Oidipus Tyrannos, astrophisches Lied im ersten Epeisodion der Trachinierinnen sowie, mit einigen Einschränkungen, das fünfte Stasimon der Antigone. Auch die zweite Gegenstrophe des Stasimons im Philoktet mit ihren bewussten Irritationsmomenten hat dramaturgisch eine zumindest vergleichbare Wirkung. Eine formal ganz ähnliche Komposition greifen wir in der Antigone: Dort nimmt das vierte Standlied zunächst als Fortsetzung der Abschiedsszenerie der Protagonistin deren bevorstehenden Tod vorweg, wohingegen das nach der folgenden Unterredung mit Teiresias angeschlossene fünfte Stasimon als Invokationshymnos des Dionysos einen Ausbruch von Zuversicht und Hoffnung darstellt. Das Eintreffen der Todesnach‐ richten im direkten Anschluss an das Lied weist es im Rückblick als positive Folie aus, die das Hereinbrechen der katastrophalen Wendung besonders grell ausleuchtet.

2. Aias

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schung und Suggestionskraft auf, die es ihm ermöglichen, seine Angehörigen zu beruhigen, ja sogar in Jubel ausbrechen zu lassen.253 Hinterszenisch ereignet sich während des Stasimons mit konkretem Bezug auf Aias nichts Bedeutendes; einzig die vom Boten im kommenden Auftritt re‐ ferierte Begegnung zwischen Kalchas und Teukros scheint während des Stand‐ liedes ihren Abschluss gefunden zu haben. Die Fortsetzung der Haupthandlung, d. h. der Tod des Aias, wird erst durch einen erneuten Auftritt des Helden ge‐ schehen. Mit Blick auf die dramaturgische Komposition der Tragödie ist dies nur folgerichtig: Die polare Ausrichtung auf den Protagonisten, der als Zent‐ ralpunkt des Geschehens den Fortschritt der Handlung maßgeblich bestimmt, lässt keine Konstruktion zu, in der, wie zum Beispiel in der Antigone, die we‐ sentliche und handlungsauslösende Tat hinter der Bühne geschieht. Drittes Epeisodion und Abtritt des Chors (v. 719 – 814)

Mit dem Auftritt eines Boten beginnt mit Vers 719 das dritte Epeisodion. Auch wenn in ihm keine Chorpartie folgt, bedarf die Passage doch einer kurzen Be‐ handlung, da sie mit dem Abtritt des Chors das formal herausragendste Element der vorliegenden Tragödie beinhaltet. Rekapitulieren wir rasch die Handlungs‐ entwicklung bis zum Ende der Szene in Vers 814. Der aufgetretene Bote meldet nicht, wie Zuhörer und Leser vielleicht hätten erwarten können, den Tod des Aias, sondern zunächst die Ankunft des Teukros im griechischen Lager sowie dessen missgünstige Aufnahme. Schließlich verlangt der Bote, Aias selbst zu sprechen. Dialogpartner ist der Chorführer, der die Abwesenheit seines Herrn mit dessen Absicht erklärt, neue Pläne (νέας βουλάς) mit neuen Verhaltens‐ weisen (νέοισιν … τρόποις) zu verbinden.254 Der Bote reagiert zunächst äußerst emotional (ἰοὺ ἰού v. 737) und entfaltet darauf den eigentlichen Kern seiner Nachricht: Der Seher Kalchas habe Teukros in einer intimen Zusammenkunft über den Grund und die Dauer der Raserei des Aias informiert: Nur noch heute halte ihn der Zorn der Athene, die Aias im Vorfeld mehrmals stolz und eigen‐ sinnig geschmäht hatte, indem er im Vertrauen auf seine eigene Stärke ihre göttliche Hilfe ablehnte. Als Vorsichtsmaßnahme solle man, so der Auftrag des Sehers, Aias den ganzen Tag über bewachen, ihn unter Aufwendung jedweder Fertigkeit in seiner Hütte einschließen (παντοίᾳ τέχνῃ εἶρξαι v. 752 f.) und aus Sorge um sein Leben nicht zulassen, dass er seine Hütte verlässt. Solange er diesen Tag allerdings überlebe, könne man mit Gottes Hilfe noch rettend auf ihn 253 254

Vgl. dazu die S. 209 in Anm. 236 zitierte „unheimliche Ruhe“. Der vorliegende Doppelvers 735 f. ist erneut ein Musterbeispiel ambivalenter und tra‐ gisch-ironischer Sprache; auf die begriffliche Spiegelung aus Vers 123 macht K AMER‐ BEEK (1953) S. 155 aufmerksam.

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einwirken (v. 778 ff.). Der Chor erkennt die Brisanz der Lage und ruft Tekmessa herbei, die in Grundzügen informiert wird (v. 741 ff.). Auch sie realisiert den Ernst der Lage, erkennt, dass sie der Suggestionskraft und der eigenen Hoffnung erlegen war (v. 807), und gibt dem Chor und anderen Statisten (Dienern, Kriegs‐ knechten u. Ä.) den Auftrag, nach Teukros zu schicken sowie Aias zu suchen. Die Schiffsmannschaft willigt ein, teilt sich in zwei Gruppen und verlässt mit‐ samt Tekmessa, dem Boten und den anderen Komparsen die Szene. Bühne und Orchestra sind daraufhin leer; der Schauplatz der Tragödie wechselt vom Platz vor dem Zelt des Aias zu einem einsamen Ort außerhalb des Lagers.255 Wie bereits angesprochen, stellt dieser Abtritt des Chors sowie der sich an‐ schließende Szenenwechsel eine Besonderheit innerhalb der uns überlieferten griechischen Tragödien dar.256 Es finden sich in diesem Rahmen nur drei Paral‐ lelstellen: Aischylos Eumeniden v. 231, Euripides Alkestis v. 747 sowie Helena v. 385.257 Die erstgenannte Stelle kommt dabei der vorliegenden Konstruktion am nächsten, da auch dort mit dem Abgang des Chors ein Szenenwechsel verbunden ist. Inwieweit Sophokles an unserer Stelle auf mögliche Vorbilder in der dra‐ maturgischen Gestaltung zurückgreift, können wir hier nicht entscheiden; es ist für unsere Darstellung zudem nicht wesentlich. Versuchen wir stattdessen, den mit dem Szenenwechsel verbundenen Abtritt des Chors in seiner speziellen Funktion im Rahmen der vorliegenden Tragödie zu beleuchten. Dass dieser dra‐ maturgische Kunstgriff – zumindest im Rahmen unseres Bildes der attischen Tragödie des fünften Jahrhunderts – einen Bruch mit der Konvention darstellt,

255

256 257

Die bühnenpraktische Realisation dieses Szenenwechsels steht in dieser Arbeit nicht im Vordergrund des Interesses. Wie genau man sich den Wechsel der Szene vorzustellen hat, kann nicht ganz geklärt werden, da bereits die Frage nach dem „Bühnenbild“ im Theater des fünften Jahrhunderts nicht eindeutig beantwortet werden kann. Vgl. dazu P ICKARD -C AMBRIDGE (1946). The Theatre of Dionysus in Athens, Oxford, S. 49. Einen gewissen Überblick verschafft R OSENBLOOM (2014) S. 1260; vgl. zudem Z IMMERMANN (2011) S. 507. K AMERBEEK (1953) S. 168 und S TANFORD (1963) S. 165 f. sind sich indes einig, dass der Wechsel der Szene ohne größeren Aufwand fertiggestellt werden konnte (Ent‐ fernen bzw. Austauschen gemalter Blenden, womöglich Hereintragen von Büschen oder dergleichen in die Orchestra). Dagegen favorisiert L ATACZ (2003) S. 198 f. im An‐ schluss an R EINHARDT (31960) S. 37 den Einsatz des Ekkyklemas, auf dem die Selbst‐ mordszene geradezu in die Orchestra „hineingeschoben“ werde. Vgl. zum Folgenden K AMERBEEK (1953) S. 167 f., S TANFORD (1963) S. 165 f. sowie A R‐ NOTT (1962). Greek Scenic Conventions in the fifth century b.C., Oxford, S. 131 ff. S OMMERSTEIN (1989). Aeschylus Eumenides, Cambridge, S. 122 nennt in seinem Kom‐ mentar zu den Eumeniden des Aischylos noch den mutmaßlich euripideischen Rhesos als Parallelstelle (v. 564 – 675). Ob dabei beim Szenenwechsel innerhalb der Eumeniden das Ekkyklema zum Einsatz kam oder die Requisiten ausgetauscht wurden, lässt er offen (S. 123).

2. Aias

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bleibt davon freilich unbenommen. Die Szenerie wird so bereits aus formalen Gründen einen besonderen Effekt auf das Publikum entfaltet haben. Betrachten wir die vorausgegangene Szene unter dramaturgischen Gesichts‐ punkten: Mit dem Bericht des Boten wird die Figur des Teukros, den Aias in Vers 688 erwähnt hatte, endgültig eingeführt. Dabei ist Teukros zunächst zwar nur indirekt, aber dennoch als handlungsauslösendes Moment gegenwärtig. Er hat schließlich, alarmiert durch Kalchasʼ Informationen, den Boten zum vermeint‐ lichen Aufenthaltsort des Aias geschickt und damit mittelbar den Abtritt von Tekmessa und Chor eingeleitet. Die Botenrede erfüllt darüber hinaus eine besonders zentrale dramaturgische Funktion: Mit der Wiedergabe von Kalchasʼ Ansprache an Teukros ist zunächst eine hinterszenische Handlungsebene eröffnet. Während sich bis zu diesem Punkt das Geschehen im Wesentlichen im für die Zuschauer sichtbaren Bereich abgespielt hat, rückt hier nun mit der Gestalt des Teukros eine weitere Dimen‐ sion in den Horizont; die Handlung gewinnt so durch die Erweiterung des Per‐ sonenspektrums an Tiefe. Des Weiteren referiert der Bote mit Kalchasʼ Worten eine bedeutende Episode der Vergangenheit des Haupthelden: Mit der Thema‐ tisierung von Aiasʼ problematischem Verhältnis zu Athene sowie seinem über‐ steigerten Selbstbewusstsein ist sowohl ein indirekter Beitrag zur Charakteri‐ sierung des Helden geleistet, als auch ein entscheidendes Moment der Vorgeschichte der Handlung angedeutet. Geschickt verbindet die Botenrede so zwei dramaturgische Funktionen: Zum einen ermöglicht sie einen Blick in die dem Bühnengeschehen vorausgegangene Vergangenheit und komplettiert die Charakterzeichnung des Haupthelden, zum anderen liefert sie den notwendigen dramatischen Impuls, der aus dem für die Zuschauer nicht sichtbaren Bereich seine Wirkung auf die eigentliche Bühnenhandlung entfaltet. Die vom Boten wiedergegebenen Aspekte der Ansprache des Kalchas – v. a. die Problematisierung der Rolle des Aias in seinem Verhältnis zu Athene, sowie die Ankunft des Teukros und das Insistieren auf zügiges Einschreiten (‚Gefahr im Verzug‘) – hätte dabei Material für eine umfassende chorische Reflexion ge‐ liefert. Gerade der letztgenannte dramatische Impuls allerdings erweist sich als so virulent, dass dem Chor keine reflektierende Partie zukommt. Eingebunden in Tekmessas Plan zur Rettung ihres Mannes übernimmt er stattdessen eine aktive Rolle im dramatischen Geschehen und liefert mit seinem Auszug eine besonders eindrückliche Visualisierung der durch die Botenrede evozierten Spannung. Das im Botenbericht angeklungene und für die Charakterisierung des Haupthelden zentrale Motiv von Aiasʼ Hybris entbehrt so einer ausgrei‐ fenden Behandlung, auf die zu Gunsten einer ungeahnten Dynamisierung des Geschehens verzichtet wird.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

Das zweite Stasimon hat die Spannung für Leser und Zuschauer der Tragödie erhöht: Es war vorauszusehen, dass nach dem jubelnden Ausbruch des Chors etwas geschehen musste, das die Choreuten wieder ins unmittelbare Geschehen zurückruft und die Handlung dem Tod des Aias zuführt. Die Botenszene erfüllt den dramatischen Fortgang nun mit ungeahnter Dynamik: Statt die Handlung ohne Einfluss bisher nicht präsenter Personen ablaufen zu lassen, erweitert So‐ phokles an dieser Stelle das Personenspektrum und öffnet so das Geschehen sowohl personell wie hinsichtlich des Handlungsraums. Chor und Tekmessa sehen sich nun mit den Realitäten konfrontiert und sind zum ersten Mal inner‐ halb der Tragödie zum selbständigen Handeln gezwungen. Den sinnfälligen Ausdruck dieser – wenn auch im Ergebnis fruchtlosen – Dynamik bildet der Abgang des Chors. Er korrespondiert dabei mit dem vor knapp einhundert Versen verklungenen Jubelgesang: Herrschte bis zu diesem Punkt des Dramas schon ein hohes Maß an drastischer Emotionalität, so übertrifft der Effekt des Abgangs des Chors sowie der im Anschluss für eine gewisse Zeit leeren Bühne (und des Auftritts des einsamen Protagonisten) die bisher erreichte Wirkung noch einmal. Der Abgang sämtlicher Personen in betriebsamer und sorgenvoller Eile wird so zu einem spannungsgeladenen Vorspiel, das die Selbstmordszene endgültig vorbereitet. Nachdem der Kommos zwischen Aias, Tekmessa und dem Chor motivisch den Tod des Haupthelden ins Zentrum gerückt hatte, war es das dramaturgische Ziel des Dichters, den Selbstmord effektvoll vorzubereiten und zu inszenieren: Im Abtritt aller bisher am Drama beteiligten Personen hat diese Bewegung ihre Klimax erfahren. Indem sich die Mitglieder der Schiffsmannschaft aktiv am Rettungsversuch beteiligen und auf die Suche nach ihrem Herrn gehen, ist die Stellung des Chors mitten im Geschehen augenfällig inszeniert. Bereits zu Beginn der Parodos kreisten die Gedanken des Chors primär um ihren Herrn und entfernten sich kaum je von der momentanen Lage. Tun sie es doch, wie in der Erinnerung an die Heimat zu Beginn des ersten Stasimons, dann nur, um eine Folie für die aktuelle Situation zu entwerfen. Ähnlich auch hier: Der Chor wird als dramati‐ sche Person ganz in die Handlung mit einbezogen, er agiert nicht außerhalb der Bühne als ein fremdes, reflektierendes Element, sondern versucht nach Mög‐ lichkeiten, aktiv ins Geschehen einzugreifen. Dabei ist er in seinem Handeln ganz auf den Haupthelden bezogen: In der Notsituation begreifen es die Schiffs‐ leute als ihre Aufgabe, Schaden von ihrem Herrn abzuwenden und ihn Tek‐ messas Auftrag gemäß zu suchen. Die Abtrittsworte der Schiffsleute verbali‐ sieren ihren Entschluss, nun aktiv ins Geschehen einzugreifen, besonders plastisch (v. 813 f.): Sie seien zu gehen bereit (ἑτοῖμος) und würden nicht allein durch ihre Rede (λόγῳ) ihre Entschlossenheit demonstrieren; vielmehr würden

2. Aias

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nun Schnelligkeit „der Handlung und der Füße“ (ἔργου καὶ ποδῶν) zugleich den gleichfalls Abtretenden folgen. Zusammengefasst soll Folgendes festgehalten werden. Sophokles strafft in der vorliegenden Szene das dramatische Tempo: Er gestaltet zum einen die Boten‐ rede als dramaturgisch polyvalenten Drehpunkt innerhalb der Handlung, die das Personenspektrum erweitert, das Geschehen um eine hinterszenische Di‐ mension ergänzt, bedeutende Momente der Vorgeschichte referiert, die Cha‐ rakterzeichnung des Haupthelden vervollständigt und zugleich den wesentli‐ chen dramaturgischen Impuls darstellt, der die Handlung nach der spannungsvollen Pause, die das zweite Stasimon füllte, wieder anstößt. Zum anderen setzt er mit dem Abgang des Chors das drastischste ihm zur Verfügung stehende Mittel ein, um einerseits die explosive Dynamik innerhalb des Ge‐ schehens zu visualisieren, andererseits die Fokussierung auf den Protagonisten und seine Sonderstellung besonders zu unterstreichen.258 Es ist, wie angedeutet wurde, von Seiten des Dichters nicht dramaturgisches Unwissen, missglücktes oder künstlich überspanntes, um mit B URTON zu spre‐ chen, „artifizielles“ Handwerk,259 hier durch den Abtritt des Chors und den Sze‐ nenwechsel mit einer Konvention zu brechen und das Drama so (zumindest auf den ersten Blick) in zwei Teile auseinanderfallen zu lassen. Vielmehr greifen wir gerade in dieser überraschenden Konstruktion die bewusste Absicht des Dich‐ ters, die Anordnung der einzelnen Formteile ganz der effektvollen Ausgestal‐ tung zentraler Aussageabsichten unterzuordnen, anstatt im Sinne einer wohl abgewogenen Komposition einzelne Passagen in einer harmonischen Gesamt‐ konstruktion aufgehen zu lassen.260 Eine kurze Bemerkung zur möglichen Erwartungshaltung des Publikums. Der Tod des Protagonisten durch Selbstmord war für die antiken Zuschauer mit hoher Wahrscheinlichkeit eine bekannte Tatsache. Dass sich auch die vorlie‐ 258 259

260

Vgl. B URTON (1980) S. 31: „This emptying of the orchestra and change of scene, unique in extant Sophocles, is a bold theatrical stroke, which effectively concentrates attention on the hero’s isolation“. Dazu B URTON (1980) a. a. O. ganz zu Recht: „It [der Auszug des Chors und der Effekt der leeren Orchestra] is in no way contrived or artificial but arises naturally from the re‐ quirements of the plot and from the way in which the dramatist has prepared for it in the last dozen lines of the scene“. Im Besonderen Antigone und Oidipus Tyrannos zeigen einen „regelmäßigeren“ Aufbau hinsichtlich der Fügung ihrer Formteile. Es nimmt daher nicht wunder, wenn gerade diese beiden Tragödien als geradezu mustergültige Kompositionen Maßstabscharakter erlangt haben. Vgl. T APLIN (1977). The stagecraft of Aeschylus: the dramatic use of exits and entrances in Greek tragedy, Oxford, S. 55 in seiner Einschätzung: „S[ophocles] Ant[igone] is almost perfectly regular“.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

gende Tragödie des Sophokles damit beschäftigen würde – im Unterschied etwa zu der des Aischylos, der einen anderen Zeitabschnitt der Episode auf die Bühne brachte261 – , war den Rezipienten spätestens nach der ausgreifenden Todesmo‐ tivik des großen Kommos sowie der Trugrede des Aias, im besten Fall schon nach dem Prolog klar. Die entscheidende Besonderheit des sophokleischen Dramas jedoch, den Selbstmord des Helden auf offener Bühne darzustellen, kann erst jetzt, kurz vor der entscheidenden Szene selbst, richtig erahnt werden. Dabei ist der Abtritt des Chors und aller Komparsen ein dramaturgisch so starkes Mittel, dem einzig der Auftritt des Protagonisten folgen kann, um die erzeugte Spannung aufzulösen. Anders gesagt: Das mit dem Abtritt des Chors entstan‐ dene personelle Vakuum wird in der Folge durch den Auftritt des Protagonisten gefüllt, mit dessen Tat die eigentliche Bühnenhandlung erneut voranschreitet.

261

Siehe S. 169, Anm. 167.

2. Aias

223

(Monolog des Aias,) Epiparodos und Kommos Chor-Tekmessa (v. 815 – 960)

Der in Vers 815 wieder aufgetretene Aias hält seinen emotionalen Todesmo‐ nolog,262 bevor er sich nach Vers 866 in sein Schwert stürzt.263 Es ist hier nicht der Ort, die Partie im Einzelnen nachzuvollziehen. Betrachten wir diesen sechzig Verse umfassenden Monolog vielmehr in Beziehung zu seinen dramaturgischen Implikationen: Von besonderer Bedeutung sind dabei die teils wörtlichen Wie‐ deraufnahmen bereits etablierter Motive und Themen, durch die die vorliegende Selbstmordszene zum Kulminationspunkt der gesamten Tragödie wird. Exemp‐ larisch sollen einige dieser Spiegelungen nachvollzogen werden.264 Die offensichtlichste und geradezu paradigmatische Wiederaufnahme ist freilich die Konkretisierung der teils latenten, teils forcierten Todesmotivik, die im Besonderen der Kommos nach dem Wiederauftritt des Protagonisten sowie das erste Standlied entfaltet hatten: Mit der detaillierten Vorbereitung der Selbsttötung (im Besonderen der Aufstellung des Schwerts sowie dem damit 262 263

264

Eine überblickende Interpretation der Szene bietet Z EPPEZAUER (2011). Bühnenmord und Botenbericht: Zur Darstellung des Schrecklichen in der griechischen Tragödie, Berlin, S. 207 – 213. Auch hier interessieren die bühnenpraktischen Gegebenheiten im Rahmen der vorlie‐ genden Untersuchung kaum. Wie der für das Publikum visuell erfahrbare Selbstmord realisiert wurde, ist zudem nicht mit Bestimmtheit zu sagen (vgl. R OSENBLOOM (2014) S. 1260). Da sowohl der Schauspieler des Aias als Verkörperung des Teukros im Fol‐ genden noch benötigt wird, als auch die von Tekmessa in Vers 915 mit einem Tuch verdeckte Leiche des Haupthelden einen Fixpunkt der weiteren Bühnenhandlung bildet, ist der Einsatz einer Puppe am wahrscheinlichsten, durch die der Körper des Schauspielers „ersetzt“ wird. Der eigentliche Akt des Selbstmords, d. h. der Sturz ins Schwert, mag dabei zumindest zum Teil durch Büsche oder ähnliche Kulissen verdeckt worden sein. Vgl. dazu K AMERBEEK (1953) S. 167 ff., der zum einen auf die angesprochene Funktion der Kulissen eingeht („Although the suicide is somewhat screened by the bushes […]“), andererseits die Existenz besonderer „Theaterschwerter“ erwähnt, die die gefahrlose Darstellung einer Gewalttat ermöglichten, deren Einsatz zur Zeit des So‐ phokles allerdings nicht belegt werden kann; ferner S TANFORD (1963) S. 173 f., der zwei Möglichkeiten angibt, wie die Ersetzung des „Leichnams“ durch eine Puppe abgelaufen sein könnte. Eine ausführliche Diskussion der bühnenpraktischen Probleme sowie ver‐ schiedener Lösungsansätze bietet zudem G ARVIE (1998) S. 203 f., der den Einsatz des Ekkyklemas in dieser Szene mit einiger Bestimmtheit ausschließt. Für Z EPPEZAUER (2011) findet der Selbstmord „zwar nicht für alle sichtbar auf der Bühne statt, rückt aber so nahe wie möglich an eine szenische Inszenierung heran“ (S. 212); sie hält es für wahrscheinlich, „dass Aias sich hinter einem Requisit, beispielsweise einem Busch nah bei der Tür zum Bühnenhaus in das dort aufgestellte Schwert stürzt“. Nichtsdestowe‐ niger erkennt sie auch im „rein verbal Inszenierte[n] […] eine größtmögliche emotio‐ nale Wirkung“ (S. 231). Zur Diskussion vgl. zudem W EBSTER (1956). Greek Theatre Pro‐ duction, London, S. 17 f. Die besondere Relation zwischen der „Täuschungsrede“ und dem Todesmonolog ent‐ faltet T APLIN (1978). S. 127 – 131 im Rahmen des Konzepts „mirror scenes“.

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verbundenen Räsonieren des Haupthelden v. 815 – 822), der Nennung bzw. An‐ rufung verschiedener Gottheiten, die einen Bezug zur Unterwelt aufweisen (chthonischer Hermes v. 832, Erinyen v. 837 sowie v. 843), der durch Gemination verstärkten Apostrophierung des Todes selbst (v. 854) und der besonders düs‐ teren Ankündigung, alles Weitere den Toten im Hades zu erzählen (v. 865), ist nicht nur der eigentliche Akt des Selbstmords vorbereitet, sondern die Todes‐ motivik konzentriert und im Handeln des Protagonisten geradezu gebündelt. Das bereits im ersten Stasimon ausgeführte Motiv der Fremde, des unwirtli‐ chen Zustands vor Troia im Kontrast zur vertrauten und ersehnten salamini‐ schen Heimat bildet zudem einen Grundtenor der Ausführungen (v. 819, 846, kulminierend schließlich in den Anrufungen der heimatlichen sowie der tro‐ ischen Gefilde 859 ff., die wiederum die entsprechende Passage des Kommos (v. 412 ff.) spiegeln). Die Projektion der klagenden Mutter des Aias aus dem ersten Stasimon wird hier aus dem Mund des Helden selbst gesprochen zu einer Ge‐ wissheit; besonders eindrücklich sind dabei die parallelen Konstruktionen ὅταν κλύῃ φάτιν v. 850 gegenüber ὅταν ἀκούσῃ v. 625 f. sowie die Spiegelung des ἥσει, das die Äußerung der Klagelaute bezeichnet, aus Vers 630 in Vers 851.265 Ein letztes Mal beschäftigt den Protagonisten zudem die Feindschaft zu den Atriden: Er wendet dieses seit dem Beginn des Dramas präsente und in der Par‐ odos illustrierte Motiv zum Fluch, indem er den Erinyen die Verfolgung der griechischen Anführer, ja des ganzen Heeres anheimstellt (v. 839 ff.). Die Anru‐ fung des Tageslichts, das Aias nun zum letzten Mal sehe (v. 856 ff.), kombiniert darüber hinaus mehrere motivische Linien: Zum einen ist die Apostrophierung der Dunkelheit aus dem dritten Strophenpaar des Kommos (v. 393 ff.) geradezu ins Gegenteil verkehrt; zum anderen setzt die Äußerung des Protagonisten der hoffnungsvollen Aussicht der Choreuten auf das Erscheinen des hellen Tages‐ lichts aus Vers 708 ff. eine düstere Realität entgegen. Solchermaßen pervertiert und kontrastiert gewinnt die standardisierte Ansprache des Lichts durch Tod‐ geweihte266 an dramaturgischer Brisanz. Dass der Monolog dabei nicht nur bereits bekannte Motive aufnimmt und verarbeitet, dramaturgisch also zurückblickt, soll nicht verschwiegen werden: In den Versen 826 – 830 beschäftigt Aias ganz konkret die Sorge um seine Be‐ stattung. Teukros solle sicherstellen, dass sein (Aiasʼ) Leichnam nicht als Beute für Hunde und Vögel diene, sobald er einem der „Feinde“ zugefallen sei (v. 826 ff.). Im Angesicht der bevorstehenden Selbsttötung füllt sich damit die Sorge um das Eintreffen des Teukros, wie sie Aias zuvor bereits an den Tag gelegt

265 266

Vgl. die Ausführungen zu Vers 629 / 630 S. 204, Anm. 228. Vgl. Antigone v. 808, 879; Oidipus auf Kolonos 1549 f.

2. Aias

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hatte, mit einer konkreten Beauftragung. Zugleich ist damit ein Ausblick in den zweiten Teil der Tragödie gegeben, der die Auseinandersetzungen hinsichtlich der Bestattung des Helden in Szene setzen wird. Insofern wird man zusammen‐ fassend T APLIN zustimmen, der die Partie treffend charakterisiert: „Ajaxʼs speech is both a prologue to the second part of the play and the conclusion of the first.“267 Nicht nur die bereits an einigen Stellen präsente und hier schließlich konkreti‐ sierte Todesthematik sowie die effektvolle Klimax der Szenen bis hin zum Ab‐ gang des Chors unterstreichen also die Bedeutung des Auftritts und Monologs; gerade die Zusammenführung einer Vielzahl motivischer Stränge aus den Chor‐ liedern und anderen Partien bildet die thematische Engführung und Dramati‐ sierung der bis zu diesem Zeitpunkt allenfalls im Rahmen reflektierender Partien behandelter Themen. Die Motive werden dabei teils gespiegelt, teils erweitert bzw. intensiviert, teils pervertiert, in jedem Fall aber dramatisiert, d. h. unmit‐ telbar mit dem bevorstehenden Tun des Protagonisten verknüpft. Motivisch bündelt Sophokles das Vorangegangene im vorliegenden Monolog. Die in den Chorliedern vorgebrachten Reaktionen, Reflexionen oder Vorah‐ nungen werden hier aus der Perspektive des Haupthelden gesprochen zu dra‐ matischer Realität bzw. emotionaler Gewissheit des Sprechenden. Aias, der Motor des Geschehens, erweist sich so auch hier in der Kulminationsszene der Tragödie als im Vollsinn Handelnder. Ihm obliegt es, die bisher in reflektie‐ renden Partien verarbeitete Motivik in Aktion umzusetzen und damit neue Fakten zu schaffen, mit denen sich die anderen Akteure im Folgenden konfron‐ tiert sehen werden. Wir erkennen so deutlich, dass die Komposition und An‐ ordnung der Chorlieder im ersten Teil der Tragödie, d. h. bis zum Selbstmord des Protagonisten, dramaturgisch und motivisch auf den vorliegenden Monolog zulaufen und als dramatisches Gestaltungsmittel die Aussage- und Wirkabsicht des Dichters auf die Bühne bringen. K AMERBEEKs Einschätzung des Selbstmord‐ motivs innerhalb der vorliegenden Tragödie ist dabei besonders bemerkenswert: „It may be observed that the suicide is the central motif of this drama, different from the suicide of Haemon or Deianeira.“268 Der Kontrast ist deutlich: In der Antigone (Selbstmord von Haimon und Eurydike), den Trachinierinnen (Selbst‐ mord Deianeiras) und dem Oidipus Tyrannos (Selbstmord der Iokaste) fungieren Selbsttötungen als Reaktion von (Neben-)Personen entweder auf Taten der Haupthelden oder das Bewusstwerden der katastrophalen Wende und gehen

267 268

T APLIN (1977) S. 384 f. K AMERBEEK (1953) S. 168.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

demgemäß als dramatisch untergeordnetes Geschehen hinterszenisch von‐ statten. Nachdem sich der Chor bei seinem Abgang in zwei Hälften geteilt hat, treten auch nun die Choreuten mit Vers 866 von beiden Seiten wieder in die Orchestra und singen dabei ein zweites Auftrittslied, die Epiparodos.269 Dramaturgisch wiederholt sich eine ähnliche Situation wie zu Beginn des Dramas: Erneut hat der Zuschauer gegenüber dem Chor einen entscheidenden Informationsvor‐ sprung. Als Zeuge der äußerst intimen Szene, die dem Wiederauftritt des Chors vorangeht, hat er einen direkten Einblick in die Gegebenheiten erlangt, die der Chor erst aufdecken muss. Wieder steht dabei die Figur des Protagonisten im Mittelpunkt: Diente schon der Prolog dazu, den Zuschauern den Haupthelden in einer Ausnahmesituation vor Augen zu führen, so greifen wir an der vorlie‐ genden Stelle eine ganz parallele Konstruktion. Auch im Anschluss an die Selbstmordszene wird das Publikum daraufhin Zeuge der Konfrontation der Schiffsmannschaft mit den veränderten Gegebenheiten. Schließlich ist eine wei‐ tere Parallele zur Komposition von Prolog und Parodos augenscheinlich: Statt den Chor direkt die Leiche des Aias finden zu lassen und damit die Handlung sofort weiterzuführen, erfolgt die Aufdeckung des Geschehenen beginnend ab Vers 891 erst durch Tekmessa. Hatte ihr Auftritt in Vers 201 mit der durch sie erfolgten Unterrichtung des Chors eine erste Dynamisierung des Bühnenge‐ schehens zur Folge, so ist ihr Kommen auch an unserer Stelle der wesentliche Handlungsimpuls. Bis zu diesem Punkt, d. h. von Vers 866 bis 890, hält der Dichter den Handlungsablauf an und verzögert so den dramatischen Progress durch die Einschaltung der kurzen Epiparodos. Wie zu Beginn des ersten Epeis‐ odions wird sich daraufhin nach dem Auftritt Tekmessas eine epirrhematische Partie, ein weiterer Kommos, anschließen; der Klageruf des Teukros in Vers 974 unterbricht daraufhin die Gesprächssituation. Zunächst zum formalen Aufbau der Passage: Auf die Wechselpartie der beiden Halbchöre in den Versen 866 – 878 folgt ein metrisches System, das sich über die Verse 879 – 914 erstreckt und nach der Einschaltung von zehn iambi‐ schen Versen Tekmessas (915 – 924) in den Versen 925 – 960 wiederholt wird. Einer größtenteils in dochmischen Versen komponierten Strophe des Chors (v. 879 – 890 bzw. 925 – 936) folgt dabei jeweils ein durch Klageinterjektionen ge‐ gliedertes, teils durch raschen Sprecherwechsel geprägtes Zwiegespräch zwi‐ schen Chor und Tekmessa (v. 891 – 914 bzw. 937 – 960), in dessen Mitte und an dessen Ende dem Chor eine etwas ausgreifende Periode zukommt. Zwölf iam‐ 269

Zum Begriff „Epiparodos“ (sowie einer vergleichenden Analyse auf Basis der Interpre‐ tation der aischyleischen Eumeniden) vgl. T APLIN (1977) S. 375 ff.

2. Aias

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bische Verse Tekmessas (v. 961 – 973) schließen daraufhin die umfangreiche Partie. Die Wiederauftrittsszene des Chors sowie die direkt angeschlossene Auffindung des Leichnams ist so als eine metrisch und formal abwechslungs‐ reiche Partie von einiger Ausdehnung gestaltet, die der besonderen dramatur‐ gischen Situation sowie der aufgeworfenen Brisanz Rechnung trägt. Ein detaillierter Nachvollzug von Inhalt und Gedankenführung ist hier aller‐ dings entbehrlich, da die Partie im Wesentlichen die Suche nach und das Auf‐ finden des Leichnams, die Einsicht in die Täuschung hinsichtlich der wirklichen Absichten des Helden sowie die aus seinem Tod erwachsenden Schwierigkeiten behandelt und dabei zu einem großen Teil als Verbalisierung der eigentlichen Bühnenaktion dient. Im folgenden raschen Überblick sollen vor allem die sprachliche Gestaltung sowie die Spiegelungen und Anklänge aus anderen Par‐ tien der Tragödie benannt werden. Den von beiden Seiten in die Orchestra einziehenden Chor beschäftigt zu‐ nächst die erfolglose Suche nach Aias; der Dichter spielt in der sprachlich ef‐ fektvollen Gestaltung des Eingangs der Parodos mit dem Vorwissen der Zu‐ schauer und Leser, wenn er den ersten Halbchor singen lässt (v. 866 ff.): πόνος πόνῳ πόνον φέρει. πᾷ πᾷ πᾷ γὰρ οὐκ ἔβαν ἐγώ; Leid bringt [sc. neues] Leid dem Leide. Wohin, wohin, wohin ging ich denn nicht [und fand ihn trotzdem nicht]?

In emotionaler Aufgewühltheit betritt der Chor den Ort des Geschehens. Die effektvolle Alliteration der p-Laute (π / φ) der ersten Verse270 zieht sich mit dem Schlagwort πόνος durch den Wechselgesang der beiden Halbchöre (v. 874, 876). Die Wiederholung des Fragepronomens (v. 867) und der Interjektion (v. 870) verstärken den Eindruck situativen, d. h. ganz der dramatischen Situation und den aus ihr entstehenden Emotionen verhafteten Sprechens. Die Teilung des Chors gibt dem Dichter zudem die Möglichkeit, durch erregte Zwischenfragen (v. 873, 875) seitens der jeweils anderen Choreuten der Gespanntheit der Schiffs‐ leute sowie der virulenten Dramatik der Szene Ausdruck zu verleihen. Der Wechsel von Rede und Gegenrede innerhalb des Chors selbst dramatisiert dabei die Passage in bisher unbekanntem Ausmaß. Anders gesagt: Der Wiederauftritt des Chors ist eine genuin dramatische, d. h. Handlung darstellende, dialogische

270

Zur rekonstruierten Aussprache des φ in der Zeit des Sophokles vgl. A LLEN (1988). Vox Graeca: A guide to the pronunciation of classical Greek, Cambridge, S. 16 ff.

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Szene. Innerhalb ihres Austauschs versichern sich die beiden Halbchöre, sowohl die westliche als auch die östliche Seite des Lagers bei den Schiffen erfolglos abgesucht zu haben. In Vers 879 vereinen sich die beiden Halbchöre wieder. Wenngleich der Ab‐ schnitt (v. 879 – 890) metrisch schon als erste Strophe zum folgenden Kommos gehört, so reflektiert er dennoch abschließend die ergebnislose Suche nach Aias. Der Chor richtet dabei zunächst die Frage nach dem Verbleib seines Herrn an drei Gruppen (v. 879 – 884): die Fischer, die auch in den Morgenstunden ihrer Arbeit nachgehen, die Nymphen des mysischen Olymps,271 eines Berges in der entfernten Umgegend Troias,272 sowie die Flüsse, die sich in den Bosporos er‐ gießen.273 Das dreimalige Interrogativum τίς (v. 879 sowie 881) ist dabei sinn‐ fälliger sprachlicher Ausdruck der virulenten Ungewissheit der Schiffsleute. Schändlich sei es, so der Chor im Folgenden, dass er sich nicht in glückbrin‐ gendem Lauf (οὐρίῳ δρόμῳ) nähere, sondern nicht sehe, wo sich Aias, der „schwache Mann“,274 aufhalte. Es ist deutlich, wie Sophokles hier die unterschiedlichen Kenntnisstände von Chor und Publikum in besonders expliziter Weise aufeinanderprallen lässt: Er nutzt die Informationshoheit des Zuschauers auf der Folie des suchenden Chors, um im Sinne der tragischen Ironie die Erwartung der bevorstehenden Konfron‐ tation zu steigern. Die Epiparodos an sich, d. h. die rein chorische Partie (v. 866 – 890) dient dabei ganz und gar der Ausgestaltung des Wiederauftritts des Chors und der Inszenierung seiner angstvollen Ungewissheit. Erst der Auftritt der Tekmessa setzt der Stimmung der Epiparodos ein Ende: Wie am Beginn der Tragödie ist es auch hier ein Amoibaion, in dem die Hinzu‐ getretene den Choreuten die Sachlage aufdeckt und deren suchender Unge‐ wissheit die reale Gegebenheit entgegensetzt. Die oben bereits formal analysierte Partie weist eine differenzierte Binnen‐ struktur auf, die die einzelnen Abschnitte in sich noch einmal gliedert: Schnelle, emotionale Sprecherwechsel in den dialogischen Partien der Strophe stehen ausführlicheren Betrachtungen der beiden Beteiligten gegenüber; diese Ausge‐ wogenheit rahmender Reflexion und pathetischer, emotionaler Klage bildet die innere, formale Spannung des Kommos.

271 272 273 274

So auch K AMERBEEK (1953) S. 179 und S TANFORD (1963) S. 176. Vgl. S TANFORD (1963) a. a. O.: „[…] distantly visible to the east of the Troad“. Der Text des angeschlossenen Konditionalsatzes (εἰ v. 885) wirft in textkritischer Hin‐ sicht manche Probleme auf; auf eine detaillierte Darstellung der Sachlage soll hier ver‐ zichtet werden. Vgl. S TANFORD (1963) ad locum. Auf die Problematik des Adjektivs ἀμενηνόν geht K AMERBEEK (1953) S. 181 ein; S TAN‐ FORD (1963) S. 177 erwägt mit einiger Vorsicht eine andere Ableitung.

2. Aias

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Wir müssen nicht ausführlich auf den Inhalt des Klagegesangs eingehen, ein kurzer Überblick soll auch hier genügen: Tekmessa hat bei ihrem Auftritt die Leiche des Aias entdeckt und offenbart nun dem Chor, dass dieser tot am Boden liege (v. 898), von eigener Hand gerichtet (v. 906). Auf beide Informationen ant‐ wortet der Chor mit einem Klageausbruch: Er verzweifelt zunächst an seiner eigenen Rückkehr in die Heimat (v. 900 ff.) und macht sich darauf Vorwürfe, unachtsam, unwissend und ohne rechte Sorge gewesen zu sein (v. 908). Den Beginn der Epiparodos durch die effektgeladene Wiederholung des πᾷ wieder aufgreifend fragt er diesmal nach der Leiche des Aias.275 Von besonderem Inte‐ resse sind dabei die zu Aiasʼ und des Chors eigener Charakterisierung verwen‐ deten Adjektive: Das betont auf sich selbst (ἐγὼ δʼ) bezogene und durch πάντα κωφός durch ein visuell-ästhetisches Moment gesteigerte πάντʼ ἄιδρις (v. 911)276 kontrastiert die Selbsteinschätzung des Chors im Angesicht der Katastrophe mit der eben noch erbetenen Einsicht von Seiten vermeintlich kundiger Dritter. In den Aias zukommenden Bezeichnungen spiegeln sich im Besonderen Momente anderer Partien: So nimmt ἄφαρκτος φίλων (v. 910) die Apostrophierung des Chors durch Aias als φίλοι (v. 349, 406; ähnlich ἑταῖροι v. 687) wieder auf und konterkariert das durch den Haupthelden sowie durch Tekmessa (vgl. v. 328 ff.) verschiedentlich evozierte Freundschaftsverhältnis. Die dem Eigennamen des Haupthelden direkt beigestellten Adjektive δυστράπελος und δυσώνυμος (v. 914) bilden zudem einen durch die Doppelung verstärkten Anklang an Vers 609, in dem die Anwesenheit des als δυσθεράπευτος bezeichneten Aias als der Gipfel der durch die Choreuten zu ertragenden Mühen genannt wurde. Tekmessa bedeckt daraufhin den Leichnam mit einem Tuch und wehrt den Chor ab, der einen Blick auf Aias werfen möchte. Dennoch beschreibt sie den grausigen Anblick des Toten, verleiht ihrer Hoffnung auf die baldige Ankunft des Teukros Ausdruck und spricht ihren toten Gemahl direkt an: Mittlerweile habe er es verdient, sogar von seinen Feinden beklagt zu werden (v. 923 f.). In der folgenden Gegenstrophe nimmt der Chor Tekmessas Impuls auf und wendet sich direkt an seinen toten Herrn: Er, Aias, habe schon seit geraumer Zeit beabsichtigt, das „üble Schicksal der unendlichen Leiden“ (κακὰν μοῖραν ἀπειρεσίων πόνων v. 926 f.) zu vollenden.277 Solchermaßen Hasserfülltes habe er

275 276 277

Dieser Rückbezug ist ein gewichtiger Grund, in Vers 867 f. nicht mit Lachmann παπαῖ παπαῖ πᾶ zu lesen, sondern sich an den überlieferten Text zu halten. Es ist das drängende „Wohin?“ der auftretenden Schiffsleute, das an unserer Stelle noch nachklingt. Das in einigen MSS überlieferte ἴδρις in Vers 885 ist im Anschluss an J EBB (1896), K AMERBEEK (1953), S TANFORD (1963) aus metrischen Gründen auch von L LOYD -J ONES / W ILSON (1990) gestrichen worden. Die mehrdeutige Formulierung wird diskutiert bei K AMERBEEK (1953) S. 186 f.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

bei Nacht und bei Tag gegen die Atriden ausgestoßen; ursächlich dafür sei die Zeit gewesen, als der Streit um die Waffen des Achill entschieden wurde. Mit στερεόφρων (v. 926) und ὠμόφρων (v. 930) sind auch in dieser Wortmel‐ dung des Chors zwei besonders gewichtige Adjektive gebraucht, die den Cha‐ rakter des Haupthelden auszuleuchten suchen. In besonderer Weise ist mit ὠμόφρων das in der Strophe von Aias ausgesagte ὠμόθυμον (v. 885) sowie Tek‐ messas Einschätzung ihres Mannes als ὠμοκρατής (v. 205) wieder aufge‐ nommen. In der sich anschließenden Wechselrede (v. 937 – 960) verbalisiert zunächst Tekmessa ihre Sorge um die Zukunft und bekundet ihre Gewissheit, dass die Einwirkung Athenes zu Gunsten des Odysseus einen wesentlichen Beitrag zur gegenwärtigen Situation geleistet habe (v. 950 sowie 952 f.). Der Chor stimmt Tekmessa weitestgehend zu und imaginiert in den Versen 955 ff. die seines Erachtens wahrscheinliche Reaktion des Odysseus: Dieser werde sich in Spott (ἐφυβρίζει) und mitsamt den Atriden in Lachen über das vorliegende Leid er‐ gehen. Die Tekmessa im Anschluss zukommenden iambischen Verse (961 – 974) ge‐ hören formal noch zur kommatischen Partie, ihr genauer inhaltlicher Nach‐ vollzug ist aber hier entbehrlich. Festzuhalten bleibt, dass Tekmessa erneut den großen Verlust betont, den Aiasʼ Tod für sie bedeute, die Bedeutung des göttli‐ chen Einflusses unterstreicht und hinsichtlich einer möglichen Verhöhnung des Toten durch Odysseus oder die Atriden ihr eigenes Leid herausstellt. Folgendes soll festgehalten werden. Der Kommos entspinnt sich aus einer dem Beginn des ersten Epeisodions ähnlichen dramaturgischen Situation: Tekmessas Auftreten setzt der Ungewissheit der Schiffsmannschaft die Kenntnis der wahren Umstände entgegen. Der Wechselgesang nimmt dabei thematisch auf den ersten Kommos Bezug: Wie schon zu Beginn des Stücks stellen die Feind‐ schaft zu den Atriden, die ungewissen Zukunftsaussichten der Angehörigen des Aias sowie die schiere Ohnmacht gegenüber der Tatkraft und Entschlossenheit des Helden Hauptmotive des Austauschs dar. War dabei die Lage, in der sich Tekmessa und der Chor als Aiasʼ Vertraute zu Beginn des ersten Epeisodions befanden, bereits kritisch, so hat sich die Problematik durch den Tod des Helden potenziert. Gerade auf der Folie des in der Parodos verbalisierten Schutz- und Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Aias und den Schiffsleuten (v. 158 ff.) er‐ hält die düstere Zukunftsaussicht, wie sie Tekmessa entwirft (vgl. v. 944), be‐ sondere Brisanz. Der Chor fungiert hierbei als Resonanzboden der Emotionalität Tekmessas und flicht mit den Bemerkungen zu den Atriden (v. 946 ff.) eine bei‐ ßende Note in die Reflexion ein, die die unversöhnliche Haltung gegenüber den Heerführern unterstreicht. Dass darüber hinaus sowohl Tekmessa als auch dem

2. Aias

231

Chor gerade Odysseus als konkretes Feindbild vorschwebt, stellt eine weitere Parallele zum ersten Kommos dar. Hatte die dortige Charakterzeichnung des Odysseus sein Verhalten in der Prologszene konterkariert, so dient die hier er‐ neut vorliegende negative Zeichnung des Odysseus als Folie für sein Verhalten, wie es das Ende der Tragödie inszenieren wird: Keineswegs wird er sich nach seinem Auftritt in Vers 1316 in Spott über Aias ergehen; vielmehr wird erst das Einschreiten des an unserer Stelle erneut als besonders feindselig geschilderten Helden die entscheidende Wende im Streit um die Bestattung des Aias bringen und so das durch den Chor gezeichnete Charakterbild erneut revidieren. Als mittlerweile dritter Klagegesang innerhalb der Tragödie präsentiert sich die vorliegende Partie so als ein erneutes Moment pathetischer Gefühlsbekun‐ dungen. In seinen reflektierenden Teilen lässt sie die bisherige Entwicklung der Handlung aus der nun gewonnenen Perspektive noch einmal präsent werden und bekundet den Erkenntnisgewinn des Chors angesichts der zuvor falsch eingeschätzten Lage. Das beinhaltet freilich auch die Einsicht, durch Aiasʼ Vor‐ gehen im Vorfeld der Selbsttötung getäuscht worden zu sein (vgl. v. 911 ff. sowie 925 ff.). Rückblickend entlarvt so der Chor selbst seinen Jubelausbruch im zweiten Stasimon als fehlgeleitet; dass dabei allerdings augenscheinliche Paral‐ lelen zwischen den beiden Partien fehlen, keine motivischen oder begrifflichen Anklänge zu finden sind, erklärt sich aus der Situativität und Dramatisierung der kommatischen Partie. Anders gesagt: Die Schiffsleute sind in solchem Maß in das momentane Geschehen eingebunden, dass eine explizite Reflexion über den eigenen Irrtum nur in Ansätzen erfolgt. War also der Todesmonolog des Haupthelden eine bedeutende Gelenkstelle der gesamten Tragödie, die unter Wiederaufnahme und Verarbeitung promi‐ nenter Motive den ersten Teil des Dramas mit dem zweiten verknüpfte, so greifen wir hier den forcierten Wiederbeginn der Handlung, die mit dem Tod des Protagonisten zu einem vorläufigen Ende gekommen war. Der Wiederauf‐ tritt des Chors und das Dazustoßen Tekmessas sind dabei als genuin dramatische Ereignisse inszeniert, die die Bühnenaktion selbst mit einem Höchstmaß an Emotionalität, dialogischer Vehemenz und visueller Drastik aufladen. Dennoch sind es auch hier nicht Tekmessa und der Chor, sondern ein Eingriff von außen, der die Handlung erneut in Gang bringt: der Auftritt des Teukros. Auch darin gleichen sich der Kommos am Beginn des ersten Epeisodions und die vorlie‐ gende Partie: Nach der Information durch Tekmessa stieß erst der Auftritt des Haupthelden die Handlung wieder an. Richten wir unser Augenmerk kurz auf die Figur des Teukros und seine Ein‐ führung in die dramatische Handlung, da wir an diesem Detail die Fügung der beiden Teile des Dramas besonders gut greifen können. Teukros dient als ver‐

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bindendes Element zwischen den beiden Teilen des Dramas: Er übernimmt nach seinem Auftritt die wesentliche Handlungsführung, indem er die Vorberei‐ tungen zur Beerdigung seines Halbbruders einleitet und sich mit Menelaos und Agamemnon zwei Rededuelle über die anstehende Bestattung liefert. Er betritt dabei die Bühne nicht unangekündigt: Ähnlich wie nach dem Kommos und der Sprechpartie zwischen Tekmessa und dem Chor (v. 333) ist es auch hier (v. 974) zunächst ein hinterszenischer Klageruf, der den Auftritt vorbereitet. Der Chor heißt Tekmessa daraufhin schweigen und identifiziert die gehörte Stimme als die des Teukros, der darauf sofort die Bühne betritt. Auch im ersten Teil des Dramas war die Ankunft des Teukros (v. a. von Aias) mit besonderer Intensität erwartet bzw. herbeigesehnt worden. So galt schon die erste Äußerung des Protagonisten nach den Klagerufen vor seinem eigent‐ lichen Wiederauftritt im ersten Epeisodion dem Halbbruder (Τεῦκρον καλῶ. ποῦ Τεῦκρος; v. 342). Dreimal kam Aias im Folgenden noch explizit auf seinen Halbbruder zu sprechen: Er versprach seinen Angehörigen in Vers 562, er werde ihnen Teukros als Schutz zurücklassen, bat in Vers 688, Teukros, wenn er komme, daran zu erinnern, sich um ihn selbst zu kümmern sowie seine Ange‐ hörigen wohlwollend zu behandeln, und erbat kurz vor seinem Tod von Zeus, ein Bote möge die Todesnachricht zu Teukros bringen, damit dieser ihn begrabe (v. 826 f.). Teukros spielte für Aias, wie wir sehen, bei der Vorbereitung seines Selbstmordes eine entscheidende Rolle und war ein zentraler Bezugspunkt seiner Überlegungen. Die Frage nach Teukros und die damit verbundene Er‐ wartung seiner Ankunft zog sich indes geradezu leitmotivisch durch den ersten Teil des Dramas und wurde von Tekmessa an zwei prominenten Stellen wörtlich wiederholt: So fragte sie, nachdem der Bote sie über die für Aias drohende Ge‐ fahr informiert hatte, ebenso nach Teukros (v. 797) wie im Kommos im An‐ schluss an den Tod ihres Mannes (v. 921). Fassen wir zusammen: Die Figur des Teukros war in den Aussagen von Aias und Tekmessa vom Wiederauftritt des Protagonisten an präsent. Durch die Wünsche und Aufträge seines Halbbruders wird Teukros zum Nachlassver‐ walter des Aias, er übernimmt bis zu einem gewissen Grad dessen Stelle278 und hält, wie noch zu zeigen sein wird, in besonderem Maße die dramatischen Fäden des zweiten Teils zusammen. Die Erwartung seiner Ankunft stellte ein Leitmotiv

278

Dass der Protagonist dabei sowohl die Rolle des Aias als auch nach der Selbstmordszene die des Teukros zu spielen hat, ist eine sinnfällige Koinzidenz von Handlungsfügung und theatertechnischen Realien. Ganz gleich verhält es sich in den Trachinierinnen: Dort spielt der Protagonist zunächst die Rolle der Deianeira und übernimmt nach deren Ab‐ tritt den Part des Herakles.

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des ersten Teils der Tragödie dar, deren Erfüllung die Überleitung zum zweiten Teil bildet. Drittes Stasimon (v. 1185 – 1222)

Mit dem dritten Standlied greifen wir die letzte umfangreichere lyrische Partie des Chores innerhalb der Tragödie. Machen wir uns die dramatische Situation zu Beginn des Liedes klar, indem wir die Handlung nach dem Auftritt des Teukros bis zu diesem Punkt wiedergeben. Die Reaktion des Teukros auf den Tod seines Halbbruders ist von Trauer und Klage geprägt: Nach einer kurzen Information durch den Chor (v. 979 – 985) be‐ auftragt er zunächst Tekmessa, ihren Sohn zu holen, um sicherzustellen, dass er nicht von „einem der Böswilligen“ (τις δυσμενῶν v. 986 f.) geraubt würde. Tek‐ messa verlässt daraufhin die Bühne; sie wird erst in Vers 1168 mit dem Knaben zurückkehren. Nach einer ermunternden Zwischenbemerkung des Chors (v. 990 f.) beklagt Teukros in einem ausgreifenden Monolog (v. 992 – 1039) die Schwere des Schicksals, seine eigene schwierige Situation und die Verbindung des gegenwärtigen Leids mit der Vorgeschichte. Von besonderem Interesse hin‐ sichtlich der Motivik ist dabei eine Passage aus der Mitte des Monologs: Nachdem es Teukros ermöglicht wurde, einen Blick auf seinen toten Halbbruder zu werfen (v. 1003 ff.), stellt er sich vor, wie der gemeinsame Vater bei seiner Rückkehr auf die Nachricht von Aiasʼ Tod reagieren werde: Er, Telamon, werde ihm, Teukros, den Vorwurf machen, den Bruder aus Feigheit im Stich gelassen zu haben (v. 1014), womöglich sogar mit List gehandelt zu haben, um nun Herr‐ schaft und Einfluss des Verstorbenen an sich zu nehmen (v. 1015 f.). Mit diesen Ausführungen sowie der Charakterisierung des Vaters ist die Gestalt Telamons zum dritten Mal nach dem ersten Stasimon (v. 641 ff.) sowie Aiasʼ Todesmonolog (v. 848) Bezugspunkt der Reflexion. Im Vordergrund steht hier allerdings nicht die imaginierte Trauer über den Tod des Aias, sondern das ohnehin angespannte Verhältnis zwischen Teukros und seinem Vater, das durch die neuesten Ereig‐ nisse eine weitere Verschlechterung erfahren dürfte. Der vom Chor in Vers 1040 angekündigte Auftritt des Menelaos unterbricht daraufhin Teukrosʼ Reflexion über das Verhältnis von Hektor und Aias (v. 1028 – 1039) und leitet das folgende Streitgespräch zwischen dem Heerführer und Teukros ein. Auf ein kurzes Wechselgespräch (v. 1047 – 1051) folgen Monologe der beiden Konkurrenten (v. 1052 – 1090 sowie 1093 – 1116), ein stichomythischer Teil (v. 1120 – 1141) und noch einmal abschließende monologische Partien (v. 1142 – 1149 und 1150 – 1158) sowie die in je einem Verspaar vorgebrachte Ab‐ trittsbekundung des Menelaos und deren Kommentierung durch Teukros (v. 1159 f. und 1161 f.). Inhaltlich stehen sich die beiden Personen unversöhnlich

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I. Chöre wehrfähiger Männer

gegenüber: Teukros tritt für die rasche Bestattung seines Halbbruders ein, die Menelaos mit Betonung auf der Gefahr, die vom rasenden Aias für die anderen Griechen ausging, verbietet. Der Streit endet nach dem Austausch einiger Ar‐ gumente, denen persönliche Angriffe und Spitzen nicht fehlen (vgl. v. 1137, 1157 ff.), ergebnislos mit dem wütenden Abgang des Menelaos und der unge‐ brochenen Entschlossenheit des Teukros. Während der Auseinandersetzung hatte sich der Chor zurückgehalten und nur durch moderierende Einwürfe in Form des standardisierten Doppelverses nach der Rhesis eines Akteurs beide Seiten zur Mäßigung aufgerufen (v. 1091 ff., 1118 f.). Ihr Hauptanliegen haben die Choreuten dabei schon nach dem Monolog des Teukros, also direkt vor dem Auftritt des Menelaos, vorgebracht. Sie wiederholen es auch nach dem Abgang des Heerführers in den Versen 1163 – 1167: Teukros solle sich so schnell wie möglich (ταχύνας σπεῦσον v. 1164 f.) um eine geeignete Grabstätte für Aias kümmern und die Beerdigung vollziehen. Dabei sind sich die Choreuten sicher, dass bezüglich dieser Angelegenheit eine überaus konfliktreiche Auseinander‐ setzung (μεγάλης ἔριδός τις ἀγών v. 1163) noch bevorstehe. Im Anschluss daran betritt Tekmessa mit dem Sohn des Aias die Bühne. Teukros begrüßt die Angehörigen seines Halbbruders (v. 1168 – 1170) und in‐ szeniert eine vorweggenommene Grabspende, indem er je eine Haarlocke von Tekmessa, Eurysakes und sich selbst abtrennt und sie dem Jungen in die Hand gibt (v. 1174). Dieser solle, während Teukros selbst sich nach einem geeigneten Grab umsehe, beim Leichnam seines Vaters stehen bleiben und so als Schutz‐ flehender (ἱκέτης v. 1172, sowie ἱκτήριον θησαυρόν v. 1175 von den Haarlocken gesagt) garantieren, dass keiner den toten Aias fortschaffen oder die Bestattung in anderer Weise behindern könne. Etwaige Übertreter dieser solchermaßen kultisch geschützten Totenruhe belegt er zudem mit einem Fluch (v. 1175 ff.).279 Mit der Aufforderung an die Schiffsmannschaft, nicht als Weiber statt als Männer daneben zu stehen, sondern auch gegen Widerstand Dritter aktiv mit‐ zuhelfen (ἀρήγετʼ v. 1183), bis er sich um ein Grab gekümmert habe, verlässt Teukros die Bühne. Unter unseren Gesichtspunkten ist besonders die formale Gestaltung dieser letzten Partie des Epeisodions, genauer: die Abgrenzung der vom Monolog des Teukros geprägten Szene von der vorangegangenen Konfliktszene von Inte‐ resse. Kamen dem Chor in der ersten, umfangreichen, vom Rededuell der beiden 279

Die Szene ist religions- und kulturwissenschaftlich von einiger Bedeutung: Inszeniert wird die an die Hikesie angelegte kultische Handlung des Totenopfers. Vgl. dazu J OHNSTON (2002). „Totenkult [IV] Griechenland.“ in: DNP Band 12 / 1, Sp. 710 – 711. F LETCHER (2014). „Burial.“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy I, hrsg. v. R OISMAN (2014), Malden (MA), S. 190 – 192.

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Akteure Teukros und Menelaos geprägten Szene im Wesentlichen die charak‐ teristischen Doppelverse zu, so komponiert der Dichter in deren Anschluss ein kurzes anapästisches System (v. 1163 – 1167). Damit ist einerseits das Ende der Menelaos-Szene formal besonders deutlich markiert,280 andererseits die Konti‐ nuität des Epeisodions gewahrt. Statt es nach der ersten Konfliktszene zu be‐ enden, Teukros abtreten und ein Stasimon folgen zu lassen, ereignet sich mit dem Wiederauftritt Tekmessas und ihres Kindes sowie Teukrosʼ Ansprache an sie und den Knaben ein völliger Stimmungswandel. Standen sich mit Teukros und Menelaos eben noch der Sachverwalter des Haupthelden sowie dessen Ant‐ agonist in lebhaftem Austausch gegenüber, so inszeniert die angeschlossene kurze Szene einen besonders intimen Moment der Familienzusammenführung, die zudem ganz entschieden die Führungsrolle des Teukros hervorhebt. Dass sowohl Frau als auch Kind des Toten im Folgenden bei der Leiche verbleiben und so während der nach dem dritten Stasimon folgenden Exodos neben dem Streitgespräch zwischen Teukros und Agamemnon einen zweiten Fokus auf der Bühne darstellen, erhöht freilich die emotionale Spannung der folgenden Kon‐ frontation. Anders gesagt: Wird sich auch die Auseinandersetzung mit Aga‐ memnon im Folgenden zunächst auf die Rolle und den sozialen Stand des Teukros konzentrieren (vgl. im Besonderen Agamemnons Monolog v. 1226 – 1263, der sich nur am Rand mit der Bestattungsproblematik auseinander‐ setzt), so bleibt die Frage nach der Behandlung, die dem Leichnam des Haupt‐ helden zukommen soll, visuell präsent. Die anapästischen Verse des Chors tragen zwar inhaltlich nichts Wesentliches zur Situation bei, sind allerdings, wie gezeigt wurde, ein wesentliches Moment zur Strukturierung und Phasierung des Epeisodions. Mit äußerster dramaturgi‐ scher Ökonomie erreicht Sophokles hier die Abteilung einer gänzlich anders gearteten Szene, deren Emotionalität und Innerlichkeit einen besonderen Kon‐ 280

Ob man dabei K AMERBEEK (1953) S. 224 folgt, der in dieser Form des Szenenschlusses ein archaisches Moment des Stücks („an archaic trait of the Ajax“) erkennt, soll dahin‐ gestellt bleiben. Die von K AMERBEEK angeführte Parallelstelle in der Antigone (v. 929 – 943) weist dabei zunächst rein formale Verschiedenheiten auf: So folgt erstens dort auf die anapästische Partie direkt das Stasimon des Chors (so auch K AMERBEEK (1953)), zweitens kommen nicht nur dem Chor anapästische Verse zu: Zunächst wechseln sich Chor und Kreon zweimal mit je einem Doppelvers ab, bevor Antigone sieben anapäs‐ tische Verse zukommen, die zugleich ihre letzten Worte auf der Bühne darstellen. Der anapästischen Passage geht darüber hinaus kein Abtritt eines Akteurs voraus, vielmehr folgt ihr der endgültige Abgang der Protagonistin im Anschluss an Vers 943. Die Ein‐ schaltung der anapästischen Verse dient so nicht der Abtrennung einer Szene von einer anderen im selben Epeisodion, sondern vielmehr als besonders wirkungsvolles Cre‐ scendo der vorangegangenen Auseinandersetzung zwischen Kreon und Antigone sowie der herausgehobenen Markierung ihres Abtritts.

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trast sowohl zum vorausgegangenen offenen Konflikt als auch dem folgenden darstellen. Hinsichtlich der dramaturgischen Ausgangssituation des folgenden Stasimons soll Folgendes festgehalten werden. Die Auseinandersetzung zwischen Teukros und Menelaos hat neue Dynamik in die Handlung gebracht: Das Motiv der feindseligen Atriden, wie es der Chor und Aias selbst im ersten Teil der Tragödie entfaltet hatten, findet hier seine dramatische Umsetzung. Menelaos bestätigt dabei die besonders vom Chor geäußerten Vorurteile gegenüber den Atriden; das so verschiedentlich thematisierte Feindbild wird damit personell greifbar. Mit der Frage nach der Bestattung des Aias widmet sich die Tragödie in ihrem zweiten Teil einer konfliktorientierten Thematik, wobei die Person des Aias und seine Taten auch nach dem Tod noch im Zentrum der Auseinandersetzung stehen. Mit Teukros auf der einen und den Atriden auf der anderen Seite sind die Positionen des Streits offenkundig und stehen sich nach diesem Auftritt un‐ versöhnt gegenüber. Erst das vermittelnde Einschreiten des Odysseus wird nach einer weiteren Streitszene mit Agamemnon die Lösung des Konflikts herbei‐ führen. Durch den von Teukrosʼ Ansprache an Tekmessa und den Knaben geprägten familiären Szenenschluss endet das Epeisodion zwar nicht mit dem konfliktrei‐ chen Aufeinanderprallen der beiden Antipoden, sondern setzt der verbalen Dra‐ matik des Redeagons eine eher ruhige Szene entgegen. Die der gesamten Situ‐ ation innewohnende Spannung mitsamt der ihr eigenen Feindseligkeit und potentiellen Gefahr ist dabei aber keineswegs gelöst, sondern geradezu subli‐ miert und in der bis auf Teukrosʼ Anweisungen stummen Hikesie wie in einem Standbild eingefroren. Den Chor, der nach dem Abtritt des Teukros in Vers 1185 das dritte Standlied beginnt, scheint weder der vorangegangene Konflikt zwischen Teukros und Menelaos noch die Hikesieszene zu beschäftigen; Thema des Stasimons ist die Härte des Krieges, der verlorene Schutz durch Aias und die Sehnsucht der sa‐ laminischen Seeleute nach ihrer attischen Heimat. Eine doppelte Frage (τίς bezogen auf νέατος, möglicherweise zu ergänzen ἔσται;281 sowie ἐς πότε bezogen auf λήξει) leitet das Stasimon ein: Wann werde die Zahl der „umherirrenden Jahre“ (πολυπλάγκτων ἐτέων ἀριθμός) erfüllt sein, die die Schiffsleute mit Mühen und Leiden vor Troia verbringen müssen? Die angeschlossene Partizipialkonstruktion bestimmt die solchermaßen umrissene

281

So K AMERBEEK (1953) S. 227.

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Zeit genauer: Sie füge den Choreuten (ἐμοί v. 1187) hier vor Troia282 immerzu das „Unheil speerschleudernder Mühen“ (δορυσσοήτων μόχθων ἄταν) zu und sei – so die an das Ende der Strophe gestellte Apposition – eine unselige Schande der Griechen (δύστανον ὄνειδος Ἑλλάνων v. 1191). Die mit drastischen Worten das Ungemach des Krieges malende Frage zieht sich so durch die gesamte Strophe und weitet an ihrem Ende den Blick über die enge Sphäre der Angehörigen des Aias hinaus. Die Choreuten verstehen dabei ihre Sorge und Not als geradezu exemplarisch für den Zustand des gesamten griechischen Heeres. In diesem allgemeinen Zusammenhang fährt der Chor fort, wenn er in der ersten Gegenstrophe den „Lehrer“ des Kriegs verflucht, indem er einen uner‐ füllbaren Wunsch formuliert (ὄφελε v. 1192): Wäre doch derjenige, der den Griechen den gemeinsamen Krieg (κοινὸν Ἄρη) zeigte, d. h. lehrte, besser im weiten Aither (αἰθέρα μέγαν v. 1192 f.) oder im Hades versunken (δῦναι)! Nach dem besonders emotionalen Ausruf ὦ πόνοι πρόγονοι πόνων (v. 1197)283 erfolgt die Begründung der Verfluchung: Jener Kriegslehrer nämlich habe Menschen zu Grunde gerichtet. Der ausgedehnten Frage der Strophe antwortet hier also ein ähnlich ausgreifender irrealer Wunschsatz, der erneut das gesamtgriechi‐ sche Schicksal in den Blick nimmt, bevor mit dem Schlussvers der Gegenstrophe eine ganz allgemeine Schilderung des verderblichen Wirkens des troianischen Krieges gegeben wird. K AMERBEEKs Bemerkung, der Chor ergehe sich hier in der Verfluchung des πρῶτος εὑρετής,284 also des allgemein ersten Lehrers der jeweils in Rede stehenden verdammungswürdigen Kulturerscheinung, läuft dabei Ge‐ fahr, die Aussagen des Chors in höherem Maß zu verallgemeinern, als es der Wortlaut nahelegt: Im Fokus der Schiffsleute steht – ganz aus ihrer eigenen Situation gesprochen – dezidiert der Mann, der die Griechen den „gemeinsamen Krieg“, d. h. den Kampf vor und um Troia lehrte, nicht etwa der erste Erfinder

282 283 284

Die textkritischen Probleme des Verses 1190 interessieren unter unseren Gesichts‐ punkten nicht. Vgl. K AMERBEEK (1953) S. 227 f. sowie S TANFORD (1963) S. 206 ad locum. Die Alliteration des p in Vers 1198 ist dabei freilich eine Reminiszenz an den Beginn der Epiparodos (v. 866). K AMERBEEK (1953) S. 228.

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des Kriegs an sich.285 Der Chor bleibt so an unserer Stelle in einem relativ engen thematischen Bereich, wenn er auch den Blick kurzzeitig von seiner ganz ei‐ genen, persönlichen Situation auf das Schicksal des ganzen griechischen Heeres und die nicht weiter genannten Opfer des troianischen Kriegs lenkt. Eine wirk‐ lich generelle, abstrakte Deutung des Phänomens „Krieg“ ist allerdings hier nicht zu finden. Die von Sophokles gewählte Form der Verfluchung des für den Krieg der Griechen Verantwortlichen trägt unter Berücksichtigung der oben erwähnten Einschränkungen einzig gewisse Züge einer Verdammung des πρῶτος εὑρετής und spielt so ganz bewusst mit dem Verhältnis von Allgemein‐ gültigkeit und konkreter Anlassbezogenheit. Das erste Strophenpaar hat so den thematischen Rahmen des gesamten Sta‐ simons im Wesentlichen abgesteckt: Ausgehend von der konkreten Situation der Choreuten, die sich ein Ende der Kriegsmühen vor Troia wünschen, weitet sich der Blick zu einer etwas allgemeineren Perspektive, die dennoch den Rahmen der Situation, d. h. konkret die spezifische Kriegssituation der Griechen, nicht aus dem Blick verliert. Mit dem (troianischen) Krieg ist dabei das Grund‐ übel thematisiert, aus dem sich weitere Übel entwickelt haben (vgl. v. 1197). Die Folgen des Krieges beschreibt die zweite Strophe personalisiert als direktes Eingreifen des Kriegslehrers der Griechen in das Leben des Einzelnen. Mit ἐκεῖνος (v. 1199) ist damit die Bezeichnung κεῖνος aus dem vorhergehenden Vers wieder aufgenommen, was die beiden Strophenpaare besonders eng mitei‐ nander verknüpft. Die Perspektive hat sich allerdings wieder verengt: Als Be‐ troffener der mit dem Krieg einhergehenden Entbehrungen erscheint hier er‐ neut der Chor (ἐμοί v. 1201). Jener Kriegslehrer gewähre es ihnen weder, an Kränzen (στεφάνων v. 1199), d. h. dem symposialen Kopfschmuck, noch an der Freude gefüllter Becher (βαθεῖαν κυλίκων τέρψιν) teilzunehmen, ebenso wenig den angenehmen Klang von Flöten (γλυκὺν αὐλῶν ὄτοβον) zu hören oder nächtliche Freude (ἐννυχίαν τέρψιν) zu genießen. Diese Bemerkung wird mit Vers 1205 f. konkretisiert: Auch vom Liebesgenuss (wiederholtes ἐρώτων) habe

285

Ich folge dabei J EBB (1896) S. 179 zu v. 1196: „‘public’ warfare, in which all the Greeks make common cause (as against the Trojans)“ und kann mich der bei K AMERBEEK (1953) S. 229 vorgetragenen Ablehnung dieser Erläuterung zu Gunsten einer allgemeineren (und sprachlich unbefriedigenderen) Lösung nicht anschließen. Der dabei von K AMER‐ BEEK zitierte locus classicus Tibull 1, 10 ist dahingegen in der Tat die Verfluchung des πρῶτος εὑρετής, was der lateinische Wortlaut besonders deutlich macht: […] horrendos primus qui protulit enses (v. 1); insofern ist der Vergleich der beiden Stellen nur bedingt aussagekräftig. Dass der bei K AMERBEEK (1953) a. a. O. zitierte Scholiast in seiner Er‐ klärung dezidiert von ὁ πρῶτος εἰσενεγκών spricht, tut der hier vorgelegten Interpre‐ tation des Sophoklestextes keinen Abbruch.

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der Kriegslehrer die Schiffsleute zurückgehalten. Die einzelnen aufgezählten Entbehrungen entwerfen so das Panorama symposialer Festfreude, das in der offenen Thematisierung der Erotik seinen Abschluss findet.286 Statt diesen angenehmen Zeitvertreib genießen zu können, liege er, so die durch δʼ (v. 1206) angeschlossene Antithese, vernachlässigt (ἀμέριμνος) im of‐ fenen Felde und habe vom Tau (und anderem Niederschlag) feuchte Haare. Der Kontrast zur Schilderung der symposialen Gebräuche ist in diesem Detail be‐ sonders deutlich: Während beim Gastmahl den Haaren mit dem (hier nicht er‐ wähnten) Salben / Einölen sowie dem Bekränzen (v. 1199) ein besonders festli‐ cher Schmuck zukommt, sind sie in der konkreten Situation der Choreuten schutzlos der Witterung ausgeliefert. In Analogie zur ersten Strophe287 be‐ schließt auch hier eine Satzapposition die Periode: Dies alles seien für den Chor „Erinnerungen an das unheilvolle Troia“ (λυγρᾶς μνήματα Τροίας v. 1209 f.),288 sie führen dem Chor also deutlich vor Augen, dass er sich in der unwirtlichen Belagerungssituation befindet, und rufen ihn so geradezu aus der Imagination der symposialen Phantasie wieder in die dramatische Realität. Mit der kontrastiven Schilderung der Realität vor Troia hat die erste Strophe hier ihre Konkretisierung erfahren. Dabei steht allerdings nicht das eigentliche Kriegsgeschäft im Vordergrund, sondern damit einhergehende Begleiterschei‐ nungen, die zu Verzicht und dem Verlust an Lebensqualität führen. Die Unbill des Krieges ist so e negativo besonders eindrucksvoll geschildert. Auf Aias und die nach seinem Tod veränderte Lage kommt der Chor mit der zweiten Gegenstrophe zu sprechen, die zunächst ganz von der Gegenüberstel‐ lung zweier Zeitebenen geprägt ist: Früher (πρίν v. 1211) sei dem Chor der kampfeslustige Aias allezeit eine „Schutzwehr gegen nächtliches Entsetzen und Geschosse“ gewesen (νυχίου δείματος ἦν μοι προβολὰ καὶ βελέων v. 1211 f.). Nun allerdings (νῦν δʼ v. 1214) sei Aias einem „verhassten Daimon“ geweiht. Damit scheint für den Chor der letzte Rückhalt genommen; die Enttäuschung der Choreuten entlädt sich in einer emotionalen Frage, die durch die Wieder‐ holung des τίς (v. 1215) den Beginn des Stasimons wieder aufruft und geradezu überbietet: Welche Freude (τέρψις) werde für den Chor (μοι) noch übrigbleiben (v. 1215 f.)? Mit dem in der Mitte der Strophe gesetzten Begriff τέρψις ist dabei

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287 288

Dass den Ausführungen des Chors dabei ein anachronistisches Moment innewohnt und zum sozialen Status der Schiffsleute in besonderem Kontrast steht, zeigt zu Recht K A‐ MERBEEK (1953) S. 229 f. mit Rückgriff auf die Scholien. Vgl. zudem S TANFORD (1963) S. 207 f. So auch K AMERBEEK (1953) S. 231 und S TANFORD (1963) S. 209. Ich folge der allgemein anerkannten Konjektur von Brunck und lese λυγρᾶς statt λυγράς, was auf κόμας zu beziehen wäre.

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das Leitmotiv des Strophenpaares erneut aufgerufen (vgl. v. 1201 sowie 1204), was dem zweiten Strophenpaar eine besondere formal-begriffliche Geschlos‐ senheit verleiht.289 Syntaktisch ohne Verbindung schließt sich ein durch den kupitiven Optativ γενοίμαν (v. 1217) eingeleiteter Wunsch an: Die Schiffsleute sehnen sich danach, am Vorgebirge des Kap Sunion zu sein, um von dort das „heilige Athen“ (ἱερὰς Ἀθάνας v. 1221 f.) begrüßen zu können. Mit dieser Imagination, die den Ziel‐ punkt der Fluchtphantasie an das Ende der Periode stellt, schließt das Chorlied. Teukros, mit dem Ende des Liedes wieder aufgetreten, gibt in den folgenden drei iambischen Versen 1223 ff. die Auftrittsankündigung für Agamemnon,290 dessen Unheil verkündenden Gesichtsausdruck er bereits bemerkt habe. In Vers 1226 beginnt der Heerführer daraufhin seinen Monolog, der den zweiten Rede‐ agon der Tragödie einleitet. Führen wir uns rasch noch einmal die Gedankenbewegung des Stasimons vor Augen: Ausgehend von der Frage nach dem Ende des für die Choreuten schwer erträglichen Aufenthalts vor Troia nahm der Chor im Besonderen in der ersten Gegenstrophe eine allgemeinere Perspektive ein, wohingegen er mit dem zweiten Strophenpaar wieder die eigene Person in den Vordergrund stellte. Seinen konkreten Anknüpfungspunkt an die Handlungsentwicklung der Tra‐ gödie birgt das Stasimon schließlich in der zweiten Gegenstrophe, in der mit νῦν δʼ (v. 1214) die mit dem Tod des Haupthelden eingetretene Situation verba‐ lisiert wird. Dass der Chor dabei angesichts der mittlerweile bereits fortge‐ schrittenen Handlung, d. h. des eskalierten Konflikts zwischen Teukros und Menelaos hinter dem erreichten Handlungsstand zurückbleibt, ist ein beson‐ deres Moment des Stasimons, das im Folgenden noch zu bewerten sein wird. Mit dem abschließenden Wunsch der Choreuten, angesichts der virulenten Problematik den Ort des Geschehens zu verlassen und in ihre Heimat zurück‐ zukehren, wird das Lied geradezu zum Musterbeispiel der sogenannten escape

289 290

Vgl. B URTON (1980) S. 37: „The word in fact occurs thrice in the song, each time in the same rhythmic context […], and the effect is to mark this word as essential to the struc‐ ture and thought of the whole stasimon“. Gegen die Zuteilung der codices hat Morstadt den Beginn des Verses 1223 (καὶ μήν) dem Chor in den Mund gelegt; er nimmt daraufhin einen Textausfall von mindestens einem ganzen Vers an, dem auch der Beginn von Teukrosʼ Wortmeldung zum Opfer gefallen sein soll. Einzig D AWE (1996) verzeichnet diese zweifelhafte Zuteilung sowie den an‐ genommenen Textverlust in seiner Ausgabe; man wird sich allerdings mit den Oxford‐ herausgebern P EARSON (1924) und L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) dagegen entscheiden und am überlieferten Text sowie der Sprecherverteilung nichts ändern.

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lyrics.291 Der Blick fort vom eigentlichen Handlungsort am Ende des Liedes steht damit in besonderem Kontrast zur bewussten Fokussierung auf das vor Augen liegende Ungemach der Choreuten, die den Beginn des Stasimons geprägt hatte (vgl. im Besonderen v. 1190). Solchermaßen geradezu kontrastiv gerundet ent‐ wickelt das Lied motivisch eine besondere Sogwirkung, die das Ende der Tra‐ gödie in den Blick nimmt. Die dem Lied zu Grunde liegende Struktur ist augenscheinlich: Elementar für die Reflexionen der Schiffsmannschaft ist der Kontrast zwischen entbehrungs‐ reichem und gefährlichem Dasein vor Troia und dem freudvollen Leben in der Heimat. Mit dieser räumlichen Bipolarität – Troia-Athen – geht freilich die Kontrastierung der beiden Zeitebenen Gegenwart und Vergangenheit einher. Letztere erfährt in der zweiten Gegenstrophe eine weitere Differenzierung: Ist schon die allgemeine Kriegssituation mit allerlei Entbehrungen verbunden, so bedeutet der Verlust des Aias für die Choreuten den Wegfall sämtlichen Schutzes und gibt damit Anlass zur Hoffnungslosigkeit. Die Verantwortlichkeit des Krieges kleidet der Dichter in eine Personalisie‐ rung des Kriegslehrers, was der Klage um die Nöte des einfachen Kriegsknechts besondere Intensität verleiht. Diese Mischung von halb allgemeiner, halb spe‐ zieller Kriegskritik und persönlicher Erfahrung zeichnet das Chorlied aus: Die allgemeinen Aussagen entfalten erst durch die Situation der Schiffsleute ihre volle Wirkung, sie sind aus der dramatischen Situation gesprochen und wirken daher authentisch. Bedenken wir weiterhin, dass das Publikum des attischen Theaters (zumindest zum Teil) aus den Männern bestand, die Militär- und Kriegserfahrungen teilten,292 ist die Wirkung des Liedes abzuschätzen. Demge‐ genüber gestattet die zweite Strophe mit ihrer Aufzählung symposialer Ge‐ bräuche einen Einblick in die Lebenswelt der gehobenen Athener Bürger.293 Ferner wird der die Stadt Athen selbst beschwörende Schluss bei einem attischen Publikum patriotische Empfindungen geweckt haben. Das Stasimon bietet dem

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293

Zum Begriff, weiteren Beispielen und Literatur vgl. die Behandlung des zweiten Stasi‐ mons im Oidipus auf Kolonos, S. 599, Anm. 271. Zur Zeit der wahrscheinlichen Aufführung des Aias, d. h. in den fünfziger Jahren des fünften Jahrhunderts, war das von Athen nach den Perserkriegen mit Sparta geschlos‐ sene Bündnis wieder gelöst. Athen engagierte sich weiterhin bei antipersischen Auf‐ standsbewegungen und schloss nach einer konfliktreichen Zeit 451 mit Sparta und 448 mit Persien Frieden. Krieg und militärische Interventionen werden bei den Vollbürgern der Stadt somit präsent gewesen sein. Vgl. dazu B AYER (1988). Griechische Geschichte in Grundzügen, Darmstadt, S. 188 ff. Vgl. K AMERBEEK (1953) S. 229 zu den in der Strophe aufgezählten Bräuchen „the plea‐ sures they yearn for are those of fifth century Athens“ sowie „they are the pleasures of the bonne société of Cimon, Sophocles, or Alcibiades“.

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Publikum so in seiner ganz aus der Situation der Schiffsleute vor Troia gespro‐ chenen Klage über den Krieg wie auch in der Beschreibung des heiligen Athen gewisse Identifikationsmöglichkeiten, die den Nachvollzug des Liedes und damit die Teilhabe an der dramatischen Situation erleichtern.294 Fragen wir nun nach dem Sitz des Liedes in der Tragödie und ihrem dramatur‐ gischen Geflecht. Wir haben schon festgehalten, dass die dem Lied unmittelbar vorausgehende Auseinandersetzung zwischen Teukros und Menelaos den Chor in seiner Reflexion nicht beschäftigt. Das mag Zuschauer und Leser überra‐ schen, da doch mit der Bestattung des Aias ein wichtiges Anliegen der Schiffs‐ leute im Zentrum des Streits stand und Teukros geradezu als Sachverwalter seines Halbbruders aufgetreten war. Das Stasimon beginnt demgegenüber mit der ausgeführten Kriegsthematik und schlägt so einen inhaltlichen Bogen zu den chorischen Partien des ersten Teils unserer Tragödie (Parodos sowie erstem Standlied). Das Aufzeigen der wichtigsten Motivlinien soll hier genügen. Die Thematik der Heimatferne sowie des unwirtlichen Zustands vor Troia hatte im Besonderen die erste Strophe des ersten Stasimons entfaltet. Hatten dort die Ausführungen des Chores mit einem Anruf an die Heimat begonnen (v. 596), so ist jetzt Athen geradezu der Fluchtpunkt der Gedankenbewegung und kommt dementsprechend ganz am Ende des Liedes zu stehen. War dort die Be‐ wegung ausgehend von der Heimat in die neue Situation hinein vorherrschend, so wendet sich das dritte und letzte Stasimon mit Blick auf die zeitlich und räumlich ferne Heimat geradezu von der gegenwärtigen Situation ab. Die Betonung der langen Dauer des Kriegsdienstes vor Troia ist ebenfalls eine motivische Wiederaufnahme, die durch begriffliche Spiegelungen besonders ins Auge fällt: Hatte der Chor im ersten Stasimon die „unzählbare Zeit von Mo‐ naten“ (χρόνος μηνῶν ἀνήριθμος v. 600 f.) beklagt, so fragt er zu Beginn des vorliegenden Liedes nach einem Ende der „Zahl jammervoller Jahre“ (πολυπλάγκτων ἐτέων ἀριθμός v. 1186).

294

Von einer wirklich funktionalen Einbindung dieser über den unmittelbaren dramati‐ schen Zusammenhang in die Realität der Aufführungssituation hinüberreichenden Momente in den dramaturgischen Kontext kann allerdings gerade im Vergleich mit dem ersten Stasimon des Oidipus auf Kolonos nicht die Rede sein: Dort nutzt Sophokles die Aufnahme des Asyl suchenden Haupthelden in Athen dazu, den Chor der kolonischen Greise ein Preislied auf ihren Demos und ihre Stadt singen zu lassen. Dessen Motivik dient nicht nur dazu, den Akt der Aufnahme selbst zu inszenieren, sondern eröffnet einen weiteren Teil der Tragödie (Auseinandersetzung zwischen Oidipus und Kreon, d. h. Athen und Theben) und wird darüber hinaus im zweiten Stasimon geradezu be‐ antwortet.

2. Aias

243

Schon im ersten Stasimon spielte darüber hinaus die Gestalt des Aias und dessen Einfluss auf die Schiffsleute eine besondere Rolle: War dort allerdings der „schwer zu behandelnde Aias“ (δυσθεράπευτος Αἴας v. 609 f.), d. h. die Prä‐ senz des Helden geradezu der Gipfel der durch den Krieg ohnehin virulenten Nöte, ist es hier sein Tod, der dem Chor die letzte Hoffnung nimmt (v. 1214 f.). Die beiden Standlieder stehen so motivisch in Beziehung zueinander, entwerfen sie doch beide das Bild einer freudlosen Zukunft, die sich auf der Basis einer bereits besonders unangenehmen Gegenwart abzeichnet. Zudem beantwortet das dritte Stasimon mit seiner zweiten Gegenstrophe die im zweiten Strophen‐ paar des ersten Standliedes gegebene Aussicht: Aias ist mittlerweile tot, die Imagination vom Beginn der Tragödie hat sich verwirklicht. Anstatt dabei wie im ersten Lied die Klage naher Anverwandter zu imaginieren, sprechen die Schiffsleute hier ihre ganz eigenen Sorgen und Befürchtungen aus. Sie holen damit geradezu nach, was ihnen im Kommos mit Tekmessa nach der Auffindung der Leiche des Aias noch nicht möglich war: Dort war es im Wesentlichen Tek‐ messa zugefallen, Zukunftsaussichten zu entwerfen (v.a. v. 944), während der Chor den Blick eher auf die Vergangenheit lenkte (v. 925 ff.) und dabei die ver‐ mutliche Reaktion der Atriden (v. 955 ff.) antizipierte. Mit dieser Apostrophierung des Aias als eines Schutzes vor „nächtlichem Entsetzen und Geschossen“ (v. 1211 f.) wird überdies ein motivischer Bogen zur Parodos geschlagen. Dort war in den Versen 158 ff. das Verhältnis der Großen, d. h. der Führer und Helden, zu den Kleinen, ihren Soldaten, Untergebenen und Angehörigen thematisiert worden. War dieses optimale Schutzbündnis eines Patrons und seiner Klienten schon zu Beginn der Bühnenhandlung, d. h. wäh‐ rend der Parodos, durch Aiasʼ Wahnsinnstaten und die daraus resultierende ge‐ sellschaftliche Ächtung des Haupthelden und seiner Angehörigen empfindlich gestört, so ist es mit dem Tod des Helden zu einem für die Schiffsleute verhee‐ renden Ende gekommen. Zusammenfassend kann gesagt werden: Mit der Klage über den Krieg und der Hoffnung auf Rückkehr in die Heimat hat sich die schon im ersten Teil der Tragödie vom Chor behandelte Thematik der Aussichts- und Hoffnungslosig‐ keit nicht wesentlich verändert; die Intensität der vorgebrachten Reflexionen ist dagegen durch das dramatische Geschehen, d. h. den Tod des Aias, wesentlich gesteigert. Das Chorlied steht so noch ganz unter dem Einfluss der Geschehnisse des ersten Teils der Tragödie, auf deren Basis es die neueren Entwicklungen reflektiert. Diese Themensetzung des Stasimons erstaunt zunächst: Wie bereits erwähnt, wird weder der Streit um die Bestattung des Haupthelden noch das wirkungsvoll inszenierte, an eine Hikesie angelehnte Totenopfer am Ende des Epeisodions

244

I. Chöre wehrfähiger Männer

thematisiert. Angesichts der immensen Wichtigkeit des Haupthelden als Schutz‐ herr und elementarer Bezugspunkt im Leben der Schiffsleute wirkt diese völlige Ausblendung unpassend, ja scheint geradezu die bisherige Fixierung auf den Protagonisten und sein Wohlergehen zu konterkarieren. Warum sich die Schiffs‐ leute nach Aiasʼ Tod nicht mehr um ihn, d. h. konkret seine Leiche und deren Verbleib kümmern sollten, erschließt sich aus der Charakterzeichnung des Chors nicht. Dahingegen ist die gegenüber einer möglichen Erwartungshaltung verschobene Themensetzung des Stasimons aus dramaturgischen Gründen nachvollziehbar: Eine Beschäftigung mit der Bestattungsthematik im direkten Anschluss an das vorangegangene Epeisodion hätte sicher eine Reflexion des Streits zwischen Teukros und Menelaos mit sich gebracht. Damit wäre zwar aus gegebenem Anlass die v. a. in der Parodos breit ausgeführte Thematik der Feind‐ schaft gegenüber den Atriden gespiegelt worden. Es ist allerdings kaum denkbar, dass der Chor hier diesem Motiv einen wesentlich neuen Aspekt hätte hinzu‐ fügen können: Als reine Bestätigung der im ersten Teil der Tragödie verbali‐ sierten Vorbehalte gegenüber den Heerführern angesichts des tatsächlichen Verhaltens eines der beiden Atriden hätte eine erneute Betonung und Ausdeu‐ tung dieses kritischen Verhältnisses keinen wirklichen dramaturgischen Wert gehabt. Statt so eine Wiederholung und dramaturgisch unnötige Intensivierung des ohnehin präsenten Motivs zu bieten, verlagert das Stasimon das Augenmerk auf eine andere, wesentlich persönlichere Ebene. Es bleibt indes festzuhalten, dass in der Verfluchung des Kriegslehrers, der dezidiert für den troianischen Krieg verantwortlich gemacht wird, ein (wenn auch subtiler) Anklang zur sonst ausgeklammerten Atridenthematik gegeben ist: Zwar ist der in Rede stehende Kriegslehrer durch nichts als eben seine Lehr‐ tätigkeit in der Vergangenheit (Aorist ἔδειξεν) gekennzeichnet und damit weit davon entfernt, als Abbild einer konkreten, dem unmittelbaren Personenumfeld des Chors entstammenden Gestalt zu fungieren; dass allerdings die Verfluchung „jenes Mannes“ (κεῖνος ἀνήρ v. 1195) in seiner Verantwortlichkeit für den troi‐ anischen Krieg nach der Streitszene mit Menelaos (und vor der Auseinander‐ setzung mit Agamemnon) zu stehen kommt, spielt bewusst mit möglichen As‐ soziationen. Damit ist nicht gesagt, dass den Schiffsleuten an unserer Stelle Menelaos (oder sein Bruder) als konkretes Feindbild vorschwebt, sondern einzig, dass die Positionierung des Liedes und seine konkrete motivische Gestaltung einen subtilen Bezug zum unmittelbaren dramatischen Geschehen herstellen kann. Die Motivik der feindseligen und verhassten Atriden wäre so im Lied trotz der bewusst verschobenen Themensetzung präsent und würde in geradezu sub‐ limierter Form einen direkten Anknüpfungspunkt der Reflexion zugleich an das vergangene wie das kommende Bühnengeschehen liefern.

2. Aias

245

Dass darüber hinaus die eindrucksvolle Hikesie- bzw. Opferszene keinen Wi‐ derhall im Stasimon findet, ist ebenfalls ein prägnantes Beispiel dramaturgischer Ökonomie. Machen wir uns dazu bewusst: Die von Teukros an der Leiche des Haupthelden positionierten, im Fortgang des Stücks stummen Personen (Tek‐ messa und der Knabe)295 stellen in ihrer Dauerpräsenz bis zum Ende des Dramas die virulente Bestattungsproblematik visuell dar. Wie schon ausgeführt, wird diese Personengruppe neben der folgenden Auseinandersetzung zwischen Teukros und Agamemnon einen zweiten, rein visuellen Fokus innerhalb des Bühnengeschehens bilden. Aber auch schon während des Standliedes ist so die Kontinuität der Bestattungsproblematik gewahrt. Statt diese sichtbare Präsenz dabei durch eine chorische Reflexion zum selben Thema zu verdoppeln, blendet der Dichter die Deutung der allgemeinen Umstände sowie des entscheidenden Handlungsfortschritts (Aiasʼ Tod) aus einer anderen Perspektive ein und kon‐ trastiert dabei das emotional und religiös aufgeladene Standbild auf der Bühne mit der ganz aus der Sicht des Chors gesprochenen Reflexion, die motivisch der ersten Hälfte der Tragödie verpflichtet ist. Der Chor steht so zum eigentlichen Geschehen in besonderer Distanz, die mit seiner forcierten Präsenz im Ge‐ schehen, wie sie gerade die Parodos sowie das erste Stasimon inszeniert hatten, kontrastiert. Anders als im ersten Teil steht der Chor an unserer Stelle nicht mehr unmittelbar im Geschehen. Hatte er sonst die dramatischen Geschehnisse sowie die Reden der Personen sofort und mit hoher Emotionalität beant‐ wortet,296 so scheint er an unserer Stelle weniger vom vorangegangenen Ge‐ schehen als von seiner eigenen Reflexion beeinflusst. Damit ist zugleich geradezu paradigmatisch die Haltung des Chors in der folgenden Exodos angedeutet: Auch an der zweiten Konfliktszene werden sich die Schiffsleute bis auf drei standardisierte Doppelverse nicht beteiligen. Diese auffallende Zurückhaltung des Chors setzt die im Stasimon initiierte Verortung des Chors in betonter Distanz vom eigentlichen Geschehen fort. Sie erklärt sich, wie schon die spezifische Perspektive des Stasimons, nicht primär aus rollen‐ immanenten Motiven, d. h. dem Charakter bzw. der Person des Chors, sondern

295

296

Dass Tekmessa im Folgenden persona muta ist, hat auch ganz bühnenpraktische Gründe: Mit Teukros (Protagonist), Agamemnon und Odysseus (Deutero- und Trita‐ gonist) sind alle drei dem Dichter zur Verfügung stehenden Schauspieler in der Exodos bereits in Aktion; Tekmessa wird demnach bereits bei ihrem Wiederauftritt (v. 1168) von einem Statisten verkörpert. Gerade die drei Kommoi im ersten Teil zeigen, wie sehr der Chor selbst im Dialog mit den Personen präsent ist. Der zweite Teil der Tragödie bringt dagegen keine wechsel‐ seitige Kommunikation mehr zwischen den Personen und dem Chor; beide Sphären stehen sich vielmehr gegenüber, ohne wirklich miteinander in Austausch zu treten.

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I. Chöre wehrfähiger Männer

ist sinnfälliger Ausdruck bewusster Entscheidungen des Dichters, mit denen er genuin dramaturgische Ziele verfolgt. Was also erreicht Sophokles mit dieser Konstruktion des für die folgende Exodos geradezu programmatischen Stasimons dramaturgisch? Da dieses einzige Standlied des zweiten Teils seine Thematik und Motivik aus dem ersten Teil des Dramas schöpft, bildet es den Nachklang der wirkmächtigen Ereignisse, die im Tod des Haupthelden ihren Abschluss fanden. Gleichzeitig wagt der Chor mit seinen Äußerungen und dem Wunsch, wieder nach Athen zu gelangen, einen Blick in die Zukunft und weitet so die Perspektive aus dem direkten Zusam‐ menhang des Dramas in die sich anschließende Zeit. Das Chorlied reflektiert unter dem Einfluss der Ereignisse des ersten Teils der Tragödie die Lage der Choreuten und ihre Zukunftsaussicht. Es weist mo‐ tivisch nach hinten und bleibt innerhalb des Dramas unbeantwortet, da das weitere Schicksal der Angehörigen des Aias nach dessen eingeleiteter Bestat‐ tung keine Rolle mehr spielt. Von den abschließenden Chorversen am Ende des Dramas (v. 1418 – 1420) abgesehen bildet das vorliegende Stasimon als letzte nicht in Sprechversen geformte Aussage geradezu das lyrische Schlusswort des Chors in seiner Rolle als dramatischer Person.297 In seiner aktiven Reflexion des Geschehens ist der Chor damit beim Tod des Haupthelden stehen geblieben. Sophokles zeichnet damit zum einen sehr wirkungsvoll die feste Bindung der Schiffsmannschaft an ihren Patron, die hier allerdings in einer besonders per‐ sonalisierten, d. h. auf das Schicksal des Chors selbst bezogenen Weise ausge‐ leuchtet wird: Von Beginn an war Aias in den lyrischen Passagen des Chors zumindest präsent, wenn nicht das Thema des ganzen Liedes. Mit dem dritten und letzten Stasimon rundet sich so eine gedankliche Bewegung, die von den Wahnsinnstaten und der scheinbaren Genesung auch den Tod des Haupthelden noch einmal verarbeitet und diesen aus Sicht der Choreuten in einen größeren, persönlich geprägten Zusammenhang einordnet. Das Stasimon trägt so in be‐ sonderer Weise dazu bei, die beiden Großabschnitte des Dramas (vor und nach dem Selbstmord des Haupthelden) miteinander zu verknüpfen. Es bildet gera‐ dezu eine thematisch-motivische Brücke, die vor dem letzten Abschnitt der Tragödie noch einmal entscheidende Motive vom Beginn der Bühnenhandlung aufruft und so zur Rundung des gesamten Stücks beiträgt. Zum anderen fällt das Lied allerdings auch aus der Zeit: In seiner kompletten Ausblendung des virulenten und höchst problematischen Themenfelds „Bestat‐ tung“ verweigert es sich geradezu dem aktuellen, das Bühnengeschehen prä‐ 297

Die angesprochenen Schlussverse sind demgegenüber konventionell und werden kaum mehr als Aussage der Schiffsmannschaft wahrgenommen.

2. Aias

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genden Diskurs sowie seiner Sublimierung in der Formung des Hikesie-Stand‐ bildes, das Teukrosʼ Eingreifen in die Handlung visualisiert. Das Lied trägt bewusst nichts zur Ausdeutung der momentanen Lage bei, sondern bildet zwi‐ schen den beiden entscheidenden Konfrontationsszenen der Tragödie die Ein‐ schaltung einer ganz aus der Sicht des Chors gesprochenen Reflexion. Dass diese dabei völlig unbeantwortet bleibt und motivisch mit der Fluchtphantasie der Choreuten die eigentliche Sphäre der Bühnenhandlung zu verlassen scheint, setzt der ausgreifenden chorischen Beteiligung am Geschehen einen bewussten Schlusspunkt. Anders gesagt: Innerhalb ihrer Reflexion blenden die Choreuten nicht nur das vom Konflikt zwischen Teukros und den Atriden geprägte agonale Geschehen aus, sondern verlassen sogar – zumindest in Form des vorgetragenen Wunsches – das unmittelbare setting der Handlung. Ein weiterer substanzieller Beitrag zur Reflexion des Bühnengeschehens ist vom Chor in der Folge nicht zu erwarten; vielmehr finden im vorliegenden Stasimon einige Motive und Themen, die im Besonderen den ersten Teil der Tragödie prägten, vor der Folie des Selbstmords des Haupthelden ihren Abschluss. Man wird sich B URTONs Hochschätzung des Liedes in Teilen anschließen, be‐ sonders wenn der die formale Geschlossenheit des Stasimons hervorhebt und auf dieser Basis zu dem Urteil kommt: „This unity of structure helps to make it the most poetically satisfying lyric in the play.“298 Den allgemeinen Partien, im Besonderen der Verwünschung des Kriegslehrers, den Anspruch von Zeitlosig‐ keit und Universalität299 zuzusprechen, mag dagegen weniger berechtigt sein,300 vor allem da der Chor hier keine wirklich tiefgreifenden Erkenntnisse präsen‐ tiert301 und selbst in der ersten Gegenstrophe nicht den Krieg an sich sowie dessen Lehrer, sondern dezidiert den Krieg vor Troia in den Blick nimmt. Die dramaturgische Einbindung und Funktionalisierung des Liedes als einer reflek‐ torischen Pause zwischen zwei Konfliktszenen, in der sich der Chor ganz auf sich und seine Sicht der Dinge konzentriert und dabei den unmittelbaren Kon‐ text der Handlung zu übersteigen scheint,302 ist dabei zu Recht erkannt.

298 299 300 301

302

B URTON (1980) S. 37. „a certain quality of timelessness and universality“ a. a. O. Anders K AMERBEEK (1953), der S. 227 lapidar festhält: „The Chorus sing a song which does not rise above the ordinary human level“. Das ist zum einen im sozial niedrigen Stand der Rolle des Chors begründet, basiert aber auch auf der bewussten dramaturgischen Entscheidung des Dichters, an unserer Stelle eben keine ausgreifende, den unmittelbaren Handlungszusammenhang übersteigende Reflexion einzufügen. B URTON (1980) S. 37: „they [die Schiffsleute] stand back from the tension of the scene they have just witnessed and move out of the immediate orbit of the play’s action“.

248

I. Chöre wehrfähiger Männer

Viertes Epeisodion und Exodos (v. 1223 – 1420)

Das sich anschließende letzte Epeisodion sowie die anapästische Passage am Schluss der Tragödie können wir unter unseren Gesichtspunkten rasch abhan‐ deln. Von den knapp zweihundert Versen entfallen neun auf den Chor bzw. den Chorführer, davon dreimal je zwei Verse Kommentierung bzw. Auftrittsankün‐ digung (v. 1264 f., 1316 f. und 1374 f.) sowie die schon erwähnten drei abschlie‐ ßenden Verse 1418 ff. Die Handlung dieses Teils soll kurz zusammengefasst werden. Nach dem Wiederauftritt des Teukros entspinnt sich zwischen ihm und dem ebenfalls auf‐ getretenen Agamemnon ein erneutes Streitgespräch, das diesmal weniger kon‐ kret die Bestattung des Aias als vielmehr zunächst die Herkunft und den sozialen Stand des Teukros sowie schließlich Aiasʼ Verhalten im Kampf gegen die Tro‐ ianer und seinen daraus entstandenen Wert für das griechische Heer zum Ge‐ genstand hat. Agamemnon gerät über die ihm berichteten, aus seiner Sicht un‐ zumutbaren Schmähungen des als Sohn einer Unfreien geborenen Teukros gegen ihn und seinen Bruder in Wut, sucht darüber hinaus seine Position als Inhaber der Befehlsmacht zu behaupten und lehnt angesichts des Standesun‐ terschieds zwischen ihm und dem als Nichtgriechen diskreditierten Teukros jede weitere Diskussion ab (v. 1256 ff.). Der so kritisierte Teukros ruft dagegen Aiasʼ kriegsentscheidendes Vorgehen gegen Hektor in Erinnerung und kontert den Angriff hinsichtlich seiner Herkunft, indem er Agamemnon mit seiner Abkunft von Pelops und Atreus sowie deren Untaten konfrontiert (v. 1291 ff.). Nach Teu‐ krosʼ Monolog stehen sich die Kontrahenten unversöhnt gegenüber, ein Aus‐ gleich zwischen beiden Positionen scheint unmöglich. Bis zu diesem Punkt folgt Sophokles der standardisierten Form eines tragischen Redeagons, indem er den beteiligten Akteuren je eine umfangreiche „Standpunktrhesis“303 zukommen lässt, zwischen denen der Chor(-führer) in einem Doppelvers zur Mäßigung aufruft (v. 1264 f.). Für die sich anschließende stichomythische Partie jedoch er‐ weitert der Dichter das Personenspektrum durch den vom Chor angekündigten Auftritt des Odysseus in Vers 1316.304 Letzterer vertritt nun die Sache des Aias und seiner Angehörigen gegenüber Agamemnon, während Teukros selbst ganz in den Hintergrund tritt, um erst in Vers 1381 das Eingreifen des Odysseus zu

303 304

So der gelungene Terminus bei P FEIFFER -P ETERSEN (1996). Konfliktstichomythien bei Sophokles: Funktion und Gestaltung (Diss.), Wiesbaden, S. 29. Für P FEIFFER -P ETERSEN (1996) ist dieser Auftritt des Odysseus in gewisser Hinsicht einem „‚deus ex machina‘ vergleichbar“ (S. 29). Damit ist sowohl dem Umstand Rech‐ nung getragen, dass Odysseus den scheinbar unlösbaren Konflikt zwischen Teukros und Agamemnon einem (dem Mythos gemäßen) Ende entgegenführt, als auch die im Prolog inszenierte Nähe des Odysseus zur Sphäre des Göttlichen angedeutet.

2. Aias

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loben. Dieser gibt zwar zu, dass Aias auch ihm der verhassteste unter allen Griechen (v. 1336 f.) war, in Anerkennung seiner Verdienste um das griechische Heer, aus genereller Hochachtung göttlicher Gesetze (v. 1342 f.) und der Einsicht in die eigene Vergänglichkeit (v. 1365) plädiert er allerdings dafür, die Leiche des Helden seinen Angehörigen zur Bestattung zu überlassen. In der sich anschlie‐ ßenden Stichomythie bringt Odysseus den Heerführer schließlich dazu, eine Bestattung des Aias nicht mehr zu verbieten, sondern Teukros in dieser Bezie‐ hung freie Hand zu lassen. Mit der geradezu trotzigen Bekundung, auch im To‐ tenreich werde Aias ihm immer noch verhasst sein (v. 1372), sowie einer an Odysseus gerichteten, geradezu gönnerhaften Wendung („Dir steht es frei zu tun, was du wünschst.“ σοὶ δὲ δρᾶν ἔξεσθʼ ἃ χρῇς v. 1373) verlässt Agamemnon daraufhin das Geschehen. Den Schluss der Konfrontationsszene markiert daraufhin ein Doppelvers des Chorführers, in dem er zu Odysseusʼ Auftreten gegenüber Agamemnon aner‐ kennend Stellung bezieht (v. 1374 f.): Wer behaupte, Odysseus sei nicht charak‐ terlich durch mit Einsicht verbundene Weisheit ausgezeichnet (γνώμῃ σοφὸν φῦναι305), der sei ein Tor. Odysseus versichert daraufhin Teukros, er werde ihm in Zukunft nicht mehr ein Feind, sondern ein Freund sein (v. 1376 f.). Seinen Wunsch, an der Bestattung teilnehmen zu dürfen, schlägt Teukros allerdings aus, da er fürchtet, dadurch den toten Aias in Zorn zu versetzen (v. 1395). Odysseus reagiert auch darauf großherzig und verlässt nach einer wortreichen Würdigung seines edlen Ver‐ haltens durch Teukros (v. 1381 – 1399) nach Vers 1401 die Bühne. Das eigentliche Bühnengespräch hat damit ein Ende gefunden; mit dem Ein‐ satz der anapästischen Verse ab 1402 beginnt bereits die Vorbereitung des Aus‐ zugs der Akteure: Teukros ordnet den Beginn der Beerdigungsriten an, verteilt die ersten Aufgaben und wendet sich noch einmal an den Sohn des Aias, der am Leichnam seines Vaters Wache gehalten hatte (v. 1409 f.). Mit der kurzen allge‐ meinen Äußerung des Chors schließt die Tragödie: Es sei für den Menschen unmöglich, im Voraus zu wissen, was er tun werden, bevor er es gesehen, d. h. erfahren habe. Die dramaturgische Gestaltung dieses Abschnittes ist offenkundig: Das durch die erste Auseinandersetzung zwischen Teukros und Menelaos aufgeworfene Problem der Bestattung wird hier in einem zweiten Agon einer Lösung zuge‐ führt. Gegenüber der ersten Konfrontationsszene erweitert sich die Perspektive dabei in mehrfacher Hinsicht; die Bezugnahmen auf bzw. Kontrastierungen 305

Zum Verhältnis des sophokleischen Terminus φύσις zu „Charakter“ als seiner modernen Entsprechung vgl. S PIRA (1960) S. 12 f.

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gegen den Prolog tragen darüber hinaus wesentlich zur Rundung des gesamten Stücks bei. So fügt die Thematisierung der Taten und der Herkunft des Aias der bisherigen Zeichnung seiner Figur weitere Aspekte hinzu, die bisher im We‐ sentlichen unerwähnt geblieben oder kaum problematisiert worden waren. Im Besonderen kontrastieren sein lobend herausgestelltes Eingreifen in einer scheinbar ausweglosen Situation während des Kampfes (v. 1273 ff.) sowie die gegen Agamemnons Anschuldigungen vorgebrachte Rehabilitierung der Her‐ kunft des Aias mit der gebrochenen, vom Götterzorn gestraften Erscheinung des Helden im Prolog. Zum anderen rundet Sophokles die gesamte Konstruktion des Dramas, indem er den im Prolog bereits aufgetretenen und in den Aussagen des Chors, Tek‐ messas und des Haupthelden durch das ganze Stück präsenten Odysseus schließlich zu Gunsten seines Gegners eingreifen lässt. Odysseus setzt dabei die ihm im Prolog durch göttliche Einwirkung zuteil gewordene Einsicht praktisch um, was die Handlung mit einem Moment edler Großherzigkeit und Gottes‐ furcht schließen lässt. Neben der Figur des Teukros ist so im Besonderen der Wiederauftritt des Odysseus eine personelle Klammer, die mit dem Prolog und der Exodos die beiden Randpunkte der Tragödie eng miteinander verknüpft. Der Chor ist dabei, wie wir schon festgestellt haben, ganz in den Hintergrund getreten: Nachdem der unmittelbare Bezug zu Aias nicht mehr möglich ist, ver‐ stummt auch die Reflexion des Chors. Selbst die Parteinahme des Odysseus für den eigenen Herrn und die dadurch ermöglichte Aussicht auf die Bestattung kommentiert der Chorführer nur mit dem erwähnten Doppelvers, der das Re‐ deduell zwischen den beiden Kontrahenten beschließt. Dass sich dabei die Bewertung des Odysseus durch die Schiffsleute im Ver‐ gleich zum Beginn des Stücks vollkommen gewendet hat, wird nicht explizit thematisiert; eine Selbstreflexion des Chors über den eingetretenen Sinnes‐ wandel bleibt aus. Das Fehlen einer ausführlichen Stellungnahme des Chors zu seiner geänderten Einstellung gegenüber Odysseus kann dabei in formaler Hin‐ sicht nicht überraschen: Die Einschaltung einer umfangreichen chorischen Pas‐ sage zu diesem Zeitpunkt der Tragödie (innerhalb der Exodos, kurz vor dem Ende des Stücks) widerspricht prinzipiell den Kompositionsprinzipien der Gat‐ tung. Sophokles arrangiert die Schlussphase dagegen mit äußerster dramatur‐ gischer Ökonomie: Der Doppelvers des Chorführers (v. 1374 f.) verbalisiert zu‐ nächst ohne elaborierte Reflexion vorheriger Ansichten die Wertung der Schiffsleute. Daraufhin wird mit Odysseusʼ Freundschaftsbekundung und seinem Wunsch, bei der Bestattung des ehemaligen Feindes mitzuhelfen (v. 1376 – 1380), die ursprüngliche Reserviertheit zwischen ihm und den Angehö‐ rigen des Aias endgültig aufgehoben. Teukros ist es, der in seinem sich an‐

2. Aias

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schließenden Monolog geradezu stellvertretend für den Chor bekennt, von Odysseusʼ Verhalten in seiner Erwartung getäuscht, d. h. im vorliegenden Fall positiv überrascht worden zu sein (v. 1382). Nicht dem Chor, der sich schon einmal dazu bekannte, falsche Erwartungen gehegt zu haben (v. 911 f., 925 ff.), sondern Teukros als zentralem Akteur des zweiten Teils der Tragödie obliegt also die Thematisierung des Sinneswandels, der zu einer völlig anderen Ein‐ schätzung des Odysseus führt. Als Moment innerhalb des eigentlichen Bühnen‐ gesprächs zwischen Teukros und Odysseus wird die Reflexion so im besten Sinne dramatisiert: Odysseus erhält seine Rehabilitierung von Seiten eines An‐ gehörigen des Haupthelden im direkten Austausch mit ihm selbst; kein Reden über ihn, sondern die direkte Reaktion auf seine Äußerungen, das Gespräch mit ihm trägt dazu bei, seine Gestalt sowie deren Einschätzung durch die anderen Akteure abschließend in Szene zu setzen. Der Chor ist dabei durch die Äußerung des geradezu programmatischen Doppelverses in das Bühnengespräch einge‐ bunden, steht allerdings dem eigentlichen Geschehen mit einigem Abstand ge‐ genüber. Die Schlussverse 1418 ff. verdienen in diesem Zusammenhang eine kurze Be‐ merkung: Wenn der Chor am Ende der Tragödie räsoniert, niemand könne über den Lauf der Dinge im Vorfeld Gewissheit erlangen, allein eigenes Erfahren (ἰδεῖν) sei ausschlaggebend, so mag damit freilich auch der Sinneswandel des Chors hinsichtlich der Einschätzung des Odysseus angedeutet sein. Allerdings fehlt der bewusst allgemein formulierten Einsicht jeder Bezug zur Tragödien‐ handlung oder der Person des Chors selbst; von einer wirklichen Auseinander‐ setzung mit dem eigentlichen Bühnengeschehen kann so keine Rede mehr sein. Die Schlussworte des Chors entbehren daher einer wirklich stringenten Anbin‐ dung an das Geschehen; sie sind, verglichen mit anderen Tragödienschlüssen, höchst konventionell und bis zu einem gewissen Grad austauschbar.306 Fassen wir also die dramaturgischen Implikationen der Exodos zusammen: Die Mitte des Bühnendiskurses im letzten Epeisodion nimmt nicht, wie noch im ersten Teil der Tragödie, die Person des Haupthelden sowie die Vorbereitung einer wirkmächtigen Szene, sondern mit dem Redeagon das Aufeinandertreffen zweier Personen ein. Diese bipolare Struktur erfordert einen anderen Einsatz dramatischer Mittel: Da die Reflexion über Aias, seine Taten, seine Stellung in‐ nerhalb des Heeres u. dgl. sowie die Angabe der Gründe des eigenen Handelns

306

Vgl. K AMERBEEK (1953) S. 261: „these closing words are less inspired than those of the Antigone (e.g.) and show a certain likeness to those found in Euripides“, sowie S TAN‐ FORD (1963) S. 235: „The sentiment, as elsewhere, is commonplace“, der in seiner Ein‐ schätzung der Passage deutliche Worte findet: „The banality of this kind of ending …“.

252

I. Chöre wehrfähiger Männer

selbst bereits durch die beiden Streitenden geleistet wird, erübrigt sich eine er‐ neute Betrachtung dieser Umstände durch den Chor. Die Zuschauer und Leser vielleicht verwundernde Zurückhaltung des Chors ist so zu einem guten Teil dramaturgische Ökonomie: Weder die konventionelle und durch den Auftritt des Odysseus erweiterte Form des Agons noch das gelöste Bestattungsproblem am Ende erlaubt die Einschaltung erneuter reflektierender Passagen ohne Wie‐ derholung und Verdoppelung bereits ausgeführter Sachverhalte. Das Fehlen wirkmächtiger Szenen oder suggestiver Beeinflussung des Chors wie im ersten Teil rechtfertigt die geradezu abgekühlte Emotionalität des Chors, die sich zum letzten Mal im dritten Stasimon entladen hat und von da an keinen Ausbruch mehr duldet. Angesichts der prominenten Spiegelung der Thematiken „Heimatferne“, „Kriegselend“ sowie „Schutzverhältnis Große-Kleine“ aus dem ersten Teil der Tragödie im dritten Stasimon fällt das Fehlen einer rückblickenden Bezugnahme und Korrektur der Atriden- und Odysseusthematik gegen Ende des Dramas be‐ sonders ins Auge. Es entspricht dabei der dramaturgischen Stoßrichtung, die Schlusspartie der Tragödie ganz als dialogische Handlung zu inszenieren. Im Wechsel der drei Gesprächssituationen (Agamemnon-Teukros, Odysseus-Aga‐ memnon, Teukros-Odysseus) entfaltet die Schlussszene dabei noch einmal ein besonders reichhaltiges dialogisches Panorama, das dem Chor nur noch die Rolle eines teilweise durch moderierende Einwürfe sich zu Wort meldenden Betrach‐ ters zuweist. Zusammenfassung

Die bestimmenden Aspekte der kleinteiligen Analyse des Dramas sollen im Fol‐ genden zusammengefasst werden. Im Besonderen müssen dabei die Rolleniden‐ tität des Chors, seine Einbindung in das Personenspektrum, die Art der chori‐ schen Reflexion sowie deren dramaturgische Funktionalisierung betrachtet werden. 1. Hinsichtlich des in der Einleitung skizzierten Spektrums I (der Chor als kol‐ lektive dramatis persona) lässt sich Folgendes festhalten. Mit dem Chor der an den Kriegshandlungen vor Troia unmittelbar Beteiligten ist zunächst der genuin soldatische Kontext der Tragödie umrissen: Der Chor spiegelt und komplettiert den personellen Rahmen des Geschehens, indem in ihm der Sphäre der heroi‐ schen Heerführer die Perspektive der einfachen Soldaten gegenübergestellt ist. Die Konzeption der Rollenidentität des Chors zielt dabei ganz auf den Haupt‐ helden der Handlung: Die salaminischen Schiffsleute bilden die Mannschaft des

2. Aias

253

Aias, sind ihm in jeder Beziehung subordiniert und von ihm abhängig. Solcher‐ maßen ganz in die Handlung integriert nimmt der Chor im Personenspektrum eine fest umrissene Funktion ein: Gemeinsam mit Tekmessa bilden die Cho‐ reuten die Angehörigen des Aias. Ihrem Herrn stehen die Schiffsleute dabei mit herausgehobener Loyalität gegenüber: Da sein Wohlergehen sowie die ihm ge‐ rade auch von Seiten der anderen griechischen Feldherren entgegengebrachte soziale Achtung unmittelbaren Einfluss auf die Lebenssituation der Choreuten haben, nehmen sie an der Krise des Haupthelden besonderen Anteil. Bereits in der Parodos gilt ihre Sorge so der Wiederherstellung des Zustands vor der Wahntat, von der die Choreuten allerdings keine genaue Kenntnis besitzen. Die scheinbar gute Lösung der problematischen Situation, wie sie Aias in seiner Trugrede vorzubringen scheint, ist daraufhin Anlass des exaltierten Jubelliedes (zweites Stasimon), vor dessen Hintergrund sich die Verzweiflung der Epipar‐ odos besonders deutlich abzeichnet. Der ganz der inneren Logik des Stücks gehorchende Abtritt und Wiederauf‐ tritt der Schiffsleute demonstriert zudem die ausgesprochen enge Verzahnung des Chors als dramatis persona mit dem Handlungsgefüge: Aiasʼ Mannschaft fühlt sich soweit für ihren Herrn verantwortlich, dass sie an der Rettungsaktion aktiv teilnimmt. Das Verhältnis zwischen Chor und Bezugsperson ist dabei in besonderer Weise von Nähe und Distanz geprägt. So kommt es ungeachtet der engen Zugehörig‐ keit zu bzw. Abhängigkeit von Aias einzig im Amoibaion der Verse 348 ff. zu einer direkten kommunikativen Begegnung zwischen den Schiffsleuten und ihrem Herrn, der dem Chor dabei mit großer Sympathie entgegentritt (vgl. die Anrede der Schiffsmannschaft als φίλοι v. 349). Wie gezeigt wurde, bleibt die Position des Chors in dieser Passage allerdings völlig konventionell; von einem wirklichen Austausch zu sprechen, fällt angesichts der ungleichen Gesprächs‐ verteilung sowie der klaren Funktionalisierung der teilweise nichtssagenden chorischen Aussagen schwer. Die vor allem in den beiden Tragödien mit Frau‐ enchören (Elektra und Trachinierinnen) bedeutsame Gesprächssituation Prot‐ agonist-Chor ist darüber hinaus selbst an dieser Stelle nur in Ansätzen wirklich realisiert, da Aias neben dem Chor auch Tekmessa gegenübersteht. Die den reinen Austausch Protagonist-Chor307 (bzw. Bezugsperson-Chor308) ansonsten prägende Intimität wohnt allerdings auch der vorliegenden Szene zu einem ge‐ wissen Grad inne: Die forcierte Absetzung dieses ‚Wir‘ gegenüber den als feind‐ lich eingestuften ‚Anderen‘ (Atriden und Odysseus) konstituiert auf Basis eines 307 308

Vgl. v. a. die Parodos der Elektra. Vgl. v. a. Parodos und Schlaflied des Philoktet.

254

I. Chöre wehrfähiger Männer

besonderen Zusammengehörigkeitsgefühls geradezu einen Schutzraum, in dem der Austausch untereinander von äußeren Einflüssen ungestört ablaufen kann. Erst nach dem Tod des Aias wird dieser besondere Kommunikationsraum durch das Auftreten der ‚Gegner‘ geöffnet. Damit geht freilich zugleich die spezielle Intimität der Gesprächssituation(en) des ersten Teils der Tragödie verloren. Tekmessa ist zudem innerhalb des ersten Epeisodions Aiasʼ eigentliche Ge‐ sprächspartnerin, wohingegen die Bemerkungen des Chors (v. 481 ff., 525 f., 583 ff.) zwar teilweise an Aias selbst gerichtet sind, allerdings keine ausgreifende Kommunikation zwischen den beiden initiieren. Eine besondere Form dieser in sich gestörten Kommunikation zwischen dem Protagonisten und dem Chor ist freilich die von Aias bewusst lancierte Trugrede, die bei seiner Mannschaft die gewünschte Wirkung nicht verfehlt. Mit Teukros übernimmt die von Aias selbst dazu bestimmte Person nach dem Selbstmord die Verantwortung für die Schiffsmannschaft; zu einem nennens‐ werten Austausch zwischen ihm und dem Chor kommt es dabei allerdings auf Grund der starken Fixierung des Chors auf den Haupthelden nicht. Weniger distanziert als das Verhältnis des Chors zum Haupthelden ist die Re‐ lation zu Tekmessa, mit der die Schiffsleute die Sorge um Aias sowie ein ver‐ gleichbarer subordinierter Stand309 verbindet. Sie ist dementsprechend die ei‐ gentliche Gesprächspartnerin des Chors: Mit ihr treten die Schiffsleute nach dem Auftritt in lebendigen Austausch, von ihr erfahren sie Details bezüglich des Geschehens der unmittelbaren Vergangenheit. Die Reinszenierung dieser Ge‐ sprächssituation im Anschluss an die Epiparodos markiert zudem den Beginn des zweiten Teils der Tragödie. Der Dichter nutzt diese Konstellation einer weiblichen Person als kommuni‐ kativem Hauptpartner des männlich-soldatischen Chors zur Einbindung beson‐ ders emotionaler Szenen: Während so der Chor der Schiffsleute das männ‐ lich-soldatische Moment der Handlung repräsentiert, symbolisiert Tekmessa (samt ihrem Sohn) vor allem die familiäre Dimension. Dieses Neben- und Mit‐ einander der unterschiedlichen Sphären innerhalb der engsten Angehörigen des Haupthelden ermöglicht es, ein besonders breites Spektrum verschiedener Re‐ aktionen, Ausdeutungen und Perspektiven abzudecken. Bestimmendes Moment des chorischen Selbstverständnisses im ersten Teil der Tragödie ist zudem, wie bereits angesprochen, die Abgrenzung gegenüber Odysseus und den Atriden, die den Schiffsleuten als regelrechte Feindbilder vor

309

Auch wenn Sophokles Tekmessa geradezu zur Frau des Haupthelden macht, bleibt sie ihrer Herkunft nach Kriegsbeute und Sklavin (vgl. ihre Anrede an Aias v. 585).

2. Aias

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Augen stehen (vgl. v. 148 ff.). Diese Kontrastierung verliert allerdings nach dem Selbstmord des Haupthelden an Schärfe: In den Agonszenen zwischen Teukros und den Atriden ruft der Chor so beiderseits zur Mäßigung auf (gegenüber Me‐ nelaos v. 1091 f., gegenüber Teukros 1118 f., sowohl gegenüber Agamemnon als auch Teukros v. 1264), er setzt in Odysseusʼ Ankunft am Ort besondere Hoffnung (v. 1316 f.), und lobt schließlich dessen erfolgreiches Eingreifen (v. 1374 f.). 2. Ein Blick auf die Inhalte der chorischen Reflexion soll die Einordnung in das zweite Spektrum (Reflexionsstrategien) ermöglichen. Thematisch kreisen die chorischen Partien um zwei maßgebliche Bezugspunkte: die Gestalt des Haupt‐ helden sowie die mit ihm aufs engste verknüpfte eigene Lage der Choreuten. Bereits die Parodos mitsamt der ihr vorgeschalteten anapästischen Verse de‐ monstriert diese Bipolarität, wenn der Chor gleich zu Beginn sein eigenes Wohl‐ ergehen an das seines Herrn knüpft (v. 136) und im Folgenden das Verhältnis von Großen und Kleinen reflektiert (v. 158 ff.). Die Thematisierung von Aiasʼ (mentaler) Verfassung ist dabei zugleich Flucht‐ punkt und thematisches Zentrum der Lieder, um das herum sich die Imagination der den Chor betreffenden Auswirkungen gruppiert. Den drei Stasima entspre‐ chen dabei die drei Zustände des Haupthelden, die dem Chor jeweils Anlass geben, die eigene Lage und damit die dramatische Situation zu bewerten: Das erste Stasimon stellt die Konsequenzen des Wahns dar (v. 611), das zweite nimmt die vorgebliche Gesundung des Helden in den Blick (v. 706), das dritte verarbeitet Aiasʼ Tod (v. 1214 f.) und die sich daraus ergebenden Folgen. Diese passgenaue, inhaltlich an (vermeintlichen) Wendepunkten der Handlung orientierte Veror‐ tung der Stasima lässt die chorische Reflexion den Handlungsfortschritt aus der Perspektive des Chors als einer im Geschehen verorteten dramatis persona ab‐ bilden. In den drei Stasima des Stücks entwirft der Chor dabei auf Basis des zum entsprechenden Zeitpunkt erreichten Handlungsstands jeweils ein Panorama der Situation. Die drei Lieder unterscheiden sich dementsprechend hinsichtlich ihres grundsätzlichen Reflexionszugangs kaum: Sie bieten umfassende Aus‐ leuchtungen der für die Schiffsleute zentralen Momente des Geschehens unter besonders prominenter Selbstverortung des Chors. In allen drei Partien umfasst dieser chorische Blick auf das Geschehen mehrere Zeitebenen, wobei dem ersten und dritten Stasimon zudem die damit verbundene räumliche Dimension

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I. Chöre wehrfähiger Männer

„Heimat – Fremde“ eingewoben ist, während das zweite Stasimon ganz das dra‐ matische Hier in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellt.310 Wesentliches strukturelles Moment der Lieder ist dabei die visualisierend-ima‐ ginierende Gegenüberstellung der verschiedenen zeitlichen und räumlichen Sphären: So kontrastiert das erste Stasimon sowohl Salamis mit Troia (erste Strophe), als auch Aiasʼ glorreiche Vergangenheit mit seinem momentanen Zu‐ stand (erste Gegenstrophe), das zweite Stasimon die leidvolle Vergangenheit mit der unmittelbar angebrochenen positiven Gegenwart, das dritte Standlied die Freuden der Heimat mit der Unwirtlichkeit des Krieges sowie die vormalige Schutzfunktion des Aias gegenüber seinen Soldaten mit seinem jetzigen Zu‐ stand. Der visualisierend-imaginierende Reflexionszugang wird dabei beson‐ ders konsequent verfolgt: Selbst die Beschäftigung mit dem Phänomen „Krieg“ im dritten Stasimon ist in der Verfluchung des Kriegslehrers sowie der konkret ausgemalten Entbehrungen besonders anschaulich gestaltet. 3. Einen umfassenden, das eigentliche Geschehen übersteigenden Deutungs‐ rahmen, vor dessen Hintergrund die Handlung durch die Choreuten einge‐ ordnet würde, entfalten die chorischen Partien nur in Ansätzen (Spektrum III). Besonders auffällig ist, dass die Ausdeutung des Geschehens unter theolo‐ gisch-personifizierenden Vorzeichen im Lauf der Tragödie an Bedeutung ver‐ liert. Dass Aiasʼ Wahn göttlichen Ursprungs sein muss, steht für die Schiffsleute dabei außer Frage (v. 184 f.): So stellen die Choreuten in der Parodos noch Spe‐ kulationen an, welche konkrete Gottheit für den außerordentlichen Geisteszu‐ stand des Haupthelden verantwortlich sein könnte (v. 172 ff.); ihre Bitte um die Abwehr böser Nachrede richten sie dementsprechend auch an Zeus und Apoll (v. 185 f.). Auch im ersten Stasimon wird Aiasʼ Manie noch dezidiert als „göttlich“ bezeichnet (v. 611), wobei dem Chor allerdings keine konkrete Gottheit als Ver‐ ursacher mehr vorschwebt. Der enthemmte Gefühlsausbruch des zweiten Sta‐ simons ist dagegen eine Aufforderung an Pan, den „Tanzmeister der Götter“, den freudigen Reigen anlässlich der Genesung des Helden anzuführen (v. 694 ff.), sowie an Apoll, dem Chor beizustehen (v. 703 ff.). Für die spontane Gesundung des Helden machen die Schiffsleute dabei in nicht weiter ausgeführter Weise Ares verantwortlich (v. 706). Weder in der Epiparodos noch im dritten Stasimon sind die Erwähnungen göttlicher Mächte dagegen von besonderer inhaltlicher oder struktureller Be‐ 310

Eine Ausdeutung der ferneren Vergangenheit findet allerdings nicht statt; vgl. G OULD (2001). S. 408: „The chorus has no vision of a past which extends in time in any way beyond that of the familiy of Ajax or has a wider scope: there is no ‘myth’ within the play to sustain or contextualize present experience“.

2. Aias

257

deutung; anders gesagt: In der Beschäftigung mit dem Tod des Aias und der sich daraus ergebenden Situation spielt für den Chor göttliches Handeln keine er‐ wähnenswerte Rolle mehr. Stattdessen stehen die den Chor persönlich betref‐ fenden Konsequenzen der dramatischen Situation im Mittelpunkt der Ausleuch‐ tung. Die am Beginn der Tragödie prominente theologisch-personifizierende Aus‐ deutung eröffnet so keinen Deutungsrahmen, der für die Sicht des Chors auf das Geschehen im Ganzen prägend wäre. Als durchgängiger Maßstab der Ausdeutung und Bewertung des Geschehens dient den Schiffsleuten dagegen vielmehr die eigene, von den jüngsten Vor‐ gängen um Aias in meist negativer Weise affizierte Lage: Wesentliches Merkmal der Ausdeutung ist dementsprechend das In-Beziehung-Setzen der eigenen cho‐ rischen Person zum aktuellen Bühnengeschehen, d. h. die Selbstverortung des Chors in der dramatischen Situation sowie der aus ihr abgeleiteten Folgen. Der chorischen Reflexion liegt so ein dem Drama sowie der Rollenidentität des Chors immanenter Bezugsmaßstab zu Grunde, anhand dessen das Hand‐ lungsgeschehen ausgedeutet wird. Eine Einordnung in einen Kontext, der den durch die Handlung bzw. die Personenkonstellation gegebenen Rahmen über‐ steigt, findet dabei nicht systematisch statt. Den durch seine eigene Einbindung in die dramatische Situation abgesteckten Rahmen verlässt der Chor dabei einzig in der Imagination der Eltern des Helden im zweiten Strophenpaar des ersten Stasimons. Diese Öffnung der Reflexion über den unmittelbaren Bezugsrahmen der Handlung hinweg ist dabei, wie ge‐ zeigt wurde, als tragisch-ironische Andeutung des bevorstehenden Todes des Helden klar funktionalisiert. Dagegen ist der Selbstbezug des Chors am Ende des Stücks von so bestimmendem Einfluss, dass die das Bühnengeschehen prä‐ gende Bestattungsthematik im dritten Stasimon keine Verarbeitung findet. Während die chorische Reflexion so zu Beginn der Tragödie eine etwas weitere Perspektive einnimmt, die sowohl göttliches Handeln als auch die Weitung des eng begrenzten Personenspektrums umfasst, konzentriert sich der Blick des Chors mit dem Fortgang der Handlung mehr und mehr auf sein Kernthema: das Verhältnis zwischen ihm und Aias bzw. die Auswirkungen der Handlung auf die Situation des Chors selbst. 4. Bei der Analyse der Tragödie ist klar geworden, dass die Person des Aias das Zentrum der Tragödie, die Achse der ganzen Komposition und das eigentliche movens der Handlung darstellt.311 Die Dramaturgie der Tragödie ist geradezu 311

Vgl. S TANFORD (1963) S. li (Introduction): „Ajax is what matters in this play“ .

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I. Chöre wehrfähiger Männer

auf den Protagonisten ausgerichtet: Seine Taten bilden den Ausgangspunkt der dramatischen Entwicklung, sein Auftreten bringt die Handlung (wieder) in Gang, seine Person steht auch nach seinem Tod thematisch im Mittelpunkt der Ausführungen des zweiten Teils der Tragödie. Was lässt sich demgemäß zur dramaturgischen Funktionalisierung der Chor‐ partien (Spektrum III) festhalten? In ihrem durchgängigen Bezug auf den das Geschehen maßgeblich prägenden Haupthelden sowie das Verhältnis zwischen dem Helden und seiner Mannschaft werden die Chorlieder geradezu zum Spiegel der eigentlichen Handlung aus Sicht der Schiffsleute. Aias, der Zentral‐ punkt der Handlung, rückt so nie aus der Perspektive der Rezipienten, sondern bleibt auch in den Chorliedern immer präsent. Neben der durch ihn aktiv be‐ stimmten Bühnenhandlung erlauben es die Chorpartien, die Auswirkungen seines Handelns auf andere zu fassen; die chorische Ausdeutung komplettiert so das Bild des Helden auch über dessen Tod hinaus. Der Chor und seine Re‐ flexion dienen dementsprechend geradezu als Folie, auf der sich die Singularität des Haupthelden besonders wirkungsvoll abzeichnet. Die Reflexion des Chors ist so im Wesentlichen fokussierend funktionalisiert: In ihrer Bezugnahme auf Aias spiegelt sie die entscheidende Person der Hand‐ lung und bündelt die Aufmerksamkeit auf dieses zentrale Moment des Gesche‐ hens. 5. In ihrer Bezugnahme auf die konkreten Änderungen des (mentalen) Zustands des Haupthelden folgen die chorischen Partien dem Geschehen weitestgehend linear. Neben die drei Stasima treten dabei mit der Parodos und der Epiparodos sowie dem Kommos unter Beteiligung des Protagonisten weitere (teilweise) chorische Partien, in denen zentrale Szenen des Handlungsverlaufs ausge‐ leuchtet werden. Mit der Bezugnahme des dritten auf das erste Stasimon, d. h. im Besonderen der Beantwortung der Salamis-/Athen-Motivik durch den Wunsch, den Ort des dramatischen Geschehens zu verlassen (v. 596 ff. und 1217 ff.), ist dem chorischen Nachvollzug der Handlung allerdings ein das Drama rundender Aspekt einbe‐ schrieben. Die vor dem Hintergrund der kultisch-politischen Einbindung der Tragödienaufführung besonders bedeutsame Athen-Motivik bildet so eine Klammer, die die Einheit der vorliegenden Tragödie auch über die bewusste Zweiteilung gewährleistet. Die Zusammenfassung hat gezeigt, wie sehr die Struktur der Tragödie den Ein‐ satz des Chors bedingt und dieser wiederum als Werkzeug des Dichters fungiert, um ein dramaturgisch konsistentes Ganzes zu formen und mit der Sonderstel‐ lung des Protagonisten ein Hauptmotiv der Handlung deutlich zu machen. Die

3. Gesamtschau zu den Chören wehrfähiger Männer

259

thematische Fixierung des Chors auf Aias, die enge motivische Anbindung der Chorlieder an die gegenwärtige dramatische Situation sowie der offensichtliche Einsatz emotionaler und bühnenwirksamer Effekte im ersten Teil der Tragödie bündeln die Aufmerksamkeit auf das dramatische Geschehen selbst. Im Vordergrund des dramatischen Interesses steht die monopolare Handlung, die sich im Bereich der Charaktere um die eine Zentralfigur, in der Anordnung der Formteile des Dramas um die zentrale Selbstmordszene in der Mitte der Tragödie gruppiert. Dabei kommt dem Chor nicht die Funktion zu, die Handlung durch Reflexionen zu kontextualisieren. Er fungiert vielmehr als Folie für den Charakter des Protagonisten und dient dazu, die Perspektive auf die Handlung und das eigentliche Geschehen zu fokussieren, sowie dem Bühnenstück auch über den bewussten Bruch hinweg thematisch-motivische Geschlossenheit zu verleihen. So hat gerade die Betrachtung der chorischen Binnengliederung ge‐ zeigt: Der Aias zerfällt nicht in zwei Teile, er ist vielmehr geradezu konzentrisch in zwei vielfältig aufeinander Bezug nehmenden Teilen um eine zentrale Figur und eine zentrale Szene, den Todesmonolog des Protagonisten, komponiert.312

3. Gesamtschau zu den Chören wehrfähiger Männer: Abhängigkeit, Imagination, Fokussierung Bereits die der Interpretation des Aias vorangestellte Einleitung hat einige Ge‐ meinsamkeiten der in Rede stehenden Tragödien aufgelistet. Darauf aufbauend sollen die folgenden Ausführungen in aller Kürze einige grundlegende Momente der Chorführung der beiden Stücke entfalten und sie im Rahmen der in der Einleitung eröffneten Spektren einordnen. Als Gruppen wehrfähiger Männer setzen beide Chöre den Rahmen des für die Handlung ausschlaggebenden Milieus: Beide Stücke werden im Wesentli‐ chen durch wehrfähige, männliche Akteure geprägt. Während das Personen‐ spektrum des Philoktet ganz auf das im Chor gespiegelte soldatisch-heroische Milieu beschränkt ist, stellen Tekmessa (und Eurysakes) im Aias daneben ein emotional-familiäres Moment dar. Hinsichtlich ihrer Rollenidentitäten (Spektrum I) zeigen die Chöre der beiden Tragödien die größten Gemeinsamkeiten: In beiden Fällen stellen Schiffsleute bzw. subordinierte Soldaten den Chor, die zu einem der Akteure in einem be‐ sonderen Abhängigkeitsverhältnis stehen. Diese enge Relation zur Bezugs‐ 312

Vgl. T APLIN (1978) S. 148: „Sophocles has constructed this division so carefully and de‐ liberately, and […] the relation between the two halves is so clearly one of his chief artistic concerns“.

260

I. Chöre wehrfähiger Männer

person ist im Besonderen im Aias für das chorische Selbstverständnis konsti‐ tutiv.313 Die – durchaus gebrochene – Identifikation314 des Chors mit Aias lässt so auch die Krise des Haupthelden zu einer existenziellen Bedrohung seiner Mannschaft werden; der Chor des Aias wird dementsprechend zum Resonanz‐ boden der Emotionalität des Protagonisten. Die Selbstverortung im Abhängig‐ keitsverhältnis zur entsprechenden Bezugsperson spielt demgegenüber im Phi‐ loktet eine untergeordnete Rolle, wird allerdings gerade durch das als Unterweisungsszenerie gestaltete Auftrittsamoibaion bereits zu Beginn der Tra‐ gödie bühnenwirksam inszeniert. Der thematischen Konzentration auf Philoktet gemäß spielt das Seelenleben des Neoptolemos für den Chor dabei keine ent‐ scheidende Rolle. In beiden Fällen unterläuft das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Chor und Be‐ zugsperson dabei im Fortgang der Tragödie eine gewisse Veränderung. Auch wenn Neoptolemos als Herr seiner Matrosen den gesamten Verlauf der Tragödie über präsent bleibt, ist dennoch mit der Aufdeckung der Intrige ein wichtiges Moment der Beziehung zwischen ihm und dem Chor weggebrochen; damit ist zwar die Loyalität des Chors gegenüber seinem Herrn nicht in Frage gestellt (vgl. v. 963 f. und 1072 f.), das gemeinsame, durch die intendierte Täuschung des Haupthelden mehr oder minder fest umrissene Ziel sowie die spezifische, bis zu diesem Punkt maßgeblich durch die Intrigensituation geprägte Art des Umgangs mit Philoktet allerdings ist genommen. Dagegen stellt der Tod des Haupthelden für die Mannschaft des Aias freilich einen besonderen Einschnitt dar. Auch wenn Teukros im Sinne seines Halbbruders daraufhin die Verantwortung über dessen Haushalt (subordinierte Personen wie die Schiffsleute, Tekmessa und den Sohn eingeschlossen) übernimmt, bleibt Aias bzw. sein Verlust ein bestimmendes Moment der eigenen Selbsteinordnung des Chors (vgl. v. a. das dritte Stasimon); eine besondere Bindung zu Teukros stellt der Chor dagegen nicht her. In beiden in Rede stehenden Tragödien bildet darüber hinaus der Hauptheld das thematische Zentrum der chorischen Reflexion: Während die Schiffsleute des Neoptolemos Philoktet als einem Fremden gegenübertreten, mit dem sie zwar bis auf elementare Gemeinsamkeiten (Geschlecht, Herkunft, Profession) nicht viel verbindet, dessen Situation allerdings den zentralen Gegenstand der chorischen Äußerungen bildet, handelt es sich beim Titelhelden des Aias um die

313 314

Vgl. die Ausführungen zu „Großen“ und „Kleinen“ v. 158 ff. sowie die Imagination von Aias als einer „Schutzwehr“ (προβολά) v. 1212. Dass sich Chor und Protagonist im Aias in einem besonders komplexen Verhältnis von Nähe und Fremdheit gegenüberstehen, war ein Hauptergebnis der Interpretation; vgl. die entsprechende Zusammenfassung, S. 252 ff.

3. Gesamtschau zu den Chören wehrfähiger Männer

261

rollenimmanente Bezugsperson des Chors, mit der die Schiffsleute eine Schick‐ salsgemeinschaft bilden. Die beiden Chöre sind demnach in doppelter Weise besonders fest im Gefüge der Handlung verankert: Sowohl hinsichtlich ihrer Rolle als dramatis persona innerhalb des Personenspektrums der jeweiligen Tragödie, als auch mit Blick auf die thematische Konzentration der Äußerungen auf die das Geschehen maß‐ geblich prägende Gestalt sind beide Chöre eng mit dem Zentrum des eigentli‐ chen Geschehens assoziiert. Mehr noch: Die sich selbst im Rahmen der Hand‐ lung verortenden Chöre sprechen in der Regel bewusst aus der sie betreffenden dramatischen Situation heraus und versuchen nicht (oder nur in Ansätzen), eine der Aktion enthobene Perspektive einzunehmen, um das Geschehen in grö‐ ßerem Maß auszudeuten und einzuordnen. Damit sind bereits wesentliche Punkte der Chorführung angesprochen. Wie schlägt sich diese grundlegende Konzeption der beiden Chöre auf die Einbin‐ dung chorischer Partien in das Stück, die Komposition der chorischen Partien selbst sowie die Wahl der konkreten Reflexionsstrategien nieder? Zunächst zum Aufbau der Stücke, d. h. zur Anordnung der Formteile. Beide in Rede stehenden Tragödien sind strukturell mehr oder minder unkonventionell aufgebaut und unterscheiden sich gerade hinsichtlich der strukturellen Funkti‐ onalisierung der chorischen Präsenz erheblich. Der weitestgehend dramati‐ sierte, d. h. sich als Akteur mit anderen Akteuren austauschende Chor des Phi‐ loktet ist ein entscheidendes Moment des kontinuierlichen Handlungsflusses. Das als dramatische Ausnahmesituation ungefähr in der arithmetischen Mitte des Dramas positionierte reflektierende Stasimon unterbricht dagegen diesen Ablauf für eine gewisse Dauer. Bereits dadurch markiert es den ersten315 ent‐ scheidenden Wendepunkt der Tragödie; die das Vorwissen des Zuschauers kon‐ terkarierende Ausdeutung der Situation, im Besonderen die Zukunftsaussicht der zweiten Gegenstrophe, verstärken die Sonderstellung dieser einzigen rein reflektierenden Chorpartie. Während also die Dramatisierung des Chors den Fluss der Handlung maßgeblich prägt und damit erheblich zur Kontinuität des Stücks beiträgt, markiert die reflektorische Partie den Einschnitt und Wende‐ punkt innerhalb der Tragödie. Geradezu umgekehrt verhält es sich im Aias. Innerhalb der geradezu kon‐ zentrisch um die Selbstmordszene aufgebauten Struktur kommt dem Chor eine doppelte Funktion zu: Als drastischer Bühneneffekt sowie Reinszenierung des Beginns der Handlung tragen Ab- und Wiederauftritt des Chors zur Trennung 315

Den zweiten Wendepunkt markiert die Erscheinung des vergöttlichten Herakles am Ende der Tragödie (v. 1409 ff.).

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I. Chöre wehrfähiger Männer

der beiden Hälften bei, wohingegen die Bezugnahme des dritten auf das erste Stasimon dem Stück über den so inszenierten Bruch in seiner Mitte hinweg besondere formale und thematische Geschlossenheit verleiht. Während also der Versuch des Chors, in den Gang der Geschehnisse einzugreifen, d. h. seine büh‐ nenwirksam selbst auf Kosten der Gattungskonvention punktuell auf ein Höchstmaß gesteigerte Dramatisierung die Zweiteilung der Tragödie betont, ist es das reflektorische Moment seiner Präsenz, das (unter anderem316) die Einheit der Tragödie sicherstellt. Trotz dieser grundlegend anderen strukturellen Funktionalisierung der cho‐ rischen Partien lassen sich innerhalb der Reflexion gewisse Gemeinsamkeiten erkennen (Spektrum II). In beiden Tragödien dominiert geradezu durchgängig der imaginative Reflexionszugang: Beide Chöre bieten in ihren Partien keine argumentativ-logischen Gedankengänge, sondern suchen, gewisse Situationen, Stimmungen oder Gegebenheiten besonders eindringlich darzustellen. Selbst wenn dabei, wie im Aias, abstraktere Momente wie Heimatferne und Mühen des Krieges behandelt werden, steht keine thematische Durchdringung dieser Themen, sondern ihre Ausleuchtung als die Choreuten konkret betreffende Umstände im Vordergrund. Dabei hebt sich der konkrete Ich-Bezug in den cho‐ rischen Äußerungen des Aias von der fast ausschließlichen Konzentration auf die Gestalt des Haupthelden im Philoktet besonders ab: Während sich die Schiffsleute des Aias in den von ihnen gezeichneten Panoramen der dramati‐ schen Situation selbst gezielt verorten und ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander vergleichen, ist die eigene Person kein zentrales Moment in der Situationsausleuchtung der Matrosen des Neoptolemos. Hinsichtlich ihrer dramaturgischen Funktionalisierung bieten die chorischen Partien der beiden Tragödien ein in sich jeweils besonders homogenes und grundsätzlich vergleichbares Bild: Sie dienen im Wesentlichen der Fokussierung auf das Geschehen bzw. auf mit dem Geschehen unmittelbar zusammenhän‐ gende Momente, im Besonderen auf den jeweiligen Protagonisten und dessen Situation. Der vergleichbaren Komposition der Chöre hinsichtlich ihrer Rollenidenti‐ täten sowie der Reflexionsstrategien entspricht eine ganz ähnliche dramatur‐ gische Funktionalisierung (Spektrum III). In diesem Punkt unterscheiden sich die beiden Tragödien nicht wesentlich, sondern einzig im Grad der Fokussie‐ rung: Während sich die Äußerungen des Chors im Philoktet mit besonderer 316

Andere, die beiden Teile der Tragödie verbindende Elemente sind, wie bereits heraus‐ gearbeitet, im Besonderen die Gestalt des Teukros, Tekmessas Dauerpräsenz sowie die Rahmung der gesamten Tragödie durch die zwei „Odysseus-Szenen“, d. h. seine Unter‐ weisung im Prolog sowie sein entsprechendes Einschreiten am Ende des Stücks.

3. Gesamtschau zu den Chören wehrfähiger Männer

263

Konsequenz rein auf das eigentliche Geschehen konzentrieren, das sie weniger ausdeuten bzw. interpretieren, als vielmehr intensivieren, eröffnen die reflek‐ torischen Partien des Aias (im Besondern das erste und dritte Stasimon, zum Teil auch die Parodos) noch einen gewissen Deutungsrahmen317 und weiten durch Vor- und Rückblenden318 den unmittelbaren Rahmen des Geschehens. Zusammenfassend kann man festhalten: Die beiden Tragödien mit einem Chor wehrfähiger Männer konstituieren innerhalb der uns überlieferten Tragödien hinsichtlich der Chorführung eine eigene Gruppe. Trotz der Unterschiede in der Komposition der beiden Stücke, der Gestaltung des Verhältnisses zwischen Chor und Bezugsperson im Einzelnen sowie dem Grad der Konzentration auf das Geschehen lassen sich mit den Begriffen „Abhängigkeit“, „Imagination“ und „Fokussierung“ die drei Hauptmerkmale der Nutzbarmachung des Chors inner‐ halb der beiden Dramen umreißen. Damit ist die Verwendung des Chors in beiden Tragödien im Rahmen der drei in der Einleitung eröffneten Spektren verortet.

317 318

Vgl. im Besonderen die Ares-Thematik (v. 614, 706, 1196). Vgl. die Gegenüberstellung von Vergangenheit und Gegenwart der Choreuten selbst (v. 596 ff., 1199 ff.), die Vorblenden auf die Reaktion von Aiasʼ Eltern (v. 624 ff.) sowie die Suche nach Gründen für das Geschehen der dem Beginn der Bühnenhandlung unmit‐ telbar vorausgehenden Nacht (v. 172 ff.).

II. Frauenchöre 1. Trachinierinnen Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur

Als einzige der uns überlieferten Tragödien des Sophokles ist die vorliegende nach dem Chor benannt;1 dies begründet sich allerdings nicht durch eine be‐ sonders herausgehobene Stellung des Chors, sondern ist vielmehr dem Umstand geschuldet, dass sich kein einzelner Hauptheld der Tragödie angeben lässt: Im Mittelpunkt der Handlung stehen mit Deianeira und Herakles zwei Gestalten, deren Verhältnis zueinander das eigentliche movens des Geschehens darstellt. Die namensgebenden trachinischen Frauen sind dabei Zeuginnen der letzten Lebensstunden von Deianeira, die den ebenfalls bevorstehenden Tod ihres Mannes Herakles zu verantworten hat. Deianeira erwartet seit geraumer Zeit die Rückkehr des Herakles, der sich fern der trachinischen Heimat seinen gefährlichen Aufgaben widmet. Sie ist dabei ganz von Angst und Sorge ergriffen. Erst die Botschaft von der bevorste‐ henden Ankunft ihres Mannes vermag sie von ihrer Beklommenheit zu befreien. Bevor allerdings Herakles selbst den Ort des Geschehens betritt, kommt ein durch seinen Vertrauten Lichas angeführter Zug von Kriegsgefangenen bei Dei‐ aneira an. Auch wenn Lichas zunächst zu verbergen sucht, dass die gefangene Iole, die Tochter des von Herakles besiegten Eurytos, die Geliebte des Heros ist, erhält Deianeira schließlich Kenntnis von diesem Umstand. In ihrer Eifersucht greift sie zu einem besonderen Mittel: Sie schickt Herakles ein Gewand, das sie zuvor im Blut des Kentauren Nessos getränkt hat; dieser hatte ihr kurz vor seinem Tod versprochen, diese Maßnahme werde ihr die Liebe ihres Gatten si‐ chern. In Wahrheit hat sie damit allerdings einen verheerenden Fehler begangen, da das Blut des Nessos auf der Haut des Herakles seine tödliche Wirkung ent‐ wickelt und das Gewand den Helden geradezu auffrisst. Deianeiras Sohn Hyllos überbringt ihr die schreckliche Nachricht; sie verlässt daraufhin die Bühne und begeht Selbstmord. Erst gegen Vers 970 tritt Herakles selbst vor die Augen des

1

Unter den Titeln der nur in Fragmenten oder gar nicht überlieferten Dramen finden sich dagegen einige augenscheinlich nach dem Chor benannte Werke; vgl. dazu die Liste der Dramentitel bei L LOYD -J ONES (1996). Sophocles Fragments edited and translated, Cambridge (MA), S. 4 – 9.

1. Trachinierinnen

265

Publikums. Der bereits im Sterben liegende Held verfügt im Gespräch mit Hyllos letzte Weisungen hinsichtlich der genauen Umstände seines Todes und seiner Feuerbestattung. Mit dem Auszug in Richtung Berg Oite, auf dem Heraklesʼ Scheiterhaufen errichtet werden soll, endet die Tragödie. Z IMMERMANN wird dem Stück im Ganzen gerecht, wenn er es in seiner kurzen Zusammenfassung „eine Doppeltragödie“ nennt, „in deren erstem Teil Deia‐ neira, Heraklesʼ Gattin, im Zentrum steht“.2 Diese zweiteilige Struktur – zu‐ nächst die Bühnenpräsenz Deianeiras, nach deren Abtritt die des Herakles – entspringt dabei der Bipolarität der Personenkonstellation. Der – freilich auch durch die realen Gegebenheiten bedingte3 – dramatische Kunstgriff, die beiden Hauptpersonen nie zur selben Zeit vor dem Publikum agieren zu lassen, bringt eine besondere Verflechtung von vorder- und hinterszenischer Handlung mit sich. Die Doppelung der Handlung in diese beiden Bereiche, die erst mit dem Auftritt des sterbenden Herakles aufgehoben wird, ist dabei ein entscheidendes und je im Einzelfall zu untersuchendes Strukturmoment der Tragödie.4 Nichtsdestoweniger präsentiert sich die vorliegende Tragödie trotz ihrer deutlichen, in der Personenkonstellation angelegten Zweiteilung als Ganzes, was gerade auch eine Betrachtung der chorischen Partien erweisen wird. Die trachinischen Frauen stehen dabei rollenimmanent zunächst Deianeira zur Seite und sind unmittelbarer Widerpart ihrer Äußerungen sowie Spiegel ihrer Emo‐ tionalität. Interpretation5 Prolog (v. 1 – 93)

Die gesamte Aufmerksamkeit konzentriert sich zunächst auf Deianeira, die in einem umfangreichen Monolog (v. 1 – 48) ihre Vorgeschichte erzählt und in die momentane Situation einführt. Dabei scheint Deianeira kein konkreter Adressat ihrer Worte vor Augen zu stehen; sie spricht niemanden an. Mit ihren ersten

2 3 4 5

Z IMMERMANN (2011) S. 576. Beide Rollen (Deianeira und Herakles) werden durch den Protagonisten dargestellt, um die Aufteilung der Akteure auf die zur Verfügung stehenden drei Schauspieler zu ge‐ währleisten. So sind die hohe Anzahl an Botenberichten sowie das Vorhandensein mehrerer „Bo‐ tenrollen“ im Personenspektrum (neben dem eigentlichen „Boten“ ebenso Hyllos und Lichas) nicht verwunderlich. Wir sind in der glücklichen Lage, mit den Arbeiten von E ASTERLING (1982). Sophocles Trachiniae, Cambridge, und D AVIES (1991). Sophocles Trachiniae with introduction and commentary, Oxford, gleich zwei Kommentare neueren Datums vorliegen zu haben, die die Arbeit am Text sehr erleichtern.

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II. Frauenchöre

Worten referiert sie ein bekanntes Diktum (λόγος ἀρχαῖος) und macht ihre he‐ rausgehobene Position deutlich: Auch wenn es heißt, man könne das Leben eines Menschen erst nach dessen Tod vollständig kennen (ἐκμάθοις), d. h. überblicken und bewerten, wisse sie bereits jetzt von ihrem eigenen Schicksal, dass es un‐ glücklich und schwer zu tragen sei (δυστυχῆ τε καὶ βαρύν). Schon als sie noch im Haus ihres Vaters lebte, versetzte sie die Brautwerbung des Flusses Acheloos in Angst und Schrecken; damals wollte sie eher sterben, als mit ihm, dessen schauerliche Gestalten sie beschreibt, das Bett zu teilen (v. 15 ff.). Schließlich aber kam Herakles, der berühmte Sohn von Zeus und Alkmene, und befreite sie von dem aufdringlichen Freier. Die Beziehung zu diesem Helden ist allerdings nicht frei von Belastungen: Zwar ist sie mit ihm verheiratet und hat mit ihm Kinder gezeugt, seine ständige Abwesenheit aber ist für Deianeira Anlass zu Sorge und Angst. Besonders schwer zu ertragen seien dabei die Nächte, die ihr Leid von einer auf die nächste zu übergeben scheinen (v. 29 ff.). Nun, da Herakles seine mühevollen Aufgaben (τῶνδʼ ἄθλων) erfolgreich be‐ endet habe (v. 36), sei sie umso besorgter: Schließlich wohne sie seit der Tötung des Iphitos durch Herakles bei einem Gastfreund in Trachis, wobei Herakles selbst seit mittlerweile fünfzehn Monaten nicht mehr bei ihr gewesen sei. Wo er sich befinde, wisse sie nicht zu sagen, und habe auch bisher keine Nachricht von ihm erhalten; einzig eine Schreibtafel habe er ihr hinterlassen. Deren Inhalt gibt sie an unserer Stelle zwar nicht bekannt, verleiht allerdings ihrer Hoffnung Ausdruck, das Schriftstück ohne (späteres) Leid empfangen zu haben. An dieser Stelle schaltet sich die (wohl schon von Beginn an auf der Bühne präsente) Amme ein: Schon lange sehe sie ihre Herrin sich um Herakles sorgen und seine Abwesenheit beklagen. Um Abhilfe zu schaffen, schlägt sie vor, nach Herakles auszuschicken – und benennt mit dessen Sohn Hyllos gleich einen für diese Aufgabe besonders geeigneten Kandidaten. Deianeira ist von diesem Vor‐ schlag, obwohl er von einer Bediensteten gemacht wurde, überzeugt und legt es ihrem soeben, d. h. im dramatisch passenden Augenblick aufgetretenen Sohn6 nahe, nach seinem Vater zu suchen. Hyllos kennt aus „Erzählungen“ (μύθοις) dessen Aufenthaltsort: Zunächst habe Herakles ein Jahr einer lydischen Frau gedient und sei nun dabei, die Stadt des Eurytos auf Euboia zu belagern. Deianeira wird durch diese Auskunft in Sorge versetzt, da ihr Herakles einen verlässlichen Orakelspruch (μαντεῖα πιστά) bezüglich dieser Region hinter‐ lassen hat (v. 79 ff.): Entweder werde er dort den Tod finden oder nach über‐ standenem Kampf ein glückliches Leben führen. Ihrem Sohn macht Deianeira daraufhin unmissverständlich klar, dass nicht nur Heraklesʼ Leben, sondern

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Vgl. E ASTERLING (1982) S. 80: „with dramatic economy, Hyllus opportunely arrives“.

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ebenso das seiner Familie auf dem Spiel stehe und daher seine tätige Mithilfe von Nöten sei. Hyllos erklärt sich sofort bereit, zu seinem Vater aufzubrechen und die ganze Wahrheit über die Angelegenheit zu erfahren. Von seiner Mutter dazu aufgefordert verlässt er die Bühne, worauf ihm die Amme folgt; der Prolog hat ein Ende gefunden. In Vers 94 stimmen die trachinischen Frauen des Chors ihr Auftrittslied an. Deianeira tritt entweder ebenfalls ab, bleibt für die Dauer der kommenden Parodos auf der Bühne oder kommt gegen Ende des Liedes wieder an den Ort des Geschehens.7 Was lässt sich speziell in dramaturgischer Hinsicht zum Prolog festhalten? Augenfällig ist die formale Zweiteilung der Prologszene: Auf den ausgreifenden Monolog Deianeiras (v. 1 – 48) folgt die dialogische Partie der Verse 49 – 93. War der erste Teil des Prologs relativ statisch, so belebt sich das Geschehen mit der Wortmeldung der Amme und dem Auftritt des Hyllos. Diese formale Abfolge von Statik und Dynamik visualisiert dabei die inhaltliche Entwicklung beson‐ ders eindrücklich: Nachdem Deianeira in ihrem Monolog die Vorgeschichte sowie ihren momentanen Zustand referiert hat, rückt mit dem Gespräch der Akteure die Lösung des dargestellten Problems in den Blick. Auf die ungewöhnliche Konstruktion des auf den ersten Blick euripideisch anmutenden Monologs zu Beginn des Prologs wurde schon vielfältig hinge‐ wiesen.8 Unter unseren Gesichtspunkten scheint es geboten, sich kurz mit den formalen Auffälligkeiten der Partie zu beschäftigen. In der Tat beginnt von den erhaltenen Dramen des Sophokles nur das vorliegende mit einem ausführlichen Monolog des Protagonisten / der Protagonistin,9 der umfassend in die Situation einführt – eine Konstruktion, die gerade in den Tragödien des Euripides zum festen Formenrepertoire gehört.10 Die Kommentatoren E ASTERLING und D AVIES sind sich dabei mit E RBSE einig, dass die Rhesis Deianeiras bei aller scheinbaren Verwandtschaft zur euripideischen Formensprache eine andere Funktion wahr‐ 7

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Vgl. dazu die Diskussionen bei E ASTERLING (1982) S. 84 und D AVIES (1991) S. 76. Nach meiner Ansicht spricht nichts gegen den Verbleib Deianeiras auf der Bühne. Ihr Abgang wäre in Vers 93 vollkommen unmotiviert, ebenso ihr Wiederauftritt nach der Parodos (v. 141); zudem scheint sie die tanzenden und singenden Frauen zumindest teilweise wahrgenommen zu haben (vgl. v. 144 f.), was ihre Anwesenheit während des Einzugs‐ liedes wahrscheinlich macht. Vgl dazu E ASTERLING (1982) S. 71 und D AVIES (1991) S. 55. Die bestimmende Bühnenpräsenz Deianeiras gibt Anlass, sie im Folgenden (zumindest bis zu ihrem wirkungsvoll inszenierten Abgang nach Vers 815) die Protagonistin des Stückes zu nennen. Vgl. dazu E RBSE (1984). Studien zum Prolog der euripideischen Tragödie, Berlin, S. 292. D AVIES (1991) führt als engste Parallele den Beginn von Euripidesʼ Andromache an (S. 55). E ASTERLING (1982) benennt weiterhin die Dramen Helena und Phoenissen als vergleichbare Partien (S. 71).

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nehme als der informierende Monolog zu Beginn euripideischer Tragödien. Ge‐ rade D AVIES hält fest, es sei weniger Sophoklesʼ Anliegen, mit Deianeiras Mo‐ nolog formale Informationen über die beginnende Handlung, ihre Verortung in Raum und Zeit sowie die Personenkonstellation vorzubringen, als vielmehr die emotionale Verfasstheit der Sprecherin sowie ihre Abhängigkeit von Herakles darzustellen.11 Dass Deianeiras Rhesis dessen ungeachtet freilich die grundle‐ genden Informationen zur Handlung bietet, also einen wesentlichen Teil der Exposition darstellt, steht außer Frage. E RBSEs Argumentation, durch den Gesprächseintritt der Amme sowie Hyllosʼ Auftritt werde der Zuschauer „fast unauffällig in den Gang der Handlung“12 eingeführt, ist in diesem Zusammenhang freilich richtig. Damit ist allerdings zugleich angedeutet, dass Deianeiras Monolog für sich genommen der eigent‐ lichen Handlung vorgeschaltet ist. Wenn er daher allgemein zu Sophokles fest‐ hält: „Sein Prolog ist nicht nur zur Handlung hin offen, er ist sogar ein Teil der Handlung selbst“13 – und dies gerade am Monolog Deianeiras festzumachen sucht14 – , so muss zumindest eingestanden werden, dass sich der vorliegende Prolog in besonderem Maß durch die formale Zweiteilung auszeichnet. Die ei‐ gentliche Handlung beginnt, anders als in den übrigen Tragödien des Sophokles, hier nicht mit einer dialogischen, dynamischen und passgenau im Ablauf der Geschehnisse zu verortenden Szene, sondern kommt erst mit gewisser Verzö‐ gerung in Gang. Anders gesagt: Während in den anderen überlieferten Tragö‐ dien unseres Dichters bereits der Beginn des Prologs die erste Szene der Hand‐ lung, des aktiven und dynamischen, von den Akteuren geprägten Geschehens darstellt, eröffnet im vorliegenden Fall Deianeiras Monolog das Stück, der als ein rekapitulierendes Moment die nötigen dramatischen Impulse aus der Ver‐ gangenheit und der gegenwärtigen Lage ableitet. Inwieweit man auf die von Sophokles mit Absicht komponierte Struktur dabei die Bezeichnung „euripide‐ isch“ anwenden kann, ist angesichts der Zielsetzungen unserer Untersuchung nebensächlich.

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D AVIES (1991) S. 55: „But the similarities in technique can be (often have been) exagge‐ rated“ sowie „S[ophocle]’s aim here is not so much to set before us facts of this sort [the scene, the characters and their relationship and antecedents, and the state of affairs as the play begins] but to convey Deianeira’s emotional mood and her particular state of dependence upon her husband“. Vgl. E ASTERLING (1982) S. 84: „The main function of this scene is to introduce D. and engage our sympathy for her, and to convey a sense of extreme urgency“. Des Weiteren E RBSE a. a. O. E RBSE (1984) S. 292. E RBSE (1984) S. 293. „Das gilt auch für die Rhesis Deianeiras“ a. a. O.

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Was leistet der Prolog konkret für das vorliegende Drama? Mit ihrem aus‐ führlichen Auftrittsmonolog ist Deianeira als Zentralfigur der kommenden Handlung eingeführt, mehr noch: Sie führt geradezu selbst in die Handlung ein. Ihre aktuelle Problematik bildet vor dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte den unmittelbaren Handlungsimpuls. Das Drama beginnt aus der Perspektive Deianeiras, sie ist der (eine) Pol, um den sich der Fortgang der Geschehnisse entwickeln wird. Mit der Ausrichtung ihrer Sorge auf Herakles ist die zweite bestimmende Person der Handlung zwar nicht physisch in das aktuelle Büh‐ nengeschehen involviert, vor dem geistigen Horizont der Akteure und des Pub‐ likums jedoch in höchstem Maß präsent. Der Prolog macht somit deutlich: Die nun folgende Handlung spielt sich im Spannungsverhältnis zwischen Deianeira und Herakles ab; diese beiden Figuren sind Träger und Ausgangspunkt des Ge‐ schehens, ihr Verhältnis zueinander ist der eigentliche dramatische Gegenstand. Dabei tritt uns Herakles vorerst nur im Spiegel der Emotionen seiner Frau ge‐ genüber, was dem Prolog besondere dramaturgische Tiefenwirkung verleiht. Zuschauer und Leser sind sich so bewusst, dass sich neben der aktuellen Büh‐ nenhandlung ein anderes, für das Drama ebenso entscheidendes Geschehen ab‐ spielt. Fassbar wird diese hinterszenische Präsenz des zweiten Haupthelden zu‐ nächst allerdings nur auf der Folie Deianeiras und ihrer Emotionalität. Der in Vers 79 ff. referierte Orakelspruch unterlegt die Szenerie mit bedroh‐ licher Spannung. Die hinterszenische, wenig greifbare Herakles-Handlung rückt so unmittelbar in den Fokus der Betrachtung, die Aussendung des Hyllos als Boten stellt seine Rückkehr und möglicherweise eine Heimkehr des Herakles in Aussicht. Hinterszenische und vorderszenische Aktion werden auf diese Weise direkt miteinander verknüpft; eine Zusammenführung der beiden Stränge ist somit nicht nur wahrscheinlich, sondern geradezu bestimmendes Moment der Aussicht auf das Kommende.

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Der Prolog hat so das zu Grunde liegende Personenverhältnis geklärt und den unmittelbaren Anlass zum Beginn der eigentlichen Bühnenhandlung gelie‐ fert.15 Parodos (v. 94 – 140)

Mit Vers 94 betritt der Chor trachinischer Frauen die Orchestra. Sein Kommen ist zunächst weitestgehend unmotiviert: Weder hatte der Prolog eine innerdra‐ matische Begründung für das Eintreffen der Frauen gegeben,16 noch äußern sich die Frauen zu Beginn des Liedes selbst über den Grund oder die Absicht ihres Kommens; dass sie ihrer Herrin in deren schwerer Situation Beistand leisten wollen, erhellt aus dem Fortgang der Parodos. Formal entfaltet sich das Lied dabei in zwei Strophenpaaren mit angehängter Epodos, wobei die Strophen‐ enden zugleich auch syntaktische und inhaltliche Einschnitte darstellen. Der Durchgang orientiert sich dementsprechend an der metrischen Gliederung des Liedes.

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Dass dabei die vorliegende Eingangsszene in dramaturgisch-formaler Hinsicht einen faden Beigeschmack hinterlässt, soll nicht verschwiegen werden. So sind die Auftritte der Personen innerdramatisch nicht motiviert (anders als in den übrigen Tragödien unseres Dichters, wo das Ankommen der Akteure an einem gewissen Ort (Philoktet, Oidipus Tyrannos, Oidipus auf Kolonos, Elektra), eine geplante Zusammenkunft (Anti‐ gone) oder – wie im Aias – eine aus dem Entschluss eines Charakters motivierte Szenerie den Auftakt bildet. Dementsprechend entbehrt der lange Monolog Deianeiras nicht nur eines Adressaten, sondern auch eines konkret nachvollziehbaren Anlasses. (Warum und wen informiert Deianeira gerade jetzt über ihr Leben und ihre Lage angesichts der Abwesenheit ihres Mannes, zumal die Amme als möglicherweise Angeredete bereits um den Zustand ihrer Herrin weiß?) Dass zudem Hyllos just im dramatisch notwen‐ digen Moment die Szenerie betritt, ist zwar an sich nicht zu tadeln; allerdings wird auch für sein Erscheinen kein Grund genannt, er stößt einfach dazu und ist ab diesem Mo‐ ment ungeachtet seiner etwaigen vorherigen Absichten und Beweggründe in die Hand‐ lung eingebunden. Vgl. dazu D AVIES (1991) S. 69. Diese Bedenken fallen nach dem An‐ stoß der Handlung und der Aussendung des Hyllos natürlich weniger ins Gewicht. Es bleibt allerdings festzuhalten, dass dem Beginn des Prologs die sonst zwingende dra‐ maturgische Einbindung fehlt. Im Vergleich mit den Prologen der übrigen Tragödien erscheint die Konstruktion des hier vorliegenden weniger raffiniert, mehr aus drama‐ tischer Notwendigkeit bestimmt als durch souveräne Anordnung der Handlung und geschickte Setzung ihres Anfangs geprägt. Zum Vergleich können wieder andere Tragödien unseres Autors dienen, in denen der Auftritt des Chors einer gewissen dramatischen Notwendigkeit folgt (z. B. der Auftritt der Schiffsbesatzungen im Aias und dem Philoktet) und im besten Fall eine Konsequenz aus der Prologhandlung oder der im Prolog ausgeführten Vorgeschichte darstellt (z. B. die Einberufung von Ratsversammlungen in der Antigone und dem Oidipus Tyrannos). Prolog und Auftrittslied greifen dann funktional ineinander und stehen so in einer der dramatischen Fiktion verpflichteten logischen Beziehung.

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Hatte Deianeiras Eröffnungsmonolog mit einer allgemeinen Sentenz be‐ gonnen, so betritt der Chor die Bühne unter der konkreten Anrufung einer Gottheit, mit einem personalisierten Gebet. Der namentlichen Nennung des in Rede stehenden Gottes samt der Verbalisierung ihrer Anrufung (Ἅλιον αἰτῶ v. 96) schicken die Frauen einen poetisch kunstvoll gebauten Relativsatz17 voraus: Sie wenden sich an den Gott, den die schillernde Nacht (αἰόλα νύξ),18 wenn sie schwindet, gebiert, den sie, wenn er leuchtet und glüht (φλογιζόμενον), zum Schlafen bringt (κατευνάζει). Die auf diese Weise personalisierte und durch ihr Wechselverhältnis zur Nacht charakterisierte Sonne solle, so die Bitte der Frauen, das Kind Alkmenes, d. h. Herakles, einem Herold gleich „ausrufen“ (καρῦξαι).19 Dass die Frauen dabei Kenntnis des genauen Aufenthaltsortes er‐ langen wollen, macht die folgende direkte Frage deutlich: „Wo hält er sich mir, wo hält er sich mir auf?“ (98 f.). Wie schon bei der Namensnennung unterstreicht auch hier die Gemination πόθι μοι πόθι μοι den wichtigsten Satzbestandteil und verleiht dem Sprechen des Chors eine emotionale, quasi-liturgische Färbung. Eine erneute Anrufung des „mit hellem Glanz Strahlenden“ (v. 99) verleiht der Frage besonderen Nachdruck; zugleich klingt in φλεγέθων das ebenfalls auf Helios bezogene φλογιζόμενον aus Vers 95 und damit die erste Apostrophierung des Gottes innerhalb des Liedes wieder an. Im Anschluss an L LOYD -J ONES20 sowie mit K AMERBEEK21 und D AVIES22 wird man die folgende Alternativangabe des Chors als umfassende Rahmung des Spektrums der Orte verstehen können, an denen sich Herakles möglicherweise aufhält: Entweder, so die trachinischen Frauen, bewohne Herakles die „ponti‐ schen Meerengen“ (Ποντίας αὐλῶνας) – halte sich also am Zugang zum Schwarzen Meer und damit im äußersten Osten des Mittelmeerraums auf – , oder er lehne an beiden Kontinenten (δισσαῖσιν ἀπείροις κλιθείς), d. h. am äußersten westlichen Ende des Mittelmeers, an dem sich Europa und Afrika besonders

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D AVIES (1991) beschreibt S. 78 die Konstruktion als „elaborate structure“ und sieht darin eine „complex and sophisticated adaption“ konventioneller Geburtsverweise bei der Götteranrufung. E ASTERLING (1982) kommentiert S. 86: „elaboration in the grandest style“. Auf das besonders vieldeutige Wort αἰόλος soll unten weiter eingegangen werden. Ich folge hier der Interpunktion des Textes, wie sie L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) in ihrer Textausgabe vorgenommen haben. L LOYD -J ONES (1954). „Sophoclea.“ in: CQ 4 (1954), S. 91 – 93. Er stützt sich in seiner Deu‐ tung zudem auf die Paraphrase der Scholien, die in den fraglichen Versen ebenfalls die Angabe einer maximalen Ost-West-Ausdehnung sehen. K AMERBEEK (1959). The Plays of Sophocles, Commentaries Part II The Trachiniae, Leiden, S. 49 f. D AVIES (1991) S. 80 f.

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nahe sind.23 Mit dem weit ausgreifenden Panorama, das durch die Nennung der Extrempunkte in Ost und West den gesamten Mittelmeerraum abdeckt, ist zu‐ gleich die motivische Geschlossenheit der Strophe gewährleistet: Der Chor voll‐ zieht den Weg der Sonne nach und führt ihr ausgreifendes „Gesichtsfeld“ vor Augen. Dementsprechend schließt eine erneute Anrufung des „gemäß der Seh‐ kraft Überragenden“24 (κρατιστεύων κατʼ ὄμμα) die Strophe: Ihn fordern die Frauen auf, nun Antwort zu geben (εἴπʼ v. 102). Mit der ersten Strophe ist der grundlegende Rahmen des Stasimons abge‐ steckt: Poetischer Impuls ist der Blick zu Helios, der als Allsehender prädesti‐ niert ist, Heraklesʼ momentanen Aufenthaltsort anzuzeigen. Die trachinischen Frauen sind dabei in besonderem Maß in das Geschehen involviert und mar‐ kieren mit Nachdruck ihre emotionale Beteiligung (beachtenswert v. a. das ver‐ doppelte μοι v. 99). Die Gegenstrophe bietet daraufhin eine Begründung für das vorgebrachte Gebet (γάρ v. 103) – und implicite auch für den Auftritt der Frauen: Der Chor, so die Formulierung in der ersten Person Singular, erfahre (πυνθάνομαι), dass die „umworbene“ (ἀμφινεικῆ) Deianeira, gleich einem unglücklichen Vogel, das Sehnen (πόθον) ihrer Augen nie zu Bett schicke und ihr Weinen unterbreche,25 sondern sich auf ihrem Lager erschöpfe, indem sie die Sorge um den Weg, d. h. den Aufenthaltsort und die Reisen ihres Mannes nähre und dabei eine unglück‐ selige Schickung (δύστανος αἶσα v. 111) befürchte. Halten wir kurz fest: Thematisch und formal ganz im Zentrum der Strophe steht Deianeiras Verlangen nach Herakles; die, wie E ASTERLING26 zu Recht fest‐ hält, typisch sophokleische etymologische Wiederholung ποθουμένᾳ und πόθον spiegelt die bereits in der ersten Strophe prominent eingesetzte poetische Figur der Wiederholung πόθι μοι πόθι μοι.27 Poetisch ausgestaltet wird Deianeiras emotionale Lage durch die Vergegenwärtigung ihres abendlichen Kummers. Indem sich die Frauen des Chors dabei ganz konkret Gram und Sorge der im

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Anders E ASTERLING (1982) S. 86, die unter den Πόντιαι αὐλῶνες schlicht „Meeresengen“ versteht und die beiden Kontinente mit Europa und Asien identifiziert. Für sie ist die vorliegende Passage „[a]n elaborate way of saying ‚on sea or on land‘“. D AVIES (1991) S. 81: „(pre-eminent) in power of sight“. Besonders kunstvoll freilich der proleptische Gebrauch des Adjektivs ἀδάκρυτος v. 106. Vgl. E ASTERLING (1982) S. 87 f. sowie D AVIES (1991) S. 82 ad locum. E ASTERLING (1982) S. 87: „Soph. likes repeating the same word at close intervals or echoing a word with another derived from the same root“, mit dem Hinweis auf die Verwandtschaft von εὐνάζειν und εὐναῖς, allerdings ohne Hinweis auf die Doppelung ἀνδρός und ἀνανδρώτοισι. Gleichfalls findet auch die p-Alliteration wieder Anwendung: ποθουμένᾳ γὰρ φρενὶ πυνθάνομαι. Vgl. v. 98.

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Bett Ruhe Suchenden vor Augen rufen, sind die zu Beginn des Liedes evozierte Thematik von Tag und Nacht sowie (freilich den trachinischen Frauen in ihrer Rolle unbewusst) Deianeiras eigene Worte aus Vers 29 f. aufgegriffen und in ein poetisches Bild überführt. Mit dem konventionellen Vergleich (trauernde Frau – klagender Vogel)28 in Vers 105 ist im Lauf der Schilderung eine Imagination auf‐ geworfen, die allerdings nicht weiter ausgeführt wird. Der Chor ist hier weniger am Vergleich als an der konkreten Verbildlichung einer bestimmten Situation interessiert, die als besonders eindrückliches Beispiel zur Charakterzeichnung Deianeiras und zur lebhaften Ausgestaltung ihrer momentanen Lage beiträgt. Auch der Beginn des zweiten Strophenpaars soll als Begründung des eben Vorgebrachten verstanden werden (γάρ v. 112): Der Chor bietet im Folgenden die Ursachen für Deianeiras Gram und Verlangen, indem er den Blick auf He‐ rakles richtet. Mit einem ausgreifenden Vergleich machen die Frauen zugleich auf die Gefahr, die Wandelbarkeit und die das normale Maß übersteigende Di‐ mension seines Lebens aufmerksam: Gleichwie man viele Wellen (πολλὰ κύματα) des unermüdlichen Süd- oder Nordwinds auf dem weiten Meer hinund herwogen sehen könne, so drehe es auch den Kadmosgeborenen,29 d. h. He‐ rakles, hin und her, die Mühe seines Lebens wachse, d. h. nehme bedrohliche Züge an wie das kretische Meer. Das poetische Bild ist zwar nicht der Lebensrealität der trachinischen Frauen entnommen, die wohl kaum selbst Seefahrt auf dem kretischen Meer betrieben haben. Gerade diese Differenz von Rollenerwartung und aufgerufener Bilder‐ welt aber lässt den Vergleich umso wirkungsvoller hervortreten. Die Voranstel‐ lung des tertium comparationis im ὥστε-Satz führt zunächst weg vom unmit‐ telbaren Zusammenhang, die weite Sperrung der zusammengehörenden Wörter πολλά und κύματα erzeugt nachdrücklich Spannung und erhöht die Aufmerk‐ samkeit, das in zwei Partizipien geschilderte Heranwogen der Wellen (βάντʼ ἐπιόντα) malt das poetische Bild in anschaulicher Ausführlichkeit. Das nach der Nennung des Vergleichspunktes nachgeschobene „wie das kretische Meer“ (v. 118 f.) unterfüttert das Bild mit einer konkreten Verortung, führt den Vergleich fort und lässt Herakles als von den tosenden Wellen des Meers eingerahmt in der Mitte der Strophe und der Imagination zu stehen kommen. Der im Bild drohenden Gefahr setzt der Chor zum Abschluss der Strophe eine beruhigende Erkenntnis entgegen: Einer der Götter halte Herakles immer fern von den Häusern des Hades. Die im Bild des brausenden Meeres evozierte Span‐ nung und konkretisierte Sorge um Deianeiras Mann entlädt sich hier in der 28 29

Vgl. u. a. Elektra 145 ff. und Aias 624 ff. Vgl. E ASTERLING (1982) S. 89: „a grand name for Heracles, meaning little more than ‚Theban‘; he was not one of Cadmusʼ descendants“.

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gottvertrauenden Sentenz, die ganz aus der Erfahrung der Frauen gesprochen scheint; schließlich sei Herakles bisher immer unversehrt zu seiner Frau zu‐ rückgekehrt. Mit diesem hoffnungsvollen Blick endet die Fokussierung auf Herakles, die zweite Gegenstrophe wendet ihren Blick wieder auf Deianeira und spricht sie direkt an.30 Ein zusammenfassendes Relativpronomen (ὧν) bildet den direkten Anschluss an das Vorangegangene: Während Deianeira sich über die ausge‐ führte Situation beklage (ὧν ἐπιμεμφομένας), wolle der Chor ihr zwar einen angenehmen (ἀδεῖα),31 allerdings von ihrer eigenen Meinung abweichenden Rat geben (ἀντία). Die ausdrückliche Meinung der Frauen (φαμὶ γάρ) sei, Deianeira dürfe die Hoffnung auf einen guten Ausgang nicht müde werden lassen: Der alles beherrschende Kronide, so die Begründung, werfe den Sterblichen nicht ein Leben ganz ohne Schmerzen zu. Vielmehr wälzen sich Leid und Freude auf alle Menschen, gleichwie die wiederkehrende Bewegung des Großen Bären am Himmel. Der Ratschlag an Deianeira bedient sich an unserer Stelle klassischer Motive der Konsolationsliteratur;32 die aus der Erfahrung gesprochene Sentenz vom Ende der vorangegangenen Strophe, Herakles werde immer durch göttlichen Einfluss vom Tod bewahrt, hat sich in der Gegenstrophe in eine tröstende An‐ sprache gewandelt. Der Chor ist so nach der Imagination der Umstände wieder ganz im dramatischen Augenblick angekommen und versucht, die problemati‐ sche Lage durch die Formulierung einer eigenen Meinung, d. h. durch eine Stel‐ lungnahme innerhalb der Situation einer Lösung zuzuführen. Die Berufung auf göttlichen Einfluss manifestiert dabei erneut nach der Anrufung des Helios zu Beginn des Liedes und der allgemeinen Formulierung τις θεῶν (v. 119) das starke Gottvertrauen der trachinischen Frauen. In der folgenden Epode untermauert der Chor schließlich seine eben vorge‐ tragene Gewissheit noch einmal unter allgemeineren Gesichtspunkten, bevor eine erneute direkte Ansprache an Deianeira und die wiederholte Bekundung des Vertrauens auf den Göttervater die Parodos schließen. Das vorherige ἐπὶ κυκλοῦσιν (v. 129 f.) aufnehmend konstatieren die Frauen: Nichts bleibe für die Sterblichen bestehen, weder die schillernde Nacht noch Unglück oder Reichtum; 30

31 32

Wahrscheinlich ein Indiz, dass Deianeira nach dem Prolog die Bühne nicht verlassen hat und dem Auftritt der Frauen still folgt. Ihre Anspielung auf das Singen und Tanzen der Jugend im direkten Anschluss an die Parodos (v. 144 ff.) mag als weiterer Beleg für ihre Augenzeugenschaft dienen. Das einhellig überlieferte Wort wurde von Musgrave in αἰδοῖα konjiziert, dem sich P EARSON (1924) und E ASTERLING (1982) anschließen; ich folge hier mit L LOYD -J ONES / W ILSON (1990) und D AVIES (1991) der Lesart der codices. Vgl. D AVIES (1991) S. 85.

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alles wandele sich sofort, sich freuen und der Freude beraubt werden folgen einander auf dem Fuß. Mit Blick darauf müsse auch Deianeira, die hier mit ἄνασσα zum ersten Mal eine spezifische Bezeichnung durch den Chor erhält, Hoffnung haben; denn wer habe Zeus jemals so unbekümmert im Umgang mit seinen Kindern gesehen? Damit ist nach den allgemeingültigen Aussagen noch einmal der eigentliche Anlass des Liedes in den Blick genommen: Zeus als Vater des Herakles wird um seinen Sohn, so die Gewissheit der trachinischen Frauen, auch weiterhin Sorge tragen. Mit dieser hoffnungsvollen Frage endet das Auf‐ trittslied des Chors. Kurz zusammengefasst: Auch in der Epode scheuen sich die Frauen nicht, dezidiert ihre eigene Meinung vorzutragen (λέγω v. 138). Mit den gnomischen Ausführungen zur Wandelbarkeit des Schicksals und der rhetorischen Frage am Schluss ist die tröstende Ansprache bewusst mit einer allgemeineren, theolo‐ gisch motivierten Sichtweise hinterlegt, die dennoch den aktuellen Anlass nicht aus dem Blick verliert. Die Parodos kann nun im Ganzen überschaut werden. Der direkte Anknüp‐ fungspunkt für die Äußerungen des Chors ist die momentane Lage Deianeiras, von der die trachinischen Frauen erfahren haben. Für die Zuschauer schließt das Auftrittslied direkt an die Ausführungen der Protagonistin vom Beginn des Prologs an und bildet so deren chorisches Echo, das der Chor allerdings mit einer gottesfürchtigen und zumindest vordergründig hoffnungsvollen Zuversicht un‐ terlegt. Deianeira ist dementsprechend ein Zentralpunkt der Reflexion: In ihrem In‐ teresse formulieren die Frauen ein Gebet an Helios, ihre abendliche Sorge erfährt eine umfangreichere Ausgestaltung, ihr gilt der Ratschlag, den Mut nicht sinken zu lassen. Aber auch Herakles widmet der Chor seine direkte Aufmerksamkeit: Sein Aufenthaltsort ist die vom Sonnengott erbetene Information, die Imagina‐ tion seines gefahrenvollen Lebens bildet die Mitte des Liedes, sein regelmäßiges Heimkehren und sein verwandtschaftliches Verhältnis zu Zeus geben Anlass zur Hoffnung. Dabei pendelt das Lied von Strophe zu Strophe zwischen den beiden Polen der Handlung, wie sie im Prolog etabliert wurden: Der in der ersten Strophe aufgeworfenen Frage nach Heraklesʼ Verbleiben folgend widmet sich die erste Gegenstrophe dem Verlangen Deianeiras, worauf das zweite Strophen‐ paar zunächst den ausführlichen Blick auf den abwesenden Helden lenkt und schließlich die Protagonistin explizit anspricht und zu beeinflussen sucht. Die abschließende Epode setzt die konsolatorische Motivik und Absicht fort, wendet sich erneut an Deianeira und schließt mit einem Verweis auf Herakles und seine besondere Beziehung zum Göttervater. Zudem lässt sich eine gewisse themati‐ sche Rahmung der gesamten Partie feststellen: Die Thematik des regelmäßigen

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Wechsels zwischen Tag und Nacht (v. 94 f.) charakterisierte zu Beginn der ersten Strophe rein deskriptiv den angesprochenen Gott und schien zunächst nichts mehr zu sein als eine poetische Ausgestaltung eines simplen, der Alltagswahr‐ nehmung entnommenen, immer wiederkehrenden Phänomens. In der zweiten Gegenstrophe und schließlich der Epode wird dagegen der ständige Wechsel als grundlegende Erfahrung menschlichen Daseins funktionell, d. h. in unserem Fall mit konsolatorischer Absicht umgedeutet; Deianeira solle gerade aus der Ge‐ wissheit, dass sich alles verändert, Hoffnung schöpfen. Wenn daher zu Beginn der Epode die Junktur αἰόλα νύξ (v. 132) wörtlich den Eingangsvers (94) der Par‐ odos wieder aufnimmt, ist nicht nur eine begriffliche Klammer zwischen Anfang und Ende des Liedes geschaffen. Vielmehr deutet die konsolatorische Motivik der Schlussstrophe und im Besonderen das Bild der αἰόλα νύξ geradezu rück‐ wirkend auch den Beginn des Liedes aus und rückt das Phänomen des Wechsels, des ständigen Auf und Ab als ein Grundmoment der Partie ins Bewusstsein. Anders gesagt: Bereits mit dem Beginn der Partie ist der motivische Kern der Parodos angerissen. Im Blick zu Helios und der Charakterisierung seines Ver‐ hältnisses zur Nacht ist also nicht nur das Motiv der Suche nach Herakles, son‐ dern bereits ein wesentliches Moment der Tröstung etabliert. Was als poetisches Detail den Beginn des Auftrittsliedes besonders anschaulich, die Anrufung des Gottes besonders feierlich zu gestalten schien, trägt, vom Ende her betrachtet, in sich bereits motivische Relevanz. Abzulesen ist diese Funktionalisierung an der Umdeutung der Nacht: War νύξ in der ersten Strophe schlicht der Gegenpart zu Helios und Partner im geschilderten Wechselverhältnis der beiden, so ist der Begriff in der Epode schließlich inhaltlich aufgeladen und innerhalb der kon‐ solatorischen Motivik verankert: In einer Reihe mit πῆμα und χαρά (v. 129) sowie κῆρες und πλοῦτος (v. 132 f.) steht die Nacht als menschliche Erfahrung, deren steter Wechsel Anlass zu Hoffnung und Zuversicht geben soll. In diesem Sinne entfaltet auch das Adjektiv αἰόλος seine ganze semantische Bandbreite:33 Schien es am Beginn der Parodos einzig den raschen Wechsel von Tag und Nacht zu untermalen, so ist mit ihm am Beginn der Epode das Kernthema „Wechsel und Veränderung“ in spezifisch konsolatorischer Hinsicht präsent. Mit der im‐ pliziten Andeutung im poetischen Bild vom Anfang des Liedes korrespondiert die Nutzbarmachung der Motivik innerhalb der Aussageabsicht der trachini‐ schen Frauen. Die gesamte Parodos ist so in subtiler Weise gerahmt: Der kon‐ krete Blick auf Deianeira und Herakles ist geradezu zwischen die bewusst all‐ gemeine Reflexion des Themenbereichs „Wechsel und Veränderung“

33

Vgl. LSJ s.v. „quick-moving“ sowie im Besonderen auf Farben bezogen „changeful of hue“.

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eingespannt. Dass damit ein ambivalenter Blick auf die Geschehnisse geworfen wird, liegt auf der Hand. In anderen Worten: Mit der zugleich prominenten wie nuancierten Thematisierung der Veränderlichkeit des Schicksals ist ein Grund‐ moment der folgenden Handlung angedeutet. Eine weitere dramaturgische Funktion des Auftrittsliedes liegt zudem offen zu Tage: Die Parodos macht die bereits im Prolog etablierte Personenkonstellation Deianeira-Herakles zu ihrem hervorstechendsten Strukturmoment. Der stro‐ phische Wechsel der Fokussierung beleuchtet mit den beiden Figuren der Hand‐ lung zugleich deren Pole und schafft so nach dem dynamisch angestoßenen Bühnengeschehen eine erneute Vergegenwärtigung des eigentlichen Rahmens der Handlung. Die poetische Ausgestaltung innerhalb des Liedes trägt damit nicht nur zur Charakterzeichnung der beiden Hauptpersonen bei, sondern un‐ terlegt die Handlung selbst mit einer Grundierung, auf der sich der Fortschritt und das Spannungsverhältnis der vorder- und hinterszenischen Aktion umso deutlicher abheben können. Machen wir uns zudem klar: Das Lied begann als anrufender Hymnos an Helios mit der drängenden Frage nach Heraklesʼ Aufenthaltsort und endete als eine tröstende Ansprache an Deianeira. Der Chor beginnt mit einem aus dem Prolog stammenden Impuls, führt anschließend seinen Blick mit den poetischen Bildern in der Mitte des Liedes aus der dramatischen Realität fort, um schließlich mit der Fokussierung auf Deianeira und ihren Gefühlszustand den sich an‐ schließenden Wiederauftritt bzw. die erneute Wortmeldung der Protagonistin vorzubereiten. Anders gesagt: Zuschauer und Leser sind nach der konsolatori‐ schen Partie der Parodos wieder im Geschehen angekommen. Mit der Selbst‐ verortung des Chors, dem bewussten Ratschlag der trachinischen Frauen an Deianeira ist die Personenkonstellation der nun folgenden Szene abgesteckt;34 die Handlung kann, nach der lyrischen Verarbeitung ihrer personalen und strukturellen Grundlagen, nun weitergehen. Mit der ausführlichen Gestaltung des konsolatorischen Abschnitts ist zudem ein allgemeiner Ausblick auf den weiteren Fortgang der Tragödie gegeben. Indem der Chor die Wandelbarkeit des menschlichen Schicksals zur Begründung seiner tröstenden Worte anführt, stellt er bei Lesern und Zuschauern einen un‐ mittelbaren Wechsel der Gefühlslage Deianeiras in Aussicht. Es ist demnach vorauszusehen, dass der Fortgang der Handlung mit einem emotionalen Um‐ schwung verbunden sein wird.

34

Vgl. B URTON (1980) S. 49: „Communication is thus established between her [Deianeira] and the maidens of Trachis“.

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II. Frauenchöre

Dass dem Chor dabei die eigentliche Prologhandlung, d. h. die Aussendung des Hyllos sowie die Andeutungen über die Deianeira hinterlassene Botschaft, unbekannt sind, entspricht ganz und gar der Konvention: Auch in der vorlie‐ genden Tragödie reflektiert der (noch) nicht vollständig über den gegenwär‐ tigen Stand der Dinge informierte Chor über ein spezifisches Moment der Aus‐ gangssituation. Das Auftrittslied ist demnach eine in gewisser Weise rückblickende, vertiefende Partie, die bewusst nach dem unmittelbaren Anstoß der Handlung eine dramatische Pause darstellt. Dass Sophokles in der Eingangspartie der Tragödie auf eine tiefgreifende und effektvolle Emotionalisierung der Szenerie, d. h. den Einsatz eines lyrischen Wechselgesangs verzichtet hat, fällt gerade beim Vergleich mit der Elektra ins Auge. Die Ausgangssituationen der beiden Dramen weisen gewisse Ähnlich‐ keiten auf: Hier wie dort wartet die weibliche Protagonistin auf das Eintreffen ihres männlichen Gegenparts (Herakles bzw. Orest) und leidet unter der mo‐ mentanen Situation. Während allerdings Elektra erst nach dem Prolog die Bühne betritt und nach einer Monodie in einen ausgreifenden Kommos mit dem Chor eintritt, heben sich im vorliegenden Stück die Formteile stärker voneinander ab: Statt einen lyrischen Großabschnitt zu komponieren, lässt der Dichter hier Prolog, Kommos und anschließenden Monolog der Protagonistin hinterei‐ nander folgen. Die Übergänge sind dabei logisch passgenau,35 d. h. sie bieten keine Überraschung (der Monolog Deianeiras unterbricht das Chorlied in seiner Reflexion genauso wenig wie die einsetzende Parodos die Prologhandlung, die mit der Aussendung des Hyllos zu ihrem natürlichen Schlusspunkt gelangt war36), sondern erwecken eher den Eindruck einer geordneten Folge von Aufund Abtritten, geklärter dramaturgischer Wichtigkeit und einer subtileren Emo‐ tionalität, die nicht in drastischen Ausbrüchen hervortritt.37 Anstatt also eine hochemotionale Eingangspartie zu schaffen und den Auftritt der Protagonistin durch einen entsprechenden Bühneneffekt im Stil der Elektra zu betonen, lässt Sophokles Deianeira von Anfang an in der Handlung präsent sein; ihr Auftritts‐ monolog, die poetische Nutzbarmachung der spezifischen Personenkonstella‐ 35 36

37

Vgl. B URTON (1980) S. 49S. 49 : „The transition from the song to speech is thus perfectly natural both psychologically and dramatically“. Anders z. B. am Ende des dritten Stasimons der Elektra, das durch den Auftritt der Prot‐ agonistin in einen Wechselgesang übergeht, oder dem ersten Auftritt der Titelheldin selbst, die sich durch einen Aufschrei hinter der Bühne in das Prologgeschehen ein‐ mischt, bevor sie physisch auf der Bühne erscheint. Dementsprechend konnte Deianeira ihren Anfangsmonolog schon relativ abgeklärt mit dem wiedergegebenen Diktum beginnen und so reflektierend auf ihr Leben zurückbli‐ cken. Die Tröstungen am Ende der Parodos suchen zudem die bis zu diesem Punkt gesteigerte Anschaulichkeit und Drastik auf ein gewisses Maß zu reduzieren.

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tion in der Parodos und der dem Auftrittslied folgende Monolog heben ihre Person in einer anderen, weniger emotionalen als vielmehr dramatur‐ gisch-strukturellen Weise hervor. Ein mit der dramaturgischen Ökonomie des Sophokles vertrauter Zuschauer bzw. Leser ist sich nach der Eingangspassage der Tragödie indessen bewusst, dass der Kulminationspunkt von Drastik und Emotionalität noch folgen wird. Chorlied im ersten Epeisodion38 (v. 205 – 224)

Etwa sechzig Verse nach dem Ende der Parodos beginnt der Chor ein Lied, dessen genaue Nomenklatur noch Gegenstand der Betrachtung sein wird. In‐ nerhalb der kurzen Szene hat sich die Situation für Deianeira und damit die dramatische Realität erheblich gewandelt. Deianeira hatte zunächst in einem ausgreifenden Monolog (knapp 40 Verse) auf das Lied des Chors geantwortet: Auch wenn die Frauen von ihrem Leid erfahren hätten (πεπυσμένη als bewusste Reminiszenz an πυνθάνομαι v. 103), könnten sie es in ihrer Position als unverheiratete und kinderlose παρθένοι kaum nachvollziehen. Sie selbst habe schon viel Leid erfahren, die momentane Situation stelle sie dagegen vor eine bisher unbekannte Bedrohung: Die ihr von Herakles auf der schon im Prolog erwähnten Schreibtafel hinterlassene Weis‐ sagung prophezeie, dass ihr Mann nach einer Abwesenheit von dreizehn Mo‐ naten entweder sterben oder sein restliches Leben glücklich verbringen würde. Aus diesem Grund habe er bei seinem letzten Abschied bereits für den Fall seines Todes Anordnungen getroffen, welchen Teil des Vermögens sie an sich nehmen müsse und wie das heimatliche Land unter den Kindern zu teilen sei. Nun sei der Zeitpunkt gekommen, der die Verwirklichung dieses in Dodona erhaltenen Orakelspruchs bringen müsse. Dieser Umstand setze sie in solche Furcht, dass sie bei dem Gedanken, ohne den besten aller Männer leben zu müssen, aus dem Schlaf aufschrecke. Bevor Deianeira in der Schilderung ihrer Sorge fortfahren kann, unterbricht sie der Chor mit einer Auftrittsankündigung: Ein bekränzter Mann, also ein Überbringer guter Nachrichten, nähere sich dem Schauplatz (v. 178 f.). In direkter Ansprache an die Protagonistin verkündet der solchermaßen Bezeichnete seine Botschaft, um, wie er selbst sagt, Deianeira von ihrer Ver‐ drossenheit zu befreien (ὄκνου σε λύσω): Herakles lebe,39 habe den Kampf sieg‐

38 39

Zur Problematik der Nomenklatur siehe unten. Die Benennung des Helden durch die Angabe seiner Mutter (τὸν Ἀλκμήνης τόκον) in Vers 181 nimmt unter Umständen begrifflich die Formulierung des Chors aus Vers 97 wieder auf. Dem Zuschauer wird so klar, dass mit der Nachricht des Boten die Frage des Chors beantwortet wurde. Freilich erschließt sich die Bezugnahme dabei einzig dem Rezipienten des Dramas, da der Bote das Chorlied ja nicht gehört hat.

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II. Frauenchöre

reich überstanden und bringe den Göttern des Landes Dankopfer dar. Auf die Nachfragen der Protagonistin führt er aus, dass er diese Nachricht vom Herold Lichas gehört habe, der dem Volk die frohe Kunde gerade eben auf einer Weide verkündet; dieser befinde sich inmitten einer Volksmenge, die ihm das Weiter‐ gehen noch unmöglich mache: Zu groß sei das Bedürfnis der Menschen, Infor‐ mationen aus erster Hand zu erhaschen. Trotzdem stellt der Bote Deianeira das baldige Eintreffen des Herolds in Aussicht (v. 199). Deren Reaktion auf die Schilderungen des Boten ist bestimmt von Erleichte‐ rung und Dankbarkeit: Ihre Emotionen brechen zunächst in einem Anruf an Zeus hervor, der ihr nun endlich, wenn auch nach langer Zeit der Entbehrung, Freude geschenkt habe. Ihre Worte gelten weiterhin den Frauen innerhalb und außerhalb des eigenen Haushalts, d. h. den eigenen Bediensteten und den tra‐ chinischen Frauen des Chors,40 die sie auffordert, das unverhoffte Licht dieser Kunde (ἄελπτον ὄμμα φήμης τῆσδε) gebührend zu besingen (φωνήσατʼ, ὦ γυναῖκες). Dieser Aufforderung kommt der Chor sofort nach und beginnt in Vers 205 sein Lied. Machen wir uns die dramaturgischen Implikationen der vorangegangenen Szene klar. Der mit der konsolatorischen Passage gegen Ende der Parodos in Aussicht gestellte (erste) emotionale Umschlag hat stattgefunden: Heraklesʼ Aufenthaltsort ist bekannt – mehr noch, er ist bereits auf dem Weg zu seiner Frau. Die bis zu diesem Zeitpunkt ungewisse und nur in Vermutungen, Ge‐ rüchten oder bildhaften Ausgestaltungen greifbare hinterszenische Handlung hat an Schärfe gewonnen, Heraklesʼ Präsenz ist deutlich gesteigert, sein physi‐ sches Erscheinen auf der Bühne in greifbare Nähe gerückt. In dieser Situation singt der Chor ein nicht strophisch komponiertes,41 wahr‐ scheinlich mit ausgreifendem Tanz42 unterlegtes freudenvolles Lied und setzt damit Deianeiras emotionalen Ausbruch fort. Die Ode präsentiert sich demnach als anlassgebundenes Auftragslied, das ganz in der aktuellen dramatischen Si‐ tuation verankert ist, d. h. mit dem Fokus auf Deianeira und sozusagen aus ihrer Gefühlslage heraus den plötzlichen Wandel der Stimmung ausleuchtet und kommentiert.

40 41 42

E ASTERLING (1982) S. 103: „The women whom D. bids rejoice are (i) the members of her household (αἱ εἴσω στέγης) and (ii) the Chorus of Trachinian visitors (αἱ ἐκτὸς αὐλῆς)“. E ASTERLING (1982) S. 104: „The song is astrophic, i.e. not divided into metrically res‐ ponding units“. E ASTERLING (1982): „Dancing is clearly indicated by 216 ff.“ a. a. O.

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Mit einer mehrgliedrigen Imperativkette stecken die trachinischen Frauen den Rahmen der Gefühlsäußerung ab: Das kurz vor einer Hochzeit stehende Haus43 soll in heimatliches Jauchzen ausbrechen, dazu soll der gemeinsame Gesang der Männer Apoll als Beschützer feiern, während die Mädchen sich selbst auffor‐ dern, einen Paian zu singen sowie Artemis, die Schwester des eben benannten Gottes, und die Nymphen anzurufen. Mit dieser ersten Periode ist ein mehrfa‐ ches Panorama eröffnet: Den Angesprochenen (der ganze Haushalt, geteilt in Männer- und Frauengruppe) stehen die konkreten Gefühlsäußerungen (ἐφεστίοις ἀλαλαγαῖς, κοινὸς κλαγγά und παιᾶν) sowie die angerufenen Gott‐ heiten (Apoll, Artemis, Nymphen) entgegen. Dabei verbindet sich mit der all‐ gemeinen ersten Apostrophierung des gesamten δόμος die am wenigsten kon‐ krete Aufforderung, während die Spezifizierung der Adressaten mit einer Konkretisierung der preisenden Tätigkeit einhergeht. Der Chor spannt so einen umfassenden Bogen, der das unmittelbare Bühnengeschehen und die anwe‐ senden Personen zu übersteigen sucht: Die an Deianeira ergangene Botschaft von Herakles soll allen mit der Handlung in Berührung Stehenden Grund zur Freude sein, die imaginierte Jubelfeier das gesamte Personal der dramatischen Fiktion umfassen. Die Anrufung der Gottheiten überschreitet zudem das reine Bühnengeschehen. Indem der Einfluss göttlichen Handelns anerkannt und wertgeschätzt wird, interpretiert der Chor die Situation unter theologischen Gesichtspunkten und sieht sich in seiner gottesfürchtigen Haltung, wie sie in der Parodos ausgestaltet wurde, bestätigt. Sprachlich lässt dabei Sophokles die Emotionalität und Situativität des Liedes auf der einen sowie den ihm innewohnenden Selbstbezug des Chors auf der anderen Seite durch klangliche und syntaktische Stilisierung besonders hervor‐ treten. Der Beginn der Ode erregt durch die onomatopoetische Silbenhäufung ἀνολολυξάτω … ἀλαλαγαῖς Aufmerksamkeit, die durch die Wiederholung44 παιᾶνα παιᾶνʼ (v. 210 f.) herausgehobene Selbstaufforderung des Chors nimmt als letztes Glied der Kette zugleich die Mitte der Periode ein, die reichhaltige Ausstaffierung der Götternamen mit mehreren Appositionen und Adjektiven (v. a. Artemis als Bezugspunkt des Chors selbst: εὐφαρέταν Ἀπόλλω προστάταν, ὁμόσπορον Ἄρτεμιν Ὀτρυγίαν, ἐλαφαβόλον, ἀμφίπυρον, γείτονάς τε Νύμφας) wirkt überschäumend und ist ganz aus dem freudigen Überschwang der Situation gesprochen.

43 44

Mit L LOYD -J ONES (1990), E ASTERLING (1982) und D AVIES (1991) folge ich der Konjektur von Burges und lese δόμος μελλόνυμφος. Vgl. E ASTERLING (1982) S. 105: „The repetition suggests the ritual cry ἰὼ (or ἰὴ) παιάν, ἰὼ (ἰὴ) παιάν“.

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II. Frauenchöre

Mit der folgenden Periode (v. 216 – 220) thematisiert der Chor seine eigene Absicht (und damit sein momentanes Tun45): Er fühlt sich in die Höhe gehoben (αἴρομαι) und wird den αὐλός nicht von sich stoßen. Der angeschlossene Vo‐ kativ an den Herrscher über das Bewusstsein (ὦ τύραννε τᾶς ἐμᾶς φρενός v. 217) – gemeint ist entweder der Klang des Instruments oder, im Vorgriff auf das Kommende, Dionysos46 – macht deutlich: Die Frauen befinden sich im Zustand ekstatischer Verzückung. Ganz konkret benennen sie die dem Dionysos heilige Pflanze als Ursache ihres Taumelns: Der Efeu (ὁ κισσός v. 219) wühle sie auf, indem er „bakchischen Wetteifer“ (Βακχίαν ἅμιλλαν) aufwirbele (ὑποστρέφων). Das Lied verbalisiert so die Tanzbewegungen des Chors selbst47 und benennt die göttliche Begeisterung, die von den Frauen Besitz ergriffen hat, als Ursache des Tanzens. In der konkreten Ausgestaltung der Freude erweitert sich still‐ schweigend das Panorama des göttlichen Einflusses und nimmt über Apoll, Ar‐ temis und die Nymphen hinausgehend auch Dionysos als den Gott rasender Ausschweifung in den Blick. Die Fokussierung auf die dramatische Situation hat zudem an dieser Stelle ihren Höhepunkt erreicht: Nachdem die umfassende Aufforderung zu Beginn des Liedes die gesamte Sphäre des Personals in den jubelnden Ausbruch einzubinden suchte, bekunden die Frauen nun ganz explizit mit der eigenen Tätigkeit ihre Verortung sowie ihr Aufgehen in der dramati‐ schen Situation. Dagegen stellt der folgende, das Lied beschließende Abschnitt (v. 221 – 224) den Übergang zur weiteren Handlung dar. Die Frauen des Chors haben wahr‐ genommen, dass sich Lichas mit einer Gruppe von Kriegsgefangenen nähert. Nach einem erneuten begeisterten Ausruf (ἰὼ ἰὼ Παιάν) wenden sie sich direkt an Deianeira (ὦ φίλα γύναι) und fordern sie zum genauen Hinschauen auf; schließlich sei es ihr jetzt möglich, die Geschehnisse vor ihren Augen genau zu verfolgen. Was ist mit dieser wortreichen Ansprache der Protagonistin geleistet? Indem der Chor Deianeiras Blick auf die herankommenden Akteure richtet, lenkt der Dichter Zuschauer und Leser auf den Fortgang der Handlung. Damit allerdings nicht genug. Wenn an diesem Punkt, wie der Chor betont, die Handlung vor Augen zu betrachten ist, macht er damit deutlich: Jetzt tritt das bis zu diesem Punkt hinterszenische Geschehen um Herakles direkt auf die Bühne, die Aus‐ wirkungen von Heraklesʼ Tun sind nun vor aller Augen greifbar, mehr noch: Deianeira, die bisher zur Passivität gezwungen war, kann ab jetzt aktiv am Ge‐ 45 46 47

Vgl. D AVIES (1991) S. 104 zu Vers 216. Vgl. E ASTERLING (1982) S. 107 ad locum. Vgl. B URTON s (1980) Analyse der Passage mit Blick auf die Tanzschritte S. 52.

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schehen teilnehmen. Die Verknüpfung der beiden Handlungsstränge ist damit in entscheidendem Maß fortgeschritten. Machen wir uns an diesem Punkt die Struktur des vorliegenden Liedes sowie die dramaturgischen Implikationen noch einmal bewusst. Nachdem zu Beginn der gesamte Haushalt Deianeiras, d. h. alle zur Verfügung stehenden Personen zum Jubel aufgerufen wurden, thematisieren die Frauen anschließend ihr ei‐ genes Tun und inszenieren damit die dramatische Situation als solche, bevor sie schließlich mit einer auf die Grundstruktur der Handlung hinweisenden Blick‐ wendung den kommenden Auftritt vorbereiten.48 Das Lied deutet in diesem Sinn die nach der Botenmeldung eingetretene Situation emotional aus, entwirft ein gedoppeltes Panorama der Nutznießer (Menschen) und Urheber (Götter) der freudigen Nachricht und leitet in die sich unmittelbar anschließende Handlung über. Auffallend ist dabei, dass das Lied keine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Anlass der Freude bietet: Weder wird Herakles namentlich genannt, noch wird seine baldige Heimkunft thematisiert. Einzig in der Bezeichnung des Hauses als μελλόνυμφος (v. 207) ist eine thematische Andeutung gegeben, die freilich vor dem Hintergrund der folgenden Entwicklung besonders ambivalent bleibt. So wissen die Frauen des Chors, die mit der Heimkunft des Herakles ein Wiederaufleben der Ehe zwischen ihm und Deianeira erwarten, noch nicht, dass sich der Held in eine neue Frau verliebt hat, deren Ankunft am Ort des Gesche‐ hens unmittelbar bevorsteht. Es bleibt allerdings bei dieser kurzen und nur aus dem Fortgang der Handlung zu verstehenden Andeutung. Anstatt also den erreichten Handlungsfortschritt auszudeuten, fungiert der Chor an unserer Stelle als Sprachrohr und wirkungsvoller Lautsprecher der Emotionen Deianeiras. Ihre Sicht der Dinge ist wieder Auslöser für die lyrische Wortmeldung der Frauen, die an dieser Stelle sogar von der Protagonistin selbst angestoßen und in Auftrag gegeben wird. Dabei erlauben die Fixierung auf Dei‐ aneira und die ekstatische Weiterführung ihres Gefühls der Freude und Dank‐ barkeit die wirkungsvollste, weil direkte Teilnahme am Geschehen: Das Lied inszeniert Deianeiras Erleichterung samt der des Chors für eine kurze Zeit‐ spanne als bestimmendes Moment der Szenerie. Hatte die Parodos in ihrem Wechsel der Blickrichtung auf Herakles und seine Frau die Grundstruktur der Handlung verdeutlicht und die unmittelbare Situation damit im Gefüge der Dramaturgie und Personenkonstellation verankert, so ist der Chor an unserer Stelle direkt am Puls des Geschehens, d. h. an Deianeira und ihrer Ausdeutung der Nachricht – und auf Grund der Identifikation mit dem Geschehen ganz bei 48

Ganz zu Recht betont E ASTERLING (1982) S. 107 den durch die Kontrastierung erreichten Bühneneffekt: Mit dem Ende des exaltiert freudigen Chorliedes treten die Kriegsgefan‐ genen in hoffnungsloser Stimmung auf die Bühne.

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II. Frauenchöre

sich selbst, d. h. bei seinem Tanzen als Reaktion auf die unverhoffte Nachricht. Dabei scheint das Lied in seiner rauschhaften, ekstatischen Betonung des Hier und Jetzt den Zusammenhang sowie die eigentliche thematische Einordnung der Szenerie kurz aus dem Blick zu verlieren. Indem es ganz in der Situation aufgeht und in seiner Verbalisierung des aktuellen Bühnengeschehens (Tanzen und Freude) dieses verdoppelt, inszeniert es eine emotional aufgeladene Pause im Fortgang der Handlung. Das Geschehen wird dabei nicht wirklich ausge‐ leuchtet oder reflektiert; vielmehr erfahren der aktuelle Moment sowie die Emotion der Hauptheldin eine besonders effektvolle chorische Ausgestaltung, die den Fortgang der Handlung für eine kurze Zeit anhält. Diese dramaturgische Einordnung spiegelt sich auch in der Positionierung des Liedes wider: Anstatt auf die kurze Botenszene ein strophisches Stasimon anzuschließen und damit die Bühnenhandlung auch formal für einen Moment der chorischen Reflexion zu einem vorläufigen Ende zu führen,49 schiebt So‐ phokles ein emotionales, ex tempore entstehendes Lied ein, das die Identifikation der Frauen des Chors mit Deianeira in einem bisher unbekannten Ausmaß ze‐ lebriert und die dramatische Gegenwart im Sinne eines kurzen und intensiven Schlaglichts effektvoll ausleuchtet. Als Vorbereitung der kommenden Lichas-Szene übernimmt es gerade durch seine letzte Periode (v. 221 – 224) eine überleitende Funktion. Das Lied ist dementsprechend unmittelbar in den dra‐ matischen Ablauf eingesetzt. Anders gesagt: Sowohl der Übergang von der Bo‐ tenszene zum Chorlied als auch vom Chorlied zur Lichas-Szene ist logisch, emotional und dramaturgisch passgenau. In der Fügung der einzelnen Formteile arbeitet Sophokles dabei mit sehr starken Kontrasten: Scheint sich die Hoffnung des Chors, Heraklesʼ Aufenthaltsort zu erfahren und Zeuge seiner wohlbehal‐ tenen Rückkehr zu werden, zunächst erfüllt zu haben, so wird auch die ins Eks‐ tatische gesteigerte Freude des vorliegenden Liedes nur kurze Episode bleiben. Die grelle Ausleuchtung der Emotionalität, ja ihre Überzeichnung durch das vorliegende Lied erweist sich bereits kurze Zeit später als verfrüht: Die im Lied zelebrierte Jubelstimmung wird spätestens ab der Mitte des kommenden Epeis‐ odions zur Folie, vor der sich das unheilvolle, durch den Auftritt der Kriegsge‐ fangenen eingeleitete Geschehen umso deutlicher abzeichnen kann. Das Lied kommt dabei zwar nicht vor der eigentlichen Katastrophe zu stehen,50 fungiert

49 50

D AVIES (1991) S. 101: „Instead of the expected first stasimon, S[ophocles] presents us with an astrophic chorus positioned between iambic scenes“. Vgl. dazu die direkt vor dem Einbruch katastrophaler Wendungen bzw. Ereignisse ge‐ setzten Chorpartien in anderen Tragödien unseres Dichters (Oidipus Tyrannos drittes Stasimon, Antigone fünftes Stasimon, Aias zweites Stasimon).

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allerdings als kontrastreiches und effektvolles Präludium der sich in Kürze ent‐ faltenden Geschehnisse. Die Nomenklatur des vorliegenden Liedes wirft einige Probleme auf. Mit Ver‐ weis auf die Scholien hält B URTON fest, dass das vorliegende Lied kein Stasimon im eigentlichen Sinne sei, sondern vielmehr mit dem – allerdings problemati‐ schen – Gattungsnamen „Hyporchema“ bezeichnet werden könne.51 Schon J EBB52 nahm diese Zuordnung vor – „this lively ‘dance-song’ (ὑπόρχημα)“ – und geht in seiner Interpretation so weit, die einzelnen Abschnitte des Liedes unter den beiden Halbchören und dem gesamten Chor aufzuteilen; die letzten drei Verse kämen demnach der Chorführerin zu. K AMERBEEK53 formuliert die These der Aufteilung des Textes auf verschiedene Sprecher etwas vorsichtiger und verwirft die Zuteilung der letzten Verse an die Chorführerin: Supposing that the whole song is not sung by all the choreutai together, 205 – 215 may have been sung by one semi-chorus, the other dancing, 216 – 220 vice versa, and 221 – 224 by the whole chorus.54

Des Weiteren macht er auf die Problematik des verwendeten Gattungsbegriffs aufmerksam, wenn er sagt: If we apply the name ὑπόρχημα to this and similar odes in Sophocles […] we must be aware of the losseness and arbitrariness of our terminology.55

Auf Grund der Überlegung, dass Singen und Tanzen gleichzeitig für die Cho‐ reuten unmöglich sei, erwägt er zudem, dass weitere Frauen (αἱ εἴσω στέγης γυναῖκες) die Orchestra betreten und während des Liedes tanzen.56 R ODE57 schließlich äußert sich in seiner kurzen Behandlung astrophischer Lieder in der Tragödie zu unserer Stelle:

51

52 53 54 55 56 57

B URTON (1980) S. 50. Zum Begriff des Hyporchema vgl. die ausführliche Darstellung von D IEHL (1914). „Hyporchema.“ in: RE Band 17, Sp. 338 – 343, der zwar festhält, die frühe Nähe des Hyporchema zum Dithyrambos bzw. zum Satyrspiel „prädestinierte diese Art des Chorliedes zur Verwendung in der Tragödie“, allerdings zu bedenken gibt: „Das Wesen des H. läßt sich aus den dürftigen Resten alter H. der Lyriker nicht er‐ gründen“ (a. a. O.). J EBB (1962). Sophocles The Plays and Fragments with critical notes, commentary and translation in English prose: Part V The Trachiniae, Cambridge (repr. of 1908), S. 34. K AMERBEEK (1959) S. 70 f. A. a. O. A. a. O. „We may even consider the possibility that αἱ εἴσω στέγης γυναῖκες enter the orchestra and dance while the choreutai are singing“ a. a. O. in: J ENS (1971) S. 94.

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II. Frauenchöre

Die drei Partien Sophokles Trachinierinnen 205 – 224, Euripides Elektra 585 – 595 und Bakchen 1153 – 1164 schließlich sind stark bewegte Freude- und Jubellieder, die wohl nach dem Vorbild der außerdramatischen Gattung des Hyporchema gebildet sind

und gibt in einer Anmerkung zu bedenken: Die Hyporchemata waren nach antiker Theorie […] stark mimetisch und wohl auch astrophisch. Die – allerdings geringen – Reste, die von dieser Gattung erhalten sind, widersprechen dieser Theorie nicht.58

Die Diskussion bei E ASTERLING59 problematisiert die sich aus dem Text des Liedes selbst ergebenden Implikationen hinsichtlich einer formellen Einordnung: So enthalte das Lied Bestandteile, die es sowohl als ὀλολυγμός, als Paian oder als Dithyrambos ausweisen könnten; die Schlussfolgerung lautet daher: „Soph. seems to have made an amalgam of different lyric elements.“60 Man wird P ICKARD -C AMBRIDGE zustimmen müssen, wenn er zum Begriff Hyporchema festhält: „[…] there was considerable confusion over the applica‐ tion of the word hyporcheme even in antiquity.“61 Die Zuweisung dieses Gat‐ tungsbegriffs auf einzelne Partien innerhalb der überlieferten Dramen durch moderne Wissenschaftler sei weniger an inhaltlichen oder dramaturgischen Gesichtspunkten orientiert gewesen, but on a desire to distinguish these songs from normal stasima, which they took (in‐ correctly) to be sung by a static chorus: these songs demanded energetic dance.62

Sein Fazit lässt die Gattungsfrage bewusst offen: […] but the categories of ancient lyric cannot any longer be determined with any precision: indeed it is doubtful whether even Alexandria was altogether clear what they stood for.63

Machen wir uns angesichts dieser Lage klar: Die formelle Gattungseinteilung des vorliegenden Liedes ist schwierig, wenn nicht unlösbar. Mit dem Begriff ὑπόρχημα ist nichts Wesentliches gewonnen, auch der Versuch, inhaltlich bzw. mit Blick auf die angerufenen Gottheiten die Passage einer etablierten chorly‐ rischen Gattung zuzuordnen, kommt über E ASTERLINGs „Amalgamierung“ ein‐ zelner Elemente nicht hinaus. Genau da aber liegt die eigentliche Wirkabsicht 58 59 60 61 62 63

A. a. O. E ASTERLING (1982) S. 104. A. a. O. P ICKARD -C AMBRIDGE (21968) S. 256. A. a. O. A. a. O.

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der Komposition: Das Lied stellt innerdramatisch den unmittelbaren emotio‐ nalen Reflex des Chors auf Deianeiras Aufforderung dar. Seine dramaturgische Einbindung und Relevanz wurde oben ausgeführt; angesichts der dort heraus‐ gearbeiteten Brisanz und Situativität der chorischen Äußerung müssen formelle Gattungsfragen zunächst zurückstehen. Sophokles komponiert an unserer Stelle bewusst ein Lied, das nur schwer in Kategorien einzuordnen ist, und lenkt damit den Blick ganz explizit auf die dramatische Situation und deren überbordende Emotionalität. D AVIES, der sich zu keiner weiteren These hinsichtlich einer for‐ mellen Einordnung hinreißen lässt, formuliert mit seiner bereits zitierten Aus‐ sage64 den Kern der Problematik: Sophokles unterwandert die formelle Erwar‐ tung seines Publikums in radikaler Form, indem er nach der kurzen Botenszene die Handlung weder für ein erwartbares Stasimon noch einen Wechselgesang zwischen Chor und Protagonistin unterbricht, sondern ein kurzes, rauschhaftes und astrophisch komponiertes Chorlied einschiebt, das als wirkungsvoller Kon‐ trast zum folgenden Auftritt der Kriegsgefangenen die unmittelbare Stimmung in Szene setzt. Die Beschäftigung mit Gattungsfragen bleibt an diesem Punkt nach der Klärung der dramaturgischen Relevanz müßig.65 Erstes Stasimon (v. 497 – 530)

Auf die relativ kurze Botenszene folgt nach dem eben behandelten Lied der umso ausführlichere Teil des Epeisodions: In der über 270 Verse langen Partie bis zum ersten Stasimon wird ein erneuter Umschlag der Stimmung Deianeira zur ak‐ tiven Teilnahme am Geschehen motivieren. Der aufgetretene Lichas gibt – zunächst Schritt für Schritt auf die Fragen Deianeiras antwortend, schließlich im Monolog (v. 248 – 290) – die wesentlichen Informationen bekannt: Herakles lebe, sei bei guter Gesundheit und erfülle durch Opfer seine Gelübde gegenüber den Göttern (v. 233 – 241). Die mit auf die Bühne gebrachten Frauen seien Kriegsgefangene aus der Stadt des Eurytos, die Herakles mit seinem Heer eingenommen habe (v. 244 f.). Der Vorgeschichte dieses Konflikts widmet Lichas eine komplizierte und weitgreifende Ausfüh‐ rung: Herakles sei von Eurytos beim Gastmahl geschmäht worden und habe daher hinterrücks dessen Sohn Iphitos getötet. Das allerdings stieß beim Göt‐ 64 65

Vgl. S. 284, Anm. 49. Es ist ohnehin fraglich, ob sich die Chorpassagen der Dramen überhaupt einer jewei‐ ligen Gattung zuordnen lassen – und ob eine solche Zuteilung, so richtig sie unter formalen Gesichtspunkten auch sein mag, sinnvoll ist. Die vorliegende Untersuchung zeigt an vielen Punkten, wie geschickt und souverän Sophokles formale Momente etab‐ lierter dramatischer und außerdramatischer Formen verarbeitet, um mit der jeweiligen Komposition eine bestimmte Wirkung auf sein Publikum auszuüben, d. h. genuin dra‐ maturgische Ziele zu erreichen.

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tervater Zeus auf Missfallen, der einen offenen Kampf der beiden Konkurrenten zu schätzen gewusst hätte, wohingegen er die mit List ausgeführte Tat, wie alle Unsterblichen, als Hybris verabscheue (262 – 280). Daher habe er veranlasst, dass Herakles zur Strafe an Omphale verkauft wurde und ihr ein Jahr lang dienen musste. In dieser Zeit habe der Held geschworen, den für seine üble Situation Verantwortlichen mitsamt Frauen und Kindern selbst zu versklaven, was er mit der Eroberung der Stadt des Eurytos in die Tat umgesetzt habe. Noch bevor Deianeira den Bericht des Lichas kommentieren kann, wirft die Chorführerin ein, nun sei für ihre Herrin sowohl auf Grund der augenscheinli‐ chen Situation als auch der berichteten Begebenheiten die Freude offensichtlich (v. 291 f.). Deianeira selbst wendet ihren Blick auf die Gefangenen: Sie erfüllt die Anwesenheit der Frauen trotz aller Freude mit Jammer. In einem spontanen Gebet wendet sie sich an Zeus: Er solle ihrem eigenen Haus nie in dieser Weise entgegenrücken, und wenn doch, dann nur nach ihrem eigenen Tod (v. 303 – 306). Besonders ergreift die Protagonistin eine Frau aus der Menge, die sie direkt anspricht, nach ihrem Stand und ihrer Herkunft fragt. Doch weder von der Ge‐ fangenen selbst noch von Lichas erhält sie eine Antwort; letzterer betont, über die Identität der Frauen und speziell dieser einen nichts zu wissen. Schließlich gibt sich Deianeira zufrieden und lässt Lichas samt den Kriegs‐ gefangenen ins Haus treten, nicht ohne ihnen eine gute Behandlung von ihrer Seite zu versprechen; schließlich sei das gegenwärtige Leid der Frauen bereits groß genug, sie selbst wolle dem nichts hinzusetzen. Den Abtritt Deianeiras, die sich anschickt, im Haus alles in rechter Ordnung bereitzustellen, verhindert al‐ lerdings der während der Szene still auf der Bühne verbliebene Bote (v. 334 ff.). Er kann Deianeira trotz anfänglichem Zweifel zum Bleiben überreden und ent‐ faltet in einer ausführlichen Rhesis (v. 351 – 374) schließlich die wirkliche Vor‐ geschichte der Situation, wie er sie selbst von Herakles gehört habe: Nicht die Entehrung bei Omphale oder der Tod des Iphitos und dessen Konsequenzen waren das Motiv für die Einnahme der Stadt, sondern schlicht das Verlangen nach Eurytosʼ Tochter Iole (v. 354 f.) – eben jener Kriegsgefangenen, die von Deianeira gerade befragt und ins Haus aufgenommen worden war. Da nämlich ihr Vater einer Verbindung mit Herakles nicht zustimmte, habe dieser einen kleinen Vorwand gesucht, kurzerhand die Stadt des Eurytos überfallen, und so‐ eben seine neue Geliebte nach Hause geschickt. Deianeira ist fassungslos (v. 375 ff.), lässt sich durch den Boten erneut versi‐ chern, dass sie gerade Iole, die Tochter des Eurytos, in ihr Haus aufgenommen hat, und fragt nach einem entrüsteten Zwischenruf der Chorführerin die Frauen um Rat. Auf deren Empfehlung konfrontiert sie den wieder aus dem Haus ge‐ tretenen Lichas mit den Vorwürfen. Es entwickelt sich eine umfangreiche Dia‐

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logszene zwischen den drei Akteuren (Deianeira, Lichas, Bote), die schließlich in einem ausführlichen Monolog der Protagonistin mündet (v. 436 – 469): Ein‐ dringlich bittet sie Lichas, die Wahrheit zu sagen. Immerhin habe sie Verständnis für alles Menschliche; sich Eros, der sogar über die Götter nach Gutdünken herrsche, in den Weg zu stellen, sei sowieso aussichtslos. Mit der eben ins Haus geführten Iole habe sie Mitleid, zudem sei noch keine Frau, mit der sich Herakles verband, von ihr geschmäht worden. Nach einer kurzen Beteuerung des Chors äußert sich schließlich auch Lichas: Was der Bote über Herakles, die Motivation seines Tuns und sein neues Ver‐ hältnis gesagt habe, entspreche der Wahrheit. Der Heros selbst habe kundgetan, dass ihn ein überaus großes Verlangen nach Iole ergriffen hatte. Nun aber solle Deianeira um Heraklesʼ willen auch dessen neue Geliebte freundlich aufnehmen und die einfühlenden Worte von eben nicht wirkungslos gesprochen haben. Deianeira stimmt Lichas zu: Sie wolle die nun einmal eingeschleppte Krankheit (νόσον ἐπακτόν v. 491) nicht noch vergrößern, sondern sich nach drinnen be‐ geben, um dem Herold eine Botschaft sowie Geschenke für Herakles zu über‐ geben. Nach Vers 496 verlassen die Akteure die Bühne und überlassen dem Chor die ungeteilte Aufmerksamkeit der Zuschauer. Die referierte Szene entwickelte dramatisch höchst wirksam durch die Prä‐ sentation einer Trugrede, die anschließende Richtigstellung, die Konfrontation der beiden Kontrahenten und Deianeiras überraschende Stellungnahme einen zentralen Wendepunkt der Tragödie. Die Umdeutung des Geschehens erstreckt sich nicht nur auf die eben erfolgte Aufnahme der Iole ins Haus, sondern be‐ einflusst ebenso die Wahrnehmung der hinterszenischen Handlung sowie mit der Gestalt des Herakles deren zentralen Akteur. Seine baldige Ankunft steht nun unter anderen Vorzeichen. Deianeiras Reaktion ist dabei überraschend: Hatten wir die Protagonistin bis jetzt als eine emotionale, ja im besten Sinne theatralische Figur kennengelernt, überwiegt nach der spontanen ersten Erwi‐ derung (v. 375 ff.) gegen Ende des Epeisodions eine abgeklärtere, milde, beinahe reflektierte Zurückhaltung, die thematisch und stimmungstechnisch das fol‐ gende Chorlied prägen wird. Gegen eine mögliche Erwartungshaltung folgt auf die radikale Wendung hinsichtlich der Stimmung und der Charakterzeichung des Herakles kein Lied, das – wie die vorangegangene Ode – ganz in der Emotionalität der Szene auf‐ geht. Mit dem Abgang Deianeiras hat die unmittelbar vom Geschehen Beein‐ flusste die Bühne verlassen und rückt auch im Stasimon erst gegen Ende wieder

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ausführlich in den Horizont der Reflexion;66 zugleich scheint sich der Chor von der direkten dramatischen Realität zu lösen und unter allgemeinerer Perspektive eine Einordnung der Situation vorzunehmen. Formal gesehen handelt es sich beim vorliegenden Chorlied um ein Stro‐ phenpaar mit anschließender ausgreifender Epode bzw., um mit B URTON zu sprechen, einer als Triade komponierten Ode.67 Es entfaltet in seinem Hauptteil eine farbige Szene aus der Vorgeschichte der Handlung. Mit einer apodiktischen Aussage beginnen die Frauen ihre Äußerung: Kypris, die personifizierte Liebe, lege eine große Macht an den Tag (ἐκφέρεται) und bleibe in Auseinanderset‐ zungen immerzu Sieger (νίκας ἀεί). Mit diesem Anfang ist klargestellt: Unmit‐ telbarer Anknüpfungspunkt an die dramatische Situation ist das Phänomen der Liebe, wie es Deianeira in ihrem Monolog (v. 441 ff.) selbst dargestellt hat. Dass im weiteren Anschluss an Deianeira auch die von ihr angerissene Wettkampf‐ thematik für die Reflexion des Chors von zentraler Bedeutung ist, wird durch νίκας ἀεί bereits deutlich. Der Chor fährt mit einer Einschränkung fort: Göttergeschehen wollen die Frauen übergehen (παρέβαν68), auch die Täuschungen von Zeus, Hades und dem erderschütternden Poseidon durch die Liebe sollen nicht Gegenstand der Re‐ flexion sein. Stattdessen eröffnet eine doppelte Frage den direkten Blick auf den zu behandelnden Sachverhalt: Was für Kämpfer sind zum Streit um diese Braut (τάνδʼ ἄκοιτιν v. 503) zusammengekommen? Wer hat diese Wettstreite, reich an gegenseitigen Schlägen, ganz in den aufgewirbelten Staub gehüllt, auf sich ge‐ nommen? Dass den trachinischen Frauen dabei konkret der Kampf um Deia‐ neira vor Augen steht, wird spätestens aus dem Folgenden ersichtlich; mit ei‐ niger Sicherheit können wir annehmen, dass mit dem der abgetretenen Protagonistin hinterherblickenden Demonstrativpronomen τάνδʼ eine Geste verbunden war, die die Zuordnung zu Deianeira verdeutlichte. Das Stasimon hat auf diese Weise rasch nach dem abstrakten Beginn seine Verortung innerhalb des Handlungsgefüges gefunden. Die prominente Liebesthematik des vorange‐ gangenen Epeisodions gibt dem Chor Anlass, auf die Situation der umworbenen

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Die erste, im weiteren Verlauf noch thematisierte Nennung durch das Demonstrativum in Vers 503 bildet geradezu den Auftakt und wird durch die breitere Schilderung von Deianeiras Verhalten während des Kampfes ab Vers 523 wieder aufgenommen. Vgl. B URTON (1980) S. 58: „As to the form into which Sophocles has cast this ode, the general similarity of the rhythm all through into the first half of the epode (522) suggests that we should regard the whole as a single triad rather than as two strophes and an epode“. Zum Aorist vgl. E ASTERLING (1982) S. 135 und D AVIES (1991) S. 139, der ihn mit Kannicht als „emphatischen“ Aorist bezeichnet.

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Deianeira und konkret das Kampfgeschehen zurückzublicken. Damit ist der Rahmen der nun folgenden Imagination abgesteckt. Die Frage nach den Kombattanten findet mit der Gegenstrophe ihre Beant‐ wortung: Der eine (ὁ μέν) war der mächtige Fluss Acheloos von Oiniadai – einem Ort nahe der Mündung des Stroms – in Gestalt eines hochgehörnten und vier‐ füßigen Stiers (ὑψίκερω τετραόρου), als zweiter (ὁ δέ) kam aus dem bakchischen Theben der Sohn des Zeus (παῖς Διός). Waren es bei Acheloos seine Stärke und die tierische Gestalt, die zur poetischen Schilderung seines Auftritts erwähnt wurden, so ist es hier die Bewaffnung des Helden, deren Aufzählung sich der Chor widmet: Herakles trägt Pfeil und Bogen (τόξα), Speere (λόγχας) und eine Keule (ῥόπαλον) bei sich. Die beiden Kämpfer sind durch die lebendige Ausge‐ staltung ihres Auftritts vor dem geistigen Auge der Choreuten und der Zu‐ schauer präsent; formell gesehen gruppieren sich die einzelnen Attribute um die Herkunftsbezeichnungen,69 die auf engstem Raum in Vers 510 aneinander stoßen – eine kunstvolle Verbalisierung des Zusammenkommens der beiden Akteure an einem Ort, die mit ἐς μέσον (v. 514) fortgesetzt wird. Ab Vers 513 nimmt der Chor nach den Einzelbeschreibungen der beiden Streitenden deren konkrete Aufstellung zum Kampf, sozusagen die Topographie des Geschehens in den Blick: „Diese gingen damals dicht gedrängt70 in die Mitte [sc. des Kampfplatzes], da sie nach der Eheschließung [mit Deianeira] ver‐ langten“. In der Mitte des Platzes, d. h. zwischen den Kämpfern,71 war Kypris selbst als Kampfrichterin zugegen. Diese Funktionalisierung der Gottheit als Schiedsrichterin mag zunächst verwundern: Zu Beginn des Stasimons war von Kyprisʼ eigener Stärke die Rede gewesen sowie ihr Handeln als letztlich überle‐ gener Widerpart verschiedener Gottheiten erwähnt worden. Statt aber, wie nach dem Eingang zu erwarten, die Liebe auch im eigentlichen Hauptgegenstand der Reflexion als unmittelbar Beteiligte in einer Auseinandersetzung zu insze‐ nieren – und freilich als Siegerin hervorgehen zu lassen – , kommt ihr in der Imagination des Chors eine andere Rolle zu. Die konkrete Szenerie des Wett‐ kampfs zwischen den Freiern Deianeiras steht so in Kontrast zum Beginn des Stasimons und den dort geweckten Assoziationen bzw. Erwartungen.

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Auf die Konstruktion weist auch E ASTERLING (1982) S. 136 hin: „the chiastic arrange‐ ment emphasizes the symmetry of the contestants“. Auf den bemerkenswerten Gebrauch von ἀολλεῖς weisen E ASTERLING (1982) S. 137 und D AVIES (1991) hin, der S. 143 bemerkt: „only here of two people“. Vgl. J EBB (1962) S. 80: „ … refers to the umpire as an impartial judge between two com‐ petitors“.

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Das der Gottheit zukommende Adjektiv εὔλεκτρος – „bringing wedded hap‐ piness“72 – ruft erneut die das Lied umspannende Heiratsthematik auf und ver‐ knüpft diese expressis verbis mit der personifizierten Göttin, deren erste Nen‐ nung den Beginn des Stasimons markierte. Das Lied hat bis zu diesem Punkt in einer gerundeten Komposition alle beteiligten Personen benannt und unter diesen den drei Akteuren innerhalb des Rückblicks einen Platz zugewiesen: Kypris bildete als personifizierter Handlungsimpuls den Beginn, Deianeira die konkrete Motivation, sozusagen den Kampfpreis, wohingegen Acheloos und Herakles als Kämpfer sowie wiederum Kypris als Schiedsrichterin den perso‐ nellen Rahmen der imaginierten Szene darstellen. Dass dabei Deianeira selbst (noch) nicht innerhalb der Kampfesanordnung verortet ist, das gesamte Pano‐ rama also noch nicht komplett vor Augen steht, lässt zunächst aufhorchen. Zwar ist sie als in Aussicht gestelltes Ziel des Kampfes der Situation subtil einbe‐ schrieben (v. a. in der Formulierung ἱέμενοι λεχέων, zudem im auf Kypris bezo‐ genen Adjektiv εὔλεκτρος), ihre durch sie selbst im Prolog allerdings ausge‐ führte Augenzeugenschaft des Geschehens (v. 20 ff.) hat noch keinen konkreten Niederschlag in der Gestaltung der Szenerie gefunden. Das Augenmerkt liegt zunächst auf dem Kampfgeschehen als solchem und wird sich aus dramaturgi‐ schen Gründen erst am Ende des Stasimons konkret auf Deianeira fokussieren. Die Frage nach den zum Streit Angetretenen hat einen umfassenden Blick auf die Situation eröffnet, in die – wie B URTON formuliert – mit Beginn der Epode / der dritten Strophe Leben kommt:73 War bisher nur die Aufstellung der Kämpfer, ihr Weg zum Ort des Streits geschildert worden, so nimmt der Chor im Folgenden den eigentlichen Kampf in den Blick. Den Beginn der vorange‐ gangenen Strophe syntaktisch durch die anaphorische Wiederholung des ἦν aufgreifend (ἦν (v. 507) – τότʼ ἦν (v. 517) – ἦν δέ …)74 legt die folgende Schilderung zunächst besonderen Wert auf die akustischen Phänomene des Kampfes: Es gab das Getöse (πάταγος) der Hände, der Pfeile und der Stierhörner zu hören. Wei‐ terhin werden die engen Umklammerungen der Kämpfer (ἀμφίπλεκτοι κλίμακες), die gegenseitigen Treffer auf die Stirn des Gegners (μετώπων πλήγματα) und mit dem Stöhnen beider Kombattanten (στόνος ἀμφοῖν) wieder

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LSJ s.v. B URTON (1980) S. 56: „In the epode (516 – 22) the scene comes to life“. Vgl. E ASTERLING s (1982) Einschätzung S. 137: „The use of anaphora […] contributes to the elevated effect. The atmosphere is heroic, but there is something sinister in the impressionistic description of the fight, in which man and beast are made to merge“. Zum vorliegenden sogenannten schema Pindaricum, d. h. der Folge: Prädikat im Sin‐ gular – Subjekt im Plural, vgl. D AVIES (1991) S. 145.

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eine akustische Begleiterscheinung des Geschehens vom Chor ins Gedächtnis gerufen. Der Blick der Frauen schweift nach dieser kurzen, aber intensiven Fokussie‐ rung auf die eigentliche Auseinandersetzung hin zu Deianeira, der nun ein Platz innerhalb der Szenerie zugewiesen wird. Der Kontrast zur Schilderung des ge‐ walttätigen, lauten und dynamischen Spektakels ist bewusst ausgestaltet: Die Protagonistin der aktuellen Bühnenhandlung, als „reizend“ und „schön“ apo‐ strophiert (εὐῶπις ἁβρά), sitzt mit einigem Abstand zum Kampfgeschehen auf einem Hügel (τηλαυγεῖ παρʼ ὄχθῳ), wobei sie ihren zukünftigen Ehemann er‐ wartet. Der von den Frauen des Chors in der Beschreibung Deianeiras geäußerte Vers 526 stellt die Herausgeber und Kommentatoren vor Schwierigkeiten: „Ich aller‐ dings rede wie eine Mutter.“ Das als drittes Wort einhellig überlieferte μάτηρ fällt nach der communis opinio in solchem Maß aus dem inhaltlichen Zusam‐ menhang, dass es kaum mit der vorliegenden Selbstverortung des Chors in Ver‐ bindung gebracht werden kann.75 E ASTERLING76 und D AVIES77 folgen beide der Konjektur von Zieliński und lesen θατήρ, „Zuschauer“. Einen Versuch, die über‐ lieferte Lesart beizubehalten, stellt M C D EVITTs Miszelle dar,78 deren Überzeu‐ gungskraft allerdings von D AVIES gering geschätzt wird.79 L LOYD -J ONES / W ILSON sehen sich in ihrer Textausgabe gezwungen, den ganzen Vers in cruces zu setzen und erwägen im Anschluss an die Streichung der gesamten Schluss‐ partie (v. 526 – 530) durch Wunder und Bergk: „it is possible that the passage really comes from another play.“80 Fest steht: Der problematische Vers beinhaltet eine Einschätzung der eigenen Worte des Chors. Betrachten wir ihn als syntaktischen Einschub in die Schilde‐ rung von Deianeiras Warten auf den Ausgang des Gefechts, dann spricht, nüch‐ tern betrachtet, zunächst nicht viel gegen die von den Handschriften überlieferte Lesart des dritten Worts: Der Chor würde sich während seiner Fokussierung auf

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Vgl. E ASTERLING (1982) S. 138: „The MS reading μάτηρ makes no acceptable sense in the context and may well have been influenced by ματρός at 529“. K AMERBEEK (1959) S. 124 nennt die Stelle einen „locus conclamatus“, listet einige Konjekturen auf und urteilt: „But of the many conjectures none is convincing“. E ASTERLING (1982) a. a. O. D AVIES (1991) S. 147. M C D EVITT (1982) „Sophocles Trachiniae 526 – 530“ in: Hermes 110 (1982) S. 245 – 247. D AVIES (1991) a. a. O.: „The latest attempt at defence […] does not convince any more than earlier ones“. L LOYD -J ONES /W ILSON S OPHOCLEA (1990) S. 161. Diese radikale Athetierung enthöbe uns zudem der Schwierigkeit, die Schlussverse des Stasimons deuten zu müssen. Siehe die Ausführungen ad locum.

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Deianeira seiner eigenen Verbundenheit mit ihr bewusst;81 dass dabei das Alter der Frauen82 der Selbstapostrophierung als Mutter widerspricht, kann nicht wirklich überzeugen. Verstehen wir die Aussage des Chors als vom eigenen Mitfühlen mit Deianeiras Schicksal überraschten und spontanen Einwurf, so bildet gerade die Tatsache, sich als junge Frau wie die Mutter der Betroffenen zu äußern, den Grund der Überraschung angesichts des eigenen Gefühls und somit die Motivation für die vorliegende Bemerkung. Angesichts der damit an‐ gedeuteten persönlichen Involvierung der Frauen des Chors wirkt die Konjektur θατήρ – „Ich spreche wie ein Zuschauer / Augenzeuge“ – etwas blass. Auch wenn ich damit vorsichtig andeuten möchte, dass die einhellig überlieferte Textvariante weit besser in den Kontext der Stelle eingeordnet werden könnte, als es die Anzahl der Konjekturen vermuten lässt, bleibt die Stelle dennoch nicht zuletzt auf Grund der Abfolge der Partikel verdächtig.83 Der Fokus bleibt auch in den abschließenden Versen auf Deianeira gerichtet: Ihr umworbener und zu bemitleidender Blick (ἀμφινείκητον ὄμμα ἐλεινόν) wartet auf den Ausgang des Kampfes; von ihrer Mutter hat sie sich rasch gleich einem einsamen Kalb (πόρτις ἐρήμα) entfernt.84 Mit dieser Beschreibung der

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Vgl. C AMPBELL (1881; Nachdruck 1969) zweiter Band, S. 293: „It is another question whether the conjecture founded upon this [i.e. die Interpretation eines Scholiasten zur Stelle] […] gives a better sense than the reading in the text. […] The Chorus had not been present at that distant scene, but in imagining it they feel a mother’s tenderness for her.“ Der gleiche Autor äußert sich später anerkennend zu J EBB s (1962) Konjektur („extremly plausible and ingenious“), will aber dennoch die Parallele zu Elektra 233 nicht missachtet wissen (C AMPBELL (1907). Paralipomena Sophoclea Supplementary Notes on the Text an Interpretation of Sophocles, London (Nachdruck Hildesheim 1969). S. 170). K AMERBEEK (1959) a. a. O. formuliert – als ausdrücklichen Widerspruch zu C AMPBELL (1881) – den Einwand: „The obvious objection to it is of course that the Chorus consists of young maidens (cp. 143 sqq.)“. C AMPBELL , A.  Y. (1958). „Sophoclesʼ Trachiniae: Discussions of some Textual Prob‐ lems.“ in: CQ 52 (1958), S. 18 – 24, S. 21 urteilt u. a. wegen der Abfolge ἐγὼ δὲ μάτηρ μέν … τὸ δʼ: „526 is an inorganic series of Greek words.“ So auch L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) im Apparat zur Stelle: „suspicionem movent et sensus et collocatio verborum“; ihre darauf folgende Einschätzung: „exspectares ut de pugna adhuc ancipiti diceretur“ teile ich allerdings nicht: Der Blick des Chors hat mit Vers 523 das Kampfgeschehen verlassen und widmet sich bis zum Ende des Stasimons ganz Deianeira. Die abschließenden Verse des Liedes bleiben in einigen Punkten rätselhaft: Worauf zielt der Vergleich Deianeiras mit der Färse genau? Dass Deianeiras Einsamkeit herausge‐ hoben werden soll, ist unstrittig (wirkungsvoll die Positionierung des ἐρήμα am Ende des Liedes). Warum aber ist sie „rasch“ (ἄφαρ v. 529) von ihrer Mutter fortgelaufen? Möglicherweise sind im poetischen Bild die typischen Eigenschaften der Färse auf sie übertragen. Die bereits zitierte Andeutung von L LOYD -J ONES /W ILSON S OPHOCLEA (1990) S. 161, die Verse 526 – 530 könnten möglicherweise aus einem anderen Stück stammen, gewinnt angesichts dieser Schwierigkeiten an Plausibilität.

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abseits sitzenden Frau endet das Stasimon, ohne noch einmal zum Kampfge‐ schehen zurückzukehren oder dessen Ausgang mitzuteilen. Der Auftritt Deia‐ neiras in Vers 531 mündet daraufhin in einen umfassenden Monolog; mit der Schilderung der einsamen Protagonistin am Rand der imaginierten Szenerie hat der Chor damit für mehr als fünfzig Verse seine letzte Äußerung vorgebracht. Die inhaltliche Struktur des Liedes ist offensichtlich: Hatten die ersten beiden Strophen die grundlegende Motivation und den topographisch-personellen Rahmen der vor dem inneren Auge wachgerufenen Szene eröffnet, so kam es der Epode zu, die eigentliche Kampfeshandlung zu beleuchten und mit dem Blick auf Deianeira die Szenerie zu vervollständigen. Inwieweit dabei die Schilderung der trachinischen Frauen mit Deianeiras Aussagen im Prolog korrespondiert, das Chorlied sozusagen einen lyrischen Reflex dieser Andeutungen darstellt, hat D AVIES ausgeführt, der die teilweise wörtlichen Bezug- und Wiederauf‐ nahmen in einer Gegenüberstellung verdeutlicht.85 Sein Fazit It often happens in Greek tragedy that a choral passage is succeeded by a scene in iambic trimeters which treats the same material in different manner […]. Here, ho‐ wever, the sequence is reversed […] and the two treatments are separated by a large number of lines.“86

ist zwar richtig, bleibt allerdings rein deskriptiv. Wir wollen hier einen Schritt weiter gehen und nach der dramaturgischen Relevanz und Brisanz dieser Kon‐ struktion und des ganzen Liedes fragen. Die thematische Ausrichtung der chorischen Partie mit ihrem fokussierten Blick auf die Liebe und ihre Macht ist zunächst verwunderlich: Anstatt konkret auf die neuesten Entwicklungen einzugehen, reflektiert der Chor die den Ge‐ schehnissen zu Grunde liegende Wirkmacht und versetzt sich im Anschluss an das wechselvolle Epeisodion in die Vergangenheit. Anders gesagt: Die Trugrede des Lichas, ihre Richtigstellung sowie Deianeiras Reaktion auf Heraklesʼ Taten spielen für die trachinischen Frauen in ihrer Reflexion keine konkrete Rolle; ihr Blick gilt zunächst allgemein dem Phänomen der Liebe, schließlich konkret der imaginierten Szenerie aus der dramatischen Vorgeschichte. Impuls der imagi‐ nierenden Reflexion ist nicht das eigentliche Handlungsgeschehen, sondern im Anschluss an Deianeiras Räsonieren (v. 441 ff.) ein geradezu sezierender Blick

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D AVIES (1991) S. 136 f. D AVIES (1991) a. a. O.

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in die tieferen Schichten des Geschehens.87 Der Chor setzt den Berichten über Heraklesʼ Handeln, dem wechselvollen Geschehen auf der Bühne sowie den all‐ gemeingültigen Aussagen Deianeiras über die Macht der Liebe seine lebhafte und farbreiche Imagination entgegen. Zugleich kommt er damit – freilich un‐ bewusst – Deianeiras im Prolog geäußerten Aufforderung nach, ein anderer möge die Geschehnisse rund um den Kampf ihrer beiden Freier erzählen (v. 22 f.). Nachdem das Epeisodion mit der Aufnahme der Iole und der Richtigstellung der Verhältnisse zu einem spannungsvollen Ruhepunkt gekommen ist, füllt das erste Stasimon dramaturgisch diesen Moment der Pause. Es lenkt den Blick zu‐ nächst aus der eigentlichen Situation fort – um sie, wie sich zeigen wird, gerade dadurch umso wirkungsvoller auszuleuchten. Dabei gilt: Mit der Thematisierung des Kampfes um Deianeira als umworbene Braut verbalisiert der Chor ein Geschehen der dramatisch fernen Vergangenheit. Dennoch stiftet die grundlegende Liebesthematik eine Verbindung zu Heraklesʼ Taten rund um die Stadt des Eurytos und seiner Leidenschaft für Iole. In beiden Fällen ist jeweils erotisches Verlangen die Motivation des Handelns, also Aph‐ rodites Macht wirksam. Diesen Zusammenhang sprechen die trachinischen Frauen allerdings nicht explizit aus, die Übertragung bleibt vielmehr ganz dem Rezipienten überlassen. Auch eine Wertung von Seiten der Frauen, gar eine Einordnung von Heraklesʼ Tun in moralischen Maßstäben findet sich dabei nicht. Aber nicht nur hinsichtlich der grundlegenden Thematik „Liebe und Ver‐ langen“ steht das Stasimon in engem Bezug zur Handlung. Dass sich die im Stasimon imaginierte Szene und die mittlerweile im Handlungsverlauf erreichte Personenkonstellation spiegelbildlich entsprechen, erhellt aus Deianeiras Mo‐ nolog, mit dem sie nach dem Stasimon ihr Vorhaben erläutern wird: Rivalisierten beim durch den Chor geschilderten Kampf zwei Männer um eine Frau, so sieht sich Deianeira nun vor die Aufgabe gestellt, die Zuneigung ihres Mannes zu‐ rückgewinnen zu müssen (vgl. besonders v. 550 f.); mit Iole und ihr stehen nun zwei Frauen im Streit um einen Mann. Ohne also konkret, d. h. expressis verbis auf die Geschehnisse des vergangenen Epeisodions einzugehen, leistet das Sta‐ simon dennoch einen wesentlichen Beitrag zur Ausleuchtung der Situation. Durch die Einblendung einer dem unmittelbaren Zusammenhang zunächst ent‐ hobenen Szenerie spiegelt es die aktuelle und – wie der Fortgang der Handlung zeigen wird – zutiefst konfliktreiche Ausgangslage kurz vor dem Einschreiten Deianeiras unter veränderten Vorzeichen. Nicht nur die allgemeine Liebesthe‐ 87

Einen ganz ähnlichen reflektorischen Zugang beschreitet das dritte Standlied der An‐ tigone, das – auch thematisch mit dem vorliegenden Lied verwandt – den Liebeswahn Haimons als grundlegendes movens der vom Chor miterlebten Streitszene ausmacht.

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matik, sondern auch die brisante Personenkonstellation verankern so das Lied im dramatischen Kontext. Natürlich sind dabei die Parallelen nicht deckungs‐ gleich; die grundlegende Situation eines durch Liebesleidenschaft entbrannten Konflikts zweier Personen um eine weitere bildet allerdings eine feste motivi‐ sche Klammer und trägt wesentlich zur dramaturgischen Brisanz des Stasimons bei. Dabei zielt das Lied im Besonderen auf den unmittelbaren Fortgang der Handlung und rückt als kontrastierendes Präludium des kommenden Epeis‐ odions vor allem Deianeira in den Fokus der Aufmerksamkeit. Rufen wir uns, um diese Aussage zu untermauern, zunächst noch einmal die Komposition des Stasimons, die Abfolge der Bilder in Erinnerung. Ihren Anfang nehmen die Ausführungen bei der personifizierten Liebe, blenden dann die Szene aus der Vergangenheit ein und bleiben bei Deianeira sozusagen mitten im Bild hängen. Mit dem allgemeinen, theologisch-gnomischen Beginn des Liedes kontrastiert der beinahe intime Blick auf die den Ausgang des Kampfes erwartende junge Frau. Anders gesagt: Fluchtpunkt des Liedes ist Deianeira und ihr Verhalten angesichts des Kampfes. Von seinem Ende her liest sich das Stasimon also we‐ niger als eine möglichst farbige Imagination der Vergangenheit oder ein Sie‐ geslied auf Herakles bzw. die Liebe,88 sondern als Zeichnung der Heldin; es wird damit zur zielführenden Hinleitung auf den Wiederauftritt Deianeiras. Die Schilderung ihres anmutigen Abwartens zeigt sie dabei, wie sie bisher in der Tragödie aufgetreten ist: Wirklich in den Gang der Geschehnisse eingegriffen hat sie nicht; einzig in der – allerdings durch die Amme evozierten – Aussendung ihres Sohnes trat sie als wirklich Handelnde in Erscheinung, wohingegen sie sonst dem eigentlichen Geschehen, das maßgeblich durch Herakles geprägt war, gegenüberstand. Das Bild, das der Chor am Ende des Stasimons von Deianeira zeichnet, spiegelt die in Erwartung ihres Ehemanns (vgl. v. 525) ausharrende Heroine.89 Zum kommenden Auftritt steht es damit in scharfem Kontrast: Dei‐ aneira wird mit Beginn des neuen Epeisodions aktiv in die Handlung eintreten und bewusst die Initiative ergreifen. Pikant ist dabei die zeitliche Relation: Ge‐ 88

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Zu Recht sind sich E ASTERLING (1982) und D AVIES (1991) einig, im Stasimon den Cha‐ rakter eines Epinikions, geradezu pindarische Elemente wiederzufinden: E ASTERLING (1982) S. 133: „There is a strong flavour of the epinician ode in this lyric“; D AVIES (1991) S. 137: „There are numerous features which remind us of Pindar“. Dass dabei, wie E AS‐ TERLING (1982) festhält, nicht Herakles, sondern letztlich Aphrodite Gegenstand der preisenden Verehrung ist („His [i.e. Sophoclesʼ] victorious athlete is not a magnificent mortal but the goddess Aphrodite“ S. 134.), ist ganz und gar richtig. Vgl. B URTON (1980) in seiner Interpretation der Epode S. 56: „[…] Deianeira’s patient and lonely waiting in the play, as she described herself in the prologue and as the chorus depicted her in the second stanza of the parodos“.

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rade während sich der Chor auf der Bühne eine Szene der Vorgeschichte vor Augen führt und Deianeiras passiv-abwartende Haltung in ein poetisches Bild gießt, leitet sie hinterszenisch den entscheidenden – und letztlich katastro‐ phalen – Handlungsfortschritt ein. Eine entscheidende Szene des Dramas ist durch das ihr vorangehende Chorlied vorbereitet. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Gerade durch den Rekurs auf die Ver‐ gangenheit ist der Chor in der neuen dramatischen Lage präsent und hinterlegt sie mit einer Folie, die eine veränderte Einordnung des Geschehens möglich macht. Anders gesagt: Die lyrische Nacherzählung des Kampfes erhält durch die subtilen Bezugnahmen auf die dramatische Situation einen doppelten Boden. Sie erschöpft sich nicht in einem von Fabulierlust angetriebenen, pausenfül‐ lenden Blick in die Vergangenheit, sondern liefert eine kontrastreiche Imagina‐ tion, vor der sich das Folgegeschehen umso deutlicher abzeichnen kann. Genau diese Möglichkeit, das zentrale Ereignis der Vorgeschichte in diesem Maß mit dramatischer Brisanz aufzuladen, hat den Dichter dazu bewogen, den Kampf Herakles-Acheloos nicht schon zum Thema der Parodos zu machen, sondern ihn erst nach der Umdeutung der Geschehnisse, d. h. im ersten Stasimon zu behandeln. Dass dabei die lyrische Nacherzählung des Kampfes zwischen Acheloos und Herakles seit dem Prolog bereits erwartet werden konnte, be‐ merkt B URTON zu Recht.90 Die Parodos hatte diese Erwartungshaltung unter‐ laufen, indem sie ihr Augenmerk ganz auf die dramatische Gegenwart der Prot‐ agonistin gelenkt hatte. Das erste Stasimon liefert dahingegen nicht nur den durch Deianeira selbst in Aussicht gestellten Blick in die Vergangenheit, sondern funktionalisiert ihn darüber hinaus in der herausgearbeiteten Weise. Das erste Stasimon ist hinsichtlich seiner poetischen Komposition und seiner Einbindung in den Ablauf der Tragödie beleuchtet worden. Es hat sich erwiesen: Die Thematisierung des Kampfes zwischen Herakles und Acheloos sowie die Verwebung dieser Szenerie der dramatischen Vorgeschichte mit der virulenten Liebesthematik und der aktuellen Personenkonstellation lädt die dramatische Situation an unserer Stelle mit dramaturgischer Brisanz auf und bereitet den kommenden Auftritt Deianeiras vor. Indem das Lied dabei verschiedene Zeit‐ ebenen (fernste Vorgeschichte, unmittelbare Vergangenheit und aktuelle Ge‐ genwart) miteinander verknüpft und eine Relation zwischen ihnen etabliert, spielt es zudem mit der räumlichen Differenzierung der Handlung in hinter- und

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B URTON (1980) S. 54: „[…] the lyric narrative […] has been expected ever since the pro‐ logue“.

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vorderszenische Aktion und erreicht dadurch eine beachtliche dramaturgische Tiefenwirkung. Zweites Stasimon (v. 633 – 662)

Der auf das erste Standlied folgende Monolog Deianeiras ist schon erwähnt worden; wir können die Behandlung des folgenden Epeisodions dementspre‐ chend abkürzen. Die aufgetretene Protagonistin skizziert kurz die Situation: Im Haus bereitet sich Lichas darauf vor, wieder zu Herakles zurückzukehren, wäh‐ rend sie selbst zu den Frauen des Chors gekommen ist, um ihnen ihren Plan darzulegen und ihr Schicksal zu bedauern. Im Anschluss verbalisiert sie ihre Gefühlslage angesichts der momentanen Situation: Zwar zürne sie Herakles und seiner Krankheit, d. h. seiner leidenschaftlichen Liebe zu Iole, nicht (v. 543), mit der neuen Geliebten ihres Mannes aber in einem Haus zusammenzuleben, sei unerträglich (pointiert als rhetorische Frage formuliert v. 545 f.). Dieser Um‐ stand, zu zweit auf einen Mann zu warten, während Ioles jugendliche Schönheit in voller Blüte stehe, hingegen die eigene Anziehungskraft schwinde, habe sie zum Einschreiten veranlasst. Zunächst die Vorgeschichte: Das Blut des Ken‐ tauren Nessos hatte sie bei dessen durch Herakles verursachten Tod im Fluss Euenos nach der Weisung des Sterbenden aufgefangen: Es könne, so die Pro‐ phezeiung, als ein Zaubermittel (κηλητήριον) dienen, das Heraklesʼ Liebe einzig auf Deianeira fixiere; er werde nach Anwendung des Mittels keine andere Frau mehr lieben als Deianeira. Daher habe sie nun ein Gewand in das bis dahin im Haus verwahrte Blut des Kentauren getränkt und sei im Begriff, es Lichas als Geschenk für Herakles mitzugeben. Geradezu selbstversichernd wirken die ab‐ schließenden Worte ihres Monologs (v. 582 ff.): Auf schlechte Winkelzüge ver‐ stehe sie sich nicht und verabscheue diejenigen, die dergleichen wagen. Wenn sich aber die Aussicht biete, Iole durch Zauber zu übertreffen, dann solle der Plan in Angriff genommen werden, solange sie nichts Vergebliches zu tun scheint. Die Chorführerin gibt sich in ihrer Reaktion vorsichtig optimistisch: Wenn man den Geschehnissen Glauben (πίστις) schenken könne, dann scheine Deia‐ neira aus Sicht des Chors nicht schlecht beraten zu sein. Auch ihrem Zweifel, bisher noch keine empirische Erfahrung mit dem Liebeszauber gesammelt zu haben (πείρᾳ δʼ οὐ προσωμίλησα), entgegnet die Chorführerin in der an ent‐ scheidenden Stellen typischen Ambivalenz chorischer Aussagen: „Wissen musst

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II. Frauenchöre

du, wenn du handelst; du hast wohl keine Kenntnis, wenn du sie [nur] zu haben glaubst und es noch nicht versucht hast“ (v. 592 f.).91 Eine weitere Unterredung unterbricht der Auftritt des Lichas. Deianeira ver‐ pflichtet den Chor eilig zur Verschwiegenheit und wendet sich schließlich an den Herold, dem sie das vorbereitete Geschenk für ihren Mann übergibt. Sie mahnt dabei eindringlich, niemand außer Herakles dürfe das sorgsam verpackte Gewand anlegen; zudem sei es vor Licht und Wärme strengstens zu schützen. Auch hinsichtlich dessen, was Lichas bei Herakles vermelden soll, gibt sie ge‐ naue Anweisungen: Neben dem allgemein guten Zustand, in dem sich der Haus‐ halt befinde, solle in Lichasʼ Bericht besonders die freundliche Aufnahme Ioles Erwähnung finden; von ihrem eigenen Verlangen aber gebietet sie zu schweigen, bis klargestellt sei, ob auch Herakles sich nach seiner Frau sehne. Die Akteure verlassen nach Vers 633 die Bühne: Deianeira tritt zurück ins Haus, Lichas macht sich auf den Weg zu Herakles. Das Epeisodion begann als intime Unterrichtung des Chors durch die Prot‐ agonistin. Mit ihrem Auftritt hatte Deianeira das hinterszenische Geschehen verlassen, um den Frauen die Gründe für ihre Initiative darzulegen. Zum zweiten Mal im Lauf des Stückes ist sie so im Begriff, aktiv in die Handlung einzugreifen, zum ersten Mal allerdings in wirklich herausgehobener, eigenverantwortlicher Stellung; die Aussendung ihres Sohnes im Prolog wird an unserer Stelle mit Blick auf die an den Tag gelegte Aktivität der Protagonistin gleich mehrfach über‐ boten: War der Entschluss, Hyllos nach Herakles bzw. sicherer Kunde von ihm suchen zu lassen, am Beginn des Stücks der Rat der Amme, so handelt Deianeira hier aus eigenem Antrieb. Auch wenn sie dabei nicht mit letzter Entschlossen‐ heit voranschreitet, sondern zunächst die Unterstützung durch die trachini‐ schen Frauen sucht, kontrastiert ihr Handeln in der schon beschriebenen Weise mit dem Bild, das der Chor am Ende des Stasimons gezeichnet hatte, und über‐ bietet an Aktivität so auch ihre lethargische Zurückhaltung aus dem Prolog. Zudem fällt ins Gewicht: Die Mission des Hyllos war bald aus Angst, bald aus Unwissenheit motiviert, ihr Ziel dabei recht vage und kaum abzusehen. Dagegen hat die Aussendung des Lichas an diesem Punkt nicht nur einen konkreten Zweck sowie eine detailliert ausgeführte emotionale Motivation, sondern ist zudem mit dem Kleid, das Lichas überbringen soll, an ein festes Requisit ge‐ knüpft, das die gesamte dramaturgische Brisanz der Szene geradezu dinglich

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Bei der Interpretation dieser Zeilen verweise ich neben den Kommentaren zudem auf S OLMSEN (1985). „ἀλλ’ εἰδέναι χρὴ δρῶσαν: The Meaning of Sophocles Trachiniai 588 – 93.“ in: AJP 106 (1985), S. 490 – 511.

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bündelt.92 Das Geschenk Deianeiras an ihren Mann komprimiert die drei Zeit‐ ebenen der Handlung: Das präparierte Kleid stellt nicht nur den Dreh- und An‐ gelpunkt der Aussendungsszene dar; es vergegenwärtigt darüber hinaus einer‐ seits die Nessos-Episode und damit einen zentralen Punkt der Vorgeschichte und ist andererseits Instrument von Deianeiras konkretem Einschreiten. Sol‐ chermaßen mit ihren Erwartungen und Hoffnungen aufgeladen weist es in die unmittelbare Zukunft der Handlung. Der Auftritt des Lichas bringt die Handlung endgültig ins Rollen: Deianeiras Zweifel kulminieren in den Versen 596 f.,93 die in dramatischer Ironie die Folgen ihrer Handlung vorwegzunehmen scheinen, bevor sie mit der Übergabe des Ge‐ schenks den entscheidenden Impuls gibt. Der Abgang des durch die Protago‐ nistin instruierten Lichas inszeniert einmal mehr das Auseinanderfallen der Handlung zwischen Deianeira und Herakles. Diesmal aber ist die Richtung des Handlungsimpulses umgekehrt: Nicht Heraklesʼ Tun steht im Mittelpunkt, wird erfragt oder ausgedeutet, sondern Deianeiras auf der Bühne inszeniertes Han‐ deln macht sich in Gestalt des getränkten Gewands auf den Weg, seine Wirkung bei Herakles, d. h. hinterszenisch, zu entfalten. Die Handlung ist damit zu einem spannungsvollen Ruhepunkt gelangt, in den der Chor sein zweites Stasimon singt, das in zwei Strophenpaaren mitsamt einer präzisen geographischen Ver‐ ortung die Ausdeutung der momentanen Situation im Licht der erbetenen Heimkehr des Herakles entwickelt. Seinen Anfang bildet eine die gesamte erste Strophe ausfüllende Anrede der Bewohner94 (παραναιετάοντες) der Region, in der sich das Geschehen abspielt: In einer ausgreifenden Bewegung nimmt es die Anwohner der Thermopylen, des Berges Oita sowie die des Malischen Meerbusens in den Blick und entwickelt ein topographisches Panorama, das die Kulisse der sich entfaltenden Imagina‐ tion bildet. Dabei erfahren die geographischen Landmarken eine besonders reiche Ausgestaltung durch Adjektive bzw. Umschreibungen, die in ihrer An‐ schaulichkeit das Bild einer mit allen Sinnen greifbaren Lokalität zeichnen. Mit der Apostrophierung der Anrainer ist zudem die bemerkenswerte, vom Chor intendierte Gesprächssituation des Stasimons abgesteckt: Es versteht sich als

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Eine ähnliche Fokussierung auf ein bedeutendes Requisit, das als „Verdinglichung“ ent‐ scheidender Motive fungiert, greifen wir im Philoktet (Bogen des Haupthelden) sowie in etwas abgeschwächter Form im Aias (Schwert des Haupthelden). „Einzig von euch [d. h. den Frauen des Chors] wollen wir [d. h. unser Plan] gut ver‐ schwiegen werden; denn in Dunkelheit [d. h. unerkannt] fällt man, selbst wenn man schlechtes tut, nicht in Schande“ v. 596 f. E ASTERLING (1982) S. 151: „an ornate apostrophe to the local inhabitants“.

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Anrede an Dritte, die mit der Handlung in keinem besonderen Kontakt stehen und daher einer umfangreicheren Information bedürfen. Dementsprechend entfaltet die Gegenstrophe Zweck und Ursache der wort‐ reichen Anrufung: In kurzer Zeit (τάχʼ) werde den angerufenen Adressaten des Liedes (ὑμίν) der wohltönende Aulos nicht mehr unangenehme Klage, sondern den Klang einer „göttlichen Muse“ (θείας μούσας) zu Gehör bringen. Denn (γάρ) der Sohn von Zeus und Alkmene stürme (σοῦται) mitsamt dem Lohn seiner tugendhaften Taten wieder nach Hause. Der volltönenden und detailreichen Ausgestaltung der ersten Strophe ent‐ spricht an unserer Stelle die poetische Konzentration auf das Bild des Aulos, dessen Harmoniewechsel den Umschwung der dramatischen Emotionalität fasst. Anders gesagt: Bevor mit der sehnsüchtig erwarteten und nach Abschluss des Epeisodions anscheinend unmittelbar bevorstehenden Heimkehr des Helden die handlungsimmanente Ursache der intendierten Freudenfeier ge‐ nannt wird, gipfelt die Motivik im konkreten, sinnlich erfahrbaren Bild. Wie in Vers 217 ist es auch hier der Aulos, der als poetisches Requisit die Stimmung der Szenerie verdeutlicht und als Konkretisierung des chorischen Handelns die imaginierte Situation mit dem aktuellen Tun der Choreuten in Verbindung setzt. Kompositorisch und motivisch in der Mitte des Stasimons angekommen ver‐ weilt der Blick der Frauen zunächst noch auf Herakles. In einem Relativsatz (ὅν) rufen sie sich seine lange Abwesenheit ins Gedächtnis, während der sie über seinen Aufenthaltsort in Unkenntnis waren (ἴδριες οὐδέν). Eine Steigerung dieser Ungewissheit bietet die sich anschließende Fokussierung auf Deianeira: Die unglückliche Gattin des Helden (ἁ δέ οἱ φίλα δάμαρ δυστάλαινα) verzehrte sich in ständigem Weinen (πάγκλαυτος). Wirkungsvoll unterstreicht das Wort‐ spiel τάλαιναν δυστάλαινα (sc. καρδίαν) die Verzagtheit Deianeiras und fasst damit die ausführlichen Klagen der Protagonistin vom Beginn des Stücks zu‐ sammen. Nun aber, so die entschiedene Wendung (νῦν δʼ), habe der angestachelte Ares Erlösung von den mühevollen Tagen95 gewährt.96 In kürzester Form sind hier 95

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Man wird sich am besten der Konjektur von Erfurdt, wie sie bei L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) gegeben wurde (ἐπιπόνων ἁμερᾶν), anschließen, sieht doch D AVIES (1991) S. 175 in der handschriftlichen Überlieferung (ἐπιπόνων ἁμέραν) schwerwiegende metrische Probleme, während E ASTERLING (1982) S. 154 bemerkt: „this [der Text der MSS] gives less normal Greek“. Wer dabei als konkretes Objekt von ἐξέλυσ' vorschwebt, ist umstritten. Während D A‐ VIES (1991) S. 175 f. urteilt: „Heracles is more naturally the understood object […], though the stanza did open by picturing the chorusʼs own anxiety“, bietet E ASTERLING (1982) S. 154 eine gangbare Lösung: „The text should not be pressed too hard: if Heracles es‐ capes from his πόνοι so do D[eianeira] and the Chorus from their anxiety“.

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der Umschwung der Handlung wiedergegeben und die kriegerischen Hand‐ lungen, d. h. konkret die Belagerung und Plünderung der Stadt des Eurytos, als ein freudvolles Ereignis ausgeleuchtet worden. Schlagartig brechen die Frauen des Chors im Anschluss in einen Wunsch aus und richten so ihren Blick auf die unmittelbare Zukunft: Herakles möge endlich ankommen, beteuern sie eindringlich durch das gedoppelte ἀφίκοιτο; sein Schiff solle auf dem Weg hierher nicht stehenbleiben, bis er diese Stadt erreicht und er den auf Euboia befindlichen Altar, an dem er Opfer darbringt, gegen den Standort der Frauen „eingetauscht“ habe (ἀμείψας). Die abschließenden Verse des Stasimons (660 ff.) werfen sowohl textkritische als auch semantisch-inhalt‐ liche Schwierigkeiten auf.97 Ohne eine endgültige Lösung anbieten zu wollen, können wir mit Blick auf unser Interesse Folgendes festhalten. Die Frauen des Chors untermauern ihre Bitte mit dem Verweis auf die treibenden Kräfte hinter der erbetenen Rückkehr des Herakles. Angespielt wird dabei – soviel ist trotz des verderbten Texts sicher – auf die Macht der Überzeugung (Πειθοῦς) und den Einfluss98 des „Tiers“ (θηρός), d. h. wohl Nessosʼ im vorangegangenen Epeis‐ odion referierte Prophezeiung sowie sein Blut. Zudem wird mit dem auf He‐ rakles bezogenen Partizip – συγκραθείς (L LOYD -J ONES /W ILSON) bzw. συντακείς (P EARSON)99 – ein tragisch-ironischer Blick auf die Auswirkungen des in Gift getränkten Gewands gegeben, das seinerseits in παγχρίστῳ seinen poetischen Reflex findet. Lassen wir die im Einzelnen letztlich kaum zu klärende Passage nach diesem Versuch, die grundlegenden Motive aufzuzeigen, für den Moment auf sich be‐ ruhen. Von entscheidender Wichtigkeit ist es dagegen zunächst, die Gesamt‐ struktur des Stasimons in einem Überblick zu verdeutlichen. Daran soll sich die Einordnung des Liedes in den unmittelbaren Handlungskontext sowie in die Abfolge der chorischen Partien anschließen. Den Eingang bildete der Anruf einer weiten Personengruppe, der den Rahmen der Reflexion über das unmittelbare, lokal auf die Bühne und den Auf‐ enthaltsort des Herakles sowie personal auf die beteiligten Akteure begrenzte

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Vgl. E ASTERLING (1982) S. 155 zu 661 f. „a notorious crux“ sowie die Auflistung der Pro‐ bleme bei D AVIES (1991) S. 177. L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) setzen die Verse 660 b662 daher in cruces; dem entspricht ihre geradezu verzweifelte Anmerkung zu v. 662 „alii alia temptaverunt“. Was genau an dieser Stelle (v. 662) zu lesen ist, bleibt umstritten: Während L LOYD -J ONES / W ILSON (1990) mit den codices προφάσει lesen, plädiert E ASTERLING (1982) für die Kon‐ jektur παρφάσει, die P EARSON in seinen Text gesetzt hat. E ASTERLING (1982) S. 156 erkennt zu Recht, dass beide Textvarianten sowohl in den erotisch gefärbten Kontext passen als auch das weitere Schicksal des Helden andeuten.

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Geschehen auszuweiten suchte. Die vorliegende Verschiebung der Perspektive, besser: die Ausweitung des Blickfeldes über den aktuellen Bezugsrahmen der Handlung hinaus entschleunigt dabei den Fortgang der Handlung und schiebt sich zwischen die Rezipienten des Liedes auf der einen und die spannungsgela‐ dene Handlung auf der anderen Seite. Anders gesagt: Die Komposition des Sta‐ simon kontrastiert mit der handlungsreichen Szenerie, in der zum ersten Mal während der Tragödie Deianeira die Initiative ergriffen und damit den Fortgang der Handlung wesentlich beeinflusst hat. Dass das Lied seinen Anfang nicht aus diesem unmittelbaren Impuls bezieht, sondern zunächst mit einer grenzüber‐ schreitenden Erweiterung der Perspektive beginnt, ist die sinnfällige Inszenie‐ rung der innerhalb des Handlungsgefüges eingetretenen Pause. Die Zeit, in der Deianeiras Impuls seine volle Wirkung entfaltet und die Handlung hintersze‐ nisch in die entscheidende Phase eintritt, wird mit einem Chorlied gefüllt, dessen Beginn den Blick zunächst vom unmittelbaren Geschehen ablenkt und eine aus Sicht der Choreuten positive Zukunftsaussicht bietet. Im Lauf der Reflexion kommt der Chor schließlich, wie gesehen, auf den Kern seiner zuversichtlichen Stimmung zu sprechen. Von entscheidender Bedeutung ist dabei die chorisch-poetische Verarbeitung der zwei Handlungsorte (Bühne, d. h. der Aktionsort von Deianeira und dem Chor, sowie Heraklesʼ Aufent‐ haltsort), die mit einer ausgearbeiteten Zeitdramaturgie verwoben sind. Ein Blick auf die Tempora (bzw. Modi) der im Stasimon verwendeten finiten Verb‐ formen soll dies verdeutlichen: Prägend für das Standlied sind im Besonderen die Optative der letzten Gegenstrophe (ἀφίκοιτο, σταίη, ἀνύσειε, μόλοι), die sich allesamt (zumindest inhaltlich) auf Herakles beziehen und den Wunsch bzw. die Erwartung der Choreuten verbalisieren. Die beiden anderen, direkt auf Herakles als Subjekt bezogenen Verbalformen sind – neben dem in die Anrufung der ersten Strophe einbezogenem κλέονται (v. 639) – die einzigen Indikativ-Prä‐ sens-Formen des gesamten Stasimons: σοῦται (v. 645) und κλῄζεται (v. 659). Herakles erscheint so in zweifacher Hinsicht als Akteur: Zum einen ist er die Projektionsfigur für die Wünsche des Chors, der seine Ankunft bildreich in Aussicht stellt, zum anderen ist die momentane, d. h. im Augenblick des Stasi‐ mons ablaufende hinterszenische Aktion dezidiert die Tätigkeit des Herakles: Er stürmt bereits von dem Ort, an dem er, wie man hört, Opfer darbringt, nach Hause. Während also Herakles Subjekt sowohl der im Wunsch ausgemalten erbe‐ tenen Zukunft sowie der aktuellen hinterszenischen Handlung ist, treten Dei‐ aneira und der Chor selbst nur als Handelnde in der Vergangenheit auf: εἴχομεν (v. 647) beschreibt die Haltung des Chors, ὤλλυτο (v. 652) die Deianeiras wäh‐ rend der Abwesenheit des Helden. Diesen beiden Imperfekten steht der Aorist

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ἐξέλυσʼ (v. 654) gegenüber, der das Ende der lethargischen und schmerzhaften Wartezeit als ein Ereignis der unmittelbaren Vergangenheit (beachtenswert die vorliegende Junktur νῦν + Aorist) beschreibt und als Urheber dieser plötzlichen Veränderung Ares, d. h. eine göttliche Person nennt. Damit ist, wie bereits an‐ gedeutet wurde, das Geschehen der näheren Vergangenheit (Heraklesʼ Kriegs‐ handeln und dessen Auswirkungen) poetisch verdichtet und personalisiert worden; als Subjekt innerhalb des Stasimons erscheint allerdings an dieser Stelle nicht der Held selbst, sondern mit Ares eine göttliche Figur, die die aufgewor‐ fenen Ereignisse im Ganzen bündelt und mit einer emotionalen Grundierung hinterlegt. Eine ähnliche Bündelung von Motiven, Aussichten und Emotionen war, wie bereits angesprochen, in der ersten Gegenstrophe das entscheidende poetische Bild: Der Aulos (v. 641) repräsentierte die imaginierte Feststimmung und diente als auf den Punkt konzentrierte Vergegenwärtigung des emotionalen Um‐ schwungs. Das ihm zugeordnete Prädikat ἐπάνεισιν (v. 642) zeichnet als einzige Form im Indikativ Futur die Zukunft, wie sie sich auf Grund der Ereignisse ergeben wird, dezidiert nicht als Wunsch, sondern als geradezu sichere Tatsache. Ist der Blick so für die Ähnlichkeit der beiden motivischen Bündelungen – Aulos und Ares – freigemacht, erkennen wir eine weitere Parallele: Beiden Prä‐ dikaten, die jeweils im Rahmen des Stasimons in ihrem Tempus singulär sind, ist ein Adverb beigestellt, das die zeitliche Verortung präzisiert: τάχʼ in Vers 640 sowie νῦν in Vers 653. Mit Blick auf ihre Positionierung rahmen die beiden in Frage stehenden Aussagen die erzählenden, rekapitulierenden und imaginie‐ renden Partien des Stasimons durch ihre motivische und syntaktische Bezug‐ nahme aufeinander. Dieser Mittelteil des Liedes (v. 640 – 654) ist von der Anru‐ fung in der ersten Strophe (v. 633 – 639) und der dezidiert als Wunsch gestalteten zweiten Gegenstrophe (v. 655 – 662) abgegrenzt. Die thematisch-funktionale Dreiteilung des Stasimons ist offensichtlich. Werfen wir abschließend einen Blick auf das Ende des Liedes. Trotz der text‐ kritischen Schwierigkeiten ist sicher, dass in den Versen 660 – 663 auf den wei‐ teren Fortgang der Handlung, konkret: auf die Auswirkungen der Entsendung des Lichas und der Übermittlung des giftgetränkten Gewandes angespielt ist.100 Aus der Perspektive der trachinischen Frauen untermauert dieser Hinweis auf die Macht der Überzeugung sowie den Einfluss des Nessos (θηρός v. 663) dabei die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr des Helden; der Chor geht mit Deianeira 100

B URTON (1980) S. 63 mit Blick auf das Ende des Liedes, das die von Deianeira präparierte Robe, deren Auswirkungen und die furchtbaren Qualen des Herakles andeutet: „This is the last und most powerful stroke of irony in a song which is remarkable throughout for its exploitation of this peculiarly Sophoclean feature“.

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implicite davon aus, dass das Zaubermittel seinen gewünschten Effekt entfalten wird und einer glücklichen Zusammenführung der beiden nichts mehr im Weg steht. Dabei spielen die vorsichtigen Bedenken, wie sie die Chorführerin in der Unterredung mit Deianeira geäußert hatte (v. 587 f. sowie 592), keine Rolle mehr. Dass mit den Schlussversen des Liedes dabei die katastrophale Wendung an‐ gedeutet, ja bereits in entscheidenden Details greifbar ist,101 stellt einen beson‐ ders subtilen Fall tragischer Ironie dar und unterlegt das gesamte Stasimon mit einer zutiefst ambivalenten Spannung. Anders gesagt: Gerade der emotionale und sehnsüchtige Wunsch, Herakles möge bald zurückkehren, wird aus der Perspektive der mit dem Mythos vertrauten Rezipienten zur Vordeutung der Katastrophe. Dabei stellt die deutlichste Bezugnahme auf das bevorstehende Leiden des Herakles den Schluss des Stasimons und damit dessen Fluchtpunk dar. An seinem Ende ist das Lied also subtile Vordeutung des Kommenden – und damit die Umdeutung des vorherigen Epeisodions: Deianeiras Handeln sowie ihr Vertrauen auf die Zusage des Nessos münden in das qualvolle Leiden des Herakles, das hier bereits angedeutet wird. Das Lied bietet dabei neben seiner Schlusspartie in der Apostrophierung des Berges Oita (v. 635) einen weiteren subtilen Hinweis auf das kommende Ge‐ schehen: Der mit dem Mythos vertraute Rezipient hört darin bereits zu Beginn der Partie eine Reminiszenz an den Ort, an dem Herakles den selbstgewählten Flammentod erleiden wird. Wenn der Chor hier die Anwohner des Oita-Ge‐ birges versichert, in Kürze werde der Aulos keine Klage mehr anstimmen, so konterkariert er den Fortgang des Geschehens in besonders zugespitzter Form. Anfang und Ende des Liedes greifen in besonderer Weise motivisch inei‐ nander: Während die kurze Nennung des Todesortes zu Beginn des Stasimons bereits aufhorchen lässt, entwickelt die Schlusspartie eine begrifflich-motivi‐ sche Vorahnung des Kommenden. Indem die Anrufung der Bewohner der Um‐ gegend so bereits mit inhaltlicher Brisanz aufgeladen ist, wird die Rahmung des Stasimons deutlich: Die hoffnungsvolle Imagination der glücklichen Rückkehr entfaltet sich zwischen zwei mehr oder minder subtilen Andeutungen der be‐ vorstehenden Katastrophe sowie des Ausgangs der Handlung. Das ganze Sta‐ simon ist mit einer besonders dunklen Folie hinterlegt, die einen affirmativen Nachvollzug der durch den Chor evozierten positiven Stimmung unmöglich macht.

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Die Behandlung der ersten Gegenstrophe des dritten Stasimons (v. 831 ff.) wird die be‐ grifflichen Spiegelungen zur vorliegenden Partie in den Blick nehmen und damit zeigen, wie subtil die verheerende Wirkung des getränkten Gewands bereits hier angedeutet ist.

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Versuchen wir kurz, die Beziehungen des Standliedes zu den bisherigen Chor‐ partien zu beleuchten. Mit seinem imaginierten Jubel und der prominenten An‐ rede Dritter, d. h. nicht unmittelbar am Geschehen Beteiligter, bezieht sich das zweite Stasimon augenscheinlich direkt auf das Chorlied innerhalb des ersten Epeisodions zurück. Bestimmen wir das Verhältnis dieser beiden Lieder etwas genauer. Die Apostrophe der Bewohner des Landstriches – die Ost-West-Aus‐ dehnung der erwähnten Landmarken beträgt immerhin ungefähr 30 km102 – im vorliegenden Standlied überbietet den Aufruf an die Mitglieder des Haushalts aus Vers 205 ff. in entscheidender Hinsicht: Nicht mehr nur die Mitglieder des Haushalts, sondern alle Anwohner der Umgegend sind hier als Adressaten des Liedes sowie als Nutznießer der bevorstehenden Ankunft des Herakles in den Blick genommen. Dabei ist die emotionale Aufgewühltheit und unmittelbare Situativität an unserer Stelle einer in die bevorstehende Zukunft projizierten, durch die kurze Einblendung der Vergangenheit reflektierter wirkenden Imagination der Freude gewichen.103 Mit Blick auf die souveräne und sinntragende Nutzung der Ver‐ balformen können wir darüber hinaus formulieren: Statt ganz in der momen‐ tanen Situation aufzugehen, entwickelt das Stasimon auf der Folie des voran‐ gegangenen rauschhaften Ausbruchs eine Gesamtschau der dramatischen Zeitebenen und Lokalitäten, die im Wunsch nach der baldigen Heimkehr des Herakles gipfelt. Es hat sich gezeigt, wie sehr die durch den bewussten Einsatz der verschie‐ denen Tempora und Modi strukturierte Komposition das Stasimon in sich glie‐ dert und zudem mit der Handlung verbindet. Das Stasimon referiert vor der entscheidenden Wendung der Handlung noch einmal die Ausgangsposition: Es ruft die bis zu diesem Zeitpunkt entwickelten Status der Handlung erneut in Erinnerung, spielt reizvoll mit den verschiedenen Lokalen des Geschehens, die es mit einer ausgeklügelten Zeitregie verknüpft, und birgt eine gerade durch ihre Subtilität umso wirkungsvollere Andeutung der Katastrophe. Das Standlied liefert also vor dem Wendepunkt der Handlung eine erneute Bestandsaufnahme der dramatischen Realität in allen ihren zeitlichen und räumlichen Ebenen. Zielpunkt dieser Konstruktion ist der Wunsch nach dem Eintreffen des He‐ rakles, der in ironischer Brechung die tatsächliche Ankunft des Helden in Vers 971 und damit die Visualisierung der hereingebrochenen Katastrophe vorweg‐ nimmt. 102 103

Vgl. die bei E ASTERLING (1982) S. 152 abgedruckte Karte. Vgl. B URTON (1980) S. 59: „[…] the confidence expressed in the second stasimon echoes less ecstatically and more formally the mood of the hyporchema, to which it constitutes a parallel“.

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Dass darüber hinaus in der Rekapitulation des langen, ungewissen Wartens auf Herakles, wie es die zweite Strophe ausführt, entscheidende Motive aus der Parodos wieder aufgegriffen sind, liegt auf der Hand: Auch an unserer Stelle erinnert der Chor an Deianeiras tränenreiches Leid und zeichnet sie als die Gattin, die sich in Sehnsucht und Angst nach ihrem Mann verzehrt. Die trachi‐ nischen Frauen bekunden zudem erneut ihre besondere innere Beteiligung. For‐ mulierten sie in ihrem Auftrittslied die virulente Frage nach dem Aufenthaltsort des Haupthelden, so verbalisieren sie an unserer Stelle aus dem Wissen um He‐ raklesʼ momentane Tätigkeit den Wunsch nach seiner baldigen Ankunft. Machen wir uns abschließend bewusst: Das Stasimon entschleunigt zunächst die unmittelbare Spannung und füllt bewusst eine Pause im Handlungsfortgang; in einem Gesamtpanorama reflektiert es die bis zu diesem Zeitpunkt entwi‐ ckelten Geschehnisse, lenkt den Blick bewusst auf Herakles als den primär Handelnden, den Aktiven und Ersehnten. Damit konterkariert es die Erfahrung des vorangegangenen Epeisodions: Obwohl gerade Deianeira eben noch den entscheidenden Handlungsimpuls gegeben hatte, schildern die Frauen des Chors Heraklesʼ momentane Tätigkeit, bitten um seine Rückkehr und lassen Deianeiras aktives Eingreifen – bis auf die Andeutung am Ende – gänzlich un‐ erwähnt. Damit ist nicht nur die Bitte um Verschwiegenheit aus Vers 596 f. um‐ gesetzt, sondern das ganze Lied mit einer spannungsvollen Brisanz unterlegt worden, die eine vom erwünschten Ablauf der Handlung gänzlich verschiedene Entwicklung erwarten lässt. Ferner ist das ganze Lied geprägt durch die tragische Ironie, die den in die unmittelbare Zukunft blickenden Wunsch der zweiten Gegenstrophe zu einer Vordeutung der kommenden katastrophalen Geschehnisse werden lässt. Die typisch zu nennende Kontrastierung zwischen einem positiv in die Zukunft blickenden Chorlied und der daraufhin einbrechenden katastrophalen Wen‐ dung – vgl. die jeweiligen Passagen in Antigone (fünftes Stasimon), Oidipus Ty‐ rannos (drittes Stasimon) und Aias (zweites Stasimon) – fällt hier in den Tra‐ chinierinnen allerdings weniger drastisch aus. Das Chorlied wirkt gerade vor dem Hintergrund des lyrischen Gefühlsausbruchs innerhalb des ersten Stasi‐ mons trotz seiner imaginierten freudvollen Szenerie (erste Gegenstrophe) zu‐ rückhaltender und etwas abwägender; die ironische Brechung ist nicht in grellen Farben überzeichnet, sondern weit subtiler, als man es vielleicht erwarten könnte.104

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In diesem Sinn urteilt B URTON (1980) S. 64: „[…] the general effect of the song is deeply sinister in the irony of its contrast with what swiftly follows“.

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Die dramaturgische Funktion des Liedes lässt sich damit kurz zusammen‐ fassen: Rekapitulation des Geschehenen und subtile Vordeutung der Kata‐ strophe auf Folie des Wunsches. Sophokles versteht es an unserer Stelle, dem Lied durch eine ausgefeilte Struktur und Komposition besonderes Gewicht zu verleihen: Die außergewöhnliche Gesprächssituation (Anrede Dritter, an der Handlung Unbeteiligter), die geschickte Vernetzung der unterschiedlichen Zeit‐ ebenen und Lokale der Handlung sowie die subtilen Vorausdeutungen machen das Lied zu einer wirkungsvollen Gelenkstelle innerhalb der dramatischen Handlung. Seiner Positionierung in der Mitte der Tragödie gemäß blickt es so‐ wohl in die Vergangenheit, die es zusammenfassend dem aktuellen Stand der Handlung gegenüberstellt, als auch in die Zukunft, die es in Form eines Wun‐ sches zu imaginieren sucht. Drittes Stasimon (v. 821 – 862)

Das anschließende Epeisodion inszeniert, wie schon angesprochen, die ent‐ scheidende Wende im Verlauf der Handlung. Deianeiras Einschreiten, ihr in Gestalt des getränkten Kleides konkret fassbarer Impuls stellt sich als unheil‐ voller Einfluss heraus, der die schlimmsten Befürchtungen der Protagonistin Wirklichkeit werden lässt. Die Struktur der Szene soll grob überblickt werden. Nach dem Chorlied tritt Deianeira, sichtlich aufgewühlt, auf die Bühne und eröffnet dem Chor ihre Sorge: Sie habe beobachtet, wie die Wolle, mit der sie das Gewand für Herakles mit der Tinktur des Kentauren Nessos bestrichen hatte, unter dem Einfluss von Sonnenlicht im wahrsten Sinne aufgefressen wurde, zerbröselte und schließlich unter erheblicher Schaumbildung völlig ver‐ schwand. Diese Erfahrung habe ihr die Augen für eine Bewertung ihres eigenen Tuns geöffnet: Sie sei sich nunmehr bewusst, ein grausiges Werk (ἔργον δεινόν) in Gang gesetzt zu haben (v. 705 ff.). Rückblickend kann sie nun das Verhalten des Kentauren Nessos bei seinem Tod einordnen: Nicht fürsorgliche Zuwendung gegenüber Deianeira, sondern Rachegedanken mit Blick auf He‐ rakles waren das Motiv für die Anordnungen und das Geschenk, das er ihr hin‐ terließ. Der Chor versucht nach Deianeiras ausführlichem Monolog einen eher hoff‐ nungsvollen Blick auf die Situation zu werfen (v. 723 f.), wird allerdings von der Protagonistin scharf abgewiesen: Bei üblen Entscheidungen – wie der vorlie‐ genden – gebe es keine Hoffnung mehr, schon gar keine, die dem Betreffenden Mut verschaffen könnte. Auch die zweite Äußerung des Chors, unfreiwillig schuldig Gewordene träfe nur ein sanfterer Zorn (v. 727 f.), gibt Deianeira keinen Anlass, die Lage anders zu bewerten; so könne nur jemand sprechen, der keinen Bezug zum Übel habe.

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Die Chorführerin unterbricht diesen kurzen Dialog105 schließlich in Vers 731 mit dem Verweis auf den herannahenden Hyllos, der zuvor mit dem Auftrag, seinen Vater aufzuspüren, die Szenerie verlassen hatte und nun wieder im Ge‐ schehen präsent ist. Es folgt ein kurzes Zwiegespräch zwischen Mutter und Sohn, in dem Hyllos Deianeira mit dem Vorwurf konfrontiert, heute zur Mör‐ derin ihres Mannes geworden zu sein. Die so Beschuldigte reagiert äußerst emotional (vgl. die kurzen, pointierten Fragen und v. a. die Interjektion οἴμοι v. 741) und erbittet sich genauere Informationen. Dies mündet in den ausgrei‐ fenden Monolog des Hyllos. In mehr als sechzig Versen (749 – 812) schildert er im Folgenden schließlich den Hergang der Opferfeierlichkeiten, die Übergabe des Gewands an Herakles sowie mit besonderer Ausführlichkeit dessen qual‐ volle Leiden nach dem Anlegen der Robe. Sein Vater selbst habe ihm schließlich den Auftrag gegeben, ihn hierher zu bringen; Deianeira und der Chor würden Herakles daher bald selbst zu Gesicht bekommen, entweder noch am Leben, oder bereits gestorben. Mit einer drastischen Verwünschung seiner eigenen Mutter schließt Hyllos seinen Bericht: Dike und Erinys sollten sie für diese Tat zur Verantwortung ziehen. Ihm, dem Sohn, stehe es zu, dergleichen zu wünschen, da Deianeira schließlich den besten Mann von allen getötet habe; einen ver‐ gleichbaren Helden werde es nie wieder geben. Die Reaktion des Chors lässt erahnen, wie Sophokles die Reaktion Deianeiras auf den Bericht ihres Sohnes inszeniert wissen wollte: Sie scheint sich vom Ge‐ schehen abgewendet zu haben und schleicht sich nun fort (bezeichnend die Wortwahl ἀφέρπεις v. 813) ohne ein Wort zu verlieren. Der Chor wertet dies als Eingeständnis ihrer Schuld: Durch Schweigen stimme sie ja dem Ankläger zu, ruft er der abtretenden Protagonistin hinterher. Die solchermaßen Angespro‐ chene reagiert nicht und verlässt die Bühne. Hyllosʼ abschließende Worte the‐ matisieren kurz Deianeiras Mutterrolle und unterstreichen den Vergeltungsge‐ danken, wie er bereits angeklungen war. Nach Vers 821 ist schließlich auch Hyllos abgetreten. Das Epeisodion begann erneut als eine intime Unterredung zwischen Prot‐ agonistin und Chor. Dabei kam es Deianeira zu, direkt vor der Ankunft der katastrophalen Nachricht das hereinbrechende Unheil dramaturgisch anzukün‐ digen. Ihre Sorge und Angst verdichtet nach den allenfalls subtilen Andeu‐ tungen des Chors am Ende des zweiten Stasimons die Stimmung soweit, bis sie sich in der ausführlichen Schilderung des hinterszenischen Geschehens entlädt. Der Auftritt des Hyllos erfüllt dabei eine klare Funktion, die über den reinen Bericht hinausgeht. Mit seiner Aussendung im Prolog war eine erste Verbindung

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E ASTERLING (1982) S. 163: „a bridge passage between two high points in the action“.

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zwischen vorder- und hinterszenischer Handlung geschaffen worden. Indem nun gerade er die schreckliche Nachricht überbringt, ist der dramatische Kon‐ flikt nicht nur im spannungsreichen Beziehungsgeflecht der Familie inszeniert. Deianeiras Handlungsimpuls – das Übersenden des in Gift getränkten Ge‐ wands – als ihre für den Fortgang der Handlung wichtigste Aktion erfährt nun seine Beantwortung in der Rückkehr desjenigen, den sie selbst ausgeschickt hatte: Ihre Handlungen und ihr Tun kehren nun in Gestalt ihres Sohnes zu ihr zurück. Sie sieht sich mit den Folgen ihrer Aktion konfrontiert und verlässt die Bühne unter Aufbietung eines der stärksten dramaturgischen Mittel, das dem Dichter zur Verfügung steht: Schweigen. Wirkungsvoller kann der Kontrast zwischen Deianeiras wortreicher Bühnenpräsenz gerade zu Beginn des Stücks – erinnert sei an ihren knapp fünfzig Verse langen Auftrittsmonolog – und ihren Ausführungen in diesem und dem vorangegangenen Epeisodion nicht inszeniert werden. In Hyllosʼ Bericht selbst ist Herakles in einem bisher unbekannten Ausmaß präsent. Der schrittweise Nachvollzug der Situation, die ausführliche Schilde‐ rung seiner Qualen sowie besonders die Wiedergabe seiner direkten Rede (v. 797 – 802) lassen den Helden für Zuschauer und Leser greifbar erscheinen. An keinem anderen Punkt der Tragödie hat ein Bericht bisher eine so detailreiche Schilderung der hinterszenischen Handlung geboten; wie schon der dramatur‐ gische „Trommelwirbel“ durch Deianeiras Monolog am Beginn der Szene, so ist es auch hier ein Schauspieler – und nicht etwa der Chor – , der diese dramatur‐ gisch herausragende Funktion erfüllt. Die Beschreibung der Leiden des Herakles im anschließenden Stasimon ist zwar von bildhafter Drastik, nimmt aber nur einen kleinen Teil des Liedes in Anspruch und wirkt nach Hyllosʼ breiter Schil‐ derung wie ein lyrischer Reflex auf bereits dargelegte Tatsachen. Während so die Intensität des geschilderten Faktums erneut betont wird, bleibt es dem Ak‐ teur Hyllos überlassen, die präzise und alle Details umfassende Einblendung der Geschehnisse um Herakles auf der Bühne zu leisten. Unversehens haben wir die Behandlung des Chorliedes bereits gestreift. Ver‐ schaffen wir uns einen ersten Überblick: Das dritte Stasimon entfaltet seine Si‐ tuationsdeutung in zwei Strophenpaaren und geht – nach einem hinterszeni‐ schen Schrei Deianeiras – ab Vers 863 in eine zunächst iambisch, im Folgenden (ab v. 880) lyrisch komponierte Unterredung zwischen dem Chor und der hin‐ zugetretenen Amme über. Mit Vers 896 beginnt erneut eine in Sprechversen komponierte Partie, die mit dem ausführlichen Bericht der Amme (899 – 946) das Epeisodion abschließt.

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II. Frauenchöre

Seinen Anfang nimmt das Lied106 mit einer Selbstaufforderung des Chors, die das zentrale Motiv der Betrachtung wortwörtlich in den Blick nimmt. Anzu‐ sehen sei, wie sich das „gottverkündete Wort der Vorsehung“ (τοὔπος τὸ θεοπρόπον τᾶς παλαιφάτου προνοίας) unversehens in die eigene Lebenswirk‐ lichkeit gemischt habe (προσέμειξεν). Ausdrücklich positioniert der Chor sich selbst (ἡμῖν) als Betroffenen des Orakelspruchs und seiner Folgen; die Selbst‐ anrede ὦ παῖδες107 ist damit besonders unterstrichen. Dieser Selbstbezug der Choreuten bietet die innerdramatische Rechtfertigung des Chorliedes: Die Frauen verstehen sich an diesem Punkt nicht als der Handlung rein gegenüber‐ stehend, sondern fühlen sich involviert und nehmen – aus ihrer Perspektive – bewusst eine bestimmte Haltung zu den Geschehnissen ein. Den Inhalt des Orakels geben die Frauen im Folgenden an: Nach dem Ablauf des zwölften Jahres108 werde das Ertragen von Mühen für den Sohn des Zeus ein Ende haben. Wirkungsvoll ist dabei die Nennung des Helden an den Schluss der Periode gestellt, wobei die Formulierung (τῷ Διὸς αὐτόπαιδι) besonderes Ge‐ wicht auf die Abstammung vom Göttervater legt. Die eingetretene Erfüllung des Spruchs bekundet die sich anschließende Feststellung: „Und dies ist tatsächlich [und] unerschütterlich eingetroffen“ (v. 826 f.). Das dabei verwendete Wort κατουρίζει wirft grammatikalisch einige Schwierigkeiten auf109 und ist gerade semantisch von besonderem Interesse. Die mit ihm evozierte Seefahrts- und Hafenthematik – LSJ gibt als Bedeutung „bring into port with a fair wind, me‐ taph. bring safe to port, bring to fulfilment“110 – setzt die Formulierung in mo‐ tivische Beziehung zu anderen Aussagen des Chors, die sich dezidiert auf He‐ rakles bezogen. So war sein unstetes und von allerlei Gefahren bedrohtes Leben bereits in der Parodos (v. 112 ff.) mit einem Seesturm verglichen worden, wäh‐ rend ihm im zweiten Stasimon ausdrücklich das Attribut πελάγιον zukam 106

107 108 109 110

Wieder ein Chorlied, das vielfältige Probleme aufwirft. Vgl. B URTON (1980) S. 65: „The ode is the most difficult linguistically of all the lyrics in the play“, was D AVIES (1991) S. 195 fortsetzt: „[…] this is also the most metrically complex“. Auch der Text selbst ist an einigen Stellen problematisch, vgl. v. a. die erste Gegenstrophe sowie den Textverlust innerhalb der zweiten Gegenstrophe. Im Hinblick auf Einzelerklärungen verweise ich daher ausdrücklich auf die Kommentare. E ASTERLING (1982) S. 175: „‘girlsʼ, not ‘children’“ mit Verweis auf einen ähnlichen Ge‐ brauch des Wortes bei Aischylos Sieben gegen Theben v. 854. Die Inkonsistenz gegenüber den anderen Zeitangaben hinsichtlich des Orakels hat zu Verständnisschwierigkeiten geführt. Dass dabei die Aussage des Chors keineswegs dramatisch inkonsistent ist, zeigt E ASTERLING (1982) S. 175 f. Vgl. dazu E ASTERLING (1982) S. 176 und D AVIES (1991) S. 197, die auf die Unklarheiten hinsichtlich Transitivität oder Intransitivität hinweisen. Beide lassen die Beantwortung der Frage bewusst offen. LSJ s.v.

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(v. 649), was seine nicht exakt zu lokalisierende, heimatferne und gefährliche Abwesenheit bildhaft verbalisierte. Wenn an unserer Stelle im dritten Stasimon also die Erfüllung des Orakelspruchs mit einem der nautischen Sphäre ent‐ lehnten Begriff bezeichnet wird, so ist einerseits innerhalb des unmittelbaren Zusammenhangs die konstatierende Aussage auf subtile Weise mit dem Inhalt des Orakelspruchs selbst bzw. der chorischen Imagination desselben verbunden. Zum anderen findet die Seefahrtsmotivik hier ihren Endpunkt, was mit einer impliziten Deutung der dramatischen Geschehnisse verbunden ist: Die virulente Bitte um die Heimkehr des Herakles in den vorherigen chorischen Partien kon‐ kretisiert sich im Bild des Hafens, der die Erfüllung der Weissagung darstellt.111 Anders gesagt: Mit der Verwirklichung des Orakelspruchs hat Heraklesʼ Le‐ bensreise, die vom Chor explizit mit Seefahrts- und Meeresbildern beschrieben wurde, ihr Ende, ihren Hafen gefunden. Die sich anschließende rhetorische Frage des Chors macht die Deutung des Orakels vollends klar: Das vorausgesagte Ende der Leiden ist Heraklesʼ Tod; denn wie könnte derjenige, der nicht mehr sieht (ὁ μὴ λεύσσων), als Gestorbener (θανών) noch einen mühevollen Dienst versehen (v. 826 – 830)? Diese allgemeine Aussage wird vor dem Hintergrund des überdeutlichen Bezugs auf den Heros zu einer konkreten, wenn auch impliziten Einschätzung: Herakles ist schon so gut wie tot. Damit hat die erste Strophe ein Ende gefunden. Herakles ist als zentraler Bezugspunkt der Reflexion etabliert; ihm und seinem Schicksal gilt zu Beginn dieses Stasimons die Aufmerksamkeit des Chors, sein im vorangegan‐ genen Epeisodion angekündigter Tod bzw. sein momentanes Sterben liegt den Ausführungen zu Grunde und wird vor dem Hintergrund des Orakelspruchs als dessen Verwirklichung ausgeleuchtet. Die Gegenstrophe konkretisiert den Blick auf die Leiden des Helden. In einem ausgreifenden, als Begründung (γάρ v. 831) angeschlossenen Konditionalsatz vergegenwärtigt der Chor die durch Hyllosʼ Bericht bereits ausgemalte Szenerie und nimmt dabei nach der abstrakteren Formulierung vom Ende der Strophe konkret die Gestalt des Herakles und seinen Zustand in den Blick. Statt aller‐ dings – wie im Botenbericht – ein reines Referat der Geschehnisse zu liefern, geben die Frauen die Urheber der auf den Helden einwirkenden Qualen perso‐

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Der von E ASTERLING (1982) S. 176 vermutete Anklang von κατουρίζει an οὖρος καλός aus Vers 815 f. ist nicht von der Hand zu weisen; die hier vorgenommene Einordnung in den motivischen Strang der Chorlieder lässt allerdings die vermutete ironische Bre‐ chung der Aussage des Hyllos zu Gunsten einer Bündelung des nachgezeichneten cho‐ rischen Motivs in den Hintergrund treten.

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nifiziert an und intensivieren damit die Schilderung beträchtlich.112 Als in den Kampf mit dem Leidenden verwickelte Gegner erscheinen konkret Nessos und Hydra – vermittelst letzterer sogar der personifizierte Tod – , die alle zu den momentanen Qualen beigetragen haben: Während die List des Kentauren He‐ raklesʼ Seite geradezu „einschmiert“ (χρίει), waren der Tod und Hydra dieje‐ nigen, die das letale Gift (ἰός) „geboren haben“ (ἔτεκε).113 Die anschaulichen Junkturen προστακέντος ἰοῦ – „während das Gift [an Heraklesʼ Seite] an‐ schmilzt“ – und φονίᾳ νεφέλᾳ – „in einer blutigen Wolke“ bzw. „mit tödlicher Wolke“114 – erhöhen die Drastik, wobei erstere mitsamt dem Ausdruck χρίει die Andeutungen vom Ende des zweiten Stasimons (v. 661 f.) wieder aufgreift, letz‐ tere die Todesthematik in ein eindrucksvolles und bezugreiches Bild umsetzt.115 Für die Frauen des Chors liegt der Ausgang dieses Ringens offen zu Tage: Wenn sich Herakles in dem geschilderten Kampf befinde, werde er ohne Zweifel keine andere Sonne als die momentan scheinende mehr sehen, d. h. keinen wei‐ teren Tag erleben. Wie in der ersten Strophe bedient sich der Chor auch hier der durch πῶς eingeleiteten rhetorischen Frage, deren potential formulierter Inhalt (in beiden Fällen Optativ mit ἄν) als unmöglich begriffen werden soll. Eine Be‐ gründung für diese negative Zukunftsaussicht bietet die Partizipialkonstruk‐ tion: Herakles klebe geradezu an der grausigen Erscheinung der Hydra fest (προστετακώς). Syntaktisch eher frei angeschlossen (τʼ v. 837) folgt eine erneute bildhaft-per‐ sonifizierte Ausleuchtung der Situation: Den Heros quälen „schwarzhaarige, unvermischte, tödliche, tückische, überkochende, stechende Schmerzen“ (μελαγχαίτα ἄμμιγα ὑπόφονα δολόμυθα ἐπιζέσαντα116). Dieses Auftürmen ein‐ drucksvoller Beschreibungen bildet das rauschhafte Crescendo der Gegen‐ strophe: War nach dem Konditionalsatz durch die rhetorische Frage die Aus‐ weglosigkeit der Lage deutlich gemacht worden, so ergeht sich der Chor hier in der detaillierten Schilderung des Leidens und fasst damit Heraklesʼ momentanen Zustand bildmächtig zusammen.

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E ASTERLING (1982) S. 177: „The Chorus trace the disaster to its sources, Nessus and Hydra, metaphorically representing Heraclesʼ struggle in the robe as a physical en‐ counter with these two monsters“. L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) haben sich im Gegensatz zu P EARSON (1924) gegen die Konjektur von Lobeck ἔτρεφε entscheiden und das einhellig überlieferte ἔτεκε wieder in den Text gesetzt. So S CHADEWALDT (2002). Tragödien Sophokles. Herausgegeben und mit Erläuterungen und einer Einleitung versehen von Bernhard Zimmermann, Düsseldorf, S. 110. Ich schließe mich der (vorsichtigen) Vermutung E ASTERLINGS (1982) S. 177 an, verstehe unter νεφέλᾳ „Wolke“ und betrachte es als „dative of circumstance“. So die Rekonstruktion des umstrittenen Textes bei L LOYD -J ONES /W ILSON (1990).

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Die motivische Komposition des Strophenpaars117 unterstreicht dabei die Zentralbegriffe der Situationsdeutung. Nachdem der Orakelspruch als Vordeu‐ tung von Heraklesʼ Tod etabliert ist und so das abstrakte τελεῖν (v. 825) an Trennschärfe gewonnen hat, bestimmt diese Todesmotivik die weitere Schilde‐ rung: Die Gegenstrophe wird dabei gerahmt durch die beiden vom Stamm φον- abgeleiteten Wörter φονίᾳ (v. 831 zu νεφέλᾳ) sowie ὑπόφονα118 (v. 839), der personifizierte Tod erscheint in Vers 834 als Hintermann der Geschehnisse um Herakles. Mit Blick auf die Verursacher des Todeskampfes nimmt das Motiv der List einen ähnlichen Platz ein: Entfaltete in Vers 831 der „listige Zwang“ (δολοποιὸς ἀνάγκα) des Kentauren seine schädliche Wirkung, so werden am Ende der Ge‐ genstrophe (v. 839) die stechenden Schmerzen bewusst mit dem Attribut δολόμυθα bezeichnet. Bis zu diesem Punkt hat Deianeira in der Reflexion des Chors keine Rolle gespielt. Im Folgenden wendet sich der Blick des Chors vom leidenden Herakles zur Protagonistin der bisherigen Bühnenhandlung, wobei eine konkrete Na‐ mensnennung nicht nötig ist. War Herakles dezidiert als der Sohn des Zeus apostrophiert worden (v. 826), reicht an unserer Stelle das feminine Demonst‐ rativpronomen, um den Bezug deutlich zu machen. Wie schon in der Parodos (v. 122) bedient sich der Chor eines Relativprono‐ mens (ὧν), das die Ausführungen allgemein zusammenfasst und die präzise lo‐ gische Beziehung des Vorangegangenen mit dem Kommenden bewusst in der Schwebe lässt. Die Bezeichnung Deianeiras durch den Chor ἅδʼ ἁ τλάμων blickt der eben Abgetretenen hinterher, bekundet eine gewisse mitfühlende Sympathie und kontrastiert dennoch mit dem folgenden Attribut ἄοκνος: Die standhafte Deianeira habe den durch die neue Verbindung des Herakles mit Iole heran‐ nahenden Schaden für ihr Haus vorausgesehen (προσορῶσα) und daher ohne Verzug (ἄοκνος) den einen Teil (τὰ μέν) der Situation selbst in Gang gebracht (προσέβαλεν).119 Spannungsvoll ist mit dieser Aussage das unbestimmte Rela‐ tivpronomen vom Beginn der Strophe aufgenommen, konkretisiert und diffe‐ renziert. Der durch fremde Überlegung ins Werk gesetzte (ἀπʼ ἀλλόθρου γνώμας μολόντʼ) zweite Teil des unheilvollen Wirkens (τὰ δʼ) gibt Deianeira Anlass zu Klage (στένει) und Weinen (τέγγει δακρύων ἄχναν).

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Auf die chiastische Anordnung der Gegenstrophe („Nessus, Hydra, Hydra, Nessus“) weist E ASTERLING (1982) S. 177 zu Recht hin. Soviel lässt sich trotz der textkritischen Probleme mit Sicherheit behaupten. Vgl. zu den Rekonstruktionsversuchen E ASTERLING (1982) S. 178 f. sowie D AVIES (1991) S. 201 f. Dass damit Deianeiras eigene Wortwahl aus Vers 580 f. aufgegriffen ist, bemerkt E AS‐ TERLING (1982) S. 180.

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Betrachten wir kurz die sprachliche Gestaltung dieser Partie etwas näher. Im Bereich der τὰ μέν erscheint Deianeira als entschieden Handelnde, die auf he‐ rannahendes Übel aus eigenem Antrieb und Vorausschau (προσορῶσα) zu re‐ agieren versucht; das verwendete Prädikat προσέβαλεν markiert deutlich ein Geschehen der Vergangenheit, unterstreicht dazu semantisch die Intensität des Geschehens und blendet dabei Deianeiras leise Zweifel, die sie dem Chor bei der Darlegung ihres Plans (v. 590 ff.) bekundet hatte, vollständig aus. Es ist dabei sicher kein Zufall, dass beide Verbalformen, die Deianeiras Handeln be‐ schreiben, Komposita mit der Präposition πρός sind. Nicht nur die klangliche Ähnlichkeit parallelisiert die beiden Worte; ihre semantische Stoßrichtung auf ein Ziel hin, d. h. die ausgedrückte Intentionalität unterstreicht Deianeiras selbstbestimmtes Eingreifen. Der zweite Abschnitt dagegen widmet sich der Gegenwart (στένει, τέγγει) und verbalisiert Deianeiras Reaktionen auf den Teil der misslichen Lage, den sie nicht selbst zu verantworten hat. Wieder nimmt ein Partizip eine entscheidende Stelle in der Periode ein, bezeichnet diesmal jedoch nicht die Protagonistin, sondern spricht den in Rede stehenden Tatsachen eine Eigendynamik zu (μολόντʼ). Die Verse 846 f. legen durch ihre sprachlich-poetische Gestaltung (die Voranstellung der wiederholten bekräftigenden Partikeln, die parallele Anord‐ nung der Satzglieder um das Prädikat in Vers 847 ἀδινῶν χλωρὰν τέγγει δακρύων ἄχναν) großen Nachdruck auf die Emotionalität der gegenwärtigen Lage Deianeiras, die dem Geschehen rein passiv, d. h. hilflos gegenübersteht. Mit den abschließenden Versen der zweiten Strophe (v. 849 f.) ist eine zusam‐ menfassende Deutung verbunden: Die hinzutretende Moira, so der Chor, bringe eine listenreiche und große Verblendung zum Vorschein. Syntaktisch hebt sich diese unheilvolle Aussage vom Vorangegangenen etwas ab (ἁ δʼ), ist aber be‐ grifflich aufs Engste mit dem restlichen Stasimon verbunden. So war der Begriff der List, hier im auf ἄταν bezogenen Adjektiv δολίαν präsent, ein Zentralmotiv der ersten Gegenstrophe, während das zweite Adjektiv μεγάλαν zudem for‐ mengleich die Formulierung aus Vers 842 anklingen lässt, wo vom großen Schaden (μεγάλαν βλάβαν) die Rede war. Die vorliegende Periode fasst so die unheilvollen Einwirkungen, wie sie bereits ausgeführt wurden, zusammen und subsumiert sie unter den moralisierenden Begriffen von μοῖρα „Schicksal, Ver‐ hängnis“ und ἄτη „Verblendung, Unglück, Strafe“, stellt damit also der bild‐ mächtigen Schilderung eine eher abstraktere Gesamtausleuchtung entgegen. Einen ähnlichen Versuch der umfassenderen Situationsdeutung leistet die folgende Gegenstrophe: Eine Quelle von Tränen sei erstarkt (ἔρρωγεν), d. h. mit einiger Intensität aufgebrochen, krankhaftes Unheil habe sich ergossen, wie es

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zuvor noch von keinem Feind über Herakles gekommen war.120 Die Prädikate sind dabei den Perioden wirkungsvoll vorangestellt; die eingeschobene Inter‐ jektion ὦ πόποι macht die innere Beteiligung der Frauen an den Geschehnissen deutlich. Die Wiederholung des Wortes δακρύων (bereits in Vers 848) ruft die Schilderung von Deianeiras Reaktion erneut vor Augen, mit νόσος ist das in Heraklesʼ Körper eingedrungene Gift bezeichnet und zugleich eine Reminiszenz an die Liebesthematik des ersten Epeisodions gegeben (vgl. v. 445 ff.).121 Unter Bekundung der eigenen emotionalen Bindung zu den Geschehnissen fassen die Frauen hier die zwei grundlegenden Ereignisse bzw. Zustände schlaglichtartig zusammen: Deianeiras leidvolle Ohnmacht sowie den Einfluss des todbrin‐ genden Giftes auf Herakles. Ein Anruf an die Lanze des kämpfenden Heros steigert die Intensität der Pas‐ sage erneut: Diese „dunkle“ (κελαινά) Waffe habe die Braut (νύμφαν), d. h. Iole, aus Oichalia hierher gebracht. Heraklesʼ Kriegshandeln erscheint hier konzent‐ riert auf die Überführung seiner neuen Geliebten, was in der personifizierenden Fixierung auf den Speer des Helden seine poetische Ausgestaltung findet; die sprachliche Gestaltung dieser Passage lässt an der Einordnung des Faktums aus Sicht der Choreuten keinen Zweifel: Sowohl die Interjektion ἰώ also auch das Adjektiv κελαινά betonen die unheilvolle und jammervolle Dimension des Ge‐ schehens. Das Ende der zweiten Strophe syntaktisch wieder aufgreifend (an beiden Stellen beginnt die Konstruktion mit ἁ δʼ) gibt der Chor daraufhin den eigent‐ lichen Verantwortlichen an: Die Liebesgöttin Aphrodite habe sich deutlich als gleichsam im Hintergrund agierende (ἄναυδος) „Täterin“ (πράκτωρ) der in Rede stehenden Ereignisse erwiesen. Dabei bezieht sich das Demonstrativum τῶνδε (v. 862) im engeren Kontext wohl zunächst nur auf den Kampf um Oichalia sowie die Heimführung der Iole. Indem damit allerdings der eigentliche Ausgangs‐ punkt der dramatischen Geschehnisse bezeichnet ist, fasst es zugleich die ge‐ samte, im Stasimon wortreich entfaltete Situation zusammen. Der Chor schließt seine Reflexion also mit einem umfassenden Blick auf die Geschehnisse. Dass mit dem Begriff πράκτωρ erneut ein besonders gewichtiges Wort das Ende des Liedes bildet und zugleich ein Bezug zur Apostrophierung des Zeus in

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Ich folge in diesem durch Textverlust entstellten Abschnitt der Textergänzung von J EBB (1962) (τοῦδε σῶμʼ), die L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) in ihrer Ausgabe übernommen haben und D AVIES (1991) S. 204 vorsichtig verteidigt: „Jebb’s supplements, placed in the text by the editors of the OCT, are not totally secure, but they provide suitable sense and metre […] and […] a plausible corruptelae ratio“. So auch E ASTERLING (1982) ad locum S. 181.

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Vers 251 gegeben ist, hat D AVIES122 richtig beobachtet; was bei ihm und E ASTER‐ LING 123 allerdings fehlt, ist eine inhaltliche Beschäftigung mit dem durchaus mehrdeutigen Begriff. Wir werden darauf zu gegebener Zeit zurückkommen. Die sprachlich-begriffliche Komposition des vorliegenden Schlusssatzes des Stasimons spielt darüber hinaus augenscheinlich mit dem Gegensatz von Of‐ fensichtlichkeit und Heimlichkeit: So prallen die beiden Adjektive ἄναυδος und φανερά direkt aneinander, während letzteres in ἐφάνη gedoppelt wird. Neben der gleichen Satzeinleitung ist zudem gerade dieses Prädikat eine deutliche Re‐ miniszenz an das Ende der vorangegangenen Strophe.124 Das eigentliche Standlied ist damit zu seinem Ende gekommen. Ein hinter‐ szenischer Ruf (L LOYD -J ONES /W ILSON ergänzen ἰώ μοι nach Vers 861) unter‐ bricht die Reflexion des Chors und leitet in eine neue Szene über. Betrachten wir an diesem Punkt noch einmal das Chorlied im Ganzen und versuchen, seine besondere Komposition nachzuvollziehen. Am Beginn des Stasimons stand mit der Erfüllung des Orakelspruchs der Rückgriff auf ein Motiv, das gerade am Beginn der Tragödie durch Deianeira selbst entfaltet worden war.125 Innerhalb der lyrischen Partien wurde es dagegen nicht ausgestaltet und spielte in der Reflexion des Chors bisher keine Rolle. Erst an unserer Stelle wird der motivische Strang wieder aufgenommen und dient in seiner das Standlied eröffnenden Position als Fokus auf die eingetretene Situa‐ tion, den aktuellen dramatischen Moment: Im Todeskampf des Herakles hat sich das Orakel erfüllt, der Chor kann nun die Vorhersagen ausdeuten und zugleich die dramatische Realität in neuem Licht betrachten. Mit dieser (Wieder-)Auf‐ nahme des Orakelmotivs kommt die gerade durch Deianeiras Monolog im ersten Epeisodion (v. 164 ff.) erzeugte Spannung zu ihrem Schlusspunkt; der motivische Kreis ist damit geschlossen. Statt dabei Mantik und Vordeutungen als ein Haupt‐ motiv der chorischen Äußerungen zu etablieren und damit die gesamte Hand‐ lung mit einer dementsprechenden Grundierung zu versehen,126 weist Sophokles dem Motiv an unserer Stelle eine klar umrissene Funktion zu: Es dient hier als

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D AVIES (1991) S. 205: „again a weighty word kept back to the end: the title was used of Zeus in 251, of Aphrodite here“. Vgl. E ASTERLING (1982) S. 182 zur Stelle: „The picture of Cypris as real agent of all these events recalls the First Stasimon, where she is portrayed as umpire in the fight (515 – 16)“. Vgl. B URTON (1980) S. 73: „The parallelism of verbal and grammatical shape in the closing sentences of the last two stanzas is noteworthy. […] These lines proclaim in an impres‐ sive and formal manner a dominant theme of the tragedy“. Vgl. v. 161 ff. So v. a. im Oidipus Tyrannos, wo das Themenfeld Apoll und Mantik („Theben-Delphi-Thematik“) ein Leitmotiv der chorischen Partien (und damit der ganzen Tragödie) bildet.

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punktuelle Ausleuchtung der eingetretenen Situation und damit geradezu als Aufhänger der folgenden Reflexion. Das Stasimon hebt die in ihm thematisierte Situation in besonderer Weise heraus, verankert sie durch einen Rückgriff im dramatischen Ablauf und findet mit der emotionalen Verbalisierung der Ora‐ kelmotivik einen effektvollen Beginn. Im Folgenden richtete der Chor daraufhin seinen Blick auf die beiden Be‐ reiche der Handlung, indem er konkret die beiden Hauptpersonen und ihre mo‐ mentane Lage kommentierte. Zunächst galt dabei die Aufmerksamkeit des Chors der Person des Herakles: Hatte die erste Strophe bereits herausgestellt, dass die Erfüllung des Orakels in dessen baldigem Tod bestehe, so suchte die Gegenstrophe diese Behauptung durch den ausführlichen Blick auf die Schmerzen und Qualen des Helden zu belegen. Mit der zweiten Strophe wendete sich der Blick auf Deianeira. Die Themati‐ sierung ihrer Rolle innerhalb der Geschehnisse sowie ihrer Reaktion auf die durch sie mitverschuldete katastrophale Wendung vervollständigte dabei das Panorama der im Handlungsverlauf erreichten Situation. Die zweite Gegen‐ strophe fokussierte daraufhin wieder stärker auf Herakles. Gerade in seinem Kriegshandeln sowie der Heimführung der Iole erkannte der Chor den Einfluss der Kypris, die damit als eigentliche movens der Handlung (πράκτωρ) deutlich vor Augen getreten ist. Halten wir fest: Der Mittelteil des Stasimons (erste Gegenstrophe und zweite Strophe) entfaltete den Blick auf die beiden Hauptpersonen der Handlung. In dieser thematischen Fokussierung auf das Protagonistenpaar ist die Bipolarität des chorischen Blicks, die bereits der Parodos ihre Struktur verlieh, erneut deut‐ lich geworden. Anders gesagt: Aus dem Hinschauen, dem Imaginieren der Si‐ tuation beider Handlungsträger sowie der Beziehung, in die es diese beiden Sphären zueinander stellt, entwickelt das Lied eine Gesamtschau der Situation, die es durch die Orakelmotivik zu Beginn sowie den prominenten Verweis auf Kypris am Ende der Partie rahmt und in besonderer Weise ausdeutet. Damit steht das vorliegende Stasimon formal in einer Reihe mit der Parodos und dem zweiten Standlied. Auch diese Passagen hatten, ausgehend vom jeweils aktuellen Stand der Handlung, versucht, in der Verknüpfung mehrerer Ebenen des Geschehens (personal, zeitlich, lokal) ein umfassendes Panorama der Situ‐ ation zu bieten. Dass der Chor mittlerweile um die katastrophale Wendung weiß, verändert freilich den Blick auf das Geschehen grundlegend. Die gottesfürchtige Ermutigung der Parodos (vgl. v. a. die zweite Gegenstrophe v. 122 ff.) sowie der hoffnungsvolle Blick des zweiten Stasimons (v. 640 ff.) sind an unserer Stelle einer detaillierten Schilderung der leidvollen Gegenwart sowie ihrer Einord‐ nung in einen umfassenderen Kontext gewichen. Während dabei die Parodos

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und das zweite Stasimon maßgeblich durch einen mehr oder minder konkreten Zukunftsbezug geprägt wurden, verzichtet das dritte Stasimon ganz darauf, expressis verbis einen Blick nach vorne zu werfen.127 Sein motivisches Material bezieht das vorliegende Panorama des dritten Sta‐ simons trotz dieser fundamentalen Umwertung der Ereignisse aus den vorhe‐ rigen Chorpartien. Ein rascher Nachvollzug der wichtigsten Bezüge und Wie‐ deraufnahmen soll dies demonstrieren. Die deutlich betonte Abstammung des Herakles vom Göttervater (αὐτόπαιδι v. 826) stellt einen Widerhall der Zeus-Thematik am Ende der Parodos dar: War dort zunächst (v. 127 f.) das Handeln des Gottes an den Menschen im Allge‐ meinen thematisiert worden, so brachte die das Lied abschließende Bemerkung die Hoffnung zum Ausdruck, Zeus werde sich seinem eigenen Kind gegenüber nicht sorglos verhalten (v. 139 f.). Bedenken wir weiterhin, dass das Orakel be‐ züglich Herakles in Dodona, einer dem Zeus geweihten Stätte, ergangen war,128 so erhält die forcierte Apostrophierung an unserer Stelle eine besonders dras‐ tische Relevanz: An Herakles vollzieht sich in grausamer Weise ein Orakel des Zeus; die vom Chor erhoffte Sonderbehandlung des Helden durch seinen gött‐ lichen Vater realisiert sich in einer Art und Weise, die von der Erwartung grund‐ legend abweicht und sie ins Gegenteil verkehrt. Schon angesprochen wurde die im Wort κατουρίζει angedeutete motivische Bezugnahme zur Parodos und ihrer Seefahrtsmotivik. Auch hier hat ein Motiv seine von der ursprünglichen Intention völlig abweichende Konkretisierung gefunden: Der Hafen, den Herakles nun erreicht hat, ist sein eigener Tod. In besonderem Maß prägen das dritte Stasimon die Begriffsfelder „Sehen“ und „Aufdecken, ans Licht kommen“.129 Dabei dienen Begriffe dieses semantisch-mo‐ tivischen Feldes verschiedenen Funktionen, da sie sowohl die Reaktion des Chors auf das eingetretene Unheil (ἴδʼ v. 821) verbalisieren, als auch zur Aus‐ deutung des Todes dienen (ὁ μὴ λεύσσων v. 828, ἀέλιον ἕτερον ἴδοι v. 835), Deianeiras Motivationen charakterisieren (προσορῶσα v. 842) und schließlich als Bezeichnung der eigentlichen Urheber dienen (προφαίνει v. 849 f., φανερὰ ἐφάνη v. 862). Gerade der Beginn des Standliedes mit seinem betonten Imperativ ἴδʼ schlägt dabei eine Brücke zum (Tanz-)Lied im ersten Epeisodion: Hatte der Chor dort in einem gedoppelten Imperativ ἴδε ἴδʼ (v. 222) Deianeira aufgefordert, die sich scheinbar zu ihren Gunsten entwickelnde Handlung zu betrachten, so 127 128 129

Auffällig ist in diesem Zusammenhang das Fehlen von Verbalformen im Futur oder andere Bezeichnungen der Zukunft. Vgl. v. 171 f. Vgl. E ASTERLING (1982) S. 174: „[…] the main emphasis is on knowledge, expressed through the themes of seeing and revelation“.

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sehen sich die Frauen hier mit der Katastrophe konfrontiert, die sie im Wortsinn in den Blick nehmen. Die Schilderung von Deianeiras momentaner Reaktion in den Versen 846 ff. gesellt sich dabei zur Ausgestaltung, wie sie die Emotionen der Protagonistin in der ersten Gegenstrophe der Parodos erfahren haben: In beiden Fällen findet gerade das Weinen Deianeiras besondere Erwähnung (ἀδάκρυτον βλεφάρων v. 106 f. sowie δακρύων ἄχναν v. 848 f. und παγὰ δακρύων v. 851). War damit zu Beginn der Tragödie die wartende Ungewissheit und tatenlose Sorge Deianeiras ins Bild gesetzt worden, so steht an unserer Stelle die Heroine in ihrer Reaktion auf die Katastrophe im Fokus des Chors. Wieder rückt Deianeira so als Trau‐ ernde in den Blick, der angesichts der verheerenden Situation nichts bleibt als zu klagen und zu weinen. Anders gesagt: Der Chor suggeriert durch die Wie‐ deraufnahme der Motivik des Klagens und Weinens, Deianeira würde dem Teil des Geschehens, den sie nicht unmittelbar selbst zu verantworten hat, mehr oder minder untätig gegenüberstehen, nachdem gerade ihr resolutes Handeln (vgl. ἄοκνος v. 841) einen wesentlichen Beitrag zur Katastrophe geleistet hatte. Dass dabei der Chor in seiner Imagination von den tatsächlichen hinterszenischen Ereignissen, d. h. vom Selbstmord Deianeiras, nichts weiß und so ein Bild ent‐ wirft, das nicht der Wirklichkeit entspricht, steigert die Brisanz der Partie. Erst der Bericht der Amme wird erweisen, dass Deianeira während des Liedes kei‐ neswegs untätig ihr Schicksal beklagt, sondern mit ihrem Selbstmord den Fort‐ gang der Handlung entschieden beeinflusst hat. Schließlich hat in der expressiven Schilderung der Qualen des Herakles die Andeutung vom Ende des zweiten Stasimons ihre konkrete Beantwortung ge‐ funden. In χρίει (v. 832) ist das in seinem Kontext zunächst etwas befremdliche παγχρίστῳ (v. 661) wieder aufgenommen und als subtile Vorausdeutung der Todesumstände etabliert. Halten wir hier kurz inne und vergegenwärtigen wir uns das Folgende: Strukturell und motivisch spiegelt das vorliegende dritte Stasimon eine Reihe bereits etablierter Themen und Bilder. Im Besonderen beantwortet es die Par‐ odos sowie das zweite Stasimon, indem es deren Motive im Licht der katastro‐ phalen Wendung neu interpretiert. Kommen wir abschließend mit der betonten Apostrophierung der Kypris in der zweiten Gegenstrophe zur prominentesten motivischen Spiegelung und Wiederaufnahme des dritten Standliedes. Im ersten Standlied hatte der Chor der Schilderung des Kampfes zwischen Herakles und Acheloos das Lob der unbezwingbaren und immerzu siegreichen Macht der Kypris vorangestellt. Damit war ein entscheidendes Geschehen der dramatischen Vorgeschichte beleuchtet und ausgedeutet worden. Die jüngsten

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II. Frauenchöre

Ereignisse des Handlungsverlaufs sowie die eigentliche dramatische Realität erfuhren dabei allerdings keine dezidierte Kommentierung; die Übertragung des aufgeworfenen Bildes auf das eigentliche Bühnengeschehen, d. h. die eigentliche Deutung der imaginierten Szenerie war dem Rezipienten des Liedes überlassen worden. An unserer Stelle nun bringt der Chor expressis verbis die Heimführung der Iole mit der Kypris-Motivik in Verbindung und erkennt im Walten der Lie‐ besgöttin den entscheidenden Faktor des gesamten Geschehens, das in Heraklesʼ Bemühen um die junge Frau seinen verhängnisvollen Anfang nahm. War so die Kypris-Motivik der Filter, durch den der Chor im ersten Standlied die Gescheh‐ nisse der fernen Vergangenheit betrachtete und ausdeutete, so wird an unserer Stelle im Vorgriff auf die visuelle Konfrontation mit der Katastrophe die Kypris-Thematik zum aktuellen Geschehen in Beziehung gesetzt und dieses aus Sicht des Chors ausgedeutet. Wie schon im ersten Stasimon interpretiert der Chor an unserer Stelle dabei vordergründig ein Geschehen der Vergangenheit (die Eroberung der Iole), um damit dezidiert eine Aussage über die dramatische Gegenwart zu fällen. In der Übertragung der Kypris-Motivik auf die Oichalia-Episode sowie der Verflu‐ chung des Speers als Symbol dieser amourösen Eskapade, deren katastrophale Konsequenz der Chor bereits vor Augen hat, sind die verschiedenen zeitlichen, lokalen und personalen Dimensionen und Ebenen der Handlung besonders eng miteinander verflochten. Dass dabei der Chor das von ihm als den Ereignissen zu Grunde liegend er‐ kannte Handeln der Liebesgöttin nicht nur wertfrei konstatiert, sondern mit einer besonderen, dramatisch relevanten Konnotation versieht, erweist ein er‐ neuter Blick auf den Schlussabschnitt des Stasimons. Dazu muss etwas weiter ausgeholt werden. Der an unserer Stelle prominent positionierte Begriff πράκτωρ bezeichnet nicht nur schlicht den Täter oder Vollender einer Handlung,130 sondern steht darüber hinaus besonders in der attischen Rechtssprache als terminus technicus für einen Beamten, dem die Eintreibung von Staatsschulden anvertraut war.131 Es liegt nahe, dass der Begriff auf diesem Wege Eingang in die Dichtersprache fand: Gerade die attischen Tragiker bezeichnen mit πράκτωρ jemanden, der eine Strafe ausführt oder etwas rächt (LSJ: „one who exacts punishment, avenger“132). Die Aussage des Chors an unserer Stelle ist demgemäß eine doppelte: Es ist nicht 130 131 132

LSJ s.v.: „one who does or executes, accomplisher“. Vgl. A MELING (2001). „Praktor.“ in: DNP Band 10, Sp. 272. LSJ s.v. Dass auch unserem Dichter dieser Sprachgebrauch nicht fremd ist, belegt Vers 953 der Elektra: Die Titelheldin gibt an, sie habe die Hoffnung gehabt, ihr Bruder werde als πράκτωρ πατρός zu ihr zurückkehren.

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nur Kypris, die hier nach Einschätzung der trachinischen Frauen am Werk war – das war bereits aus dem ersten Stasimon implizit zu erschließen gewesen – , ihr Handeln ist ferner das eines πράκτωρ, d. h. von rächender Unbarmherzigkeit geprägt. Dieses Resümee des Chors fügt der Zeichnung der Liebesgöttin, wie sie das erste Standlied entfaltet hatte, eine besonders pikante Note hinzu: War dort im Preis der Gottheit durch den Verweis auf ihre Fähigkeit zur Täuschung (ἀπάτασεν v. 499) bereits eine leicht sinistre Note eingeflochten worden, so legt die Wortwahl an unserer Stelle nahe, in ihr eine Rächerin zu sehen, die mit dem Eintritt der Katastrophe eine ihr gegenüber bestehende Schuld einfordert. Aus der allezeit triumphierenden Göttin der Liebe, deren Eingreifen im Kampf der beiden Freier noch zu Deianeiras Nutzen geschah, ist an unserer Stelle so eine finstere Gestalt geworden, deren Wirken im Hintergrund letztlich zur Kata‐ strophe und damit zu Leid auf Seiten aller Beteiligten führt. Mit der Bezugnahme auf Kypris am Ende des dritten Stasimons ist dement‐ sprechend nicht nur der motivische Kreis geschlossen, den das erste Standlied in Fortführung der durch Deianeira angestoßenen Liebesthematik eröffnet hatte. Vielmehr ist, basierend auf dem Wissen um die katastrophale Wendung der Ereignisse, die Charakterisierung der Kypris umgedeutet und damit das Ge‐ schehen mit einer besonderen Konnotation versehen worden. Es lässt sich also festhalten: Wie schon in der Parodos und dem zweiten Standlied prägt das Stasimon der wechselnde Blick auf die zwei Zentralfiguren der Hand‐ lung. Seinen dramatischen Bezug und seine Relevanz zieht es in diesem Sinn aus der Fokussierung auf die in das Geschehen verwickelten und es zugleich maß‐ geblich prägenden Gestalten. Der Chor versteht sich in besonderem Maß als Hinschauender, die Motivik des Sehens und Aufdeckens spiegelt sich so im zentralen Strukturmoment. Die aus diesem Blick erwachsende detailfreudige, schlaglichtartige Ausleuchtung einzelner Situationen – im vorliegenden Fall des Todeskampfes des Herakles sowie Deianeiras emotionaler Reaktion – ist dabei nicht nur rein deskriptiv, sondern nimmt durch Personifizierungen, Rückblicke, logische Einordnungen und moralisierende Bewertungen eine dezidierte Aus‐ deutung der Situation vor. Als letztes durch diesen ausführlichen doppelten Blick auf beide Handlungs‐ sphären geprägtes Panorama133 stellt das dritte Standlied in seinen Wiederauf‐ nahmen und Umdeutungen die Klimax der bisherigen Chorpartien dar. Im Rückgriff auf die bereits entfaltete Motivik deutet es nun nicht mehr eine be‐ stimmte Episode der Handlung aus, sondern sucht im Wissen um die katastro‐ 133

Das vierte und letzte Stasimon wird in seinem ersten Strophenpaar (v. 947 – 952) nur noch den Reflex dieses Strukturmoments darbieten. Weiteres siehe ad locum.

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II. Frauenchöre

phale Wendung des Geschehens eine umfassendere Interpretation zu geben. Der chorische Blick auf das Geschehen stiftet durch die Vernetzung der unterschied‐ lichen Ebenen des Geschehens einen umfassenden Sinnzusammenhang, den das Lied unter Einsatz poetischer Mittel (Personifikation, Imagination, Konkretisie‐ rung) ausgestaltet. Erneut stehen dabei beide Zentralfiguren der Handlung im Mittelpunkt der chorischen Betrachtung; nachdem Deianeiras Einschreiten den Umschwung der Handlung herbeigeführt hatte, leuchtet das vorliegende Stasimon die Folgen dieser Tat mit Blick auf beide Beteiligten aus und thematisiert damit erneut das Verhältnis der beiden Partner zueinander. Der betont an den Schluss des Liedes gesetzte Verweis auf die Liebe als tätige Macht bringt dieses eigentliche Zent‐ ralmotiv konzentriert zum Ausdruck. Die herausragende Wirkung des stillen Abtritts der Protagonistin in Vers 813 wurde bereits erwähnt. Sophokles untergräbt hier einmal mehr mögliche for‐ melle Erwartungen des Publikums: Eigentlich wäre nach dem Eintreffen der vernichtenden Nachricht der passendste Augenblick für einen emotionalen Ausbruch Deianeiras, d. h. formal gesehen für einen Kommos gewesen. In einem drastischen Wechselgesang wäre das Lied aus dem ersten Epeisodion als bisher emotionalste und formal überraschendste Partie der Tragödie beantwortet worden; zudem hätte auch die durch das zweite Stasimon mit seiner Heimkehr‐ motivik aufgeworfene Spannung in einer effektvollen Inszenierung ihre Wen‐ dung erfahren. Sophokles hat allerdings bis zur Hyllos-Szene auf dieses drastische Mittel chorischer Interaktion mit den Handelnden verzichtet und tut es auch hier: Die umfassende Ausleuchtung der Situation kommt erneut dem Chor alleine zu, der nach Deianeiras Abgang und Hyllosʼ abschließenden Worten die gesamte Auf‐ merksamkeit auf sich bündelt. Der Situation ist so zunächst die unmittelbare Dynamik genommen: Statt effektvoller Bühnenszene unter Aufbietung emoti‐ onaler Formensprache erfolgt das leise Verschwinden Deianeiras aus der Hand‐ lung, gefolgt von einem Chorlied, das zwar die Drastik der Situation visuell evoziert,134 allerdings dezidiert den Blick des Chors auf das Geschehen bietet und sich nicht darin erschöpft, das bevorstehende Leiden des Protagonisten mög‐ lichst effektvoll zu schildern. Den unmittelbar Betroffenen (v. a. Deianeira) bietet sich dementsprechend keine Möglichkeit, aus ihrer eigenen Perspektive zu sprechen und die Ereignisse zu reflektieren. Das Stasimon wird zum alleinigen Ort der Reaktion auf das Geschehen; die erneute poetische Ausgestaltung des wechselnden Blicks auf beide Zentralfiguren unterstreicht dabei die Grund‐ 134

Vgl. B URTON (1980) S. 73: „It [the ode] creates a sense of physical horror“.

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struktur der Handlung am vorliegenden Punkt. Bevor im weiteren Fortgang die endgültigen Folgen der Handlung (Deianeiras Tod) berichtet bzw. (Heraklesʼ Todeskampf) visuell vorgeführt werden, steckt das Chorlied noch einmal den Bezugsrahmen der Handlung ab, indem es die wechselseitigen und vielschich‐ tigen Verflechtungen der beiden Handlungssphären miteinander herauszu‐ stellen sucht. Lyrische Wechselpartie Chor-Amme mit anschließender Szene (v. 863 – 895 bzw. 946)

Die sich an das Chorlied anschließende Szene ist formal wie personell gesehen teils überraschend, teils erwartbar. In Vers 863 hört der Chor einen hintersze‐ nischen Schrei, der schnell als Klageruf identifiziert wird.135 Schon sieht der Chor die alte Amme (γραῖα) herannahen, nimmt ihre Verstimmung wahr (ἀήθης136 καὶ συνωφρυωμένη) und macht sich auf eine neue Botschaft gefasst (σημανοῦσά τι). Der Chor bedient sich dabei iambischer Trimeter, hat also das Stasimon als lyrische Partie abgeschlossen, die Handlung geht weiter. Was folgt, ist mit Blick auf Emotionalisierung und Drastik ein Höhepunkt der Tragödie. Die Angekündigte betritt in Vers 871 die Bühne und entfaltet in einem Wech‐ selgespräch mit dem Chor die furchtbare Nachricht: Deianeira habe sich mit einem Dolch getötet; als Augenzeugin habe sie es selbst mitangesehen. Der Chor steht diesem Ereignis schockiert gegenüber:137 Seine Beiträge sind bis auf das Fazit v. 893 ff. affektvolle Fragen. Dabei versichern sich die Frauen der genauen Lage (z. B. οὐ δή ποθʼ ὡς θανοῦσα; v. 876 verdoppelt durch das anschließende τέθνηκεν ἡ τάλαινα; v. 877), erkundigen sich nach bestimmten Umständen des Geschehens (z. B. τίνι τρόπῳ θανεῖν σφε φής; v. 878 f. sowie πῶς ἐμήσατο; usw. v. 884 oder auch das an die Amme gerichtete ἐπεῖδες τάνδε ὕβριν;), erfragen die Motive Deianeiras (τίς θυμός, ἢ τίνες νόσοι usw. v. 882) oder unterbrechen die Amme am entscheidenden Punkt bei der Thematisierung des Selbstmords (τί

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136 137

P EARSON (1924) und D AWE (31996). Sophoclis Trachiniae, Stuttgart und Leipzig deuten in ihren Textausgaben eine Verteilung der Verse 863 – 870 auf drei verschiedene Sprecher des Chors an. Ersterer geht so weit, auch im Folgenden (v. 873 – 898) die Beiträge des Chors auf einzelne Choreuten zu verteilen. Wie die Partie genau realisiert wurde, muss offen bleiben; die Andeutung eines Gesprächs unter den Choreuten im direkten An‐ schluss an das Stasimon erscheint mir persönlich allerdings der Situation durchaus an‐ gemessen. Vgl. dazu D AVIES (1991) S. 205. Die Konjektur ἀγηθὴς gegen den überlieferten Textbestand erschließt sich mir nicht. Dass auch die Amme selbst emotional zutiefst in das Geschehen involviert ist, stellt B URTON (1980) S. 74 zu Recht heraus: „She […] is used here as an ἐξάγγελος deeply involved in the horror, so that she has none of the conventional messenger’s detachment and objectivity“.

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φωνεῖς; v. 892). Der an zwei Stellen eingestreute Imperativ εἰπέ (v. 879 und 890) sowie der Vokativ γύναι (v. 880) unterstreichen zudem die gesteigerte Emotio‐ nalität der chorischen Aussagen. Dabei spielt sich die Aufdeckung der eigentli‐ chen Katastrophe schrittweise in der Form von Frage und Antwort ab.138 Was mit dieser Konstruktion dramaturgisch gewonnen ist, wird noch zur Sprache kommen; hier reicht zunächst der Verweis auf den Einsatz der referierten kon‐ ventionellen Figuren und Stilmittel zur effektvollen Ausgestaltung eines lyri‐ schen Wechselgesangs. Mit den Versen 893 – 895 fasst der Chor die Situation zusammen: Die neue Braut hat für dieses Haus, d. h. für Herakles, Deianeira und ihr persönliches Umfeld, ein großes Verderben (Ἐρινύς) hervorgebracht. Wirkungsvoll ist dabei das Prädikat ἔτεκʼ ἔτεκε verdoppelt an den Beginn, Ἐρινύν an das Ende der Pe‐ riode gestellt; das Bild des Gebärens steht dabei in besonderer Relation zur Brautthematik, wobei das überlieferte und durch L LOYD -J ONES /W ILSON im Text belassene Adjektiv ἀνέορτος „ohne (Hochzeits-) Zeremonien“ eine besonders brisante Note darstellt:139 Ohne durch die entsprechenden Riten als Ehefrau be‐ stätigt zu sein, hat die in Rede stehende Braut bereits geboren, der Fa‐ milie / Hausgemeinschaft (δόμοισι) Zuwachs beschert – allerdings nicht in Form von Kindern. Der lyrische Abschnitt hat damit ein Ende gefunden; das weitere Gespräch zwischen Chor und Amme, d. h. konkret die Bestätigung durch die Amme, die letzte Nachfrage des Chors und der dann folgende ausführliche Bericht von Deianeiras Tod (v. 899 – 946) vollziehen sich in iambischen Trimetern, damit einhergehend in gedrosselter Emotionalität und in abgeschwächter situativer Drastik. Unser Augenmerk soll sich im Folgenden auf den Wechselgesang als solchen sowie seine Beziehung zum Rest der Ammenszene konzentrieren. Bevor wir versuchen, die lyrische Passage in den Kontext einzuordnen, müssen kurz die Diskussionen angesprochen werden, die der Abschnitt in der Forschung verursacht hat. Machen wir uns dazu bewusst: Das Zwiegespräch vollzieht sich zunächst (871 – 879) rein in iambischen Trimetern, bevor in Vers 880 lyrische Versmaße hinzutreten.140 Das durch M AAS formulierte Diktum „Personen niederen Standes (ausgenommen den Phryger im Orestes) erhalten 138

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Vgl. A LEXIOU (1974). The ritual lament in Greek tradition, Cambridge und London, S. 137: „[…] the news of Deianeira’s death is not told as a simple statement of fact, but revealed gradually, point by point, in a prolonged series of statement and counter-state‐ ment, question and answer“ sowie die Bezeichnung dieser Form als „technique of ca‐ techistic questions“. Anders D AWE (1996) und E ASTERLING (1982). Vgl. dazu die metrischen Analysen bei E ASTERLING (1982) S. 238 bzw. D AVIES (1991) S. 205.

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keine Singverse, wohl aber Anapäste, wie die Amme im Hippolytos, oder He‐ xameter, wie der Alte in den Trachinierinnen“141 führte zu einem Eingriff in die durch die codices gegebene Sprecherverteilung142 der Verse 883 und 886 – 7, dem die neuesten Ausgaben von L LOYD -J ONES /W ILSON und D AWE (1996) sowie die Kommentare von E ASTERLING und D AVIES zumindest in Grundzügen folgen. Akzeptiert man die dort gegebene Aufteilung als Lösung,143 – wenn auch die Herausgeber den Text im Einzelnen verschieden rekonstruieren – so ergibt sich folgendes Bild: Auf die emotionalen, in lyrischen Maßen komponierten Fragen des Chors antwortet die Amme in iambischen Trimetern (einzige Ausnahme ist der zweite Teil des Verses 892, der immerhin als Baccheus ein synkopiertes iam‐ bisches Metrum darstellt144). Die auf Basis dieser Zuteilung allerdings auftre‐ tenden logischen Schwierigkeiten mit Blick auf den Gesprächsverlauf und den Informationsstand des Chors (konkret: „Woher wissen die Frauen in Vers 883 bzw. 887, dass Deianeira eine Stoßwaffe benutzt hat und sich nicht etwa er‐ hängte?“), versuchen Konjekturen in Vers 881 zu beheben, die der Amme eine Erwähnung der Waffe in den Mund legen. Ob an M AASʼ Diktum unter allen Umständen festgehalten werden muss, bleibt an unserer Stelle äußerst fraglich; so hatte noch P EARSON (1961) in seiner Ausgabe keine Bedenken, der Amme auch lyrische Verse zuzuteilen – und damit der einhelligen Zuteilung der codd. zu folgen. Es spricht an sich nichts dagegen, dass die von M AAS selbst angeführte Ausnahme im Werk des Euripides nicht die einzige sein könnte; in Anbetracht

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M AAS (1929). Griechische Metrik, unveränderter durch Nachträge vermehrter Neu‐ druck (erste Ausgabe 1923), Leipzig und Berlin, Paragraph 76. Vgl. dazu v. a. H ENDERSON (1976). „Sophocles Trachiniae 879 – 92 and a principle of Paul Maas.“ in: Maia 28 (1976) S. 19 – 24, der S. 22 klarstellt: „I will argue that the passage requires emendation, and that the simplest course is to emend it in accordance with his [Maasʼ] rule“. Im Gegensatz etwa zu noch gewichtigeren Eingriffen in den Text, wie sie z. B. Z IEL‐ INSKI (1896). „Excurse zu den Trachinierinnen.“ in: Philologus 25 / 9 (1896), S. 577 – 633, S. 593 vornimmt, der die Verse 871 – 879+891+898 f. als iambische Umdichtung eines ei‐ gentlich nach 870 einsetzenden, allerdings verderbten Kommos streicht. Zur Begrün‐ dung führt er an, es sei in späterer Zeit schlicht als „unbequem“ empfunden worden, den Tritagonisten singen zu lassen. Zur weiteren Diskussion siehe D AVIES (1991) S. 207. Vgl. W EST (1987). Introduction to Greek Metre, Oxford, S. 52.

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II. Frauenchöre

der immensen Textverluste im Bereich der attischen Tragödien scheint M AAS ʼ apodiktische Regel ohnehin etwas fragwürdig.145 Wie die Passage im Einzelnen auch immer rekonstruiert werden mag, fest steht: Sophokles erweitert an unserer Stelle den bis zu diesem Punkt der Tra‐ gödie angewendeten Formenschatz zum ersten (und einzigen Mal) um einen lyrischen Austausch zwischen Chor und Akteur. Dass den trachinischen Frauen dabei gerade die aus dem Prolog bereits bekannte Amme gegenübertritt, ist so überraschend wie bedeutsam. Statt einen mehr oder minder unbeteiligten Boten die Nachricht überbringen zu lassen, komponiert der Dichter eine Szene von emotional Involvierten. War schon die erste Wortmeldung der Amme im Prolog (v. 49 ff.) von fürsorglicher, alle Standesgrenzen überschreitender Verbundenheit mit Deianeira geprägt, so hatte der Chor noch zu Beginn des dritten Stasimons explizit seine eigene Verknüpfung mit dem Geschehen bekundet (ἡμῖν v. 822). In diesem Sinne betont auch die Amme durch ihr ἡμίν (v. 871) gleich in den Auftrittsworten die Schicksalsgemeinschaft zwischen ihr und den vertraut als παῖδες angeredeten Frauen. Das Verhältnis zwischen dem dritten Stasimon und der Wechselpartie soll etwas genauer beleuchtet werden. Wie schon E ASTERLING festhält,146 beant‐ wortet die Unterredung das Standlied in mancher Hinsicht. So ist die im ersten Strophenpaar des Liedes prominente Todesthematik maßgeblicher Zentral‐ punkt der Ausführungen und begrifflich zur höchsten Drastik gesteigert. Dienten im Stasimon noch verschiedene Wortfelder zur Bezeichnung und An‐ deutung des Todes (τελεῖν, θανών und θάνατος sowie φόνιος), so häufen sich in den zehn Versen 876 – 885 fünf Ableitungen desselben Wortstamms: θανοῦσα, τέθνηκεν, θανεῖν sowie die eindrucksvolle Junktur πρὸς θανάτῳ θάνατον. Die Übertragung des Todesmotivs von der Beschreibung des Herakles und seines

145

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Besonderes Interesse hat M AAS ʼ Diktum in der modernen angelsächsischen Forschung gefunden, die insbesondere die soziokulturellen Dimensionen der attischen Tragödie und ihrer Formteile beleuchtet. Einen Überblick zur Zuteilung lyrischer, d. h. „gesun‐ gener“ Partien an Schauspieler im Allgemeinen gibt dabei H ALL (1999) S. 96 – 122; zu M AAS ʼ Regel im Besonderen S. 108 ff., zu möglichen Ausnahmen davon S. 118 ff., wobei sie zu unserer Stelle S. 118 festhält: „[…] Deianeira’s nurse almost certainly does not sing: the slightest of emendations restores her to spoken iambic trimeters“. Angesichts der von H ALL betonten Ausnahmestellung des sophokleischen Aias als eines wehrfä‐ higen Mannes, dem gesungene Passagen zukommen (vgl. S. 196, Anm. 213), spricht nichts gegen die Annahme, auch in der Amme eine Ausnahmeerscheinung zu sehen – oder vielmehr, das postulierte Diktum nicht als Regel im strengen Sinne, sondern als Tendenz zu verstehen. E ASTERLING (1982) S. 183: „The language is full of echoes of the stasimon, confirming the truth of the Chorusʼ forebodings“.

1. Trachinierinnen

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Zustands auf die hinterszenischen Gegebenheiten um Deianeira ist damit wir‐ kungsvoll geleistet. Die Spiegelung von μεγάλαν βλάβαν (v. 842) sowie μεγάλαν ἄταν (v. 850) in μεγάλαν Ἐρινύν (v. 893 ff.) ist ebenso offensichtlich; machen wir uns darüber hinaus klar: Die Motivik des Ans-Licht-Kommens und Gesehen-Werdens aus dem Stasimon findet ihren Widerhall im Bild vom Gebären der Erinys im Fazit des Chors. In der Bezeichnung der Urheberin dieses Vorfalls als ἀνέορτος νύμφα klingt die Hochzeitsthematik des zweiten Strophenpaars wieder an (v. 842 f.). Die lyrische Unterredung zwischen Amme und Chor ist so motivisch und sprachlich eng mit dem Stasimon verzahnt: Die Wechselpartie lässt das Lied im Nachhinein als Vorboten der umfassenden Katastrophe erscheinen. Mitsamt den eingeschobenen Sprechversen 863 – 879 inszeniert Sophokles demnach eine den hinterszenischen Handlungsfortschritt abbildende, d. h. unmittelbar dramati‐ sche Szene, die sich dennoch in den Reflexionshorizont des Chors einfügt und als handlungstragende Fortsetzung des Standliedes fungiert. Anders gesagt: Mit dem Stasimon und der Wechselpartie greifen zwei formal unterschiedliche Pas‐ sagen eng ineinander, indem durch die Wiederaufnahme der zentralen Motivik die in der vorangehenden Partie imaginierten Sachverhalte nun in besonderer Fokussierung ausgeleuchtet werden. Mit dem ersten Einsatz des Formteils „Wechselgesang Chor-Akteur“ hebt der Dichter gerade diese Stelle in besonderer Weise hervor, was ihre eminente Wichtigkeit innerhalb der Personen- und Handlungsstruktur widerspiegelt. Die beherrschende Gestalt der Bühnenhandlung war bis zu ihrem Abtritt Deianeira: Sie war der Zentralpunkt der für die Zuschauer direkt wahrnehmbaren Ge‐ schehnisse, ihre Reaktion auf die Berichte von Herakles und seinem Tun sowie ihr aktives Einschreiten waren die unmittelbaren emotionalen und dramati‐ schen Inhalte der Tragödie. Mit der Aussendung des Geschenks an Herakles hatte sich dabei die bis dahin etablierte Reihenfolge der Abläufe umgekehrt: Zum ersten Mal war es ein Ereignis der Bühnenhandlung, das einen Einfluss auf den hinterszenischen Bereich ausübte. Einen ähnlichen Wendepunkt mar‐ kiert nun unsere Stelle nach dem dritten Stasimon: Deianeira ist ganz von der Bühne verschwunden und hat dort mit ihrem Selbstmord den entscheidenden Handlungsschritt vollzogen, der nun von einem Dritten berichtet werden muss – wie sonst nur die Vorfälle um Herakles.147 Anders gesagt: Das Fehlen der prä‐ 147

Natürlich bereitet Deianeira das Gewand für ihren Mann hinter der Bühne vor und entdeckt dort auch die zerstörerische Kraft des aufgebrachten Giftes; allerdings trägt sie diese Ereignisse und Erkenntnisse selbst auf die Bühne, ist also in jeder Hinsicht handelnde Person und thematisiert sich, ihre Handlungen und Emotionen selbst, wäh‐ rend Herakles bisher nur im Bericht präsent gewesen ist.

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II. Frauenchöre

genden Figur Deianeira auf der Bühne sowie die Abwesenheit des Herakles, dessen Auftritt bisher nur in Aussicht gestellt wurde, füllen die vorliegende Passage durch die Aneinanderreihung von Stasimon, lyrischer Dialogszene und Botenbericht der Amme (daran anschließend wieder Stasimon, bis mit Herakles die andere Zentralfigur die Bühne betritt). Der Chor ist dabei in besonderer Weise präsent: Seine Reflexionen im Sta‐ simon versuchten die momentane Situation im Gesamtkontext der Handlung einzuordnen, bereiten damit allerdings zugleich den effektvoll inszenierten Handlungsfortschritt motivisch vor und dienen in dieser Hinsicht als Gelenk zwischen dem Bericht des Hyllos und dem der Amme. Mit der auf das Stasimon folgenden und aus ihm hervorgehenden Wechselpartie v. 870 – 898 setzt So‐ phokles damit einen belebenden Akzent zwischen die beiden ausführlichen Be‐ richte. Er steigert so die Emotionalität und hebt die Erzählung von Deianeiras Selbstmord in besonderer Weise heraus. Mit Blick auf den Fortgang des Stücks lässt sich sagen: Bereits mit dem dritten Stasimon und seinen motivischen Vor‐ verweisen hat eine dramaturgisch-emotionale Klimax begonnen, die im Auftritt des Herakles in Vers 968148 gipfeln wird. Innerhalb dieser Entwicklung werden Deianeiras Abgang und Tod durch zwei unterschiedliche, aber ebenso wir‐ kungsvolle Bühneneffekte in Szene gesetzt: zunächst ihr stilles Verschwinden von der Bühne und daraufhin die drastische Form des Wechselgesangs, in dem die Todesnachricht überbracht wird. Mit dem Verschwinden Deianeiras ist so der Auftritt des Herakles vorbereitet; dass beide sich im Lauf des Stücks nie begegnen werden, ist dabei die alles beherrschende Ironie der Handlung, die ja – gerade auch durch die chorische Ausleuchtung – auf die Vereinigung der beiden Handlungsebenen hinzielte. Wir haben in der Untersuchung des Stasimons und des Wechselgesangs ge‐ sehen, mit welchen Mitteln Sophokles diese bedeutende Gelenkstelle des Dramas ausgestaltet hat. Der mit dem Auftritt der Amme gegebene Rückbezug auf den Prolog reichert die Passage zudem mit dramaturgischer Signalwirkung an. Mit dem erneuten Auftritt des Personals aus dem Prolog (Amme und Hyllos, hier in umgekehrter Reihenfolge) hat die Deianeira-Handlung ihr Ende ge‐ funden. War der Auftritt der Protagonistin am Beginn des Dramas schon in formaler Hinsicht bemerkenswert (vgl. die Ausführungen zum Prolog), so schließt sich mit der effektvollen (und diesmal explizit chorischen) Ausgestal‐ tung ihres stillen Abtritts ein Kreis.

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Auch dort entwickelt sich die eigentliche Szene, indem auf das vierte Stasimon ein anapästischer Austausch zwischen drei Akteuren (Hyllos, dem Greis und Herakles) folgt.

1. Trachinierinnen

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Viertes Stasimon (v. 947 – 970)

Den schon mehrfach angesprochenen Botenbericht der Amme (v. 899 – 946) können wir unter unseren Gesichtspunkten kurz abhandeln. Sie schildert die Ereignisse nach dem Abgang der Protagonistin, wobei ihr Bericht in der Wie‐ dergabe von Deianeiras letzten Worten (v. 920 ff.) den inhaltlichen und drasti‐ schen Höhepunkt erreicht und mit einer allgemeinen Bemerkung zum unvor‐ hersehbaren Schicksal des Menschen schließt: Es lasse noch nicht einmal zu, den morgigen Tag mit Gewissheit zu planen (v. 944 ff.). Eine besondere Rolle bei den Geschehnissen rund um Deianeiras Lebensende spielte, so der Bericht der Amme, Deianeiras Sohn Hyllos, der mit der Herrichtung einer Bahre für seinen Vater konkrete Vorkehrungen für den Auftritt des Herakles trifft (v. 901 f.) und schließlich beim Anblick seiner toten Mutter in Wehklagen ausbricht (v. 932 f.). Die Amme hat damit nicht nur die letzten Augenblicke aus Deianeiras Leben sowie die Art ihres Todes referiert, sondern zugleich – in der Schilderung der Nebenumstände – die Spannung auf das Erscheinen des Helden erhöht. Zu‐ schauer und Leser sind sich daraufhin erneut der doppelten Handlungsebene bewusst: Die im hinterszenischen Bereich betriebenen Vorkehrungen lassen Heraklesʼ Auftreten in greifbare Nähe rücken. Dennoch gibt Sophokles nach dem Abtritt der Amme in Vers 946 dem Chor in Form des vierten Stasimons zumindest kurz die Gelegenheit, das Geschehene noch einmal zu reflektieren, bevor die Handlung in Vers 965 ff. mit dem Auftritt des Herakles ihren Kulminationspunkt erreicht. Die beiden Strophenpaare des Stasimons heben sich deutlich voneinander ab: Während zunächst das erste in je drei iambischen bzw. choriambischen Dime‐ tern komponierte Paar die Wirkung der verdoppelten Katastrophe auf die Frauen des Chors verbalisiert, entfalten die sich anschließenden zwei Strophen zunächst einen innigen Wunsch, bevor der auftretende Zug mit dem schlafenden Herakles die Trachinierinnen wieder in die dramatische Realität zurückholt. Das Lied beginnt mit einer gedoppelten Frage des Chors: Was soll er zuerst (πρότερον) beklagen, was darüber hinaus (περαιτέρω)? Die eingetretenen Ge‐ schehnisse seien schwer auseinander zu halten, geradezu verworren (δύσκριτʼ). Schon diese erste Strophe ist ein Paradebeispiel elaborierter Sprachformung: Die auffällige p-Alliteration,149 die Anapher des πότερα v. 947 f., die reimähnliche Fügung von ἐπιστένω und περαιτέρω jeweils am Versende sowie die gramma‐ tische Formengleichheit der die Verse einleitenden Wörter πότερα und δύσκριτʼ weisen die Verse als eine in ihrer Kürze präzise formulierte sowie auf emotionale Wirkung zielende Komposition aus. 149

Vgl. D AVIES (1991), der mit W EBSTER (21  969) von „anxious stammer“ spricht. S. 221.

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II. Frauenchöre

Die Gegenstrophe beantwortet das aufgeworfene Problem in thematischer wie formaler Hinsicht und verortet die δύσκριτα zeitlich und räumlich: Der eine Teil der Katastrophe liegt im Palastgebäude vor Augen, der andere entfaltet sich in der Aussicht auf das Kommende vor dem geistigen Auge der Frauen, sodass Präsenz (ἔχειν) und zukünftiges Hereinbrechen (μέλλειν) der furchtbaren Ereig‐ nisse zusammenfallen. Die sprachliche Gestaltung nimmt die prominenten As‐ pekte der Strophe wieder auf: Nach zwei parallel gebauten Perioden, die sich den Teilphänomenen der Katastrophe widmen, schließt sich ein Gesamtblick an. Wieder entsprechen sich dabei grammatikalisch der Beginn der drei Verse (τάδε und κοινά) sowie das Ende der ersten beiden Verse (δόμοις und ἐλπίσιν). Das Strophenpaar ist dadurch in hohem Maß aufeinander bezogen und wirkt in sich abgerundet. Die Erwartung der baldigen Ankunft des Herakles ist in der Auseinanderset‐ zung mit der Situation ein der bereits eingetretenen Katastrophe um Deianeira gleichgeordnetes Element. Anders gesagt: Statt mit einer Totenklage um Deia‐ neira den Botenbericht der Amme eindimensional und rein zurückblickend zu beantworten, unterstreichen die Fragehaltung des Chors und seine Reflexion der gedoppelten Problematik zugleich die virulente Spannung mit Blick auf das Erscheinen des Helden. Die Andeutungen der Amme über die Vorbereitungen des Hyllos sind so reflektierend verarbeitet und in einen stimmungsvollen Aus‐ blick auf die unmittelbare Zukunft umgesetzt. Der Chor leistet mit diesem Eingang in das Stasimon erneut den typischen gedoppelten Blick auf die zwei Pole der Handlung. Allerdings stehen hier nicht konkret die Personen Deianeira und Herakles im Fokus, sondern vielmehr das an ihnen eingetretene Leid als ein den Chor unmittelbar berührendes Phä‐ nomen. Zudem bietet der Chor an unserer Stelle kein ausgreifendes Panorama, wie es im Besonderen die Parodos und das dritte Standlied entfaltet hatten, son‐ dern belässt es bei der konstatierenden Aufzählung der beiden Sphären, in denen sich die Katastrophe realisiert hat. Wie schon im dritten Stasimon bekunden die Frauen dabei auch hier ihre eigene emotionale Involvierung in das Geschehen (ἔμοιγε δυστάνῳ) und schaffen damit erneut ein Klima der bewusst inszenierten Vertrautheit, der Anteilnahme und des mitleidenden Betrachtens von Seiten des Chors. Dem entspricht, dass im Infinitiv ὁρᾶν (v. 950) die Motivik des Sehens aus dem letzten Standlied einen Widerhall findet. Erneut ist der Chor dezidiert ein Hinschauender, wobei sich in diesem Fall allerdings das sichtbare – und im Bericht der Amme direkt visuell ausgestaltete – Unheil mit der Erwartung des kommenden Schreckens zu einer umfassenden Katastrophe verbindet, in der die beiden Handlungsstränge logisch, zeitlich und räumlich ineinander fallen.

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Die folgende Strophe beginnt mit einem Wunsch der Choreuten: Ein günstig wehender Luftzug (ἔπουρος αὔρα) solle sie forttragen und an einem anderen Ort ansiedeln (ἀποικίσειεν), damit sie nicht beim Anblick des Herakles vor Angst sterben (ταρβαλέα θάνοιμι). Es sei nämlich bereits verlautbart worden (λέγουσιν), dass sich der Heros unter schwer abzuwendenden Schmerzen der Szenerie nähere. Die eigentliche Bezeichnung des Helden ist dabei an den Schluss der Periode gestellt und fokussiert den Blick ganz auf die visuelle Drastik der erwarteten Ankunft: Herakles als ἄσπετον θέαμα,150 als unsäglicher Anblick. Der eskapistischen Stimmung vom Beginn der Strophe ist damit die Fokussie‐ rung auf etwas real vor Augen Stehendes entgegengestellt. Darüber hinaus ist mit der Ankunft des Haupthelden und seiner wahrnehmbaren Präsenz auf der Bühne der Kulminationspunkt der Reflexionen und das alles beherrschende Motiv des Stasimons erreicht. Mit der Gegenstrophe belebt sich die Szenerie zusehends: Die Reaktionen des Chors auf hinterszenische Geräusche sowie der Blick in die für das Publikum nicht einzusehenden Bereiche spiegeln die schrittweise Annäherung des Zuges, der Herakles auf die Bühne bringt. So stellen die Frauen zunächst fest, dass das vernehmbare Wehklagen nicht von ferne (οὐ μακράν) ertöne, sondern schon nahe (ἀγχοῦ) herangekommen sei. Die Schrittweise (βάσις151) der Herannah‐ enden wird als fremd erkannt und als sorgend, ernst und still (προκηδομένα, βαρεῖαν, ἄψοφον) identifiziert. Schließlich ist es der Anblick des Herakles selbst, der den Frauen des Chors einen Aufschrei abringt: „Wehe, er wird in Schweigen hergetragen!“ (v. 968). Der Anblick des stummen Helden setzt die Frauen in Ungewissheit über dessen Zustand, und so fragen sie, ob er bereits gestorben sei oder nur schlafe (v. 969 f.). Mit diesem Rückbezug auf die Fragen vom Beginn des Liedes152 schließt das eigentliche Stasimon; es folgt ein anapästisches Wech‐ selgespräch zwischen Hyllos, dem den Zug begleitenden Alten sowie dem er‐ wachenden Herakles, das in Vers 1004 in lyrische Maße übergeht. Die erst in Vers 976 durch den Alten beantwortete Frage des Chors, ob Herakles noch lebe oder bereits gestorben sei, bildet dabei den spannungsreichen Übergang in die Auftrittsszene des Herakles und übergibt die Gesprächsführung den aufgetre‐ tenen Akteuren. 150 151

152

L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) folgen damit der Konjektur von Schenkl, obwohl an un‐ serer Stelle θαῦμα einhellig überliefert ist. Wieder folgen L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) einer Konjektur (Meineke), die das einhellig überlieferte βάσις durch στάσις ersetzt. Konnte ich mich dem Eingriff in die Überlie‐ ferung in Vers 961 noch anschließen, so erschließt sich mir die vorliegende Änderung nicht. Vgl. E ASTERLING (1982) S. 195: „The Chorus end with a question which recalls the opening of the ode“.

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II. Frauenchöre

Die Komposition des Stasimons liegt nach diesem Durchgang nun klar vor Augen: Beginnend mit dem gedoppelten Blick auf die zwei Seiten des Unglücks verbindet der Chor das schon eingetretene Unheil mit der virulenten Aussicht auf die Ankunft des Herakles. Thematisiert ist so die umfassende Katastrophe, die zugleich das Auseinanderbrechen des chorischen Bezugsrahmens darstellt: War die wechselseitige Beleuchtung der beiden Pole der Handlung – Deianeira und Herakles – ein konstituierendes Moment der chorischen Reflexionen, so ist nach Deianeiras Tod ein Bezugspunkt dieser Konstruktion fortgefallen. Die Konzentration auf den verbliebenen Anhaltspunkt, d. h. auf Herakles, seine An‐ kunft und den Anblick, den er bietet, ist in dieser Hinsicht konsequent und dramaturgisch von hoher Funktionalität. War der gedoppelte Blick auf die beiden Handlungsträger grundlegendes Strukturmoment verschiedener chori‐ scher Partien, die in Form eines Panoramas eine umfassende Deutung der je‐ weiligen Situation geben wollten, so wird dieses Moment zwar zu Beginn des vorliegenden Stasimons zitiert, dann allerdings durch die eskapistische Phan‐ tasie der zweiten Strophe konterkariert. Der Chor versteht sich zwar erneut als Hinschauender; statt aber ein imaginäres Panorama der Situation zu entwerfen, sucht er den Blick, mehr noch: seine eigene Präsenz abzuwenden – nur um in der zweiten Gegenstrophe von der Realität eingeholt zu werden. Es ergibt sich so die Abfolge: gedoppelter Blick – Eskapismus – schlagartige Rückführung in die dramatische Realität. In seiner Wendung weg von der mittlerweile in ihrem ganzen Ausmaß vor Augen liegenden Katastrophe unterwandert so das Lied eine mögliche formale Erwartung. Zugleich macht es deutlich, wie der Chor am Wissen um die Katastrophe, ja, am Blick auf das Geschehen scheitert. Sympto‐ matisch für die Pervertierung, die das Blickmotiv in unserem Standlied erfährt, ist dabei die in der zweiten Strophe bekundete Furcht der trachinischen Frauen, sie könnten beim Anblick des Helden (εἰσιδοῦσʼ v. 957) vor Angst sterben: Das bisher zentrale Strukturmoment chorischer Partien ist an unserer Stelle völlig umgedeutet worden und dient nunmehr der indirekten Ausleuchtung der Ka‐ tastrophe. Nachdem die beiden Handlungsebenen in einer zeitlich und räumlich veror‐ teten Katastrophe zusammengefallen sind, ist also die unmittelbar bevorste‐ hende Bühnenhandlung das beherrschende Moment des Liedes. Dabei ver‐ drängt, wie schon gesagt, die Ahnung des ἄσπετον θέαμα die eskapistische Phantasie des Wunsches zu Beginn der zweiten Strophe. Damit ist zugleich eine ausgreifende, von der dramatischen Realität wegführende Reflexion oder Ima‐ gination wie im bildreichen Rückblick des ersten Stasimons unterbunden; das Lied konzentriert sich von diesem Punkt an ganz auf die bevorstehenden Ereig‐ nisse. Die an einigen Stellen der chorischen Partien mehr oder minder drän‐

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genden Blicke in eine ersehnte oder unmittelbar vorausliegende dramatische Zukunft,153 konkret: das Erscheinen des Helden, haben an unserer Stelle ihre brisanteste Ausgestaltung und Erfüllung gefunden. Mit dem im Lied umge‐ setzten schrittweisen Herannahen des Zuges um Herakles und dessen Auftritt ist die vom Beginn der Tragödie an virulente Spannung zu ihrem Ende ge‐ kommen. Indem dabei die gesamte zweite Gegenstrophe dem bevorstehenden Auftritt und seinen Begleitphänomenen gewidmet ist, gibt das Lied einen kurzen, aber umso präziseren Blick auf das hinterszenische, liminale Geschehen, das die Schwelle zur Bühne zu überschreiten im Begriff ist. Formal konstruiert Sophokles das visuelle Hereinbrechen dieses zweiten Teils der umfassenden Katastrophe ähnlich wie das Eintreffen der Todesnachricht in Vers 863 ff., allerdings mit entscheidenden Unterschieden. In beiden Fällen geht dem Fortgang der Bühnenhandlung durch den Auftritt eines Akteurs ein Sta‐ simon voraus, das geradezu in die folgende Szene übergeht. War allerdings im Anschluss an das dritte Stasimon ein unvorhergesehener hinterszenischer Ruf, der den Chor selbst überraschte, unmittelbarer Impuls des Handlungsfort‐ schritts, so inszeniert hier das Standlied selbst den Auftritt der Akteure und wird zum wirkungsvollen und offensichtlichen Präludium einer entscheidenden Szene. Der zweite gravierende Unterschied ist die Beteiligung des Chors in der sich anschließenden Szene: Hatte die Amme gerade im Wechselgespräch den trachinischen Frauen Deianeiras Tod verkündet, so verstummt der Chor an un‐ serer Stelle nach dem vierten Standlied zunächst völlig. Sowohl der anapästi‐ schen Auftrittspartie (v. 971 – 1003) als auch dem lyrischen Austausch (v. 1004 – 1044) folgt der Chor ohne eigene Wortmeldung, bis eine Bemerkung über den persönlichen Eindruck, den die Worte des Herakles hinterlassen haben, das Wechselgespräch abschließt (v. 1044 f.). Aber nicht nur der Beginn der Ammenszene ist an der vorliegenden Stelle gespiegelt. Eine gewisse Ähnlichkeit in der Bühnenwirkung lässt ebenso den Auftritt der Kriegsgefangenen aus dem ersten Epeisodion anklingen. Auch dort war mit einem Lied des Chors die Ankunft des Zuges mitsamt Lichas und Iole angekündigt worden. Dabei hatte sich die überschäumend hoffnungsvolle Er‐ wartung in einer Aufforderung zum Jubel und dem völligen Aufgehen in Tanz und Ekstase ausgeprägt; das Herannahen des Zuges in Vers 229 war dabei durch eine Aufforderung an Deianeira (v. 222) und deren Antwort (v. 225) verbalisiert worden.

153

Schon das Hoffnungsmotiv in der Parodos (v. 125, 136) deutete die Wunsch- und Zu‐ kunftsorientiertheit an; ausgeprägt begegnet sie im zweiten Stasimon, das ganz konkret die Ankunft des Helden ersehnte und eine mögliche Rückkehrszenerie entwarf.

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II. Frauenchöre

Machen wir uns abschließend bewusst: Das Stasimon füllt einen in höchstem Maße mit dramatischer Spannung aufgeladenen Moment, rekapituliert und spiegelt in seiner Motivik und formalen Komposition andere wichtige Szenen der Tragödie und bildet die letzte ausführliche Stellungnahme des Chors zum Bühnengeschehen. Seine Stoßrichtung ist dabei ganz auf den Fortgang der Handlung gerichtet, es fügt sich als Übergangslied im besten Sinn völlig in den Ablauf der Geschehnisse ein. Das Eingeholt-Werden durch die unmittelbar be‐ vorstehende Zukunft lässt dabei innerhalb der Situation keine reflektierende Pause aufkommen.154 Mit dem Auftritt des Herakles hat am Ende des Stasimons die Präsenz des Chors an dramaturgischer Bedeutung verloren. Rufen wir uns ins Gedächtnis, dass der Chor mit dem Abtritt der Personen in Vers 821 zum maßgeblichen Träger der Bühnenhandlung wurde: In den sich anschließenden Partien (Ammen- und Hyllosszene) kam ihm die prominente Rolle zu, die Nachrichten vom Fortgang der Handlung entgegenzunehmen und emotional auszuleuchten. Das personelle Vakuum zwischen Deianeiras Abtritt / Tod und dem Auftritt des Herakles füllte der Chor als fester Bezugspunkt. Mit der konkreten Visualisie‐ rung der Herakles-Handlung vor den Augen der Zuschauer tritt der Held darauf selbst in den Fokus der Aufmerksamkeit; die Überleitung zu diesem grundle‐ genden Wechsel in der Struktur von Personen, Präsenz und dramatischer Auf‐ merksamkeit leistet das vorliegende Stasimon in herausragender Weise. Greifbar wurde dieser Wechsel der Perspektive im Besonderen in der Umdeu‐ tung des zentralen Strukturmoments durch den Einschub der eskapistischen zweiten Strophe, der das weitestgehende Verstummen des Chors im abschlie‐ ßenden Abschnitt der Tragödie einleitete. Wechselgesang und Exodos (v. 971 – 1278)

Wir können die ausführliche Schlusspartie der Tragödie unter unseren Ge‐ sichtspunkten kurz behandeln, da der Chor – wie schon angesprochen – bereits mit dem vierten Standlied seine letzte ausführliche (lyrische) Äußerung getätigt hat. Nur an zwei Stellen (und u. U. am Ende des Stückes – zur Diskussion über die Sprecherzuteilung der Verse 1275 ff. siehe unten) werden sich die trachini‐ schen Frauen bzw. die Chorführerin kurz in den Gang der Gespräche ein‐ schalten. In beiden Fällen (v. 1044 f. sowie 1112) fungieren die Äußerungen al‐ lerdings nicht als wirklicher Gesprächsbeitrag. Während an der ersten Stelle die Chorführerin ihr Erschauern (ἔφριξα) angesichts der Worte des Herakles be‐

154

Vgl. E ASTERLING s (1982) Einschätzung S. 193: „The main function of this brief ode is to maintain tension at a high pitch“.

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kundet und sich dabei dezidiert an die anderen Frauen des Chors wendet (vgl. den Vokativ φίλαι), ist die zweite Äußerung ein Anruf an das unglückliche Griechenland (ὦ τλῆμον Ἑλλάς), das mit dem Tod des Herakles einen schweren Verlust erleiden wird. Die Akteure Herakles und Hyllos scheinen von diesen Einwürfen keine Notiz zu nehmen und setzen ihr Gespräch bzw. ihren Monolog fort, ohne auf die Äußerungen des Chors zu reagieren. Die eminente dramatische Einbindung des Chors in den vorangegangenen Szenen ist also auf ein Mindestmaß zurückgefahren: War die Bühnenpräsenz der trachinischen Frauen von Vers 821 bis 970 das konstituierende Moment der Handlung, so sind die Äußerungen des Chors während der Schlussszene nicht mehr als ein Randphänomen. Dass diese Zurückhaltung nicht nur einem dra‐ matischen Usus der Tragödie im Allgemeinen155 und dem Rollentypus des Chors in unserem Stück entspricht,156 sondern auch eine dramaturgische Ursache und Funktion besitzt, ergibt sich aus dem zuvor Gesagten: Der Chor hat nach dem Tod Deianeiras nicht nur die Möglichkeit zum typischen gedoppelten Blick auf beide Pole der Handlung sowie seine wichtigste Bezugsperson verloren, sondern mit dem Auftritt des Herakles zugleich seine dramatische Relevanz eingebüßt. Die ausstehende Partie der Tragödie inszeniert unter Anwesenheit der zentralen Person mit dem Gespräch zwischen Hyllos und Herakles eine familiäre, gera‐ dezu intime Unterredung; Fokussierung und Ausleuchtung durch den Chor wie in den vorangegangenen Stasima sind dabei nicht nötig, da Herakles selbst auf der Bühne steht und sowohl im Wechselgesang (v. 983 – 1042) wie auch dem sich anschließenden Monolog (v. 1046 – 1112) umfangreich zu seiner Lage Stellung nimmt. Die je im Anschluss an eine dieser Äußerungen positionierten kurzen Kommentare der trachinischen Frauen machen dabei deutlich: Der Chor ist durch die Bühnenpräsenz des Helden an den Rand gedrängt, als ein relevanter Akteur im Geschehen diente er nur bis zum endgültigen Übergang der Deia‐ neira-Handlung in die Herakles-Handlung. Dass sich der anapästische und schließlich lyrische Austausch der Personen in den Versen 971 – 1042 ganz ohne die Beteiligung des Chors vollzieht, ist sicher ein Spiel mit formellen Erwartungen. Gerade diese Komposition hebt den Kommos allerdings bewusst hervor und grenzt ihn von der lyrischen Partie der Verse 863 – 895 ab: Die Information über einen Sachverhalt durch einen Augen‐

155 156

Vgl. die Schlusspartien der anderen Tragödien unseres Dichters, im Besonderen die des Aias. Vgl. B URTON (1980) S. 79: „With Deianeira dead, the chorusʼs task is done. They take no part in the anapaests or the lyrics which open the final scene. It would be inappropriate for these young girls to do so, overwhelmed as they are by her death and the sight of Heracles“.

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II. Frauenchöre

zeugen wie in der Ammenszene ist damit der visuellen Darstellung des Faktums durch die unmittelbar Beteiligten selbst gewichen. Der Chor spielt dabei keine Rolle und überlässt die Ausdeutung der Situation ganz den Akteuren. Überblickend lässt sich Folgendes festhalten. Dramaturgisch unterstreicht dieser Verzicht auf eine intensive chorische Präsenz innerhalb des letzten Ab‐ schnitts der Tragödie die intendierte Wirkung. Die Botschaft ist klar: Herakles steht nun ganz und gar im Mittelpunkt der Bühnenhandlung; das personelle Vakuum nach dem Tod Deianeiras ist ausgefüllt. Nach der raschen Folge lyri‐ scher Partien – zwischen dem Wechselgesang im Anschluss an das dritte Stand‐ lied und dem vierten Stasimon liegen gerade einmal 50 (Sprech-)Verse – insze‐ niert die Schlusspartie diesen Sachverhalt ausführlich und rückt mit dem Helden den bis zu diesem Zeitpunkt nicht konkret greifbaren zweiten Pol der Handlung in das Zentrum der Bühnenhandlung. Wie auch im Oidipus Tyrannos157 ist die Sprecherzuteilung der letzten Verse auch in unserer Tragödie problematisch. Schon in der Antike scheinen die Schluss‐ verse 1275 – 1278 teils Hyllos, teils dem Chor zugeordnet worden zu sein.158 Auch die neuesten Ausgaben und Kommentare bieten beide Möglichkeiten: Während P EARSON und L LOYD -J ONES /W ILSON sowie D AVIES in seinem Kommentar die in Frage stehenden Verse Hyllos in den Mund legen, lassen E ASTERLING und D AWE den Chor das Stück beschließen. Die Problematik ist dabei durchaus vielfältig.159 Es stellen sich (u. a.) folgende Fragen: Kann die Aussage des letzten Verses (1278) mit den vorherigen Äuße‐ rungen des Hyllos in Einklang gebracht werden?160 Würde Hyllos mit diesen Worten etwas Wesentliches aussagen oder sich nur wiederholen bzw. sogar wi‐ dersprechen?161 Andererseits: Wenn die Verse der Chorführerin zugeteilt wer‐ den, wer ist dann angesprochen? Könnte der gesamte Chor mit der nachdrück‐ lich im Singular formulierten Junktur σύ, παρθένʼ (v. 1275) angeredet werden? 157 158 159 160

161

Vgl die Problematik S. 440 f. Vgl. dazu das Scholion zu v. 1275 – 8 χορός. τινες Ὕλλος. (zitiert nach: X ENIS (2010). Scholia vetera in Sophoclis Trachinias, Berlin und New York, S. 257). In ihrem Kommentar nennt E ASTERLING (1982) S. 231 die Stelle: „a notorious crux“. Vgl. dazu K RAUS (1986). „Bemerkungen zum Text und Sinn in den ‚Trachinierinnen‘“ in: Wiener Studien 99 / 20 (1986), S. 87 – 108, S. 103: „Die meisten Neueren [sc. Heraus‐ geber] geben die Verse der Chorsprecherin, zweifellos mit Recht, allein schon deshalb, weil Hyllos unmöglich, nachdem er eben über die ἀγνωμοσύνη der Götter räsoniert hat (1266), emphatisch und mit unbegründeter Ausschließlichkeit […] erklären kann: οὐδὲν τούτων ὅ τι μὴ Ζεύς“. Trotz ihrer Kritik an der Zuteilung der Verse an Hyllos („[…] the final line adds com‐ paratively little to what he has already said“) räumt E ASTERLING (1982) S. 232 ein: „[…] it has point and effectiveness in that at last it actually names Zeus“.

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Oder ist es möglich, dass Iole als Adressatin vorschwebt – ist sie vielleicht sogar bei der Formierung des Zuges um Herakles aufgetreten und damit tatsächlich präsent? Wie wäre mit einer solchen Wendung an Iole allerdings der Auszug des Chors selbst motiviert, der mit dem Ende der Tragödie einhergeht? An eine umfangreiche Diskussion und Klärung dieser Schwierigkeiten ist hier nicht zu denken. Mit einigem Recht wird man sich jedoch den durchaus über‐ zeugenden Argumenten von K RANZ und B URTON162 anschließen und zum Er‐ gebnis kommen, dass die das Drama abschließenden Verse mit gewisser Wahr‐ scheinlichkeit von der Chorführerin gesprochen wurden. Die prominente Nennung des Göttervaters am Ende des Stücks fügt sich zudem in den gedank‐ lichen Horizont der chorischen Reflexion ein: So hatte die Parodos nicht nur mit einem Verweis auf die Macht des Zeus und seine Gewalt über das menschliche Schicksal geschlossen, sondern zudem die besondere Fürsorge des Gottes ge‐ genüber seinen Kindern, d. h. Herakles, in Aussicht gestellt (v. 126 – 140). Mit dem Verweis auf diese Passage klärt sich der zunächst vielleicht rätselhafte oder kontextlose letzte Vers der Tragödie endgültig: Gerade das Auf und Ab des hier vor Augen getretenen (Doppel-)Schicksals von Deianeira und ihrem Mann ist für den Chor ein Ausweis göttlichen Wirkens; die gnomische Feststellung aus Vers 129 f. hat sich damit in ihrer Funktion als dramatische Vorankündigung erfüllt und wird an unserer Stelle letztgültig beantwortet. Mit dem vorliegenden Vers 1278 wäre damit ein Rückbezug geleistet, der die chorischen Äußerungen der Tragödie in besonderer Weise abschließt. Rufen wir uns dabei in Erinnerung, dass der Chor in regelmäßigen Wiederholungen gerade die göttliche Abstam‐ mung des Haupthelden unter der Nennung seines Vaters betonte (v. 513, 644, 826), so kann man mit einiger Vorsicht formulieren: Der vorliegende Schlussvers konstatiert im Sinne der Parodos das Wirken und die Präsenz des Zeus in der entfalteten Handlung und führt damit – zumindest subtil – einen motivischen Faden zu seinem Ende. Dass bei diesen letzten Worten Iole (ob mittlerweile aufgetreten oder hinter der Bühne verblieben, spielt dabei keine Rolle) angesprochen wird,163 ist eine zwar letztlich nicht zu verifizierende, aber durchaus denkbare – und gerade im Fall ihrer Präsenz – bühnenwirksame Option. Mit der letzten Äußerung (des Chors), konkret: mit dem letzten Vers, ist das Drama unter dem Blick auf die konkrete Situation (ἰδοῦσα μεγάλους νέους θανάτους) und dem Verweis auf Macht und Präsenz des Göttervaters zu einem 162 163

Vgl. B URTON (1980) S. 79 ff. Vgl. B URTON (1980) zu dieser Annahme („This suggestion has been described as a fantasy not to be taken seriously. On the contrary, it has much to commend it“) sowie seine weiteren Ausführungen S. 81 f.

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II. Frauenchöre

Abschluss gekommen, dessen dramatisch-motivische Einbindung in das Hand‐ lungsgeschehen signifikant ist. Das Stück endet mit der Formierung des Zuges zum Berg Oita, wobei die letzten Worte einen finalen Blick auf die zurückblei‐ bende Szenerie werfen und das Geschehen schlaglichtartig einzuordnen versu‐ chen. Zusammenfassung

1. Zunächst soll Folgendes zur Einbindung der chorischen dramatis persona in das Stück festgehalten werden (Spektrum I). Bezugsperson des Chors ist von Beginn des Stücks an Deianeira. Das Verhältnis zwischen den trachinischen Frauen und der Hauptheldin ist dabei durch eine besondere emotionale Bindung geprägt: Zwar sind die Frauen nicht direkt mit Deianeira verwandt, von ihr abhängig oder hinsichtlich Herkunft oder Stand mit ihr verbunden; dennoch bringen sie ihr (in der ersten Hälfte des Stücks) besondere Sympathie entgegen, nehmen Anteil an ihrem Seelenleben und bilden vor allem in den ersten beiden chorischen Partien (Parodos und Lied im ersten Stasimon) den Resonanzboden ihrer Emotionalität. Mit dem Wendepunkt der Tragödie und Deianeiras Verstrickung in das Schicksal ihres Mannes wird dieses Verhältnis der besonderen emotionalen Bin‐ dung gestört: Zu einem direkten Austausch kommt es in Folge von Deianeiras stillem Abgang (v. 812) nicht mehr; der Blick auf sie im folgenden Stasimon (v. 841 ff.) ist dabei von gewissem Mitleid geprägt, verschweigt allerdings Deia‐ neiras Verantwortung für das eingetretene Unheil nicht. Zudem bildet die Ima‐ gination der vermeintlichen hinterszenischen Aktion Deianeiras durch den Chor dabei nicht die Realität ab, sondern konterkariert das tatsächliche Ge‐ schehen. Zu Herakles haben die trachinischen Frauen darüber hinaus kein direktes Verhältnis: Zwar ist er ein thematischer Zentralpunkt der chorischen Reflexion (siehe Punkt 2), ein direkter Austausch zwischen ihm und dem Chor findet al‐ lerdings während des gesamten Stücks nicht statt. Kennzeichnend hierfür ist das Schweigen des Chors nach dem vierten Stasimon, wodurch auch die enge emotionale Bindung zu Deianeira aus der Retrospektive eine nachträgliche Be‐ tonung erfährt. 2. Konstituierend für die chorischen Partien, im Besonderen für die Parodos und die Stasima, ist der Blick des Chors auf die beiden zentralen Figuren der Hand‐ lung, die zugleich deren maßgebliche Pole darstellen. Dabei sind der grundle‐ gende Habitus, die Emotionen und Handlungen der beiden Akteure bzw. die durch sie ins Werk gesetzten Tatsachen und ihre Folgen Hauptgegenstand der

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Reflexion und Ausleuchtung. Wie gezeigt wurde, versteht sich der Chor an ent‐ scheidenden Stellen dezidiert als Betrachter der Situation (vgl. v. a. die Motivik des Sehens und Erscheinens), der allerdings in besonderer Weise in das Ge‐ schehen involviert ist. Die Bezugnahme auf eine oder beide Zentralfiguren bildet dementsprechend in der Regel die thematische Mitte der chorischen Partien, auf die die Konstruk‐ tion der einzelnen Lieder hinausläuft. Gerade der wechselseitige Blick auf Dei‐ aneira und Herakles stellt dabei das generelle Panorama der Reflexion dar und wird so zum der Handlung selbst entspringenden Bezugsrahmen der chorischen Äußerungen. Die Parodos mit ihrem alternierenden Wechsel der Blickrichtung entfaltet in dieser Hinsicht gleich mit dem Auftritt des Chors dessen umfassende Programmatik, während das letzte (vierte) Stasimon mit seinem ersten Stro‐ phenpaar das Ineinanderfallen der beiden Handlungsstränge und damit das Ende dieses etablierten Reflexionssystems inszeniert. Zwischen diesen beiden Eckpunkten entfalten die Lieder ein räumlich wie zeitlich ausgefächertes Pan‐ optikum, in dem die beiden Zentralfiguren und deren Beziehung zueinander unter verschiedenen Vorzeichen auf der Basis der jeweils bis zu diesem Punkt entwickelten Handlung thematisiert werden. Was ist mit dieser speziellen Konstruktion des chorischen Bezugsrahmens dramaturgisch erreicht? Die Lieder des Chors fokussieren den Blick immer wieder auf das der Handlung zu Grunde liegende Personenverhältnis; sie rei‐ chern so das Bühnengeschehen nicht nur mit Charakterzeichnungen, Rück- und Vorausblicken an, sondern deuten zugleich die Handlung selbst und konzent‐ rieren die Aufmerksamkeit auf die konkrete Szenerie oder einen eng mit dieser verbundenen Handlungsraum. Selbst das als Rückblick gestaltete erste Stasimon sowie die Zukunftsaussicht des zweiten Standliedes erschöpfen sich nicht in ihrer (zum Teil komplexen) Verwebung von Vergangenheit und Zukunft, son‐ dern haben immer einen besonders starken Bezug zur dramatischen Gegenwart, die sie damit ausdeuten. Der Chor ist dementsprechend nicht nur auf Grund seiner Rolle und der persönlichen Verbindung zu Deianeira (vgl. die gerade in der Parodos ausgedrückte Fürsorge) im Geschehen präsent, sondern reflektiert unentwegt über den Kern des Stücks, d. h. Deianeira, Herakles und ihr Verhältnis zueinander, ist also auch motivisch und thematisch am Pulsschlag der Handlung. 3. Die personelle Bipolarität der Handlung bringt in der Struktur des Dramas eine Zweiteilung der dramatischen Lokalität mit sich: So spielt sich das Ge‐ schehen bis zum Auftritt des Herakles sowohl vorderszenisch bzw. im Nahbe‐ reich um den unmittelbaren Bühnenort, d. h. im Bereich Deianeiras, als auch hinterszenisch in der Sphäre um Herakles ab. Die Verwebung dieser beiden Lo‐ kale leisten im Besonderen die Berichte von Lichas, dem Boten und Hyllos, sowie

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die unter besonderer Ausgestaltung komponierten Ankunfts- und Abgangs‐ szenen (die Aussendung des Hyllos im Prolog sowie des Lichas mit dem Ge‐ schenk Deianeiras an ihren Mann, der Zug der Kriegsgefangenen im ersten Epeisodion, Heraklesʼ Auftreten im Anschluss an das vierte Stasimon sowie schließlich unter geänderten Vorzeichen die eigentliche Exodos als Formierung des Zuges zum Berg Oita). Diese dynamischen, vom Kommen und Gehen der Akteure bestimmten Partien des Dramas rufen die zweite Ebene der Handlung in Erinnerung, erlauben die Einblendung der hinterszenischen Aktivitäten und markieren jeweils einen – zumindest durch die Akteure selbst intendierten – Handlungsfortschritt bzw. eine Wende im Ablauf der Geschehnisse. Der wir‐ kungsvoll, d. h. unter Einsatz effektvoller Mittel wie dem Aufgebot größerer Gruppen an Statisten oder der emotional-detailreichen Schilderung in Boten‐ berichten inszenierte Austausch zwischen den beiden Lokalen der Handlung ist für unsere Tragödie konstituierend. In der dramatischen Liminalität dieser Szenen wird so die grundlegende Struktur des Stücks in bühnenwirksame Bilder und Aktionen umgesetzt. Der Chor ist in besonderer Weise an der Ausgestaltung dieses Strukturmo‐ ments beteiligt. Drei Szenen fallen dabei durch ihre spezielle Gestaltung und den bewussten Einsatz chorlyrischer Partien ins Auge: das Eintreffen des Lichas mitsamt den Kriegsgefangenen im ersten Epeisodion, der Auftritt der Amme nach dem dritten Standlied sowie die Einleitung der finalen Szene im Anschluss an das vierte Stasimon. Sophokles macht diese für den Verlauf des Dramas ent‐ scheidenden Stellen zu besonderen Höhepunkten innerhalb des dramatischen Ablaufs, indem er in spezifischer Weise dem Chor eine bedeutende Rolle zuweist. So inszeniert das Lied innerhalb des ersten Epeisodions (v. 205 – 224) die aus‐ ufernde Freude auf Grund der eingetroffenen Nachricht und lenkt den Blick buchstäblich auf die eintreffenden Personen. Das astrophische, spontane Tanz‐ lied kanalisiert dabei die virulente Spannung und ekstatische Emotionalität der Szene in eine ungewohnte und daher umso effektvollere Form chorischer Prä‐ senz. Während allerdings an dieser Stelle Deianeira noch eine entscheidende Rolle zukommt und sie die Fäden des Geschehens gewissermaßen in der Hand hält – schließlich singt der Chor sein Lied auf ihre Weisung hin, und sie tritt nach Beendigung des Liedes in ein Gespräch mit Lichas ein – , ist in den beiden an‐ deren Passagen der Chor selbst von bestimmender Bühnenpräsenz und füllt dabei, wie schon gesehen, das personelle Vakuum zwischen Deianeiras Abtritt und Heraklesʼ Ankunft. Der Information durch die Amme und der Reaktion der trachinischen Frauen auf den Tod der Protagonistin kommt in diesem Abschnitt entscheidende Bedeutung zu, was sich in der herausgehobenen Komposition der

1. Trachinierinnen

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Partie widerspiegelt: Die liminale Szene – eingeleitet durch den hinterszeni‐ schen Schrei Vers 863 – stellt den einzigen Austausch zwischen einem Akteur und dem Chor in lyrischer Form dar. Dass dabei der Wechselgesang aus dem Stasimon hervorgeht, ist ein besonderer Ausweis der massiven chorischen Prä‐ senz: Der eben noch reflektierende Chor wird plötzlich und zu seiner eigenen Überraschung mitten in die Handlung hineingenommen und mit dem Ge‐ schehen in einer Weise konfrontiert, die eine äußerst emotionale Reaktion er‐ fordert. Diese Komposition des aus einem Lied hervorgehenden Wechselgesangs hebt – wie auch in anderen Tragödien164 – eine wichtige Gelenkszene der Hand‐ lung in besonders drastischer und dynamischer Weise hervor. Indem schließlich das vierte Stasimon (v. 947 – 970) den Auftakt zum nachfol‐ genden Wechselgesang mitsamt der ersten Äußerung des Herakles (v. 983) dar‐ stellt, ist die Struktur der übergreifenden Formteile erneut evoziert, allerdings durch das anschließende Schweigen des Chors wesentlich verändert. Darüber hinaus fällt es im Besonderen den Chorpartien zu, die Gestalt des He‐ rakles und sein (vermeintliches bzw. unmittelbar bevorstehendes) hinterszeni‐ sches Handeln teilweise bildgewaltig zu visualisieren (Spektrum II). Bereits die Parodos thematisiert sein gefährliches und unstetes Leben im Bild des vom Wind gepeitschten Meers (v. 112 ff.), das zweite Stasimon visualisiert den momentanen Aufenthaltsort des Helden (v. 657 ff.) sowie seinen stürmischen Aufbruch (v. 644 ff.), das dritte Stasimon entfaltet ein besonders eindrückliches Bild der den Helden quälenden Schmerzen (v. 831 ff.), das vierte Stasimon schließlich nimmt die Konfrontation mit dem herannahenden, mit dem Tod kämpfenden Helden vorweg; ihre Visualisierung bezieht sich dabei zunächst auf Hinterszenisches, bevor sie mit der Ankunft des Zuges um Herakles schrittweise in eine Ausdeu‐ tung des auch den Zuschauern sichtbaren Bühnengeschehens übergeht (v. 965 ff.). Dabei erhebt die chorische Ausleuchtung der Geschehnisse um Herakles sowie seiner Person freilich nicht den Anspruch, objektive Abbildung der in Rede stehenden Gegebenheiten zu sein.165 Der Blick des Chors auf Herakles ist

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Eine formal ähnliche Konstruktion bietet die Kulminationsszene der Elektra (v. 1384 – 1441), in der sich aus dem dritten Standlied durch den Auftritt der Protagonistin ein Wechselgesang entwickelt, der die hinterszenische Aktion in Echtzeit abbildet. Auch im Aias entwickelt sich aus der zweiten Parodos (v. 866 – 890) ein Kommos mit Tekmessa, der die Auffindung der Leiche des Protagonisten als entscheidenden Zentralpunkt der Tragödie inszeniert. Diese Aufgabe, über hinterszenisches (teilweise vergangenes) Geschehen (vorgeblich) objektiv zu informieren, erfüllen die bereits in der Vorbemerkung erwähnten zahlrei‐ chen Berichte, die sowohl Lichas als auch dem Boten zukommen.

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II. Frauenchöre

vielmehr vom besonderen Interesse der trachinischen Frauen geleitet. Ausge‐ hend von Deianeiras Sorgen steht für sie von Beginn der Tragödie an die glück‐ liche Zusammenführung von Deianeira und Herakles im Mittelpunkt. Anders gesagt: Herakles ist dem Chor (zumindest im ersten Teil der Tragödie bis zum Wendepunkt) nicht um seiner selbst willen, sondern immer in Beziehung zu Deianeira und deren vom Chor in gewissem Umfang geteilten Gefühlswelt Ge‐ genstand der Reflexion. Die Visualisierung und Einblendung von Person und Handlungen des Herakles als der zweiten Handlungsebene sind so im Wesent‐ lichen emotional geleitet; mehr noch: Herakles ist innerhalb der chorischen Re‐ flexion des ersten Teils der Tragödie eine besondere Projektionsfläche, auf der der Wunsch nach Vereinigung der beiden Ehepartner und die Hoffnung auf göttliche Fürsorge besonders plastisch ausgestaltet werden können. Dieser so gearteten Thematisierung der hinterszenischen Geschehnisse in den Chorpar‐ tien kommt angesichts der Bipolarität der Tragödie eine besonders wichtige Funktion zu: Erst die durch den Chor geleistete Visualisierung der zweiten Handlungsebene verleiht der Gestalt des Herakles volle Plastizität und stellt sie Deianeira an die Seite. Bereits vor dem Auftritt des Haupthelden ist seine Gestalt so in vielfältiger Weise ausgeleuchtet. Als Projektionsfläche der chorischen Re‐ flexion dient sie im ersten Teil der Tragödie als imaginierter / visualisierter Ge‐ genpol zur anwesenden, d. h. greifbaren Deianeira und fungiert als personifi‐ zierter Träger der chorischen Erwartungshaltung. Mit Deianeiras endgültigem Abtritt, d. h. ihrem Verschwinden aus der vorderszenischen Handlungssphäre und schließlich aus dem Geschehen selbst, rückt daraufhin die reale, d. h. von Erwartungshaltungen befreite Gestalt des mittlerweile leidenden Herakles in den Vordergrund der Reflexion. War dabei im ersten Teil der Tragödie die An‐ kunft des Haupthelden für den Chor ein wünschenswertes, von ihm herbeige‐ sehntes Ereignis, so visualisiert das dritte Stasimon in der Beschreibung von Heraklesʼ Qualen zunächst eine besonders schauderhafte hinterszenische Rea‐ lität, bevor das vierte Stasimon vor Augen führt, dass Heraklesʼ tatsächliche Präsenz für den Chor unerträglich geworden ist. Zusammengefasst lässt sich sagen: Die emotionale Visualisierung der zweiten (hinterszenischen) Sphäre der Handlung sowie der Gestalt des Herakles ist we‐ sentliches Merkmal der chorischen Reflexion; durch sie wird der Hauptheld im ersten Teil des Stücks als Gegenpol zu Deianeira in spezifischer Weise ausge‐ leuchtet, wohingegen seine zunächst erwünschte Präsenz ab dem dritten Sta‐ simon eine Umdeutung erfährt. Die für die chorischen Partien wesentliche Vi‐ sualisierung mündet in direkte Konfrontation mit der als unerträglich empfundenen drastischen Bühnenrealität.

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4. Untereinander stehen die Chorpartien in einem besonders komplexen Ver‐ hältnis von Bezugnahmen, Spiegelungen und motivisch-thematischen Beant‐ wortungen, dem eine diffizile Verortung der reflektierten Momente in den ver‐ schiedenen Zeitebenen einbeschrieben ist. Dabei lassen sich, grob gesagt, zwei Stoßrichtungen unterscheiden, denen je drei rein chorische Partien zugeordnet werden können.166 Zunächst kommt dem astrophischen Lied im ersten Epeis‐ odion sowie dem zweiten Stasimon zu, die (vordergründig) zuversichtliche Grundhaltung der Parodos zu konkretisieren und die dramatische Gegenwart (astrophisches Lied) bzw. die unmittelbar bevorstehende Zukunft (zweites Sta‐ simon) als besonders günstig auszuleuchten. Das erste Stasimon mit seinem Blick in die Vorgeschichte der Handlung findet seine Beantwortung dagegen im dritten Standlied, das durch die Wiederauf‐ nahme der Kypris-Thematik die imaginierte bzw. visualisierte, weil hintersze‐ nische Situation der Haupthelden in Beziehung zur Vergangenheit setzt. Rück‐ blickend deutet das Wissen um den katastrophalen Ausgang die im ersten Stasimon referierte Episode der Vorgeschichte als programmatisches Ereignis. Das vierte Stasimon schließlich präludiert die Konfrontation mit den visuellen Folgen der Katastrophe und orchestriert (im Besonderen in der zweiten Gegen‐ strophe) die aktuelle Gegenwart des Geschehens. 5. Neben der gezielten Blicklenkung auf beide Protagonisten und damit der Fo‐ kussierung auf die der Handlung zu Grunde liegende Personenkonstellation kommt es der chorischen Reflexion auch zu, das Geschehen in einem größeren Deutungsrahmen zu verorten (Spektrum III). Drei Partien erfüllen im Beson‐ deren kontextualisierende Funktionen: So etabliert bereits die Parodos das Motiv des ständigen Wechsels als einer Grundkonstante des menschlichen Le‐ bens (v. 129 ff.) und versucht dabei, die momentane Lage Deianeiras aus einem weiteren Blickwinkel zu betrachten. Von besonderem Gewicht ist darüber hinaus das Paar von erstem und drittem Stasimon, die zusammengenommen eine Verortung des aktuellen Bühnenge‐ schehens auf Basis der Vergangenheit sowie eine grundlegende Einsicht in die das Geschehen prägenden Motive geben. Mit dem Einfluss der Liebesgöttin (v. 497 ff. und 860 f.) sowie der Verwirklichung des Orakels (v. 821 ff.) ist dabei der unmittelbare Deutungsrahmen der Handlung umrissen. Diese kontextualisierende Ausdeutung des Chors ist dabei allerdings beson‐ ders zurückhaltend und punktuell: Die drei zur Kontextualisierung genutzten, 166

Eine explizite Auflistung der thematisch-motivischen Bezüge soll hier nicht erfolgen, da sie bereits ad locum, d. h. in der Interpretation der entsprechenden Chorpartien ge‐ geben wurde.

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II. Frauenchöre

den Deutungsrahmen aufspannenden Themenfelder (Wandelbarkeit des Schicksals, Kypris, Orakel) sind jeweils in visualisierenden bzw. imaginativen Partien verankert und erhalten kein wirkliches Eigengewicht, d. h. sie prägen den Blick des Chors nicht in der Weise, dass von ihnen als die chorische Per‐ spektive wesentlich bestimmenden Leitmotiven gesprochen werden könnte.167 Anders gesagt: Die in Rede stehenden Chorpartien entfalten ihre kontextuali‐ sierende Funktion auf der Basis einer visualisierenden bzw. imaginierenden Ausleuchtung konkreter Situationen der Vorgeschichte bzw. der dramatischen Gegenwart. Neben dem äußerst allgemeinen Topos der Wandelbarkeit des menschlichen Schicksals sind die beiden anderen, das Geschehen ausdeutenden Thematiken dabei aus der Handlung selbst geschöpft und nicht aus abstrakter Spekulation gewonnen. Die Thematisierung des Phänomens „Liebe“ im ersten und dritten Standlied versteht sich darüber hinaus als Verarbeitung eines in der vorangegangenen Szene prominenten Motivs und als chorische Antwort auf das dramatische Geschehen. Die deutenden und kontextualisierenden Reflexionen treten so nicht von außen an den Lauf der Handlung heran, sondern sind ganz aus dem Fortgang der Aktion selbst motiviert. Kurz gefasst lässt sich festhalten: Die weitestgehend auf den Kern der Handlung, d. h. die beiden Protagonisten fokussierenden Chorpartien entwickeln in Teilen ihrer thematischen Arbeit einen Deutungsrahmen, der zentrale Momente der Handlung zueinander in ein Verhältnis setzt und das Geschehen aus sich heraus ausdeutet. Eingewoben in die größtenteils fokussierenden Partien ist eine kon‐ textualisierende Dimension der chorischen Partien, die den Rahmen der eigent‐ lichen Handlung nur geringfügig überschreitet.

2. Elektra Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur

Neben Antigone ist vor allem die Hauptheldin der Elektra eine der prägenden Frauengestalten im Werk des Sophokles: Wie Antigone steht auch sie einer für sie untragbaren Situation gegenüber, die auf Grund familiärer Beziehungen be‐ sondere Brisanz beinhaltet. Auch wenn sich einzelne Motive und dramatische Gestaltungskonzepte der beiden Tragödien ähneln, unterscheiden sich beide Stücke gerade hinsichtlich der Chorführung maßgeblich. Dass die Elektra dabei

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Anders z. B. die Theben-Delphi-Thematik bzw. die Apoll-Thematik des Oidipus Ty‐ rannos, der leitmotivischer Charakter zukommt.

2. Elektra

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das spätere Stück darstellt und generell zum Spätwerk des Dichters zu zählen ist,168 ist weitestgehend communis opinio; man wird sich trotz der vielfältigen Schwierigkeiten der gängigen, zum größten Teil auf stilistischen Beobach‐ tungen beruhenden Datierung in das vorletzte Jahrzehnt des fünften Jahrhun‐ derts (die 410er Jahre) anschließen.169 Ihre Aufnahme in die byzantinische Trias (neben Aias und Oidipus Tyrannos) mag als Beweis der Wertschätzung gelten, die man der vorliegenden Tragödie in späterer Zeit entgegenbrachte. Der dem Drama zu Grunde liegende Mythos ist im Wesentlichen bekannt: Agamemnon, König von Mykene, Elektras Vater, war neben seinem Bruder Me‐ nelaos der wichtigste und mächtigste Feldherr der Griechen vor Troia. Um die Abfahrt der Flotte zu ermöglichen, hatte er – einem göttlichen Befehl folgend – zugestimmt, seine eigene Tochter Iphigenie zu opfern. Als er schließlich nach zehn Jahren Belagerung siegreich aus Troia zurückkehrt, hat sich einiges ver‐ ändert: Seine Frau Klytaimnestra hat mit Aigisth ein Verhältnis begonnen, der zugleich auch die Herrschaft über Mykene an sich genommen hat. Den heim‐ kehrenden Ehemann ermordet Klytaimnestra mit Hilfe Aigisths im Bade, nicht zuletzt, weil sie jenem die Tötung der gemeinsamen Tochter vorwirft. Nun kommt Elektra ins Spiel: In weiser Voraussicht lässt sie ihren jüngeren Bruder Orest, den einzigen Sohn von Agamemnon und Klytaimnestra, in Sicherheit bringen. Er, so ihre Hoffnung, solle dereinst den Vater rächen und die gemein‐ same Mutter töten. Unter der Herrschaft Aigisths leidet sie in den kommenden Jahren außerordentlich; ihre ganze Zuversicht liegt dabei auf ihrem Bruder Orest, dessen Ankunft in Theben sie mit einigem Eifer erwartet. Sophokles lässt seine Tragödie mit der Rückkehr Orests beginnen; anstatt allerdings gleich von Beginn an die Rache an der eigenen Mutter in Angriff zu nehmen, bedient Elektras Bruder sich – auch darin einem göttlichen Auftrag folgend – zunächst einer List: Er wird anfangs seinen eigenen Tod melden lassen, um sich inkognito so Zugang zum innersten Personenkreis um Klytaimnestra

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So beschränkt sich P AULSEN (1989) schon dem Titel gemäß auf die „späten So‐ phokles-Tragödien“, unter denen er neben der Elektra auch den Philoktet und den Oi‐ dipus auf Kolonos versteht. Er rechtfertigt diese Beschränkung auf die seines Erachtens „geschlossene Gruppe“ innerhalb des uns erhaltenen Werks des Dichters in seiner Ein‐ leitung S. 21 f. Vgl. D UGDALE (2014) S. 1280. Von besonderem Interesse war und ist immer noch die relative Datierung der beiden Elektra-Dramen von Sophokles und Euripides; vgl. dazu im Besonderen V ÖGLER (1967).

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II. Frauenchöre

verschaffen zu können. Zuschauer und Leser sind so Mitwisser einer besonders perfiden Intrige, deren Wirkung im Besonderen Elektra zu spüren bekommt.170 Sie sieht sich bereits zu Beginn der Tragödie mit wachsenden Widerständen konfrontiert: Nicht nur der Chor der mykenischen Frauen steht ihrem anhal‐ tenden Klagen zunehmend kritisch gegenüber; auch ihre Schwester Chryso‐ themis mahnt eindringlich zur Mäßigung.171 Das Verhältnis zwischen Elektra und Klytaimnestra ist zudem von besonderer Feindseligkeit geprägt. Auf die fingierte Todesnachricht reagiert Elektra zunächst mit Erschütterung, ringt sich dann allerdings dazu durch, nötigenfalls selbst aktiv zu werden und die Initiative zu ergreifen.172 Chrysothemisʼ Ablehnung dieses Vorhabens lässt die beiden Schwestern im Streit auseinander gehen. Als schließlich Orest selbst eintrifft und seiner Schwester die angebliche Urne mit den Überresten ihres Bruders übergibt, scheint Elektras Zuversicht völlig geschwunden zu sein. Der Moment äußerster Klage und Hoffnungslosigkeit wird allerdings durch die – vom Chor angestoßene – Wiedererkennung der beiden Geschwister unterei‐ nander zum Wendepunkt des Geschehens: Orest vollzieht im Anschluss die Rache an seiner Mutter. Wenn Elektra dabei auch keinen aktiven Part spielt, begreift sie dennoch das Geschehen als Genugtuung und eigenen Triumph. Die Tragödie schließt mit der Verhaftung Aigisths, der als Komplize Klytaimnestras ebenfalls getötet werden wird. Die Konzeption der Tragödie als eines Intrigenstücks bringt es mit sich, dass die ohnehin verschiedenen Kenntnisstände zwischen den mit dem Mythos ver‐ trauten Zuschauern und der Protagonistin sowie dem Chor besonders eklatant auseinanderfallen. Damit geht zudem die Zweiteilung der Bühnenhandlung einher: Während Orests Ankunft zwar den Gegenstand des Prologs bildet, er dann allerdings die Vorbereitungen der Rache hinterszenisch ins Werk setzt, dominiert Elektra das vorderszenische Geschehen. Dieser die Dramaturgie des 170 171 172

Dass darin ein entscheidender Unterschied der sophokleischen Komposition zu den Behandlungen des Mythos durch Aischylos und Euripides besteht, bemerkt Z IMMER‐ MANN (2011) S. 578. Wie sehr die Konzeption der Schwester Chrysothemis an die Rolle Ismenes aus der Antigone erinnert, wird die Interpretation am Rande zeigen. Die verschiedene Konzeption der Hauptheldinnen Elektra und Antigone hat so direkten Einfluss auf die Komposition der Tragödie als Ganzer: Während Antigone bereits von Beginn an energisch das von ihr als richtig Erkannte auch gegen Widerstände durch‐ setzt und erst im Angesicht der für sie fatalen Konsequenzen zu klagen beginnt, stellt das Klagen Elektras das wesentliche Moment der ersten Hälfte der Tragödie dar. Auch wenn sich Elektra gedanklich daraufhin zum eigenen Handeln durchringt, erreicht sie dennoch nicht Antigones Entschlossenheit und Selbstständigkeit. Darüber hinaus ist Elektra mit Orest ein zweiter Held an die Seite gegeben, wohingegen Antigone im We‐ sentlichen auf sich gestellt bleibt.

2. Elektra

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Stücks über weite Strecken prägende Dualismus hat prägenden Einfluss auf die Gestaltung bzw. das Verständnis der Chorpartien, die teils besondere dramati‐ sche Ironie transportieren, teils zur Ausgestaltung liminaler Szenen dienen. Das Personal der Tragödie bleibt auf den engsten (Familien-)Kreis beschränkt: Trotz eines gewissen Anteils an hinterszenischer Handlung führt Sophokles keinen unbeteiligten Boten ein; hinterszenische oder gänzlich erdichtete Vor‐ gänge zu referieren, obliegt immer einem der Akteure. Das Personal ist dabei der Handlung gemäß in zwei Parteien gespalten: Auf der einen Seite stehen Elektra, Orest und dessen alter Pädagoge, auf der anderen Klytaimnestra und Aigisth, der einzig am Ende des Stücks einen kurzen Auftritt hat. Chrysothemis steht dabei geradezu zwischen den Fronten. Der Chor besteht aus mykenischen Frauen,173 für die Elektra einen beson‐ deren Bezugspunkt und den nahezu einzigen Gesprächspartner darstellt. Der Gesprächssituation Protagonistin-Chor kommt daher besondere Bedeutung zu: Dreimal werden sich die mykenischen Frauen mit der Hauptheldin in lyrischen Partien austauschen; dass der Chor dagegen an entscheidenden Punkten der Handlung weitestgehend schweigt (v. a. in der Wiedererkennungsszene), wird sich als bestimmendes Moment der chorischen Dramaturgie erweisen. Interpretation174 Prolog (v. 1 – 85)

Mit dem Auftritt des Pädagogen und seines ehemaligen Schützlings Orest be‐ ginnt die dramatische Handlung am entscheidenden Punkt: Agamemnons Sohn, mittlerweile ein junger Mann (vgl. τοσόνδʼ ἐς ἥβης v. 14), ist (mitsamt seinem

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Ein weiterer gravierender Unterschied zur Konzeption der Antigone, in der sich die Hauptheldin mit einem Chor thebanischer Greise konfroniert sieht. Eine ähnlich intime Gesprächssituation Protagonistin-Chor wie in der vorliegenden Tragödie kann es daher bereits auf Grund der Rollenidentität des Chors nicht geben. Neben den Kommentaren von J EBB (1924). Sophocles The Plays and Fragments with critical notes, commentary and translation in English prose: Part VI The Electra, Cam‐ bridge (repr. of 1894), K ELLS (1973). Sophocles: Electra, London und K AMERBEEK (1974). The Plays of Sophocles, Commentaries Part V The Electra, Leiden liegt zur Elektra mit F INGLASS (2007) ein weiterer Kommentar neueren Datums vor. Auf detaillierte Ein‐ zelerklärung kann so mit Verweis auf die Kommentare hier im Wesentlichen verzichtet werden.

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II. Frauenchöre

Freund Pylades175) in seine Heimat zurückgekehrt und nimmt die Rache seines Vaters in Angriff. In einer ersten Rede (v.1 – 22) führt der Pädagoge Orest und die Zuschauer in die Szenerie ein: Ausführlich beschreibt er die Personenkonstellation (Orest als Sohn des ehemaligen Heerführers Agamemnon v. 1 – 2), die Lokalität (Mykene v. 4 – 10), seine Beziehung zu Orest (v. 11 – 13) sowie den Grund seiner Fürsorge und zugleich den Zweck des gesamten Unternehmens, die Rache an Klytaim‐ nestra (v. 14). Die eigentliche Planung überlässt er dabei Orest, den er auffordert, den günstigen Augenblick des frühen Morgens zu nutzen, um sich jetzt unbe‐ obachtet abzusprechen (v. 16 – 22). Orest antwortet seinerseits mit einem aus‐ gedehnten Monolog (v. 23 – 76): Zunächst lobt er die Treue und Verlässlichkeit seines Bediensteten und legt ihm im Folgenden das weitere Vorgehen dar: Dem an ihn ergangenen Orakelspruch folgend, er solle unbewaffnet und ohne Heer, d. h. durch List die gerechte Rache vollziehen (v. 36 f.), weist er den Pädagogen an, seinen eigenen Tod unter Eid den Bewohnern des Palastes zu beteuern. Zum Beweis soll ein beim Grab des Vaters im Gebüsch verstecktes Gefäß als Urne mit der Asche Orests vorgezeigt werden und ihm auf diese Weise das unbehelligte Eindringen in das Herrscherhaus ermöglichen (v. 47 – 58). Mögliche moralische Zweifel an der intendierten Intrige weist Orest weit von sich: Ihm selbst mache es nichts aus, offiziell als tot zu gelten, da er ja in Wahrheit – beim Gelingen seines Plans – die Aussicht hat, sein Leben zu retten und Ruhm zu ernten (v. 59 f.). Schließlich, so die beinahe sophistisch anmutende Bewertung,176 sei keine Rede, wenn sie Erfolg hat, κακόν, d. h. moralisch zu verwerfen (v. 61). Ebenfalls zur Rechtfertigung der eigenen Absichten dient die Bemerkung, es seien schon oft „weise Männer“ (σοφούς) dem Anschein nach gestorben, nur um danach umso wirkungsvoller wieder nach Hause zurückzukehren.177 Eine solche Heim‐ kehr, bei der ihn seine Gegner wie einen Stern leuchten sehen werden (ἄστρον 175

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Als stumme Figur ist Pylades für unsere Zwecke zu vernachlässigen. Der Vergleich seiner Rolle und deren Funktionalisierung im vorliegenden Stück mit den Pylades-Ge‐ stalten in den Choephoren des Aischylos sowie den drei euripideischen Tragödien Elektra, Iphigenie bei den Taurern und Orest ist dagegen von einigem Interesse, hier allerdings nicht zu leisten. Vgl. K AMERBEEK (1974) S. 27 ad locum: „The question in 59, 60 implies a scruple about being called dead contrary to truth“, sowie F INGLASS (2007) S. 110 zu v. 61: „Some scho‐ lars take this line as a sophism which indicates the immorality of Orestesʼ plan“. Zur Deutung vgl. K ELLS (1973) S. 85: „I think there is some contemporary allusion in these lines which is now lost“. F INGLASS (2007) S. 111 erwähnt als möglicherweise ge‐ meinte Personen zum einen eine Art „Wiedergänger“ („disappearing and reappearing shamans“), die im griechischen (Volks-)Glauben eine Rolle gespielt zu haben scheinen, zum anderen Herakles, Theseus und Odysseus, deren Mythen jeweils ähnliche Mo‐ mente des Verschwindens und Wiedererscheinens beinhalten.

2. Elektra

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ὣς λάμψειν v. 66), strebt Orest für sich selbst an. Die sich anschließende Anru‐ fung der heimatlichen Erde und ihrer Götter sowie des väterlichen Hauses mit der Bitte um wirkungsvolle Annahme und ein glückliches Ende der Unterneh‐ mung mündet in die Aufforderung an den greisen Erzieher, nun die ihm über‐ tragene Aufgabe zu übernehmen und den Ort zu verlassen (v. 67 – 76). An diesem Punkt ist der Zuschauer über die Rahmenbedingungen der fol‐ genden Handlung in Kenntnis gesetzt: Er erhält nicht nur die nötigen Informa‐ tionen zu Ort und Zeit der Handlung sowie zur Personenkonstellation, sondern ist von Anfang an Mitwisser der Intrige Orests. Dessen Ankunft, seine Motiva‐ tion und sein Plan bilden den Hintergrund, auf dem sich die folgende dramati‐ sche Handlung abspielen wird. Dass dagegen Elektra als Hauptperson des Dramas von der Ankunft ihres Bruders noch nichts weiß, ist bereits zu erahnen und ermöglicht eine Antizipation des Kommenden. Der Prolog könnte an diesem Punkt mit dem Auseinandergehen der beiden Akteure enden. Formal wäre er damit am ehesten mit dem Prolog des Philoktet vergleichbar:178 Auch dort beginnt die Tragödie mit der Ankunft entscheidender Akteure am Ort der Handlung (Odysseus und Neoptolemos) sowie der intimen Unterweisung des einen in der vom anderen geplanten Intrige, mit der die Täu‐ schung des Haupthelden (Philoktet) beabsichtigt ist.179 Wie auch in der Elektra ist damit eine Handlung angestoßen, die sich sowohl vorder- als auch hinter‐ szenisch entwickeln wird. Während sich im Philoktet mit der dialogischen Par‐ odos darauf eine weitere Unterweisungsszene anschließt (Neoptolemos infor‐ miert den Chor seiner Schiffsleute über entscheidende Zusammenhänge), könnte man hier den Einzug des Chors erwarten, der in der Parodos seinen Sorgen um Elektra Ausdruck verleihen würde. Sophokles gestaltet den Prolog – und damit die gesamte Eingangsszenerie der vorliegenden Tragödie – allerdings anders. Mit Vers 77 wird die intime und geheime Zusammenkunft Orests mit seinem Erzieher gestört: Elektra gibt hinter der Bühne in einem Ausruf (ἰώ μοί μοι δύστηνος) ihrer Verzweiflung Aus‐

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Vgl. F INGLASS (2007) S. 89. Eine gewisse Parallelität besteht darüber hinaus zur Anti‐ gone, die ebenfalls mit einer intimen Unterweisungsszene beginnt. Grundlegende Dif‐ ferenz der beiden Partien ist der Umstand, dass in der Antigone keine Intrige in Angriff genommen wird; zudem endet bereits die Prologszene im Konflikt der beiden am Ge‐ spräch beteiligten Akteure, die nicht, wie im vorliegenden Fall, gemeinsam an der Um‐ setzung des entwickelten Plans arbeiten. Im Philoktet ist freilich das Altersverhältnis gedreht: Odysseus, der Ältere, unterweist den jüngeren Neoptolemos, während in der Elektra Orest seinen weitaus älteren Lehrer in seine Pläne einweiht.

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II. Frauenchöre

druck180 und bereitet dramaturgisch gesehen ihren eigenen Auftritt in Vers 86 vor. Der kurze Dialog zwischen Orest und dem Pädagogen (v. 78 – 85) führt schließlich zum raschen Abgang der beiden; es sei besser, so der Erzieher, nun erst den Weisungen des Apoll zu folgen und am Grab Agamemnons ein Opfer darzubringen, anstatt den Klagen der Elektra zu lauschen. Die Bühne ist nach Vers 86 freigegeben für den Auftritt der Hauptperson.181 Fassen wir einige Punkte zusammen: Der Prolog besteht augenscheinlich aus zwei dramaturgisch ganz verschieden gearteten Teilen, die durch Elektras Ruf voneinander abgetrennt sind: den beiden Monologen der Prologsprecher (v. 1 – 76) sowie dem kurzen Wechselgespräch der beiden (v. 78 – 85), auf das ihr Abtritt folgt. Mit dem ersten Teil des Prologs, der neben der eigentlichen Exposition zudem eine Charakterisierung Orests bietet und mithin eine gänzlich informierende Szene darstellt, schafft Sophokles die aus anderen Tragödien bekannte Situation, dass dem Publikum grundlegende Sachverhalte bekannt sind, deren Aufdeckung ein wesentliches Moment der dramatischen Handlung sein wird.182 Mit der Ein‐ weihung in den Plan des Orest und seinem zielgerichteten Abgang (v. 84) wird dem Publikum der hinterszenische Fortgang der Handlung angedeutet; zu einem späteren Zeitpunkt im Stück werden schließlich die vorder- und hinterszeni‐ schen Stränge wieder aufeinander treffen.183 Das Publikum ist damit gegenüber der Protagonistin und den anderen Charakteren (Chor, Chrysothemis, Klytaim‐ nestra) im Besitz eines entscheidenden Wissensvorsprungs, der es ermöglicht, das vorderszenische Geschehen richtig einzuordnen und aus der Antizipation des Kommenden zu deuten. Dieser erste Teil des Prologs ist dabei im Wesentli‐ chen statisch: Die Monologe der beiden Akteure stehen sich geradezu blockhaft gegenüber; zu einem wirklichen Austausch kommt es nicht. Des Weiteren ist auffällig, dass Elektra im ersten Teil des Prologs keine Rolle spielt: Weder Orest selbst noch der Pädagoge erwähnen sie. Dies lässt sich ei‐ nerseits mit der spezifischen Situation der beiden Handlungsträger erklären:

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Vgl. K ELLS (1973) S. 86: „a muffled but passionate cry“. F INGLASS (2007) betont S. 114: „it is spoken, not sung“. Dieser Abgang der beiden Prologsprecher steht in bewusstem Kontrast zur Gestaltung der aischyleischen Choephoren, deren thematische und dramatische Ähnlichkeit und Verschiedenheit zur Tragödie des Sophokles im Folgenden Beachtung finden wird. Zur unterschiedlichen Gestaltung des Prologendes vgl. F INGLASS (2007) S. 114. So im Aias die göttliche Motivierung des Wahnsinns, Antigones Plan sowie Odysseusʼ Intrige im Philoktet. Chrysothemis wird in den Versen 892 ff. ihre Schwester zu überzeugen versuchen, sie habe am Grab des Vaters Orests Weihegaben gesehen.

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Beide sind ganz auf Orests Mission konzentriert,184 was gerade Orest als beson‐ ders zielgerichtet, auf die Durchführung seines Plans und damit die unmittelbare Zukunft fixiert erscheinen lässt. Daneben bietet die weitgehende Ausblendung Elektras185 freilich auch die Folie, vor der sich ihr emotionaler Auftritt umso deutlicher abheben kann: Bereits hier ist das zentrale Geschwisterpaar der Tra‐ gödie in seiner Kontrastivität gezeichnet.186 Das Ende des Prologgesprächs durch den hinterszenischen Ruf der Protago‐ nistin ist eine im Rahmen der uns überlieferten Tragödien des Sophokles ein‐ malige Komposition.187 Mit einem besonders überraschenden Impuls dynami‐ siert sich das Geschehen schlagartig. Der Einwurf Elektras in Vers 77 ruft nach den Plänen für die unmittelbare Zukunft geradezu die Gegenwart wieder ins Gedächtnis und bildet – zusammen mit der sich im Weiteren anschließenden Klage v. 86 – 120 – den Auftakt für die explizite Darstellung der dramatischen Ausgangssituation aus Sicht der Hauptperson. Den Prolog auf diese Weise enden

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Vgl. V ÖGLER (1967) S. 144, der im Sinne einer „ethopoetischen“ Interpretation in Orest den „aktive(n) Beweger der Handlung“, den „Erreger des Pathos“, in Elektra dagegen geradezu die Personifizierung des „Bios des Leidens“ sieht: „Für einen Gedanken an die leidende Schwester bleibt da kein Raum“. Einzig der Pädagoge erwähnt sie (ohne Namensnennung) in einem kurzen Rückblick, wenn er angibt, er habe Orest von seiner Schwester (πρὸς σῆς ὁμαίμου καὶ κασιγνήτης v. 12) erhalten. Auf ihre momentane Situation geht er hingegen nicht ein. Das Ausblenden gewisser Umstände oder Personen ist ein besonders subtiles drama‐ turgisches Mittel, durch das der Dichter auch andernorts Spannung aufbaut und eine Kontrastfolie des Kommenden bietet, vgl. die völlige Ausblendung der Gestalt des Oi‐ dipus in der Parodos des Oidipus Tyrannos oder der Machtübernahme Kreons in der entsprechenden Partie der Antigone. Vgl. B URTON (1980) S. 189: „This is the only extant play of Sophocles which introduces the principal actor with a monody before the entry of the chorus“. Vergleichbare hin‐ terszenische Rufe, die den Auftritt des Protagonisten ankündigen, finden sich im Aias, v. 333 ff. (dort allerdings nicht am Ende des Prologs). Der Prolog der euripideischen Medea ist in einigen formalen Punkten vergleichbar: Auch dort ist ein Pädagoge Pro‐ logsprecher, während sich der Auftritt der Protagonistin, der auch dort dem des Chors vorangeht, durch mehrere hinterszenische Rufe ankündigt (v. 96 ff.). Vgl. M ASTRO‐ NARDE (2002). Euripides Medea, Cambridge, S. 180 f. Folgt man der gängigen Spätdatie‐ rung der Elektra (in die 410er Jahre), so wird man die Priorität der euripideischen Medea (Ende der 430er Jahre) annehmen müssen.

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II. Frauenchöre

zu lassen,188 macht die Sonderstellung der vorangegangenen Unterweisungs‐ szene besonders deutlich: Mit Elektras Herannahen verschiebt sich der unmit‐ telbare Tätigkeitsbereich Orests hinter die Szene, während bis zum Eintreffen des Pädagogen als eines falschen Boten in Vers 660 das gesamte vorderszenische Geschehen Elektra und ihrer Auseinandersetzung mit dem Chor, der Schwester und der Mutter gelten wird. Die Absprache von Orest und dem Pädagogen bleibt im besten Sinne eine Vor-Szene zur Handlung rund um Elektra, die direkt mit ihrem Auftritt das Zentrum des Bühnengeschehens bildet und durch ihre dau‐ ernde Präsenz den konkret fassbaren Mittelpunkt der Handlung darstellen wird.189 Der Zuschauer ist sich dabei nach dem Prolog bereits bewusst, dass das er‐ neute Erscheinen Orests auf der Bühne eine hinterszenische Aktion voraussetzt und eine Wendung im Fortgang der Handlung bedeuten wird. Das Zusammen‐ treffen der beiden Geschwister ist dabei als zentrale Wiedererkennungsszene und Wendepunkt der Handlung zu antizipieren. θρῆνος/Monodie Elektras und Kommos / Parodos (v. 86 – 250)

Die mit dem Abgang der beiden Prologsprecher leer gewordene Bühne betritt Elektra in Vers 86. In einem langen, anapästisch gestalteten θρῆνος ἀπὸ

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Ich kann K AMERBEEK (1974) S. 31 („It is decidedly better to regard Electra’s θρῆνος ἀπὸ σκηνῆς as belonging to the Prologue and thus forming its second part than as a part of the Parodos“) nicht folgen. Freilich wäre die übergreifende Bezeichnung „Parodos“ für den sich an das (Prolog-)Gespräch zwischen dem Pädagogen und Orest anschließenden Abschnitt der Verse 86 – 250 irreführend; Elektras Klage allerdings zum zweiten Teil des Prologs zu machen, halte ich für verfehlt: Der Abtritt der an der Unterweisungsszene Beteiligten nach Vers 86 ist ein so eminenter Einschnitt, dass das Folgende einen neuen Formteil der Tragödie darstellt. Der dramaturgisch-formelle Kunstgriff des Dichters besteht im vorliegenden Fall ja gerade darin, die erwartbare „Parodos“ durch eine zweiteilige Partie zu „ersetzen“, bei der eine anapästische Soloklage dem lyrischen Aus‐ tausch mit dem Chor vorangeht. (Sophokles kennt eben keinen starren Formalismus hinsichtlich der Abfolge einzelner Formteile der Tragödie, sondern komponiert ein der jeweils durch ihn geformten Handlung und ihrer Aussageabsicht angemessenes Drama in souveräner Verfügung über die ihm zu Gebote stehenden dramaturgischen und for‐ malen Mittel.) Dass Elektras Solopartie dabei durch den hinterszenischen Ruf geradezu in das eigentliche Prologgespräch „hineinragt“, darf über den klaren Schnitt zwischen Vers 85 und 86 nicht hinwegtäuschen. Sowohl K ELLS (1974) als auch F INGLASS (2007) tragen dem Rechnung: Sie lassen die eigentliche Parodos erst mit Vers 121 beginnen und nennen den Abschnitt v. 86 – 120 θρῆνος ἀπὸ σκηνῆς. Vgl. B URTON (1980) S. 189: „Thus in Sophoclesʼ play, Electra dominates the tragedy from the end of the prologue“.

2. Elektra

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σκηνῆς (v. 86 – 120)190 verleiht sie ihrer verzweifelten Stimmung Ausdruck. Es ist hier nicht der Ort, Elektras Klagegesang im Einzelnen zu analysieren. Für die vorliegende Untersuchung ist die dramaturgische Formung dieser Passage al‐ lerdings von entscheidender Bedeutung. Dass nach dem Prolog nicht der Chor die Orchestra betritt und entweder allein sein Auftrittslied anstimmt oder mit einer Person in einen (lyrischen) Dialog eintritt, sondern die Hauptperson al‐ leine einen θρῆνος ἀπὸ σκηνῆς erheblicher Länge vorträgt, ist in den erhaltenen Tragödien des Sophokles einzigartig.191 Dass dieser θρῆνος formale Parallelen zur (lyrischen) Solomonodie aufweist,192 hat K AMERBEEK dazu veranlasst, von „Electraʼs monody“193 zu sprechen. Bereits die Form der Solomonodie, wie sie vor allem aus den Tragödien des Euripides bekannt ist, nimmt dabei im sopho‐ kleischen Gesamtwerk eine untergeordnete Stellung ein.194 Indem Sophokles den Chor erst nach der umfangreichen Monodie in Vers 121 einziehen und zu Wort kommen lässt, weist er der Protagonistin eine entscheidende Stellung in‐ nerhalb des dramatischen Gefüges zu. Der durch den hinterszenischen Ruf (v. 77) vorbereitete Auftritt nimmt so eine prominente Stelle im Handlungsablauf ein, verdrängt den nach formalen Gesichtspunkten erwartbaren Choreinzug und macht für Zuschauer und Leser die Gewichtung der sich entspinnenden Handlung klar: Im Zentrum der Bühne stehen ab diesem Moment Elektra, ihre Situation und ihr Schicksal. Es ist dabei bezeichnend, dass die Protagonistin von ihrem ersten Auftritt an den größten Teil des Stücks, konkret: bis v. 1383 auf der Bühne präsent bleiben wird; sie bildet damit auch rein visuell den Fokus der Handlung. Mit der Gestaltung der Solomonodie lässt Sophokles der Haupt‐

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Zu metrischen Belangen verweise ich explizit auf die Diskussion bei F INGLASS (2007) S. 117 ff. Besonders herauszuheben ist die dort S. 119 herausgestellte „Übergangsfunk‐ tion“ der Anapäste in Hinblick auf den vollends lyrisch strukturierten Auftritt des Chors („The use of recitative anapests […] allowed the change from the less emotional world of the prologue to be marked in metrical terms, while also leaving room for a further change in the mood of delivery at the entrance of the chorus“). K AMERBEEK (1974) vermerkt eine mögliche Parallele zur euripideischen Elektra S. 31: „[…] the trimeter section of the Prologue is followed by Electra’s monody before the entrance song of the Chorus“. Die dramaturgischen Implikationen sind allerdings bei Euripides völlig anders geartet, da Elektra dort bereits Prologsprecherin war und die Bühne in Vers 76 verlassen hatte. Wenn sie darauf in Vers 112 erneut erscheint und ihre Monodie anstimmt, ist ihrem Auftritt die Wucht und das Überraschungspotential ge‐ nommen, die dem ersten Auftritt der sophokleischen Elektra eigen sind. Vgl. F INGLASS (2007) S. 118, der zugleich bewusst Euripides als „Hauptvertreter“ der Solomonodie erwähnt: „Although mainly recitative, the piece as a whole shares many structural similarities with some of the monodies delivered by actors in Euripides“. K AMERBEEK (1974) S. 31. Vergleiche dazu die Stellenangaben bei F INGLASS (2007) S. 119.

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II. Frauenchöre

person des Dramas den wirkungsvollen und ihrer Stellung angemessenen Auf‐ tritt zukommen.195 Kurz sollen die inhaltlich relevanten Punkte der Monodie referiert werden, um im Folgenden den Zusammenhang zum sich anschließenden Kommos zu verdeutlichen. Elektras Klage beginnt mit dem Anruf des Lichtes (φάος ἁγνόν) und der Luft (ἀήρ), die in der Nacht schon viele ihrer Trauergesänge und ihr rituelles Schlagen gegen die Brust wahrgenommen hätten. Auch die Lager‐ stätten des elenden Palastes kennten, so Elektra, diese nächtlichen Klagen,196 in denen sie den schändlichen Tod ihres Vaters beweine: Diesen habe nicht „der mörderische Ares“ einem barbarischen Schicksal gemäß getötet, sondern ihre Mutter mitsamt dem neuen Bettgenossen Aigisth „gleich Holzfäller eine Eiche“ (ὅπως δρῦν ὑλοτόμοι v. 98) mit einer Axt das Haupt gespalten. Einzig von ihr, Elektra, komme dem Vater dabei die gebührende und dem schändlichen Ende Agamemnons entsprechende Klage zu (v. 100 ff.). Damit hat der erste, weitest‐ gehend in die Vergangenheit blickende Teil des θρῆνος sein Ende gefunden;197 Elektra richtet ihren Blick im Folgenden auf die unmittelbare und fernere Zu‐ kunft. Niemals, so die entschieden programmatische Aussage, werde sie zu klagen aufhören, solange sie noch das Licht des Tages und die Strahlen der Gestirne sehe; gleich der ihrer Kinder beraubten Nachtigall (v. 107) – ein Selbstvergleich mit Prokne, dem geradezu typischen mythischen Exempel einer klagenden Frau – werde ihr Schall (ἠχώ) hier vor den Türen des Palasts allen ertönen. In einer wirkungsvollen und umfangreichen Anrufung der Unterweltsgötter Hades und Persephone (v. 110), der mit dem Totenreich in Verbindung stehenden Gottheiten Hermes und Ara – des personifizierten Fluchs – sowie der Erinyen (v. 111 f.) gipfelt die Monodie. Die emotionalen Äußerungen kulminieren in den Imperativen der Verse 115 – 117: Elektra bittet die angerufenen Unterweltsgötter zu kommen (ἔλθετʼ), ihr zu helfen (ἀρήξατε), den Mord an ihrem Vater zu rächen (τείσασθε) und ihr ihren Bruder zu schicken (πέμψατʼ). Alleine nämlich sei sie nicht mehr im Stande, ihr Leid zu ertragen. Als einzige Rettung stehen Elektra das Einschreiten göttlicher Mächte sowie der eigene Bruder vor Augen, dessen baldige Ankunft sie erfleht. In mehrfacher 195

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Der Auftritt des aus dem Wahnsinn erwachten Aias trägt ähnliche Züge. Allerdings wird sein Auftrittslied durch Äußerungen des Chors sowie Tekmessas Kommentare gegliedert und geschieht nicht an einer dramaturgisch so prominenten Stelle wie im Fall Elektras. Die dramaturgische Wirkung, d. h. die Konzentration auf den Haupthelden und seinen wirkungsvollen Auftritt, ist allerdings hier wie dort dieselbe. Auf die beißende Ironie des sonst nächtliche (Freuden-)Feste bezeichnenden παννυχίς (vgl. Antigone, v. 153, 1151) weist K ELLS (1973) S. 87 f. hin. Zur Zweiteilung vgl. F INGLASS (2007) S. 120.

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Hinsicht bildet dieser Abschluss eine wohlkomponierte motivische Rundung der Passage: Zum einen stehen die Anrufungen der Unterweltsgötter mit den Vokativen zu Beginn der Monodie in Beziehung, erweitern diese stimmungsvoll und bilden eine Brücke von der unmittelbaren dramatischen Gegenwart zum weiteren Verlauf der Handlung. Zum anderen nehmen sie Bezug auf die Bitten, mit denen Orest seine Rede im Prolog (v. 67 – 72) geschlossen hatte. Damit wird die inhaltliche Struktur der Partie, die mit dem Vorwissen der Zuschauer um die Ankunft des Orest spielt und daraus ihre spezifische Spannung erhält, verdeut‐ licht und geradezu motivisch verklammert. Vor dem Eintreffen des Chors in der Orchestra, d. h. im dramatischen Geschehen, ist der Zuschauer nicht nur über die Pläne und Absichten Orests informiert, sondern hat einen unmittelbaren Eindruck der Gefühlswelt Elektras erhalten. Um sie herum als umfassend ein‐ geführte Hauptgestalt wird sich die Handlung im Weiteren entfalten. Kommen wir nun zum Einzug des Chors198 und dem damit verbundenen Kommos. Statt auf den θρῆνος ἀπὸ σκηνῆς eine rein chorische Parodos folgen zu lassen, komponiert Sophokles ein Amoibaion zwischen Chor und Protago‐ nistin. Dieser umfangreiche Wechselgesang199 (v. 121 – 250) entfaltet ein weites Panoptikum der Gefühlslage der Hauptperson und verdeutlicht die Beziehung des Chors zu Elektra. Zentrales Thema der Partie ist das anhaltende, maßlose Klagen der Protagonistin, auf das die Frauen mit einer Mischung aus Überdruss, ernster Sorge und tief empfundener Sympathie reagieren. Kurz sollen die im

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Wann genau der Einzug des Chors in die Orchestra erfolgt, lässt sich auf Grund des uns überlieferten Textes nicht genau bestimmen. Da allerdings in Elektras Solopartie kein Bezug zu den Frauen gegeben ist, sie sich vielmehr zu Beginn und am Ende ganz in ihrer Reflexion versunken an unpersönliche bzw. göttliche Entitäten wendet, wird man sich mit einiger Wahrscheinlichkeit den Kommentaren anschließen, die den eigentli‐ chen Einzug erst nach dem Ende des θρῆνος, also ab v. 120 ansetzen. Das Hinzukommen der Frauen wäre so auch mit der Sorge um Elektra, deren erneutes Klagen sie von ferne vernommen hätten, nachdrücklich motiviert. Vgl. F INGLASS (2007) S. 121, der sich gegen den „stummen Einzug“ des Chors während Elektras Anapästen wendet: „But even if there were a parallel for such a silent entrance by the chorus, we would not want to lose the dramatic effect of Electra’s initial solitude“. Das vorliegende Amoibaion ist mit 130 Versen nach der Parodos / dem Auftrittsamoi‐ baion des Oidipus auf Kolonos (137) die zweitumfangreichste lyrische Partie im über‐ lieferten Werk unseres Dichters (vgl. F INGLASS (2007) S. 139). Zwei entscheidende Un‐ terschiede beeinflussen die dramaturgischen Implikationen der beiden Partien maßgeblich: Neben dem Protagonisten und dem Chor beteiligt sich im Oidipus auf Ko‐ lonos mit Antigone eine weitere Person am Amoibaion. Des Weiteren dient die Passage des Oidipus-Dramas zu gewissen Teilen der Orchestrierung eines Handlungsvorgangs (der Platzierung des Haupthelden) und nur in zweiter Linie der emotionalen Ausleuch‐ tung eines bestimmten Zustands der Hauptperson wie der vorliegende Kommos der Elektra.

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II. Frauenchöre

Kommos angesprochenen Gedanken und Themen in einem teils dem Text in engem Anschluss folgenden, teils überblicksartig raffenden Durchgang aufge‐ arbeitet werden. Es bietet sich dabei an, jeweils ganze Strophenpaare zu be‐ trachten, da in der vorliegenden Partie gedanklicher und metrisch-formaler Ab‐ lauf Hand in Hand gehen. In den drei Strophenpaaren mit einer den Wechselgesang abschließenden Epodos spricht jeweils zunächst der Chor, wo‐ rauf Elektra antwortet (nach Versen gezählt ergibt sich durch die einzelnen Strophenpaare folgende Verteilung: erstes Strophenpaar 7 Verse Chor – 8 Verse Elektra, zweites Strophenpaar 11 – 8, drittes Strophenpaar 8 – 12, Epodos 3 – 14). Die Redeanteile sind demnach bis zur Epodos nahezu ausgeglichen, im Ganzen überwiegt allerdings Elektras Anteil.200 Mit der sorgenvollen Frage, warum sie den schändlich gestorbenen Agamemnon immer noch beweine,201 und der sich anschließenden Bekundung der Abscheu gegenüber den Tätern (v. 126 f.) wenden sich die Frauen direkt an Elektra, die sie unter Verdoppelung des Vokativs παῖ als „Kind einer unseligsten Mutter“ anreden. Elektras eben verklungener Klagegesang scheint also von den Cho‐ reuten zumindest in Teilen als solcher wahrgenommen worden zu sein; die Be‐ merkung ἀεί (v. 122) lässt weiterhin darauf schließen, dass Klagen und Jammern in der Vergangenheit Elektras Auftreten bestimmt haben. Die erste Wortmel‐ dung des Chors ist zudem eine besonders konzise Zusammenfassung der Aus‐ gangslage, die alle unmittelbar Beteiligten teils namentlich nennt bzw. auf sie anspielt: Klytaimnestra (v. 121 f. sowie 124 f.), Elektra (v. 122), Agamemnon (v. 125) und Aigisth202 (v. 126). Die der Strophe einbeschriebene Wertung ist dabei deutlich: Die „Gegner“ Elektras, d. h. Klytaimnestra sowie ὁ τάδε πορών (mög‐ licherweise Aigisth), werden moralisch deklassiert (δολερά, ἀθεώτατα, ἀπάταις, κακᾷ χειρί v. 124 ff.). Dahingegen bezeichnet der Chor Elektras Klagen

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202

Man darf vermuten, dass die Rolle der Elektra bereits auf Grund ihres enormen Umfangs hohe Ansprüche an den entsprechenden Schauspieler stellte; die Bandbreite der (allein mit der Stimme darzustellenden) Emotionen ist zudem enorm. Die griechische Konstruktion der Frage (τίνʼ ἀεὶ λάσκεις ὧδʼ ἀκόρεστον οἰμωγὰν τὸν πάλαι ἐκ δολερᾶς ἀθεώτατα ματρὸς ἁλόντʼ ἀπάταις Ἀγαμέμνονα κακᾷ τε χειρὶ πρόδοτον;) lässt für unser Sprachgefühl die genaue Differenzierung zwischen „warum?“ und „welche Art von Klage? was für eine Klage?“ nicht genau zu. Vgl. K ELLS (1973) S. 90 sowie F INGLASS (2007) S. 140 ad locum. Wer mit ὁ τάδε πορών gemeint ist, bleibt umstritten: Während K ELLS (1973) S. 90 fest‐ hält: „no doubt Aegisthus“, kommentiert F INGLASS (2007) S. 142: „a generalising mas‐ culine“; ähnlich J EBB (1924) S. 25: „might refer to Clytaemnestra […], but is rather ge‐ neral“. Eine Mittelposition nimmt K AMERBEEK (1974) S. 36 ein: „The Chorus may be ostensibly speaking of Aegisthus alone but the masculine singular may be taken to refer to Clytaemnestra as well“.

2. Elektra

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als „unersättlich“ (ἀκόρεστον v. 123), erkennt also auch darin eine gewisse Maßlosigkeit. Elektra selbst nimmt die Sorgensbekundungen der Frauen, deren ehrenhaften Stand sie in ihrer Anrede (γενέθλα γενναίων v. 129) besonders hervorhebt, wohlwollend entgegen, erkennt deren Bemühungen, sie trösten zu wollen, an,203 setzt sich aber inhaltlich von einer möglichen Beschwichtigung ab: Sie wolle nicht aufhören, ihren Vater zu beweinen. Geradezu flehentlich bittet sie den Chor, sie dies weiterhin tun zu lassen (v. 134). Mit dem zweiten Strophenpaar tritt der Chor in eine inhaltliche Auseinan‐ dersetzung mit Elektra ein: Das Klagen um den gestorbenen Vater sei zwecklos, da er weder durch Jammern noch durch Bitten (οὔτε γόοισιν, οὐ λιταῖς v. 139) wieder aus dem Hafen des Hades geholt werden könne. Außerdem bewege sich Elektra vom Maßvollen (ἀπὸ τῶν μετρίων v. 140) in ihrer Trauer zu einem Leid, das ἀμήχανον sei (v. 140), d. h. bedeutungslos, ohne Wirkung und fruchtlos. Den Abschluss der Wortmeldung bildet die direkte Frage, was Elektra anstrebe (ἐφίῃ v. 144). Abwehrend kontert die Angesprochene: Töricht sei, wer schändlich dahin‐ geschiedener Eltern vergesse. In ihrem, Elektras, Gemüt habe sich allerdings das Beispiel des Vogels festgesetzt,204 der immerzu Itys beweine (v. 147 ff.). Den Schluss der Gegenstrophe bildet der direkte Anruf Niobes: Sie, die immerzu in einem Felsengrab (ἐν τάφῳ πετραίῳ) weint, zählt Elektra unter die Götter. Elektra untermauert also ihre virulente Absage an die Versuche des Chors, sie vom Klagen abzubringen, mit zwei mythologischen Beispielen. Der bereits in der anapästischen Partie verbalisierte Vergleich ihrer selbst mit Prokne (v. 107 ff.) wird hier wiederholt, intensiviert und durch die Apostrophierung Niobes als einer Göttin noch überboten. Als tertium comparationis dient dabei einzig das Moment der fortgesetzten Klage, wohingegen sich andere zentrale Aspekte der mythischen Situation eklatant von der Elektras unterscheiden: So beklagen Prokne und Niobe ihre Kinder, während es bei Elektra um den Vater geht; ferner tragen die beiden von Elektra angeführten mythischen Figuren an dem von ihnen beklagten Leid entscheidende Verantwortung, während Elektra auf das (bereits längere Zeit zurückliegende) Geschehen keinen Einfluss hatte und völlig

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Vgl. F INGLASS (2007) S. 143: „Electra acknowledges the good intentions which have mo‐ tivated the entry of the chorus“. Zu Konstruktion und Bedeutung von ἄραρεν (v. 147) vgl. die Diskussion bei F INGLASS (2007) S. 147 f. sowie seine Übersetzung „the example of Procne ‘is fixed’ in Electra’s mind“, anders K AMERBEEK (1974) S. 38: „meaning ‘is congenial to’“.

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II. Frauenchöre

unschuldig leidet.205 Das Ende der Gegenstrophe (v. 153) nimmt in seiner sprach‐ lichen Gestaltung (αἰαῖ, δακρύεις) das Ende der ersten Strophe wieder auf (αἰαῖ, ἱκνοῦμαι v. 136) und macht die Parallelisierung zwischen Elektra und den von ihr erwähnten Heroinen, ihre Selbststilisierung am Exempel zweier Urtypen des Klagens besonders augenfällig. Mit einem zweiten Argument sucht der Chor zu Beginn der zweiten Strophe erneut, Elektra auf einer inhaltlichen Ebene zu erreichen: Sie sei schließlich nicht die Einzige, der Leid widerfahre, durch das sie sich von den anderen Mitgliedern ihrer Familie (τῶν ἔνδον), im Besonderen von ihren Schwestern Chrysothemis und Iphianassa (v. 157 f.), unterscheide. Mit dem syntaktisch nur durch τʼ angereihten Vers 159 kommt der Chor schließlich auf Orest zu sprechen. In der ausgreifenden Periode geht der ellip‐ tische Hauptsatz ὄλβιος sc. ἐστίν bzw. καλεῖται dem umfangreichen Relativsatz (ὅν) voran: Orest, in seinem von Leiden verborgenen (Mannes-)Alter (κρυπτᾷ ἀχέων ἐν ἥβᾳ206), sei glücklich (ὄλβιος) zu nennen; ihn werde, so der Relativsatz, die mykenische Erde als „Adeligen“ – und damit rechtmäßigen Nachfolger seines Vaters207 – aufnehmen (δέξεται), wenn er sich ihr mit dem „wohlgesinnten Schritt des Zeus“ nähere. Was als ein tröstender Hinweis auf Elektras Schwes‐ tern und Leidensgenossen begann, hat sich hier in eine hoffnungsvolle Zu‐ kunftsvision gewandelt: Dass Orest heimkehren wird, steht für die Frauen außer Frage; sein von Zeus begünstigtes Kommen sowie die implizit angesprochene Machtübernahme bilden den wirkungsvollen Kontrast zum Leid der Schwes‐ tern. Die in Orests Apostrophierung als ὄλβιος angeschlagene positive Grund‐ stimmung setzt sich in den beiden rasch aufeinanderfolgenden Komposita εὐπατρίδαν sowie εὔφρονι fort. Das Panorama der mit der Handlung bzw. der Situation in Verbindung stehenden Personen ist damit komplettiert: Hatte der Chor in der ersten Strophe sein Hauptaugenmerk auf Klytaimnestra (und Ai‐ gisth) gelegt (v. 121 ff.) und damit Elektras Gegner vorgestellt, geraten hier Elektras Verbündete, d. h. zunächst ihre Leidensgenossen, dann der potentielle 205

206 207

Es scheint nicht geraten zu sein, weitere subtile Andeutungen und Parallelen finden zu wollen. (Vgl. F INGLASS (2007) S. 130, der trotz der auch von ihm aufgezeigten Unter‐ schiede der verglichenen Situationen zur Gegenüberstellung Prokne-Elektra festhält: „But the comparison also suggests Electra’s potential for violent action against her kin“). Vgl. dazu den Selbstvergleich Antigones mit Niobe (!) (v. 823 ff.) sowie die drei Ver‐ gleiche des vierten Stasimons (v. 944 ff.), die jenseits des tertium comparationis nur we‐ nige bzw. gar keine Parallelen zwischen den Ebenen intendieren. ἀχέων mit J EBB (1924) als Partizip zu verstehen, hat sich nicht durchgesetzt; stellver‐ tretend dazu F INGLASS (2007) S. 152: „ἀχέων is a genitive dependent on the adjective κρυπτᾷ“. Vgl. K AMERBEEK (1974) S. 39: „as the noble prince and rightful successor of his father“.

2. Elektra

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Retter in den Blick. Die beiden Strophen stehen demnach in einem besonders engen Verhältnis zueinander und leisten einen wesentlichen Beitrag zur indi‐ rekten Charakterisierung der handelnden Personen. Dass an unserer Stelle dabei der Name des Hoffnungsträgers an das Ende der Periode gestellt ist (v. 163), ist nicht nur wirkungsvolle Emphase,208 sondern macht zugleich den direkten syntaktischen Anschluss möglich. Elektra setzt die in Vers 160 begonnene Konstruktion fort, indem sie einen weiteren Relativsatz folgen lässt: Ihn (ὅν), Orest, erwarte sie, die Kinderlose und Unverheiratete, sehnlichst und trage dabei unter Tränen das endlose Geschick der Übel. Orest aber, so fährt sie ohne explizite Namensnennung (ὁ δέ v. 167) fort, habe ver‐ gessen, was er erfahren und gelernt habe. In Form einer Frage gibt sie zu be‐ denken, dass die Botschaften, die sie von ihm erhalte, gefälscht seien (ἀπατώμενον): Einerseits – so der Inhalt der Nachrichten – begehre er nämlich, am Ort des Geschehens zu erscheinen, andererseits – so die für Elektra leidvolle Realität – halte er es nicht für angemessen (ἀξιοῖ v. 172), wirklich zu erscheinen. Der vom Chor entworfenen hoffnungsvollen Zukunftsaussicht stellt Elektra mit Entschiedenheit ihre Sicht der Dinge gegenüber: Sie kann gerade der Ab‐ wesenheit Orests nichts Gutes abgewinnen, mehr noch: Das Warten auf ihren Bruder und die damit verbundene Enttäuschung ist selbst Bestandteil ihrer misslichen Lage und gibt Anlass zu Tränen. Die sprachlich-poetische Gestaltung dieses zweiten Teils der Strophe bildet einen besonderen Kontrast zum Beitrag des Chors: Die Reihung einer Vielzahl durch das alpha privativum verneinter Adjektive (bzw. Adverbien) auf engstem Raum (ἀκάματα, ἄτεκνος, ἀνύμφευτος, ἀνήνυτον) zeichnet Elektras aussichtslose Lage und konterkariert die mit dem Präfix εὐ- gebildeten Komposita aus Vers 162. Während so die Syntax im Über‐ gang der chorischen Äußerung zu Elektras Antwort beibehalten bzw. fortge‐ führt wird, erfährt die Situation selbst eine geradezu konträre Ausleuchtung. Eröffnet wird die Gegenstrophe (v. 173 ff.) durch einen Imperativ, den der Chor Elektras Resignation entgegenwirft. Abrupt und schlagwortartig steht θάρσει am Beginn der Periode (v. 173): Elektra solle Mut fassen, denn Zeus überblicke und beherrsche alles (ἐφορᾷ πάντα καὶ κρατύνει); ihm solle Elektra ihren Groll überantworten (νέμουσα) und weder in ihrem Zorn über die Stränge schlagen noch ihren Vater vergessen. Die Zeit nämlich (χρόνος) sei eine hilfreiche Gott‐ heit (εὐμαρὴς θεός v. 179); weder Orest selbst noch der Herr der Unterwelt stünden dem Geschehenen gleichgültig gegenüber. Aber auch das anempfohlene Gottvertrauen weist Elektra von sich. Mit einem entschiedenen ἀλλά lenkt sie den Blick auf die aktuellen Gegebenheiten: Der 208

Vgl. F INGLASS (2007) S. 153: „the name is delayed for emphasis“.

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II. Frauenchöre

Großteil ihres Lebens habe sie bereits verlassen; ohne Kinder schmelze sie, die sie der Hilfe durch einen Mann entbehre, dahin (κατατάκομαι v. 187); wie eine Fremde wohne sie nun im Haus ihres Vaters, sei schimpflich gekleidet und müsse an „leeren Tischen“ stehen.209 Mit der Aufforderung an Elektra, auf göttliche Hilfe zu vertrauen, hat der Chor den Rahmen der Reflexion erweitert: Standen bisher konkrete Personen (Klytaimnestra, Agamemnon, Elektras Geschwister, v. a. Orest) im Mittelpunkt der Betrachtung, ermöglicht die angerissene theologisch-religiöse Dimension einen neuen Kontext.210 Elektras Entgegnung allerdings fokussiert zunächst ganz auf die miserablen Umstände, unter denen sie zur Zeit zu leiden hat, und blendet in dieser Konzentration auf das Hier und Jetzt ihrer Situation die theo‐ logische Dimension völlig aus. Erst mit ihrer Wendung zu Zeus in der folgenden dritten Strophe wird Elektra die vom Chor eröffnete religiöse Deutungsebene in ihre Reflexion einbeziehen. Für den Moment scheinen die beiden Gesprächs‐ partner allerdings aneinander vorbeizureden, zu einer argumentativ ineinan‐ dergreifenden Kommunikation kommt es nicht. Der Chor nimmt daraufhin Abstand von inhaltlichen Erwiderungen und ruft sich in expressiven Bildern den Todestag Agamemnons in Erinnerung: Weh‐ klagen gab es am Tag der Rückkehr des Feldherrn,211 Wehklagen, als ihm die Axt eine tödliche Wunde zufügte. Arglistige Täuschung (δόλος v. 197) habe diese Tat geplant, Eros sie ausgeführt, sei nun ein Mensch oder ein Gott der eigentliche Täter (ὁ ταῦτα πράσσων) gewesen. Elektra stimmt in die lebhafte Vergegenwärtigung der vergangenen Szenerie ein und bricht in die Verwünschung jenes bedeutsamen Tages bzw. jener Nacht aus: Ihr Vater habe den Tod von zwei Händen empfangen, die auch ihr, Elektras, Leben nahmen, sie selbst zu Grunde richteten; Zeus, der mächtige Olympier, solle, so Elektras Wunsch, denen, die dieses Werk vollendeten, im Gegenzug rächendes Leid bereiten und nicht zulassen, dass sie sich an festlichem, höfi‐ schen Prunk erfreuen. Sprachlich erfährt diese Strophe die der Emotionalität angepasste Stilisie‐ rung: Das doppelte οἰκτρά zu Beginn lässt aufhorchen und verknüpft geschickt die dramatische Realität mit der ins Gedächtnis gerufenen Szenerie; der zwei‐ gliedrige, parallel aufgebaute Vers 197 ist so schlicht wie wirkungsvoll. Elektra

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Diese Bemerkung erhellt im Folgenden der Kontrast zur Behandlung der Chrysothemis, wie ihn Elektra in Vers 361 vorbringen wird. Vgl. F INGLASS (2007) S. 154: „The chorusʼs consolation takes on a cosmic aspect“. Dass damit wahrscheinlich Kassandras Klagen gemeint ist, bemerkt zu Recht F INGLASS (2007) S. 160.

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bedient sich, wie in ihrer Monodie, volltönender Vokative als Mittel der Verge‐ genwärtigung, die in einem Dreischritt auf das eigentliche Geschehen und seine Wirkung fokussieren (ὦ ἁμέρα, ὦ νύξ, ὦ ἄχθη). Gezielte Wiederholungen und Konkretisierungen (αἵ … εἷλον … αἵ … ἀπώλεσαν in Vers 207 f.) verstärken den Eindruck des situativen und aufgewühlten Sprechens. Inhaltlich steht die dritte Strophe zu den vorangegangenen Partien des Kommos in einem besonders spannungsreichen Verhältnis: Zum einen spiegelt der Chor in seiner weniger narrativen als vielmehr schlaglichtartigen Rekapi‐ tulation des Mordgeschehens die moralische Wertung der Täter wider, die er bereits zu Beginn vorgetragen hatte (δόλος v. 197 – δολερά v. 124). Die Thema‐ tisierung des Eros als treibender Kraft fügt der in der ersten Strophe gegebenen Exposition der Gegner Elektras einen weiteren Aspekt hinzu, der bisher von Seiten des Chors unerwähnt geblieben war; die Erinnerung an das eigentliche Mordgeschehen vervollständigt die bereits in der ersten Strophe vorgenommene Wertung und begründet sie rückblickend. In ihrer Reaktion beteiligt sich Elektra daraufhin zunächst an der bildgewal‐ tigen Vergegenwärtigung des längere Zeit zurückliegenden Geschehens (v. 201 – 208). Mit der Verfluchung der Mörder und ihrer indirekten Bitte an Zeus (v. 209 f.) kommt sie daraufhin der Aufforderung des Chors aus der vorange‐ gangenen Gegenstrophe nach und stellt ihren Groll dem Göttervater anheim. In der Verurteilung der Mörder Agamemnons zeigen sich Chor und Elektra dabei zwar grundsätzlich vereint, unterscheiden sich allerdings im Grad der Konkre‐ tisierung bei der jeweils an das Ende der Beiträge gesetzten Erwähnung der Täter: Während der Chor in gewisser Zurückhaltung hinter ὁ ταῦτα πράσσων (v. 200) entweder einen Gott oder einen Menschen vermutet, stehen Elektra bei τοιάδʼ ἀνύσαντες ἔργα (v. 212) konkret ihre Mutter und deren neuer Liebhaber vor Augen. Die Frauen des Chores scheinen Elektra nach dieser lebhaften und emotionalen Partie ins Wort zu fallen, wenn sie sie in Vers 212 auffordern, lieber nicht weiter zu sprechen (v. 213). Ob sie denn nicht wisse, so die Frage des Chors, auf Grund welcher Umstände (ἐξ οἵων v. 214 f.) sich die momentane Situation ereignet habe? Sie, Elektra, falle in selbstverschuldete Verblendung; sie habe sich einiges an Übeln über das bisherige Maß erworben (ὑπερεκτήσω), da sie fortfahre, in dieser Art ihrer mutlosen Seele immerzu neue „Kriege“ zu „gebären“ (τίκτουσα

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II. Frauenchöre

πολέμους). Sie solle, so die Mahnung des Chors, dergleichen (τάδε) ertragen (τλᾶθι), da man mit den Mächtigen nicht streiten dürfe.212 Elektra ist sich dieser Tatsache durchaus bewusst: Zu Gewaltigem (δείνʼ), d. h. zu Dingen, die das Maß übersteigen, sei sie ἐν δεινοῖς – unter Einfluss gewaltiger Dinge und maßloser Menschen213 – gezwungen; dass mit Zorn und Wut eine maßlose Emotion in ihr aufsteige, bleibe ihr nicht verborgen. Allerdings werde sie mit dieser Verblendung, d. h. den übermäßigen und möglicherweise sogar schädlichen Gefühlen, nicht aufhören, solange sie lebe. Von wem nämlich, so ihre Frage, könnte sie ein zuträgliches Wort (πρόσφορον ἔπος v. 227) hören – von wem, der die der Situation angemessene Geisteshaltung besäße (φρονοῦντι καίρια)? Mit Vers 229 bricht sie in einen gedoppelten Imperativ aus: Die zur Tröstung gekommenen Frauen sollen sie „loslassen“ (ἄνετε214), denn ihre Situation sei unlösbar; in diesen unzählbaren Leiden werde sie, sich solchermaßen in end‐ losen Klagen ergehend (ἀνάριθμος θρήνων), nie ein Ende ihrer Mühsal finden. Die beinahe schroffe Mahnung des Chors, nicht weiter zu sprechen, hat Elektra also nicht befolgt. Statt mit Rücksicht auf einen möglichen Konflikt mit den Machthabern, d. h. ihrer Mutter Klytaimnestra und Aigisth, auf weiteres Klagen zu verzichten, deutet sie ihre emotionale (Über-)Reaktion als geradezu notwendige Antwort auf die Situation, der sie sich ausgesetzt fühlt. Mit dem Beginn der Epode bringt der Chor erneut seine tief empfundene Sorge um Elektra zum Ausdruck: Wie eine „treue Mutter“ (μάτηρ ὡσεί τις πιστά v. 234)215 wende er sich an Elektra, sie solle nicht auf Verblendung neue Verblen‐ dung hervorbringen (μὴ τίκτειν ἄταν ἄταις). Die Angesprochene reagiert ge‐ radezu empört: Welches Maß solle sie einhalten, während sie mit einem so

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Der überlieferte Text ist an dieser Stelle umstritten. Während J EBB (1924) S. 38, P EARSON (1924), K AMERBEEK (1974) und D AWE (1996) für die Beibehaltung der Überlieferung vo‐ tieren und πλάθειν als epexegetischen Infinitiv deuten, zeigt K ELLS (1973) bereits vor‐ sichtige Sympathien für die von L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) in den Text gesetzte und von F INGLASS (2007) S. 166 f. verteidigte Konjektur (τλᾶθι statt πλάθειν) und die damit einhergehende Änderung der Interpunktion. Wie so oft ist das Genus nicht eindeutig zu bestimmen und gibt so dem Ausdruck eine schillernde Doppeldeutigkeit. In der Form von ἀνίημι sieht J EBB (1924) S. 39 eine inhaltliche Steigerung zu ἐᾶτε aus Vers 135. Diese Selbsteinschätzung der mykenischen Frauen beinhaltet freilich vor dem Hinter‐ grund der realen Mutter Elektras, ihrer Rolle im Geschehen und ihrer indirekten Cha‐ rakterisierung durch ihre Tochter eine besondere Brisanz. Vgl. F INGLASS (2007) S. 169. Eine ganz vergleichbare Selbsteinschätzung bietet der Chor der Trachinierinnen im textkritisch umstrittenen Vers 526; vgl. die Diskussion ad locum S. 293f.

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maßlosen Elend konfrontiert sei? Sie werde nie ohne Sorgen bei den Mördern ihres Vaters leben können, sollte sie die Klage einstellen müssen. Denn wenn der Tote, mittlerweile nur noch „Erde und nichts“ (γᾶ τε καὶ οὐδὲν ὤν v. 245), elend da läge, während die Schuldigen nicht mit ihrem eigenen Tod die ent‐ sprechende Strafe zahlten (ἀντιφόνους δίκας), dann ginge das Schamgefühl aller sowie die Frömmigkeit der Menschen zu Grunde (αἰδὼς ἁπάντων τʼ εὐσέβεια θνατῶν). Elektras Äußerungen scheinen sich dabei zunächst fast zu überschlagen, bevor sie in Verbitterung ausklingen: Drei entrüstete Fragen (v. 236 – 238) – be‐ merkenswert das empörte φέρε (v. 236), das im Vergleich mit den sonstigen Anreden an die Frauen des Chors wegen seiner Drastik aus dem Rahmen fällt, – sowie die effektvoll durch das doppelte μήτʼ herausgehobene Feststellung (v. 239 – 243) münden in eine lange Periode mit zwei konditionalen Vordersätzen (v. 245 – 250), deren Doppelung sich in den zwei Subjekten (αἰδώς und εὐσέβεια) des Hauptsatzes widerspiegelt. Elektras Aussagen sind dabei erneut von beson‐ derer dramatischer Ironie gekennzeichnet: Indem sie implizit die Tötung der Mörder Agamemnons fordert (v. 248), nimmt sie den Ausgang der vorliegenden Tragödie vorweg. Mit der vordergründig resignativen, für die um den Ausgang der Handlung Wissenden allerdings tragisch-ironischen Konditionalperiode endet das Amoi‐ baion. In Vers 251 ff. wird sich der Chorführer direkt an Elektra wenden, die in einem ausführlichen Monolog (v. 254 – 309) erneut ihre Situation darlegen wird. Der personelle Rahmen des Kommos bleibt auch zu Beginn des ersten Epeis‐ odions bestehen; erst Chrysothemisʼ Auftritt in Vers 328 wird die Szenerie öffnen. Der Durchgang durch die Passage hat die Gesprächssituation des Wechselge‐ sangs besonders deutlich gemacht: Gegenüber stehen sich die entschlossene Protagonistin sowie ein bald einfühlender und mitleidender, bald mahnender und zurechtweisender Chor. Die grundlegende thematische Basis des Amoibaions lässt sich kurz zusam‐ menfassen: Mit weitestgehend konventionellen Argumenten216 (der Mahnung zur Mäßigung, verschiedenen Einwänden bezüglich der Aussichtslosigkeit oder gar Gefährlichkeit des Klagens sowie dem Verweis auf die Götter) versuchen die Frauen, beruhigend auf Elektra einzuwirken. Die allerdings hält an ihrem Vor‐ satz, nicht mit Klagen und Jammern aufzuhören, in besonderer Entschiedenheit 216

Vgl. B URTON (1980) S. 191: „[…] the chorus argue strongly with conventional common‐ places found throughout Greek literature from earliest times“ sowie seine Einschätzung als „platitudes“.

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II. Frauenchöre

fest. Die konkrete Struktur der Partie allerdings, d. h. die Abfolge der thematisch in sich geschlossenen Strophen(paare), unterliegt einer eigenen Kompositions‐ absicht. Mit einiger Vorsicht lassen sich die Hauptaspekte der einzelnen Stro‐ phen überschriftsartig festhalten: Während die erste Strophe mit der Frage des Chors nach Elektras erneutem Klagen das Thema des Kommos umreißt und bereits Elektras Entschlossenheit vor Augen führt, verbalisiert die Gegenstrophe mit der Zwecklosigkeit des Jammerns einen ersten Einwand von Seiten des Chors. Das zweite Strophenpaar entfaltet daraufhin den expliziten Zuspruch des Chors an Elektra, der zunächst menschliche, dann göttliche Leidensgenossen bzw. Helfer in den Blick nimmt. Der sich vom Vorangegangenen bewusst ab‐ hebenden Rekapitulation des Geschehens in der dritten Strophe folgt in der Ge‐ genstrophe die erste Mahnung zur Vorsicht, der mit dem Beginn der Epode eine zweite, durch die Wiederaufnahme des Mutter-Motivs in ihrer Wirkung gestei‐ gerte Warnung vor weiterer ἄτη folgt. Als hochemotionale Partie folgt das Amoibaion dabei allerdings keiner durch‐ gehenden Argumentationslinie, die die einzelnen Aspekte in thematisch-logi‐ scher Reihung präsentieren würde. Gerade der Einsatz des dritten Strophen‐ paars mit seinem in die Vergangenheit gerichteten Blick ist nach dem bisherigen Gang der Reflexion nicht unmittelbar zu erwarten, sondern stellt einen beson‐ deren Einschnitt dar. Die solchermaßen abschnittsweise und teils sprunghafte Einzelthematisierung ermöglicht es dabei zum einen, die jeweiligen Emotionen besonders deutlich zu verbalisieren und miteinander zu kontrastieren. Zum an‐ deren ergeben sich thematische und motivische Beziehungen zwischen Pas‐ sagen, die nicht direkt aufeinander folgen (vgl. etwa die schrittweise Vorstellung des Personals in der ersten und zweiten Strophe oder der Verweis auf die Götter in der zweiten Gegenstrophe sowie Elektras Antwort erst in der folgenden dritten Strophe). Der Kommos zeichnet sich so durch eine besonders enge Ver‐ zahnung der einzelnen Abschnitte aus, die als thematische Mikrostruktur der gesamten Partie innere Geschlossenheit verleihen. Das Verhältnis zwischen Chor und Hauptperson ist im vorliegenden Amoi‐ baion dabei ambivalent: Geprägt von sorgender Zuneigung, getragen von ge‐ genseitigem Respekt (vgl. die gegenseitigen Anreden im ersten Strophenpaar) und ähnlich bewegt von den Eindrücken der Mordnacht wie Elektra selbst (vgl. die emotionale Schilderung zu Beginn des dritten Strophenpaars) begegnet der Chor der Protagonistin mit entsprechender Hochachtung, weist sie aber den‐ noch auf die möglichen Folgen ihres maßlosen Trauerns hin und steigert sich bis hin zur konkreten Aufforderung, nicht weiterzusprechen, und der Frage, ob denn Elektra die vorliegende Situation nicht verstehe (v. 213 f.). Elektra steht den älteren Frauen dabei mit ausgesuchtem Respekt gegenüber (vgl. v. 129,

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226), steigert sich allerdings ebenfalls zu besonders emotionalen Anrufen (vgl. v. 236), die in ihrer Direktheit die gegenseitige Achtung kurzzeitig zu konter‐ karieren scheinen. Dramaturgische Hauptfunktion der vorliegenden Partie ist die Exposition der Protagonistin und ihres Charakters. Sophokles verzichtet bewusst darauf, dem Chor zu Beginn der Tragödie eine eigene, d. h. unabhängige Ausdeutung der Situation zukommen zu lassen, sondern macht ihn vom ersten Moment seiner Bühnenpräsenz an zum Resonanzboden der ausgreifenden Emotionalität Elektras. Wenn auch in den einzelnen Strophen die Aussage des Chors der Re‐ aktion Elektras vorangeht und es somit die mykenischen Frauen sind, die be‐ wusst Themen setzen und einzelne Aspekte ansprechen, so wird durch die dem Kommos vorgeschaltete anapästische Partie deutlich, dass sich auch die vorlie‐ gende Wendung des Chors an die Protagonistin als Reaktion auf deren unmä‐ ßiges Klagen versteht. Die eigentliche Initiative liegt bei Elektra, deren Seelen‐ leben das movens der vorliegenden Partie darstellt. Die Gestaltung des Kommos spiegelt diesen Umstand: Elektra tritt hier als willensstarke Person auf, die ihr Leid in immer neuen Zusammenhängen denkt und auf keine der im Wesentlichen konventionellen Besänftigungsversuche des Chors einzugehen bereit ist. Ihre ungebeugte, dennoch bisher passive Haltung gegenüber Klytaimnestra und Aigisth scheint unabänderlich. Bereits mit dem Kommos ist zudem eine grundlegende Gesprächssituation des Dramas vorgebildet; den durch keine andere Person gestörten Austausch zwi‐ schen der Protagonistin und dem Chor wird der zweite Kommos (v. 823 – 870) effektvoll reinszenieren. Innerhalb der lyrischen Partien bleibt Elektra dabei einzige Gesprächspartnerin des Chors; bis auf den kurzen, einzig dem Informa‐ tionsaustausch dienenden Wechselgespräch mit Orest in den Versen 1098 – 1105 wird der Chor zudem auch in den Sprechpartien in keinen direkten Austausch mit einem anderen Akteur treten. Die dramaturgische Mitte der vorliegenden Partie bildet freilich die Erwäh‐ nung Orests ab Vers 159.217 Das Spiel mit dem Vorwissen der Zuschauer erreicht hier einen ersten Höhepunkt: Das Wissen darum, dass geradezu zwei Hand‐ lungen – diejenige Elektras auf der Bühne, also vor dem Palastgebäude, und diejenige Orests hinter der Bühne am Grab des Vaters bzw. auf dem Weg dorthin – gleichzeitig ablaufen, verleiht der gesamten Partie räumliche Tiefe. Dass darüber hinaus in der Epode der Ausgang des Dramas bereits angedeutet 217

Fasst man die Monodie Elektras (v. 86 – 120) mit dem Kommos als einen Großabschnitt zusammen, bildet die Erwähnung des Orest auch arithmetisch in etwa die Mitte der Partie.

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II. Frauenchöre

wurde, blendet in die Verzweiflung Elektras den Triumph über die Widersacher, den Elektra selbst theologisch-allgemeingültig als Triumph von αἰδώς und εὐσέβεια ausdeutet. Sophokles lässt mit dem Prolog und der Einzugsszenerie zwei in mehrfacher Hinsicht völlig unterschiedliche Partien aufeinander folgen. Die Kontraste sind dabei so polar wie vielfältig: ausschließlich männliches Personal im Prolog – weibliches Personal in der Einzugsszenerie, kühl berechnende Überlegung – hemmungslose Emotionalität und Leid,218 Planung eines konkreten Vorgehens für die unmittelbare Zukunft – ausgreifende Deutung der momentanen Lage mit Blick in die fernere Vergangenheit, optimistisch-entschlossene Zuversicht – verbittert-entschlossene Hoffnungslosigkeit. Dabei dient der Chor, wie oben bereits erwähnt, innerhalb der Einzugssze‐ nerie ganz und gar der möglichst umfassenden Darstellung der Hauptperson. Sophokles erreicht eine äußerst dichte Reihung unterschiedlicher Szenen und die trennscharfe Charakterisierung der Protagonistin. Die Form des lyrischen Wechselgesangs ermöglicht es dabei, die unterschiedlichen Gefühlsregungen der Protagonistin innerhalb kurzer Zeit auf der Bühne darzustellen. Elektra legt im Lauf des Kommos Entschlossenheit, Trauer, Aussichts- und Hoffnungslosig‐ keit, Rachegedanken, Empörung und Wut an den Tag. Eingebettet in diese Cha‐ rakterzeichnung der Hauptfigur sind typische Funktionen und Motive einer Par‐ odos, z. B. die Rekapitulation eines für die Handlung entscheidenden Ereignisses aus der Vergangenheit (Tod des Agamemnon), das Aufzeigen der momentanen Stimmung, die Vordeutung kommender Entwicklungen unter Einbeziehung des Vorwissens seitens des Publikums (Ankunft des Orest) sowie eine erste Cha‐ rakterisierung des Chors, seines gedanklichen Horizonts und seines grundle‐ genden Reflexionszugangs. Sophokles schafft mit dieser Strukturierung der Szenerie einen geschickten und effektvollen Beginn der Tragödie, indem er im Sinne der dramaturgischen Ökonomie die Formelemente Parodos, Monodie und Kommos zu einer lyrischen Großpassage von mehr als 160 Versen vereinigt. Die Handlung ist während dieses Abschnitts freilich nicht von der Stelle ge‐ kommen; die extreme Ausdehnung der Partie dient dabei als in besonderem Maß retardierendes Moment. Auch der dem Kommos folgende erste Teil des ersten Epeisodions wird keinen Handlungsfortschritt bringen; erst das Auftreten einer neuen Person in Vers 328 wird nach einem erneuten Monolog Elektras und einem kurzen Dialog mit dem Chor den nötigen Impuls geben. Wie bereits ge‐ 218

Vgl. B URTON (1980) S. 189: „There is thus a highly effective contrast between the practical tones of the prologue and the emotional intensity of the parodos“.

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sehen, ruft allerdings die Erwähnung Orests während des Wechselgesangs dem Zuschauer in Erinnerung, dass hinterszenisch die Handlung bereits weitergeht. Erstes Stasimon (v. 472 – 515)

Nach dem Kommos begründet der Chor erneut sein Auftreten: Die Frauen seien gekommen (ἦλθον), da sie sich sowohl um ihre als auch Elektras Angelegen‐ heiten sorgten. Darüber hinaus vergewissern sie Elektra ihrer besonderen Lo‐ yalität (σοὶ ἑψόμεσθʼ). Anschließend stellt Elektra in einem umfangreichen Monolog erneut ihre Gefühlslage dar, wobei sie im Unterschied zum Kommos besonders auf ihre Mutter und Aigisth sowie das gegenseitige Verhältnis eingeht.219 Die zentralen Motive des Kommos finden sich allerdings auch hier und werden „gedoppelt“220 bzw. durch weniger gefühlsbetonte bzw. anders emotionalisierte221 Ausfüh‐ rungen begründet und vertieft: Elektras Zwang, klagen zu müssen, (v. 256 vgl. v. 221), ihr Dasein als Zustand, der dem Tod näher sei als dem Leben (v. 260 vgl. 207 / 8), ihre Isolation (v. 285), die Erwartung Orests als Retter und Rächer sowie die Enttäuschung über sein Ausbleiben (v. 303 – 306 vgl. 164 – 172). Mit dem Ver‐ weis auf das Leid anderer (v. 289 f.) taucht in der durch Elektra fingierten bzw. wiedergegebenen Ansprache Klytaimnestras ein Motiv des Chors wieder auf (v. 153 ff.) – hier freilich nicht mit der Intention des Trostes, sondern als gehässige Bemerkung. Wenn man ihre Lage bedenke, so schließt Elektra, dann gebe es tatsächlich keine Möglichkeit, sich zu besinnen oder auch nur sittlich zu han‐ deln, denn umgeben von üblen Dingen und Menschen zwinge die Notwendig‐ keit, selbst Übles zu ersinnen (v. 307 – 309). Rückblickend auf den Kommos erhält das Eingeständnis des eigenen Zorns aus Vers 221 ff. eine handlungsorientierte Erweiterung; Elektra wird sich im Folgenden entschließen, selbst in den Gang der Dinge einzugreifen. In einem kurzen Dialog (v. 310 – 323) fragen die Frauen zunächst besorgt, ob Aigisth in der Nähe sei, und bekunden, als dies verneint wird, ihre Hoffnung auf die baldige Ankunft Orests. Wie gesehen, ist der vorangegangene Abschnitt motivisch aufs Engste mit der lyrischen Passage aus Monodie und Kommos verzahnt. Nachdem nun neben einer ausgreifenden emotionalen Partie Elektras

219 220 221

Vgl. K AMERBEEK (1974) S. 49: „Generally speaking, the contents of her rhesis are the same as those of the preceeding lyrics but stated in a quieter, more rational way“. Zur Standardisierung dieser „zweiten Thematisierung“ gleicher oder ähnlicher Sach‐ verhalte in einer auf die lyrische Partie folgenden Sprechszene vgl. F INGLASS (2007) S. 173 sowie die dort angegebene Literatur. F INGLASS (2007) S. 174 bemerkt zu Recht: „This change of tone marks not a lessening in emotional intensity, but a change to a different sort of emotion“.

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II. Frauenchöre

Lage und die dramatische Situation noch einmal in Sprechversen, d. h. etwas abgeklärter und reflektierter ausgebreitet wurden, ist der Fortgang der drama‐ tischen Handlung in den Blick genommen.222 Den Auftritt der Chrysothemis in Vers 328 bereitet der Chor durch eine stan‐ dardisierte Ankündigung vor: Zuschauer und Leser erfahren, wer sich dem Ge‐ schehen nähert, und werden über wichtige Begleitumstände – Chrysothemis trägt Grabspenden – informiert. Es entspinnt sich ein Streitgespräch zwischen den Schwestern. Chrysothemis hält das dauernde Klagen ihrer Schwester für nutzlos, obwohl auch sie unter den Zuständen leide (v. 333). Allerdings müsse man, um ein Leben in Freiheit sicherzustellen, den Mächtigen Gehorsam leisten (v. 339 f.).223 Elektra entgegnet, sie erweise durch ihr Tun dem gemeinsamen Vater den einzig möglichen Dienst, indem sie sein Andenken bewahre und sich nicht ihrer Mutter und deren neuem Liebhaber beuge. Dem Chor kommt in den Versen 369 – 371 die Aufgabe zu, zwischen den beiden Positionen zu vermitteln: Die mykenischen Frauen warnen vor Zornesausbrüchen und zeigen sich über‐ zeugt, dass beide Schwestern von der Rede der jeweils anderen profitieren könnten. Bis auf diese standardisiert ambivalente Moderation steht der Chor dem Gespräch der beiden Frauen ohne eigene Wortmeldung gegenüber; eine konkret fassbare inhaltliche Position vertreten die mykenischen Frauen dabei nicht. Chrysothemis enthüllt im Weiteren, es sei bereits geplant, Elektra wegen ihres anhaltenden Klagens lebend in einer Höhle einzumauern und sich ihrer

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Eine ähnliche Struktur wies der Eingang des Aias auf, bei dem nach Parodos, Kommos und erneutem Dialog mit dem Chor (diesmal in Sprechversen) durch den Auftritt des Haupthelden (v. 348) die Handlung erneut in Gang kam. Chrysothemisʼ Rolle entspricht hinsichtlich Funktion und personaler wie dramatischer Einbindung in das Geschehen derjenigen Ismenes aus der Antigone: Als Schwester der Protagonistin dient sie als unmittelbare Kontrastfolie der Charaktereigenschaften der Heldin und personifiziert so das ambige Verhältnis von (familiärer) Nähe und (inhalt‐ licher) Distanz. Sogar die in der direkten Auseinandersetzung mit der Schwester vor‐ gebrachten Argumente gleichen sich: Trotz eines den Planungen des Gegenübers ent‐ gegengebrachten grundlegenden Verständnisses begründen sowohl Ismene als auch Chrysothemis ihre Absage aktiver Teilnahme mit der Schwachheit der Frau und der Pflicht, den jeweiligen Autoritäten zu gehorchen. In beiden Tragödien geraten die Schwestern zu einem späteren Zeitpunkt in Streit und trennen sich unversöhnt; die Nebenperson verschwindet daraufhin vollständig aus der Handlung und hat auf das Denken und Tun der anderen Akteure keinen Einfluss mehr (vgl. dazu besonders v. 1074). Diese weitgehende Parallelisierung der beiden Rollen zeigt m. E. deutlich, dass Sophokles bei der Gestaltung seiner (Neben-)Figuren mit gewissen „Typen“ gearbeitet hat, die er mutatis mutandis in verschiedenen Tragödien einsetzen konnte.

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auf diese Weise zu entledigen.224 Daraufhin folgt eine lebhafte und umfangreiche Stichomythie (v. 385 – 414), in der Elektra zunächst ihren standhaften Willen kundgibt, wenn es nötig sei, so schnell wie möglich aus dem Leben zu scheiden. Nachdem ihre Schwester sich bereits anschickt, die Szenerie zu verlassen (v. 404), kommt es allerdings zu einer Wende. Chrysothemis referiert den Grund ihres Auftretens und ihre Aufgabe: Klytaimnestra habe sie auf Grund eines Traums zum Grab des Vaters geschickt, um diesen mit Grabspenden zu besänf‐ tigen. Auf die Nachfrage ihrer Schwester gibt sie besagten Traum bzw. das, was sie davon weiß, wieder: Der Mutter sei Agamemnon erschienen, der das Zepter seiner Herrschaft wieder an sich genommen habe, worauf aus dem Zepter ein neues, blühendes Reiß emporgesprosst sei (v. 421 ff.). Elektra ist von Klytaim‐ nestras Ansinnen empört: Nie, so ist sie überzeugt, würde Agamemnon die Op‐ fergabe seiner eigenen Mörderin wohlmeinend (προσφιλῶς v. 442) annehmen. Chrysothemis solle, Elektras Aufforderung folgend, die Grabgaben Klytaim‐ nestras für die Zeit nach deren eigenem Tod beiseite legen und stattdessen mit je einer Haarlocke der beiden Schwestern und dem Gürtel Elektras eigene Wei‐ hegeschenke zum Grab des Vaters bringen. Zudem solle sie darum bitten, Aga‐ memnon selbst möge als Helfer wiederkommen und Orest lebend mit mächtiger Hand gegen dessen eigene und Agamemnons225 Feinde anrücken (v. 448 – 458). Sicherlich, so Elektra, sei es auch Gegenstand von Agamemnons Sorge gewesen, Klytaimnestra diesen für sie grässlich anzuschauenden Traum zu schicken; Chrysothemisʼ Aufgabe sei es nun, ihr, Elektra, und dem gemeinsamen Vater helfend beizustehen und aktiv einzugreifen (ὑπούργησον v. 461). Der Chor gibt ihr in einer kurzen Äußerung (v. 464 f.) Recht und ermutigt Chrysothemis, gemäß dieser Anweisung zu handeln. Die Angesprochene erklärt sich dazu bereit226 und bittet die Frauen vor allem gegenüber Klytaimnestra um Stillschweigen. Mit diesen Worten verlässt sie in Vers 472 die Bühne. Was zunächst als erneute Diskussion über den Wert und Zweck des Klagens um den toten Agamemnon begann, brachte schließlich den Fortgang der Handlung.

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Diese Art der Bestrafung stellt eine weitere Parallele zur Antigone dar, in der die Haupt‐ heldin zum Tode durch Einkerkerung verurteilt wird. Das Pronomen αὐτοῦ (v. 456) ist sicherlich bewusst doppeldeutig; für K ELLS (1973) S. 116 bezeichnet es allerdings nur Agamemnon. Dagegen F INGLASS (2007) S. 229: „‘here’ […] Taken as a genitive singular with ἐχθροῖσιν or παῖδʼ the word would be intolerably weak: it is already clear whose child and whose enemies are being referred to“. Chrysothemis unterscheidet sich durch diese grundlegende Bereitschaft, ihrer Schwester zu helfen, von Ismene; diese allerdings versucht sozusagen im Gegenzug, durch ein falsches Eingeständnis der Tat gegenüber Kreon (v. 536 f.), die Schuld auf sich zu nehmen und ihre Schwester Antigone zu schützen.

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Die virulente Auseinandersetzung der beiden Schwestern drohte dabei bereits ohne Ergebnis in der gegenseitigen Konfrontation zu enden (v. 404); erst in der Stichomythie der beiden Akteure kam mit dem Traum Klytaimnestras und der deswegen erfolgten Beauftragung der Chrysothemis ein wesentliches Moment der hinterszenischen Handlung zur Sprache, auf das Elektra in der skizzierten Weise reagiert. Damit ist zugleich eine weitere Dimension der Handlung ein‐ geblendet: Der Bericht lässt Klytaimnestra zum ersten Mal als in der dramati‐ schen Gegenwart Handelnde erscheinen. Nach der im Wesentlichen rückbli‐ ckenden, d. h. auf den Mord an Agamemnon konzentrierten, Thematisierung ihrer Person in der lyrischen Partie sowie der Vergegenwärtigung ihrer Vor‐ würfe in Elektras Monolog (v. 289 ff.) tritt sie hier als aktive, auf das aktuelle Geschehen Einfluss nehmende Gestalt in das Bewusstsein des Publikums. Die Konfrontation zwischen ihr und Elektra ist dabei bereits antizipierbar. Mit der Aufforderung an die Schwester sowie dem ihr anempfohlenen Gebet hat Elektra den referierten Traum in ihrem Sinn als Zeichen der Hoffnung aus‐ gelegt; die Vorbereitung der Grabspende durch das Abschneiden der Haarlocken ist sinnfällige und effektvolle Inszenierung der Handlungsabsicht Elektras, die damit Klytaimnestras Vorhaben konterkariert. Mit der neu erwachten Hoffnung Elektras und ihrem eigenen Auftrag an Chrysothemis hat sich die Stimmung wesentlich aufgehellt: In Reaktion auf Klytaimnestras Handeln wird die Prot‐ agonistin zum ersten Mal aktiv und gibt selbst einen entscheidenden dramati‐ schen Impuls. Der Informationsvorsprung des Zuschauers unterlegt die Szene allerdings mit ambivalenter Spannung: Zwar hat sich Elektras Wunsch nach der Ankunft ihres Bruders (v. 455 f.) bereits erfüllt; die Realisierung der von ihm geplanten Intrige mitsamt der fingierten Todesbotschaft aber wird alle ihre Hoffnungen zunächst zunichte machen. Erneut gelangt der Zuschauer auf Basis der ihm im Prolog mitgeteilten Informationen zu einer eigenen Einschätzung der Emotionen Elektras, die von der der beteiligten Akteure in gewissen Punkten abweichen muss. Der Chor hat während des zweiten Teils des Epeisodions ganz im Hintergrund gestanden; bis auf die zwei kurzen, in der Zusammenfassung angeführten Äu‐ ßerungen (v. 369 – 371 und 464 f.) haben sich die Frauen nicht zu Wort gemeldet. Im folgenden ersten Standlied werden sie nun zum ersten Mal in größerem Um‐ fang ihre eigene Stimme zu Gehör bringen. Dass Elektra, wie sich dem Beginn des folgenden Epeisodions entnehmen lässt, nach dem Abtritt ihrer Schwester auf der Bühne verbleibt, spiegelt die Stilisierung des ersten Stasimons als Anrede an die Protagonistin (vgl. den Vokativ v. 477 sowie die Form des Personalpro‐

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nomens v. 483227). Das Lied setzt formal die bereits dem Kommos zu Grunde liegende Gesprächssituation fort: Wieder wenden sich die mykenischen Frauen an Elektra, um positiv auf sie einzuwirken und ihr auf Grund der eingetretenen Situation Mut zu machen. Das Standlied soll zunächst formal überblickt werden. Es umfasst 42 Verse und gliedert sich dabei in ein Strophenpaar mit angehängter Epode. Wie schon im Kommos gehen metrischer und inhaltlicher Aufbau dabei nahezu Hand in Hand: Die Strophen stellen weitestgehend jeweils syntaktisch und inhaltlich abgerundete Abschnitte dar. Ein kurzer Nachvollzug der Gedanken mit ersten Hinweisen auf besondere sprachlich-poetische Gestaltungsmittel wird der Ge‐ samtschau des fein komponierten Liedes vorangehen; abschließend soll die dra‐ maturgische Funktion herausgearbeitet werden. Eine konditionale, negativ formulierte Beteuerungsformel (v. 472 f.) geht der Hauptaussage des Chors voraus: Die mykenischen Frauen beanspruchen Gül‐ tigkeit für ihre im Folgenden ausgeführte Voraussage, außer sie seien ein „Seher ohne Verstand“ (παράφρων μάντις) und von kluger Einsicht verlassen – was, so die implizite Botschaft, natürlich nicht zutreffe.228 Mit dieser indirekten Selbsteinschätzung des Chors ist der Rahmen des Standliedes abgesteckt: Die mykenischen Frauen werden sich im Folgenden ihrerseits als μάντις betätigen und den durch Chrysothemis referierten Traum Klytaimnestras auslegen. Die Zuversicht der Frauen auf eine Lösung der Situation bringt der zwei‐ gliedrige Hauptsatz der Periode in den folgenden Versen zum Ausdruck: Die „sich im Voraus verkündende Dike“ (πρόμαντις Δίκα) werde kommen und dabei „gerechte Macht“ (δίκαια κράτη v. 476) mit ihren Händen tragen; sie werde herbeieilen und nicht lange auf sich warten lassen (οὐ μακροῦ χρόνου v. 477). Eine weitere asyndetische Aussage verbalisiert die Gemütsverfassung der my‐ kenischen Frauen: Sie hätten Mut, da sie von den „angenehmen Traumge‐ sichten“ (ἁδυπνόων ὀνειράτων) gehört haben.229 Wirkungsvoll sind dabei die Prädikate (εἶσιν, μέτεισιν, ὕπεστι) an den Beginn der Kola gestellt, die Assonanz Δίκα δίκαια230 in Vers 476 unterstreicht den

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Mit L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) und F INGLASS (2007) folge auch ich an dieser Stelle der Konjektur von Froehlich. Auf die Parallele zur Beteuerungsformel am Beginn des dritten Stasimons des Oidipus Tyrannos und die anders gearteten Implikationen weist F INGLASS (2007) S. 239 hin. Zur auffallenden Inkonzinnität zwischen dem Dativ μοι (v. 479) und dem Akkusativ κλύουσαν (v. 480), die sich beide auf das sprechende Ich, d. h. die mykenischen Frauen beziehen, verweist F INGLASS (2007) zu Recht auf KG II, § 495, c, 1, S. 111 f. F INGLASS (2007) verweist auf eine ähnliche Fügung bei Hesiod (Werke und Tage v. 217).

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Wunsch nach Gerechtigkeit, d. h. angemessener Sühnung des Mordes an Aga‐ memnon. Mit der Apostrophierung πρόμαντις ist darüber hinaus die Beteue‐ rungsformel (μάντις ἔφυν) wieder aufgegriffen. Ursache für die hoffnungsvolle Aussicht in die Zukunft sind Klytaimnestras Traumgesichte, die Chrysothemis im vorherigen Auftritt referiert hatte. Mit ἁδυπνόων ὀνειράτων wertet der Chor besagten Traum aus seiner – und Elektras – Sicht und setzt damit einen Ge‐ genakzent zu deren eben verklungener Einschätzung aus Klytaimnestras Per‐ spektive (δυσπρόσοπτʼ ὀνείρατα v. 460). Mit dem Begriff θάρσος (v. 479) nimmt der Chor ein bereits an einigen Stellen prominent vorgebrachtes Motiv wieder auf: Schon im Wechselgesang Vers 173 sowie im anschließenden Dialog (v. 322) hatten die Frauen durch den Imperativ θάρσει Elektra aufgefordert, Mut zu haben. War es an diesen Stellen allgemeines Vertrauen in die Allmacht des Zeus (Kommos) bzw. die Charaktereigenschaften Orests (Dialog), worauf sich die Zuversicht stützte, so ist es hier die Kenntnis des Traums, den die mykenischen Frauen ganz im Sinne Elektras auslegen. Damit hat neben dem grundlegenden Gottvertrauen und der Kenntnis Orests ein Moment des aktuellen Bühnenge‐ schehens Eingang in die Reflexion des Chors gefunden. Anders gesagt: Bereits der Beginn des ersten Stasimons lässt sich punktgenau im Handlungsgeschehen verorten; das Lied sucht dabei nicht, das Geschehen auf einer anderen Deu‐ tungsebene zu reflektieren, sondern vertieft die am Ende des Epeisodions bei Elektra vorherrschende Stimmung.231 Der Fortgang der ersten Strophe widmet sich Agamemnon sowie seinem Tod und liefert damit die Begründung für das in den Traum gesetzte Vertrauen; nach der asyndetischen Reihung dreier Aussagen kommt dem einleitenden οὐ γάρ (v. 483) besondere Bedeutung zu. In metaphorischer Sprache erklären die Frauen: Denn weder der Heerführer der Griechen, Elektras Vater – d. h. der namentlich nicht genannte Agamemnon – , noch die „alte, erzgeschmiedete, zweischneidige“ Axt (γένυς) „vergäßen“ (ἀμναστεῖ v. 483), d. h. blieben ungesühnt und hätten keine weitere Auswirkung. Dass es sich bei dem angesprochenen Werkzeug um die Mordwaffe handelt, macht der die Strophe beschließende, auf γένυς bezo‐ gene Relativsatz noch einmal besonders deutlich: Diese Axt habe ihn (Aga‐ memnon) in der scheußlichst-entehrendsten Weise (αἰσχίσταις ἐν αἰκείαις v. 487) getötet.232 Die erste Strophe hat durch die Fokussierung auf das Mordopfer und -instru‐ ment eine Abtönung hinsichtlich der evozierten Stimmung erfahren. Als Ge‐ 231 232

Vgl. B URTON (1980) S. 197: „The stasimon thus springs immediately from the action of the play and is completely relevant to the dramatic context“. Zur hier gegebenen Paraphrase vgl. F INGLASS (2007) S. 242, der zur Bedeutung der Prä‐ position ἐν festhält: „denotes situation or circumstance generally“.

2. Elektra

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genmoment zur in der (unmittelbaren) Zukunft bevorstehenden Ankunft der Dike richtet der Chor für einen Moment seinen Blick in die Vergangenheit und ruft nach dem Kommos zum zweiten Mal das Mordgeschehen schlaglichtartig in Erinnerung. Die in der ersten Strophe auffällige syntaktische Fügung aufgreifend beginnt auch die Gegenstrophe mit einem vorangestellten Prädikat: Die „vielfüßige und vielhändige“, in Hinterhalten verborgene, „ehernfüßige“ Ἐρινύς werde kommen (ἥξει v. 489). Wie schon bei Δίκα v. 476, so wird auch hier die als monströs imaginierte Gestalt beschrieben und damit in ihrer Wirkung vor den Augen der Zuschauer und Leser präsent gemacht. Die Adjektive (πολύπους, πολύχειρ, χαλκόπους) sind dabei nicht nur bildgewaltig, sondern stehen durch die Wie‐ derholungen ihrer Bestandteile πολύ- und –πους untereinander in einer klang‐ vollen Beziehung. Das Herannahen der personifizierten Rache wird geradezu sinnlich wahrnehmbar geschildert. Parallel zur ersten Strophe geht der Chor im Folgenden auf die zweite Gege‐ benheit ein, die einer Sühnung, eines Eingreifens göttlicher Mächte bedarf: die Verbindung von Klytaimnestra und Aigisth (v. 492 – 494). Der Text selbst, seine Grammatik sowie die genaue Übersetzung sind im Einzelnen höchst um‐ stritten.233 Grundlegend ist die Frage nach dem Subjekt des Prädikats ἐπέβα(ν): Während K ELLS234 und (etwas vorsichtiger) B URTON235 Ἐρινύς aus dem voran‐ gegangenen Vers präferieren, stützen sich K AMERBEEK236 und F INGLASS237 auf J EBB238 und machen das durch zwei Adjektive näher bestimmte ἁμιλλήμαθʼ zum Subjekt (als Objekt zu ἐπέβα ergänzt J EBB dabei τούτοις, das durch οἷσιν wieder aufgenommen wird). Ebenfalls bei B URTON239 findet sich eine dritte (von ihm selbst allerdings als schwächer eingestufte) Möglichkeit: Liest man mit dem von L LOYD -J ONES /W ILSON240 R genannten cod. die Pluralform ἐπέβαν, wird man die beiden Täter, d. h. Klytaimnestra und Aigisth, als Subjekte annehmen. Mit Aus‐ nahme dieser letzten Möglichkeit, die man auf Grund der schlechteren Überlie‐ 233

234 235 236 237 238 239 240

Zur Schwierigkeit der Passage v. 492 ff. vgl. K ELLS (1973) S. 119: „Difficult Greek […] because of its extreme concision“, B URTON (1980) S. 199: „a collocation of words which almost defies translation“ sowie F INGLASS (2007) S. 244: „the language becomes twisted and obscure, as the chorus searches for expressions capable of evoking the horror of the crime“. K ELLS (1974) S. 119. B URTON (1980) S. 199. K AMERBEEK (1974) S. 76. F INGLASS (2007) S. 244 f. J EBB (1924) S. 72 f. B URTON (1980) S. 199. Vgl. L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) Apparat ad locum (S. 79) sowie S. ix.

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II. Frauenchöre

ferungslage der Pluralform wohl zu verwerfen hat, fällt eine Entscheidung schwer; der Aorist ἐπέβα scheint dabei eher für einen Subjektswechsel, d. h. ἁμιλλήμαθʼ als Subjekt zu sprechen, da die Verbindung zwischen Klytaimnestra und Aigisth ja bereits in der Vergangenheit geschlossen wurde. Im vorliegenden Satz allerdings eine Angabe einer Tat der Ἐρινύς zu sehen, würde das Bild der entschlossen einschreitenden Rachegöttin vervollkommnen.241 Ein wesentli‐ cher, d. h. inhaltlicher Unterschied lässt sich zwischen den beiden Möglichkeiten allerdings auch nicht festmachen; für unsere Zwecke ist die Klärung der Passage im Einzelnen daher zweitrangig. Von Bedeutung bleibt allerdings, sich der Pa‐ rallelität der beiden Strophen hinsichtlich ihres Aufbaus bewusst zu werden: Auch hier erfolgt nach dem zuversichtlichen Blick in die Zukunft, in der das Kommen einer rächenden Gottheit erwartet wird, die Begründung in Form eines durch γάρ angeschlossenen Hauptsatzes (v. 492 vgl. v. 482). Der Zukunftsvision wird demnach erneut ein Fehlverhalten der Vergangenheit entgegengestellt. Auch der folgende Abschnitt (v. 495 f.) ist hinsichtlich Textrekonstruktion, syntaktischer Struktur und Bedeutung im Einzelnen umstritten; selbst ange‐ sichts der bisherigen Rekonstruktions- und Klärungsversuche bleibt einiges dunkel.242 Auf einen detaillierten Nachvollzug der Schwierigkeiten soll hier al‐ lerdings verzichtet werden.243 Der Inhalt der Verse lässt sich mit einiger Vorsicht folgendermaßen zusammenfassen: Die mykenischen Frauen seien zuversicht‐ lich (θάρσος), dass das „Götterzeichen“ (τέρας) sich den „Tätern und Mittätern“ (v. 498), d. h. Klytaimnestra und Aigisth, niemals „schadlos“ (ἀψεγές) nähern werde. Den Abschluss der Gegenstrophe bildet eine erneute Beteuerungsformel in Form einer Konditionalperiode (v. 498 – 502): Weissagungen (μαντεῖαι), so der Chor, fänden sich weder in ungewöhnlichen Träumen noch in Göttersprüchen (θεσφάτοις v. 500), sollte „diese nächtliche Erscheinung“ (τόδε φάσμα νυκτός) nicht „sicher landen“ (εὖ κατασχήσει v. 503), d. h. sich im Sinne Elektras und der mykenischen Frauen verwirklichen.

241 242 243

Vgl. K ELLS (1973) a. a. O.: „I much prefer that ἐπέβα should describe the determined march of the Fury. The Fury avenged not merely murder, but also adultery“. D AWE (1996) sieht sich angesichts der Probleme gezwungen, Vers 496 f. bis auf τέρας in cruces zu setzen. Problematisch ist im Besonderen, dass der in drei Varianten überlieferte Text v. 495 f. teils unverständlich, teils grammatisch zweifelhaft, teils metrisch unhaltbar ist und sich die Interpretation so auf einen konjizierten Text stützen muss (vgl. K AMERBEEK (1974) S. 76 f. sowie F INGLASS (2007) S. 245 f.). Fraglich sind dabei unter anderem der Gebrauch der Präposition πρό (v. 495), die Doppeldeutigkeit von τέρας (v. 497) sowie die genaue Bedeutung von ἀψεγές (v. 497) und, damit verbunden, die Deutung des Dativs ἡμῖν (v. 496).

2. Elektra

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Mit dem der nautischen Sphäre entnommenen Bild weitet der Chor noch einmal die Perspektive: Die Realisierung des Traumbilds in der von Elektra und ihm selbst entworfenen Form stilisiert er zum Prüfstein der generellen manti‐ schen Relevanz von Träumen und Göttersprüchen. Bis zu diesem Punkt hat sich das Chorlied geradezu monothematisch mit dem referierten Traum auseinandergesetzt und einer zuversichtlichen Ausdeutung desselben das Wort geredet. Abrupt beginnt die angeschlossene Epodos dagegen in Vers 504 mit einem Anruf des Wettrennens des Pelops (ἱππεία): Dieses zurückliegende (πρόσθεν), leidvolle (πολύπονος) Ereignis habe sich als für das mykenische Land schmerz‐ haft (αἰανής) erwiesen. Diese Wertung begründet die folgende Periode (γάρ v. 508): Seit nämlich Myrtilos ins Meer gestürzt worden (ποντισθείς v. 508) und gestorben sei – nachdem er in unseliger Entehrung (δυστάνοις αἰκείαις) von seinem goldenen Wagen hinuntergeworfen worden war (ἐκριφθείς) – , sei, so der Chor, leidvolle Entehrung (πολύπονος αἰκεία v. 515) nicht mehr aus diesem Haus, d. h. der Familie der Atriden gewichen. Die Epode präsentiert sich als in sich besonders gerundete Komposition und hebt sich als eigenständiges mythologisches Schlaglicht vom Rest des Liedes ab: Gerahmt wird die Epode durch die Wiederholung des Adjektivs πολύπονος, das zu Beginn (v. 505) als Vokativ konkret auf die Fahrt des Pelops verweist, am Schluss (v. 515) allgemein die dem Herrscherhaus Mykenes eigene αἰκεία näher beschreibt. Mit αἰκεία wird in v. 511 wiederum dezidiert das Vorgehen gegen Myrtilos bezeichnet. Mit der Abfolge πολύπονος ἱππεία – δυστάνοις αἰκείαις – πολύπονος αἰκεία ist die geschlossene Begrifflichkeit der Epode umrissen. Das Wagenrennen des Pelops sowie dessen Frevel gegenüber Myrtilos sind damit als Grundübel der Familie244 bzw. des mykenischen Landes ausgemacht; der ge‐ nerative Zusammenhang zwischen den vergangenen sowie den danach ins Werk gesetzten Gräueltaten wird damit direkt hörbar. Auch die Myrtilos-Epi‐ sode selbst zeichnet sich durch eine besonders geschlossene Komposition aus: Das Nebensatzprädikat ἐκοιμάθη (v. 509) (formal Aorist Passiv) ist gerahmt von zwei formgleichen Partizipien ποντισθείς (v. 508) sowie ἐκριφθείς (v. 512) (beide Aorist Passiv).

244

Pelops gilt der gebräuchlichen Genealogie zufolge als Vater des Atreus; damit ist er der Großvater Agamemnons und Urgroßvater Elektras; vgl. S TENGER (2000). „Pelops [1].“ in: DNP Band 9, Sp. 509 – 510.

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II. Frauenchöre

Hinsichtlich der evozierten Stimmung setzt sich die Epode darüber hinaus besonders deutlich vom vorangegangenen Strophenpaar ab:245 Nach der zuver‐ sichtlichen Zukunftsvision, die als Ausdeutung des referierten Traums den von den mykenischen Frauen erwünschten Fortgang der Handlung imaginierte, schließt das Stasimon mit einem Blick in die fernere Vergangenheit, die gegen‐ über den Rückblicken im Strophenpaar noch einmal zwei Generationen zurück‐ geht.246 Das in Rede stehende Ereignis, die Fahrt des Pelops sowie der Frevel an Myrtilos, wird dabei gänzlich negativ ausgedeutet. Das Stasimon schließt nicht, wie man erwarten könnte, mit dem optimistischen Verweis auf die heranna‐ hende Genugtuung und Sühnung des Mords an Agamemnon, sondern reflek‐ tiert eine exemplarische Begebenheit der Vergangenheit und deutet damit im‐ plizit die gesamte Familien- bzw. Landesgeschichte als eine Folge leidvoller Schandtaten. Diese abrupte Eintrübung der Stimmung hat auf Seiten der Inter‐ preten verschiedentlich zu Irritationen geführt.247 Um den plötzlichen Stim‐ mungswechsel zu erklären, nahm man an, der Chor sehe sich durch das Heran‐ nahen bzw. den bereits am Ende der Gegenstrophe erfolgten Auftritt Klytaimnestras gezwungen, die Ausgestaltung der Rachevision abzubrechen. Diese Annahme eines außerlyrischen Impulses erscheint allerdings aus meh‐ reren Gründen zweifelhaft, wie bereits F INGLASS248 ausführt. Klytaimnestras Auftritt in dieser Weise vorzuverlegen, würde zum einen ihrem hochemotio‐ nalen Ausbruch v. 516 ff. die unmittelbare Wirkung nehmen. Darüber hinaus ist es fraglich, ob die Thematisierung des Grundübels der Familie, wie sie die Epode vornimmt, eine angemessene Begrüßung Klytaimnestras, der in momentaner Abwesenheit Aigisths (v. 517) alleinregierenden Stadtherrin, darstellen könnte. Es ist daher geraten, den Stimmungswechsel (und mithin die Anfügung der Epode im Ganzen) nicht mit einem genuin dramatischen, außerlyrischen Um‐ stand erklären zu wollen, sondern im Rahmen der chorlyrischen Partie selbst zu verstehen. Dazu bedarf es einer genaueren Auseinandersetzung mit der Struktur und Motivik des Liedes im Ganzen sowie den dramaturgischen Implikationen. Dieser erste Durchgang hat den Blick auf die Gesamtkomposition des Chor‐ liedes freigemacht: Gerahmt von zwei Beteuerungsformeln (v. 472 f. sowie 245

246 247 248

Zu den metrischen und kolometrisch-syntaktischen Unterschieden zwischen dem Stro‐ phenpaar und der Epode vgl. F INGLASS (2007) S. 235 sowie K AMERBEEK (1974) S. 74 („a bird’s-eye-view of the everlasting evils of Pelopsʼ house, its αἰκεία, is given in short staccato lines“) sowie S. 77. Vgl. F INGLASS (2007) S. 237: „In the epode the chorusʼs optimism is replaced by a grim meditation on the past sufferings of the house“. Vgl. z. B. G OWARD (1999) S. 109 f.: „There is great narrative disjunction at this point, unmediated by any link“. Vgl. zum Folgenden F INGLASS (2007) S. 237.

2. Elektra

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497 – 500), die durch das Thema „Mantik“ Bezug auf die Traumdeutung aus dem vergangenen Epeisodion nehmen, entfalten Strophe und Gegenstrophe eine Ra‐ chevision. Dabei entspricht die formale Zweiteilung des Strophenpaars den beiden Übeln, die es zu rächen gilt: dem Mord an Agamemnon (Strophe) sowie dem schändlichen Verhältnis zwischen Klytaimnestra und Aigisth (Gegen‐ strophe). Parallel dazu beschwören die beiden Strophen das Auftreten zweier Personifikationen der göttlichen Rache, Δίκα und Ἐρινύς, deren Nennung durch klangliche Mittel besondere Aufmerksamkeit erlangt und zu einer bildmäch‐ tigen Imagination der herannahenden Entitäten wird. Strophe und Gegen‐ strophe sind auf diese Weise besonders eng miteinander verknüpft: syntaktisch durch die Voranstellung des Prädikats in den Auftrittsschilderungen, strukturell durch die Begründung der hoffnungsvollen Erwartung durch Rückblicke in die Vergangenheit (γάρ v. 482 und 492), sowie motivisch durch die Verweise auf die Zuversicht (θάρσος-Motiv v. 478 und 495) und die wörtliche Bezugnahme auf den Traum Klytaimnestras (v. 481 (497) und 501). Die sich inhaltlich und metrisch vom Strophenpaar abgrenzende Epodos ist dennoch – wie schon F INGLASS249 herausstellt – motivisch und semantisch mit diesem eng verbunden. Einerseits bietet ἔμολες (v. 506) einen Reflex der Bewe‐ gungs- und Ankunftsthematik der beiden Strophen, andererseits verknüpft die Verwendung des Worts αἰκεία die in der Epodos angesprochene Freveltat des Pelops mit dem Mord an Agamemnon (vgl. v. a. αἰσχίσταις ἐν αἰκείαις v. 487 mit δυστάνοις αἰκείαις v. 511250). Als ausführlicher Blick in eine fern zurücklie‐ gende Vergangenheit entfaltet die Epode ferner ein strukturelles Moment des Strophenpaars: Der Blick auf das zurückliegende Mordgeschehen bzw. die eben‐ falls in der Vergangenheit begonnene unstatthafte Verbindung von Klytaim‐ nestra und Aigisth diente in Strophe und Gegenstrophe als Begründung der Zukunftsaussicht und war funktional fest in das Panorama der verschiedenen Zeitebenen eingebunden. In der Epode ist der Blick in die Vergangenheit allein‐ iges Strukturmerkmal, was sich bereits an der ausschließlichen Verwendung der Vergangenheitstempora ersehen lässt (ἔμολες, ἐκοιμάθη, ἔλιπεν). Ihre Relevanz hinsichtlich der dramatischen Gegenwart erhält die Epode dabei nur durch die in der prominenten Wiederholung αἰκεία gegebene begriffliche Verknüpfung; direkte Aussagen zu Gegenwart oder Zukunft fehlen dagegen völlig.

249 250

F INGLASS (2007) S. 237 f. So muss man K ELLS (1973) S. 119 entschieden widersprechen, wenn er zu αἰκεία (v. 487) festhält: „The word is repeated at 511 and 515 with no particular extra significance. Such vain repetition of certain expressions seems to be characteristic of Sophoclesʼ choruses“. Er verkennt damit ein wesentliches Kompositionsmittel der sophokleischen Chorlyrik.

380

II. Frauenchöre

Das Chorlied erweist sich somit als im höchsten Maße strukturiert und be‐ zugsreich komponiert. Die einzelnen Abschnitte sind motivisch und begrifflich auf verschiedene Weise miteinander verknüpft, das Ganze ist von ausgeklügelter Symmetrie und feiner poetischer Ausgestaltung im Einzelnen. Das Stasimon steht inhaltlich ganz unter dem Einfluss des Vorangegangenen: Der referierte Traum Klytaimnestras bildet den unmittelbaren Anlass und wird an zwei Stellen direkt genannt (v. 481 sowie 501251). Mit dem zuversichtlichen Blick der Frauen auf die Ankunft der göttlichen Rache konkretisieren sich die vorsichtig optimistische Stimmung des vergangenen Epeisodions sowie das Motiv des kommenden Retters aus der verfahrenen Situation (v. 453 ff.). Der Chor ist mitten im Geschehen präsent und nimmt die im Raum schwebende Stimmung auf, um sie aus seiner Sicht auszugestalten und in Worte zu fassen. Wie schon in der Auftrittsszenerie ist auch hier Elektra ein wichtiger Bezugs‐ punkt der chorischen Reflexion: Ihre bisher nicht explizit ausgeführte, sondern nur angedeutete Interpretation des Traums scheint der Chor zu teilen, sie bleibt für die Frauen – wenn auch nur formal – Ansprechpartner. Mit dem Rückblick auf die Ermordung Agamemnons, das eheähnliche Ver‐ hältnis zwischen Klytaimnestra und Aigisth sowie die Freveltat des Pelops auf der einen und dem Ausblick auf die als zukünftige Tatsache konstatierte Ankunft von Δίκα und Ἐρινύς auf der anderen Seite verbindet das Chorlied zwei ver‐ schiedene dramatische Zeitebenen: Zukunft und (fernere) Vergangenheit. Da‐ gegen werden weder die dramatische Gegenwart noch das erst kurz zurücklie‐ gende Bühnengespräch zwischen Elektra und Chrysothemis innerhalb des Liedes thematisiert. Zum vorangegangenen Kommos, der trotz Rück- und Vor‐ blenden die Situativität des Klagens, Elektras momentane Verfassung und damit die dramatische Gegenwart betonte, steht das Standlied in besonderem Kontrast. Es nimmt zwar seinen Ausgangspunkt bei einem dem dramatischen Geschehen immanenten Moment, dient aber nicht, wie der Kommos, der effektvollen Aus‐ gestaltung des Hier und Jetzt, sondern erweitert den unmittelbaren Reflexions‐ horizont: Durch die Ausblendung der aktuellen Gegenwart bzw. ihre Sublimie‐ rung zum Präzedenzfall allgemeiner Wahrheiten und Überzeugungen (v. 498 ff.) eröffnet das Stasimon einen doppelten Blick, der die aktuelle Situation als ge‐ genwärtiges Moment einer umfassenderen, Vergangenheit und Zukunft ein‐ schließenden Entwicklung begreift.

251

Inwieweit τέρας (v. 497), wie K AMERBEEK (1974) S. 77 konstatiert, den Traum bzw. an‐ gesichts des futurischen πελᾶν dessen Verwirklichung oder die Imagination der he‐ rannahenden Ἐρινύς bezeichnet, ist unklar. F INGLASS (2007) S. 246 plädiert für bewusste Ambiguität.

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Unmittelbare dramaturgische Relevanz entfalten freilich die Ausblicke in die Zukunft: Gerade Strophe und Gegenstrophe stellen einen baldigen Handlungs‐ fortschritt in Aussicht. Das Vorwissen der Rezipienten um die Ankunft Orests und dessen geplante Intrige macht dabei die ambivalente Bewertung des Liedes möglich. Konkret gesprochen: Ein Rückschlag für die von Elektra und dem Chor geteilte Hoffnungen wird vom informierten Zuschauer bereits antizipiert. Das mutig hoffnungsvolle Strophenpaar fordert aus dem Blick des vorinformierten (und mit tragischen Techniken vertrauten) Zuschauers geradezu einen Dämpfer, wenn nicht eine Katastrophe; die Zuversicht des Chors schillert so vor der dunklen Vorahnung der Rezipienten. Als nächste lyrische Partie wird der zweite Kommos (v. 823 – 870) die im ersten Standlied aufgerufene Zuversicht dement‐ sprechend zunächst konterkarieren. Dass mit der Rachevision der endgültige Ausgang des Stückes vorweggenommen ist, unterlegt das Lied zudem mit be‐ sonderer Brisanz. Betrachten wir zudem die Abdunkelung der hoffnungsvollen Stimmung, die das Stasimon selbst umfasst. In der Epode schließt das Standlied, wie gesehen, nicht mit einer triumphalen Vision der Rache und Sühnung, sondern mit einem historischen Rückblick auf die Urkatastrophe Mykenes. Dabei kommt der An‐ ordnung dieses Abschnitts für die Wirkung des gesamten Liedes entscheidende Bedeutung zu: Anstatt das Chorlied in einem Durchgang durch die Familien‐ historie die gegenwärtige Lage auf der Basis vergangener Gräueltaten einordnen und mit einem versöhnlichen Blick auf die sichere Sühnung enden zu lassen, komponiert Sophokles mit einem Zukunftsausblick zunächst eine Aufhellung der dramatischen Stimmung, um schließlich in einem Blick auf die schaurige Vergangenheit düster zu schließen. Mit Thematisierung und Vergegenwärti‐ gung der Familiengeschichte ist der Auftritt Klytaimnestras sowohl thematisch wie auch hinsichtlich der evozierten Stimmung vorbereitet: Nicht nur, dass sich in der Konfrontation Elektra-Klytaimnestra die innerfamiliäre Dimension des Konflikts im polaren Gegeneinander der beiden Antagonistinnen widerspiegelt. Im Zentrum der Diskussion zwischen Elektra und ihrer Mutter wird darüber hinaus mit der Tötung Iphigenies durch Agamemnon eine weitere (Gräuel-)Tat stehen, die das Wirken der πολύπονος αἰκεία innerhalb der Familie fortzusetzen scheint. Der plötzliche Wechsel von Thematik und Stimmung innerhalb des Stasimons lässt sich dramaturgisch als gezielte Publikumslenkung verstehen; die Epode des Stasimons bildet so den emotionalen und thematischen Auftakt eines neuen Abschnitts der Tragödie. Dramaturgisch gesehen wirkt das Chorlied in beide Richtungen: Indem es den Handlungsfortschritt aus dem Epeisodion emotional verarbeitet, rundet es diesen ersten Auftritt. Mit dem θάρσος-Motiv und der Hoffnung auf das Ein‐

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II. Frauenchöre

greifen quasi-göttlicher Mächte nimmt es Bezug zum Kommos, leistet einen Beitrag zur konsistenten Charakterisierung des Chors und entwickelt die von Elektra angerissene Interpretation des Traumes weiter. Dass dabei Orest keine Erwähnung findet, scheint ein Spiel mit der Erwartung des Publikums zu sein: Gerade indem er nicht genannt wird, ist er auf Grund des Vorwissens der Zu‐ schauer in deren Vorstellung präsent, wenn er auch persönlich für die Refle‐ xionen des Chors keine Rolle zu spielen scheint. Andererseits verweist die Zukunftsorientiertheit des Liedes auf den weiteren Verlauf des Stückes: Das Standlied nimmt die Emotionen des Epeisodions auf, konkretisiert sie und leitet zum nächsten Abschnitt über. Mit der Personifizie‐ rung der Δίκα ist zudem ein zentrales Thema der gesamten Handlung imaginativ umrissen worden. Die folgende Diskussion um den Tod Agamemnons und dessen Rechtfertigung wird daran anschließen. Sophokles schafft wie schon in der Eingangsszenerie des Dramas durch die Verbindung von Monodie, Parodos und Kommos auch hier ein wirkungsvolles Gelenk zwischen zwei Abschnitten, indem er den Chor eine bestimmte drama‐ turgische Funktion ausfüllen lässt und die Erwartungen des Publikums in eine gewisse Richtung lenkt. Zweites Epeisodion und Kommos Elektra-Chor (v. 516 – 870)

Das folgende Epeisodion ist mit über 540 Versen von ausgreifender Länge und zerfällt dabei in vier einzelne Szenen: Dialog Klytaimnestra-Elektra (v. 517 – 659), Pädagogenszene (Auftritt und Bericht des Pädagogen sowie Reaktion von Seiten Klytaimnestras und Elektras) (v. 660 – 822), Kommos Elektra-Chor (v. 823 – 870), Chrysothemisʼ Bericht und Dialog mit Elektra (v. 871 – 1057, im folgenden Ab‐ schnitt kurz behandelt). Unter unseren Gesichtspunkten ist vor allem der Kommos von Interesse; das Referat der Handlung der übrigen Partien kann daher in besonderer Kürze erfolgen. Mit Klytaimnestra betritt in Vers 516 Elektras Gegenspielerin die Bühne und wendet sich direkt an ihre Tochter. Zum dritten Mal nach den Unterredungen mit dem Chor und Chrysothemis muss die Protagonistin ihr Klagen rechtfer‐ tigen. Der sich entspinnende Dialog ist geprägt von verschiedenen Schuldzu‐ weisungen: In einer ersten Rede (v. 516 – 551) rechtfertigt Klytaimnestra den Mord an Agamemnon mit dessen Opferung der Iphigenie vor der Abfahrt nach Troia und nimmt für sich in Anspruch, im Auftrag der Δίκη gehandelt zu haben

2. Elektra

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(ἡ γὰρ Δίκη νιν εἷλεν, οὐκ ἐγὼ μόνη v. 528).252 Wenn schon in der damaligen Situation ein Opfer nötig gewesen wäre, dann hätte Menelaos eines seiner Kinder darbringen sollen. Elektra antwortet, nachdem sie die formale Erlaubnis ihrer Mutter erhalten hat, ihre Sicht der Dinge darzulegen, in einer ebenso aus‐ führlichen Gegenrede (v. 558 – 609): Klytaimnestras Motivation bei der Tötung des eigenen Mannes sei nicht der Wille nach Sühnung der Tochter, sondern der verderbliche Einfluss Aigisths gewesen. Agamemnon habe sich vor der Abfahrt nach Troia in einer misslichen, allerdings selbstverschuldeten Situation be‐ funden. Die Opferung der eigenen Tochter sei dabei der einzige Ausweg ge‐ wesen, der ein Fortkommen des versammelten Heeres der Griechen ermögli‐ chen konnte. Ihr Vater habe aus Zwang und unwillig (ἀντιβὰς μόλις v. 575) die Tötung Iphigenies vorgenommen, nicht etwa um seinem Bruder Menelaos einen Gefallen zu tun. Ein Aufrechnen Leben gegen Leben, wie Klytaimnestra es voll‐ zogen habe, sei daher nicht rechtens; sie selbst, Klytaimnestra, sei im Unrecht, begehe die schändlichsten aller Taten (v. 586) und trage – mit ihrem neuen Gatten – die Verantwortung für das Leid Elektras (v. 599 f.). Auch Orest, der seiner Schwester als möglicher Rächer vorschwebt, friste ein unglückliches Leben; außerdem hätte sie selbst, Elektra, wenn sie gekonnt hätte, die Rache ihres Vaters schon vollzogen (v. 604 f.). Mit einem gehässigen Seitenhieb auf Klytaimnestras Anschuldigungen endet Elektras Monolog. Die folgende mäßigende Bemerkung des Chors (v. 610 f.) gab hinsichtlich der Frage, auf welche der beiden Kontrahentinnen sie sich bezieht, den Interpreten verschiedentlich Schwierigkeiten auf, wohingegen der Inhalt der Passage relativ klar ist: Der Chorführer sieht, dass die in Rede stehende weibliche Person „Zorn atme“ (μένος πνέουσαν); er könne allerdings nicht sehen, ob sie noch Rücksicht (φροντίδʼ) darauf nehme, die Δίκη auf ihrer Seite zu wissen. Selbst dass damit entweder Elektra oder Klytaimnestra gemeint sein müssen, ist zum Teil umstritten; die sich auf die Scholien stützende Meinung, der Chor beziehe sich zunächst auf die eine (v. 610 a), dann auf die andere (v. 610 b + 611), ist allerdings durch nichts zu halten. Ähnlich abseitig ist die Annahme einer in ihrer Ausdehnung unbestimmten lacuna zwischen den Versen 609 und 610, die L LOYD -J ONES /W ILSON253 sogar in ihrem Text vermerken; in diesem ersten

252

253

Im Kontrast zur Rolle der Δίκη im vorangegangenen Stasimon kommt dieser Äußerung freilich besondere Brisanz zu. Mit der Selbststilisierung Klytaimnestras als Vollstre‐ ckerin der Δίκη konterkariert sie geradezu die Ausführungen des Chors. Ihr eigener Tod, den Orest, Elektra und der Chor ihrerseits als Forderung der Δίκη begreifen, wird vom Rezipienten dabei bereits jetzt antizipiert. L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) S. 84 Apparat ad locum: „post hunc v[ersum] aliquid ex‐ cidisse suspicamur […] locus varie temptatus“.

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II. Frauenchöre

Vers (oder mehreren Versen?) hätte der Chor, so die Annahme, durch Nennung des Namens klargestellt, auf wen er sich bezieht. Ich plädiere allerdings dafür, am überlieferten Text festzuhalten. Was lässt sich unter dieser Voraussetzung zur umrissenen Problematik sagen? Zunächst liegt es nahe, den standardisierten Doppelvers auf Elektra zu beziehen, da ihre Rhesis der Wortmeldung des Chor‐ führers direkt vorangeht.254 K AMERBEEK meint dagegen einwenden zu können: „I cannot imagine the Chorus calling into question Electraʼs concern for jus‐ tice“255 und bezieht daher den Kommentar des Chorführers auf Klytaimnestra und deren unmittelbare, d. h. durch Gesten dargestellte Reaktion auf Elektras Rede.256 Dass allerdings der Chor schon im ersten Kommos (v. 213 ff.) Elektras hemmungslos anklagende Rede gegen die eigene Mutter zu unterbinden suchte, bemerkt zu Recht J EBB .257 Die Frage, wen der Chor bei seiner Äußerung im Blick hat, lässt sich meines Erachtens rein auf Basis der beiden Verse und ohne Kenntnis der intendierten Regieanweisungen zu den Gesten der Akteure nicht entscheiden. Auch die folgende Einlassung Klytaimnestras (v. 612) lässt trotz der Wiederholung des Zentralbegriffs φροντίς keine eindeutige Aussage über die Adressatin von v. 610 f. zu. Welcher Rücksicht (φροντίδος), so Klytaimnestras entrüstete Frage, bedürfe sie angesichts der Schmähungen ihrer eigenen, noch dazu besonders jungen (τηλικοῦτος) Tochter? Ob Klytaimnestra ihre Worte dabei als direkte Antwort der an sie gerichteten Äußerung des Chors versteht oder aber einer an Elektra gerichteten Mahnung die auf sie selbst bezogene Frage nach eventueller Rücksicht entgegensetzen will, ist bei den Interpreten um‐ stritten;258 der jeweiligen Meinung entsprechend wird darüber hinaus der Be‐ ginn von v. 612 unterschiedlich rekonstruiert.259 Ohne die vielfältigen Schwierigkeiten ignorieren zu wollen, scheint es mir geraten, die Passage nicht über Gebühr zu problematisieren. Angesichts der Antwort Klytaimnestras ist es meines Erachtens die einfachste Lösung, sie auch

254 255 256 257 258 259

So J EBB (1924) S. 89 und F INGLASS (2007) S. 280 f. K AMERBEEK (1974) S. 90. So auch K ELLS (1973) S. 130, der zur zornigen Reaktion Klytaimnestras zudem bemerkt: „This could be easily enough conveyed, no doubt, by the actor impersonating Clyta‐ emnestra, through his gestures, wearing a mask though he was“. J EBB (1924) S. 89. Vgl. K AMERBEEK (1973) S. 90 sowie die Diskussion bei F INGLASS (2007) S. 282 f. Dabei stehen sich die Varianten δέ μοι, für die K AMERBEEK (1974) im Anschluss an die codd. eintritt, sowie δʼ ἐμοί, die J EBB (1924), K ELLS (1973) und F INGLASS (2007) favori‐ sieren, gegenüber. Es bleibt im Einzelnen allerdings fraglich, ob angesichts der in der Antike vorherrschenden scriptio continua eine Entscheidung für die richtige Lesart überhaupt zu fällen ist, und inwieweit der jeweils favorisierten Variante tatsächlich trennscharfe Bedeutung zugemessen werden kann.

2. Elektra

385

als Adressatin der Verse 610 f. anzunehmen,260 den Chor also deutlich sichtbar auf Elektras Widersacherin hinweisen zu lassen. Die Fortsetzung des Streitgesprächs zwischen Klytaimnestra und Elektra (v. 612 – 633) mündet schließlich in ein ausgedehntes Gebet der Mutter am Apol‐ lonaltar (v. 637 – 659), in dem sie um die für sie günstige Erfüllung ihres Traum‐ gesichts sowie den Schutz ihres Lebens und ihrer Macht bittet. Elektra folgt diesem Geschehen still; erst nach dem Auftritt des Pädagogen und der Bekannt‐ gabe seiner Botschaft wird sie sich wieder zu Wort melden (v. 674). Sie scheint sich zudem von Klytaimnestra auch räumlich separiert zu haben, sodass sie den Auftritt des Pädagogen sowie das Gespräch zwischen ihm und Klytaimnestra mit einigem Abstand betrachten kann.261 Mit dem Streitgespräch ist der bisher aggressivste Dialog zu Ende gegangen: Nachdem Elektra sich bereits vor dem Chor sowie ihrer Schwester verantworten musste, stand ihr mit ihrer Mutter schließlich ihre Gegenspielerin gegenüber. Damit hat die Klimax der Konfrontationsszenen ihren Höhepunkt erreicht; ein erster dramaturgischer Großabschnitt ist zu Ende. Zu einer Annäherung zwi‐ schen Mutter und Tochter ist es im Lauf der agonalen Szene,262 wie nicht anders zu erwarten, freilich nicht gekommen: Beide Antagonistinnen stehen sich nach ihrem Austausch unversöhnt gegenüber, eine Lösung des Konflikts scheint nur noch durch Gewalt möglich zu sein. Die Handlung ist damit zu einem natürli‐ chen Ruhepunkt gelangt: Ohne einen Impuls von außen wird sich an der span‐ nungsgeladenen und ebenso verfahrenen Situation nichts ändern. Sophoklesʼ Komposition an dieser Stelle ist aus formaler Sicht überraschend: Anstatt in einem weiteren Standlied den Mutter-Tochter-Konflikt durch den Chor reflektieren zu lassen und den Ruhepunkt zu einer wirklichen Pause des dramatischen Geschehens zu erweitern, führt Sophokles die Handlung direkt fort: Der unangekündigte Auftritt des Pädagogen bringt mit der fingierten To‐ desnachricht Orests (v. 673) die im Prolog bereits besprochene Intrige auf die Bühne. Nach der äußersten Konfrontation, der sich Elektra bisher stellen musste, greift also Orest zum ersten Mal mittelbar in die Handlung ein; vorder- und hinterszenisches Geschehen haben an unserer Stelle einen ersten Berührungs‐ 260

261 262

Eine letzte Entscheidung obliegt angesichts der ambivalenten Sachlage weniger dem Philologen als dem Regisseur, der im Rahmen eines schlüssigen Gesamtkonzepts mit Blick auf eine Aufführung des Dramas die vielen Leerstellen zu füllen hat, die der reine Text bietet. Vgl. F INGLASS (2007) S. 296: „Electra is isolated from the other characters during the Paedagogusʼ narration, representing in spatial terms the pathos of her situation“. Inwieweit sich Sophokles in der vorliegenden Auseinandersetzung am formalen Muster des tragischen Agon orientiert, diskutiert F INGLASS (2007) S. 250 f.

386

II. Frauenchöre

punkt. Dass der Bericht des Pädagogen zunächst als Erfüllung von Klytaim‐ nestras Gebet angesehen werden kann, vermerkt zu Recht F INGLASS ;263 auch die damit (und in anderen Punkten) gegebene Parallele zum Gebet Iokastes und dem darauf folgenden Bericht im Oidipus Tyrannos (v. 911 ff.) ist richtig erkannt. Al‐ lerdings darf die Ähnlichkeit der beiden Partien nicht über die formale Beson‐ derheit der vorliegenden Tragödie hinwegtäuschen: Der Dichter verzichtet gänzlich auf ein gliederndes Chorlied, das entweder vor dem Gebet (wie im Oidipus Tyrannos) oder danach zu stehen gekommen wäre. Statt den Hand‐ lungsfluss deutlich zu phasieren, lässt er zwei in ihrer Wirkung völlig unter‐ schiedliche Szenen aufeinanderprallen und dynamisiert das Geschehen maß‐ geblich. Der Ablauf der Pädagogen-Szene soll kurz referiert werden. In einem ersten Gespräch mit dem Chor und Klytaimnestra kündigt der Pädagoge zunächst seine bedeutende Nachricht an und verbalisiert sie schließlich mit äußerster Prägnanz in Vers 673: Orest, so seine Mitteilung, ist gestorben. Elektra ist erschüttert und sieht alle ihre Hoffnungen zerstört (v. 674 u. 677); Klytaimnestra dagegen fordert sie (Elektra) harsch auf, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern, und fragt den Pädagogen, auf welche Weise ihr Sohn Orest ums Leben ge‐ kommen sei (v. 678 f.). Es schließt sich der ausführliche Bericht vom (angebli‐ chen) Unfall Orests bei den Pythischen Spielen in Delphi (v. 680 – 763) an, der unter unseren Gesichtspunkten keiner ausführlichen Behandlung bedarf. Die erste Reaktion darauf kommt in Form eines standardisierten Doppelverses (764 f.) dem Chor(-führer) zu: Unter Voranstellung einer gedoppelten Interjek‐ tion (φεῦ φεῦ) konstatiert er, dass nun das Herrscherhaus scheinbar von Grund auf zu Grunde gegangen sei. So konventionell diese Klage hinsichtlich ihres Inhalts ist, so beziehungsreich ist die sprachliche Formulierung in den dramatischen Kontext eingesetzt: Mit dem Gebrauch des in der Tragödie seltenen264 und umso bildmächtigeren Wortes πρόρριζος ist Bezug genommen auf die Schilderung von Myrtilosʼ Tod beim Wagenrennen, wie sie im ersten Stasimon dargebracht wurde (v. 512). Für den Chor scheint die (vermeintliche) Katastrophe Orests damit in der Linie der πολύπονος αἰκεία zu stehen, die er in der Geschichte des Hauses seit der Schandtat des Pelops am Wirken sieht. Auf die mit ὡς ἔοικεν für das informierte

263 264

F INGLASS (2007) S. 295. Weitere Belegstellen sind einzig: Euripides Hippolytos 684, Aischylos Perser 812 und womöglich fr. 154a.13 TrGF (vgl. F INGLASS (2007) S. 249).

2. Elektra

387

Publikum gegebene Ironie in der Einschätzung der Frauen weist F INGLASS mit Recht hin.265 Der weiteren Szene zwischen Klytaimnestra, dem Pädagogen und Elektra, die erst in Vers 788 die Stimme erhebt, folgt der Chor ohne eigene Äußerung; wir können sie rasch abhandeln. Klytaimnestras Reaktion auf die Nachricht vom Tod ihres Sohnes ist, wie F INGLASS zu Recht herausstellt, durch besondere Ge‐ fühlskälte und Ichbezogenheit geprägt;266 Elektra dagegen wertet das Verhalten ihrer Mutter als besondere Kränkung des Bruders (v. 790) und warnt vor der Nemesis des jüngst Verstorbenen (v. 792). Nachdem Klytaimnestra mit dem Überbringer der Botschaft in Vers 804 schließlich abgetreten ist, beginnt Elektra eine ausgreifende Klage (v. 804 – 822), in der sie in direkter Anrede ihres Bruders die neue Situation verarbeitet: Nach dem Tod Orests sei sie nun endgültig auf sich gestellt und ohne jeden Schutz (μόνη γάρ εἰμι, σοῦ τʼ ἀπεστερημένη καὶ πατρός v. 813 f.). Der Zukunft unter den ihr verhassten Mördern des Vaters sieht sie mit Grausen entgegen; sie fasst den Vorsatz (v. 817 ff.), nicht ins Haus zu gehen und dort mit diesen Menschen zu leben, sondern hier vor dem Palast ihr Leben „verdorren“ (αὐανῶ βίον v. 819) zu lassen. Wenn sie einer aus dem Haus darüber hinaus töten sollte, dann wäre es ein Gewinn für sie; denn nach dem Leben trage sie kein Verlangen mehr. Die Situation vor dem Beginn des Kommos kann überblickt werden. Nach der entscheidenden Konfrontation zwischen Elektra und ihrer Mutter war die Hand‐ lung durch den Auftritt des Pädagogen direkt weitergeführt worden und gipfelte mit der Nachricht vom Tode Orests in der (vermeintlichen) Katastrophe. Dabei ließ Sophokles Klytaimnestra auch nach der Konfliktszene und ihrem Gebet auf der Bühne bleiben. Die antagonistische Personenkonstellation Elektra-Klytaim‐ nestra bleibt auch nach dem eigentlichen Ausbruch der Feindseligkeiten visuell präsent. Ferner zeichnet Sophokles in der doppelten Antwort auf die vermeint‐ liche Todesnachricht den Widerspruch der beiden Charaktere noch einmal be‐ sonders deutlich: Hatte der erste Teil des Epeisodions die beiden Antipoden im heftigen Austausch miteinander gezeigt und ihre grundlegende Disposition vor Augen geführt, so inszenierte der zweite Teil ihr Verhalten angesichts der ein‐ 265

266

F INGLASS (2007) S. 338. Mit dem Ende des Berichts ist im Übrigen die arithmetische Mitte der Tragödie (v. 755) überschritten. Die inhaltlich nicht zutreffende Aussage des Chors erhält damit besonderes Gewicht, indem sie nach dem entscheidenden dramaturgischen Fortschritt die Lage, wie sie sich den uninformierten Akteuren (v. a. Elektra) bietet, konkret in Worte fasst und damit die erste Hälfte des gesamten Stücks beschließt. F INGLASS (2007) S. 335, der im Vergleich mit der Gestaltung Klytaimnestras bei Ais‐ chylos (Choephoren 691 ff.) festhält: „There is no expression of sorrow or grief: she is shocked, not saddened, and her focus remains on her own personal advantage“.

388

II. Frauenchöre

getretenen Katastrophe und ließ nach der Streitszene die dem Gegenüber von Mutter und Tochter innewohnende Spannung in anderer, sublimierter Form hervortreten. Das Drama hat mit der Botschaft vom angeblichen Tod Orests seinen ersten Höhepunkt erreicht: Die von Orest selbst motivierte Intrige tritt auf die Bühne, die seit dem Prolog hinterszenische Handlung verknüpft sich mit den vorder‐ szenischen Abläufen, Elektra ist auf dem emotionalen Tiefpunkt angekommen. In formaler Hinsicht ist die strukturelle Anordnung der Formteile nach Kly‐ taimnestras Abtritt (v. 803) dem Beginn der Handlung vergleichbar: Auf eine ausgreifende Klage der Protagonistin folgt ein lyrisches Zwiegespräch mit dem Chor, der ihr als Tröster gegenüberzutreten versucht. Zwei grundlegende Un‐ terschiede hinsichtlich Form und Inhalt der beiden Passagen fallen dabei bereits ins Auge. Elektras Klage an unserer Stelle ist in iambischen Trimetern kompo‐ niert, bildet formal gesehen also den Abschluss des Epeisodions und konstituiert nicht wie die Anapäste im Anschluss an den Prolog einen neuen Formteil. Des Weiteren liegt der Klage an unserer Stelle ein konkreter Anlass zu Grunde; sie stellt zudem die relativ zeitnahe Reaktion der Protagonistin auf die wesentliche Verschlechterung ihrer Lage dar,267 während der Kommos vom Beginn der Tra‐ gödie den seit einiger Zeit schon erreichten Status zum Gegenstand hatte. Dass auch der Chor Zeuge der Botschaft vom Tod Orests war, verändert seine Position gegenüber Elektra und damit das Verhältnis der beiden Gesprächspartner zuei‐ nander in gewisser Hinsicht:268 Der Kommos ist auch die Reaktion der mykeni‐ schen Frauen auf die veränderte Lage; sie sind auf exakt demselben Informati‐ onsstand wie Elektra und in ihrer Hoffnung ebenso getäuscht wie sie. Der Chor ist im zweiten Kommos in weit höherem Maß selbst Betroffener, als er es im ersten Kommos war – auch wenn er verglichen mit Elektra freilich weniger involviert ist. Zunächst sollen einige formale Aspekte der kommatischen Partie betrachtet werden. Der zweite Kommos ist wesentlich kürzer als das Amoibaion vom Be‐ ginn der Tragödie: In nur zwei Strophenpaaren erstreckt er sich über ungefähr fünfzig Verse, wobei die Kürze mancher Kola und Verse besonders hervorzu‐ heben ist. Wesentliches Strukturmoment ist der ständige und rasche Sprecher‐ wechsel, wobei sich die Redeanteile innerhalb der Strophenpaare entsprechen.

267 268

Vgl. F INGLASS (2007) S. 356: „Here her grief is for a death that is all too recent, and for that reason is even more intense“. Vgl. F INGLASS (2007) a. a. O.: „The relationship between Electra and the chorus has also undergone a change“. In seiner Analyse werden allerdings andere Aspekte hervorge‐ hoben.

2. Elektra

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Das teilweise abrupte Einsetzen des jeweils anderen sowie die Unterbrechungen der begonnenen Syntax durch fragende Einwürfe (z.B. v. 856) oder klagende Interjektionen (v. 840) zerteilt dabei den Fluss der Ausführungen in kleine, frag‐ mentierte Abschnitte. Eingebunden in dieses Staccato269 kann Elektra in jeder Strophe im jeweils längsten Redeanteil ungestört einen Gedanken ausführen (z.B. v. 832 – 836) bzw. auf den Einwurf des Chors reagieren (v. 861 ff.). Inhaltlich können wir den Wechselgesang relativ kurz behandeln. Von weiter‐ gehendem Interesse sind im Wesentlichen die Verbindungslinien zu den anderen Teilen der Tragödie, besonders die Wiederaufnahmen von Motiven aus dem ersten Kommos. Mit seiner ersten Äußerung nach mehr als fünfzig Versen verleiht der Chor seiner Stimmung effektvoll Ausdruck: Wo, so die Frage des Chors, seien die Blitze des Zeus (κεραυνοὶ Διός) oder der „leuchtende Helios“ (φαέτων Ἅλιος), wenn sie sich angesichts dieser Umstände ungestört verborgen hielten (κρύπτουσιν ἕκηλοι)? Der Verweis auf Gottheiten bzw. göttliche Mächte, von denen Hilfe und Ein‐ greifen in unzumutbaren Situationen erhofft wird, war schon mehrere Male ein bestimmendes Motiv chorischer Äußerungen gewesen: Der überwiegende Teil des ersten Standliedes war eine Vision der personifizierten Rache und Sühnung, und auch im ersten Kommos mit Elektra spielte die Hoffnung auf die Allmacht des Zeus eine entscheidende Rolle (v. 174 f.). An unserer Stelle schwebt die er‐ wähnte Passage nicht nur inhaltlich vor; durch ἐφορῶντες wird die Apostro‐ phierung des allsehenden Göttervaters (Ζεύς, ὃς ἐφορᾷ πάντα) wörtlich wieder aufgenommen. Die eigentlich mit Ermutigung (θάρσος-Motiv) verbundene Ausrichtung auf göttliche Hilfe ist hier in die Form einer erschütterten Frage gegossen, was zum einen die Expressivität und Emotionalität der Situation gleich zu Beginn des Kommos unterstreicht, zum anderen der besonderen Ver‐ zweiflung der mykenischen Frauen Ausdruck verleiht. Elektras impulsive Reaktion ist programmatisch für den gesamten Wechsel‐ gesang: Noch schärfer als im ersten Kommos wehrt sie sich hier gegen die Tröstungsversuche der Frauen und fordert sie im Folgenden geradezu auf, davon abzulassen (v. 855).270 Wie bereits im ersten Kommos (v. 213 ff.) versucht der Chor auch hier, Elektra von allzu heftigen Äußerungen abzubringen (v. 830). Ihre Haltung verbalisiert sie daraufhin eindrücklich: Hoffnung betreffs derer zu

269 270

Der Begriff findet sich bereits bei F INGLASS (2007) S. 356. Vgl. F INGLASS (2007) S. 358 ad locum: „a common prohibition, aimed at dissuading the addressee from a blasphemous or arrogant statement“.

390

II. Frauenchöre

haben, die sich offensichtlich (φανερῶς) im Hades befinden, hieße, sie in ihrem Leid geradezu mit Füßen zu treten (v. 832 ff.). Auch der die Gegenstrophe eröffnende Versuch des Chors, mit einer mytho‐ logischen Parallele tröstenden Einfluss auf Elektra auszuüben, schlägt fehl: Der Chor gibt zu wissen, Amphiaraos, der durch den Einfluss seiner Frau Eriphyle getötete Seher, herrsche in der Unterwelt im Vollbesitz seiner Seele (πάμψυχος v. 841),271 und will damit insinuieren, dass auch Agamemnon nach seinem Tod eine besondere Stellung genieße. Wieder unterbricht Elektra daraufhin die Aus‐ führungen des Chors mit klagenden Interjektionen272 und gibt durch die Fort‐ setzung des vom Chor begonnenen Gedankens (v. 844 f.) zu verstehen, dass sie die Argumentationsstruktur ihrer Gesprächspartner verstehe und bereits im Voraus zu erahnen wisse. In den die Gegenstrophe abschließenden Versen (846 ff.) macht sie dementsprechend auf den gravierenden Unterschied zwischen der vom Chor angeschnittenen mythologischen Passage und ihrer eigenen Si‐ tuation (bzw. der ihres Vaters) aufmerksam: Amphiaraos wurde durch seinen Sohn gerächt; in ihrem Fall allerdings gebe es nach dem Tod Orests keinen Rä‐ cher mehr, der zu ihrem Vorteil eingreifen könne. Ihr effektvolles οἶδʼ οἶδʼ (v. 846) greift die Einleitung der mythologischen Parallele Vers 837 auf und über‐ trumpft damit geradezu den Chor. Dass dieser mit der mythischen Parallele un‐ bewusst dennoch den eigentlichen Ausgang der Handlung, d. h. konkret: die Rache des getöteten Vaters durch seinen Sohn, vorgedeutet hat, erschließt sich dabei einzig den über die wahren Zusammenhänge informierten Rezipienten. Elektras heftige Ablehnung der vom Chor vorgebrachten Parallele wird zu einem Moment besonderer dramatischer Ironie:273 Das aus Sicht der Haupt‐ heldin völlig unpassende Beispiel verfehlt seine innerdramatische Wirkabsicht (Trost und Zuversicht), bietet allerdings ein im Vergleich mit der Erwähnung Orests im ersten Kommos (v. 159 ff.) konzentriertes und in seiner Wirkung ge‐ steigertes Spiel mit dem Wissen der Zuschauer. Der Inhalt des zweiten Strophenpaars ist im Wesentlichen bestimmt durch die Klage Elektras, dass ihr nun alle Hoffnung abhanden gekommen sei (v. 856 ff.). Der Chor antwortet darauf mit Allgemeinplätzen (v. 860, 864) und kurzen, von gewisser Sympathie getragenen Wertungen von Elektras Verhalten (v. 849,

271 272 273

Vgl. die Erläuterung bei K AMERBEEK (1974) S. 116 sowie die ausführliche Diskussion bei F INGLASS (2007) S. 363. Vgl. B URTON (1980) S. 205 Vgl. K AMERBEEK (1974) S. 115: „So we have a case of very ingenious (we might say overingenious) dramatic irony“.

2. Elektra

391

853).274 Beim Gedanken an den vermutlich ohne passende Begräbniszeremonie in der Fremde liegenden Orest (v. 865 ff.) gibt der Chor durch den Ausruf παπαῖ (v. 867) noch einmal kurz sein Mitgefühl zu erkennen, bevor der Gesang mit dem aufgeworfenen Bild endet. Inhaltlich ist das zweite Strophenpaar unter unseren Gesichtspunkten nicht weiter erwähnenswert; bemerkt werden soll allerdings die herausragende sprachliche Gestaltung. Vor allem die Verse 849 ff. zeichnen sich durch den Ein‐ satz eindrucksvoller klanglicher Mittel aus, die die emotionale Verfassung Elektras besonders deutlich verbalisieren; nachdrücklich hervorzuheben sind Assonanzen und etymologische Junkturen (δειλαία δειλαίων), Alliterationen (πανσύρτῳ παμμήνῳ πολλῶν) und Homoioteleuta in Verbindung mit klangli‐ cher Ähnlichkeit (δεινῶν στυγνῶν αἰῶνι). Sophokles hatte, wie bereits erwähnt, nach dem Gespräch zwischen Elektra und Klytaimnestra auf ein reflektierendes Chorlied verzichtet und mit der Nachricht von Orests Tod die Handlung sehr schnell weitergeführt. Der Kommos an un‐ serer Stelle markiert so den ersten lyrischen Einschnitt nach über dreihundert Versen und bietet damit zunächst eine Ruhepause innerhalb des Bühnengesche‐ hens. Seine dramaturgische Funktion liegt offen zu Tage: Als besonders emoti‐ onale Partie dient er der effektvollen Ausleuchtung von Elektras Verfassung. Die Protagonistin bildet nach dem Abtritt der anderen Personen nicht nur visuell wieder den Fokus des Bühnengeschehens; vielmehr stehen sie und ihre Situation auch inhaltlich wieder im Mittelpunkt des Interesses. Die aus dem ersten Kommos bekannte (und im ersten Stasimon von Seiten des Chors angedeutete) Gesprächssituation Protagonistin-Chor wird erst der Auftritt einer weiteren Person (wie beim ersten Mal ist es auch hier Chrysothemis) unterbrechen und damit der Handlung einen neuen Anstoß geben. Das Verhältnis der beiden Kommoi zueinander soll etwas genauer untersucht werden. Einige Motive bzw. Argumentationsstrukturen des ersten Klagegesangs werden an unserer Stelle wieder aufgegriffen: Schon erwähnt wurde die – teils wörtliche – Bezugnahme auf Vers 175. Die Unabwendbarkeit des Todes (v. 137 ff. – v. 832), die Ablehnung des entgegengebrachten Trostes (v. 132 ff. – v. 854) sowie der Vergleich der gegenwärtigen Situation mit mythologischen Szenen und Gestalten (v. 147 ff. – v. 837) sind dabei nicht nur konventionelle Motive eines Klagegesangs, sondern erscheinen hier auf der Folie des vorange‐ gangenen Kommos in gesteigerter Intensität bzw. geradezu gespiegelt. So diente im ersten Wechselgesang die Unumkehrbarkeit des Todes dem Chor als Argu‐ 274

Vgl. F INGLASS (2007) S. 366: „Defeated by Electra’s argument, the chorus stops offering consolation and simply acknowledges the wretchedness of her situation“.

392

II. Frauenchöre

ment für die Zwecklosigkeit der Klage Elektras. Hier ist es Elektra selbst, die sich mit Hinweis auf den offensichtlichen Tod ihres Bruders jeden Trost ver‐ bittet. Entgegengesetzt war es die Protagonistin, die im ersten Kommos ihre Nähe zu Prokne und Niobe bekundet hatte (v. 147 ff.); an unserer Stelle weist sie den Vergleich der dramatischen Situation mit einer mythologischen Parallele vehement zurück. Dabei sind die Parallelen zwischen den beiden Kommoi natürlich nicht de‐ ckungsgleich; die gebrochene Bezugnahme bildet dennoch den Handlungsfort‐ schritt ab. Konkret gesprochen: Der zweite Kommos setzt sich durch die sprach‐ liche und motivische Konzentration bzw. Spiegelung vom ersten Klagegesang ab und zeigt in der gesteigerten Intensität die neue, emotional und dramatur‐ gisch höchst bedeutsame Situation. Die eigentlich konventionellen Motive der Klage gewinnen damit durch ihren innerdramatischen Bezug eine besondere dramaturgische Funktion. Der Kommos wird dadurch in die Struktur des Ganzen eingepasst und erfüllt eine spezielle Aufgabe: die Darstellung der (scheinbar) allein auf sich gestellten Protagonistin in ihrer Reaktion auf die ver‐ meintliche Katastrophe. Dabei ist es nicht zufällig, dass (wie bereits erwähnt) die Makrostruktur der Partie in gewisser Weise die auf den Prolog folgende Szenerie vom Beginn der Tragödie widerspiegelt. Nach dem Abtritt Klytaimnestras mit dem Boten ist die intime Situation des Beginns wiederhergestellt: Elektra sieht sich mit der dra‐ matischen Situation konfrontiert, mit dem Chor entspinnt sich ein (lyrischer) Dialog. Dass dabei die Ursache des Klagens gerade erst bekannt geworden ist und somit den Beteiligten als in höchstem Maß virulent vorschwebt, schlägt sich in der hohen emotionalen Intensität nieder. Im Gegenzug galten die den ersten Auftritt der Hauptperson begleitenden Äußerungen nicht einer kürzlich über die Beteiligten hereingebrochenen Situation, sondern stellten geradezu einen Ausschnitt der Dauerklage Elektras dar (vgl. die Äußerungen des Chors sowie Elektras eigene Entschuldigung v. 254 ff.). Mit der Situation an unserer Stelle ist hingegen – zumindest aus Elektras Perspektive – ein neuer Anfang gegeben: Nach der Stagnation in Trauer, Klage und der Erwartung Orests muss sie die in ihren Bruder gesetzte Hoffnung nun aufgeben und rückt samt Chrysothemis selbst in die Position der einzig Ver‐ bliebenen (ausgesprochen in Vers 950).275 Die Erwartung, die von unserer Stelle als einer dramatischen Gelenkstelle ausgeht, ist dabei eine doppelte: Innerdra‐ matisch hat Elektra auf die neue Lage zu reagieren und sich zu ihr zu verhalten.

275

Die Gestalt der dritten Schwester, Iphianassa, ist in der uns vorliegenden Tragödie ver‐ nachlässigt.

2. Elektra

393

Wenn sie im folgenden Streitgespräch mit ihrer Schwester den Plan darlegt, nun selbst die Initiative zu ergreifen, zeigt sie, wie schnell sie sich in die neue Situ‐ ation eingefunden hat, und bildet einen wirkungsvollen Kontrast zur bereits referierten Ankündigung der Verse 817 ff. Der Kommos als ein Moment der Re‐ flexion ohne Handlungsfortschritt hat im Folgenden eine Fortsetzung des dra‐ matischen Geschehens im Blick, nachdem die emotionale Lage der Protagonistin beleuchtet wurde. Zum anderen zielt die effektvolle Inszenierung der Todesnachricht Orests sowie der Reaktion Elektras auf das Vorwissen der Zuschauer und erfüllt auch hier eine Funktion: Der Auftritt des Bruders und damit ein bereits vorausge‐ ahntes Wiedererkennen (ἀναγνώρισις) der Geschwister rücken bedeutungsvoll in den Erwartungshorizont des Zuschauers und Lesers. Die Kontrastierung dieser Szene mit den beiden Kommoi, in denen Leid und Trauer im Mittelpunkt standen, wird besonders deutlich antizipiert. Wieder spielt das Wissen um Orest und die hinterszenischen Vorgänge in der Wahrnehmung der lyrischen Partie durch das Publikum eine entscheidende Rolle. Ein erster Schritt zur Zusam‐ menführung der beiden Handlungen (Elektra auf der Bühne, Orest seit dem Prolog hinter der Bühne) ist im vorhergehenden Epeisodion durch den Boten‐ bericht des Pädagogen geleistet worden. Die durch den Kommos intendierte Spannung auf die endgültige Verknüpfung der beiden Stränge wird im Fol‐ genden durch den Bericht der Chrysothemis noch gesteigert, bis der Auftritt Orests und die Wiedererkennung des Geschwisterpaars die Auflösung bieten. Im Ganzen betrachtet ist ersichtlich, wie der motivisch und strukturell konven‐ tionell gehaltene Kommos die ihm an seiner speziellen Stelle innerhalb des Dramas zugewiesene dramaturgische Funktion ausübt. Mit seinem Bezug auf den ersten Wechselgesang zu Beginn der Tragödie nimmt er gewisse Motive auf, verdichtet und spiegelt sie; die hoffnungslose Lage der Protagonistin ist so überdeutlich inszeniert. Der Auftritt der Chrysothemis ohne eine Ankündigung (wie in den Versen 324 ff.) lässt den Kommos dabei abrupt enden und führt schlagartig in eine neue Situation. Das Bild des in der Fremde unbeerdigt lie‐ genden Orest hatte dabei geradezu eine explizite Totenklage evoziert,276 die al‐ lerdings nicht realiter ausgeführt wird. Chrysothemis unterbricht geradezu den Wechselgesang und unterbindet somit dessen Fortführung mit ihrer aus der ei‐ genen Sicht überaus positiven Nachricht.277 Im Vergleich zu ihrem bereits er‐

276 277

Vgl. das erste Standlied im Aias, in dem der imaginierte Tod des Haupthelden und die möglichen Reaktionen seiner Mutter poetisch ausgestaltet wurden. Ein energisches Auftreten des betreffenden Schauspielers, der die ersten Worte bereits im Gehen vorbringt, ist hier denkbar und geradezu durch den Text gefordert.

394

II. Frauenchöre

wähnten ersten Auftritt, bei dessen Ankündigung der Chor die Unterhaltung mit dem Hinweis auf sie abbrach (μὴ νῦν ἔτʼ εἴπῃς μηδέν v. 324), mag man in dieser noch abrupteren Fügung der beiden Großteile eine weitere Intensivierung der Szenen und des dramatischen Ablaufs erkennen: Die fortschreitende Hand‐ lung lässt keine Zeit für weiteres Klagen. Der emotionale Ausbruch des Kommos wird von zwei handlungsintensiven Partien gerahmt, was sich besonders in der Gestaltung der Übergänge zwischen den Passagen widerspiegelt. Trotz der ab‐ rupten Fügung und des plötzlichen Auftretens der Chrysothemis lässt sich dabei dennoch eine gewisse thematische Verbindung bzw. eine motivische Brücke er‐ kennen: Nachdem durch Chor und Elektra ein mögliches Leichenlied ange‐ stimmt wurde, berichtet Chrysothemis von den Vorfällen am Grab des Vaters. Die in der lyrischen Partie angeschnittene Thematik „Grab und Begräbnis“ bildet den motivischen Impuls für das kommende Epeisodion. Formal ähnlich war schon die in der Epodos des ersten Standliedes angesprochene verderbliche Fa‐ miliengeschichte durch den Bericht Klytaimnestras im Folgenden weitergeführt worden, nachdem die lyrische Passage durch den Auftritt einer weiteren Person relativ abrupt unterbrochen worden war.278 Die Frage, ob der Kommos an Stelle eines Stasimons das Epeisodion beendet oder nur teilt, d. h. konkret: ob Chrysothemisʼ Auftreten in Vers 871 ein neues (das dritte) Epeisodion eröffnet,279 ist dabei an sich müßig. Dass mit dem vor‐ liegenden Kommos ein entscheidender Abschnitt des Dramas zu Ende gegangen ist und das folgende zweite Gespräch von Elektra und Chrysothemis einen neuen Impuls liefert, ist offensichtlich. Wenn man dementsprechend aus for‐ malen (bzw. formalistischen) Gründen von einem (über)langen Epeisodion aus‐ gehen will, so muss man anerkennen, dass der Kommos zwei in ihrer dramati‐ schen Funktion völlig unterschiedliche Szenen trennt. Zweites Stasimon (v. 1058 – 1097)

Nach dem Ende des Kommos unterbricht der Auftritt der Chrysothemis (v. 871) die intime Szenerie zwischen Chor und Elektra. In scharfem Kontrast zur herrschenden Stimmung (beachtenswert das betonte ὑφʼ ἡδονῆς zu Beginn ihrer Rede nach der eben angeklungenen Totenklage v. 871) ist sie der Überzeugung, Linderung für ihre Schwester zu bringen (φέρω ἡδονάς τε κἀνάπαυλαν κακῶν v. 873 f.). Gegen deren Vorbehalte verteidigt sie diese Einschätzung mit der Betonung ihrer Augenzeugenschaft (v. 885 f.) und referiert schließlich die 278 279

Vgl. die Ausführungen dazu S. 377 ff. So plädieren K AMERBEEK (1974) S. 114 und F INGLASS (2007) S. 370 dafür, den Kommos als Trennung zwischen zwei Epeisodia zu betrachten; beide lassen so mit Vers 871 das dritte Epeisodion beginnen.

2. Elektra

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Geschehnisse, wie sie sich am Grab des Vaters abgespielt hätten (v. 892 – 919): Dort habe sie frisch ausgegossene Trankopfer sowie eine Haarlocke gefunden, die – so schließt sie – nur von Orest stammen könne, denn weder die Mutter Klytaimnestra noch Elektra selbst hätten Veranlassung oder Möglichkeit gehabt, am Grab des Ehemanns bzw. Vaters zu opfern. Darum solle Elektra nun Mut fassen (θάρσυνε),280 denn das Verdrießliche sei vergangen und der Tag halte noch Gutes bereit (v. 918 f.). Die Ernüchterung folgt allerdings auf dem Fuße: Elektra teilt ihrer Schwester den Tod des gemeinsamen Bruders mit (v. 924),281 worauf Chrysothemis zugeben muss, dass nunmehr sowohl Vergangenheit als auch ebenso alles Übrige schlecht sei (v. 936 f.). Elektra präsentiert dagegen ihre mögliche Lösung: Es sei nun nach dem Tod des Bruders an der Zeit, selbst die Initiative zu ergreifen und Aigisth, den Mörder des Vaters, zu töten (v. 955 f.). Zum einen komme man damit der dem Vater geschuldeten εὐσέβεια (v. 968) nach, zum anderen könne man durch diese Tat sich selbst wieder in eine ehrbare Position bringen, ja mehr noch, sogar Lob und Anerkennung von Seiten der Bürger und Auswärtigen erwerben (v. 970 ff.). Chrysothemis ist in ihrer Gegenrede zunächst erstaunt über den plötz‐ lichen Wagemut ihrer Schwester (v. 995)282 und verweigert der Schwester ihre Mithilfe mit Blick auf das eigene Geschlecht und die daher verminderte Kör‐ perkraft. Zudem mahnt sie, nicht weiteres Übel anzuhäufen, denn ohne Hilfe könne ein solches Unternehmen wohl keinen guten Ausgang nehmen; sie for‐ dert daher ihre Schwester auf, nun endlich zur Vernunft zu kommen und sich den Mächtigen zu beugen. Es entwickelt sich im Folgenden eine bewegte Stichomythie, die zwar inhalt‐ lich nichts wesentlich Neues bietet, dafür aber in den oft bissigen Aussagen (besonders von Elektras Seite, vgl. v. 1027, 1031, 1033) den Konflikt zwischen den beiden Schwestern wortreich illustriert: Elektra hat sich entschlossen, die Tat alleine auszuführen (v. 1019 f.), und setzt sich damit bewusst von der ge‐ suchten Gemeinschaft mit der Schwester (v. 950) ab. Mit Chrysothemis hat sie

280 281

282

Erneut ist damit das prominente θάρσος-Motiv angeklungen. Auch wenn Elektra, ge‐ täuscht durch die fingierte Todesnachricht, keinen Grund sieht, neuen Mut zu fassen, werden sich Bericht und Aufforderung der Chrysothemis als wahr herausstellen. Bemerkenswert die betonte Stellung des τέθνηκεν zu Beginn des Verses wie schon im Bericht des Pädagogen (v. 673). Man mag darin zudem eine Beziehung zu den betont an den Anfang der Perioden gestellten Prädikaten im ersten Standlied herstellen (v. 475 ff.) und so den Kontrast zwischen sicher geglaubter Sühnung und (scheinbarer) Realität schärfer gezeichnet sehen. Mit θράσος (v. 995) ist ein Bezug zu Vers 916 hergestellt und der motivische Leitbegriff „Mut / Zuversicht“ mit einer tadelnden Wertung versehen (vgl. dazu LSJ s.v.).

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II. Frauenchöre

damit die letzte Verbündete verloren. Auf deren Abgang in Vers 1057 folgt das zweite Standlied des Chores. Kurz soll auf die beiden Äußerungen des Chors während des Streitgesprächs der beiden Schwestern eingegangen werden. In Vers 990 schaltet sich die Chorfüh‐ rerin nach den Ausführungen Elektras ein und gibt – inhaltlich wie formal ganz konventionell – in einem Doppelvers zu bedenken, dass in einer derartigen Si‐ tuation vorausschauende Klugheit (προμηθία) sowohl Sprechendem als auch Hörendem hilfreich sei (σύμμαχος). Auf die Rede der Chrysothemis reagiert der Chor daraufhin in Vers 1015 f. mit der aller Wahrscheinlichkeit nach an Elektra gerichteten Aufforderung, sich überzeugen zu lassen (πείθου); nichts nämlich sei für Menschen besser, als Vorsorge (προνοίας) und ein einsichtiger Verstand (νοῦ σοφοῦ). Angesichts des Lobes, das Elektra im folgenden Stasimon durch den Chor erhält (vor allem v. 1093 ff.), sowie der generellen Hochschätzung des von ihr gefassten Plans wirft gerade diese letzte Bemerkung des Chors Probleme auf. Die Interpretationen dieser Aussagen gehen hinsichtlich ihres Bezugs bzw. der Konsistenz des chorischen Charakters auseinander. Während J EBB zur ersten Stelle (v. 990 f.) bemerkt: These words of the Chorus, though neutral in tone (like their words at v. 369), imply that Electraʼs plan is over-bold, and Chrys. speaks as if sure of their approval; which, indeed, she receives at v. 1015,283

und zu Vers 1015 f. keine inhaltliche Diskussion bietet, vermerkt B URTON zur ersten Stelle: It should not be taken as a rebuke to Electra for her plan, which indeed if it is to be successful requires a high degree of forethought from both of them284

und mahnt zu Vers 1015 f., sichtlich J EBBs Wortwahl aufgreifend: This couplet should not be taken as downright approval of Chrysothemisʼ attitude, implying that she has a νοῦς σοφός and Electra has not and is therefore ἄνους not σοφή (…). What we have after the opening word πείθου is another balancing maxim repeating the need for prudence[.]285

F INGLASS bemerkt in Bezug darauf zu Vers 990 f.:

283 284 285

J EBB (1924) S. 138. B URTON (1980) S. 207. B URTON (1980) S. 208.

2. Elektra

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Burtonʼs claim that the chorus is not rebuking Electra, but reminding her that her plan will require considerable foresight if is to be successful, is far-fetched,286

und konstatiert zur zweiten Stelle: ”Burtonʼs argument (…) is as mistaken as his interpretation of 990 – 1.“287 In seinem Kommentar konstatiert K ELLS zur ersten Stelle (v. 990 f.): Electra has plainly not shown προμηθία. The Chorus […] are warning her (politely) to do so, and to change her tune. They are also warning Chrysothemis not to listen to her,288

zur zweiten dementsprechend: Chrysothemis has displayed νοῦς σοφός. Therefore Electra, whose views contradicts hers, has not: she is ἄνους, not σοφή.289

Machen wir uns angesichts dieser Lage klar, was der Text selbst bietet. Mit den beiden Äußerungen kommentiert der Chor die gegensätzlichen Reden der beiden Streitenden. Es ist signifikant für die Agonszenen innerhalb dieser wie auch anderer Tragödien, dass der Chor in seinen eingeschobenen, oft mode‐ rierenden Sentenzen einerseits zur Mäßigung aufruft, andererseits die direkt vorausgegangene Rede lobt und schließlich oft feststellt, dass beide vorge‐ brachten Sichtweisen ihre Berechtigung haben (vgl. v. 369 f., 464 f.290). Resultie‐ rend daraus ergibt sich die oft merkwürdig ambivalente Haltung des Chors in‐ nerhalb der dramatischen Szenerie, die teilweise im folgenden Chorlied zu einer bestimmteren Bewertung der Situation führt.291 Vor diesem Hintergrund können auch die vorliegenden Äußerungen gesehen werden: Sie sind in ihrer Art typi‐ sche Einwürfe innerhalb einer belebten Agonszene und beanspruchen in keiner Weise, letztgültige Urteile der Frauen über die vorliegende Lage zu sein.292 Viel‐ mehr scheinen sie, wie an den angegebenen Parallelstellen, direkt situativ ge‐ 286 287 288 289 290 291 292

F INGLASS (2007) S. 410. F INGLASS (2007) S. 416. K ELLS (1973) S. 172. K ELLS (1973) S. 174. Sowie in anderen Stücken unseres Autors, z. B. Antigone 681 f., 724 f., Oidipus Tyrannos 616 f. Vgl. dazu die angeführten Stellen aus der Antigone, in der das anschließende Stasimon eine deutlichere – wenn auch in ihrer Drastik unausgesprochene – moralische Wertung bietet (v. 791 ff.). Dementsprechend K AMERBEEK (1974) S. 133 zu v. 990: „Non-committal lines of the Chorus, as usual between two speeches in a ἀγών“. Auch J EBB (1924) S. 138, der die dem Doppelvers innewohnende Kritik an Elektra anerkennt, betont, die Worte des Chors seien „neutral in tone“.

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II. Frauenchöre

sprochen und unter dem Einfluss des Vorangegangenen zu stehen; in diesen im besten Sinne konventionellen Kommentaren letztgültige Wertungen oder die unumstößliche Meinung des Chors zu finden, wäre ganz und gar verfehlt. Das Chorlied dagegen intendiert ganz andere dramaturgische Implikationen: Als reflektierende Partie steht es dem eigentlichen Geschehen gegenüber und ist dementsprechend völlig anders funktionalisiert.293 Auch wenn sich der Chor dabei als in das Geschehen involviert begreift, ist er doch nicht handelnder Ak‐ teur, sondern zunächst eben reflektierender Betrachter und Ausdeuter der Sze‐ nerie, wie sie sich nach ihrem Abschluss darbietet. Anders gesagt: Bereits ein Blick auf die gravierenden formalen Unterschiede zwischen den in iambischen Trimetern strukturierten (wahrscheinlich von der Chorführerin alleine) gespro‐ chenen Kommentaren innerhalb des Epeisodions sowie dem strophisch kom‐ ponierten, vom ganzen Chor gesungenen Lied macht deutlich, dass hier zwei gänzlich verschiedene Formteile zur Debatte stehen, die als solche sicherlich auch durch ein antikes Publikum wahrgenommen wurden. Der Bruch zwischen den in den Sprechversen und der lyrischen Partie angedeuteten Wertungen von Elektras Handeln wird bereits durch die formale Verschiedenheit zu einem ge‐ wissen Teil aufgefangen;294 die Konventionalität der kommentierenden Doppel‐ verse auf der einen sowie die betont allgemeingültige und wiederum genealo‐ gisch konzentrierte Reflexion des Chorliedes auf der anderen Seite verstärken den strukturellen und inhaltlichen Kontrast zwischen den beiden Partien und lassen einen Vergleich wenig sinnvoll erscheinen. Wenn P AULSEN dabei von einem „Gesinnungswandel des Chors“ ausgeht,295 der sich zwischen den kommentierenden Aussagen im Epeisodion und dem Stasimon bzw. im Lied selbst vollzogen hat, dem Chor, der „durch eigene Refle‐ xion seine bisherige Haltung als falsch erkennt“,296 gar einen „Erkenntnisfort‐ schritt“ zuschreibt, rettet er damit zwar die von ihm vertretene einheitliche Charakterisierung des Chors als dramatischer Person. Allerdings verkennt er damit sowohl die eben herausgearbeiteten formalen und strukturellen Diffe‐ renzen als auch die gattungsinhärenten Implikationen. Zudem konstituiert er,

293 294 295 296

F INGLASS (2007) S. 427 sieht die Funktion des vorliegenden zweiten Stasimons darin, eine möglichst positive Ausleuchtung der Protagonistin zu geben, damit die folgende Klage Elektras ihre volle emotionale Wirkung entfalten kann. Vgl. F INGLASS (2007) S. 427, der aus ähnlichen Gründen zur Bewertung kommt: „[…] the inconsistency is not as blatant as it might have been had the chorus made an impassi‐ oned appeal on the side of Chrysothemis“. P AULSEN (1989) S. 58. Ders. S. 59.

2. Elektra

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wie er selbst zugibt,297 das innerhalb des uns überlieferten sophokleischen Werks einmalige Exempel eines Chors, der durch eigenes Nachdenken seine Meinung ändern würde.298 Man wird sich gegen P AULSEN am ehesten F INGLASS anschließen, wenn er festhält: „It rather appears that dramatic necessity has taken precedence over consistency of characterisation.“299 Dabei gilt allerdings zu bedenken, dass ein Widerspruch zur „einheitlichen Charakterisierung“ des Chors an unserer Stelle nur entdeckt werden kann, wenn man eben davon ausgeht, alle Äußerungen des Chors (d. h. auch die des Chorführers) müssten sich in ein strenges Schema von Konsistenz fügen. Alternativ dazu führt eine Bestandsaufnahme jenseits des a priori angenom‐ menen Konzepts der Einheitlichkeit des chorischen Charakters an unserer wie anderen Stellen300 zu folgendem Ergebnis: Zum einen stellt der Chor freilich eine im Groben einheitliche Person mit dementsprechend weitestgehend kohärenten Ansichten dar. Der Dichter aber ist kein Erfüllungsgehilfe dieser Kohärenz, son‐ dern verfügt frei über die von ihm geprägten Figuren und deren Aussagen. Die Problematik liegt so weniger im Text selbst als vielmehr in den Vorstellungen und Konzepten, die an ihn herangetragen werden. Nach dieser Klärung kann die Analyse des Standliedes selbst erfolgen. Mit seinen vierzig Versen ist es die längste rein chorische Partie der ganzen Tragödie und gliedert sich formal in zwei Strophenpaare. Wieder lassen die direkten Anreden an Elektra im zweiten Strophenpaar (v. 1084 ff. sowie 1090 ff.) erkennen, dass Elektra die Bühne nicht verlassen hat.301 Sprachlich stellt das Stasimon dabei die

297

298 299 300 301

Ders. S. 59 f., Anm. 113. Die bereits durch P AULSEN selbst in ihrer Beweiskraft einge‐ schränkte Parallele zur Antigone (v. 1091 ff.) verliert angesichts der die chorischen Par‐ tien im ersten Teil dieser Tragödie prägenden Ambivalenz erneut an Relevanz: Von einer Änderung der Meinung des Chors zu sprechen insinuiert, der Chor habe im Vor‐ feld eine fest umrissene Meinung (zu Gunsten Kreons) geäußert; das ist nicht der Fall. Vgl. F INGLASS (2007) S. 427: „Nothing in the interval [zwischen den Doppelversen und dem Stasimon] could motivate this change on realistic grounds“. F INGLASS (2007) S. 427. Vgl. z. B. das Ende des Standliedes im Philoktet (v. 719 ff.) oder das mit den bisherigen Äußerungen des Chors in gewissem Kontrast stehende dritte Stasimon des Oidipus Ty‐ rannos (v. 1086 ff.). Aus dem Gespräch der Chorführerin mit dem in Vers 1098 aufgetretenen Orest lässt sich ablesen, dass Elektra zur Seite, d. h. aus dem unmittelbaren Geschehen herausge‐ treten sein muss (v. 1105 f.).

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II. Frauenchöre

vielleicht schwierigste Partie des Dramas dar302 und gibt auch durch seine Ver‐ bindung vieler motivischer, thematischer und begrifflicher Stränge weiten Raum zur Interpretation. Machen wir uns in einem ersten Durchgang die grund‐ legende Gedankenbewegung des Stasimons klar, bevor wir im Folgenden ver‐ suchen, die poetische Gestaltung, einzelne Motive sowie die dramaturgische Relevanz des Chorliedes herauszuarbeiten. Der Chor beginnt seine Reflexion mit einer bildhaft-poetischen Frage, die wegen ihres ausgreifenden Periodenbaus hier nicht paraphrasiert, sondern im Original wiedergegeben und übersetzt werden soll: τί τοὺς ἄνωϑεν φρονιμωτάτους οἰωνοὺς ἐσορώμενοι τροφᾶς κηδομένους ἀφʼ ὧν τε βλάστωσιν ἀφʼ ὧν τʼ ὄνασιν εὕρωσι, τάδʼ οὐκ ἐπʼ ἴσας τελοῦμεν; Warum bewerkstelligen wir, wenn wir sehen, wie oben die vernünftigsten Vögel303 sich um Nahrung für die sorgen, von denen sie gewachsen sind, von denen sie auch Nutzen empfangen, das nicht in gleicher Weise? (v. 1058 – 1063)

Die mit einem leichten Vorwurf an sich selbst (und rückblickend an Chryso‐ themis) vorgebrachte Frage hinsichtlich der Sorge um die eigenen Eltern findet ihre entschiedene Beantwortung sogleich im Folgenden: Nicht lange (δαρόν),

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303

Vgl. B URTON (1980) S. 208: „The second stasimon […] is noteworthy for the difficulty of its language, some of which eludes precise interpretation“. Dazu kommt, dass vor allem im zweiten Strophenpaar die Textüberlieferung an einigen Stellen korrupt ist. Vgl. dazu im Besonderen F INGLASS (2007) S. 426 („The second strophic pair suffers from a more than usually corrupt text“) und 433 ff. Die sprachlichen und textkritischen Schwierig‐ keiten sind in dieser Untersuchung allerdings von untergeordneter Wichtigkeit. Gemeint sind dabei wohl die Störche; vgl. dazu die Diskussion bei F INGLASS (2007) S.  427.

2. Elektra

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so der Chor, bleibe man auf diese Weise ohne Drangsal (ἀπόνητοι).304 Die be‐ kräftigende gedoppelte Schwurformel τὰν Διὸς ἀστραπάν καὶ τὰν οὐρανίαν Θέμιν (v. 1063 f.) verleiht der Aussage des Chors nicht nur besonderen Nach‐ druck. Vielmehr spiegelt sich in ihr zum einen der im vorangegangenen Epeis‐ odion prominent entfaltete Diskurs über Recht und Strafe: Mit Zeus ist der Ga‐ rant der Rechtssicherheit und Bestrafer möglicher Fehltritte, mit seiner zweiten Frau Themis305 das personifizierte göttliche Recht selbst zu Zeugen angerufen. Des Weiteren fügt sich die Anrufung der dezidiert im Himmel verorteten gött‐ lichen Gestalten in die imaginierte Blickrichtung nach oben, die den Beginn der Strophe prägte. Schlagartig wendet sich darauf der Fokus des Chors vom Himmel und den dort verorteten Ereignissen sowie göttlichen Entitäten ab und nimmt die Un‐ terwelt in den Blick: In direkter Anrede wird die „irdische, den Menschen eigene Stimme“ (χϑονία βροτοῖσι φάμα) aufgefordert, hinab zu den (verstorbenen) At‐ riden eine jammervolle Rede (οἰκτρὰν ὄπα) erschallen zu lassen und dabei die tanz-, d. h. freudlosen (ἀχόρευτα) Schandtaten des in Rede stehenden Ge‐ schlechts mit sich zu führen. Die Gegenstrophe formuliert in direktem syntaktischen Anschluss (ὅτι) den Inhalt dieser an die Atriden gerichteten Botschaft: Schon lange (ἤδη) kranke (νοσεῖται) der Zustand ihres Hauses, und selbst im Verhältnis der Kinder zuei‐ 304

305

Eine völlig andere Interpretation bietet K ELLS (1973) S. 179 ff. Ausgehend vom Wider‐ spruch zwischen der Bewertung Elektras durch den Chor im Epeisodion sowie im Sta‐ simon sieht er in der vorliegenden ersten Strophe nicht nur das einseitige Verhältnis von Kindern zu ihren Eltern thematisiert, sondern versucht, die gesamte reziproke Be‐ ziehung in den Blick zu nehmen („the whole reciprocal affection and mutual sense of obligation of parents and children“ S. 180). Dabei, so K ELLS , komme es dem Chor darauf an, gerade auch die „Pflichtverletzung“ der Eltern gegenüber ihren Kindern zu thema‐ tisieren („all parents who may have neglected their duty to their children“ sowie „the further context suggests that it is effectively the parents who are being complained about more than the children“ S. 181). Im speziellen Fall sei es dabei der mit Ἀτρείδαις v. 1068 gemeinte Agamemnon, dem der Chor vorwerfe, sich nicht aus der Unterwelt heraus einzumischen und seiner Nachkommenschaft zu helfen („Why, that he does not intervene to help his struggling offspring“ a. a. O.). Wenn auch diese Interpretation die plötzliche Blickwendung in die Unterwelt nachvollziehbar macht, bleibt sie doch mit Blick auf den Strophenbeginn zweifelhaft. Darüber hinaus ist es fraglich, ob die myke‐ nischen Frauen ihren ehemaligen Herrscher im vorliegenden Maß kritisieren würden; auch der Bezug des so verstandenen Beginns zum Rest des Liedes birgt einige Probleme. Im Ganzen wird man K ELLS nicht folgen können; mit seinem Verständnis der Stelle scheint er mir zudem im Rahmen der Interpreten alleine zu sein. Vgl. dazu B URTON (1980) S. 209: „The traditional interpretation of the opening sentence of the first strophe is probably correct“ sowie seine konkret auf K ELLS bezogene Anmerkung 33 S. 208: „In spite of his ingenuity, his argument does not convince me“. Zur Gestalt der Themis vgl. F INGLASS (2007) S. 428 ad locum.

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nander herrsche „doppelter Streit“ (διπλῆ φύλοπις), der nicht mehr in einer angenehmen, von gegenseitiger Freundschaft geprägten Lebenssituation (φιλοστασίῳ διαίτᾳ) beglichen werde. In Vers 1074 kommt Elektra in den Blick des Chors: Sie schwanke (σαλεύει) alleine und preisgegeben, wobei sie, der stets klagenden Nachtigall (ὅπως ἁ πάνδυρτος ἀηδών v. 1077) vergleichbar, immerzu das Unglück ihres Vaters (οἶτον πατρός) bedauere;306 dabei sei sie allerdings nicht im Geringsten um das eigene Sterben besorgt, sondern vielmehr bereit dazu, nicht mehr „zu sehen“, d. h. zu sterben. Sie habe eine gleich zweifache Erinys (διδύμαν Ἐρινύν) gewählt. Damit sind, wie F INGLASS zu Recht angibt, die beiden Opfer einer ins Auge gefassten Rache gemeint: Aigisth und Klytaim‐ nestra.307 Freilich mag dabei ebenso der Gedanke an die beiden jüngsten Opfer der Familie, Agamemnon und Orest, mitschwingen; denn auch wenn weder Klytaimnestra noch Aigisth für den Tod des Letzteren direkt verantwortlich sind, seien sie immerhin Nutznießer der Gegebenheiten und verdienten bereits deswegen aus Sicht Elektras eine Bestrafung auch für Orests Tod. Mit einer die Größe Elektras bewundernden Frage in Vers 1081 „Wer könnte wohl so edel (εὔπατρις) sein (wie Elektra)?“ schließt das erste Strophenpaar. Führen wir uns hier kurz vor Augen: Die erste Strophe begann mit dem aus Sicht des Chors bemerkenswerten Exempel von Fürsorge gegenüber den Eltern, wie sie im Tierreich anzutreffen ist. Die Blickwendung in die Unterwelt zu den Atriden verortete daraufhin die Reflexion konkret im Rahmen der Handlung und leitete zu einer Beschreibung Elektras über, die das Hauptmoment der Ge‐ genstrophe darstellte. Trotz des dem unmittelbaren Geschehen scheinbar ent‐ hobenen Beginns ist also auch das vorliegende Stasimon dezidiert eine Ausdeu‐ tung der momentanen Situation, wie sie sich für Elektra darstellt; ihre Entscheidung, nun auch aktiv in den Lauf der Ereignisse eingreifen zu wollen, 306

307

Der überlieferte Text ist an dieser Stelle (v. 1074 f.) in vielerlei Hinsicht problematisch; während P EARSON (1924) noch versucht, sich der Überlieferung möglichst eng anzu‐ schließen, die Erwähnung des Vaters (πατρός v. 1075) allerdings durch das weitaus blassere πάρος ersetzt, folgen L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) und F INGLASS (2007) über‐ einstimmend verschiedenen Konjekturen, die stärker in den Text eingreifen (vgl. im Besonderen die Diskussion bei F INGLASS (2007) S. 431), wohingegen D AWE (1996) den ersten Teil von Vers 1075 in cruces setzt. Ich folge hier im zweiten Teil von Vers 1075 der Textrekonstruktion von L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) und F INGLASS (2007). Dessen Rechtfertigung, im Anschluss an Heath die einhellig überlieferte Namensnen‐ nung Elektras zu Beginn von v. 1075 durch ἁ παῖς zu ersetzen, kann allerdings nicht im Mindesten überzeugen: „after all, proper names are often interpolated“ (S. 431); sein Kommentar zur gewählten Lösung („though not certain, solves our difficulties“ a. a. O.) zeugt darüber hinaus von gewissen Bedenken angesichts der drastischen Eingriffe in die Überlieferung. Vgl. dazu F INGLASS (2007) S. 432.

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bildet den Anstoß für die chorische Reflexion, die ihr Tun in einen weiteren, zunächst genealogisch-familiären Kontext einzuordnen sucht. Eine allgemeingültige, dennoch direkt an Elektra adressierte Aussage eröffnet im Folgenden die zweite Strophe: Keiner der „Guten“ (οὐδεὶς τῶν ἀγαθῶν v. 1082) wolle auf üble Weise seinen guten Ruf schänden (εὔκλειαν αἰσχῦναι) und νώνυμος werden, d. h. seinen Namen verlieren. Die vom Chor intendierte direkte Anrede an die Hauptheldin führt der gedoppelte, vertraute Vokativ παῖ (v. 1084) besonders eindrücklich vor Augen. Auch Elektra selbst (betont bezeichnet durch σύ v. 1085) habe ein tränenreiches Leben gewählt. In den folgenden Versen 1086 f. haben einige Interpreten schwerwiegende Probleme erkannt; das Ver‐ ständnis der Passage ist durch die vielfältigen Vermutungen und Heilungsver‐ suche des (angeblich) verderbten Texts erheblich erschwert.308 Soviel lässt sich zum Inhalt allerdings sagen: Elektras Wahl des bedauernswerten Lebens sei, aus der Sicht des Chors, gleichbedeutend mit der Entscheidung, als weise und be‐ sonders herausragende Tochter (σοφά τʼ ἀρίστα τε παῖς v. 1089) zu gelten. Damit ist die positive Wertung Elektras durch die Choreuten besonders eindrücklich und prägnant formuliert. Die zweite Gegenstrophe eröffnet ein Wunsch der mykenischen Frauen: Elektra möge in dem Maße an Einfluss und Reichtum (χειρὶ καὶ πλούτῳ v. 1091) ihren Gegnern überlegen leben, wie sie jetzt noch unter deren Einfluss steht (ὑπόχειρ ναίεις). In der ersten Person Singular fahren die mykenischen Frauen fort: Sie hätten wahrgenommen, dass Elektra zwar in keiner guten μοῖρα stehe, dennoch die Rechtssatzungen (νόμιμα) mit sich trage, die überhaupt die stärksten (μέγιστα) seien – und das, in betonter Schlussstellung ganz am Ende des Stasimons gesagt, auf Grund ihrer frommen Haltung gegenüber Zeus (τᾷ Ζηνὸς εὐσεβείᾳ).

308

Vgl. insbesondere die Diskussion bei F INGLASS (2007) S. 433 ff. sowie B URTON (1980) S. 213 f. Während man sich der Änderung des einhellig überlieferten, aber schwer zu verstehenden κοινόν (v. 1086, auf αἰῶνα bezogen) in κλεινόν durch L LOYD -J ONES / W ILSON (1990) unter Umständen noch anschließen kann, erscheint ihre Lösung im fol‐ genden Vers 1087 (ἄκος καλόν („Heilmittel, Linderungsmittel“) statt des überlieferten τὸ μή) nicht mehr tragbar. Wo liegt das Problem? Am einhellig überlieferten τὸ μὴ καλὸν καθοπλίσασα hat man verschiedentlich Anstoß genommen; mit den Scholien, wie F INGLASS  S.  435 ausführt, καθοπλίζω als „bekämpfen, einnehmen“ und τὸ μὴ καλόν als direktes Objekt zu verstehen, scheint mir (gegen K AMERBEEK selbst) gegenüber der Setzung von cruces (K AMERBEEK (1974), D AWE (1996)) bzw. der Konjektur durch L LOYD -J ONES /W ILSON allerdings eine gangbare Alternative zu sein. Erneut bietet K ELLS (1973) eine eigene Rekonstruktion von Text und Sinngehalt (S. 62 bzw. 183 f.), die seiner oben ausgeführten Interpretation der ersten Strophe Genüge zu tun sucht. Wie an der ersten Stelle, so fällt es auch hier schwer, ihm zu folgen.

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II. Frauenchöre

Das Standlied schließt mit einem forcierten Blick auf die Hauptheldin: Ihr Entschluss, nun aktiv in den Lauf der Dinge einzuschreiten, wird vom Chor positiv bewertet. Dass im direkten Anschluss an das Stasimon mit seiner pro‐ minenten Ausleuchtung der Einsamkeit Elektras gerade Orest (freilich zunächst inkognito) auftritt (v. 1098), stellt ein Moment geradezu beißender dramatischer Ironie dar.309 Betrachten wir nach diesem kurzen Durchgang die motivische Struktur und thematische Einbindung des Liedes in den Kontext. Machen wir uns dabei klar: Im Zentrum auch dieses Chorliedes steht Elektra, die Protagonistin der Tragödie und im Rahmen des Personenspektrums der Tragödie alleinige Bezugsperson des Chors. Die Reflexion gilt dabei sowohl der dramatischen Gegenwart als auch der intendierten Zukunft, für die mit Elektras Bereitschaft, den Vater selbst zu rächen, entscheidende Weichen gestellt zu sein scheinen. Verbunden ist dieser Blick auf die Hauptperson mit einer moralischen Wer‐ tung, die den vorhergehenden Konflikt zwischen den beiden Schwestern auf‐ greift und aus Sicht des Chores eindeutig löst. Elektras Plan, selbst ihren Vater zu rächen, ist bei den Frauen auf Zustimmung gestoßen; auf Grund der Reflexion steht für sie fest: Elektra handelt aus εὐσέβεια gegenüber Zeus und gibt ein Beispiel herausragender Sorge um die eigenen Eltern. Während der Chor dabei im ersten Strophenpaar über Elektra spricht, ist das zweite Stophenpaar als di‐ rekte Anrede der Protagonistin gestaltet (besonders prominent die Vokative v. 1084, σύ v. 1085 sowie die Optativform in der zweiten Person Singular zu Beginn der zweiten Gegenstrophe v. 1090), wohingegen die (namentliche)310 Nennung der Protagonistin bereits im ersten Strophenpaar und darüber hinaus in der Mitte des Liedes (v. 1057) stattfand. Die durch den Chor intendierte Gesprächs‐ situation mit dem Wechsel vom Reden über zum Reden mit Elektra bildet die Zweiteiligkeit des gesamten Stasimons ab. Der Beginn des Stasimons läuft ge‐ radezu konzentrierend auf Elektra zu: Der scheinbar unmotiviert schweifende Blick in den Himmel konkretisiert sich zunächst zu einer Betrachtung der At‐ riden in der Unterwelt, richtet sich also auf vergangene Taten und Geschehnisse, um schließlich in der dramatischen Realität beim eben miterlebten Geschwis‐ terstreit und endlich bei der Zentralfigur zu landen. Dabei werden verschiedene zeitliche Ebenen angesprochen: So kommt zu‐ nächst die gegenwärtige Lage Elektras in den Blick (μόνα σαλεύει), um schließ‐ lich in Elektras Unbeirrbarkeit (τοῦ θανεῖν προμηθής) eine Aussicht auf die Zu‐ 309 310

Vgl. B URTON (1980) S. 214: „This coup de théâtre is of course immediately obvious to the audience, who know the details of the plot from the prologue“. Vgl. die textkritischen Ausführungen zu v. 1075 S. 402, Anm. 306.

2. Elektra

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kunft zu bieten. Die das erste Strophenpaar abschließende Frage in Vers 1081 ist dabei inhaltlich und begrifflich (βλάστοι v. 1081 sowie βλάστωσιν v. 1060) ein Bezug zum Beginn: Das Bild der Vögel erweist sich nicht nur als poetischer Einstieg in die Reflexion und als handlungsferner Impuls. Es ist vielmehr bereits auf Elektra bezogen und verweist damit selbst auf den dramatischen Kern des Liedes. Die Reflexion ist so, auch wenn die Protagonistin erst in der Mitte des Liedes in den Fokus gerät, von Anfang an in der dramatischen Situation präsent. Der Beginn des Stasimons bietet also einen Perspektivwechsel im besten Sinn. Die Bewegung des Blickes bildet dabei den Gedankenfortschritt ab, im Aufsehen in den Himmel und der entgegengesetzten Wendung nach unten fallen poeti‐ sches Bild und reflektierende Blickrichtung zusammen. Mit eingewoben in diese Verbindung ist, wie gesehen, der Blick auf verschiedene Zeitebenen, der die dramatische Situation anzureichern und einzuordnen versucht. Das zweite Strophenpaar beginnt wieder scheinbar allgemein, setzt die getä‐ tigte Aussage allerdings sogleich emotional in Beziehung zu Elektra311 (vgl. den verdoppelten Vokativ v. 1084) und widmet sich im Folgenden ganz der Prot‐ agonistin und ihrer Situation. Wieder werden dabei die verschiedenen Zeit‐ ebenen miteinander verknüpft: Vers 1085 f. widmet sich dem tränenreichen Leben Elektras in der Vergangenheit (εἵλου), die kommende Auseinanderset‐ zung bzw. die aktuelle Situation klingt in Vers 1087 (καθοπλίσασα) an, wohin‐ gegen der Wunsch 1090 ff. eine Zukunftsaussicht bietet. F INGLASS weist zurecht auf das poetische Spiel mit den Begriffen von „oben“ und „unten“ hin (καθύπερθεν gegenüber ὑπόχειρ v. 1090 ff.), das in seiner Wiederaufnahme vom Beginn des Stasimons auch das zweite Strophenpaar prägt.312 Die besondere motivisch-strukturelle Rundung des Liedes liegt offen zu Tage: Die einzelnen Teile stehen in einer logischen, teilweise durch das poetische Bild des Blickes nach oben und unten nachzuvollziehenden Beziehung zueinander. Elektra, ihre Situation und ihre Entscheidung bilden dabei das eigentliche Zentrum der Reflexion. Eine Vielzahl bereits bekannter Motive und Begriffe finden sich im Chorlied wieder. Betrachten wir einige Beispiele: Mit der Fürsorge um die Eltern nimmt der Chor eine zentrale Aussage der Auseinandersetzungen im vergangenen Epeisodion, ja der gesamten Tragödie auf: Schon im ersten Kommos (v. 145 f.) hatte Elektra auf die Notwendigkeit, sich auch der bereits verstorbenen Eltern (ehrenvoll) zu erinnern, hingewiesen; beim Versuch, ihre Schwester zu über‐ 311 312

Vgl. F INGLASS (2007) S. 426: „So both strophes begin with a comment of general appli‐ cation before turning to the specific situation“. Vgl. F INGLASS (2007) S. 426 f.: „a play with ideas of above and below“.

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II. Frauenchöre

zeugen, war die εὐσέβεια ἐκ πατρός (v. 968) ein zentraler Argumentationspunkt gewesen. Das zweite Motiv, das Elektra bei dieser Situation angeführt hatte – den Ruhm bei ihren Zeitgenossen (εὔκλεια v. 973) – , verarbeitet der Chor eben‐ falls mit der Wiederaufnahme des Begriffs (v. 1083) im zweiten Strophenpaar. Der Vergleich Elektras mit der immerzu klagenden Nachtigall war bereits in Vers 107 von der Protagonistin selbst eingeführt worden; das lautmalende Ad‐ jektiv δειλαία (v. 1076) nimmt dabei die schon oben erwähnte Junktur aus Vers 849 wieder auf. Mit der Zuschreibung εὔπατρις (v. 1081) wenden die Frauen ein Adjektiv, das in den Versen 161 und 857 auf Orest zielte, nach dessen als sicher angenommenem Tod auf Elektra an.313 Das Denken in den Kategorien von Ver‐ geltung und Sühne (θέμις, Διὸς ἀστραπά) hatte darüber hinaus das ganze erste Stasimon beherrscht; das zweite Standlied intensiviert diese Motivik und prä‐ sentiert angesichts von Elektras Entschluss, selbst in die Handlung einzugreifen, die am dramatischen Geschehen orientierte Konkretisierung der zunächst ent‐ personalisiert vorgestellten Rachevision. Die prominente Platzierung der εὐσέβεια am Ende des Liedes (v. 1097) scheint zudem eine Reminiszenz an den ersten Kommos zwischen Elektra und dem Chor zu sein, in dem die verbitterte Absage der Protagonistin an die Frömmigkeit der Sterblichen den effektvollen Schlusspunkt setzte (εὐσέβεια θνατῶν v. 250).314 Fassen wir zusammen: Im vorliegenden Stasimon werden prominente Motive und Begriffe aus allen Partien der Tragödie verarbeitet, zusammengefasst oder in spezifischer Weise umgedeutet. Das Stasimon ist nicht nur in sich selbst in höchstem Maße absichtsvoll komponiert, sondern steht mit dem Vorangegan‐ genen in engster, teils durch wörtliche Wiederaufnahme gewisser Begriffe und Motive besonders prägnanter Verflechtung. Welchen Zweck erfüllt das Standlied nun im dramatischen Zusammenhang? Zu diesem Zweck soll es zunächst innerdramatisch von seinem Ende her be‐ trachtet werden. Indem der Chor hier Elektra seine Anerkennung und sein Lob ausspricht, wirft er geradezu den letzten Blick auf die Protagonistin, bevor eine für sie neue Situation hereinbricht. Die Aussichten des Chors (und der Prot‐ agonistin) sind nach der Auseinandersetzung mit Chrysothemis klar: Elektra ist bereit, die Rache ihres Vaters in Angriff zu nehmen und nun – zum ersten Mal – selbst in Aktion zu treten. Ganz von diesem Fortgang überzeugt zeichnen die Frauen das Bild der tugendhaften und gottesfürchtigen Frau und nehmen damit den von Elektra selbst vorausgesagten Ruhm (v. 975) vorweg. Dass sich aller‐ dings diese Erwartung nicht erfüllen, sondern der baldige Auftritt Orests eine

313 314

Vgl. F INGLASS (2007) S. 433. Vgl. B URTON (1980) S. 213.

2. Elektra

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Wende bringen wird, wissen die Frauen des Chors ebenso wenig wie Elektra selbst. Die dem Lied implizit zu Grunde liegenden Erwartungen werden so zu‐ nächst enttäuscht. Anders gesagt: Das Stasimon in seinem lobenden Duktus findet in diesem Sinn keine direkte Entsprechung im Folgenden; da sich der Chor im weiteren Verlauf der Tragödie nicht noch einmal mit der Person Elektras beschäftigen wird, wirkt das Lied als Bündelung verschiedener Motive und Zu‐ sammenfassung des Gewesenen, wird allerdings im Folgenden nicht mehr auf‐ genommen und entbehrt einer Fortsetzung. Das Stasimon bildet vielmehr den letzten ausführlichen und unbeantworteten Blick des Chors auf Elektra. Im konkretisierenden Rückbezug auf das erste Standlied rundet das vorliegende Stasimon zudem einen Großabschnitt der Tragödie. Es nimmt dabei besonders mit der Zukunftsversion der abschließenden Gegenstrophe konkret den Fort‐ gang der Handlung in den Blick, indem er Elektras Einschreiten implizit in Aus‐ sicht stellt. Zuschauer (und Leser) haben nach dem Chorlied freilich eine andere Erwar‐ tungshaltung. Das Wissen darum, dass Orest schon längst hinterszenisch in die Handlung eingegriffen hat, führt zu einer neuen Bewertung der chorischen Aussagen: Nachdem nun Elektra auch die Gemeinschaft mit ihrer Schwester verloren und das Chorlied den Fokus auf diese einsame Stellung der Protago‐ nistin gelegt hat (πρόδοτος μόνα σαλεύει v. 1074), rückt die dahingehend kon‐ trastierende Ankunft Orests in greifbare Nähe. Im Sinne der dramatischen Fü‐ gung emotional verschieden gefärbter Teile315 fordert die Zukunftsaussicht des Stasimons geradezu den durch den Prolog schon angelegten Fortgang, der sich von den Erwartungen der Personen im Drama selbst unterscheidet. Anders ge‐ sprochen: Schon das erste Stasimon in seinem sicheren Ausblick auf die kom‐ mende Rache war der hoffnungsvoll-optimistische Auftakt für eine weitere Be‐ währungsprobe Elektras (das Gespräch mit Klytaimnestra) sowie ihre Enttäuschung auf Grund der (fingierten) Todesnachricht. Nachdem der folgende Kommos die Lage Elektras beleuchtet und die Auseinandersetzung mit Chry‐ sothemis aus ihrer größtmöglichen Isolierung die entschiedene, beinahe schroff und bissig vorgetragene Tatbereitschaft entwickelt hat, rundet das Chorlied diesen Abschnitt ganz im Sinn des Vorangegangenen. Gerade indem es die Aus‐ sicht auf das mögliche Eingreifen Elektras in die Handlung vorbringt, ihre Pla‐ nungen und Motive moralisch bewertet und in der Verbindung verschiedener Zeitebenen ein abschließendes Panorama der Protagonistin bietet, bereitet es den kontrastreichen Hintergrund für die im Folgenden endgültig vorderszenisch 315

Dass damit ein besonders spezifisches Moment der Komposition der vorliegenden Tra‐ gödie benannt ist, zeigte bereits die kontrastreiche Fügung von Prolog und Auftritts‐ szenerie der Protagonistin bzw. des Chors.

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II. Frauenchöre

einsetzende Orest-Handlung. Die im Stasimon gegebene Ausleuchtung Elektras entbehrt nicht nur einer Fortsetzung, sie wird durch den Fortgang der Handlung bis zu einem gewissen Grad sogar konterkariert: Statt selbst in die Handlung einzugreifen und ihre besondere charakterliche Disposition nun in Aktion zu entfalten, wird sie dem Geschehen im Folgenden zwar mit besonderer Anteil‐ nahme folgen, selbst allerdings keinen aktiven Beitrag bei der Racheaktion leisten. Dass dabei der Auftritt Orests in Vers 1098 unangekündigt geschieht und – wie schon zum Ende des zweiten Kommos v. 871 – die intimere Atmosphäre unterbricht,316 passt ins Bild und erreicht den schon an anderen Stellen mit diesem Mittel intendierten Effekt: Die Handlung geht sofort weiter und entwi‐ ckelt sich dabei in eine Richtung, die von der Stimmung des Vorangegangenen verschieden ist. Der Auftritt der Person bringt etwas Neues, das sich entschieden vom eben Verklungenen absetzt. Drittes Stasimon mit anschließendem Wechselgesang (v. 1384 – 1441)

Der mit dem Auftritt Orests beginnenden Szene folgt der Chor nach dem kurzen, rein dem Informationsaustausch dienenden Wortwechsel mit dem neu Hinzu‐ getretenen bis auf zwei kürzere Einwürfe (v. 1171 ff. sowie 1230 f.) still. Von dra‐ maturgischem Interesse ist dabei einzig die erste längere Aussage Vers 1171 ff. Kurz soll die Handlung der Szene bis zu diesem Punkte repetiert werden. Orest hatte, nachdem er vom Chor an Elektra verwiesen worden war, ihr – ohne zu wissen, wer sie ist – die angebliche Urne mit den sterblichen Überresten ihres Bruders gezeigt bzw. übergeben (v. 1117 f.). Die Angesprochene war daraufhin in eine ausführliche Klage ausgebrochen (v. 1126 – 1170); inhaltlich standen dabei das innige Verhältnis der beiden Geschwister zueinander, Elektras eigene Für‐ sorge um ihren Bruder und schließlich ihre eigene Situation im Mittelpunkt. Der vom Chor daraufhin eingeworfene Allgemeinplatz (v. 1171 ff.) wirkt auf den ersten Blick teilnahmslos bis kühl:317 Elektra sei von einem sterblichen Vater geboren (θνητοῦ πέφυκας πατρός), und auch Orest sei sterblich (θνητὸς δʼ Ὀρέστης); übermäßig solle sie nicht klagen, sie alle (erste Person Plural) nämlich müssten dies erleiden, d. h. sterben. So unspektakulär die Worte des Chors sind, geben sie doch mit der Namensnennung Elektras im Vokativ (v. 1171) einen

316

317

Natürlich hat sich – anders als in den Kommoi zwischen dem Chor und der Protago‐ nistin – kein Dialog entsponnen, Elektra ist sogar in den Hintergrund getreten. Den‐ noch erzeugt die Stilisierung vor allem des zweiten Teils des Chorliedes als einer Anrede an die Hauptperson (v. 1084) die Stimmung einer vertraulichen Szenerie, wie sie in den lyrischen Passagen bisher die Regel war. Vgl. F INGLASS (2007) S. 457: „The distant response of the chorus to Electra’s speech“.

2. Elektra

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entscheidenden Impuls: Orest, der wohl schon während des Monologs Vermu‐ tungen über die Identität der ihm Gegenüberstehenden angestellt hat, fällt nach der chorischen Intervention mit einer Wehklage ein. Auf die Nachfrage der Prot‐ agonistin gibt er in Form einer Frage den Grund seiner plötzlichen Emotionalität an: ἦ σὸν τὸ κλεινὸν εἶδος Ἠλέκτρας τόδε; Ist etwa diese deine Gestalt die berühmte [Gestalt] Elektras? (v. 1177)

Die Wiederholung des Namens nach sechs Versen (an der gleichen metrischen Position) macht den Bezug und die dramatische Relevanz des chorischen Ein‐ wurfs deutlich: Durch die gezielte Mahnung des Chors an die Protagonistin wird sich Orest der brisanten Situation bewusst, seiner Schwester gegenüberzu‐ stehen. Die konventionelle Reaktion des Chors auf Elektras Klage hat somit eine wichtige dramatische Funktion und bildet den direkten Auftakt zur sich an‐ schließenden gegenseitigen Wiedererkennung. In die folgende, die eigentliche Wiedererkennungsszene,318 mischt sich der Chor nicht ein. Den zentralen Moment der Tragödie gestaltet der Dichter mit besonderer formaler Strenge: Das Gespräch der beiden Geschwister vollzieht sich mit einer kurzen Ausnahme (v. 1209 f.) über mehr als vierzig Verse (v. 1176 – 1219) zunächst streng stichomythisch, was der Szenerie nach Elektras ausführlichem Monolog besondere Dynamik verleiht. Die Intensität des Ge‐ sprächs steigert sich im antilabischen Teil (v. 1220 – 1226) erneut: Jeweils zur Penthemimeres wechseln die Sprecher, wobei Orest im zweiten Teil der Verse Elektras Fragen beantwortet. Die Unterbrechung dieses Schemas in Vers 1222 f. – Orests Antwort auf den verwundert-ungläubigen Ausruf Elektras umfasst ein‐ einhalb Verse – spiegelt dabei die Unterbrechung der Stichomythie in Vers 1209 unter Wechsel der Sprecher. Nachdem Orest durch das Vorzeigen eines Rings aus dem Besitz Agamemnons seine Identität endgültig bewiesen hat, wendet sich Elektra an die Frauen des Chors, die sie mit besonderer Hochachtung und in herzlicher Verbundenheit direkt anredet (ὦ φίλταται γυναῖκες v. 1227): Sie sollten, so Elektras Aufforderung (ὁρᾶτε), Orest betrachten, der durch trick‐ reiche Machenschaften (μηχαναῖσι) zunächst gestorben und nun wieder zum Leben gekommen sei. Den Abschluss der eigentlichen Wiedererkennungsszene bildet daraufhin der Doppelvers des Chors (v. 1230 f.), in dem die mykenischen Frauen bekunden, vor Freude für und mit Elektra sogar zu weinen (γεγηθὸς ἕρπει δάκρυον ὀμμάτων ἄπο v. 1231). 318

Eine ausführlichere Beschäftigung mit der Wiedererkennungsszene (auch im Vergleich zu Aischylos und Euripides) bietet F INGLASS (2007) S. 455 f.

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II. Frauenchöre

Über einhundertfünfzig Verse äußert sich der Chor im Folgenden nicht mehr. Sophokles lässt die beiden zentralen Akteure Elektra und Orest zunächst in einen lyrischen Wechselgesang, ein Duett einstimmen, in dem Elektra ihrer Freude Ausdruck verleiht, Orest hingegen zu Ruhe und Besonnenheit mahnt.319 Sowohl dem Austausch zwischen Elektra und Orest als auch der sich anschlie‐ ßenden Unterredung über das weitere Vorgehen sowie der Wiedererkennung des Pädagogen320 ab Vers 1326 folgt der Chor still. Die ausführliche Szene mündet schließlich in die (nach v. 1335 ff. erneuten) Aufforderungen des Pädagogen (v. 1367 ff.): Nun sei die Zeit zum Handeln ge‐ kommen; Klytaimnestra halte sich alleine im Innern des Hauses auf, weiteres Zögern berge die Gefahr, im Folgenden noch mehr Gegnern – d. h. konkret: neben Klytaimnestra noch Aigisth und gegebenenfalls dessen Gefolge – gegen‐ übertreten zu müssen (v. 1367 ff.). Orest stimmt seinem ehemaligen Erzieher zu und betritt mit ihm in Vers 1376 das Bühnengebäude, d. h. den Palast Klytaim‐ nestras. Bevor auch Elektra für kurze Zeit abtritt, wendet sie sich in einem Gebet an Apoll (v. 1376 – 1383) und bittet flehentlich, der Gott möge das Unterfangen der beiden Männer begünstigen und schließlich zeigen, welchen Lohn die Götter für die Verletzung religiöser Pflichten (δυσσέβεια) bereithalten. Damit ist Kly‐ taimnestras Gebet (v. 634 ff.), in dem sie den Gott um Unterstützung im Kampf gegen ihre Gegner bat, besonders wirkungsvoll konterkariert. Zum ersten Mal nach ihrem Auftritt im Anschluss an den Prolog verlässt die Protagonistin da‐ raufhin (nach v. 1383) den Ort des Geschehens. Das Ende ihrer Dauerpräsenz bündelt damit die gesamte Aufmerksamkeit auf den Chor, der in Vers 1384 das dritte Standlied anstimmt. Der Auftritt Orests und die sich anschließende(n) Wiedererkennung(en) haben die dramatische Situation aus Sicht der Hauptdarstellerin und des Chors we‐ sentlich verändert: Die Intrige ist als solche aufgedeckt, der Weg frei für die schon von Anfang an erhoffte Rache durch Orest; Elektras Sehnen ist zu einem Ziel gekommen, im ihr eigenen Überschwang hat sie – gegen die Mahnungen ihres Bruders zu Stille und Vorsicht – im Wechselgesang ihren Emotionen Aus‐ druck verliehen. Für das informierte Publikum hat sich der im Prolog begonnene dramatische Kreis geschlossen: Im Fokus des Folgenden steht weniger Elektra und ihr Seelenleben angesichts der vorherrschenden Situation, sondern die nun

319 320

Eine Einordnung des Amoibaions gibt F INGLASS (2007) S. 470 f. Die in sich wiederum besonders kunst- und effektvoll gestaltete Szene – Auftritt Pä‐ dagoge, zunächst Unterredung zwischen ihm und Orest, Wiedererkennung durch Elektra – kann hier nicht im Einzelnen behandelt werden. Ich verweise dazu auf F ING‐ LASS (2007) S. 483 ff.

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endgültig einsetzende Racheaktion in ihrer Ausgestaltung. Das Bühnenge‐ schehen gewinnt schlagartig an Tempo, was besonders die wiederholten Mah‐ nungen zur Eile durch Orest und den Pädagogen markieren. Das Abtreten aller beteiligten Personen erhöht daraufhin die Spannung: Nachdem nun endgültig die hinterszenische Orest-Handlung mit dem Geschehen auf der Bühne ver‐ knüpft wurde, treten die eigentlichen Träger der Aktion wiederum ab, um die Rache an Klytaimnestra auszuführen. Dass dabei auch Elektra ihrem Bruder folgt und in das Bühnengebäude tritt, demonstriert augenfällig, dass beide Stränge des Geschehens mit der Wiedervereinigung der Geschwister nun ver‐ knüpft sind. Mit dem (wenn auch nur kurzen) Ende ihrer Bühnenpräsenz ver‐ lagert sich an dieser Stelle das gesamte Geschehen in den hinterszenischen, dem Publikum nicht sichtbaren Raum. Das dritte Epeisodion war dabei durch den Dichter als formal besonders ab‐ wechslungsreiche Partie gestaltet worden: Mit dem verzweifelten Monolog Elektras (v. 1126 – 1170), dem stichomythischen, schließlich antilabischen Ge‐ spräch der beiden Akteure (v. 1176 – 1226), dem lyrischen Duett der Geschwister (v. 1232 – 1287), dem Auftritt einer dritten Person (Pädagoge zu v. 1326) sowie der sich anschließenden zweiten Wiedererkennung umfasst die Szenerie ein breites Panorama tragischer Formteile. Der Wechsel der Gesprächsintensität und -dynamik ist damit besonders wirkungsvoll inszeniert. Mit dem lebhaften Austausch unter den Akteuren kontrastiert die weitgehende Zurückhaltung des Chors: Sophokles komponiert so die Wiedererkennung und die unmittelbare Planung der eigentlichen Racheaktion als besonders intime Szene des engsten Kreises der an der Handlung aktiv Beteiligten. Dass er dabei dem Chor am zent‐ ralen Wendepunkt des Geschehens einzig die Rolle des Betrachters zuweist, konzentriert die gesamte Aufmerksamkeit auf das eigentliche Geschehen und die durch die Akteure selbst geleistete Emotionalisierung. Dieser Dramatisie‐ rung der entscheidenden Szene der Tragödie entspricht daraufhin auch die Ausrichtung des folgenden Standliedes: Es bietet keine Reflexion des eben Er‐ lebten, sondern sucht die sich in den hinterszenischen Bereich verlagernde Handlung selbst fortzuführen und ausdeutend zu visualisieren. Dass Sophokles die Protagonistin nach kurzer Frist aus dem Haus heraustreten lässt und das eigentliche Geschehen mit dem Chor in emotionalem Dialog darstellen wird, ist ein dramaturgischer Kunstgriff, der weiter unten behandelt werden soll. Das kurze dritte Standlied, bestehend aus Strophe und Gegenstrophe, beginnt mit der Selbstaufforderung des Chors,321 den nun vorrückenden, blutschnau‐ 321

Vgl. F INGLASS (2007) S. 504: „Such imperatives represent instances of self-address on the part of the chorus“.

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II. Frauenchöre

benden Ares zu betrachten. Der Blick des Chors folgt damit geradezu den eben Abgetretenen, die als Verkörperung der im Folgenden blutigen Rache auch im anschließenden Satz im Blick bleiben: So konstatieren die Frauen, dass die Hunde (κύνες) als Rächer der furchtbaren Übel (κακῶν πανουργημάτων) bereits ins Haus getreten seien (vgl. das Perfekt βεβᾶσιν v. 1386). Die Folgerung (ὥστʼ) des Chores: Das eigene Traumbild (τοὐμὸν ὄνειρον) werde nicht lange auf seine Realisierung warten lassen (οὐ μακρὰν ἀμμενεῖ). In Form einer Begründung (γάρ) liefert der Beginn der Gegenstrophe eine weitere bildhafte Nachzeichnung des eben Geschehenen: Der mit List einher‐ gehende Verteidiger bzw. Rächer der sich in der Unterwelt befindenden Toten (ἐνέρων ἀρωγός) werde gerade ins Haus gebracht,322 in der Hand eine frisch zum Blutvergießen gespitzte Waffe (νεακόνητον αἷμα – eine kühne Verquickung des eigentlich das Ergebnis bezeichnenden Substantivs mit einem auf die Waffe be‐ zogenen Adjektiv). Hermes führe ihn, indem er die List im Verborgenen ver‐ heimliche, das Ziel nicht aus den Augen verliere und keine weitere Verzögerung eintreten lasse (κοὐκέτʼ ἀμμένει). Soweit das eigentliche Stasimon, das durch den Auftritt Elektras in Vers 1398 unterbrochen wird. Wie lässt sich das vorliegende Stasimon in den Kontext der anderen chorischen Äußerungen einordnen? Die Bezüge zum Strophenpaar des ersten Standliedes sind dabei offensichtlich:323 Dem Herbeisehnen der Rache wird hier der aktuelle Auftakt zum Vollzug derselben entgegengesetzt. Thema‐ tisch stehen sich die beiden Lieder dabei so nahe, dass sowohl Motivik als auch die syntaktische Struktur einige Berührungspunkte zeigen: Waren es im ersten Standlied Δίκα und Ἐρινύς, sind an unserer Stelle Ἄρης und Ἑρμῆς die promi‐ nenten Verkörperungen der Rache. Die Beschreibung dieser Entitäten zeigt strukturelle und begriffliche Ähnlichkeiten: War die Ἐρινύς in Vers 489 ff. durch die Adjektive πολύπους und χαλκόπους charakterisiert worden, tritt hier zum 322

323

Das verwendete Verbum παράγεται umfasst ein besonders weites Bedeutungs‐ spektrum. Neben dem relativ allgemeinen „bring forward“ (vgl. LSJ s.v.) deutet es zu‐ gleich die Heimlichkeit der Handlung an (für das hier verwendete Passiv notieren LSJ „come in stealthily, slip in“ III., 2). Darüber hinaus schwingt sowohl eine zum Bildge‐ brauch der Strophe passende militärische Konnotation mit „march up from the side, bring them from column into line“ (I., 2), als auch eine den Bühnenvorgang geschickt spiegelnde Andeutung: παράγω als bühnentechnischer terminus technicus bezeichnet zudem das Auftreten bzw. Auf-die-Bühne-Bringen einer Person („introduce on the stage“ III., b). Wenn damit auch der eigentliche Abtritt Orests ausgeleuchtet wird, so kommt sein Eintritt in den hinterszenischen Bereich doch zugleich seinem wirklichen Eingreifen in den dramatischen Fortgang gleich. Das Stasimon wird so zur Orchestrie‐ rung des Auftritts Orests, der sich allerdings hinterszenisch, am eigentlichen Schauplatz des Geschehens vollzieht. Vgl. F INGLASS (2007) S. 503 f.

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ἐνέρων ἀρωγός die Beschreibung δολιόπους; in der auf diesen bezogenen For‐ mulierung αἷμα χειροῖν ἔχων (v. 1394) spiegelt sich das von Δίκα ausgesagte δίκαια φερομένα χεροῖν κράτη (v. 476). Zudem werden wie im ersten Standlied den Verben, die die Bewegung der Rächer ausdrücken, prominente Stellen in‐ nerhalb der Syntax eingeräumt: προνέμεται steht direkt als erste Aussage nach der Selbstaufforderung und bringt damit die eigentliche betrachtenswerte Tat‐ sache, παράγεται eröffnet die Gegenstrophe.324 Korrespondierend dazu kommt in beiden Strophen jeweils gegen Ende eine (lautlich gleiche) Form von ἀμμένω zu stehen; das in Vers 1389 dazugesetzte οὐ μακράν bildet eine gewisse Remi‐ niszenz an οὐ μακροῦ χρόνου aus dem ersten Standlied (v. 477). Die gegenüber diesem gesteigerte Drastik der Situation schlägt sich im wiederholten Gebrauch des Begriffs αἷμα nieder, der in beiden Strophen unseres Textes den Auftritt des Rächers bildmächtig untermalt und schließlich im zusammenfassenden Ausruf des Chors innerhalb des Wechselgesangs die durchgeführte Rache versinnbild‐ licht (v. 1420). Erste und letzte rein chorische Partie der Tragödie sind im be‐ sonderen Maß aufeinander bezogen und greifen motivisch wie syntaktisch in‐ einander. Den Anschluss an das unmittelbar Vorangegangene bildet der bereits er‐ wähnte Blick hinter den abgetretenen Personen her. Direkter Auslöser des Liedes ist damit das Abtreten der Handlungsträger, das der Chor auf Grundlage der in seinen vorherigen Äußerungen etablierten Rächerthematik interpretiert und poetisch ausgestaltet. Wie schon beim zweiten Standlied wird eine Blick‐ richtung (dort das Aufsehen in den Himmel) zum Ausgangspunkt und zentralen Strukturelement des Liedes. Zu dieser strukturellen Ähnlichkeit tritt zudem die bereits ausgeführte Wiederaufnahme der Fortbewegungsmotivik aus dem ersten Stasimon, was die Verbindung der beiden Lieder noch offensichtlicher zu Tage treten lässt. Bereits F INGLASS325 stellt zu Recht heraus, dass den Futurformen des ersten Stasimons an unserer Stelle präsentische Formen entsprechen: Das vorliegende Lied will bewusst eine Ausdeutung der aktuellen, sich im Moment vollziehenden Geschehnisse sein. Dass der Chor dabei durch den Wiederauftritt Elektras in seiner Imagination geradezu überholt wird, ihn das Geschehen selbst einholt, intensiviert die ohnehin hohe Dynamik der Ausleuchtung daraufhin erneut. Bei der Frage nach der dramaturgischen Funktion des vorliegenden Liedes er‐ geben sich einige Parallelen zum ersten Standlied. Hatten die mykenischen 324 325

Beachtenswert der formale und lautliche Bezug der beiden Verben zueinander: gleiche grammatikalische Form, gleiche Silbenzahl, beides mit π anlautende Komposita. F INGLASS (2007) S. 503.

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Frauen dort die im Raum schwebende Stimmung aufgenommen und in einer konkreten Zukunftsvision verdichtet, die mit dem Wissen um die hinterszeni‐ schen Aktionen Orests (und Chrysothemisʼ) von besonderer dramatischer Tie‐ fenwirkung war, so dient auch das dritte Stasimon zur Einblendung hintersze‐ nischer Handlung bzw. deren Einleitung. Bevor es nämlich zum Vollzug der Rache kommt, tritt Elektra wieder aus dem Gebäude (v. 1398) und beginnt einen lyrischen Dialog mit dem Chor, in dessen Verlauf sich zudem Klytaimnestra durch mehrmaliges Schreien wirkungsvoll noch einmal zu Wort meldet. Das eigentliche Chorlied erschöpft sich in dieser Hinsicht als ein reines Übergangs‐ lied im besten Sinne. Die ausgreifende Bezugnahme auf das erste Stasimon gibt der kurzen Partie allerdings eine umfassende dramaturgische Relevanz, rundet es doch den thematischen Bogen der Rachevision und führt die virulente Er‐ wartungshaltung zu einem Ende. Damit bildet es den Auftakt zum folgenden dramatischen Höhepunkt der Tragödie, dem Geschehen, auf das von Beginn an (vgl. v. 14) die Handlung ausgerichtet war. Nach den emotionalen Höhepunkten, die das Seelenleben Elektras beeinflussten und Ausgangspunkt der Beschäfti‐ gung des Chors mit der Lage der Protagonistin waren, rückt hier nun die Hand‐ lung als solche in den Fokus der Frauen. Es ist in der Gestaltung dieses letztendlichen Kulminationspunktes der Hand‐ lung, wie schon gesagt, ein besonderer dramaturgischer Kunstgriff, nicht wäh‐ rend des Vollzugs der Rache hinter der Bühne den Chor alleine ein Lied singen zu lassen, sondern mit dem Auftritt der Protagonistin das Geschehen zum Teil auf die Bühne zurückzuholen und damit die Drastik wesentlich zu steigern. Formal untergräbt der Dichter damit eine mögliche Erwartungshaltung des Publikums. Dass es dabei Elektra selbst ist – nicht etwa ein mehr oder minder unbeteiligter Bote, der das Geschehen objektiv berichten würde – , lädt die Si‐ tuation zudem mit besonderer Brisanz auf. Ungeachtet dieses formalen Überraschungseffekts ist mit dem Wiederauftritt Elektras eine bestimmende Gesprächssituation der Tragödie erneut eingetreten: Chor und Hauptperson tauschen sich im Zwiegespräch miteinander aus, wie es zuvor schon in der Eingangspassage nach dem Prolog und dem Kommos ge‐ schehen war. Gerade im Vergleich mit diesen Partien zeigt sich allerdings ein struktureller Unterschied: War es bis zu diesem Punkt Elektra, die durch ihre andauernde Bühnenpräsenz den Anlaufpunkt des Chors bildete, so ist es hier gerade die Protagonistin selbst, die dem Chor gegenübertritt. Die Struktur des Beginns, d. h. der lyrische Großabschnitt aus Monodie, Parodos und Kommos, erscheint in dieser Hinsicht hier am Ende der Tragödie geradezu gespiegelt. Elektra, die von ihrer Position aus sowohl das Geschehen im Haus als auch den Chor sehen kann, fungiert dabei als Sprachrohr der Geschehnisse, die durch

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ihre emotionale Reaktion für das Publikum erfahrbar werden. Das Geschehen ist zwar, wie bereits festgestellt, selbst zentrales Moment der Partie; Elektras Mittlerrolle bündelt allerdings ein entscheidendes Maß an Aufmerksamkeit auf sie selbst. Das sich in actu entfaltende Referat der Geschehnisse ist dabei dezi‐ diert nicht objektiv; vielmehr erleben Chor und Zuschauer den entscheidenden Akt der Handlung aus Sicht der Protagonistin, die im aktuellen Konflikt selbst Partei ist. Ein weiteres Moment verdient Beachtung: Zum ersten Mal lässt Sophokles an unserer Stelle innerhalb der Tragödie neben Elektra und dem Chor in einem lyrischen Wechselgesang eine dritte Stimme (zunächst Klytaimnestra vom hin‐ terszenischen Bereich, ab v. 1424 Orest) zu Wort kommen. Bisher waren die lyrischen Passagen zwischen Elektra und dem Chor auf diese beiden Partner beschränkt; der Auftritt eines Dritten brachte regelmäßig die Unterbrechung der intimeren Situation mit sich. An unserer Stelle ist die bekannte Konstellation nun erweitert. Die Einwürfe Klytaimnestras bzw. die Äußerungen Orests sind dabei keine störenden Interventionen, sondern notwendige, dramatisch höchst bedeutsame Bestandteile des Wechselgesangs. Zum ersten und einzigen Mal in‐ nerhalb der Tragödie komponiert Sophokles an unserer Stelle eine der drama‐ tischen Bedeutung der Szenerie angemessene Ensembleszene, die geradezu als ‚Stretta‘ den Kulminationspunkt der Tragödie ausgestaltet und den letzten Ab‐ schnitt des Stücks einleitet. Eine ausführliche Analyse des sich an das dritte Stasimon anschließenden Amoi‐ baions ist dabei unter unseren Gesichtspunkten nicht nötig; wichtiger ist es, sich zusammenfassend auf einige zentrale Punkte zu beschränken. Elektra wendet sich mit ihrem Wiederauftritt direkt an die Frauen des Chors, die sie in besonderer Verbundenheit als φίλταται γυναῖκες anspricht: Die Männer – Orest und der Pädagoge – würden „das Werk“ nun jederzeit vollenden (τελοῦσι v. 1398); die Frauen des Chors sollten still abwarten (πρόσμενε). Auf Nachfrage des Chors schildert sie daraufhin kurz den Stand der Dinge und gibt den Grund ihres plötzlichen Wiederkommens an: Sie solle Ausschau halten, dass nicht Aigisth unbemerkt in den Palast trete und den Vollzug der Rache störe. An dieser Stelle (v. 1404) unterbricht zum ersten Mal Klytaimnestras Ruf das Wechselgespräch zwischen Protagonistin und Chor: Die ihr drohende Gefahr hat sie wahrgenommen. Der Chor reagiert auf Klytaimnestras Einwurf mit Ent‐ setzen (v. 1407 f.). Ihr Hilferuf nach Aigisth verhallt jedoch unerfüllt, die an ihren Sohn gerichtete Bitte nach Erbarmen (v. 1410 f.) kommentiert Elektra daraufhin mit einem besonders bissigen Verweis auf Klytaimnestras Mord an Aga‐

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memnon.326 Seinen Höhepunkt erreicht die Partie schließlich in der eigentlichen Tötung Klytaimnestras. Dem Chor kommt es nach Orests zweitem Hieb zu, den Vollzug der „Gebete“ bzw. „Verwünschungen“ (ἀραί v. 1417) und den rächenden Einfluss der Toten auf die Lebenden zu konstatieren: Die vormals Gestorbenen würden das zur Vergeltung fließende Blut der Mörder nun „nehmen“,327 d. h. das Leben der Täter als Sühnung einfordern (v. 1419 f.). In Vers 1422 konstatiert der Chor schließlich den Wiederauftritt der beiden Männer; damit ist die Zweiteilung des Geschehens in vorder- und hinterszeni‐ schen Raum beendet: Zwar wird die Öffnung des Bühnengebäudes und damit die Präsentation der Leiche Klytaimnestras erst in Vers 1465 / 6 erfolgen, mit der vollbrachten Tat sowie den Tätern selbst werden Chor und Zuschauer allerdings bereits hier konfrontiert. Die mit der Auftrittsankündigung (v. 1422 f.) eröffnete Gegenstrophe des Wechselgesangs ist durch erheblichen Textverlust entstellt: Es fehlen zwischen v. 1428 und 1429 drei Verse, zwischen v. 1429 und 1430 ein Vers sowie der Schlussteil von v. 1432;328 der Ablauf der Partie lässt sich allerdings dennoch rekonstruieren: Orest versichert seine Schwester zunächst, dass sie nun eine Entehrung durch den Zorn der Mutter nicht mehr fürchten müsse (v. 1426 f.); die im Folgenden möglicherweise verbalisierte finale Bewertung der Tat durch die beiden Geschwister selbst ist uns auf Grund der Überlieferungslage nicht greifbar.329 Die Frauen des Chors unterbrechen in Vers 1428 f. die Unterhaltung der beiden Geschwister mit der Auftrittsankündigung Aigisths und geben im Folgenden praktische Ratschläge, wie weiter zu verfahren sei (v. 1433 f. und 1437 ff.). Elektra und Orest besprechen daraufhin kurz das weitere Vorgehen; letzterer begibt sich in Vers 1436 mitsamt dem Pädagogen in den Palast – um

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327 328

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Der sich anschließende Ausruf des Chors v. 1413 f. wirft einige Probleme auf. Die Kon‐ jektur σοι (dat.) gegen das einhellig überlieferte σε (acc.) in Vers 1413 hat sich dabei allgemein durchgesetzt (P EARSON (1924), K ELLS (1973), L LOYD -J ONES /W ILSON (1990), D AWE (1996), F INGLASS (2007) (Diskussion S. 516), ebenso trotz gewisser Vorbehalte auch K AMERBEEK (1974) (Diskussion S. 182)). Der Chor, so die gängige Interpretation, deute das Geschehen dabei als Befreiung der Stadt und des Geschlechts der Pelopiden von der μοῖρα, die sie Tag für Tag (καθημερία) heimgesucht habe. Die Bedeutungsebenen des Verbums ὑπεξαιρέω behandelt K AMERBEEK (2007) ad locum S. 518. Vgl. dazu K AMERBEEK (1974) S. 181, F INGLASS (2007) S. 509 f. sowie 522, des Weiteren den Apparat von L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) ad locum. Darüber hinaus bergen bereits die Verse 1424 ff. einige Schwierigkeiten hinsichtlich der genauen Textrekonstruktion sowie der Sprecherzuteilung. Auf genauere Analyse kann mit Verweis auf F INGLASS (2007) S. 520 hier allerdings verzichtet werden. Vgl. K AMERBEEK (1974) S. 181: „We are left without the daughter’s and the son’s last comments on Clytaemnestra and her death“.

2. Elektra

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mit der Öffnung des Bühnengebäudes erneut in das Bühnengespräch einzu‐ greifen (v. 1470 f.). Den Schluss der lyrischen Partie bildet daraufhin ein erneuter Rat der Frauen an die Protagonistin (v. 1437 ff.): Sie solle mit Aigisth nur wenig und besonders „sanft“ (ἠπίως) sprechen, sodass dieser unversehens in die für ihn kritische Situation gerate. In Vers 1442 ergreift der aufgetretene Aigisth das Wort, mit dem Elektra in direkten Austausch tritt. Mit dem vorliegenden Wechselgesang greifen wir ein reines „Aktionsamoi‐ baion“:330 Es dient nicht der Ausleuchtung der seelischen Verfassung eines Ak‐ teurs, sondern der effektvollen und bühnenwirksamen Inszenierung des Ge‐ schehens selbst. Dem Chor kommt dabei keine aktive Rolle zu: Er begreift sich zwar selbst als in das Geschehen eingebunden und identifiziert sich ganz mit den beiden Geschwistern, bleibt aber bis auf gelegentliche Ratschläge ganz in der Rolle des Betrachters und bietet mit seiner teilweise schockierten Reaktion (vgl. v. 1407 f.)331 ein gewisses Gegenmoment zu Elektras ungezügelter Ent‐ schlossenheit. Der Redeanteil des Chors innerhalb des Amoibaions ist dem‐ gemäß recht gering. Von einer wirklichen chorischen Passage lässt sich dem‐ nach mit Blick auf das Amoibaion kaum sprechen; vielmehr dient der klar funktionalisierte Chor hier als besonders wirkungsvolle Untermalung des dra‐ matischen Geschehens. Der Wechselgesang setzt dabei das vorhergehende Stasimon konkret fort und bildet, wie zwei Überlegungen zeigen sollen, motivisch mit ihm eine Einheit. Zweimal war im Standlied im Rahmen der Imagination der Rächer die Blut-Mo‐ tivik bemüht worden: Gleich zu Beginn hieß es von Ares, er „schnaube Blut“ (v. 1385), in der Gegenstrophe war dann im erwähnten kühnen sprachlichen Bild vom „angespitzten Blut“ (v. 1394) die Rede. Dieses Motiv erhält seine finale Konkretisierung in der die Gegenstrophe einleitenden Auftrittsankündigung v. 1422 f., in der der Chor Orests „von der Opfergabe an Ares triefende“ Hand (στάζει θυηλῆς Ἄρεος) besonders hervorhebt. Damit ist das Bild der frisch ge‐ spitzten Waffe in der Hand des (göttlichen) Rächers Realität geworden; Orests visuell schreckenerregender Wiederauftritt trägt geradezu Züge einer Epi‐ phanie. Zum anderen entsprechen den zweimaligen Versicherungen des Chors, der Vollzug der Rache werde nicht mehr lange auf sich warten lassen (ἀμμενεῖ v. 1389 und ἀμμένει v. 1397), im Amoibaion die wiederholte, von drei Akteuren verbalisierte Zuversicht, nun „vollende“ sich die Tat: τελοῦσι (Elektra über die 330 331

Zum Begriff vgl. P OPP (1971) S. 253 ff. Vgl. K AMERBEEK (1974) S. 182 ad locum: „In contrast with Electra the chorus is horror-stricken“.

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II. Frauenchöre

Männer) v. 1398, τελοῦσ(ι) (Chor über die ἀραί) v. 1417 sowie τελοῦμεν (Orest über sich und den Pädagogen) v. 1435.332 Gerade die letzterwähnte Stelle ist dabei bemerkenswert, da in der zuversichtlichen Antwort Orests auf den Vorschlag des Chors (θάρσει· τελοῦμεν) zugleich das θάρσος-Motiv aus dem ersten Teil der Tragödie wieder aufgenommen ist. Indem hier Orest den mykenischen Frauen (und seiner Schwester) Mut zuspricht, hat auch dieses Motiv seine finale Konkretisierung in der Gestalt des Rächers selbst gefunden. Stasimon und Amoibaion bilden eine lyrische Großpartie, deren strukturelle Einheit offenkundig ist: Zwar unterbricht der emotionale Auftritt Elektras in Vers 1398 das begonnene Lied des Chors und gibt der gesamten Szenerie unge‐ ahnte Dynamik, die Fortführung und direkte Konkretisierung entscheidender Motive verleiht der Passage allerdings ein hohes Maß formeller Geschlossenheit. Zusammengefasst lässt sich sagen: Mit dem vorliegenden lyrischen Abschnitt wird die handlungsintensivste Szene der gesamten Tragödie ausgestaltet. Zum ersten Mal innerhalb des Dramas weitet sich dabei eine chorische Passage zu einer Ensembleszene und untermalt den dramatischen Höhepunkt des Bühnen‐ geschehens. Sophokles lässt an dieser entscheidenden Stelle innerhalb der Tra‐ gödie keine reflektierende Ruhe aufkommen. Schon das kurze Standlied war dabei ganz dem Geschehen gewidmet, das es vorgreifend zu imaginieren und auszudeuten suchte. Es bildete in seiner Bewegungsmotivik den Auftakt zum dynamischen Bühnengeschehen im Folgenden. Nach der ausführlichen Wie‐ dererkennungsszene rafft der Dichter das dramatische Tempo und bietet den finalen Handlungsfortschritt geradezu komprimiert in knapp sechzig Versen dar. Innerhalb kürzester Zeit erzeugen die Rufe Klytaimnestras aus dem Bühnen‐ gebäude und vor allem die raschen Ab- und Auftritte der handelnden Per‐ sonen333 nicht nur eine Beschleunigung des Geschehens, sondern durchbrechen die räumliche Teilung der Handlung in vorder- und hinterszenische Aktivitäten. Chor und Zuschauer können so direkt am Vollzug der Rache teilhaben, auch wenn die finale Präsentation der Leiche erst in Vers 1475 erfolgen wird. Die seit dem Prolog auseinanderfallenden und in der Wiedererkennungsszene mitei‐ nander verbundenen Teile der Handlung (Elektra vor, Orest hinter der Bühne) verdichten sich hier zu einem Geschehen, das sich sowohl hinter der Bühne 332 333

Das τέλος-Motiv des Amoibaions wird darüber hinaus in Vers 1464 noch einmal durch Elektra angesprochen werden, die die Öffnung des Bühnengebäudes so geradezu als Fortsetzung der Rachehandlung ausdeutet. Vgl. dazu F INGLASS (2007) ad locum S. 534. Abtritt Orests v. 1376, Abtritt Elektras v. 1383, Auftritt derselben v. 1398, Auftritt Orests v. 1424, Auftrittsankündigung für Aigisth v. 1428 f., Abtritt Orests 1436, (Auftritt Ai‐ gisths v. 1442).

2. Elektra

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(Orests tätiges Eingreifen) wie auch davor (Elektras Bericht, Kommentierung des Chors, Heraustreten der Täter sowie deren erneuter Abgang) vollzieht. So‐ phokles schafft einen Handlungsraum, der die beiden Sphären miteinander ver‐ webt und ihre konventionelle Trennung dabei weitestgehend aufhebt. In der besonders dynamischen Liminalszene kulminiert ein die Tragödie bis zu diesem Punkt prägendes strukturelles Moment in seiner Auflösung. Damit sind (trotz aller Verschiedenheit) zudem einige strukturelle Parallelen der ersten chorischen Szene der Tragödie wieder aufgegriffen. Mehr noch: Die Auftrittsszenerie von Protagonistin und Chor ist in formaler Hinsicht beant‐ wortet. Wie schon zu Beginn der Tragödie komponiert Sophokles auch hier eine lyrische Passage unter Verwendung verschiedener Formelemente (Stasimon und Amoibaion; zu Beginn der Tragödie: Monodie und Amoibaion als Parodos). Dem ganz auf die Protagonistin fokussierenden Pathosamoibaion Elektras steht dabei an unserer Stelle das als Ensembleszene ausgearbeitete Aktionsamoibaion gegenüber. Dabei waren im Übergang vom Prolog zu Elektras anapästischer Monodie die beiden Handlungssphären durch den Abtritt Orests und seines Be‐ gleiters getrennt worden; hier nun greifen sie völlig ineinander. Einen hinter‐ szenischen Ruf in das Geschehen mit einfließen zu lassen, war bereits im Prolog ein besonders eindrucksvoller dramatischer Kunstgriff gewesen (v. 77); was zu Beginn des Stücks den Auftritt der Protagonistin einleitete, weitet hier den Per‐ sonenkreis und dient zur effektvollen Ausgestaltung des konkreten Rachege‐ schehens. Die erste und letzte lyrische Partie der vorliegenden Tragödie stehen dem‐ entsprechend in einem formal besonders engen Verhältnis zueinander: Zwei herausgehobene Stellen des Handlungsverlaufs sind demnach unter Einsatz vergleichbarer dramaturgischer Mittel ausgestaltet, was dem Stück im Ganzen besondere Geschlossenheit verleiht. Exodos (v. 1442 – 1510)

Angesichts der Zurückhaltung des Chors in dieser letzten Partie der Tragödie kann die folgende Passage kurz behandelt werden. Den Dialogen zwischen Ai‐ gisth und Elektra sowie (nach der Öffnung des Bühnengebäudes bzw. dem He‐ rausrollen der Leiche Klytaimnestras auf dem Ekkyklema) zwischen Aigisth und Orest folgen die mykenischen Frauen wortlos. Die Überheblichkeit Aigisths, der Anblick und die Wiedererkennung Orests sowie der Leiche Klytaimnestras durch ihn bleiben ebenso unkommentiert wie die Aussicht auf sein weiteres Schicksal und seine wortreiche Auseinandersetzung mit Orest. Wie schon in der Wiedererkennungsszene konzentriert sich damit alle Aufmerksamkeit auf die handelnden Akteure.

420

II. Frauenchöre

Am Ende der Tragödie haben zwei Athetesen für einige Irritation gesorgt: So verdächtigte Dindorf die abschließende Bemerkung Orests in den Versen 1505 – 1507, Ritter die das Drama beschließenden Anapäste des Chors (v. 1508 – 1510), interpoliert zu sein. D AWE (1996) folgt in seiner Ausgabe beiden Athetesen, was F INGLASS ad locum verteidigt.334 Während hier auf die Diskussion bezüglich der Verse 1505 f. nicht eingegangen werden soll,335 verdienen die Ana‐ päste des Chors gewisse Aufmerksamkeit. Der einhelligen (!) Überlieferung zu Folge beschließen die Frauen des Chors das Drama mit einer zusammenfas‐ senden, direkt an die „Nachkommenschaft des Atreus“ (σπέρμʼ Ἀτρέως) gerich‐ teten Wertung. F INGLASS begründet die Streichung der Verse nicht mit ihrer inhaltlichen Konventionalität,336 sondern stellt drei herausragende sprachliche Anomalien in den Vordergrund, die seiner Meinung nach auf den späteren Ein‐ griff eines Interpolators zurückgehen und dessen mangelnde Kenntnis der tra‐ gischen Bühnensprache erweisen.337 Das originale Ende der Tragödie, so F IN ‐ GLASS , sei also nicht erhalten. Dabei sei es zwar wahrscheinlich, dass die von Sophokles selbst komponierten chorischen Schlussverse durch die uns vorlie‐ genden ersetzt wurden; allerdings könne man angesichts des ohnehin „unge‐ wöhnlich abrupten Endes“ ebenso gut annehmen, dass die Tragödie mit den Worten Orests als des „dominant speaker“338 mit Vers 1504 geschlossen habe.339 Wenn auch zugestanden werden muss, dass die Schlussverse des Chors in den aufgeführten Punkten tatsächlich sprachlich auffällig sind und sich einer ein‐ fachen Deutung entziehen, erscheint ihre Streichung dennoch zu radikal.340 Nicht nachzuvollziehen ist schließlich die von F INGLASS in Erwägung gezogene 334 335

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F INGLASS (2007) S. 544 f. bzw. 546. So wurden die Verse getadelt, weil sie inhaltlich unpassend seien. Selbst K AMERBEEK (1974) S. 192, der sie aus guten Gründen im Text belässt, stellt fest: „These last moralizing words form perhaps the lines about whose absence in Sophoclesʼ work an admirer of the poet would mind least“. F INGLASS (2007) S. 546: „It is not profound, but profundity was not required of the con‐ clusions to ancient tragedy“. F INGLASS (2007) S. 546: „In a small compass they contain three major linguistic anoma‐ lies, each of which is more likely to have arisen from a later interpolator’s deficient knowledge of tragic Greek than from manuscript corruption of an original Sophoclean text“. F INGLASS (2007) S. 544. „Frustratingly, we thus do not know how the original play ended. […] A playwright who could take the startling decision to leave the climatic death of his drama go unre‐ ported might well have made the equally startling decision to end his play abruptly at line 1504.“ a. a. O. Dass Ritters Überlegungen, die ihn zur Athetese aller chorischen Schlussworte der uns überlieferten Tragödien des Sophokles geführt haben, nicht überzeugen können, er‐ weist in aller Kürze M ARCH (2001) S. 231.

2. Elektra

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Option, Sophokles könnte die Tragödie mit Vers 1504 (bzw. 1507 unter Beibe‐ haltung der anderweitig athetierten Verse) geschlossen haben: Der Verzicht auf ein chorisches Schlusswort am Ende des Dramas wäre ein besonders heraus‐ ragender Bruch mit der Konvention,341 der nicht durch bewusste dramaturgische Entscheidungen des Dichters zu rechtfertigen wäre.342 Es ist bei weitem geratener, mit P EARSON (1924), K AMERBEEK (1974) und L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) die überlieferten Schlussverse trotz ihrer Schwie‐ rigkeiten im Text zu belassen. Wie in anderen Tragödien unseres Autors greifen wir hierin einen konventionellen Abschluss der Handlung, der allerdings kaum von ausschlaggebender Wichtigkeit ist. Dem Chor kommt es nach der beson‐ deren Zurückhaltung während der letzten Szene einzig zu, den beginnenden Auszug bzw. Abtritt der Akteure343 mit seinen anapästischen Schlussversen ein‐ zuleiten und das Ende der Tragödie besonders deutlich zu markieren. Die dem Schlusswort dabei zu Grunde liegende positive Haltung sowie die Annahme, die unheilvollen familiären Verstrickungen hätten nun ein Ende gefunden, laufen dem Wissen vom Fortgang des Mythos zunächst entgegen. Dass sich Orest für die Tötung der eigenen Mutter wird verantworten müssen und die Familienge‐ schichte erst damit einem wirklichen Ende zugeführt wird, ist den Frauen des Chors allerdings nicht bekannt. Des Weiteren bildet gerade die positive Wertung zum Ende der Handlung einen wirkungsvollen Kontrast zur düsteren Stimmung vom Beginn des Geschehens, wie sie im Besonderen das Auftrittsamoibaion entfaltet hatte.

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343

Zur ähnlichen Diskussion um die Schlussverse des Oidipus Tyrannos vgl. S. 520 f. F INGLASS (2007) scheint mir ohnehin das Moment des „abrupten Schlusses“ überzube‐ tonen. Dass Aigisths Tod nicht mehr Bestandteil der Tragödie ist, stellt für ihn S. 549 dabei ein besonders erwähnenswertes Moment, ja geradezu ein Alleinstellungsmerkmal des vorliegenden Stücks dar: „Aigisthusʼ death is not reported. There is no ancient pa‐ rallel for such extraordinary abruptness“. Damit ist meines Erachtens aus den Augen verloren, dass nicht etwa die Tötung Aigisths als „climatic death of his [Sophoklesʼ] drama“ (s. Anmerkung 172) angesehen werden kann; vielmehr ist die Rache an Kly‐ taimnestra der von Beginn an anvisierte Kulminationspunkt der Handlung. An unserer Stelle liegt dieses unter Aufbietung aller zur Verfügung stehender dramatischer Mittel inszenierte Geschehen allerdings schon zurück. Dass Sophokles die Rache an Aigisth solchermaßen kurz und unter Verzicht auf weitere Drastik abhandelt, beweist dem‐ gemäß vielmehr seine dramaturgische Ökonomie: Wie der Figur Aigisths gegenüber Klytaimnestra bisher kaum eigenes Gewicht zukam, so wird hier auch die Rache an ihm als „Anhängsel“ des eigentlich zentralen Geschehens nur angedeutet. Sophokles ver‐ meidet damit die Doppelung der Racheszene, die dem drastischen Höhepunkt der Tra‐ gödie die dramaturgische Wucht genommen hätte. Zum möglichen Zeitpunkt des Abtritts der Akteure sowie deren Reihenfolge vgl. F IN ‐ GLASS (2007) S. 549.

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II. Frauenchöre

Zusammenfassung

1. Was lässt sich zur Rollenidentität (Spektrum I) des Chors festhalten? Der Chor besteht aus jungen Frauen, die auf Grund des gleichen Geschlechts und des ähnlichen Alters eine im Wesentlichen auf emotionaler Bindung beruhende Be‐ ziehung zur Protagonistin haben. Wenn auch dabei keine Verwandtschaft oder direkte Abhängigkeit zwischen Bezugsperson und Chor besteht, eint beide doch das Interesse an der Wiederherstellung geordneter Zustände, d. h. die hoff‐ nungsvolle Aussicht auf die Rache an Klytaimnestra. Eine weitergehende Verankerung der chorischen Rollenidentität innerhalb der Personenkonstellation bzw. der Handlung der Tragödie liegt nicht vor: Weder haben die mykenischen Frauen eine bestimmte Funktion innerhalb des Machtgefüges der Stadt, noch repräsentieren sie (wie z. B. die Soldatenchöre im Aias und im Philoktet oder die politischen Greisenchöre der Antigone sowie der Oidipus-Tragödien) den unmittelbaren Bezugsrahmen der Handlung. Anders gesagt: Die vorliegende Rollenzuweisung des Chors mykenischer Frauen recht‐ fertigt sich ausschließlich mit Blick auf die Protagonistin: Auf sie zielt die Anlage des Chors, dessen Person bis auf die enge Bindung zur Hauptheldin kein eigener Konnex zur dramatischen Situation bzw. ihrem Rahmen innewohnt. Der Chor der emotional Elektra zugeordneten Frauen steht also ganz in dramaturgischer Abhängigkeit von der Protagonistin. 2. Die Handlung der vorliegenden Tragödie ist von der Bipolarität zwischen Elektra und Orest geprägt. Während die Rezipienten durch den Prolog bereits über die wahren Gegebenheiten, d. h. die mit Beginn des Stücks erfolgte Ankunft des Rächers und die von ihm ins Werk gesetzten Handlungen informiert sind, haben die anderen (weiblichen344) Personen der Handlung (Elektra, Klytaim‐ nestra, Chrysothemis, der Chor) noch keine Kenntnis der dem Zuschauer be‐ kannten Sachverhalte. Wie ordnet sich nun speziell die chorische Reflexion in diese bipolare Handlungsstruktur ein? Im Zentrum der chorischen Aussagen steht in der Regel die Person Elektras; sie, ihre Situation und ihre Gefühle bilden meist die thematische Mitte, um die sich die Reflexionen der Frauen gruppieren, oder aber den unmittelbaren Anlass für chorische Wortmeldungen. Vor allem in den beiden ersten Standliedern ließ sich dies beobachten: So war das erste Stasimon eine direkte Ausgestaltung der durch Elektra angestoßenen Interpretation des bedeutsamen Traums, gekleidet in die Form einer direkten Anrede an die Protagonistin; das zweite Standlied 344

Von Aigisth kann angesichts seines nur kurzen Auftritts ganz am Ende der Tragödie hier abgesehen werden. Der zentrale Konflikt der Tragödie liegt ohnehin in der Kon‐ frontation von Elektra und Klytaimnestra begründet.

2. Elektra

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thematisierte prominent die Handlungsabsicht der Heroine und bot in seiner moralischen Wertung einen Gesamtblick auf die Motivation und Persönlichkeit der Hauptdarstellerin aus der Sicht des Chors. Als unmittelbarer Bezugspunkt innerhalb des Gedankengangs und Anknüpfungsstelle an die dramatische Handlung bildet sie als Protagonistin den ersten bestimmenden Pol chorischer Aussagen. In dieser Hinsicht ist es konsequent gearbeitet, dass Elektra bis auf wenige Ausnahmen die einzige Gesprächspartnerin des Chors ist. Neben moderie‐ renden Einwürfen in den Agonszenen,345 der Information eben aufgetretener Akteure346 und einzelnen emotionalen Ausrufen347 ist der Austausch mit Elektra – lyrisch oder in Sprechversen – die bestimmende Gesprächssituation des Chors. Mit keinem anderen Akteur treten die Frauen des Chors in eine the‐ matische Auseinandersetzung, die über eine knappe Information hinausginge; einzig die Konstellation Protagonistin-Chor ermöglicht tiefergehenden Gedan‐ kenaustausch, Tröstung oder umfangreichere Bewertung der jeweiligen Situa‐ tion. Diese oben an einigen Stellen intim genannte Gesprächssituation ist ein wiederkehrendes Strukturmoment der Tragödie: Schon der erste Auftritt der Protagonistin weitet sich durch das Hinzutreten des Chors (v. 121) in einen ersten Kommos und stellt die beschriebene Situation her. Dies wiederholt sich im zweiten Kommos (v. 823 ff.) und bestimmt ebenso den sich an das dritte Sta‐ simon anschließenden Wechselgesang (v. 1398 ff.). Die Stilisierungen der ersten beiden Stasima als Anreden an Elektra sind in diesem Sinne einseitige Remi‐ niszenzen an diese typische Gesprächssituation. Halten wir fest: Elektra ist als Protagonistin des Dramas sowohl strukturell wie thematisch Anlaufpunkt und bestimmendes Zentrum der chorischen Aus‐ sagen: Nicht nur die Reflexion über die Hauptheldin, sondern der regelmäßige Austausch mit ihr ist bestimmendes Moment der chorischen Präsenz. Neben der Protagonistin markiert die in Aussicht gestellte Rache an Klytaim‐ nestra (und Aigisth) einen zweiten inhaltlichen Zentralpunkt der chorischen Aussagen. Die dabei gerade das erste und dritte Stasimon prägende Personifi‐ zierung des Rachegeschehens – Δίκα, Ἐρινύς, Ἄρης – dient nicht nur der poe‐ tischen Ausgestaltung der Lieder; aus der Perspektive des Zuschauers, der durch den Prolog bereits umfassend über die Situation ins Bild gesetzt wurde, haben die Konkretisierungen und Personifikationen der Rache eine bestimmte Gestalt,

345 346 347

Wie z.B. v. 369 (mit Antwort durch Chrysothemis an den Chor, zu einer Unterhaltung der beiden kommt es allerdings nicht), v. 610, v. 990 sowie 1015. Zur Information des Pädagogen v. 662, beim Auftritt Orests v. 1100. Zum Beispiel nach dem Bericht vom Tod Orests v. 764.

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II. Frauenchöre

auf die sie sich beziehen: Orest. Während dabei der Chor im ersten Kommos mit Elektra explizit dessen Situation zu beschreiben sucht und seine glückliche Heimkehr erbittet (v. 159 ff.), wird Orest in den folgenden Chorliedern – vor allem im ersten Stasimon – nicht mehr expressis verbis genannt, was der im Vergleich zum Zuschauer mangelnden Information der Frauen geschuldet ist. Umso mehr aber provoziert diese Unkenntnis der wirklichen Situation aus der Sicht der Rezipienten, d. h. der Zuschauer und Leser, die Bezugnahme auf Orest. Diese wissen das μόνα σαλεύει (v. 1074) aus dem zweiten Stasimon ebenso zu deuten wie das Insistieren des Chors auf die Wiederherstellung der Δίκα, die Orest im Prolog schon in Aussicht gestellt hatte (v. 34). Neben dem bewussten und der Rollenidentität des Chors entsprechenden thematischen Zentrum Elektra schillert Orest als zweiter, dem Chor in seiner Rolle bis in die Mitte der Tragödie noch nicht greifbarer Pol innerhalb der lyrischen Passagen auf. Durch die auf Orest zielenden Personifikationen und Anspielungen des Chors blendet Sophokles die im Wesentlichen hinterszenischen Aktionen ein und ruft die pikante dramatische Situation sowie die Bipolarität der Handlung damit wirkungsvoll in Erinnerung. Indem der Chor bewusst um Elektra und ihr Ge‐ fühlsleben, ihre Lage und deren Bewertung, sowie unbewusst um Orest, seinen Auftrag und die Ausgestaltung der Rache kreist, bildet er in seinen Liedern die Grundstruktur des gesamten Dramas ab. Auf der Folie der (teilweise ent‐ täuschten) Erwartungen der Hauptperson bricht Orests Handeln hervor, findet seine Verarbeitung in der chorischen Reflexion und wird ein bestimmender Teil derselben. Mit seinem teils bewussten, teils unbewussten Bezug auf die beiden Pole des Dramas ist der Chor in seinen Ausführungen und Reflexionen stets im Ge‐ schehen präsent.348 In Bezug auf Elektra kommt es dabei dem Chor gerade in den Amoibaia zu, als Resonanzboden bzw. Kontrastfolie die teilweise überbor‐ dende Emotionalität der Hauptheldin bühnenwirksam zu orchestrieren. Da‐ neben leisten die Chorpartien mit Blick auf Orest die Imagination bzw. Visua‐ lisierung der zweiten Handlungsebene. 3. Im Gegenzug ist die eigene Stimme der Frauen, wie oben bereits angespro‐ chen,349 vergleichsweise leise: Schon der bewusste Verzicht auf eine reine Par‐ odos zeigt die Rücknahme rein chorischer Präsenz zu Gunsten einer Konzent‐

348

349

So auch B URTON (1980) S. 224: „The odes which the chorus sing are in consequence strictly relevant to the dramatic situation at each stage in the progress of the plot“ sowie P AULSEN (1989) S. 68: „Er [der Chor] ist immer, auch in den Stasima, in die Handlung integriert“. Vgl. die Behandlung der Monodie / des Kommos S. 354 ff.

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ration auf die Hauptperson und ihr Seelenleben sowie die Spannung des Stückes. Zudem ist in dieser Eingangsszenerie die gewöhnliche Verteilung der Auftritte und Reden geradezu umgekehrt: Nach dem Prolog kommt nicht der Chor zu Wort – wie sonst in allen erhaltenen Sophoklestragödien – sondern die Prot‐ agonistin selbst in einer ausgedehnten Monodie. Das typische Schema des Handlungsbeginns (und des weiteren Ablaufs) ist damit zu Gunsten einer weit‐ gehenden Fokussierung auf die Hauptperson verschoben. Mit Blick auf die formalen Besonderheiten der Auftrittsszenerie sowie der Kulminationsszene der Tragödie v. 1384 ff. lässt sich festhalten: Sophokles kom‐ biniert in der vorliegenden Tragödie feste Formteile chorischer Präsenz neu bzw. arrangiert lyrische Partien miteinander.350 Auf diese Weise entstehen Passagen wie die Verbindung aus Monodie, Parodos und Kommos beim Auftritt Elektras sowie das sich zur Ensembleszene weitende dritte Stasimon, die in ihrer Ein‐ zigartigkeit die jeweilige Szene ausgestalten und einem dramaturgischen Zweck dienen. Der Chor ist damit in formeller Hinsicht ganz eingebunden in die Kom‐ position wirkungsvoller (Übergangs-)Szenen und wird dennoch mit äußerster dramaturgischer Effizienz eingesetzt. Die zu Beginn der Zusammenfassung aufgeworfene Frage nach der auffäl‐ ligen Zurückhaltung während der Wiedererkennungsszene lässt sich auf der Grundlage des eben Entwickelten beantworten. Zum einen stellt Sophokles hier der Protagonistin ihren Bruder als Gesprächspartner im Wechselgesang gegen‐ über, zitiert die typische Gesprächssituation (Protagonistin-Chor) mit entschei‐ dendem Personenwechsel und macht damit die enge Bindung zwischen der Hauptdarstellerin und Orest deutlich: Jetzt, da Orest präsent ist, sind es nicht mehr nur die Frauen des Chors, mit denen sich Elektra austauschen kann; mit ihrem Bruder ist ihr eigentlicher Gesprächspartner angekommen, der Chor kann im Folgenden zurücktreten. Zum anderen: Das Einweben chorischer Äuße‐ rungen in den Wechselgesang der beiden Akteure hätte die Erweiterung der intimeren Situation zwischen den beiden Geschwistern hin zu einer größeren Ensembleszene bedeutet. Sophokles spart sich an unserer Stelle diese Öffnung des Sprecherrahmens auf, um mit der eigentlichen Rache an Klytaimnestra die dramatischste, d. h. handlungsintensivste Szene der Tragödie in dieser Art zu komponieren. Er handelt hier ganz im Sinn einer chorischen Ökonomie, die den Chor nicht als dramatisches Dauerphänomen, als Untermalung jedweder emo‐ tionaler Situation begreift, sondern als bewusst eingesetztes dramaturgisches

350

Das geht über die durch F INGLASS (2007) S. 119 herausgestellte „tendency of this play to engage with formal structures […] more than in any other Sophoclean tragedy“ noch hinaus.

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Instrument, das mit der Konzentration und Bündelung der Gedanken auf die beiden Pole der Handlung eine entscheidende Funktion erfüllt. 4. Innerhalb der chorischen Partien lässt sich eine detailreiche und konsequente Durchführung der jeweiligen Motive und Begriffe beobachten, die gerade die Stasima zu abgerundeten und fein gearbeiteten Gedichten macht. Besonders hervorzuheben ist dabei das zweite Standlied: Als längste ununterbrochene Partie des Chors schafft es durch die imaginierte Blickbewegung eine Zusam‐ menfassung der verschiedenen Zeitebenen, bildet einen Schlusspunkt in der Beschäftigung der Frauen mit der Hauptperson und markiert als echte Reflexion einen bedeutenden Punkt in der Bewertung des Geschehens durch den Chor. Als besonders markant waren in der Interpretation schon die vielfältige Be‐ zugnahme der einzelnen chorischen Aussagen sowie ihre Binnenstruktur un‐ tereinander herausgearbeitet worden: Das prominente θάρσος-Motiv ist, um die wichtigsten Punkte zu wiederholen, eine durchgehende Konstante, die vor allem das Auftrittsamoibaion mit dem ersten Stasimon verbindet und ihre faktische Beantwortung im zweiten Teil der Tragödie findet. Die formale und inhaltliche Bezugnahme des zweiten Kommos auf das Auftrittsamoibaion bildet den dra‐ matischen Fortschritt ab und verleiht der gesteigerten Intensität in Elektras Seelenleben wirkungsvollen Ausdruck. Schließlich greift das dritte Standlied teilweise wörtlich auf das erste Stasimon zurück, was die Erfüllung der vom Chor mit einiger Zuversicht im ersten Standlied vorgetragenen Zukunftsvision markiert.351 5. Die sorgfältige motivische Arbeit innerhalb der chorischen Reflexion umfasst einige Momente, die einen gewissen Deutungsrahmen des Geschehens auf‐ spannen und dementsprechend kontextualisierende Funktion haben. So kommt es im Besonderen dem Chor zu, die familiäre Dimension der Bühnenhandlung zu beleuchten: Die Epode des ersten Standliedes warf einen kurzen schlaglicht‐ artigen Blick in die Vergangenheit der Familie und beleuchtete mit Pelopsʼ Wett‐ rennen dabei ihre „Ursünde“ (v. 504 ff.). Diese Thematisierung der ferneren Ver‐ gangenheit war dabei, wie gezeigt wurde, der Rachevision des vorangehenden Strophenpaars mehr oder minder überraschend angehängt worden; den Bezug

351

Die thematische Nähe einzelner Passagen zueinander, die Aufnahme von zentralen Be‐ griffen, die bezugreiche Syntax und die absichtsvolle Strukturierung der einzelnen Par‐ tien im Vergleich miteinander legen so die Vermutung nahe, dass die lyrischen Ab‐ schnitte unserer Tragödie an einem Stück komponiert wurden. Da uns allerdings Nachrichten über die Kompositionsweise der attischen Tragiker fehlen, müssen solche Vermutungen reine Spekulation bleiben.

2. Elektra

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zum unmittelbaren Geschehen leistete einzig die allgemeine Feststellung der Schlussverse 514 f. Die erneute Reflexion über die familiären Zusammenhänge zu Beginn des zweiten Stasimons läuft dagegen konkret auf die Fokussierung auf Elektra hi‐ naus (v. 1047 f.) und ist besonders fest im Zusammenhang des Geschehens sowie der dramatischen Situation verortet. Der mit einer kurzen allgemeinen Äuße‐ rung zum Verhältnis von Kindern gegenüber ihren Eltern verbundene schlag‐ lichtartige Blick in die Vergangenheit (v. 1070 f.) mündet an dieser Stelle in die Vergegenwärtigung der momentanen Situation; anders gesagt: Die das Ge‐ schehen vor dem Hintergrund der Vorgeschichte kontextualisierende Reflexion leitet in eine fokussierte Betrachtung der Protagonistin über. Ähnlich verhält es sich mit dem zweiten Moment, der theologisch-religiösen Ausdeutung bzw. Überhöhung des Geschehens. Bereits in der Parodos verbindet der Chor seinen Elektra geltenden Aufruf zur Zuversicht (θάρσος-Motiv) mit dem Vertrauen auf die Allmacht des Zeus (v. 173), dem es als Schutzherrn des Rechts zukommt, die Rache der Bluttat ins Werk zu setzen. Die bildgewaltige Imagination der herannahenden Δίκα, Ἐρινύς, Ἄρης (v. a. im ersten Strophen‐ paar) stellen dementsprechend eine Konkretisierung dieses grundlegenden Glaubens an die ordnende Macht der Götter dar. Das Geschehen, dessen Zeugen die mykenischen Frauen werden, leuchten sie unter theologisch-religiösen Ge‐ sichtspunkten aus – sie gehen sogar so weit, in Orest und Pylades die Personi‐ fikation der göttlichen Mächte zu sehen (v. 1384 ff.), deren Imagination bestim‐ mendes Moment der Reflexion war. In der konkreten Ausleuchtung des Bühnengeschehens, wie es das kurze dritte Stasimon liefert, greifen theolo‐ gisch-religiöse Überhöhung und Fokussierung zusammen: Das Stasimon ist zu‐ gleich Fluchtpunkt der in den bisherigen Chorpartien entfalteten Rache-The‐ matik und Orchestrierung der Handlung selbst. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Ausgehend von der emotionalen Bin‐ dung des Chors zur Protagonistin und der weitgehenden Identifikation mit den Zielen und Maßstäben der Hauptheldin dienen die chorischen Partien zum einen als Resonanzboden bzw. Kontrastfolie des Seelenlebens der Heroine, was ihnen eine unmittelbar fokussierende Wirkung zukommen lässt. Elektra ist dabei nicht nur das thematische Zentrum der chorischen Reflexion, sondern der einzige Gesprächspartner, mit dem sich der Chor regelmäßig austauscht. Die Ge‐ sprächssituation Protagonistin-Chor ist dabei sowohl für die Amoibaia als auch die Stasima konstitutiv. Einen genuin eigenen, d. h. von Elektra unabhängigen Zugang zur Handlung haben die mykenischen Frauen dabei nicht; geradezu paradigmatisch ist dafür die Konstruktion der Kulminationsszene der Tragödie, in der sowohl der Chor als auch die Rezipienten das hinterszenische Geschehen

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II. Frauenchöre

im Wesentlichen über die Zwischenstation Elektra erleben. Die zu diesem Zweck durch den Dichter komponierte Ensembleszene beantwortet dabei das Auftritts‐ amoibaion, das seinerseits bereits eine besonders kunstvoll aus verschiedenen Formelementen zusammengesetzte Partie darstellte. Des Weiteren bilden die chorischen Partien in spezifischer Weise die Bipola‐ rität der Handlung ab: Den zweiten Fixpunkt innerhalb der Reflexion stellt die teilweise in theologisch-personifizierender Weise überhöhte und poetisch aus‐ gestaltete Rache sowie konkret die Gestalt Orests dar. Nur dem durch den Prolog informierten Rezipienten ist dabei bewusst, dass die chorischen Anspielungen und Verweise sowie die Vertröstungen auf eine unbestimmte Zukunft bereits die tatsächlichen Gegebenheiten wiedergeben. Neben der solchermaßen auf die Grundkonstellation der Handlung zielenden Fokussierung leisten einige (Leit-)Motive der chorischen Ausdeutung eine be‐ grenzte Kontextualisierung, die das Handlungsgeschehen im Rahmen der Fa‐ miliengeschichte sowie eines Dike-Diskurses ausleuchtet.

3. Gesamtschau Frauenchöre: emotionale Bindung, bipolare Imagination / Visualisierung, kontextualisierende Deutung Mit ihren (junge) Frauen darstellenden Chören bilden Elektra und Trachinie‐ rinnen hinsichtlich der Rollenidentität des Chors eine zweite Gruppe innerhalb der uns überlieferten Tragödien des Sophokles (Spektrum I). In beiden Fällen ist die weibliche Hauptperson (Elektra bzw. Deianeira) zugleich die Bezugsperson und wesentliche Kommunikationspartnerin des Chors. Im Personenspektrum der jeweiligen Tragödien sind beide in Rede stehenden Chöre dabei weder durch eine sich unmittelbar aus ihrer Rollenidentität erge‐ benden Notwendigkeit verortet (wie die Soldatenchöre im Philoktet bzw. im Aias), noch personifizieren sie den unmittelbaren Bezugsrahmen der Handlung selbst (wie es sowohl den Soldatenchören in Philoktet und Aias als auch den politischen Greisenchören zukommt). Ihre Bindung zur Bezugsperson ist da‐ gegen im Wesentlichen emotionaler Art: Als Identifikationsbasis dient dabei die momentane Situation der Hauptheldin, die sich in beiden Fällen zu Beginn der Bühnenhandlung einer für sie besonders belastenden Situation ausgesetzt sieht. Die durch den Chor dargestellten Frauen stehen der Heroine in der jeweiligen Situation mit Trost und Rat zur Seite; bereits das Auftreten beider Chöre ist

3. Gesamtschau Frauenchöre

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dementsprechend motiviert.352 Die chorischen Äußerungen verstehen sich damit im Wesentlichen als Reaktion auf die Emotionalität der Hauptheldin, die sie entweder im Sinne eines Resonanzbodens volltönend orchestrieren,353 oder durch den Verweis auf allgemeine Prinzipien zu beschwichtigen und auf ein Normalmaß zu reduzieren versuchen.354 Konkret ausgestaltet wird diese emotionale Bindung zwischen Chor und Be‐ zugsperson besonders in den Formteilen, die einen (tatsächlichen oder von einer Seite intendierten) Austausch der beiden inszenieren. Bereits die Auftrittssze‐ nerien der Chöre sind dabei programmatisch: Die dem durch Deianeira ge‐ prägten Prolog folgende Parodos der trachinischen Frauen ist zwar eine rein chorische Partie, versteht sich aber als direkte Anrede der Hauptheldin (v. 122). Im geordneten Nacheinander der Formteile Prolog und Parodos sind Protago‐ nistin und Chor zunächst für sich etabliert, bevor die trachinischen Frauen durch die Ansprache der Heroine den direkten Austausch intendieren. Die Reflexion des Chors ist mit der Parodos von Beginn an als eigenständiges Strukturmerkmal der Tragödie etabliert; in Form der vier Stasima ist sie regelmäßig in den Verlauf der Handlung eingebunden. Die in ihrer formalen Komposition innerhalb des uns überlieferten Werks des Sophokles einmalige Auftrittsszenerie der Elektra stellt dagegen die Protago‐ nistin ganz in den Mittelpunkt des Geschehens, etabliert die entscheidende Ge‐ sprächssituation und inszeniert als in hohem Maße emotionale Partie bereits grundlegende Aspekte der Beziehung zwischen den mykenischen Frauen und Elektra. Der chorischen Stimme kommt dabei auch im Fortgang des Stücks eine weniger ausgeprägte Selbstständigkeit zu: Neben den drei Stasima (von denen das letzte besonders kurz ist), sind im Besonderen die zwei weiteren Amoibaia mit Elektra (v. 823 ff., 1398 ff.) von entscheidender Bedeutung. Innerhalb der beiden Tragödien erfährt das Verhältnis zwischen Chor und Be‐ zugsperson jeweils eine spezifische Veränderung. Gravierender Einschnitt in‐ nerhalb der Trachinierinnen ist dabei die schuldhafte Verstrickung Deianeiras in das letztlich tödliche Schicksal des Herakles sowie ihr durch den stillen Abgang deutlich als finales Ausscheiden aus der Handlung markierter Abtritt. Damit ist der direkte Austausch zwischen Chor und Bezugsperson beendet; die auf den Abtritt folgenden Stasima thematisieren daraufhin noch einmal die Gestalt Dei‐ aneiras, deren Handeln dabei einer aus Sicht des Chors finalen Bewertung un‐ 352 353 354

Elektra v. 251 f., Trachinierinnen v. 141 f. Vgl. im Besonderen Trachinierinnen, Lied im ersten Epeisodion v. 205 ff., Elektra, zweiter Kommos v. 823 ff. Vgl. Trachinierinnen, Parodos v. 122 ff., Elektra, Auftrittsamoibaion v. 121 ff.

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II. Frauenchöre

terzogen wird. Zu einer Nahbeziehung zwischen dem Chor und dem in An‐ schluss an Vers 970 auftretenden Herakles kommt es dabei allerdings nicht. Da dem Chor mit Deianeira sowohl der unmittelbare Bezugs- und Identifikations‐ punkt als auch der konkrete Gesprächspartner innerhalb der Handlung verloren gegangen ist, stehen die trachinischen Frauen dem letzten Abschnitt der Tra‐ gödie (d. h. dem Gespräch zwischen Vater und Sohn) im Wesentlichen unbetei‐ ligt gegenüber. Obwohl Elektra dagegen für die gesamte Dauer des Stücks im Geschehen bleibt und sich die im Auftrittsamoibaion etablierte, geradezu intime Gesprächs‐ situation Protagonistin-Chor im Lauf des Stücks noch zweimal wiederholt, tritt der Chor nach dem Auftritt Orests zunächst kurzzeitig in den Hintergrund: Zwar nehmen die Frauen an der Zusammenführung von Bruder und Schwester Anteil, zu einem emotionalen Austausch zwischen Elektra und dem Chor kommt es allerdings nicht wieder. Auch das dem dritten Stasimon folgende Aktionsamoi‐ baion zielt ganz auf die möglichst drastische Darstellung der hinterszenischen Handlung und erreicht im Wiederauftritt Orests seinen Höhepunkt; der Chor steht auch hier dem eigentlichen Geschehen als zwar emotional Involvierter gegenüber, von Seiten Elektras hat hingegen ihr Bruder die Rolle des eigentli‐ chen Gesprächs- und Handlungspartners übernommen. Ein wesentliches strukturelles Moment der Handlungen der beiden Tragödien ist ihre Bipolarität. In beiden Fällen ist der weiblichen Hauptperson eine männ‐ liche gegenübergestellt; beide Personen verbindet dabei ein besonders inniges, familiäres Verhältnis: Geschwisterschaft bzw. „Ehe“.355 Die beiden Personen stehen sich dabei nicht kontrastiv gegenüber,356 sondern sind im Wesentlichen als Pole einer besonders engen Zweierbeziehung zu verstehen.357 Grundlegendes

355 356

357

Auf eine Problematisierung dieses Begriffs unter den Maßgaben der dem Drama zu Grunde liegenden Ehevorstellungen ist hier verzichtet worden. Das unterscheidet die Personenkonstellation der beiden Tragödien vom kontrastiven Gegeneinander der Protagonistin und Kreons in der Antigone; auch dort entfaltet sich die Handlung um zwei Pole herum, die allerdings als Antagonisten einander entgegen‐ gesetzt sind, kein gemeinsames Ziel anstreben und zwischen denen (trotz der Ver‐ wandtschaft) keine emotionale Zweierbeziehung besteht. Fundamentaler Unterschied beider Tragödien ist, dass diese Zusammengehörigkeit in den Trachinierinnen, d. h. konkret: die Ehe zwischen Herakles und Deianeira, in spezi‐ fischer Weise gestört ist und die Wiederherstellung der im Besonderen von Deianeira angestrebten Einheit in Folge dessen scheitert. Elektra (und der Chor) sind dagegen zunächst über den Stand der Beziehung zu Orest im Ungewissen, werden daraufhin glauben gemacht, ihre Hoffnungen auf eine Wiedervereinigung der Geschwister sei haltlos, bevor sich die ersehnte Zusammenführung der Geschwister doch vollzieht.

3. Gesamtschau Frauenchöre

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Motiv beider Tragödien ist zudem die Erwartungshaltung der weiblichen Haupt‐ person, die dem Erscheinen ihres Mannes bzw. ihres Bruders entgegensieht. Sowohl die männliche wie auch die weibliche Hauptperson sind dabei das Zentrum einer je eigenen Handlungssphäre. Das Wechselspiel dieser beiden Sphären prägt dabei die Konstruktion und Dramaturgie der beiden Tragödien maßgeblich: Ausgehend von einer komplexen Verwebung der beiden Sphären konstituiert ihre schrittweise Annäherung den Fortschritt des jeweiligen Stücks, bevor ihre letztliche, d. h. vorderszenische und allen Akteuren bewusste Zu‐ sammenführung (Elektra) bzw. die Überführung und Ersetzung der einen durch die andere (Trachinierinnen) den Kulminationspunkt des Geschehens darstellen. Der bipolaren Handlungsstruktur ist dabei ein raffiniertes Spiel mit den un‐ terschiedlichen Lokalitäten einbeschrieben: Während in den Trachinierinnen Herakles bis zu seinem Auftritt zu Beginn des letzten Teils der Tragödie aus‐ schließlich hinterszenisch sowie in einigem Abstand vom Ort des dramatischen Geschehens agiert, bildet Orests Ankunft am Handlungsort sowie sein vorder‐ szenisch, d. h. mit Wissen des Publikums ins Werk gesetzter Plan den Beginn der Bühnenhandlung. In der chorischen Auseinandersetzung mit dieser Bipolarität zeigen sich in‐ nerhalb der beiden Tragödien sowohl gewisse Parallelen als auch Unterschiede. In beiden Fällen kommt es im Besonderen der chorischen Reflexion zu, die zweite Handlungssphäre in das Bewusstsein der Rezipienten zu bringen. Im Wesentlichen bedienen sich die chorischen Partien dabei imaginierender bzw. visualisierender Strategien, um ein der vorherrschenden Stimmung gemäßes Bild der größtenteils hinterszenischen Vorgänge zu zeichnen (Spektrum II). Dabei bieten die chorischen Passagen, wie bereits ad locum erwähnt, keine ob‐ jektive Ausleuchtung der tatsächlichen Verhältnisse außerhalb des unmittel‐ baren Bühnenraums; sie leuchten das imaginierte bzw. visualisierte Geschehen oder den solchermaßen vorgestellten Zustand vielmehr auf Basis der vorder‐ szenischen Gegebenheiten aus und thematisieren implizit den engen Konnex der beiden Handlungssphären. Von besonderer Bedeutung ist dabei freilich der Blick des Chors auf die Zent‐ ralgestalt der zweiten Handlungssphäre, d. h. auf Herakles bzw. Orest. Während dem Chor der Trachinierinnen dabei Herakles als fest umrissene Gestalt vor‐ schwebt, deren Heimkunft ab einem frühen Zeitpunkt des Stücks in greifbare Nähe gerückt ist, erscheint dem Chor der Elektra Orests Wiederkehr als heftig ersehntes, allerdings in unbestimmter Zukunft liegendes Ereignis. In beiden Fällen erwächst aus dieser Konstruktion eine besondere Ironie: Während die Anspielungen und Verweise des Chors auf Orests ersehnte Ankunft bereits un‐ bewusst die gegebenen Verhältnisse abbilden, wird Heraklesʼ Ankunft zur vi‐

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II. Frauenchöre

suellen Konfrontation mit der vom Chor zu Beginn des Stücks nicht vorausge‐ ahnten, vom Publikum allerdings antizipierten Katastrophe. Durch ihre Ausrichtung auf die beiden Handlungssphären bzw. die prägenden Gestalten des Geschehens ist die Reflexion der beiden in Rede stehenden Tra‐ gödien im Wesentlichen fokussierend funktionalisiert (Spektrum III). Sie kon‐ zentriert ihre Aufmerksamkeit dabei auf Momente der Handlung selbst und ruft die bipolare Struktur des Geschehens an entscheidenden Punkten (unter Einsatz besonderer tragischer Ironie) ins Bewusstsein. In weit höherem Maß als im Fall von Philoktet und Aias dienen die Chorpas‐ sagen der vorliegenden Tragödien dabei neben ihrer fokussierenden Funktion auch der eigentlichen Ausdeutung des Geschehens und damit der Kontextuali‐ sierung der Handlung. Die Einzelzusammenfassungen haben dabei die ent‐ scheidenden Motive und Themen herausgearbeitet: Während in den Trachinie‐ rinnen im Besonderen das Kypris-Motiv sowie die Thematik des unsteten Wechsels des menschlichen Lebens einen Deutungsrahmen aufspannen, ist es in der Elektra im Wesentlichen die (durchaus auch fernere) Familiengeschichte und die damit zusammenhängende Eltern-Kind-Thematik, vor deren Hinter‐ grund das aktuelle Geschehen verortet wird. Beiden Kontextualisierungs‐ rahmen gemein ist darüber hinaus der konstante religiös-theologische Blick auf das Geschehen, der sich im Besonderen in der Elektra zur überhöhenden Or‐ chestrierung des aktuellen Rachegeschehens steigert (drittes Stasimon mit an‐ schließendem Amoibaion). Die kontextualisierenden Motive und Themen entspringen dabei in beiden Tragödien der Handlung selbst; in einigen Fällen versteht sich die chorische Reflexion dabei geradezu als Fortsetzung der durch eine Person angestoßenen Beschäftigung mit den entsprechenden Inhalten.358 Der so eröffnete Deutungsund Interpretationsrahmen spiegelt also die entscheidenden Motive des Ge‐ schehens. Die kontextualisierende Deutung des Geschehens entfernt sich dem‐ entsprechend nicht wesentlich von der eigentlichen Handlung. Zusammengefasst lässt sich sagen: Die kontextualisierende Ausdeutung ent‐ springt ganz der Handlung selbst, ist durch die emotionale Bindung des Chors zur (weiblichen) Hauptperson motiviert und interpretiert das Geschehen an‐ hand einiger der Aktion sowie dem Bühnendiskurs entspringender Motive und Themen.

358

So nimmt z. B. das erste Stasimon der Trachinierinnen die durch Deianeira in den Versen 441 ff. angestoßene Eros-Thematik auf, während die im zweiten Stasimon der Elektra prominent entfaltete Familienthematik eine Reaktion der unmittelbar vorausgegan‐ genen Entzweiung der Protagonistin mit ihrer Schwester darstellt.

3. Gesamtschau Frauenchöre

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Mit den beiden Frauenchören im uns überlieferten Werk des Sophokles greifen wir eine besondere Mischung von fokussierender und kontextualisierender Re‐ flexion, die auf Grund der emotionalen Bindung des Chors an das Geschehen und seine Hauptakteure in besonderer Weise der Aktion und den sie prägenden Personen und Motiven verpflichtet ist. Herausragende dramaturgische Relevanz entfalten die Chorpartien dabei in der Ausgestaltung der jeweils zweiten Hand‐ lungssphäre, womit nicht nur die grundlegende Bipolarität des Geschehens ab‐ gebildet, sondern dem Handlungsverlauf zudem besondere tragische Ironie ein‐ beschrieben wird.

III. Greisenchöre 1. Oidipus Tyrannos Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur

Bereits für Aristoteles war der Oidipus Tyrannos ein maßgeblicher Referenz‐ punkt:1 Die vorliegende Tragödie dient ihm in seiner Poetik an verschiedenen Stellen als Exempel der mustergültigen Realisierung zentraler Wesensmerkmale der Gattung.2 Angesichts der (an biologistischen Modellen orientierten) Hypo‐ these von der schrittweisen Entfaltung der Gattung bis zur Ausbildung ihrer ureigenen Gestalt (φύσις)3 wird man nicht fehlgehen, Aristoteles zu unter‐ stellen, er habe im Oidipus Tyrannos eine besonders gelungene Verwirklichung dieser φύσις gesehen. Im Anschluss an Aristotelesʼ Hochschätzung des Werks finden sich weitere lobende Meinungen aus der Antike;4 schließlich erscheint das vorliegende Stück spätestens seit der Renaissance als Musterbeispiel der Tragödie5 und entfaltet

1 2 3 4 5

Zu Aristotelesʼ Verhältnis gegenüber Sophokles vgl. W OODRUFF (2014). „Sophocles: Aristotle and Sophoclean Drama.“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy III, hrsg. v. R OISMAN (2014), Malden (MA), S. 1270 – 1273. So zur Peripetie 1452 a 24 ff., zum Umgang mit dem ἄλογον 1454 b 7 f., zur Anagnorisis 1455 a 18. Auf die Schwierigkeiten und Ungereimtheiten weist dabei L UCAS (1968). Aristotle Poetics: Introduction, Commentary and Appendixes, Oxford ad locum hin. Vgl. die Ausführungen im vierten Kapitel der Poetik, im Besonderen 1449 a 14 ff. So Ps.-Longin de sublimitate 33,5 et passim (P RICKARD (21  947). Libellus de sublimitate Dionysio Longino fere adscriptus […], Oxford.) sowie die Hypothesis des Aristophanes (bei P EARSON (1924)). Vgl. H ÜHN /V ÖHLER (2008). „Oidipus.“ in: DNP Supplemente Band 5 Mythenrezeption, S. 500 – 511, S. 501: „Seit der Wiederentdeckung der aristotelischen Poetik (lat. Erstaus‐ gabe 1498) gilt der sophokleische Oed. T. […] als Muster der nzl. Tragödientheorie“.

1. Oidipus Tyrannos

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damit über Jahrhunderte gattungsprägende Wirkung.6 Als Schullektüre ist es zudem seit byzantinischer Zeit7 bis in die Gegenwart präsent.8 Der zu Grunde liegende Mythos ist im Wesentlichen durch die vorliegende Tragödie selbst geprägt und damit weitestgehend bekannt: Oidipus, Sohn von Laios, dem Herrscher Thebens, und seiner Frau Iokaste, wurde als Kleinkind durch seine Eltern im Kithairongebirge ausgesetzt, da sie hofften, so dem Ora‐ kelspruch, Laiosʼ Sohn werde seinen Vater töten und seine Mutter ehelichen, zu entkommen. Oidipus entgeht allerdings durch das Mitleid eines Hirten dem si‐ cheren Tod, gelangt nach Korinth und wächst dort als Sohn des Herrschers Po‐ lybos und dessen Frau Merope auf. Von Zweifeln hinsichtlich seiner wirklichen Herkunft geplagt verlässt er nach Kenntnisnahme des Orakels aus Angst Ko‐ rinth, erschlägt ohne Wissen seinen Vater bei einer Streitigkeit um die Vorfahrt an einer Kreuzung (Geschehen am Dreiweg) und gelangt schließlich nach Theben. Dort befreit er die Stadt von der Vorherrschaft der Sphinx, indem er deren Rätsel löst, wird Herrscher über die Stadt und nimmt daraufhin die Kö‐ nigswitwe Iokaste, seine eigene Mutter, zur Frau, mit der er in der Folgezeit vier Kinder zeugt. Die vorliegende Tragödie inszeniert nun die schrittweise Aufdeckung der wahren Umstände und damit der Identität des Haupthelden einige Jahre nach der referierten Vorgeschichte. Um zu erfahren, warum Theben von einer Seuche heimgesucht wird und was dagegen zu tun sei, hat Oidipus seinen Schwager Kreon nach Delphi geschickt. Ursächlich, so das Orakel, sei der bisher unge‐ sühnte Mord an Laios; der Täter sei entweder mit dem Tod oder der Verbannung zu bestrafen. Oidipus nimmt die Suche nach dem Mörder sofort mit besonderem Nachdruck in Angriff. Dem hinzugerufenen Seher Teiresias, der ihm die eigene Täterschaft vor Augen führt (vgl. besonders v. 362), schenkt er allerdings keinen Glauben; ein Streit mit Kreon, dem Oidipus intrigantes Verhalten und eigene Avancen auf die Herrschaft über Theben vorwirft, endet ergebnislos in gegen‐ 6

7 8

Angesichts dieser Wertschätzung der Tragödie in Altertum und Neuzeit vermag die in der Hypothesis des Aristophanes mit Verweis auf Dikaiarch gegebene Angabe hin‐ sichtlich des mangelnden Erfolgs bei der Aufführung zu verwundern: Sophokles musste sich, so die Notiz, Philokles geschlagen geben, das Stück bzw. die Tetralogie, in der es enthalten war, fiel also beim Publikum bzw. der Jury des tragischen Agons durch (vgl. P EARSON (1924)). H ÜHN /V ÖHLER (2008): „In Byzanz überlebte der sophokleische Oed. T. durch die Ver‐ wendung im Schulunterricht. Er gehört zur byzantinischen Trias, die je drei Stücke der drei wichtigsten griech. Tragiker umfaßt“ a. a. O. So etwa im Leistungsfach Griechisch im Themenbereich „Tragödie“ unter dem Ge‐ sichtspunkt „Scheitern der menschlichen Intelligenz“; vgl. Lehrplan Griechisch, Grundund Leistungsfach Jahrgangsstufen 11 bis 13 der gymnasialen Oberstufe (1998) des Landes Rheinland-Pfalz S. 52 – 54.

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III. Greisenchöre

seitigen Vorwürfen, nur Iokastes Auftritt und das Einschreiten des Chors kann eine weitere Eskalation verhindern. Im Gespräch mit Iokaste (v. 697 – 862) ent‐ wickelt Oidipus daraufhin zum ersten Mal ein Problembewusstsein hinsichtlich seiner eigenen Person. Er gibt den Auftrag, nach einem alten Diener des Laios, einem Augenzeugen des Geschehens am Dreiweg, von dessen Existenz ihn Io‐ kaste unterrichtete, schicken zu lassen. Mit dem Auftritt eines Boten aus Ko‐ rinth, der den Tod des Polybos meldet, spitzt sich die Situation weiter zu: Oidipus erfährt, dass der verstorbene Herrscher nicht sein Vater war. Vielmehr hat ge‐ rade der aufgetretene Bote Oidipus als Kleinkind im Kithairongebirge von einem Hirten übergeben bekommen und nach Korinth gebracht. Während Iokaste den Zusammenhang versteht und das Geschehen verlässt, um sich selbst das Leben zu nehmen, ist Oidipus entschlossen, seine Herkunft gänzlich offenzulegen. Der Auftritt des bereits seit einiger Zeit erwarteten Augenzeugen bringt schließlich die Lösung: Dieser ist kein anderer als der vom korinthischen Boten erwähnte Hirte, der den jungen Oidipus auf Laiosʼ Geheiß aussetzen sollte. Oidipus sieht sich daraufhin mit der Realität konfrontiert, verlässt die Bühne, um sie nach einem Chorlied sowie der Meldung von Iokastes Tod wieder zu betreten. Er hat sich in der Zwischenzeit selbst geblendet und beklagt mit dem Chor sein Schicksal. Ein letztes Zwiegespräch mit Kreon lässt das Drama in einer ver‐ söhnlichen Stimmung ausklingen. Neben dem engsten mythologischen Personenkreis (Oidipus, Kreon, Iokaste) lässt Sophokles mit Teiresias eine weitere dem Mythos entnommene Person auftreten. Die übrigen Rollen (Bote und Diener des Laios) erscheinen zunächst als reine Nebenrollen, die keinen wirklichen Bezug zur Handlung haben. In So‐ phoklesʼ geschickter Komposition des Mythos nehmen sie allerdings, wie sich herausstellt, in Wahrheit zentrale Schlüsselpositionen ein: Sie sind nicht nur Augenzeugen der beiden entscheidenden Geschehnisse der Vorgeschichte (des Aussetzens des Säuglings sowie des Geschehens am Dreiweg), sondern bilden mit ihrem Auftreten die Klimax des gesamten Bühnengeschehens. Der Chor besteht aus thebanischen Greisen, die dem jeweiligen Herrscher der Stadt als Beratungsorgan zur Seite stehen. Ihre rollenimmanent loyale Hal‐ tung gegenüber Oidipus lässt sie gegenüber Teiresiasʼ Aussagen die Position deutlicher Kritik einnehmen und dient dem Dichter in besonderem Maß zur Einbindung tragisch-ironischer Reflexionen, die das Vorwissen der Zuschauer bzw. sogar die aktuelle Bühnenhandlung selbst bewusst konterkarieren. Die Tragödie ist in ihrer sequentiellen Folge von Epeisodion und Stasimon im Wesentlichen konventionell gebaut; das lange zweite Stasimon gliedert ein Amoibaion, das Kreons Ab- und Iokastes Auftritt inszeniert, wohingegen der

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finale Auftritt des Haupthelden durch einen Kommos zwischen ihm und dem Chor in Szene gesetzt wird. Interpretation Prolog (v. 1 – 150)

Oidipus reagiert verständnisvoll: Natürlich wisse er um den Zustand Thebens, er leide selbst ganz besonders darunter und habe bereits in die Wege geleitet, was ihm als einzig mögliche Heilung (ἴασιν) der Stadt erschien: Kreon, seinen Schwager, habe er nach Delphi zum Orakel geschickt, um dort zu erfragen, was zu tun sei. Schon sorgt sich der Stadtherr um Kreons Verbleiben, weil seit seiner Aussendung mehr Zeit vergangen sei, als normalerweise für den Weg nötig wäre (v. 73 f.). Da beruhigt ihn der Priester: Eben sei ihm gemeldet worden, Kreon sei schon auf dem Weg hierher. Wenige Verse später betritt der Angekündigte schließlich die Bühne und kann auf Oidipusʼ Frage, was für eine Botschaft er aus Delphi bringe, antworten: ἐσθλήν, eine gute (v. 87). Im folgenden Dialog (bis v. 131) referiert Kreon auf die Fragen des Stadtherrn die Aussagen des Orakels sowie die zum Verständnis notwendige Vorgeschichte: Ursache der Seuche sei die Befleckung des Landes (μίασμα χώρας v. 97), hervorgerufen durch den bis jetzt ungesühnten Mord an Laios. Allein die Vertreibung oder der Tod der Täter könne die notwendige Reinigung (καθαρμῷ v. 99) darstellen. Laios sei, so in‐ formiert Kreon seinen Schwager, einer Gruppe von Räubern zum Opfer gefallen, die allerdings bis jetzt unerkannt geblieben seien. Ein einziger Zeuge des Ge‐ schehens, der aus Angst geflohen war, habe bis zu diesem Zeitpunkt überlebt. Eine weitere Untersuchung des Vorfalls sei damals durch den Einfluss der Sphinx unmöglich gewesen. Oidipus, nun über die wesentlichen Vorgänge ins Bild gesetzt, gibt sich ent‐ schlossen: Erneut werde er Licht in die Dunkelheit9 bringen (φανῶ v. 132), indem er die Aufklärung des Falls und die Rache des Laios selbst in Angriff nehme. Als Kampfgenosse an der Seite der Versammelten und Rächer im Auftrag des Landes und des delphischen Gottes werde er selbst die Befleckung aus der Welt schaffen (v. 135 ff.). Mit dem Auftrag, das Stadtvolk hier zusammenzuführen, verlässt er in Vers 146 energisch die Bühne. Der Zeuspriester fordert daraufhin die Anwe‐ senden zum Gehen auf und gibt seinem Wunsch Ausdruck, Phoibos, der diesen Orakelspruch sandte, möge als Retter und Beender der Seuche selbst erscheinen. Mit den Statisten verlässt auch er die Bühne in Vers 151. 9

Übersetzung in Anlehnung an S TEINMANN (2002). Sophokles König Ödipus. Überset‐ zung und Nachwort, Stuttgart. Angespielt ist damit natürlich auf die Befreiung Thebens von der Vorherrschaft der Sphinx durch Oidipus.

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III. Greisenchöre

Die dramaturgischen Intentionen des Prologs liegen klar zu Tage: Oidipus, dem als Protagonisten die ersten Worte des Dramas zukommen, ist Dreh- und An‐ gelpunkt des Geschehens. Er ist der sorgende Landesvater, Anlaufpunkt seines Volkes in Bedrängnis und hat nur das Wohl seiner Stadt im Auge. Seiner be‐ sonderen Stellung ist er sich dabei wohl bewusst, an Selbst- und Sendungsbe‐ wusstsein fehlt es ihm nicht. Der in seinem Mitleid und der tatkräftigen Dy‐ namik seines Handelns im besten Sinne sympathische Protagonist hält so schon zu Beginn der Tragödie die Fäden der Handlung zusammen. Der Prolog teilt sich in formaler Hinsicht in zwei Abschnitte: Dem relativ statischen Gespräch zwischen Oidipus und dem Priester (v. 1 – 77) steht nach der kurzen Auftrittsankündigung Kreons (v. 78 – 86) der bewegte und durch schnellen Sprecherwechsel belebte Dialog Kreons mit dem Protagonisten ge‐ genüber. Während dabei im ersten Teil die gegenwärtige Situation der Stadt sowie das Verhältnis der Bürger zu ihrem Landesherrn den Inhalt der monolo‐ gisierenden Partie bildet, entwickelt das folgende Zwiegespräch eine Rückschau in die Vergangenheit sowie mit der in Aussicht gestellten Rache des Laios eine mögliche Zukunftsaussicht. Nachdem so der Prolog als bildmächtige Schilde‐ rung der aktuellen Lage begann, wird er durch den Auftritt Kreons und seine Unterredung mit Oidipus zur ersten dynamischen Szene der Handlung selbst. Anders als im Aias, der Antigone oder der Elektra, wo intime, der eigentlichen Handlung vorgeschaltete Zusammenkünfte die Zuschauer in Ort und Zeit der Handlung, Figurenkonstellation und Vorgeschichte einführten, beginnt hier das eigentlich dramatische Geschehen gleich zu Beginn der Tragödie: Schon der Prolog ist eine ausführliche Komposition unter Beteiligung einigen Personals, die Anwesenheit der bittflehenden Statisten lässt die Szenerie als ein zumindest halböffentliches Ereignis innerhalb der Stadthierachie erscheinen, die Präsenz und Aktivität des Protagonisten markiert die Szenerie dabei als bewussten Be‐ ginn der dramatischen Handlung. Selbst die Information über das entscheidende Ereignis der Vergangenheit ist strukturell in die Handlung eingebunden: Die Wiedergabe der relevanten Informationen ist kein Fremdkörper innerhalb des dramatischen Geschehens, sondern konstituiert selbst einen wesentlichen Part des Gesprächs zwischen den Akteuren und fügt sich so organisch in den Ablauf der Handlung. Oidipusʼ herausragende Stellung als Protagonist ist dabei augenfällig insze‐ niert. Zum einen bildet er das Zentrum des gesamten Personals: Auf ihn als Stadtherrn konzentrieren sich die Hoffnungen der Bevölkerung, er ist sich seines Führungsanspruchs selbst vollauf bewusst und trägt besondere Sorge um seine Stadt sowie deren Bewohner; im Verhältnis zu seinem Schwager erweist er sich als bestimmt auftretendes Familienoberhaupt. Auch dramaturgisch ge‐

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sehen dominiert Oidipus die Handlung in der unmittelbaren Vergangenheit, der dramatischen Gegenwart sowie der Aussicht auf Zukunft: Seine bereits im Vor‐ feld getroffenen Maßnahmen generieren den dramatischen Impuls, der die Büh‐ nenhandlung anstößt; er ist sichtbares Zentrum der aktuellen Situation und steckt zugleich mit der Ankündigung seines entschiedenen Handelns den Er‐ wartungsrahmen für das Folgende ab. Kurz gesagt: Oidipus ist das personale und dramaturgische Zentrum des Geschehens, seine Präsenz und Aktivität kon‐ stituieren die Bühnenhandlung. Für die mit dem Mythos vertrauten Zuschauer und Leser10 ist diese Fixierung auf Oidipus freilich doppelbödig: Von Anfang an erkennen sie im Protagonisten den Mörder des Laios und somit den eigentlichen Urheber der Geschehnisse. Nicht die im Prolog verhandelten Informationen, sondern das dynamische Auf‐ treten des Handlungsträgers selbst versorgt so die Rezipienten mit dem Wis‐ sensvorsprung, der sie gegenüber den Akteuren und dem Chor auszeichnet. Auch der Abtritt der Prologsprecher ist von Dynamik geprägt: Oidipusʼ Anord‐ nung, das Volk zu versammeln, lässt im Folgenden eine Ansprache des Prot‐ agonisten an die Bewohner der Stadt, also eine offizielle Stellungnahme des Herrschers zu den ihm aufgedeckten Geschehnissen erwarten. Das Abtreten der Bittflehenden unter der Führung des Priesters und der Auftritt des Chors sind dabei sinnfällige Inszenierungen dieser Dynamik: Der Prolog schließt so mit einem deutlichen Handlungsimpuls, der den Auftakt des Folgenden bildet. Parodos (v. 151 – 215)

Mit Vers 151 betritt der Chor der thebanischen Greise die Orchestra. Ihr Auf‐ treten motiviert sich aus dem Auftrag des Stadtherrn, das Volk, d. h. vor allem

10

Die Frage, inwieweit das antike Publikum mit den in den Tragödien verarbeiteten My‐ then vertraut war, ist umstritten und letztlich im Einzelfall wohl kaum zu lösen. Symp‐ tomatisch für diese Problematik sind bereits zwei Äußerungen des Aristoteles, der zwar hinsichtlich der überlieferten mythologischen Stoffe zu bedenken gibt, sogar die be‐ kannten Tatsachen (τὰ γνώριμα) seien nur wenigen bekannt (Poetik 1451 b 25 f.), in seiner Rhetorik allerdings festhält, die meisten bedürften, wenn es um Achill geht, keiner Erörterung, da sie dessen Taten kennten; bei einer Beschäftigung mit Kritias dagegen müsse man weiter ausholen (Rhetorik 1416 b 27). An eine Klärung der Frage – d. h. eine verlässliche Auskunft, ob das Publikum unserer Tragödie in Gänze mit dem Oi‐ dipus-Mythos vertraut ist und wie weit diese Kenntnis reicht – ist freilich an unserer Stelle nicht zu denken. Ich halte allerdings dafür, dass die prominente Gestalt des Oi‐ dipus und damit freilich das Grundmoment seines Mythos – er selbst ist Mörder des Vaters und Mann seiner eigenen Mutter – zumindest bei einem großen Teil des Publi‐ kums bekannt gewesen sein wird, wenngleich sich diese Annahme nicht wirklich be‐ weisen lässt.

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III. Greisenchöre

die politisch Verantwortlichen (und damit eben den Chor) am gegebenen Ort zu versammeln. Mit seiner ersten Äußerung wendet sich der Chor direkt an den „lieblichen Spruch des Zeus“ (ἁδυεπὲς φάτι), der vom goldenen Delphi ins hochberühmte Theben kam, und fragt nach dessen Beschaffenheit (τίς ποτε ἔβας v. 151). Wie auch B URTON bemerkt,11 ist damit die Frage des Oidipus an den auftretenden Kreon aus Vers 86 wieder aufgenommen, die so wachgerufene Situation aus der Mitte des Prologs scheint sich mutatis mutandis zu wiederholen. Bereits hier müssen wir kurz innehalten und uns mit einer für das Verständnis des Liedes zentralen Frage beschäftigen: Inwieweit sind die Choreuten über den Stand der Dinge informiert? Dass der Chor von der Entsendung nach Delphi weiß und auch bereits erfahren hat, dass eine Antwort des Orakels in Theben eingetroffen ist, erschließt sich aus der referierten Frage an den Götterspruch selbst. Konkret können wir allerdings weiterfragen: Besitzt der Chor bereits Kenntnis über den Inhalt der göttlichen Weisung? K AMERBEEK tendiert in seinem Kommentar dazu, dem Chor das Wissen um die Antwort Apolls bereits zu diesem Zeitpunkt zuzuschreiben, wenn er mit Blick auf Oidipusʼ Ansprache an die thebanischen Greise im Anschluss an das Lied (v. 216 ff.) festhält: „Oedipusʼ declaration in the next scene is made in such a way that he appears to assume their [i.e. der Choreuten] knowledge of Apolloʼs answer“. Er fordert daher mit Blick auf den Beginn des Liedes: „So it seems better to interpret τίς as asking not for the wording but for the implications of the oracle.“12 Allerdings wider‐ sprechen Wortlaut und Thematik des Auftrittsliedes dieser These: Zum einen müsste sich ein um den Inhalt des Orakels wissender Chor die in den Versen 155 ff. folgenden, von furchtsamer Ungewissheit geprägten Fragen nach der Be‐ schaffenheit der göttlichen Weisung nicht stellen.13 Zum anderen findet sich innerhalb des gesamten Liedes weder eine Thematisierung der aus Delphi er‐ gangenen Auskünfte hinsichtlich des Grundes der Seuche und möglicher Ge‐ genmaßnahmen noch ein Verweis auf die Vorgeschichte und die Geschehnisse rund um Laiosʼ Tod. Dieser völlige Verzicht auf eine Auseinandersetzung mit dem Inhalt des Orakelspruchs macht es äußerst unwahrscheinlich, dass der Chor bereits zu diesem Zeitpunkt um den Inhalt der durch Kreon übermittelten Ant‐ wort aus Delphi weiß. Ich nehme daher im Folgenden an, dass die sorgenvolle Haltung des Chors gerade aus der Unwissenheit bezüglich des Götterspruchs

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Vgl. B URTON (1980) S. 141: „[…] a lyric expansion of Oedipusʼ question to Creon at 85 f.“. K AMERBEEK (1967). The Plays of Sophocles, Commentaries Part IV The Oedipus Ty‐ rannus, Leiden, S. 57. Diesen Einwand bezieht auch K AMERBEEK a. a. O. in seine Abwägung ein.

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erwächst, von dessen Ankunft die Greise allerdings bereits Kenntnis haben.14 Damit befindet sich der Zuschauer auch hier in der geradezu standardisierten Informationshoheit gegenüber dem Chor, die nicht nur auf der allgemeinen Kenntnis des Mythos, sondern eben in besonderem Maß auf der Kenntnis der im Prolog mitgeteilten Fakten beruht. Die Greise bekunden nach der Frage, sie selbst seien in höchster Angst und zitterten vor Furcht (δείματι πάλλων) ob der ungewissen Forderung (χρέος), die der delphische Gott an sie stelle. Unter der direkten Anrufung des Gottes (v. 154) stellt der Chor eine Alternative auf: Entweder werde der Gott eine neue (νέον) oder eine erneute, d. h. mit dem Lauf der Stunden wiederholte (περιτελλομέναις ὥραις πάλιν) Forderung zuwege bringen. Sprachlich wir‐ kungsvoll werden dabei sowohl die ängstliche Verfassung der Greise (vgl. das ungewöhnliche Bild15 ἐκτέταμαι φοβερὰν φρένα mit der Alliteration des φ) wie auch die von tiefer Verehrung geprägte Haltung gegenüber der Gottheit (vgl. die Apostrophierung πολυχρύσου Πυθῶνος, der emotionale Imperativ ἰήιε Δάλιε Παιάν in der Mitte der Strophe sowie die wortreich-bildliche Formulie‐ rung ἀμφὶ σοὶ ἁζόμενος16) ins Bild gesetzt. Die abschließenden Verse der ersten Strophe richten sich gezielt an die „göttliche Kunde, das Kind der goldenen Hoffnung“ (χρυσέας τέκνον Ἐλπίδος, ἄμβροτε Φάμα), und erbitten so eindring‐ lich die ersehnte Äußerung (εἰπέ). Diese erste Strophe der Parodos zeichnet sich durch eine geschickte rah‐ mende Komposition aus, die sie geradezu als in sich geschlossenen Vorspruch von den weiteren Ausführungen des Chors abhebt. Strukturell gliedernd wirken die Imperative zu Beginn der Strophe und an ihrem Ende, die jeweils durch ein Adjektiv (ἁδυεπές bzw. ἄμβροτε) und einen Genetiv zur Herkunftsbezeichnung (Διός sowie Ἐλπίδος) ausgestaltet sind, sowie der die Strophe teilende und be‐ reits erwähnte Anruf Apolls (v. 154), der durch die Apostrophierung ἰήιε eine besondere, dem flehenden Gestus der Greise angemessene Färbung erhält. Wei‐

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Selbst die Annahme, der Chor wisse bereits um den Wortlaut und die Forderungen des delphischen Gottes, kann die Interpretation der Parodos nicht wesentlich verändern, da letztlich für die Wirkung des Liedes nicht das eigentliche Wissen der Sprecher, son‐ dern die tatsächliche Äußerung ausschlaggebend ist. Des Weiteren wäre ein über die im Prolog verhandelten Einzelheiten restlos informierter Chor innerhalb der uns über‐ lieferten Tragödien des Sophokles einmalig. Vgl. J EBB (1914). Sophocles The Plays and Fragments with critical notes, commentary and translation in English prose: Part I The Oedipus Tyrannos, Cambridge (repr. of 1893), S. 32: „the bold use of ἐκτέταμαι“ sowie seine Feststellung „ἐκτείνεσθαι is not found elsewhere of mental tension“. Vgl. D AWE (1982). Sophocles Oedipus Rex, Cambridge, S. 106, der zur Übersetzung vor‐ schlägt: „in a state of awe and apprehension prompted by you“.

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tere parallelisierende Elemente zwischen den beiden Imperativen zu Beginn und am Ende der Strophe sind die etymologisch-begrifflichen Wiederaufnahmen φάτι gegenüber Φάμα, ἁδυεπές zu εἰπέ und die erneute Verwendung des Attri‐ buts golden in πολυχρύσου Πυθῶνος und χρυσέας Ἐλπίδος.17 Zwischen den beiden Anrufungen des personifizierten Orakelspruchs schildern die Greise ihre eigene Verfassung und lassen damit das Leid der Stadt bzw. einen Auswuchs desselben bereits anklingen. Dieser Zweiklang aus erflehtem göttlichen Ein‐ greifen und der Schilderung der unerträglichen Zustände wird das Lied in seinem Fortgang prägen. Mit der Gegenstrophe erweitert sich die Gruppe der angerufenen Gottheiten: Zunächst (πρῶτα) kommt Athene in den Blick des Chors, die als Tochter des Zeus (θύγατερ Διός) und – in bewusster Wiederaufnahme des Begriffs aus Vers 157 – als „göttlich“ bzw. „erhaben“ (ἄμβροτʼ) apostrophiert wird. Ihre Schwester, die „landschützende“ Artemis18 (γαιάοχον), sowie der bereits angerufene Phoi‐ bos komplettieren die Trias der vor dem Verderben schützenden Nothelfer (ἀλεξίμοροι), denen der in den codd. durch die (verdoppelte) Interjektion ἰώ19 ausgestaltete Imperativ προφάνητέ μοι „erscheinet mir / tretet mir offenbarend hervor“ (v. 163) gilt. Wie im ὕμνος κλητικός üblich,20 ruft der Chor bereits ver‐ gangenes Eingreifen der Götter in Erinnerung (v. 164 ff.) und schließt mit dem wirkungsvoll am Ende der Strophe stehenden „dann kommt auch jetzt“ (ἔλθετε καὶ νῦν). Den Übergang zum zweiten Strophenpaar, das den Grund für die Invokation der Gottheiten angibt, bildet die Wiederaufnahme des Begriffs πήματα, der be‐ reits in v. 166 (dort im Singular) an die Vergangenheit erinnerte und schließlich hier, durch ἀνάριθμα gesteigert, die Schilderung der gegenwärtigen Situation einleitet. Betont in der ersten Person Singular bekundet der Chor, angesichts der Lage unzählige Leiden zu tragen: Das gesamte Volk der Stadt sei krank, es gebe keine Abwehr, durch die man sich schützen könnte. Als besonders augenfälliges Symptom führen die Greise zwei miteinander verwandte Phänomene an: Die

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Unter diesem formalen Aspekt der Rahmung und bewussten Wiederaufnahme ist die erneute Verwendung des Wortes (auch in der folgenden Gegenstrophe) nicht zu tadeln. D AWE (1982) S. 107 verkennt die gerade durch die wiederholten Begriffe ausgedrückte assoziative Verbindung der beiden Imperative und die im letzten Teil des Liedes wie‐ deraufgenommene Farbenmotivik, wenn er bemerkt „to call Hope ‘golden’ smacks of the perfunctory, since there is no close link with πολυχρύσου“. So in Anlehnung an J EBB (1914) S. 33: „holding or guarding our land“ und D AWE (1982) S. 107 f. L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) folgen in ihrer Ausgabe der Konjektur von Blaydes und lesen statt der Interjektion am Ende von Vers 162 αἰτῶ. Vgl. fünftes Stasimon der Antigone und andere Stellen.

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Erde trage keine Früchte mehr (v. 172), während hinsichtlich menschlicher Fort‐ pflanzung „Sterilität, Totgeburten, Tod im Kindbett oder Missbildungen“ um sich griffen.21 Poetisch gefasst ist die letztere Aussage in eine eindrucksvolle und dennoch schwer verständliche Formulierung (v. 172 – 177),22 die einen beson‐ deren Akzent auf die Schmerzen der gebärenden Frauen (ἰηίων καμάτων) und die schnelle Abfolge der Todesfälle legt: So sähe man einen nach dem anderen, gleich wohlgeflügelten Vögeln, der Küste des westlichen Gottes, d. h. Hades, mit höherer Intensität (κρεῖσσον ὄρμενον) als ein wütendes Feuer entgegenstreben. Besonders augenfällig ist freilich das in der Mitte der zweiten Strophe posi‐ tionierte ἰηίων, das sich als Adjektiv auf καμάτων bezieht und die Schilderung der aktuellen Zustände in Theben aufs Engste mit der Anrufung Apolls als ἰήιος aus Vers 154 verknüpft. Unmissverständlich ist damit klargestellt: Die Situation in Theben verlangt gezielt nach der Hilfe Apolls, er nimmt als erflehter Beistand eine zentrale Rolle in der Reflexion des Chors ein. Einen Blick auf die aktuellen Zustände wirft auch die Gegenstrophe: Die Stadt, so die zusammenfassende Feststellung zu Beginn, könne die Menge der Toten nicht mehr zählen, unbeweint liege die tote Nachkommenschaft (γένεθλα) am Boden, Ehefrauen und ergraute Mütter hätten sich von überall her an den Altarstufen eingefunden und klagten als Schutzflehende angesichts der leidvollen Qualen (λυγρῶν πόνων); hinein mische sich die Stimme, die ein Bitt‐ gebet um Heilung (παιών) erklingen lasse. Dagegen, so der Chor, solle die gol‐ dene Tochter des Zeus (χρυσέα θύγατερ Διός v. 188) die Hilfe ihres Angesichts senden. Mit dieser Invokation der Athene (bzw. Artemis) hat die Schilderung der ge‐ genwärtigen Umstände zunächst ein Ende gefunden; im Folgenden konzentriert sich der Chor wieder völlig auf das Anflehen göttlicher bzw. quasi-göttlicher Mächte. War der Anfang dieser Gegenstrophe durch ἀνάριθμος (v. 179) mit dem Beginn der zugehörigen Strophe (ἀνάριθμα πήματα v. 168) verbunden, so stellt der wörtlich aus Vers 158 wiederholte Vokativ θύγατερ Διός v. 188 erneut den Zusammenhang zur Götteranrufung vom Beginn des Liedes her.23 Das letzte Strophenpaar nimmt dementsprechend wiederum göttliche Mächte in den Blick, die mit der gegenwärtigen Situation oder ihrer erhofften Überwindung in Verbindung gebracht werden. Als Personifizierung der be‐ drohlichen Situation dient Ares, dessen mächtiges Anstürmen der in den Versen 21 22 23

So die Paraphrase durch D AWE (1982) S. 110: „sterility, still births, death in childbirth, or miscarriages“. Vgl. D AWE a. a. O.: „we do not know for sure what kind of a dative τόκοισιν is, or what ἀνέχουσι means“ sowie zu Vers 175 – 7 „very strange imagery“. Zu diesen Verbindungen innerhalb des Liedes vgl. auch B URTON (1980) S. 143 f.

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190 ff. ausgeführte Relativsatz illustriert: Die Gottheit entzünde den chorischen Sprecher (φλέγει με) und sei umgeben von Geschrei – in diesem Fall weniger das der Kämpfenden auf einem Schlachtfeld, sondern der leidenden und kla‐ genden Stadtbevölkerung. Dazu passt, dass der eigentliche Kriegsgott „ohne eherne Schilde“ (ἄχαλκος ἀσπίδων) vorgestellt wird, seinen unmittelbaren Bezug zu Krieg und Schlacht damit verloren hat und geradezu als besonders intensive Personifikation des Sterbens und des Todes auftritt.24 Nachdem in Vers 177 bereits Hades als der „westliche“ bzw. „abendliche Gott“ (ἑσπέρου θεοῦ) erwähnt wurde, stellt diese Kompetenzübertragung eine gelungene Engführung und Verstärkung der Personifizierung mit göttlichen Mächten dar: Das von Ge‐ schrei umgebene Sterben erinnert in seiner Heftigkeit an Krieg und mündet so poetisch in die Gestalt des Ares. Was mit ihm geschehen soll, setzen die fol‐ genden Verse ins Bild; grammatisch liegt eine AcI-Konstruktion vor, die ent‐ weder als abhängig von einem zu ergänzenden Verb des Gewährens zu denken ist, oder als Inhaltsangabe des Wunsches aus Vers 189 angeschlossen werden kann: Ares solle in eilender Flucht dem Heimatland der Greise den Rücken kehren (νωτίσαι) und sich entweder in das große Gemach der Amphitrite (ἐς μέγαν θάλαμον Ἀμφιτρίτας), d. h. in den Atlantik,25 oder ins ungastliche thra‐ kische Meer verfügen. Die folgenden beiden Verse 198 und 199 unterbrechen die Ares-Thematik des Kontextes und geben den Kommentatoren Schwierigkeiten auf.26 Der Inhalt der Verse lässt sich dabei folgendermaßen paraphrasieren: Der Tag, so der Chor in dem als Begründung (γάρ) angeschlossenen Satz, führe das zu Ende, was die Nacht ausgelassen habe. Die in den beiden Versen evozierte Tag-Nacht-The‐ matik tritt hier isoliert und zum ersten Mal innerhalb der Parodos auf; sie kann so kaum mit einer anderen Stelle in Verbindung gesetzt werden. Einzig die Apo‐ strophierung des ἕσπερος θεός aus Vers 177 stellt eine, wenn auch assoziative Verbindung zum angerissenen Bild dar; auch die Phoibos-Apollon-Motivik, die das ganze Chorlied trägt, mag eine gewisse Brücke zur Tag-Nacht-Aussage der fraglichen Verse bilden – funktional bleibt die Einbindung der Stelle schwierig. Am ehesten wird man sich D AWE anschließen, der die Aussage über Tag und Nacht auf Ares bezieht und so den Chor dessen ununterbrochenes destruktives Wirken unterstreichen lässt.27 In Vers 200 werden Diktion und Aussageabsicht wieder klar: Mit Bezug auf den Akkusativ Ἄρεα (v. 190) zu Beginn der Strophe 24 25 26 27

So auch D AWE (1982) S. 112: „[Ares] … not in his capacity as War God“. Vgl. D AWE (1982) S. 113. Vgl. D AWE (1982) S. 113: „This passage, consisting of simple enough words, and suffering from no obvious corruption, has never been satisfactorily explained“. A. a. O.

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leitet τόν eine eindringliche Bitte an den Göttervater selbst ein: Zeus, der die Macht über die „feuertragenden Blitze“ zuteile, solle Ares zu Grunde richten (φθίσον). In der Invokation des Zeus hat die Götteranrufung als zentrales Mo‐ ment des gesamten Liedes ihren Höhepunkt gefunden: Dem in Ares personifi‐ zierten Unheil der Stadt ist die mächtigste Gestalt des Pantheons gegenüberge‐ stellt, dessen Eingreifen die endgültige Vernichtung des Ares, d. h. das Ende der Seuche und des daraus hervorgehenden Elends mit sich bringen soll. Mit der Invokation des Zeus ist zudem der Beginn des Liedes beantwortet: War dort der Orakelspruch aus Delphi bewusst als Ausspruch des Zeus apostrophiert worden,28 so wird der Göttervater an unserer Stelle aufgefordert, seinem Spruch die entsprechenden Handlungen folgen zu lassen. Deutlich können wir so an dieser Stelle greifen, wie aus der angstvollen Erwartung der göttlichen Botschaft die entschiedene Bitte um göttlichen Beistand sowie die wortreiche Imagination des erflehten Eingreifens geworden ist. Die abschließende zweite Gegenstrophe setzt daraufhin das Motiv der Göt‐ teranrufung fort: Waren es in der ersten Gegenstrophe Athene, Artemis und Phoibos, so wandeln die abschließenden Verse diese Trias durch die Ersetzung von Athene durch Dionysos. Unmittelbar mit dem Anruf des „lykeischen Herrn“ (Λύκειʼ ἄναξ v. 203), d. h. Apolls, setzt die Gegenstrophe ein. Als Mittel gegen die herrschende Seuche wünschen sich die Greise des Chors die Geschosse des Gottes, abgefeuert von seinen „goldbespannten Bogensaiten“ (χρυσοστρόφων ἀπʼ ἀγκυλᾶν), desgleichen die feuertragenden Fackeln der Artemis (πυροφόρους Ἀρτέμιδος αἴγλας), mit denen sie die lykischen Berge durchzucke (διᾴσσει). Die letzte Anrufung gilt darauf Dionysos, dessen spezielles Erschei‐ nungsbild (χρυσομίτραν) neben seiner Verbundenheit zu Theben (τᾶσδʼ ἐπώνυμον γᾶς), seinem exaltiert-ekstatischen Auftreten (οἰνῶπα Βάκχον) sowie seiner Begleitung (εὔιον Μαινάδων ὁμόστολον) in ihrer Erwähnung ein leb‐ haftes Bild des erflehten Eingreifens zeichnen. Als das Ziel derselben beschreibt der Chor die – freilich siegreiche – Auseinandersetzung mit Ares, der an unserer Stelle zwar nicht mehr namentlich genannt wird, als der „unter den Göttern ungeehrte Gott“ (τὸν ἀπότιμον ἐν θεοῖς θεόν) allerdings leicht zu identifizieren ist. Mit dieser scharfen Verurteilung des Gottes, der für den Chor die Personi‐ fikation des über Theben hereingebrochenen Unheils darstellt, schließt das Chorlied.29

28 29

Vgl. J EBB (1914) S. 31 ad locum: „because Zeus speaks by the mouth of his son“. Der Textverlust in Vers 214 beeinträchtigt das Verständnis dieser letzten Partie des Liedes nicht wesentlich.

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Machen wir uns an dieser Stelle die wesentliche Struktur des vorliegenden Auf‐ trittsliedes des Chors noch einmal klar. Formal gesehen liegt ein ὕμνος κλητικός vor, der in der Vielzahl der angerufenen Gottheiten ein Panorama theologischer Situationsdeutung entfaltet. Nachdem die erste Strophe gezielt die mit Spannung erwartete Nachricht aus Delphi und damit den unmittelbaren Anlass des Liedes – und der Versammlung der Greise – thematisiert, weitet sich der Blick in der Gegenstrophe zur Anrufung der ersten Trias von Gottheiten: Athene, Artemis und Phoibos. Gerade mit letzterem ist die Beziehung zum Vo‐ rangegangenen hergestellt: Nicht nur der Spruch des Orakels soll sich auf den Weg von Delphi nach Theben machen, sondern auch die zuständige Gottheit wird mitsamt anderen angerufen, der Stadt in dieser Not zu helfen und hier zu erscheinen. Anders gesagt: Der Botschaft soll der rettende Gott selbst auf dem Weg in die Stadt folgen. Das zweite Strophenpaar wendet dementsprechend den Blick auf den Zu‐ stand Thebens: Mit den Auswirkungen der Seuche und der Vielzahl an Toten malt es ein eindrucksvolles Bild, das die Beschreibungen des Priesters aus dem Prolog wieder aufnimmt und in gesteigerter Emotionalität überbietet.30 Nachdem diese Ausführungen in eine erneute Anrufung der Athene mündeten, erreicht das Chorlied in der dritten Strophe seinen emotionalen Höhepunkt in der Gegenüberstellung zweier göttlicher Mächte: Mit Ares und Zeus stehen sich die Personifikationen von Leid und Tod auf der einen, die helfende göttliche Macht auf der anderen Seite gegenüber. Die abschließende Gegenstrophe nimmt daraufhin die im ersten Strophen‐ paar prominente Dreizahl der angerufenen Götter wieder auf, variiert allerdings die Zusammensetzung der angerufenen Gottheiten durch die Hinzufügung des Dionysos und fordert diesen schließlich auf, sich Ares entgegenzustellen. Das Lied schließt so mit einem lebendigen Bild der gegen den feindlichen Gott aus‐ rückenden Schutzmächte Thebens. Folgendes soll festgehalten werden. Die Anrufung der verschiedenen Gottheiten ist das zentrale Strukturmoment des gesamten Liedes, mehr noch: Die verzwei‐ felte und doch vertrauensvolle Wendung an göttliche Mächte und Personen prägt als grundlegende Haltung des Chors den Blick auf die Geschehnisse im Ganzen. Konkretes poetisches Mittel innerhalb der Partie ist dabei die Personi‐ fizierung: Indem sowohl die erbetene Rettung in Form göttlicher Entitäten als auch der jammervolle Zustand Thebens in der Gestalt des Ares gebündelt werden, ist eine besonders ansprechende Verdichtung der Situation erreicht. 30

Vgl. K AMERBEEK s (1967) Einschätzung S. 56: „a repetition in lyric mode of the priest’s brief account 19 – 30“.

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Ihre konkrete Ausgestaltung (bemerkenswert v. a. der Gebrauch der Farbadjek‐ tive, im Besonderen das Wortfeld „golden“) ist dabei so wirkungsvoll wie an‐ sprechend. Dass innerhalb des aufgerufenen Götterpanoramas Apoll eine gewichtige Rolle spielt, erhellt aus der zentralen Bedeutung des delphischen Orakelspruchs, dessen Einholung dem Chor Anlass zur Reflexion bot. Invokation des genuin delphischen Gottes Apoll in Verbindung mit dem thebanischen Lokalgott Dio‐ nysos, am Ende unseres Liedes ist darüber hinaus der sinnfällige poetische Aus‐ druck der vom Chor als zentral angesehenen Relation zwischen den beiden Städten. Waren schon zu Beginn des Liedes in der Frage nach dem delphischen Spruch und seiner Ankunft in Theben die beiden Städte grundlegende Bezugs‐ punkte der chorischen Imagination (v. 152 ff.), so kulminiert diese Fokussierung am Ende des Liedes in der gemeinsamen Invokation der beiden Gottheiten. Die für die weiteren Chorlieder bedeutende Theben-Delphi-Thematik ist damit in der Parodos bereits angelegt; sie rundet als motivische Klammer das gesamte Lied und etabliert den wesentlichen Bezugsrahmen der chorischen Reflexion. Blicken wir weiter auf einige herausragende Motive und Strukturelemente der Parodos, um ihre spezifisch dramaturgische Wirkung zu beleuchten. Von ent‐ scheidender Wichtigkeit ist es dabei, das Verhältnis zwischen Auftrittslied und dem vorangegangenen Prolog zu bestimmen. Dass die ungewisse Frage des Chors zu Beginn der Partie Oidipusʼ Frage aus Vers 86 sogar begrifflich wiederaufnimmt (φήμην v. 86 sowie φάτι v. 151) und damit ein wesentliches Moment aus dem Prolog geradezu spiegelt, ist bereits erwähnt worden. Machen wir uns bewusst: Bedingt durch den spezifischen Wissensstand der Choreuten kann die Parodos an diesem Punkt keinen we‐ sentlichen Handlungsfortschritt bieten; sie bleibt vielmehr inhaltlich hinter dem bereits Entwickelten zurück und wirkt, was den reinen Informationsgehalt be‐ trifft, redundant. Während also der Prolog in seinem dynamischen zweiten Teil sowohl die wesentlichen Informationen über die Vorgeschichte lieferte als auch die Bühnenhandlung rund um den Protagonisten selbst anstieß, entfaltet das Lied ein umfangreiches Panorama auf Basis eines spezifischen Moments des Prologs, der durch den Handlungsverlauf bereits obsolet zu sein scheint. Durch die im Rückgriff erfolgende bildgewaltige Ausleuchtung der vom Zeuspriester im Prolog geschilderten Situation greifen die beiden Partien so funktionell in komplexer Weise ineinander: Ihrem faktischen Nacheinander als konventio‐ nellen Formteilen der Tragödie ist so ein dramatisches Ineinander eingewoben, das besonders eindrucksvoll den Wissensvorsprung des Publikums inszeniert und auf dessen Basis seine besondere Wirkung entfaltet. Wie eng die Partien dabei auch begrifflich ineinander verzahnt sind, muss mit Verweis auf die Auf‐

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listungen der Parallelen zwischen der Rede des Zeuspriesters und der Parodos bei K AMERBEEK31 und B URTON32 hier nicht ausführlich gezeigt werden. Bei allen motivischen und strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen Prolog und Chorlied ist allerdings eine Differenz der beiden Partien von entscheidender Wichtigkeit. Machen wir uns daher bewusst: Dass die von Oidipus im Prolog in Aussicht gestellten Maßnahmen gegen die Seuche, d. h. die Suche nach dem Mörder des Laios unter seiner Führung, im Chorlied keinen thematischen Nie‐ derschlag finden, erklärt sich aus dem spezifischen Informationsstand der the‐ banischen Greise. Da der Chor im Prolog nicht anwesend war, bietet dies zudem für das Publikum keine wirkliche Überraschung. Dass hingegen die Gestalt des Oidipus selbst im Chorlied keine Erwähnung findet, kontrastiert zum einen mit der tatsächlichen Situation des Prologs, in die sich die rückblickende Ausdeu‐ tung des Liedes einordnen lässt, zum anderen mit der gesamten dramaturgi‐ schen Intention der Prologszene. Hatten sich die Bittflehenden zu Beginn des Prologs gerade an ihren Stadtherrn gewandt, um von ihm Hilfe zu erlangen, so sind es hier einzig göttliche Mächte, deren Einschreiten erbeten wird. In dieser theologisch-personifizierenden Ausdeutung des Chors spielt Oidipus keine Rolle: Weder seine Position als Herr der Stadt wird erwähnt, noch fungiert er als dezidierter Anlaufpunkt der Greise in ihrer Not. Auch dass die Botschaft aus Delphi auf sein Geheiß eingeholt wurde, ja dass sogar die aktuelle Zusammen‐ kunft des Chors von Oidipus in Auftrag gegeben wurde, wird durch den Chor völlig ausgeblendet. Kurz gesagt: In der Parodos fehlt jede Erwähnung, jeder motivische Anklang an die Person des Oidipus. Nachdem Oidipus also im Prolog als Zentrum des Bühnengeschehens und maßgeblicher Impulsgeber der Handlung etabliert wurde, blendet die Parodos sämtliche Bezüge auf ihn aus. Der Kontrast zwischen dem dynamischen Prolog und der retardierenden Parodos könnte damit kaum größer sein: Die Einblen‐ dung der theologischen Deutungsebene durch den Chor sowie die Fokussierung auf das spezifische Moment der angstvollen Erwartung göttlichen Einschreitens heben sich demonstrativ vom dynamischen, auf den Protagonisten zentrierten Geschehen ab. Das Chorlied wird so e negativo zu einer Folie, vor der sich sowohl Oidipusʼ entschiedenes Handeln im Prolog als auch sein kommender Auftritt umso deutlicher abheben. Gerade die völlige Ausblendung der Gestalt des Oi‐ dipus innerhalb der chorischen Reflexion lässt die Rezipienten dabei die Kon‐ 31 32

K AMERBEEK (1967) S. 56. B URTON (1980) S. 142 f. Im Besonderen stellt er mit Blick auf die Rede des Zeuspriesters und die Parodos sehr treffend die geradezu umgekehrte Reihenfolge der Bestandteile („this reversal of order“) beider Partien dar und bezeichnet diese Komposition zu Recht als „fine stroke of dramatic technique“.

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frontation der Greise mit dem Protagonisten und damit zugleich den ihnen un‐ bekannten Informationen hinsichtlich des göttlichen Spruchs bereits antizipieren. Indem Oidipus in Vers 216 ff. schließlich sein umfangreiches Pro‐ gramm einem Chor darstellt, in dessen Reflexion er bis zu diesem Zeitpunkt keine Rolle gespielt hat, ist er erneut als aktiver und in hohem Maß eigenver‐ antwortlicher Akteur gezeichnet. Anders gesagt: Sophokles schaltet das Auf‐ trittslied des Chors zwischen zwei Szenen, die in besonderer Weise den Füh‐ rungs- und Handlungsanspruch des Protagonisten demonstrieren. Die Ausblendung der das Geschehen dominierenden Gestalt in der ersten Äußerung des Chors unterwandert diese Anspruchshaltung sehr subtil und stellt mit der genuin theologisch-religiösen Perspektive eine andere Deutungsebene in den Raum. Für den mit dem Mythos vertrauten Rezipienten ist diese Konstruktion frei‐ lich besonders doppelbödig: Dass es gerade Oidipus ist, der als letztlich Verant‐ wortlicher hinter dem Geschehen steht, verleiht der Parodos besondere Brisanz. Indem das Chorlied in seiner spontanen und situativen Herangehensweise Oi‐ dipus keinen Platz in der Ausdeutung des Geschehens zuweist, bündelt sich die Aufmerksamkeit des wissenden Rezipienten in besonderem Maß auf den Prot‐ agonisten. Anders gesagt: In der Konterkarierung der Oidipuszentrierung, wie sie der Prolog (und das folgende Epeisodion) darstellen, spielt Sophokles be‐ wusst, wenn auch subtil, mit dem Vorwissen oder der Ahnung des Publikums. Halten wir die aus unserer Perspektive wichtigsten Punkte noch einmal fest: Es konnte gezeigt werden, wie in der Parodos typische Herangehensweisen und Momente der Chorlyrik (gesteigerte Emotionalität, Bezug zu Göttern und the‐ ologische Ausdeutung der Situation, Personifikationen und implizite Deutungen auf Grund mangelnden Vorwissens gegenüber Zuschauern und Lesern) in spe‐ zifischer Weise funktionell nutzbar gemacht wurden. Prolog und Parodos sind dabei motivisch und strukturell besonders eng miteinander verzahnt. In der Ausleuchtung der Ausgangssituation liefert das Auftrittslied des Chors nach‐ träglich eine besonders eindrückliche Schilderung der Rahmenumstände und deutet im Rückgriff einen bestimmten Moment der Prologhandlung bildge‐ waltig aus. Mit seiner religiös-personifizierenden Perspektive der Situation setzt es dem Handlungsgeschehen eine andere Deutungsebene entgegen und erzielt durch die Ausblendung der Bedeutung des Protagonisten seine besondere Wir‐ kung. Die Parodos retardiert so in geradezu doppelter Hinsicht, indem sie zum einen den wesentlichen Erkenntnisgewinn sowie den Handlungsanstoß des Prologs nicht thematisiert, zum anderen die zentrale Gestalt des Protagonisten völlig ausblendet.

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Mit dem Prolog und der Parodos folgen so zwei kontrastive Partien aufei‐ nander, die den Beginn der Tragödie wirkungsvoll ausleuchten. Die prominente Ausführung der Ungewissheit und Unwissenheit des Chors hinsichtlich be‐ stimmter Sachverhalte forciert dabei den Fortgang der Handlung und lässt die Konfrontation der Choreuten mit Oidipus erwarten. Erstes Stasimon (v. 463 – 511)

Oidipus muss während der letzten Verse der Parodos die Bühne erneut betreten haben33 und wendet sich in einem ausführlichen Monolog direkt an die ver‐ sammelten Greise (v. 216 – 275): Er stellt in Aussicht, den Bitten des Chors nach‐ zukommen und baldige Abhilfe gegen die gegenwärtigen Übel zu schaffen. Im Fall des getöteten Laios fordert er lückenlose Aufklärung und tätige Mithilfe von Seiten der Bevölkerung. Die Androhung von Exilstrafen sowie des völligen Ausschlusses aus der politischen und kultischen Gemeinschaft bekräftigt Oi‐ dipus mit der Beteuerung, Kampfgenosse (σύμμαχος v. 245) der Gottheit (ge‐ meint ist der Pythische Apoll, dessen Auftrag er auszuführen glaubt) und des gestorbenen Mannes, d. h. des Laios zu sein. Eine Verwünschung des Täters und – für den Fall, dass der Mörder aus seinem eigenen Umfeld kommen sollte, – eine Verwünschung seiner selbst schließt diesen Abschnitt der Ansprache des Stadtherrn wirkungsvoll (v. 246 – 251). Erneut wendet sich der Protagonist da‐ raufhin an den Chor: Ihnen obliege die Einhaltung dieser Anordnung, da es selbst ohne ausdrückliches göttliches Gebot nicht schicklich wäre, den Tod ihres „besten Mannes und Königs“ (v. 257) ungesühnt zu lassen; sie seien vielmehr dazu aufgefordert, Untersuchungen anzustellen (ἐξερευνᾶν v. 258). Nun aber, da er Herrschaft und Frau des Verstorbenen übernommen habe, stelle er sich ganz in den Dienst der Sache und werde alles versuchen, den Mörder des Laios aus‐ findig zu machen (v. 252 – 268). Eine erneute Verfluchung des Täters und die Bitte um göttliche Unterstützung schließen die Ausführungen des Protagonisten. Als Vertreter der angesprochenen Greise stellt der Chorführer in den Versen 276 – 279 klar, dass weder er der Mörder sei, noch er dessen Identität aufdecken könne. Im folgenden kurzen Wortwechsel verweist der Chorführer auf Teiresias, von dem sicherlich Hilfe zu erwarten sei (v. 284 ff.). Nach ihm hat der umsichtige Stadtherr bereits schicken lassen; geradezu ungeduldig gibt Oidipus seiner Ver‐ wunderung darüber Ausdruck, dass Teiresias noch nicht erschienen ist. In einem weiteren kurzen Wechselgespräch referiert der Chorführer daraufhin einzelne Informationen über den Tod des Laios, die Oidipus allerdings schon bekannt

33

So auch B URTON (1980) S. 148: „It is likely that he enters during the last few lines of the parodos, in time to hear the chorusʼs final appeal in 209“.

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sind. In Vers 297 kündigt der Chor schließlich den Auftritt des Sehers an, nicht ohne zuvor noch einmal auf mögliche Angst der Zeugen angesichts der harten Drohungen des Stadtfürsten hinzuweisen. Der erste Teil des Epeisodions ist so zu einem Ende gekommen. Sophokles legt auch in der ersten Konfrontation des Chors mit dem Prot‐ agonisten im Anschluss an die Parodos den Fokus ganz auf die Gestalt des Oi‐ dipus: Er ist es, der dem Chor im Bewusstsein seiner Aufgabe gegenübertritt, Forderungen stellt und mit einiger Sicherheit die baldige Rettung der Stadt pro‐ phezeit. Dem Chor bleibt im Angesicht des aktiven, geradezu dynamischen Prot‐ agonisten nichts mehr übrig, als sich nach Kräften mit dessen Vorhaben gemein zu machen und ihn darin zu unterstützen. Dass dabei die Detailinformationen hinsichtlich des Mordes an Laios, die der Chorführer vorbringt, Oidipus bereits bekannt sind, dass der Stadtherr des Weiteren das Kommen des Teiresias bereits in die Wege geleitet hat, zeichnet ihn erneut als Zentrum des Geschehens und Motor der Handlung aus: Er hat die Fäden in der Hand, leitet die entscheidenden Schritte in die Wege und ist gerade dem Chor immer schon ein Stück voraus. Die Komposition der Szene verdient zudem einige Beachtung: Auch in for‐ maler Hinsicht ist es Oidipus selbst, der mit seinen Vorkehrungen hinsichtlich der Befragung des Sehers die Verbindung zwischen den beiden Teilen des Epeis‐ odions herstellt. Die beiden Gesprächssituationen gehen dabei ineinander über und sind durch die Thematisierung des Teiresias in den Versen 284 ff. geradezu miteinander verwoben. Sophokles komponiert das erste Epeisodion so aus zwei Unterredungsszenen, zwischen denen er keine Ruhe aufkommen lässt: Er ent‐ scheidet sich dagegen, den Chor an unserer Stelle mehr oder minder umfang‐ reich seinen Erkenntnisfortschritt in einer poetischen Reflexion verarbeiten und so die Situation ausleuchten zu lassen. Dafür müsste kein mehrstrophiges Lied eingeschaltet werden, denkbar wäre auch eine in den Ablauf eingesetzte ein‐ zelne lyrische Strophe, die möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt ihre Beantwortung fände.34 Vielmehr geht die Bühnenhandlung dank der Aktivität des Protagonisten sofort weiter; eine ausgreifende Kommentierung der Situa‐ tion durch den Chor wird erst im ersten Stasimon nach dem zweiten Teil des Epeisodions erfolgen. Sophokles hat den Ablauf damit entschieden gestrafft: Statt den Chor hier bereits auf die Parodos antworten zu lassen, den unmittel‐ baren Ablauf so zunächst anzuhalten, um dann in einer späteren Partie gezielt den Streit zwischen Oidipus und Teiresias zu verarbeiten, lässt er unmittelbar die Konfrontation der beiden Akteure folgen. Das erste Stasimon wird dement‐ 34

Vgl. dazu die Komposition im ersten Epeisodion des Philoktet, wo die beiden metrisch gleich komponierten Strophen v. 391 – 402 sowie v. 507 – 518 eine kurze lyrische Wort‐ meldung des Chors beinhalten, ohne dass dadurch das Epeisodion unterbrochen würde.

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sprechend sowohl die grundlegende Verarbeitung des nunmehr vom Chor er‐ reichten Informationsstands bieten, als auch eine Auseinandersetzung mit der Gestalt des Teiresias und dessen Aussagen liefern. Die sich anschließende Unterredung zwischen Oidipus und Teiresias prägen rasch gegenseitige Vorwürfe und Beleidigungen: Dem Seher, der auf Grund seiner göttlichen Begabung bereits von Oidipus als dem wahren Grund für das Leid der Stadt weiß, ist bereits das Gespräch als solches unerträglich; er weigert sich allerdings zunächst standhaft, sein Wissen detailliert auszubreiten (vgl. v. 328 f.), was dem Stadtherrn Anlass gibt, in Beschimpfungen und Anklagen aus‐ zubrechen. Ein wirkliches Gespräch im Sinne eines gegenseitigen Austauschs findet so nicht statt. Auch wenn Teiresias in Vers 362 schließlich in deutlichen Worten ausspricht: φονέα σέ φημι τἀνδρὸς οὗ ζητεῖς κυρεῖν. Ich sage, dass du der Mörder des Mannes bist, [der Mörder,] den du suchst.

scheint Oidipus ihm nicht zuzuhören bzw. ihn falsch zu verstehen. Stattdessen zweifelt er an den seherischen Fähigkeiten seines Gegenübers und vermutet eine durch Kreon initiierte Intrige mit der Absicht, ihm die Führung der Stadt streitig zu machen. Überhaupt habe er, der völlig uninformierte Oidipus (ὁ μηδὲν εἰδὼς Οἰδίπους), das Rätsel der Sphinx gelöst, nicht etwa der angebliche Seher, über den er eigentlich – wie über den heimlichen Strippenzieher Kreon – die Strafe der Verbannung (ἀγηλατήσειν) verhängen müsste (v. 390 – 403). Nach diesem Ausbruch schaltet sich zum ersten und einzigen Mal während der gesamten Szenerie der Chor mit einer zur Mäßigung mahnenden Bemerkung ein (v. 404 – 407): Die Reden beider Akteure seien im Zorn gesprochen; eigentlich ge‐ boten sei es jedoch, nicht miteinander zu streiten, sondern gemeinsam eine mögliche Lösung des göttlichen Orakelspruchs zu finden. Bemerkenswert ist dabei der Gebrauch der ersten Person Plural λύσομεν (v. 407): Der Chor versteht sich hier dezidiert als in die Problematik involviert. Die Bemerkung scheint dennoch ungehört zu verhallen: Im Folgenden wendet sich erst Teiresias in einem Monolog gegen Oidipus (v. 408 – 428), worauf die beiden erneut in ein Zwiegespräch einsteigen, an dessen Ende der indignierte Abtritt beider Kon‐ trahenten stehen wird. In einem abschließenden Monolog (v. 447 – 462) entwirft Teiresias zuvor eine Zukunftsaussicht, die den Fortgang der Enthüllungen sowie das Ende der Tragödie bereits vorwegnimmt. Nach Vers 463 hat sich die Bühne schließlich geleert und der Chor beginnt sein erstes Standlied. Ein kurzer Überblick soll die dramatische Situation zu Beginn des Liedes re‐ kapitulieren. Oidipus als Stadtherr steht auch im ersten Epeisodion in der Mitte

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des Geschehens: Im ersten Teil, der Unterredung zwischen ihm und dem Chor (v. 216 – 299), präsentiert er sich erneut deutlich als Vertreter der lückenlosen Aufklärung und positioniert sich so als souverän Handelnder und eigentliches agens der dramatischen Situation. Das Gespräch mit Teiresias konfrontiert ihn daraufhin mit einer anderen Perspektive – der des gottbegnadeten und einsich‐ tigen Sehers – sowie konkret mit der Ursache der vorherrschenden Seuche, d. h. letztendlich mit ihm selbst und seiner Vergangenheit. Sophokles gestaltet diese Szenerie mit aller Drastik: Es kommt zu keinem wirklichen Austausch der beiden Sprecher, anklagende Monologe wechseln mit dynamisch ineinander‐ greifenden stichomythischen Partien, das Spiel mit dem angekündigten Abtritt des Sehers zu Beginn und am Ende der Szenerie bringt zusätzliche Dynamik auf die Bühne. Oidipus beharrt dabei auf seinen Forderungen und Ansichten, er weiß zudem die Aussagen des Sehers nicht richtig zu deuten und interpretiert sie auf Grund seiner eigenen Vermutungen falsch. Der zweite Teil des vorliegenden Epeisodions ist innerhalb der Tragödie die erste Szene, die nicht nach den Vorstellungen des Protagonisten verläuft; viel‐ mehr verliert er die Kontrolle über das Geschehen und das Gespräch. Mit dem Abtritt der Akteure ist er in seiner Sturheit geradezu demaskiert, das Bild des sorgenden Stadtvaters, das im Prolog entworfen wurde, ist grell überzeichnet. Oidipus, so die Konsequenz der Szene für Leser und Zuschauer, hat nicht mehr alle Fäden des Geschehens in der Hand, ihm entgleitet die Situation, er verliert seine Souveränität. Vergegenwärtigen wir uns vor der Behandlung des Stasimons noch das Fol‐ gende: Sophokles setzt mit der Teiresias-Szene einen besonders intensiven dra‐ matischen Impuls relativ früh zu Beginn des Stücks. Anders als in der Anti‐ gone, wo das Auftreten des Teiresias gegen Ende der Handlung die Umstimmung Kreons erwirkt und ein letztes Mal Anlass zur Hoffnung gibt, ist hier der Fort‐ gang der Handlung bereits jetzt vorgezeichnet. Das Epeisodion entfaltet in seinem Verlauf ein wirkungsvolles Charakterbild des Protagonisten und kon‐ trastiert mit großer Vehemenz die Gestalt des Oidipus mit der des Teiresias. Dramaturgisch gesehen ist die Erwartung einer schrittweisen Aufklärung des Verbrechens damit unterlaufen: Die Szene sperrt sich gegen den von Oidipus selbst intendierten Ablauf der Geschehnisse, sie wirkt in diesem Sinne entlar‐ vend und lenkt das Kommende in eine neue Richtung. Das Wissen der Zu‐ schauer über die Identität des gesuchten Mörders ist in den direkten Aussagen des Teiresias zum ersten Mal auf der Bühne präsent geworden; der Ablauf der Geschehnisse biegt so gegen die Erwartung des Protagonisten in eine andere Richtung ab. Kurz gesagt: Die Brisanz der Mördersuche ist im Gegensatz zur Situation nach der Parodos gesteigert, das emotionale Gegeneinander der beiden

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Akteure hat die Stimmung verschärft, mit seinem Auftritt hat sich Oidipus selbst in ein anderes, grelleres Licht gestellt. Das erste Stasimon gliedert sich metrisch und inhaltlich in zwei Strophenpaare, die in sich relativ abgeschlossen zwei verschiedene Aspekte des dramatischen Geschehens reflektieren.35 Steht im ersten Strophenpaar die erneut brisante Frage nach dem Mörder des Laios und seiner nunmehr äußerst brenzligen Si‐ tuation im Mittelpunkt, so nimmt das zweite Strophenpaar die eben verklun‐ genen Aussagen des Teiresias zum Anlass, die konkreten Vorwürfe gegen Oi‐ dipus zu thematisieren. Wie schon zu Beginn der Parodos bildet auch hier eine Frage den Ausgangs‐ punkt: Nicht mehr nach dem Orakelspruch als solchem erkundigen sich die Greise, sondern sie fragen konkret nach demjenigen, von dem der „delphische Fels“ (Δελφὶς πέτρα) sagte,36 er habe mit „Mörderhänden“ die unsagbarsten Dinge (ἄρρητʼ ἀρρήτων v. 464) ausgeführt. Die Gestalt dieses Gesuchten be‐ herrscht den Fortgang: Es sei für ihn an der Zeit, auf starken Pferden das Weite zu suchen; denn in voller Rüstung stürze sich der Sohn des Zeus (ὁ Διὸς γενέτας) mit Blitzen und Feuer auf ihn, die nicht fehlgehenden Keren (Κῆρες ἀναπλάκητοι) folgten ihm auf dem Fuße. Die Ursache bzw. die Exemplifikation dieser Verfolgung bringt die Gegenstrophe (γάρ v. 479): Die bereits in der Par‐ odos als φάτις apostrophierte φήμα ist jüngst, so der Chor, vom schneebedeckten Parnass (τοῦ νιφόεντος Παρνασοῦ) aufgeleuchtet und hat die Losung ausge‐ geben, jeder (πάντʼ v. 476) solle nach dem (noch) unbekannten Mann suchen. Der Übergang zwischen den Strophen ist durch die Verbindung von Apoll und seinem Kultort Delphi am Parnass so eng wie bildhaft-assoziativ. Wie schon in der Parodos wird hier der Orakelspruch mit der Einwirkung der göttlichen Macht selbst bildmächtig verbunden: Auch hier ist der zuständige Gott der erste, der dem ergangenen Spruch Folge zu leisten scheint und selbst die Jagd auf den Schuldigen aufnimmt. Thematisch bei Delphi und dem Parnass angekommen, wird auch der Ge‐ suchte selbst im Folgenden im Bild verortet:37 Gleich einem „Bergstier“ (πετραῖος ταῦρος) streift er einsam in erbärmlichem Zustand durch Wälder und Höhlen und sucht die vom Nabel der Welt ausgehenden Orakelsprüche zu

35 36 37

Vgl. B URTON (1980) S. 148: „[…] the first stasimon, which consists of two songs each arising out of the preceding scene and closely connected with the dramatic context“. Der von L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) ohne Not in den Text gesetzten Konjektur Powells ᾖδε für mehrheitlich überliefertes εἶπε folge ich nicht. Der Text ist an dieser Stelle äußerst umstritten; ich folge der Ausgabe von L LOYD -J ONES / W ILSON (1990).

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meiden. Diese allerdings fliegen in ihrer ganzen Vitalität um ihn herum (ζῶντα περιποτᾶται), sind also geradezu omnipräsent. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal den Aufbau der Strophe: Die Gegen‐ strophe wird gerahmt durch die beiden Prädikate ἔλαμψε und περιποτᾶται, die beide den delphischen Orakelspruch in seiner raumgreifenden, eindrucksvollen Wirkung beschreiben; die Mitte nimmt dabei die Beschreibung des Gesuchten ein, dessen Bedrängnis so bildhaft ausgedrückt wird. Eine ähnliche Struktur hatte die vorangegangene Strophe ausgezeichnet, in der zunächst das delphische Orakel und sein Spruch,38 darauf die Reaktion des Schuldigen und schließlich die göttlichen Verfolger in den Blick geraten waren. Die gemeinsame Thematik sowie der ähnliche Aufbau der beiden Strophen unterstreicht ihre Zusammen‐ gehörigkeit und setzt sie vom folgenden Strophenpaar ab. Diese formelle Zweiteilung rechtfertigt einen raschen Blick auf die drama‐ turgischen Implikationen dieses ersten Teils des Stasimons. Das erste Strophen‐ paar prägen farbenreiche Bilder: der verfolgte Mörder, der wie ein Stier die del‐ phischen Wälder durchstreift und das Orakel meidet, die herumfliegenden Orakelsprüche, der gerüstete Apoll und die nachsetzenden Κῆρες. Die grund‐ legende Motivik der gegen die Ursache des Übels ausziehenden göttlichen Mächte ist dabei der Parodos entnommen. Bildete allerdings in der Parodos die Schilderung der aktuellen Zustände in Theben ein Hauptmoment der Darstel‐ lung, so entfällt dies an unserer Stelle gänzlich: Das Augenmerk der Greise liegt nicht mehr auf der Stadt und ihrer misslichen Lage, sondern ganz auf dem dafür Verantwortlichen. In geschickter Weise beantwortet das vorliegende erste Stro‐ phenpaar des Stasimons so das Auftrittslied unter Verschiebung der Perspektive, überträgt dessen Motivik und führt sie auf der Basis der neuen Erkenntnisse fort. Zur Verdeutlichung sollen einige Punkte kurz zusammengefasst werden. Die gegenüber der Parodos gesteigerte Brisanz der Situation findet ihren Nieder‐ schlag in den kräftigen Bildern, die Aspekte der Theben-Delphi-Thematik des Auftrittsliedes aufnehmen und intensivieren. Das Motiv der zur Rettung der Stadt herangerufenen Götter hat sich an unserer Stelle in den Angriff gegen den Schuldigen und dessen Verfolgung gewendet; die Erscheinung der φήμα mündet in die Hetzjagd des Gesuchten in der delphischen Wildnis. Den vor kurzem noch erbetenen Orakelsprüchen aus Delphi geht der Betroffene selbst nun aus dem

38

Freilich ist die Frage nach der Person des Täters das beherrschende Moment; allerdings fokussiert die Formulierung zu Beginn des Liedes mit der Apostrophierung des delphi‐ schen Felsens die Bedeutung des Orakels sowie in bildhafter Ausgestaltung sogar dessen Lage und Verortung.

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III. Greisenchöre

Weg (ἀπονοσφίζων); nicht mehr der personifizierte Ares führt einen Krieg gegen die Stadt, sondern Apoll stürzt sich in ganzer Rüstung auf den Schuldigen. Das vorangegangene Epeisodion hat die Reflexionen des Chors um das Mo‐ ment und die konkrete Imagination des Schuldigen bereichert. Für den Chor ist mittlerweile auch klar, dass es sich dabei um den Mörder des Laios handeln muss. In der Parodos war das abstrakte und schwer zu fassende Unheil Thebens poe‐ tisch durch die Personifikation des Ares nutzbar gemacht worden. An unserer Stelle hat sich diese Verdichtung erneut konkretisiert: Zwar schwebt dem Chor keine fest umrissene Gestalt vor, auf die das im ersten Strophenpaar entworfene Bild bezogen werden könnte, jedoch ist die prominente Thematisierung des Verantwortlichen, die Verortung seiner Person in der Delphi-Thematik der Par‐ odos sowie der im Folgenden ausgeführte direkte Bezug zu Oidipus die sinnfäl‐ lige Ausgestaltung der (für Zuschauer und Leser überdeutlichen) Fokussierung auf den gesuchten Mörder, wie sie die Unterredung mit Teiresias gebracht hat. Auf Basis der in der Parodos entwickelten Bilder und Bezüge hat so das erste Strophenpaar die virulente Einengung der Perspektive auf die Gestalt des Schul‐ digen wirkungsvoll umgesetzt; für den informierten Rezipienten wirft der erste Teil des Liedes so ein gezieltes lyrisches Schlaglicht auf Oidipus, das ihn inner‐ halb der spezifisch chorischen Delphi-Theben-Thematik verortet. Geschickt wird dabei zudem mit der angedeuteten Flucht des Mörders (v. 467 ff.) das in den Aussagen des Protagonisten prominente Motiv der Mördersuche aufgenommen und eine Dynamik evoziert, die effektvoll mit dem durch Teiresias im vorherigen Epeisodion geradezu ausgebremsten Protagonisten korrespondiert. Zudem mag im Bild des ausdrücklich einsamen (χηρεύων v. 479) Bergstiers ein weiteres Motiv seine poetische Verarbeitung gefunden haben: Hatte gerade der Stadtherr denjenigen, die ermittlungsrelevante Informationen zurückhalten, wortreich mit dem gänzlichen Ausschluss aus der Polisgemeinschaft gedroht (v. 236 – 243), so ist es an unserer Stelle die poetische Imagination des Schuldigen, d. h. letztlich Oidipus selbst, der im Bild des Chors bereits jetzt vereinsamt den Orakelsprü‐ chen aus dem Weg zu gehen scheint. Die unterschwellige Fokussierung auf Oidipus ist vom Dichter zudem beson‐ ders subtil in der Wiederaufnahme bestimmter Motive und Begrifflichkeiten aus dem Monolog des Protagonisten vom Beginn des Epeisodions geleistet. So spie‐ gelt die vom Chor mit Bezug auf die φήμα gebrauchte Junktur ἀρτίως φανεῖσα (v. 474) Oidipusʼ Wortwahl ἐξέφηνεν ἀρτίως aus Vers 243; das von seiner eigenen Tätigkeit gesagte ἴχνευον (v. 221) ist im Chorlied zur Aufforde‐ rung des Orakels geworden (ἰχνεύειν v. 476), wobei die Angabe πάντʼ eine Re‐ miniszenz an Vers 226 sein mag: πάντα σημαίνειν ἐμοί. Indem der Chor also auf Begriffe und Junkturen zurückgreift, die durch Oidipus selbst geprägt wurden,

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wird die Imagination mit besonderer Brisanz unterlegt; unterschwellig ist damit bereits vorgedeutet, wie sich Oidipusʼ eigene Aussagen und Strafandrohungen in letzter Konsequenz gegen ihn selbst richten werden. Die Imagination erweist sich so bei genauerer Betrachtung als subtile Ausdeutung der eben durch den Chor miterlebten Streitszene, in der sich Oidipus entschieden weigerte, die Aus‐ sagen des Teiresias und damit die des delphischen Orakels selbst anzuerkennen. Im Bild des von den Orakelsprüchen umflogenen einsamen Stiers hat diese Re‐ aktion des Protagonisten ihre poetische Ausgestaltung gefunden, die dem um die wahren Zusammenhänge wissenden Rezipienten das volle Ausmaß von Oi‐ dipusʼ Verstocktheit vor Augen führt. So enthoben der Beginn des Stasimons demnach auch scheinen mag, so treffsicher zielt die imaginative Reflexion des Chors auf den Kern des Geschehens – ohne dass sich die Sprecher selbst dessen bewusst wären: Innerdramatisch, d. h. aus Sicht der thebanischen Greise selbst, bildet das erste Strophenpaar freilich die Fortsetzung der Parodos: Die Greise sind dabei zwar einen Schritt weiter gekommen, da sie mittlerweile um den Zusammenhang zwischen der Seuche und dem Tod des Laios wissen, an ihrer grundsätzlichen Unwissenheit über die genauen Zusammenhänge hat sich al‐ lerdings nichts geändert. Der Chor scheint sich in Vers 483 nach den bildhaften Ausführungen des ersten Strophenpaars wieder in die unmittelbare dramatische und lokale Gegenwart zurückzurufen: Der weise Vogeldeuter Teiresias habe mit seinen Ausführungen gehörige Verwirrung gestiftet (δεινὰ ταράσσει). Die Greise können dem Ge‐ sagten weder Zustimmung noch Ablehnung entgegenbringen (οὔτε δοκοῦντʼ οὔτʼ ἀποφάσκονθʼ), was sie sagen sollen, wissen sie selbst nicht, sie „hängen in [ungewissen] Erwartungen / Befürchtungen“ (πέτομαι ἐλπίσιν v. 487) und wissen weder die Gegenwart noch die Zukunft zu sehen. Von einem Streit (νεῖκος v. 490 f.) zwischen Oidipus und den Labdakiden, auf Grund dessen sie gegen die allgemeine Meinung bezüglich Oidipus mit einer genauen Prüfung (βασάνῳ v. 494) vorgehen sollten, haben sie weder in der Vergangenheit noch jetzt Kenntnis erhalten (ἔμαθον v. 493).39 Zeus und Apoll hätten, so der bewusst als Gegensatz (ἀλλʼ v. 498) formulierte Beginn der Gegenstrophe, ein umfassendes Wissen über die menschlichen An‐ 39

Auch an dieser Stelle ist der Text umstritten; die von mehreren Herausgebern an ver‐ schiedenen Stellen (!) in Vers 494 indizierte lacuna ist verschiedentlich gefüllt worden, wobei keine Lösung wirklich überzeugen konnte. Sowohl L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) als auch D AWE (1996) verzichten darauf, eine eigene Variante zu geben, und lassen die lacuna im Text stehen. Die hier vorgelegte Wiedergabe will dabei freilich keine spezielle Lösung bieten, sondern einzig den Inhalt soweit referieren, wie es für unsere Zwecke notwendig ist.

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III. Greisenchöre

gelegenheiten (τὰ βροτῶν εἰδότες v. 498 ff.); dass aber ein Seher per se höher geachtet werden solle als der Chor selbst, sei keine wahre, d. h. zutreffende Ent‐ scheidung (κρίσις ἀληθής). Freilich, so das Eingeständnis der Choreuten, könne ein Mann den anderen an Weisheit überragen; die Greise aber werden, so ihr mit Nachdruck vorgebrachter Entschluss (οὔποτʼ ἔγωγʼ v. 504), erst als einer derer auftreten, die Oidipus tadeln, wenn sie ein zuverlässiges Wort für die Schuld des Oidipus gesehen haben. Immerhin sei das „geflügelte Mädchen“ (πτερόεσσʼ […] κόρα v. 508), d. h. die Sphinx, ihm, Oidipus, gegenübergetreten, und er habe sich an diesem „Prüfstein“ (βασάνῳ v. 510) als weise und der Stadt angenehm bzw. nützlich (σοφὸς θʼ ἡδύπολις) erwiesen. Daher werde ihn von Seiten des Chors keine Vorverurteilung wegen einer κακία treffen. Mit dieser Rechtfertigung des Stadtherrn angesichts seiner Vorgeschichte, in der er sich um Theben verdient gemacht hat, endet das Standlied. Der Chor setzt sich im Stasimon konkret mit dem Streit zwischen Oidipus und Teiresias auseinander, dessen Zeuge er im vorangegangenen Epeisodion war. Bekunden die Greise zunächst, angesichts der Aussagen des Sehers weder ein noch aus zu wissen und sich in völliger Ahnungs- und Orientierungslosigkeit zu befinden, so kommen sie doch rasch zum Ergebnis, Oidipus gegenüber loyal zu bleiben und den Anschuldigungen gegen ihn keinen Glauben zu schenken. Während sie dabei in der Strophe schlicht angeben, von keinem Zerwürfnis zwischen Oidipus und dem thebanischen Herrschergeschlecht zu wissen, erfolgt in der Gegenstrophe eine Auseinandersetzung hinsichtlich der Zuverlässigkeit seherischer Aussagen. Dabei differenziert der Chor trennscharf zwischen gött‐ licher und menschlicher Sphäre: Während er – ganz seiner in der Parodos an den Tag gelegten Frömmigkeit gemäß – den Göttern zwar umfassende Kenntnis zuspricht, zweifelt er an der Validität der vom Seher vorgebrachten Anschuldi‐ gungen, indem er allgemeine Zweifel an der grundsätzlichen Überlegenheit eines Sehers gegenüber ihm selbst als Normalmenschen äußert. Gegen die aus Sicht des Chors äußerst undeutlichen und schwer durchschaubaren Aussprüche des Teiresias vergegenwärtigen sich die Choreuten schließlich die Wohltat, die Oidipus im Sieg über die Sphinx der Stadt erwiesen hat;40 die Bezeichnung dieser Auseinandersetzung als βάσανος (v. 510) ruft das Ende der Strophe wieder auf (vgl. βασάνῳ v. 494) und macht deutlich: Solange die Schuld des Oidipus nicht in einer weiteren Prüfung offen zu Tage getreten ist, halten die Choreuten am Bild des weisen und integren Stadtvaters fest. Dabei wissen sie sich im Einklang mit dem Ruf, den Oidipus im Volk genießt (vgl. ἐπίδαμον φάτιν v. 495 f.). Wie 40

Vgl. K AMERBEEK (1967) S. 121: „in contrast with Teiresiasʼ obscure accusations the scene of Oedipus confronting the Sphinx is vividly evoked“.

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schon die Strophe, so endet auch die Gegenstrophe – und damit das gesamte Lied – mit der betonten Versicherung der Loyalität gegenüber und des Ver‐ trauens in Oidipus.41 Auch das zweite Strophenpaar bildet so eine in sich gerundete Partie, der durch die einheitliche Thematik und die strukturellen Parallelen im Strophen‐ aufbau Geschlossenheit verliehen wird. Vom ersten Strophenpaar setzt sich dieser zweite Teil des Liedes in mehrfacher Hinsicht ab. Machen wir uns dazu bewusst: Das erste Strophenpaar nimmt mit seiner farbigen Illustration, seinen Bildern und Rückbezügen auf das Auftrittslied die angespannte Stimmung des vergangenen Epeisodions zwar auf, setzt diese allerdings in lyrische Bilder um und konzentriert so die Blickrichtung und Motivik der Parodos durch Imagina‐ tion. Anders das zweite Strophenpaar: In seiner expressis verbis geleisteten Be‐ zugnahme auf die konkreten Geschehnisse versucht es, das Verhältnis zwischen Teiresias, Oidipus und dem Chor selbst zu bestimmen. Das Fehlen von poeti‐ schen Bildern oder Vergleichen zu Gunsten einer Abwägung und Diskussion der im Epeisodion verhandelten Positionen macht es so aus innerdramatischer Sicht zu einer Rückführung in die dramatische Sphäre der eigentlichen Büh‐ nenhandlung. Anders gesagt: Nach der imaginativen Reflexion, die gegen das unmittelbare Bühnengeschehen zunächst eine andere Deutungsebene ein‐ blendet und in der die Greise die Rolle des ausdeutenden Betrachters einnehmen, ist der Chor im zweiten Strophenpaar ganz dramatische Person und begreift sich als unmittelbar in das Geschehen involviert. Er reflektiert nun bewusst den ak‐ tuellen Konflikt, verortet sich innerhalb des Spannungsverhältnisses der Ak‐ teure, wägt ab und nimmt schließlich Partei. In ihrer Abgrenzung von Teiresias und der daraus folgenden Loyalität gegenüber dem Stadtherrn unterliegen die Greise freilich einer gravierenden Fehleinschätzung. Vom Ergebnis her unter‐ scheidet sich die chorische Interpretation des Geschehens dabei von der des Protagonisten selbst nur hinsichtlich ihrer Drastik und der Selbstinvolvierung des Sprechenden, die grundlegende Einstellung ist dahingegen dieselbe: Beide stehen dem Seher ablehnend gegenüber und halten daran fest, dass die gegen Oidipus erhobenen Vorwürfe haltlos seien. Der zweite Teil des Chorliedes doppelt so die bereits durch Oidipusʼ Reaktion bühnenwirksam inszenierte Fehlinterpretation der Aussagen des Teiresias, die sich im Fortgang als wahr herausstellen werden. Anders gesagt: Sophokles nutzt den Chor an unserer Stelle besonders offensiv, um durch die deutliche Positio‐ nierung der Choreuten ein gezieltes Schlaglicht auf die Uneinsichtigkeit des

41

Vgl. B URTON (1980) S. 152: „and the ends of both stanzas are parallel in stating the The‐ bansʼ loyalty to Oedipus“.

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Protagonisten zu werfen. Die Wirkung dieser Fokussierung ist angesichts der andernorts prominenten Ambivalenz chorischer Aussagen besonders erdrü‐ ckend.42 Halten wir noch einmal fest: Während sich aus Sicht der Choreuten, d. h. in‐ nerdramatisch, einzig das zweite Strophenpaar mit Oidipus beschäftigt, ist für den informierten Rezipienten offensichtlich, dass sich beide Teile des Liedes auf Oidipus beziehen, mehr noch: dass vor allem der erste Teil eine Ausdeutung der unmittelbaren Situation und ihrer möglichen Konsequenzen darstellt. So‐ phokles komponiert das erste Stasimon dabei als kontrastreiche Fügung zweier thematisch und dramaturgisch unterschiedlicher Herangehensweisen, die sich hinsichtlich ihrer poetischen Mittel, ihrer Positionierung im unmittelbaren Kon‐ text der Handlung sowie der dramaturgischen Einordnung unterscheiden. Indem er beide Strophenpaare als in sich abgeschlossene Partien nebeneinander stellt, schafft er ein Lied, das den einen Sachverhalt in zwei Herangehensweisen ausleuchtet und dabei das Spiel mit dem Vorwissen der Rezipienten auf die Spitze treibt: Während der Chor in seiner Imagination des Schuldigen, der mit allen Mitteln versucht, dem Spruch des delphischen Orakels zu entgehen, den eigent‐ lichen wahren Sachverhalt unbewusst schildert, unterliegt er mit seiner deutli‐ chen Positionierung derselben Täuschung wie Oidipus selbst. Die beiden Teile des Liedes konterkarieren sich so gegenseitig: Die scheinbare Digression trifft den Kern der Handlung selbst, wohingegen die deutliche Parteinahme des Chors, seine Selbstverortung und Einschätzung der aktuellen Lage die Fehlin‐ terpretation des Protagonisten verdoppelt. Versuchen wir, die unmittelbare Wirkung des so komponierten Stasimons im Ablauf der Bühnenhandlung herauszustellen. Die Imagination des ersten Stro‐ phenpaars transferiert zunächst die im Streitgespräch zwischen Oidipus und Teiresias inszenierte Dynamik in eine andere Dimension: Statt auf die erlebte Szene direkt einzugehen, konfrontiert der Chor Zuschauer und Leser zunächst mit einer Zuspitzung der in der Parodos bereits etablierten Motivik auf Basis der für ihn neuen Informationen. Damit wird zunächst das Voranschreiten der Handlung verlangsamt, die unmittelbare Brisanz und Dynamik gedrosselt bzw. in einem dynamischen Vergleich (Jagd auf den Schuldigen durch Apoll, die anempfohlene Flucht) auf anderer Ebene aufgefangen. Das zweite Strophenpaar sucht daraufhin die Situation aus Sicht des Chors einer Lösung zuzuführen und leitet durch die explizite Thematisierung des ei‐ 42

Von besonderer Deutlichkeit ist die chorische Ambivalenz in der Antigone, wo sich vor dem Eintritt der Katastrophe kaum expressis verbis formulierte Positionierungen des Chors innerhalb des Konflikts der Personen finden.

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gentlichen Bühnengeschehens wieder über in die dramatische Realität. Dabei steigert gerade die Konstruktion des loyalen Chors die Erwartungshaltung der Zuschauer auf das Kommende. Indem hier dessen Vorwissen und die daraus resultierende Interpretation des Streits zwischen Oidipus und Teiresias auf der einen und die davon abweichende Einschätzung des Chors auf der anderen Seite so eklatant auseinanderfallen, wird Spannung erzeugt. Der unwissende, ja ir‐ rende Chor, seine Verortung im Geschehen und seine Reflexionen bündeln die Stimmung innerhalb der Handlung in herausgehobener Weise und bilden die Folie, vor der sich die weitere Demaskierung des Haupthelden deutlich ab‐ zeichnen kann. Das zweite Strophenpaar stimmt so auf die unmittelbar bevor‐ stehende Konfrontation des Protagonisten mit Kreon ein, deutet darüber hinaus bereits gewisse Argumentationsmuster des kommenden Dialogs zwischen Oi‐ dipus und Iokaste an43 und setzt mit der Forderung eines sicheren Prüfsteins, an dem sich Oidipusʼ Schuld nachweisen ließe, einen maßgeblichen motivischen Impuls.44 Die Anordnung der beiden Teile des Stasimons zeigt die bewusste Lenkung des Tempos durch den Dichter. Sie ist dabei freilich der Hörsituation des Chors geschuldet, der zunächst die kryptischen Aussagen des Teiresias aus den Versen 447 – 462 verarbeitet,45 bevor er sich hinsichtlich der gesamten Auseinanderset‐ zung der beiden Akteure positioniert; darüber hinaus erfüllt sie allerdings eine besondere dramaturgische Funktion. Mit der scheinbaren Digression zu Beginn des Liedes sowie der eindeutigen Bezugnahme auf die vorherige Szene im zweiten Teil des Stasimons ist eine häufig anzutreffende Kompositionsweise chorischer Partien innerhalb der Tragödien unseres Autors zitiert: Im Rückgriff auf entweder bereits etablierte Motivik oder thematisch völlig vom unmittel‐ baren Kontext losgelöst konzentriert sich die Reflexion im Lauf des Liedes schrittweise, bis gegen Ende der Partie der eigentliche Berührungspunkt zur Handlung angeschnitten bzw. thematisiert wird – oder die Partie sogar bewusst vor der eigentlichen Konkretisierung abbricht.46 Dieses Schema erfährt an un‐ serer Stelle zwei wesentliche Änderungen, die entscheidend zur Wirkung des Liedes beitragen: Zum einen erfolgt keine schrittweise Konkretisierung der Re‐ flexion, sondern eine besonders kontrastive Gegenüberstellung zweier Partien; zum anderen thematisiert, wie bereits gesehen, gerade die scheinbare Digression

43 44 45 46

Vgl. B URTON (1980) S. 152. Mit dieser Forderung hat der Chor zugleich eine Folie geliefert, vor der sich sein Be‐ harren auf der Unschuld des Haupthelden im dritten Stasimon besonders abheben wird. Vgl. dazu die Interpretation ad locum. Vgl. B URTON (1980) S. 151. Vgl. v. a. das erste Standlied der Antigone.

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III. Greisenchöre

des ersten Strophenpaares den Kern des eigentlichen Geschehens und deutet die Situation richtig aus, wohingegen der Chor im zweiten Strophenpaar in der deutlichen Positionierung seiner selbst innerhalb des Bühnengeschehens der‐ selben Fehleinschätzung wie der Protagonist unterliegt. Das Kompositions‐ prinzip ist so unter Beibehaltung wesentlicher Strukturmomente in seiner Wir‐ kung geradezu pervertiert. Ein letzter Aspekt ist unter unseren Gesichtspunkten von Bedeutung: Das erste Stasimon stellt die erste Auseinandersetzung des Chors mit der Gestalt des Oi‐ dipus dar. Hatte noch die Parodos den Protagonisten als für die Handlung maß‐ gebliches Moment völlig ausgeblendet, so erfährt seine Gestalt an unserer Stelle eine umfassende und komplexe Ausleuchtung. Sophokles hat diesen verhält‐ nismäßig späten Zeitpunkt innerhalb der Tragödie dabei bewusst gewählt. Da das Stasimon erst nach der „Demaskierung“ des Protagonisten durch Teiresias zu stehen kommt, ist es für den Chor notwendig, sich zur Problematisierung der Gestalt des Haupthelden zu positionieren. Dies gibt dem Dichter die Möglich‐ keit, die der Handlung innewohnende Doppelbödigkeit besonders forciert in den Chorpartien auszugestalten: Zum einen stehen die Greise ihrem Stadtherren zwar rollenimmanent loyal gegenüber, zum anderen ist die Ambivalenz seiner Person bereits wesentliches Moment innerhalb der Reflexion des Chors. Das erste Stasimon hat die vorangegangene Szene also in doppelter Weise ausgeleuchtet; die Konstruktion des irrenden Chors spielt mit dem Vorwissen des Publikums, konterkariert es bewusst und wird somit für die folgende schritt‐ weise Aufdeckung der wahren Gegebenheiten zu einer Folie voller dramatischer Ironie. Das Standlied wirkt dabei durch das kontrastive Nebeneinander der beiden Zugänge und eröffnet so wirkungsvoll das folgende, sehr lange Epeis‐ odion, in dessen Mitte ein Amoibaion den Auftritt Iokastes hervorheben wird. Erstes Amoibaion (v. 649 – 696)

Formal zerfällt das zweite Epeisodion in zwei Szenen: Zunächst entwickelt sich nach dem Auftritt Kreons in Vers 512 ein Streit zwischen ihm und dem Prot‐ agonisten, den schließlich Iokaste bemerkt und zu schlichten sucht (ab Vers 634). In einem zweiteiligen Wechselgesang (v. 649 – 667 sowie 678 – 696) schaltet sich auch der Chor in die Diskussion ein und versucht zunächst, mäßigend auf Oidipus einzuwirken, bevor er schließlich – nach Kreons Abtritt in Vers 677 – mit Iokaste ins Gespräch eintritt. Den zweiten Teil des Epeisodions (v. 697 – 862) bildet die ausführliche Unterredung des Oidipus mit Iokaste, die nur an einer Stelle (v. 834 f.) durch eine Bemerkung des Chors unterbrochen wird. Nach dem Gespräch der beiden Akteure sowie deren Abtritt beginnt schließlich der Chor in Vers 863 sein zweites Standlied.

1. Oidipus Tyrannos

463

Vor der Beschäftigung mit dem Wechselgesang können wir den ersten Teil des zweiten Epeisodions kurz abhandeln. Der nach dem ersten Stasimon auf die Bühne tretende Kreon hat von den Anschuldigungen, die Oidipus gegen ihn vorbrachte, gehört und möchte ihn nun zur Rede stellen. Der Chorführer ver‐ sucht, den Aufgebrachten zu besänftigen: Er wisse nicht, aus welcher Einsicht (γνώμη) Oidipus gesprochen habe, und sieht im Zorn des Stadtherrn das ent‐ scheidende Motiv seiner Entgleisung. Auf Kreons Frage, ob der Stadtherr bei klarem Bewusstsein und mit wachem Verstand (ἐξ ὀμμάτων δʼ ὀρθῶν τε κἀπʼ ὀρθῆς φρενός) gehandelt habe, bekennt der Chorführer, er wisse es nicht, da er das, was die Herrschenden tun, ohnehin nicht überschauen könne (v. 530). Mit dem Auftritt des Oidipus in Vers 532 beginnt die direkte Konfrontation der beiden Akteure. Thematisch steht der Vorwurf des Stadtherrn im Mittelpunkt, Kreon mache ihm die Herrschaft streitig und habe daher auch den Auftritt des Teiresias inszeniert bzw. dem Seher die vorgebrachten Anschuldigungen in den Mund gelegt. Der so Beschuldigte versucht darzulegen, dass er nie Verlangen danach getragen habe, selbst Herrscher zu sein und dafür seine jetzige, durchaus privilegierte Stellung aufzugeben. Formal greifen ausführliche Monologe (Oi‐ dipus v. 532 – 542, Kreon v. 583 – 615) und emotionale, teilweise streng stichomy‐ thisch komponierte Wechselreden ineinander (vgl. besonders v. 556 – 571 jeweils ein Vers pro Sprecher, davor und danach je ein Doppelvers pro Sprecher). Die Diskussion pendelt dabei zwischen gegenseitigen Anschuldigungen und Fragen sowie der Bekundung eigener Positionen und Standpunkte. Das bewegte Streit‐ gespräch gipfelt ab Vers 623 – wiederum in stichomythischer Komposition (teil‐ weise mit Sprecherwechsel innerhalb der Verse 626 – 629) – in der Frage Kreons, was Oidipus nun von ihm wolle (v. 622). Die Antwort des Stadtherrn ist deutlich: Er wünsche sich nicht die Verbannung, sondern den Tod seines Schwagers (v. 623). Daraufhin ergehen sich die Akteure erneut in heftigen Anschuldigungen, bevor der Chor in Vers 631 Einhalt gebietet: Er sehe Iokaste genau zum richtigen Zeitpunkt sich dem Geschehen nähern; mit ihr sollte dieser Streit zu einem guten Ende gebracht werden. Der Auftritt Iokastes kommt dabei nicht überraschend: Bereits im Gespräch der beiden Akteure wurde in den Versen 577 ff. ihre Rolle im Machtgefüge thematisiert. Oidipus hatte dort auf die Frage Kreons den nicht unerheblichen Einfluss seiner Frau auf ihn hinsichtlich der Regierungstätigkeit herausgestellt: Alles, so der Stadtherr, was sie wolle, werde durch ihn in die Wege geleitet (v. 580). Direkt nach ihrem Auftritt in Vers 634 wendet sich Iokaste an die Streitenden und hält ihnen vor, in der unglücksvollen Lage der Stadt eigene, private Pro‐ bleme zu behandeln; die erneut aufflammende Auseinandersetzung (v. 639 – 645), in der Kreon mit einem Schwur bekräftigt, keine von den ihm vorgeworfenen

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III. Greisenchöre

Taten begangen zu haben, sucht Iokaste mit einem Anruf ihres Gatten zu schlichten (v. 646): Er solle dieser Bekundung Glauben schenken (πίστευσον) und damit dem bei den Göttern geleisteten Eid, ihr selbst und den weiteren Anwesenden die nötige Achtung erweisen (αἰδεσθείς). Mit der Äußerung des Chors in Vers 649 beginnt der erste Teil des Wechselgesangs. Vergegenwärtigen wir uns die Situation zu Beginn dieser lyrischen Partie. Das Epeisodion hat bis zu diesem Punkt einen erneuten Streit zwischen der Hauptperson und einem weiteren Akteur inszeniert. Diese nach dem Streit mit Teiresias nunmehr zweite Auseinandersetzung erhielt durch die verwandt‐ schaftliche Bindung der beiden Streitenden eine besondere Intensität, stehen sich doch hier nicht nur Stadtherr und angesehener Bürger, sondern zwei Schwager gegenüber, die sich ihrer besonderen Beziehung zueinander wohl be‐ wusst sind (vgl. v. 577 ff.). Thematisch steht, wie schon ausgeführt, der Vorwurf des Oidipus im Mittelpunkt, Kreon wolle sich heimlich der Herrschaft bemäch‐ tigen. Lediglich in der Mitte des Gesprächs (v. 558 – 576) steht die Vergangenheit, d. h. der Tod des Laios und die damals eingeleiteten Maßnahmen zur Debatte. Oidipus stellt in diesem Zusammenhang zuversichtlich in Aussicht, er selbst werde – trotz der Anschuldigungen durch Teiresias – nicht als Mörder des Laios überführt werden (v. 576). Der Auftritt Iokastes am Kulminationspunkt des Streits komplettiert die Per‐ sonenkonstellation. Dabei sind sich die mit dem Mythos vertrauten Zuschauer über die Brisanz im Klaren: Nach dem zweiten Streit, den Sophokles direkt auf die Auseinandersetzung mit Teiresias folgen ließ, wird der Protagonist zum ersten Mal auf der Bühne mit seiner Frau / Mutter und damit (freilich unwis‐ sentlich) mit seiner Vergangenheit und dem Kern des dramatischen Konflikts konfrontiert. Iokaste ist dabei direkt im Geschehen präsent; sie versucht Einfluss auf die Akteure zu nehmen und scheint mit ihrer mäßigenden Haltung auch den Chor ermutigt zu haben, sich in ähnlicher Weise zu Wort zu melden. Metrisch gliedert sich die gesamte Partie der Verse 649 – 696 in drei Abschnitte: Eingeschoben zwischen zwei lyrische, sich in Form von Strophe und Gegen‐ strophe entsprechende Passagen (v. 649 – 667 / 8 sowie 678 – 695 / 6) sind die iam‐ bischen Verse 669 – 677. Die lyrischen Passagen selbst bestehen dabei aus je einer dialogischen Partie (649 – 659 bzw. 678 – 688) mit einer abschließenden, sechs Verse umfassenden Bemerkung des Chors.47 Die Sprecherverteilung innerhalb dieser strophischen Gliederung gibt bereits wesentlichen Aufschluss über die Komposition des Ganzen: 47

Zu weiteren metrischen Belangen verweise ich auf den entsprechenden Anhang des Kommentars von D AWE (1982) S. 252.

1. Oidipus Tyrannos

465

Erste Strophe

Gegenstrophe

Anzahl der Verse

Sprecher

Anzahl der Verse

Sprecher

2

Chor

2

Chor

1

Oidipus

1

Iokaste

2

Chor

2

Chor

1

Oid. – Chor – Oid.

1

Iok. – Chor – Iok.

2

Chor

2

Chor

2

Oidipus

2

Oidipus (!)

6

Chor

6

Chor

Machen wir uns des Weiteren bewusst, dass der in Sprechversen gehaltene Mit‐ telteil (v. 669 – 677) einen kurzen Wortwechsel zwischen Oidipus und Kreon dar‐ stellt, so können wir feststellen: Das gesamte Amoibaion (mitsamt seiner ein‐ geschobenen iambischen Partie) gliedert sich in drei unterschiedliche Gesprächskonstellationen. Sein Ablauf kann daher folgendermaßen dargestellt werden: Chor-Oidipus, längere Zwischenbemerkung des Chors (erste Strophe) – Oidipus-Kreon (iambische Verse) – Chor-Iokaste (mit abschließender Bemer‐ kung des Oidipus), längere Schlussbemerkung des Chors (zweite Strophe). Thematisch und inhaltlich kann die Partie kurz behandelt werden. In seiner direkten Wendung an Oidipus setzt der Chor zu Beginn der lyrischen Partie das Anliegen Iokastes fort, die mit ihrer letzten Beteuerung (v. 648) den Chor explizit mit einbezogen hatte (θʼ οἳ πάρεισί σοι): Oidipus solle sich überzeugen lassen und zur Vernunft kommen (φρονήσας). Auf die Frage des Angesprochenen, was der Chor konkret verlange, antworten die Greise, es sei geboten, den von Kreon geschworenen Eid zu achten und ihn, den Freund, nicht auf Grund unbewiesener Klage (αἰτίᾳ σὺν ἀφανεῖ) zu verurteilen. Oidipus reagiert entrüstet: Wenn die Greise das forderten, dann bedeute das den Wunsch nach seinem eigenen Ver‐ derben bzw. seiner Flucht aus Theben. Dagegen verwahrt sich der Chor in seiner längeren Zwischenbemerkung (v. 659 – 668) und antwortet mit einer Selbstver‐ fluchung: Er selbst wolle, wenn er diese Absicht hege, elend, gottlos und ohne Freunde zu Grunde gehen; vielmehr treibe ihn die schlimme Lage des Landes sowie die Befürchtung, dass sich nun neues Leid zu altem geselle und sich mit diesem verbinde. Das eingeschaltete Gespräch zwischen Oidipus und Kreon leitet den Abgang des Letzteren ein: Der Stadtherr gibt sich von den Bitten des Chors beeinflusst und fordert Kreon unwirsch auf, nun zu gehen, auch wenn er selbst sterben oder

466

III. Greisenchöre

das Land verlassen müsse. Kreon lässt sich darauf zu der beißenden Bemerkung hinreißen, dass Oidipus noch schwer an seinem Zorn zu tragen haben werde, wenn dieser abgeklungen sei; solche Naturen wie er seien sich selbst am schwer‐ sten zu ertragen (v. 673 ff.). Oidipusʼ erneutem Insistieren auf seinen Abgang gibt er schließlich in Vers 677 nach, nicht ohne noch einmal zu bekunden, dass er zwar bei Oidipus selbst auf Unverständnis stoße, bei den anderen Anwesenden aber – gemeint ist damit der Chor – als rechtschaffener Mann48 anerkannt würde. Mit Beginn der Gegenstrophe wendet sich der Chor direkt an Iokaste, die dem vorangegangenen Gespräch wortlos gefolgt ist. Er fragt sie, warum sie zögere, Oidipus ins Haus zu führen. Erst, so die Antwort, wolle sie wissen, was ge‐ schehen sei (ἥτις ἡ τύχη v. 680). Der Chor gibt an, es habe unbegründete Ver‐ dächtigungen sowie beißende und ungerechte Beschuldigungen gegeben – und zwar, als Antwort auf Iokastes Frage, von Seiten beider Beteiligten. Eine weitere, von Iokaste erbetene Präzisierung (τίς ἦν λόγος) geben die Greise allerdings nicht: Für sie, die sich um die Heimat sorgen, sei es genug, dass das, was ge‐ sprochen wurde, da bleibt, wo es endete, d. h. dass die erboste Diskussion nicht erneut aufgenommen wird. Hier schaltet sich, entgegen der Symmetrie in der Sprecherverteilung,49 Oidipus ein und straft den Chor bzw. stellvertretend den Chorführer ab: Soweit sei dieser, eigentlich ein Mann von guter Einsicht, ge‐ kommen, da er sein – des Oidipus – Herz (seine Intentionen, seine Gefühlsauf‐ wallung) stumpf zu machen suche.50 Noch einmal versucht der Chor, die eigene Position klar zu stellen: Er würde sich als von Sinnen erweisen (παραφρόνιμον v. 691), sollte er sich von seinem Herrn abwenden. Der angeschlossene Relativ‐ satz ruft noch einmal Oidipusʼ Verdienste in Erinnerung und endet mit einer zuversichtlichen Note: Oidipus habe die Heimat des Chors damals „auf die rechte Bahn gebracht“ (κατʼ ὀρθὸν οὔρισας v. 695) und möge auch nun wieder (τανῦν δʼ v. 696) ein guter Geleiter der Stadt sein (εὔπομπος αὖ γένοιο). Die lyrische Partie hat damit ein Ende gefunden; Iokaste wird sich im Fol‐ genden direkt an Oidipus wenden und mit ihm in ein längeres Zwiegespräch eintreten. Die ganze Partie kann nun überblickt werden. Mit dem Beginn der ersten Strophe setzte der Chor Iokastes Intervention und ihre Bitte an Oidipus fort. Das Einschreiten des Chors sowie seine Versicherung, in besonderer Loyalität zu

48 49 50

So K AMERBEEK (1967) S. 143 ad locum: „a righteous man“. Vgl. die Tabelle Seite 465. Die Interpretation des Verses 688 ist umstritten (vgl. die einschlägigen Kommentare ad locum); ich schließe mich der vorsichtigen Präferenz K AMERBEEK s (1967) S. 145 f. an.

1. Oidipus Tyrannos

467

Oidipus nur das Wohl der Stadt im Auge zu haben, zeigte daraufhin beim zu‐ nächst entrüsteten Stadtherrn Wirkung: Er entließ Kreon zwar im Streit, aller‐ dings ohne seine Drohungen aus Vers 623 umgesetzt zu haben. Das zweite Stro‐ phenpaar begann daraufhin als Unterredung zwischen dem Chor und Iokaste, die sich über die konkrete Sachlage informieren wollte. Die Weigerung des Chors, detailliert vom Streit der beiden Akteure zu berichten, brachte Oidipus dazu, sich erneut vorwurfsvoll an die thebanischen Greise zu wenden. Parallel zur Strophe schloss auch die Gegenstrophe mit der Zusage absoluter Loyalität von Seiten des Chors. Sophokles lässt also den Chor an unserer Stelle bewusst in die Handlung eingreifen: Mit der offensiven Loyalität der Choreuten gegenüber ihrem Stadt‐ herrn setzen sie die am Ende des ersten Standliedes gegebenen Zusagen fort und suchen dennoch, die Eskalation des miterlebten Streits zu verhindern. Schon ein flüchtiger Blick auf die Passage zeigt: Der vorliegende Wechselge‐ sang ist weder eine reflektierende Partie, noch dient er dazu, einen erreichten Zustand möglichst emotional und effektvoll auszuleuchten, während das ei‐ gentliche Geschehen angehalten wird. Mit dem Ende der Auseinandersetzung des Protagonisten mit Kreon und der Intervention des Chors im Anschluss an Iokastes Eingreifen ist der Wechselgesang dagegen wesentlich von Aktion ge‐ prägt. Die in den Verlauf der Handlung eingesetzten lyrischen Abschnitte un‐ terbrechen so nicht den Fortgang des Geschehens oder bündeln – wie Stasima oder Kommoi – die gesamte Aufmerksamkeit auf die Reflexion des Chors, son‐ dern inszenieren selbst entscheidende Vorgänge des Geschehens.51 Formal bedient sich Sophokles hier einer besonders wirkungsvollen Kon‐ struktion: Er lässt nicht nur den Chor in lyrischen Versmaßen die in der Szene evozierte Drastik aufnehmen und untermalen, sondern weitet durch die Ein‐ schaltung der Akteure die Partie geradezu zur einzig wirklichen Ensembleszene unserer Tragödie.52 Warum nun markiert der Dichter die vorliegende Stelle in‐

51

52

Eine formal vergleichbare Partie bietet sich im Oidipus auf Kolonos, wo der Chor aktiv in die Auseinandersetzung des Protagonisten mit Kreon eingreift und zur wirkungs‐ vollen Inszenierung des Streits zwischen Oidipus und Kreon sowie der folgenden Ent‐ führung der Kinder des Haupthelden beiträgt. Der Kommos (v. 1297 – 1366) ist eine Unterredung zwischen Oidipus und dem Chor ohne aktive Beteiligung eines weiteren Akteurs. In seiner auf die vor Augen liegende Kata‐ strophe hinweisenden und reflektierenden Herangehensweise erfüllt er dabei eine ganz andere Funktion als der vorliegende Wechselgesang innerhalb des Epeisodions. Damit wird freilich unsere Stelle, in der die größtmögliche Anzahl an sprechendem Personal (drei Schauspieler sowie der Chor bzw. Chorführer) auf die Bühne geholt und diese in das Wechselgespräch eingebunden werden, in besonderem Maß herausgehoben.

468

III. Greisenchöre

nerhalb des Handlungsablaufs durch die Einschaltung dieses besonderen Form‐ teils?53 Welche Bedeutung der durch die lyrischen Abschnitte ausgestalteten Episode zukommt, ersehen wir aus dem Vergleich des Vorangegangenen mit dem Kom‐ menden: Oidipus war bis zu diesem Punkt größtenteils als Staatsmann präsent: Zunächst trat er im Prolog sowie im ersten Epeisodion als fürsorglich und mit Entschiedenheit handelnder Landesvater auf die Bühne und wollte sich als sol‐ cher verstanden wissen. Mit den beiden Auseinandersetzungen (Teiresias und Kreon) wurde mit der dramatischen Vorgeschichte (dem Tod des Laios) auch die Person des Protagonisten selbst thematisiert und – aus Sicht der informierten Rezipienten – in passender Weise problematisiert. Oidipus hatte dabei die Prob‐ lematisierung seiner Rolle im Handlungsgefüge abgelehnt bzw. auf die direkten Anschuldigungen mit Gegenangriffen geantwortet. Im auf den Wechselgesang folgenden Gespräch mit Iokaste dagegen nimmt Oidipus zum ersten Mal aus‐ führlich zu seiner eigenen Person, seiner Vorgeschichte und einer möglichen Verstrickung in den Todesfall des Laios Stellung (v. a. im ausgreifenden Monolog 771 – 833). Er wird sich so seiner eigenen, zutiefst ambivalenten Position inner‐ halb des Gefüges bewusst.54 Dies geschieht – eine besondere dramatische Raf‐ finesse – gerade im Gespräch mit Iokaste, d. h. in der engsten und problema‐ tischsten familiären Beziehung, die das Drama zu bieten hat. Dieser entscheidenden Szene vorgeschaltet ist der besprochene Wechselge‐ sang, dessen spezifische Komposition und Einordnung in den dramatischen Ab‐ lauf die Gelenkstelle besonders heraushebt und so einen wirkungsvollen Auftakt zur kommenden Szene bildet. Als einzige große Ensembleszene weitet der Wechselgesang die Auseinandersetzung zwischen Oidipus und Kreon, bildet geradezu den effektvollen Abschluss der beiden Streitszenen und bietet zugleich einen Kontrast zum sich anschließenden intimeren Wortwechsel zwischen den beiden Ehepartnern bzw. zwischen Mutter und Sohn. Der Wechselgesang ist also zwischengeschaltet: Er führt die thematisch zusammengehörigen Szenen des Vorangegangenen zu einem Abschluss – sinnfällig inszeniert durch den Abtritt Kreons – und bereitet mit dem Dialog Iokaste-Oidipus eine entscheidende Szene des Dramas vor. Dass die Ensembleszene dabei, wie gezeigt, in Einzelgespräche zerfällt, macht seine Übergangsfunktion ersichtlich: Die vorherrschende Kons‐

53 54

Vgl. dazu B URTON s (1980) Kommentar S. 152, der die dramatische Wichtigkeit des zweiten Epeisodions erkennen lässt: „The lyric dialogue (649 – 96) marks a break in the central scene“. Die Implikationen in der Charakterzeichnung der Hauptperson hat schon B URTON (1980) S. 154 f. ausgeführt: „This highly dramatic scene […] is important for its revelation of certain developments in the king’s character“.

1. Oidipus Tyrannos

469

tellation Oidipus-Kreon, allgemein gesprochen Stadtherr-Gegenpart, wandelt sich so unter Einschaltung des Chors zum Gespräch Oidipus-Iokaste, in dem der Landesherr einem Dialogpartner gegenübertritt, mit dem er persönlich eng ver‐ bunden ist. Die Emotionalisierung der Situation durch den lyrischen Wechselgesang bleibt dabei relativ verhalten. Natürlich sind die raschen Sprecherwechsel (v. 655, 676, 684), die Anrufung von Gottheiten (v. 662 f.) sowie die vorherrschenden Imperative und direkten Anreden der Akteure untereinander (vgl. vor allem die erste Äußerung des Chors Vers 649 f.) sprachliche Mittel, um die aufgeheizte Stimmung darzustellen; im Vergleich mit Wechselgesängen anderer Tragödien55 oder dem schon erwähnten Kommos zwischen Oidipus und dem Chor (v. 1297 ff.) bleibt unsere Stelle jedoch bewusst hinter einer möglichen maximalen Emotionalisierung zurück: Es fehlen klagende Interjektionen, klangliche Mittel finden nur begrenzt Einsatz (so z. B. die im Zusammenhang sehr wirkungsvolle Junktur ἄθεος ἄφιλος v. 663), das Stilmittel der Wortwiederholung wird nur zurückhaltend benutzt (so Vers 685 die Verdoppelung des ἅλις). Sophokles setzt so nur wenige drastische Mittel der poetischen Ausgestaltung ein und geht in diesem Sinn effizient mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten betont situativen, d. h. emotionalen Sprechens um. Die dreigliedrige Struktur des Wech‐ selgesangs wirkt sich auch in dieser Hinsicht funktional aus: Einzig dem Chor ist es möglich, in zwei längeren Äußerungen seine Position klar zu machen; umfangreichere Ausführungen der Schauspieler unterbleiben. Damit wird auf eine betont affektvolle Ausdeutung (im Sinne einer Arie mit Choruntermalung) zu Gunsten einer dynamischen Übergangsszene verzichtet. Machen wir uns abschließend klar: Sophokles gliedert das zweite Epeisodion durch die Einschaltung einer lyrischen Partie mit umfangreicher Beteiligung des Chors. Dabei hält er den Ablauf nicht an, sondern gestaltet den Übergang von einer Gesprächsszene in die nächste mit Hilfe eines besonders wirkungsvollen Formteils. Die so hervorgehobene Passage tritt damit bewusst als Gelenkstelle innerhalb des dramatischen Ablaufs vor Augen. Der Auftritt Iokastes als ent‐ scheidender Schritt hin zur Aufdeckung der wahren Umstände erhält dabei eine wirkungsvolle Orchestrierung.

55

Vgl. den emotionalen Auftrittsgesang Elektras mit dem anschließenden Wechselgesang (v. 121 ff.) oder der weit ausholende Kommos des Aias nach seinem Erscheinen auf der Bühne (v. 348 ff.).

470

III. Greisenchöre

Zweites Stasimon (v. 863 – 910)

Der Fortgang der Handlung nach dem besprochenen Wechselgesang wurde schon angedeutet: Oidipus und Iokaste führen ein Gespräch, in dessen Verlauf sich der Stadtherr zum ersten Mal innerhalb der Tragödie über seine eigene Vergangenheit äußert und bewusst die Möglichkeit der eigenen Verstrickung in den Todesfall des Laios realisiert. Das Gespräch der beiden Akteure soll kurz nachvollzogen werden. Ausge‐ hend von Fragen nach dem vorherigen Streit mit Kreon und ihrer Abwertung angeblicher mantischer Fähigkeiten referiert Iokaste den an Laios ergangenen Orakelspruch, er solle durch seinen eigenen Sohn zu Tode kommen (v. 711 ff.). Diese Drohung habe sich allerdings nicht verwirklicht: Laios hatte seinem Sohn kurz nach dessen Geburt die Füße durchstechen und ihn in unzugänglichem Gelände aussetzen lassen. Für Laiosʼ Tod waren dann schließlich auch Räuber verantwortlich, nicht der eigene Sohn. Daher müsse Oidipus, so Iokaste, vor den Aussagen der Weissager (φῆμαι μαντικαί) keine Scheu haben; ein Gott, so ihre Schlussfolgerung, könne nämlich das, was er bezwecke, auch leicht selbst deut‐ lich machen (αὐτὸς φανεῖ v. 725). Im Folgenden lässt sich Oidipus von seiner Frau über bestimmte Details des Tathergangs informieren und wird sich einer möglichen eigenen Verstrickung in das Geschehen bewusst. Die emotionalen Ausrufe des Protagonisten (v. 738, 744, 754) geben seiner Angst, selbst Beteiligter der in Frage stehenden Bege‐ benheit gewesen zu sein, lebhaft Ausdruck. Oidipus besteht darauf, dass der einzige Augenzeuge, ein Diener des Laios, vor ihn gebracht werde, was Iokaste in die Wege leiten wird. Zudem bittet sie ihren Mann, ihr die Gründe seiner außergewöhnlichen Besorgnis darzulegen (v. 769 f.). In seinem anschließenden Monolog (v. 771 – 834) ruft Oidipus entscheidende Momente und Ereignisse seiner Vergangenheit auf: den Vorwurf, seinem Vater Polybos von Korinth un‐ tergeschoben worden zu sein, den Orakelspruch, er werde seine Mutter eheli‐ chen und Mörder seines Vaters werden, sowie das Geschehen am Dreiweg, das er mittlerweile mit dem Tod des Laios in Verbindung bringt. Sollte er tatsächlich bei seinem rabiaten Vorgehen – schließlich tötete er beide Unbekannte auf der Wegkreuzung – mit Laios oder einem seiner Verwandten in Berührung ge‐ kommen sein, dann werde er nun selbst Betroffener der eigenen Verfluchungen, wie er sie in seiner öffentlichen Ansprache vor dem Rat der Stadt ausgesprochen hatte.56 Zum einzigen Mal während der Unterredung zwischen Oidipus und Iokaste meldet sich an dieser Stelle (v. 834 f.) der Chor bzw. der Chorführer zu Wort. Er

56

Vgl. Oidipusʼ Ansprache zu Beginn des ersten Epeisodions, v. 224 ff.

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471

bekundet in der Form eines standardisierten Doppelverses als unmittelbarer Reaktion auf die Rhesis eines Akteurs: Was der Stadtherr gesagt habe, mache ihm Angst; allerdings solle Oidipus Hoffnung haben, bis der Herbeigerufene durch seine Aussage Klarheit bringe. Inwiefern Oidipus daraufhin auf den Zwi‐ schenruf des Chors eingeht, oder vielmehr in seiner Ansprache an Iokaste fort‐ fährt, ohne von den Worten des Chors Notiz zu nehmen, ist nicht ganz zu klären; letzteres ist allerdings wahrscheinlicher: Die Entgegnung des Oidipus in den Versen 836 f. lässt sich sowohl als Antwort auf den Chor als auch als Fortsetzung seiner Rhesis lesen. Oidipus gibt darin seiner Zuversicht Ausdruck und erklärt, inwieweit ihn die Aussage des Augenzeugen entlasten könnte: Sollte dieser Io‐ kastes Angabe, eine Mehrzahl von Räubern habe den Tod des Laios zu verant‐ worten, bestätigen, dann habe er (Oidipus) Laios nicht getötet; sollte dagegen nur von einem Täter die Rede sein, würde sich deutlich erweisen, dass zwischen ihm und der Tat ein Zusammenhang bestehe. Iokaste sucht ihren Gatten zu beruhigen: Erstens werde der Augenzeuge nicht von der bekannten Version der Erzählung abweichen, und zum zweiten könne er selbst in diesem Fall nicht nachweisen, dass Oidipus tatsächlich Laiosʼ Mörder gewesen sei. Sie gibt da‐ raufhin erneut ihrem Misstrauen gegenüber dem Orakel Apolls Ausdruck, ihr Sohn solle Laios töten. Die eindringliche Bitte des Stadtherrn, nach dem be‐ treffenden Diener des Laios schicken zu lassen, sowie die Antwort Iokastes, dies schnellstmöglich zu tun, bilden mit ihrer Versicherung der uneingeschränkten Loyalität gegenüber Oidipus den Abschluss des Epeisodions; in Vers 868 ver‐ lassen beide die Bühne. Mit der vorliegenden Szene bringt Sophokles die Handlung wesentlich voran: Oidipus hat die Problematisierung seiner eigenen Person realisiert und wird sich durch die Rekapitulation vergangener Ereignisse seiner eigenen Rolle mehr und mehr bewusst. Dass dies gerade im Gespräch mit Iokaste geschieht, die als Mutter und Frau aufs Engste mit ihm und dem Kern des dramatischen Gesche‐ hens verknüpft ist, stellt einen besonderen dramaturgischen Kunstgriff des Dichters dar: Die persönlichste Unterredung des gesamten Dramas inszeniert so den eigentlichen Konflikt augenscheinlich auf der Bühne. Das Wissen der Zuschauer (und Leser) um die eigentliche Personenkonstellation macht das Zwiegespräch der beiden Akteure und vor allem den Monolog des Protagonisten (v. 771 – 833) zu einer Schlüsselstelle der gesamten Tragödie. Es ist dabei im We‐ sentlichen Oidipus selbst, der durch den ausführlichen Rückblick in seine Ver‐ gangenheit und die Verknüpfung verschiedener Informationen über den ge‐ nauen Hergang des in Rede stehenden Mordgeschehens und anderer Begleitumstände seine eigene Person problematisiert: Während Teiresias die wahren Hintergründe des Geschehens noch als Außenstehender an Oidipus he‐

472

III. Greisenchöre

rantrug, ist es hier der Protagonist selbst, der durch eigene Schlussfolgerungen seine Verstrickung im Geschehen aufdeckt. Er erweist sich in dieser Hinsicht erneut als Mitte der dramatischen Handlung und wesentlicher Motor des Ge‐ schehens. Iokastes Reaktion auf Oidipusʼ Selbstproblematisierung ist dabei eine durchaus differenzierte Kritik am Orakelwesen, die in ihrer argumentativen Stoßrichtung den Äußerungen des Chors aus dem zweiten Strophenpaar des ersten Stasimons entspricht. Dabei wird weniger das grundlegende Faktum der Willensäußerung eines Gottes – im speziellen Fall Apolls – abgelehnt, sondern vielmehr an der Zuverlässigkeit der menschlichen Überbringer der entspre‐ chenden Nachrichten gezweifelt (vgl. besonders v. 708 f. sowie 711 f. οὐκ ἐρῶ Φοίβου γʼ ἀπʼ αὐτοῦ, τῶν ὑπηρετῶν ἄπο). Als ein zentrales Moment der Situa‐ tionsbewältigung hat so an unserer Stelle die Kritik am Orakelwesen einen Ver‐ treter unter den direkt am Geschehen beteiligten Akteuren gefunden. Das in Aussicht gestellte Auftreten des Dieners unterfüttert die Situation zudem mit erwartungsvoller Spannung. Das Insistieren des Protagonisten auf die rasche Auflösung der Situation macht in dieser Hinsicht nicht nur dessen brennende Sorge um eine mögliche eigene Schuld deutlich, sondern wirkt als innerdramatischer Impuls, der die Handlung vorantreibt. Wieder ist es Oidipus selbst, der den Fortgang zu bestimmen versucht und den Auftritt einer weiteren Person in die Wege leitet. Zwar ist dabei den informierten Zuschauern die Ver‐ wicklung und Täterschaft des Protagonisten bereits klar, mit der plötzlichen Nachricht vom überlebenden Augenzeugen und dessen angekündigtem Auftritt aber gewinnt die dramatische Realität ein besonders prägnantes und erwar‐ tungsreiches Moment. Wie verortet sich nun der Chor mit seinem zweiten Standlied in dieser spe‐ ziellen Lage? Im Unterschied zu den beiden vorangegangenen Chorliedern steigen die Greise an unserer Stelle nicht mit einer Frage in die Reflexion ein, sondern bekunden zu Beginn der Ausführungen einen Wunsch, der thematisch zunächst aus der unmittelbar spannungsvollen Situation wegzuführen scheint. Auf die konkrete dramatische Situation bzw. ein spezielles Moment derselben wird der Chor erst im Lauf des Liedes zu sprechen kommen – eine Struktur, die aus verschiedenen Liedern anderer Tragödien bereits bekannt ist.57 Wie diese Konstruktion poetisch realisiert wird und inwiefern mit dieser Anordnung eine besondere dramaturgische Absicht verbunden ist, wird in bzw. nach einem ersten Durchgang des Gedankengangs zu klären sein.

57

Vgl. v. a. das für diese Struktur geradezu exemplarische erste Stasimon der Antigone.

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Der Chor äußert zu Beginn des Stasimons einen Wunsch: Ihm möge Moira, die den Menschen ihr fest umrissenes Lebens- und Todeslos zuteilende Schick‐ salsgöttin, zur Seite stehen, wenn er ehrwürdige Reinheit (εὔσεπτον ἁγνείαν) in allen Worten und Taten (λόγων ἔργων τε πάντων) an den Tag legt.58 Der grammatisch auf λόγων ἔργων τε πάντων bezogene Relativsatz eröffnet da‐ raufhin den geradezu hymnischen Preis göttlicher Vorschriften („divine laws“59): Die erhabenen Gesetze (νόμοι ὑψίποδες), die das menschliche Sprechen und Handeln leiten sollen, seien im Aither entstanden, hätten allein den Olymp zum Vater, die sterbliche Natur der Menschen sei keine Ursache für ihr Entstehen, und das Vergessen (λάθα) schläfere sie nicht ein – kurz gesagt: Sie gehörten ganz und gar der göttlichen Sphäre an. Der letzte Vers der ersten Halbstrophe fasst zusammen: In diesen Gesetzen walte ein großer Gott (θεός)60 und altere nicht, d. h. erhalte die Gültigkeit der Vorschriften über die Zeit hin. Mit diesem Auftakt ist das thematische Feld des kommenden Liedes abge‐ steckt. Indem der Chor hier abstrakt-theologische Gedanken entwickelt, setzt er die Perspektive der vorangegangenen chorlyrischen Partien fort: Auch dort war die Einwirkung göttlicher Mächte, vor allem Apolls, ein bestimmendes Mo‐ ment der Realitätsdeutung und Reflexion gewesen. Hier wird nun mit der ersten Strophe klargestellt, dass die Verarbeitung der eben erlebten Szenerie vor einem theologischen Hintergrund geschieht, in den zugleich eine zutiefst moralische Komponente eingeflochten ist. So evoziert die Nennung der göttlichen Gesetze, deren umfassender Anspruch mit ihrer enthobenen Stellung sowie der dau‐ ernden Geltung Gegenstand des Preises sind, zugleich die Kategorien von rich‐ tigem und falschem Handeln. Die unpersönlich abstrakte Formulierung in Bezug auf die Sphäre des Göttlichen lässt dabei einen bewussten Bezug zur dramati‐ schen Realität absichtlich in der Schwebe, kontrastiert mit der Deutlichkeit vor‐ heriger Partien61 und lässt eine kommende Konkretisierung erwarten. Innerhalb der theoretischen Ausführungen verortet sich der Chor allerdings direkt mit

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Bezüglich der Diskussion um das Partizip φέροντι (v. 863) folge ich damit am ehesten K AMERBEEK (1967) S. 173 und fasse es geradezu proleptisch: Es sagt den erbetenen Zu‐ stand bereits vom Bittenden aus (vgl. W OLFF /B ELLERMANN (1908). Sophokles König Oi‐ dipus: für den Schulgebrauch, Leipzig, S. 81). D AWE (1982) S. 181. Vgl. K AMERBEEK (1967) S. 175: „the power surpassing and exalted above man, mortality and time“. Vgl. die ausgeprägte Delphi-Theben-Thematik der Parodos und des ersten Stasimons. Entsprechend fehlen an unserer Stelle ausgeprägte scharf umrissene Götterfiguren oder Personifizierungen. Einzig der Olymp und der Aither bezeichnen hier die göttliche Sphäre; die zusammenfassende Aussage v. 872 bleibt mit ihrer Formulierung θεός so allgemein wie erhaben.

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III. Greisenchöre

dem einleitenden Wunsch im angesprochenen moralischen Spannungsfeld: Er selbst intendiert, auf der Seite des Gottesfürchtigen, Reinen und Heiligen und damit im Einklang mit den göttlichen Gesetzen zu stehen. Mit der Nennung der sterblichen Natur der Menschen (θνατὰ φύσις ἀνέρων) in der Mitte sowie des Vergessens gegen Ende der Strophe ist ein ge‐ dankliches Gegenmoment als wirkungsvolle Kontrastierung zur Welt der ewigen, göttlichen Gesetze bereits in die Reflexion eingebunden; diese polare Gegenüberstellung wird das Folgende prägen. Eine konkrete Verortung des vom Chor Vorgebrachten im unmittelbaren dramatischen Kontext ist auf Basis der ersten Strophe allerdings noch nicht möglich: Es fehlt jede direkte, d. h. wört‐ liche Bezugnahme auf die vorangegangene Szene und die dort verhandelten Sachverhalte. Dass es sich bei der Reflexion des Chors dennoch um eine Verar‐ beitung des eben Erlebten handelt, zeigt indes die Thematisierung des Motivs der Reinheit (ἁγνεία v. 864): Es spiegelt die von Oidipus in seinem ausführlichen Monolog aufgeworfene Frage nach der Bewertung der eigenen Person im Falle einer Verstrickung in den Mord an Laios (ἆρʼ οὐχὶ πᾶς ἄναγνος v. 823). Subtil ist damit ein Motiv aus der Selbstreflexion des Protagonisten aufgenommen und zum Ausgangspunkt der Selbstverortung des Chors geworden. Dass dabei Oi‐ dipus und seine Position einen maßgeblichen, wenn auch nicht expressis verbis angeführten Bezugspunkt innerhalb der chorischen Reflexion bilden werden, ist damit zudem angedeutet. Anders gesagt: Wenn sich der Beginn des Stand‐ liedes auch von der Ausgangssituation am Ende des Epeisodions zunächst ab‐ zuheben scheint, so ist durch den Rückgriff auf ein motivisches Moment der entscheidenden Rhesis des Protagonisten der unterschwellige Bezug bereits hergestellt; eine weitere Konkretisierung und Verortung im Handlungsrahmen wird die folgende Gegenstrophe liefern. Deren Beginn hebt sich syntaktisch und begrifflich deutlich vom eben Ausge‐ führten ab. Ohne Verbindung prallt der Begriff ὕβρις an die verklungenen Aus‐ sagen und bildet so den Gegenpart zur εὔσεπτος ἁγνεία aus Vers 864.62 Hybris, so der Chor in Vers 873, bringe den Tyrannen hervor,63 wenn sie sich mit Gütern,

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Vgl. dazu K AMERBEEK (1967) S. 175. Zur Diskussion über diesen vielzitierten Vers vgl. die Kommentare ad locum. Ich folge in der Textgestaltung der einhelligen Überlieferung (ὕβρις φυτεύει τύραννον), die be‐ reits bei P EARSON (1924) und schließlich bei L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) die Grundlage des Oxford-Textes bildet. Die Konjektur von Blaydes (ὕβριν φυτεύει τυραννίς), der sich D AWE sowohl in seinem Kommentar (1982) als auch seiner Textausgabe (1996) an‐ schließt, entbehrt nicht nur jeder Grundlage in der Überlieferung der MSS, sondern ist, wie zuletzt L LOYD -J ONES /W ILSON S OPHOCLEA (1990) S. 100 gezeigt haben, dem Ver‐ ständnis der Partie mehr als abträglich.

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die nicht angemessen und unpassend seien (μὴ ʼπίκαιρα μηδὲ συμφέροντα), an‐ fülle. Hybris, so die in ein Bild gekleidete generelle Aussage (ὤρουσεν v. 877 ist gnomischer Aorist), erklimme den höchsten Mauervorsprung64 und stürme in die steile Not, wo der Fuß keinen nützlichen Dienst mehr leistet.65 Das der Stadt wohltuende Ringen allerdings (τὸ καλῶς δʼ ἔχον πόλει πάλαισμα) solle kein Gott beenden, so bittet der Chor ausdrücklich (αἰτοῦμαι). Er, der Chor, werde nicht aufhören, Gott als einen mächtigen Verteidiger (προστάταν) bei sich zu haben. Halten wir hier kurz inne und vergegenwärtigen uns einige entscheidende Momente des ersten Strophenpaars. Ihren Anfang nahm die Gegenstrophe aus dem scharfen Kontrast zur in der Strophe imaginierten göttlichen Sphäre (ἁγνεία – ὕβρις) und leistete mit dem Blick auf die Stadt Theben (v. 880) sowie dem festen Vertrauen auf göttliche Hilfe (v. 882) eine gewisse Konkretisierung und Verortung innerhalb der dramatischen Realität. Dass mit der Thematisie‐ rung des Tyrannen und seiner Herrschaft ein Anklang an die Figur des Stadt‐ herrn evoziert wird, steht zudem außer Frage. In welchem Verhältnis aber steht die chorische Reflexion zur Bühnenhandlung, konkret: Worüber spricht der Chor im ersten Strophenpaar angesichts des aktuellen dramatischen Gesche‐ hens? Wir können mit einigem Recht K AMERBEEK in seiner Deutung folgen und in den Ausführungen des Chors zum Verhältnis zwischen Hybris und Tyrannis die konkrete Sorge der Choreuten vor einem Abgleiten des Stadtherrn in Über‐ hebung und Gottlosigkeit sehen.66 Das erste Strophenpaar wäre dann eine ab‐ strakte Problematisierung der Figur des Protagonisten, dessen prekäre Situation den Greisen nach seiner Unterhaltung mit Iokaste bewusst geworden ist. Auch diese nachvollziehbare Deutung lässt allerdings Fragen offen: Welchen kon‐ kreten Ansatzpunkt für die Angst haben die Greise im Verhalten ihres Herrn? Sollte Oidipus in seinem Handeln bereits Anzeichen von Hybris und Tyrannis gezeigt haben (womöglich in der vom Chor attestierten Wut im Umgang mit Kreon)? Was sind dabei allerdings die unpassenden und unnützen Dinge, mit denen sich die Hybris des Stadtherrn angefüllt hat (v. 874 f.)? Worin konkret 64 65

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Der Text ist im Einzelnen umstritten; der Konjektur von Wolff (γεῖσ’ ἀναβᾶσ’) folgen L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) und D AWE (1996). Vgl. K AMERBEEK s (1967) Einschätzung der vorliegenden griechischen Junktur „litotes, oxymoron, figura etymologica all in one“ S. 176 f. Zum Verständnis nützlich dabei J EBB s (1914) Paraphrase „it is not one in which the feet can anywhere find a safe landing-place“ S. 119 sowie die Übersetzung von S TEINMANN (2002) S. 41. Vgl. K AMERBEEK (1967) S. 172: „What the Chorus fears may be described thus: should Oedipus really be Laiusʼ murderer and should he follow Iocasta in her disbelief in oracles, then the divine unwritten laws would cease to control his government and thereby the πόλις itself. His hybris would develop into tyranny […]“.

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III. Greisenchöre

besteht in Oidipusʼ Fall die ἀπότομος ἀνάγκα (v. 877), in die die Hybris stürzt? Was genau ist zudem unter dem für die Stadt nützlichen πάλαισμα (v. 880) zu verstehen?67 Und, auf einer weiteren Ebene: Hat der Chor wirklichen Anlass zur Sorge? Das heißt: Treffen die Choreuten in ihrer Befürchtung einen wirklichen, d. h. einen aus dem Verhalten des Stadtherrn zu erschließenden Sachverhalt? So einleuchtend und richtig es ist, im ersten Strophenpaar eine Problemati‐ sierung der Figur des Protagonisten zu sehen, so schwer fällt im Einzelnen eine eindeutige Auflösung der Details. Machen wir uns daher grundlegend bewusst: Der Chor vermeidet an dieser Stelle (und im gesamten Stasimon) jede konkrete Namensnennung sowie präzise Zuordnung der entworfenen Reflexionen und Bilder zu einzelnen Personen und Vorgängen innerhalb der Handlung. Er spricht dezidiert nicht über Oidipus (wie, zumindest partiell, in den anderen Stasima), sondern abstrakt über das Verhältnis von Tyrannis und Hybris. Anders gesagt: Der Chor fällt an unserer Stelle kein personengebundenes, konkret im Hand‐ lungsrahmen zu verortendes Urteil (wie er es im Anschluss an die Auseinan‐ dersetzung zwischen Oidipus und Teiresias getan hatte), sondern verbalisiert betont allgemeingültige Gedanken. Dass er seine Reflexionen dennoch im Kon‐ text der Handlungssituation verstanden wissen will, belegt die Erwähnung der Stadt Theben in Vers 879 f.; die konkrete Zuordnung der gnomischen Aussagen, ihre Bewertung angesichts der Vorgänge bleibt allerdings dem Rezipienten überlassen.68 Anstatt also die Handlungen und Aussagen der Akteure punkt‐ genau abzuwägen und zu bewerten, ruft der Chor mit dem ersten Strophenpaar des vorliegenden Standliedes einen weiten, religiös-moralischen Kontext auf, der zwar durch die Handlung, ihre Träger und deren Tun evoziert ist und Motive

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Gegensätzliche Auffassungen bieten J EBB (1914) S. 119, der unter πάλαισμα den Wett‐ bewerb unter den Bürgern um das Wohl der Polis versteht, und K AMERBEEK (1967), der darin konkret Oidipusʼ Ringen um das Wohlergehen Thebens sieht. Mit Blick auf den Fortgang der Reflexion im zweiten Strophenpaar kann man vielleicht eine mittlere Po‐ sition zwischen den beiden referierten Meinungen einnehmen. Unter πάλαισμα würde man so zwar das Ringen um die Rettung der Stadt, d. h. um die Aufdeckung der wahren Hintergründe und Umstände verstehen, dabei aber nicht nur Oidipus, sondern alle Be‐ teiligten (im Besonderen Iokaste, aber auch Teiresias, Kreon, den Chor selbst, kurz: die gesamte Polis) im Blick haben. Vgl. die weiteren Ausführungen nach Besprechung der zweiten Gegenstrophe. Es spielt für unsere Zwecke eine nur untergeordnete Rolle, an wen die thebanischen Greise innerhalb der dramatischen Fiktion denken, wer ihnen möglicherweise als kon‐ krete Projektionsfigur der entwickelten Gedanken vorschwebt. Es ist dagegen von ent‐ scheidender Wichtigkeit, die forcierte Allgemeingültigkeit der chorischen Reflexion vor Augen zu führen und damit den Kontrast zu den expressis verbis auf Oidipus bezogenen Aussagen deutlich zu machen, wie sie im Besonderen den zweiten Teil des ersten Standliedes prägen.

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derselben verarbeitet, dessen konkrete Präzisierung im Sinne der Bühnenhand‐ lung allerdings unausgesprochen bleibt. Diese Ambivalenz, die eine Eins-zu-eins-Zuordnung der Reflexion zum aktuellen Geschehen erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht, hebt sich dabei vom ersten Stasimon ab und sublimiert die im Epeisodion entwickelte Dynamik für die Dauer des Stasimons. Kompositorisch von hohem Wert ist zudem die Schlusspartie der Gegen‐ strophe: Das innerhalb von zwei Versen verdoppelte θεόν (v. 881 und 882) setzt einen abschließenden Akzent gegen die menschliche Hybris vom Beginn der Strophe, unterstreicht die religiöse Verankerung des Chors und nimmt begriff‐ lich die erste Strophe (v. 872) wieder auf. Das erste Strophenpaar erscheint so als in sich gerundet und vergleichsweise abgeschlossen. Mit Vers 883 beginnt – syntaktisch durch δέ an das Vorhergehende ange‐ schlossen – die zweite Strophe mit einer ausgreifenden Konditionalperiode. Der am Ende der ersten Gegenstrophe geäußerte Wunsch, das der Stadt heilsame Ringen möge nicht aufhören, wird so eingeschränkt: Wenn aber irgendjemand (τις) frevelhaft in Tat oder Wort handele, sich vor Δίκα nicht fürchte und den Göttern nicht die nötige Verehrung entgegenbringe, dann solle ihn eine üble μοῖρα auf Grund seines Übermuts hinwegnehmen. Ein weiterer, zunächst ver‐ neinter Konditionalsatz schließt sich daran unter Beibehaltung des Subjekts (τις) an und führt das unheilvolle Verhalten weiter aus: Wenn einer seinen Ge‐ winn nicht gerecht erwerbe und sich nicht von Unreinem fernhalte oder Unbe‐ rührbares (d. h. Heiliges) unter wirrem Handeln (ματᾴζων) anrühre. Den Ab‐ schluss der Strophe bilden zwei Fragen:69 Wer, so der Chor, werde es erreichen, angesichts dieser Dinge seine Seele vor den Geschossen des θυμός zu bewahren? Ein erneuter Konditionalsatz geht daraufhin der zweiten Frage voraus: Wenn nämlich solche Praktiken wie die aufgezählten als ehrenvoll (τίμιαι) gelten, was müsste der Chor dann noch tanzen? Anders gesagt: Welchen Sinn hätte das als

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Der Text ist an dieser Stelle erneut umstritten. L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) setzen das neben θυμοῦ überlieferte θυμοί (v. 892) in den Text und schließen sich mit τεύξεται (v. 893) der Konjektur von Hölscher an, da das einhellig überlieferte ἕρξεται nur schwer mit dem Inhalt der Verse vereinbar zu sein scheint, vgl. die Diskussion bei K AMERBEEK (1967) S. 178 f. Die dort gegebene Interpretation des überlieferten Texts ohne verbes‐ sernde Eingriffe („‘Who will abstain from warding off (from the πόλις) with passion (θυμοί) the shafts which wound his soul’“) kann allerdings nicht überzeugen, sodass es geraten erscheint, sich den Rekonstruktionsversuchen anzuschließen.

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III. Greisenchöre

kultisch-religiöser Akt verstandene Tanzen70 des Chors angesichts einer als eh‐ renvoll geltenden Gottlosigkeit?71 Die referierte Strophe steht in vielfältiger Beziehung zum Vorangegangenen (und Kommenden) und ist dabei in sich selbst überlegt komponiert. Ihr Beginn greift mit der Formulierung eines Wunsches (εἰ und Optativ ἕλοιτο) die Kon‐ struktion zu Anfang des Liedes auf (εἰ und Optativ ξυνείη): Wieder ist es Moira, die als grammatisches Subjekt des Satzes in die Situation eingreifen soll. War es an der ersten Stelle die Selbstverortung des Chors, der um den Beistand der personifizierten Macht bat, hat sich hier die Sicht auf die Angerufene verändert: Ihr erbetenes Eingreifen tritt an die Seite der Δίκα und straft den imaginierten Frevler. Die Ausgestaltung der zu ahndenden Taten umrahmt in zwei Konditi‐ onalperioden den Hauptsatz und gipfelt schließlich in zwei Fragen, die die Re‐ aktion auf die in Rede stehenden Übertretungen der göttlichen Gesetze charak‐ terisieren. Wirkungsvoll ist dabei dem indefiniten τις aus Vers 883 ein interrogatives τίς entgegengestellt. Darüber hinaus reflektiert der Chor in der zweiten Frage seine eigene Position innerhalb der entwickelten Situation und 70 71

Vgl. D AWE (1982) S. 186: „serve the gods through the medium of the dance“. Inwiefern hier Sophokles dem Chor eine Selbstaussage des tragischen Dichters in den Mund legt – vgl. D AWE s (1982) vorsichtige Bemerkung „ …there are some who feel that at this moment Sophocles is in a sense breaking the dramatic illusion“ S. 186 – , muss letztlich ungeklärt bleiben. Mit Blick auf die performativen und potentiell selbstrefe‐ rentiellen Aspekte sei verwiesen auf C ALAME (1999) S. 132 – 140, der – ausgehend von der überholt geglaubten Gleichsetzung des Chors mit dem „idealen Zuschauer“ – über‐ zeugt ist: „It is not just the choral voice, but the very activity of the choros as ritual actor that is dramatically questioned here“ S. 135. Ähnlich äußert sich bereits D ODDS (1973), wenn er festhält: „And in effect the question they are asking seems to be this: ‘If Athens loses faith in religion, […] what significance is there in tragic drama, which exists as part of the service of the gods?’ […] I am only claiming that at one point in this play Sophocles took occasion to say to his fellow citizen something which he felt to be important“ S. 75 (D ODDS (1973). „On Misunderstanding the Oedipus Rex“, in: The Ancient Concept of Progress and other Essays on Greek Literature and Belief by E. R. D ODDS , Oxford, S. 64 – 77). Es muss dennoch festgehalten werden: Eine zwingende Not‐ wendigkeit, den in Rede stehenden Vers solchermaßen auszudeuten, besteht nicht; die Aussagen des Chors entsprechen vielmehr dem Charakter der Greise, erfüllen drama‐ turgisch den Anspruch der konsistenten und situationsgebundenen dramatischen Re‐ alität bzw. Illusion und fügen sich passgenau in den Gedankengang des Stasimons. Die metadramatische Äußerung des Sophokles bliebe so eine dramatisch nicht notwendige und wohl auch vom Publikum nicht unmittelbar erwartete Anspielung. Sollte Sophokles dabei tatsächlich eine den Rahmen des dramatischen Geschehens überschreitende Aus‐ sage, möglicherweise eine Thematisierung seines eigenen Schaffens im Kontext schwindender Götterverehrung getätigt haben, so bräche er damit an unserer Stelle jedenfalls nicht die dramatische Illusion (wie die u. a. von D ODDS zum Vergleich he‐ rangezogene Parabase der aristophanischen Komödie), sondern überstiege sie in in‐ haltlicher Hinsicht.

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charakterisiert indirekt sein Tun – das Singen und Tanzen – als ein gottgefäl‐ liges, den ὑψίποδες νόμοι aus der ersten Strophe gemäßes Handeln. War so zu Beginn des ersten Strophenpaars der Chor gleich mit einer Selbstverortung in die Reflexion gestartet, entwickelt sich das resignierte „Was soll ich da noch tanzen?“ und damit die indirekte Selbstbeschreibung an unserer Stelle nach einer ausgreifenden Periode. Dass sich der Chor dabei ganz bewusst von der Gestalt des Frevlers absetzt und bei dieser moralischen Unterscheidung die in der ersten Strophe entwickelte Annahme göttlicher Gesetze zu Grunde legt, macht die Kontrastierung von ἀσέπτων (v. 890) zur als εὔσεπτος bezeichneten ἁγνεία aus Vers 864 besonders deutlich. Die zweite Strophe hat in Fortsetzung der in der ersten Gegenstrophe ent‐ wickelten Gedanken erneut bei einer allgemeinen Reflexion angesetzt, das Ver‐ hältnis von göttlichen Gesetzen zum menschlichen Handeln im Sinne einer Vergeltungsethik präzisiert und so das Bild der abstürzenden Hybris konkreti‐ siert. Die Frage nach der möglichen Reaktion auf ein so geartetes hybrides Tun sowie dessen falsche Wertschätzung (τίμιαι v. 895) war für den Chor schließlich Anlass, sein eigenes Verhalten zu thematisieren und einzuordnen. Die entsprechende Gegenstrophe scheint in ihrem ersten Teil (bis Vers 903) die Konsequenzen anzudeuten, die sich für die thebanischen Greise ergeben, wenn ihr Handeln keine Relevanz mehr haben sollte; sie setzt so die resignie‐ rende Frage fort und entwickelt auf Basis des Konditionalsatzes v. 895 eine pointiert im Futur formulierte Absicht des Chors: Er werde nicht mehr den hei‐ ligen Nabel der Welt noch den Tempel in Abai oder die heiligen Stätten Olympias aufsuchen (οὐκέτι εἶμι) und ihnen die nötige Verehrung zollen (σέβων), wenn sich „diese Dinge“ (τάδε v. 902) nicht für alle Menschen als „mit Händen vor‐ zeigbar“ erweisen (εἰ μὴ τάδε χειρόδεικτα πᾶσιν ἁρμόσει βροτοῖς). Mit ἀλλʼ (v. 903) bricht der Chor diese Betrachtung ab und wendet sich direkt an Zeus, dessen übergreifende Macht gleich durch zwei Formulierungen (ὦ κρατύνων sowie πάντʼ ἀνάσσων) betont wird: Dem Gott und seiner unsterbli‐ chen Herrschaft solle dies nicht verborgen bleiben. Ein dreigliedriger Satz be‐ schließt das Chorlied und konkretisiert die vom Chor entworfene Vision eines gottlosen Thebens: Die vor Zeiten gegebenen, mittlerweile bereits „schwin‐ denden“, d. h. an Bedeutung verlierenden Orakelsprüche (φθίνοντα θέσπατʼ(α) v. 906 f.) bezüglich Laios würden nicht mehr zur Kenntnis genommen, ja gera‐ dezu entfernt,72 Apoll stehe nicht mehr in den ihm gebührenden Ehren, Fröm‐ migkeit sowie Götterglaube73 gingen unter (ἔρρει δὲ τὰ θεῖα). Mit dieser Aussage

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Vgl. J EBB (1914) S. 123: „are putting out of account“. J EBB (1914) S. 123: „‘religion’, both faith and observance“.

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schließt das Chorlied. Iokaste ist während des Liedes bzw. zu dessen Ende wieder aufgetreten und wendet sich daraufhin mit Vers 911 direkt an die Choreuten. Deutlich fällt die Zweiteilung der abschließenden Gegenstrophe ins Auge: Vor und nach dem betonten „Aber“ des Verses 904 kommen die Ausgestaltung einer imaginierten Situation sowie die geradezu apotropäische Hinwendung zur an‐ gerufenen Gottheit zur Sprache. Eingebunden in die Selbstverortung bzw. Selbstprojektion der thebanischen Greise, mit der die Gegenstrophe begann, findet sich zunächst eine deutliche Wiederaufnahme der bekannten Theben-Delphi-Thematik: Das erste aufge‐ führte Heiligtum ist nicht ohne Absicht die Orakelstelle, die für die Dramen‐ handlung von entscheidender Bedeutung ist. In der Deutung des absichtlich zunächst völlig unbestimmten Demonstrativ‐ pronomens τάδε in Vers 902 können wir mit einigem Recht J EBB und K AMER‐ BEEK folgen:74 Gemeint sind mit τάδε demnach konkret die Orakelsprüche über Laios sowie die Vorhersagen bezüglich seines Sohnes, wie sie im vorangegan‐ genen Epeisodion ausgeführt wurden und in der abschließenden Wendung an Zeus thematisiert werden (v. 906).75 Das Chorlied kommt so an seinem Ende auf das entscheidende Moment der vorangegangenen Szene zu sprechen und bietet zum ersten Mal einen wirklich greifbaren Anknüpfungspunkt zum Epeisodion. Anders gesagt: Erst der konkrete Bezug auf die im Vorhergehenden durch Io‐ kaste problematisierten Orakel verortet das Lied punktgenau im dramatischen Kontext. Indem der Chor des Weiteren die deutliche, d. h. allen Menschen sichtbare Erfüllung der göttlichen Voraussagen geradezu zum Prüfstein seines eigenen Verhaltens macht, verbinden sich die thebanischen Greise aufs Engste mit der gegenwärtigen Lage und den möglichen Konsequenzen. Sie sind so mit dem Rekurs auf die Mantik nicht nur bei ihrem ureigenen Thema (vgl. die zentrale Rolle des delphischen Orakels und seiner Weisungen in der Parodos und dem ersten Stasimon) und der das Epeisodion prägenden Frage angelangt, sondern überhöhen die dramatische Situation durch die emotionale Einbindung ihres eigenen Tuns mit Blick auf die weitere Entwicklung. D AWE weist zu Recht auf die der Stelle innewohnende tragische Ironie hin: „It is curious that what the

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Vgl. J EBB (1914) S. 123 („the prophecy that Laius should be slain by his son, and its fulfilment“) und K AMERBEEK (1967) S. 180 jeweils ad locum. Dass das Demonstrativpronomen dabei auch anders interpretiert werden kann, bemerkt K AMERBEEK (1967) a. a. O.

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Chorus are really praying for, though they hardly seem conscious of it, is that Oedipus shall be exposed as a conspicuous sinner.“76 Dem Bedeutungsverlust der Weissagungen in der allgemeinen Wahrneh‐ mung setzt der Chor abschließend die ergreifende Wendung an den Göttervater entgegen, die im Sinne der resignierenden Schlussformulierung des Liedes ge‐ radezu das letzte Aufbäumen gegen jedwede orakelkritische Äußerungen und Absichten darstellt. Mit der namentlichen Nennung des Göttervaters (v. 904) sowie Apolls (v. 909) hat die Konkretisierung der göttlichen Mächte ihren per‐ sonalisierenden Höhepunkt erreicht. Schon die Parodos hatte um das direkte Eingreifen göttlicher Instanzen gebeten; der Fokus hat sich hier allerdings maß‐ geblich verschoben: Nicht mehr die verheerende Lage, in der sich die Stadt be‐ findet, ist Anlass, sich an den Göttervater zu wenden, sondern die vom Chor der Stadt attestierte Geringschätzung der ergangenen Orakel. Halten wir fest: War die Verortung des ersten Strophenpaares im unmittel‐ baren Kontext der Handlung auf Grund der bewussten Ambivalenz und Allge‐ meingültigkeit der Aussagen noch schwieriger, so hat die zweite Gegenstrophe in ihrem deutlichen Bezug auf die Weissagungen bezüglich Laios den Anknüp‐ fungspunkt zur dramatischen Handlung herausgestellt: Anlass der chorischen Reflexion und der entschiedenen Selbstpositionierung der thebanischen Greise ist Iokastes Kritik an den Orakelsprüchen, die an sie bzw. ihren ersten Mann ergangen waren. Damit scheint angesichts des in der zweiten Strophe entwor‐ fenen Bildes eines furcht- und gottlosen Frevlers auf Iokaste kein besonders gutes Licht zu fallen; es liegt zunächst nahe, die Passage als ungehemmte Kritik an ihrer Person und ihrem Verhalten zu lesen. Allerdings ist der Chor auch hier (wie schon in der ersten Gegenstrophe) weit davon entfernt, ein konkretes, sich dezidiert auf einen Akteur beziehendes Charakterbild zu entwerfen.77 Zwar bot Iokastes Kritik den Anstoß zur vorliegenden Auseinandersetzung, die zweite Strophe hingegen zeichnet erneut ein bewusst allgemeingültiges Bild und nimmt mit dem indefiniten τις aus Vers 883 zumindest expressis verbis keinen bestimmten Menschen in den Blick,78 sondern führt in syntaktischem Anschluss an die erste Gegenstrophe das dort Ausgeführte weiter. In der Fülle an Anspie‐

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D AWE (1982) S. 187. Es wäre ohnehin mit Blick auf die Rollenkonstitution des Chors kaum glaubwürdig, dass die dem Herrscherhaus immer noch loyal gegenüberstehenden Greise die Frau und Mitregentin des Stadtherrn dezidiert einer solchen Kritik, ja einer Verfluchung unter‐ ziehen. Ich kann hier K AMERBEEK (1967) S. 177 in seiner Exklusivität nicht folgen, der ad locum festhält: „[T]he reference is to Laiusʼ murderer, if he goes unpunished“.

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lungen bleibt es dementsprechend erneut dem Rezipienten überlassen, die Aus‐ sagen des Chors mit einer Gestalt der Handlung in Verbindung zu bringen. Die betonte Allgemeingültigkeit und Unkonkretheit der chorischen Aussagen setzt sich darüber hinaus auch in der abschließenden Wendung an den Götter‐ vater fort: Das Subjekt der dem Chor unerträglichen Geringschätzung göttlicher Weissagungen bleibt unausgesprochen (ἐξαιροῦσιν v. 907 „man nimmt weg“79). Der Chor positioniert sich so nicht gegenüber einem bestimmten Menschen oder einer Personengruppe, sondern stellt sich dem Phänomen als solchem gegen‐ über und führt auch am Ende des Liedes nicht aus, wem er nun konkret die Schuld an der von ihm wahrgenommenen Gottlosigkeit gibt. Das Lied hat so zwar an seinem Ende einen konkreten Anhaltspunkt hinsichtlich seiner Veror‐ tung im dramatischen Kontext geboten; dagegen bleibt aber auch an dieser Stelle die Reflexion des Chors eigenwillig abstrakt und im besten Sinne unpersönlich. Was mit dem Wunsch der Choreuten nach dem Beistand der μοῖρα im eigenen Handeln und Sprechen sowie einem Preis der göttlichen Gesetze begann (erste Strophe), endete in einem Anruf an Zeus, dessen Aufmerksamkeit der Chor auf die seiner Meinung nach bereits fortgeschrittene Gottlosigkeit und den Mangel an religiöser Scheu zu lenken suchte (zweite Gegenstrophe). Anfang und Ende des Stasimons kontrastieren so miteinander: Auf der einen Seite die hymnische Bitte um Reinheit und Gottgefälligkeit, auf der anderen der Blick auf die vom Chor erkannte, dem erwünschten Idealzustand keineswegs entsprechenden Re‐ alität sowie die eindringliche Bitte um Abhilfe. Im Vergleich zu den anderen Chorpartien überrascht das vorliegende Sta‐ simon hinsichtlich seines Zugangs und seiner Relation zum vorangehenden Epeisodion. Rufen wir uns in Erinnerung: Die Choreuten hatten mit dem zweiten Teil des ersten Standliedes und ihrer Einmischung innerhalb des Epeis‐ odions (v. 649 ff.) nicht nur konkret die Vorgänge der Handlung reflektiert, son‐ dern sogar versucht, mäßigend Einfluss auf die Akteure zu nehmen. Sie waren also in besonderem Maß in der Handlung präsent und suchten das Geschehen selbst zu beeinflussen. Das Verhältnis zwischen Epeisodion und Chorpartie ist an unserer Stelle ein anderes: Der Chor geht nach der intensiven Szene zwischen dem Protagonisten und der Person, die diesem am nächsten steht, auf keines der drängendsten Probleme ein, die in der Unterredung zur Sprache kamen und zu einer unmit‐ telbaren Stellungnahme oder Ausleuchtung auffordern könnten: Weder spielt der hochbrisante Inhalt der referierten Orakelsprüche oder generell Oidipusʼ Vergangenheit, noch die in Aussicht gestellte Ankunft des Augenzeugens eine 79

Vgl. D AWE (1982) S. 187: „the subject is an unspecified ‘they’“.

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Rolle. Von einer direkten Einmischung, die sich unmittelbar im Spannungsfeld der Akteure verorten würde, kann hier nicht gesprochen werden. Das Chorlied blendet vielmehr eine Reflexion ein, die sich zwar im Rahmen der Handlung verorten lässt, in ihrer bewussten Allgemeingültigkeit dem direkten Kontext allerdings etwas enthoben zu sein scheint. Kompositorisch und motivisch nimmt das Lied dabei einen weiten Anlauf, bevor es erst an seinem Ende den konkre‐ testen Bezug zur aktuellen Bühnenhandlung liefert. Die ausgreifende Reflexion ist dabei in besonderem Maß anspielungsreich und mehrdeutig; in ihrer Ambi‐ valenz entzieht sie sich einer eindeutigen Zuordnung und Entschlüsselung im Rahmen der Bühnenhandlung. Um genau dies zu erreichen, nutzt Sophokles vornehmlich zwei poetische Techniken: Zum einen lässt er den Chor bewusst allgemeingültige Wahrheiten vortragen, die allenfalls Anklänge an das Handeln der Akteure wiedergeben, keinesfalls allerdings als Charakterbilder oder konkrete Ausleuchtungen des je‐ weiligen Tuns zu verstehen sind. In diesem Sinne sind der Verzicht auf den Artikel in Vers 873, der gnomische Aorist v. 877, das indefinite τις v. 883 sowie die hinsichtlich des Subjekts bewusst offene Formulierung am Ende der Gegen‐ strophe programmatisch. Zum anderen führt Sophokles im vorliegenden Stasimon neue Motive und Themenfelder in die Reflexion ein, greift bisher eher am Rand behandelte Motive wieder auf oder verknüpft Bekanntes mit Neuem. So fand z. B. der in der ersten und zweiten Strophe des Liedes prominente Begriff μοῖρα (v. 863) bisher nur an zwei Stellen Erwähnung: Während die Berufung auf μοῖρα in Vers 376 Teiresiasʼ Zuversicht untermauerte, Apoll selbst werde Oidipus zu Fall bringen, referierte Iokaste in Vers 713 den delphischen Orakelspruch, Laios werde die μοῖρα zu‐ kommen, von der Hand des eigenen Sohnes zu sterben. Der Dichter ruft an unserer Stelle durch die Thematisierung und zweimalige Nennung der μοῖρα nicht nur die erwähnten Stellen mitsamt der ihnen immanenten Implikationen subtil in Erinnerung, sondern lässt den Chor mit seiner Bitte nach dem Ein‐ schreiten der an der zweiten Stelle bewusst als κακά apostrophierten Macht (v. 887) der Motivik eine besondere Schattierung geben. Als Zentralbegriff inner‐ halb der chorischen Reflexion hat das μοῖρα-Motiv so an unserer Stelle eine besondere Verstärkung erfahren; an ihm wird die besondere Perspektive des Chors auf die Handlung und die ihr zu Grunde liegenden Mächte greifbar. Besonders wirkungsvoll ist weiterhin die motivische Gestaltung in der ersten Gegenstrophe und ihre Verbindung von τύραννος und ὕβρις. Dabei war τύραννος im Besonderen im ersten Epeisodion ein Zentralbegriff gewesen, mit dem nicht nur Kreon seinen Schwager Oidipus bezeichnet hatte (v. 513), sondern der auch in der Debatte um die Herrschaftsform sowie Kreons Avancen hin‐

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sichtlich der Machtübernahme von entscheidender Bedeutung war (v. 588). Da‐ gegen ist das Konzept der Hybris bis zu diesem Punkt noch nicht verbalisiert worden; erst der Chor macht es an diesem Punkt zu einem Moment der Refle‐ xion, indem er es in ein Verhältnis zum an unserer Stelle abstrahierten, d. h. ohne direkten Bezug auf eine handelnde Person verwendeten Begriff τύραννος setzt. Mit dieser Wiederaufnahme bzw. der Verbindung eines bekannten Begriffs mit einem bisher nicht thematisierten Motivfeld lässt der Dichter dem Rezi‐ pienten die Möglichkeit, bereits Erkanntes bzw. Durchdachtes unter einem neuen Gesichtspunkt zu sehen und somit das Geschehen aus einer veränderten Perspektive zu betrachten und anders einzuordnen. Unabhängig von ihrer dra‐ matischen Richtigkeit bildet die assoziative Motivik des Chorliedes so einen Rahmen, der durch seine motivische Arbeit die Einordnung der Reflexion in den unmittelbaren Kontext der Handlung zwar ermöglicht, dem Rezipienten in der konkreten Ausdeutung aber einigen Spielraum lässt. Kommen wir noch einmal auf die Struktur des Liedes zurück: Beide Strophen‐ paare begannen abstrakt, boten eine Verortung des Chors innerhalb eines mo‐ ralisch-theologischen Spannungsfelds und endeten mit einer Konkretisierung auf die Situation der Stadt (erste Gegenstrophe) bzw. den Umgang mit Orakeln in der gegenwärtigen Situation (zweites Strophenpaar). Der Chor kommt so geradezu im Lauf des Stasimons zu seiner ureigenen Thematik – der bereits prominent vertretenen Motivik der Orakelkritik – und damit zur dramatischen Realität zurück.80 Anders gesagt: Dramaturgischer Bezug, Selbstverortung des Chors, motivische Konsistenz und – verstehen wir unter τάδε (v. 902) tatsächlich die an Iokaste ergangenen Orakel – äußerste tragische Ironie fallen so gegen Ende des Stasimons in einem Punkt zusammen. Anders gesagt: Der Chor trumpft nicht mit einer konkreten Deutung auf oder spricht direkt aus der dra‐ matischen Situation kommend fokussiert über eine Person oder ein bestimmtes Problem, sondern kontrastiert zunächst bewusst die allgemeinen Reflexionen mit dem spannungsreichen Epeisodion. Damit unterläuft Sophokles die mög‐

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Wie bereits erwähnt ist dies eine bekannte und vielgenutzte Struktur innerhalb der Chorlyrik. Vgl. dazu B URTON (1980) S. 156: „[…] the last stanza, as so often in the songs of Greek tragedy, especially those which range over wide issues, clarifies the precise point of contact with the preceding scene“. Eine Erklärung, warum das vorliegende Chorlied allerdings in dieser Weise komponiert wurde, ob mit der speziellen Fügung ein poetischer oder dramaturgischer Zweck verbunden wird, fehlt allerdings in B URTON s Ausführungen. Gegen die überzeugende inhaltliche Einordnung des Stasi‐ mons in den Verlauf der Tragödie S. 168 wirkt das auf die Komposition und damit die Dramaturgie gerichtete „In this respect then the song provides a pause for reflection within the gathering menace of the tragedy“ S. 157 wenig aussagekräftig.

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liche Erwartung der Zuschauer nach einem beschleunigenden, die Spannung unmittelbar anheizenden Chorlied. Angestoßen von der Kritik Iokastes präsen‐ tiert der Chor vielmehr eine ins Allgemeingültige und Extreme gesteigerte dop‐ pelte Warnung: Zum einen scheint ihm die Gefahr „hybriden“ Verhaltens und daraus folgender Tyrannis virulent gegeben zu sein (erste Gegenstrophe), zum anderen mahnt er eindringlich zu Furcht und Ehrfurcht gegenüber den Göttern und ihren Äußerungen. Welchen Platz nimmt nun das so komponierte Lied innerhalb der Tragödie ein? Dass es sich in struktureller Weise von den vorangegangenen Chorpartien abhebt, ist bereits deutlich geworden. Als genuin reflektierendes, allgemeine Wahrheiten entwickelndes Lied, das erst in seinem Verlauf und dazu nur an‐ deutend bzw. implizit auf die eigentliche Situation zu sprechen kommt, eröffnet das zweite Stasimon dabei mit einem bewussten Kontrasteffekt einen neuen Abschnitt des Dramas: Nachdem Oidipus im Gespräch mit Iokaste zum ersten Mal seine eigene Person bewusst problematisiert hatte, nimmt die Aufdeckung seiner Verstrickung in den Todesfall des Laios ihren mittlerweile vom Zuschauer vorauszusehenden Lauf. Der Fokus hat sich dabei allerdings verschoben: Stand vom Beginn der Tragödie die Suche nach Laiosʼ Mörder im Vordergrund, so hat das Gespräch des Protagonisten mit Iokaste wesentliche Momente der fami‐ liären Vorgeschichte zur Sprache gebracht sowie die Frage nach Oidipusʼ Ab‐ kunft zumindest implizit aufgeworfen. Im Folgenden wird sich diese Wendung verstärken: Mehr und mehr wandelt sich die Suche nach dem Mörder zur Suche nach der wahren Herkunft des Haupthelden, der am Ende des Epeisodions die Erforschung des eigenen γένος mit aller Entschiedenheit verfolgen wird (v. 1084 f.). Ausschlaggebend für diese Verschiebung des Fokus war dabei Iokastes Referat der an Laios ergangenen Orakelsprüche. Dass sich so das Lied im An‐ schluss an die dramaturgisch höchst bedeutsame Unterredung von Oidipus und Iokaste mit der Orakelmotivik beschäftigt, erscheint demnach nur folgerichtig, da so das entscheidende Motiv eine chorische Ausgestaltung erfährt. Machen wir uns weiterhin klar: Sophokles entschleunigt den unmittelbaren Fortgang der Handlung durch die Einschaltung einer weitgreifenden Reflexion mit ihrer schrittweisen Konkretisierung auf die aktuelle Situation. Dass das Lied dabei nicht den eigentlichen Inhalt der Orakel thematisiert und so den Kern der Angelegenheit zumindest expressis verbis nicht berührt, ist ein Moment be‐ wusster Retardierung. Die im vorangegangenen Epeisodion eingeleitete Per‐ spektivverschiebung bleibt so zunächst in der Schwebe: Statt den Chor an un‐ serer Stelle die hochbrisante Problematisierung der Figur des Haupthelden in ihrem familiären Kontext ausleuchten zu lassen, schaltet der Dichter ein ab‐ straktes, reflektierendes Lied ein, das zwar einen durchaus wichtigen Aspekt

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der Handlung aufgreift, zum wirklichen Kern der Situation allerdings nur im‐ plizit vordringt. Nicht nur die weitere Aufdeckung der Situation, sondern jegliche inhaltliche Auseinandersetzung bleibt so den Akteuren, v. a. dem Protagonisten selbst, überlassen. Die im zweiten Epeisodion aufgeworfene Spannung wird durch wirkliche Bühnenhandlung zunächst verstärkt (drittes Epeisodion), schließlich gelöst (viertes Epeisodion). Der Chor steht dem Geschehen dabei mehr und mehr reflektierend (zweites Stasimon), imaginierend (drittes Stasimon) und schließ‐ lich – im Angesicht der Katastrophe – rein betrachtend (viertes Stasimon sowie Kommos) gegenüber. Was ist damit für den Fortgang des Dramas und die unmittelbare Einordnung des vorliegenden Liedes gewonnen? Betrachten wir den Beginn des folgenden Epeisodions, scheint mit Iokastes Wiederauftritt in Vers 911 eine Reminiszenz der vergangenen Gesprächsszene zwischen Oidipus und seiner Mutter / Frau gegeben. Inhaltlich kontrastiert allerdings ihre Hinwendung zu Apoll81 mit der zunächst orakelkritischen Haltung und setzt zudem einen bewussten Akzent gegen das Ende des Stasimons. Das Lied bleibt in dieser Hinsicht unbestätigt, ja geradezu konterkariert: Mit ihrem Gebet inszeniert Iokaste zwar das Vertrauen auf göttliche Hilfe, wie es am Ende der ersten Gegenstrophe durch den Chor bekundet wurde, untergräbt jedoch ihr von den Greisen implizit gezeichnetes Rollenbild.82 Hatte also das Chorlied mit seinem Anfang keinen direkten Bezug zur dramatischen Situation, so ist das Verhältnis seines Endes zum Fortgang der Bühnenhandlung – wie sich noch zeigen wird – mehrfach gebrochen. Das Sta‐ simon hebt sich in dieser Hinsicht ganz besonders aus dem Fluss der Handlung hervor: Es markiert zunächst durch den bewussten Perspektivwechsel an seinem Beginn das Ende der zentralen Oidipus-Iokaste-Szene83 und dient dem direkten dramatischen Anschluss als Negativfolie, was die Aussagen des Chores schlagartig in anderem Licht erscheinen lässt.

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Die Fokussierung auf Apoll und seinen Kult setzt sich in Iokastes Monolog (v. 911 – 923) fort; gerade zehn Verse nach der namentlichen Nennung durch den Chor (v. 909) spricht auch Iokaste die Gottheit direkt an (v. 919). Vgl. B URTON (1980) S. 169: „Iocasta enters with garlands and offerings of incense and turns to this same Apollo with a prayer for release from trouble, thus appearing to contradict the last words of the song and her own rejection of his oracles“ . Schon dem Beginn dieser intimen Gesprächskonstellation war durch den Kommos in den Versen 649 – 696 besondere Aufmerksamkeit geschenkt worden. Der inhaltlichen und dramaturgischen Brisanz dieser Szenerie entspricht so die Rahmung durch augen‐ fällig komponierte und positionierte lyrische Passagen.

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Anstatt allerdings den bereits ersehnten Diener und Augenzeugen direkt im Anschluss an das zweite Stasimon oder den Wiederauftritt Iokastes auftreten zu lassen, verzögert Sophokles den Fortgang der Handlung erneut.84 Er komponiert ausgehend vom Auftritt des Boten aus Korinth eine Szene, die mit ihrer emoti‐ onalen Wendung die Fokussierung auf die Gestalt des Oidipus und seine Fami‐ liengeschichte erneut bündelt. Indem auch die an das Chorlied anschließende Szene wie das Stasimon selbst den am Ende der Unterredung zwischen Prot‐ agonist und Iokaste gegebenen dramatischen Impuls, d. h. die Erwartung des Augenzeugen, nicht aufnimmt, setzt es dessen retardierende Wirkung unmit‐ telbar fort. Damit allerdings nicht genug: Wenn kurz nach dem Ende des Liedes sowohl Iokaste als auch Oidipus die Nachricht vom Tod des Polybos als eine Unter‐ mauerung der Kritik an Mantik und Orakelglauben ansehen, kommt die im Sta‐ simon ausgeführte Position zunächst zum Tragen. Die dramatische Realität holt das Lied und seine Vision vom gottlosen Theben geradezu ein. Das Stasimon ist so gesehen auf dramatische Fernwirkung konzipiert: Hatte es im Lied selbst einige Zeit und Reflexion gebraucht, um die konkrete Verknüpfung mit der dra‐ matischen Situation auszusprechen und bewusst zu machen, so lässt sich auch das zunächst konterkarierte Ende des Liedes nach der erneuten Wendung kon‐ kret mit dem Folgenden verbinden. Die durch den Fortgang der Handlung neu zu betrachtende Kontrastierung von Stasimon und unmittelbarem Anschluss macht den emotionalen Wechsel der Botenszene deutlich; das Lied entfaltet sei‐ nerseits seine volle dramatische Wirkung erst in der folgenden Szene und ist mit seinen Aussagen wieder mitten in der dramatischen Realität präsent. Halten wir in aller Kürze fest: Sophokles komponiert mit dem zweiten Stasimon ein in mehrfacher Hinsicht herausgehobenes Lied, das den im vorangegangenen Epeisodion angestoßenen Perspektivwechsel durch Retardierung besonders ausleuchtet. In seiner trichterförmigen Struktur, die erst am Ende des Stasimons einen wirklich fassbaren Bezug zur dramatischen Gegenwart bietet, lässt es durch Anspielungsreichtum und bewusst allgemeingültige Formulierung dem Rezipienten Raum, die Assoziationen selbständig auszufüllen und das Erlebte im Rahmen der chorischen Reflexion zu verorten.

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Vgl. K AMERBEEK (1967) S. 182 zu Sophokles Technik, den Auftritt des Augenzeugen zu verzögern: „He [Sophokles] has preferred an incomparably subtler and more dramatic, gradual way of leading his tragedy to the acme of suspense by introducing first the unexpected Messenger from Corinth“.

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Drittes Stasimon (v. 1086 – 1109)

Der Fortgang der Handlung im anschließenden Epeisodion wurde schon ange‐ deutet: Nach Iokastes Gebet (v. 911 – 923) tritt ein Bote auf die Bühne, der ihr die Nachricht vom Tod des Polybos meldet. Die Nachricht wird zunächst dankbar und erleichtert aufgenommen, Iokaste sieht sich in ihrer orakelkritischen Hal‐ tung bestätigt (v. 945 – 949). Nachdem Oidipus zur Szene hinzugestoßen und ebenfalls über den Tod seines (angeblichen) Vaters informiert ist, gibt er Iokaste nachträglich recht, macht allerdings auf eine Bedingung aufmerksam: Zwar ist mit dem Tod des Vaters die Vorhersage, er werde an dessen Tod schuldig sein, hinfällig; der zweite Teil des göttlichen Spruchs, Oidipus werde Kinder mit seiner Mutter zeugen, setze ihn allerdings immer noch in Schrecken (v. 984 – 999). Der Überbringer der Todesnachricht glaubt, ihn von dieser Angst be‐ freien zu können und legt in einer ausgreifenden Stichomythie (v. 1007 – 1046) auf die Fragen des Stadtherrn den grundlegenden Aspekt der Familiengeschichte des Oidipus dar: Polybos sei nicht dessen Vater (v. 1016). Er, der Bote selbst, habe Oidipus als Kleinkind von einem Hirten bekommen; dass es sich dabei wirklich um den Protagonisten handelte, kann der Bote mit der Erwähnung der durch‐ bohrten Fußknöchel beweisen (v. 1034). Wer allerdings dieser Hirte war, könne er nicht sagen, das wüssten Einheimische wohl am besten (v. 1046). Oidipus fragt zunächst den Chor, ob er den betreffenden Hirten kenne. Der Chorführer ver‐ mutet, es sei just der, dessen Ankunft man seit einiger Zeit erwarte; allerdings könne sicherlich Iokaste eine treffende Antwort geben (v. 1051 ff.). Die Ange‐ sprochene reagiert indes abwehrend: Oidipus solle seine Nachforschungen nun beenden, wenn er sich um sein Leben kümmere; sie selbst sei schon krank genug (ἅλις νοσοῦσʼ ἐγώ v. 1061). Der Stadtherr kontert entschieden, es gehe hier um seine Abkunft, die er nun zu ergründen suche. Auch durch die Bitten seiner Frau lässt sich Oidipus nicht von seinem Aufklärungswillen abbringen und verfügt, man solle den Hirten zu ihm bringen, Iokaste dagegen sich selbst überlassen (v. 1069 f.). Mit einer unglücksvollen Andeutung in Richtung ihres Mannes (ἰοὺ ἰού, δύστηνε) verlässt sie daraufhin die Bühne. Den Chor setzt dieser emotionale Abtritt in Verwunderung; er fragt Oidipus, was es damit auf sich habe, und gibt seinen Bedenken Ausdruck, dass sich in Iokastes Zurückhaltung weiteres Unheil anbahne (v. 1073 ff.). Oidipus dagegen sieht keinen Anlass zur Beunruhigung gegeben: Er vermutet, Iokaste fürchte sich einzig davor, dass weitere Nachfor‐ schungen seine eigene, möglicherweise niedere, d. h. nicht standesgemäße Ab‐ kunft ans Tageslicht bringen könnten (v. 1079). An seiner Entschlossenheit, seine eigene Herkunft, selbst wenn sie gering sein sollte, offenzulegen, ändere dies allerdings nichts. Er selbst werde nie für gering geachtet werden (οὐκ ἀτιμασθήσομαι v. 1081). Τύχη nämlich sei seine Mutter, die ihm verwandten

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Monate hätten ihn mal klein, mal groß gemacht. Nie jedenfalls werde er sich als ein anderer erweisen als der, der er ist, und so Abstand davon nehmen, sein γένος, d. h. seine Abstammung zu erfahren. Mit Vers 1085 beginnt der Chor sein drittes Standlied; Oidipus und der Bote verbleiben dabei wohl auf der Bühne. Der Auftritt des Boten aus Korinth hat – ganz anders als die Akteure zunächst vermuteten – eine zentrale Wahrheit über Oidipus selbst zur Sprache gebracht: Polybos ist nicht sein Vater. Dieses Faktum verschiebt innerhalb der Szenerie das Gewicht von der eigentlichen Todesnachricht rapide zu einer schrittweisen Aufdeckung von Oidipusʼ Kindheitsgeschichte. Drei wesentliche charakter‐ lich-dramaturgische Entwicklungen sind dabei festzuhalten: Zum ersten wird die Ankunft des Dieners bzw. Hirten erneut und mit Nachdruck in Aussicht gestellt. War die Erwartung dieses Augenzeugen am Ende des vorigen Epeis‐ odions ein weder durch den Chor noch den Beginn der neuen Szene aufgenom‐ mener dramatischer Impuls, so hat sich dessen Brisanz geradezu potenziert. Die Vermutung des Chors, dieser könne auch innerhalb der Kindheitsgeschichte des Oidipus eine entscheidende Rolle gespielt haben (v. 1051 ff.), wird sich dabei bestätigen. In der Person des Hirten fallen so zwei motivische Hauptstränge ineinander: Wie sonst nur Oidipus selbst verkörpert er die entscheidenden Sta‐ tionen der Vorgeschichte. Der Perspektivwechsel weg von der Mördersuche hin zur Aufklärung der familiären Beziehungen, wie ihn das vorangegangene Epeis‐ odion bereits angedeutet hatte, wird so besonders an dieser Nebenfigur greifbar werden: In ihm fallen die beiden Handlungsstränge zusammen. Zum zweiten hat Iokaste im Lauf der Szene eine Veränderung erfahren: War sie zu Beginn des Epeisodions an den Altar Apolls getreten, um für sich und die Ihren zu beten, so glaubte sie nach der Todesnachricht des Polybos an die Über‐ legenheit ihrer orakelkritischen Haltung – nur um schließlich nach Einsicht in die eigentliche Wahrheit und damit ihre eigene Verstrickung mahnend und fle‐ hend zu versuchen, eine weitere Untersuchung zu verhindern. Ihr Abtritt ge‐ horcht dabei freilich zugleich einer dramatischen Notwendigkeit: Will So‐ phokles die endgültige Aufklärung der wahren Zusammenhänge durch die Gegenüberstellung des auf der Bühne verbliebenen korinthischen Boten mit dem neu hinzutretenden Diener unter Anwesenheit des Protagonisten insze‐ nieren, so muss er – da ihm nur drei Schauspieler zur Verfügung stehen – Iokaste abtreten lassen. Oidipus selbst ist sich schließlich über ein entscheidendes und für ihn ebenso überraschendes Moment seiner eigenen Geschichte bewusst geworden. Stück für Stück ist so im Lauf des Dramas seine eigene Lebensgeschichte zur Sprache gekommen, teils durch andere angedeutet, teils selbst referiert, teils erfragt. Mit der Gewissheit, nicht von Polybos abzustammen, ist dem Protagonisten eine

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wesentliche Konstante seines Selbstbildes verloren gegangen; er setzt erneut auf radikale Aufklärung, was ihn in bisher ungekanntem Ausmaß isoliert. Sinnfäl‐ liger Ausdruck dieser Isolation ist seine Auseinandersetzung mit Iokaste und ihr Abtritt: Mit ihr verlässt ihn die ihm am nächsten stehende Person. Nach Vers 1072 bündelt sich daraufhin die gesamte Aufmerksamkeit auf ihn: Er steht dem Chor gegenüber und antwortet auf dessen Befürchtungen mit einem entschlos‐ senen Monolog. Das folgende Chorlied setzt dabei sowohl die Konzentration auf Oidipus sowie die Gesprächssituation bewusst fort: Nicht nur, dass der Prot‐ agonist und seine Vergangenheit das Thema der Imagination bilden: Der Chor spricht Oidipus darüber hinaus direkt an (v. 1098). Angesichts der schier er‐ drückenden Last an Indizien, die für eine Verwicklung des Oidipus in den Mord an Laios sprechen und damit die Verwirklichung der delphischen Orakelsprüche andeuten, flüchtet sich der Chor dabei ganz in die Imagination. Wir kommen so zum dritten Stasimon,85 dem mit 24 Versen kürzesten Lied der Tragödie, bestehend aus nur einem Strophenpaar.86 Mit einer betont in der ersten Person Singular (ἐγώ) formulierten konditionalen Selbsteinschätzung87 steigt der Chor in seine Äußerungen ein: Für den Fall, dass der Chor ein Seher sei und hinsichtlich seines Erkenntnisvermögens kundig, werde es dem direkt angesprochenen Kithairon nicht entgehen, dass ihn, den Berg, bereits der mor‐ gige Vollmond als Landsmann, Amme und Mutter (πατριώταν καὶ τροφὸν καὶ

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Für J EBB (1914) S. 143 trägt das vorliegende Lied den Charakter eines Hyporchemas, das hier die Stelle eines regulären Stasimons vertritt. Was mit dieser Unterscheidung im Einzelnen gewonnen ist, bleibt fraglich, da weder der Gattungsbegriff „Hyporchema“ konkret zu fassen ist (vgl. die Ausführungen zum entsprechenden Chorlied in den Trachinierinnen v. 205 – 224, S. 279ff.), noch es die von J EBB a. a. O. gegebene Charakte‐ risierung „a melody of livelier movement, expressing joyous excitement“ verbietet, das Lied als Stasimon zu bezeichnen. Ich folge hier den anderen Kommentatoren und spreche weiterhin vom dritten Stasimon. Dass das Lied dabei seinem Inhalt gemäß als eine besonders hoffnungs- und freudvolle Aussicht auf die nahe Zukunft bzw. einem verklärenden Blick in die Vergangenheit musikalisch und tänzerisch entsprechend ge‐ staltet gewesen sein muss, liegt auf der Hand und bleibt von den Fragen um die No‐ menklatur und Gattungszuweisung der Ode unberührt. Der Text beider Strophen ist in vielfältiger Weise umstritten. Vgl. D AWE (1982) S. 206 zu seiner Textgestalt „The text given is by no means certain“. Schon J EBB (1914) S. 144 weist auf die ganz ähnliche Formel zu Beginn des ersten Sta‐ simons der Elektra hin. Anders als dort hat allerdings die mantische Selbstzuschreibung des Chors an unserer Stelle einen starken motivischen Rückhalt im thematischen Ho‐ rizont der lyrischen Passagen.

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ματέρʼ(α) v. 1092) des Oidipus preisen werde.88 Bei dieser Gelegenheit werde auch der Chor selbst den Kithairon mit seinen Tänzen feiern (χορεύεσθαι), da er dem Herrscher seine Zuneigung erwiesen habe (ἐπίηρα φέροντα). Ein Anruf Apolls schließt die Strophe: Dem Gott möge dies gefallen (ἀρέστʼ εἴη v. 1097). So kurz der Inhalt dieser zwölf Verse zusammenzufassen ist, so ausgreifend und bemerkenswert ist ihre Konstruktion, ihre Motivik und die aufgerufene Bilder‐ welt. Bereits der Beginn lässt aufhorchen: Die als konditionaler Vordersatz dem ganzen Lied vorangestellte Selbsteinschätzung des Chors als μάντις ruft die prominente Orakelthematik erneut auf, gibt ihr allerdings eine besonders pi‐ kante Wendung, die hinsichtlich ihrer dramaturgischen Implikationen weiter unten behandelt werden soll. Mit der direkten Apostrophierung des Kithairon verortet der Chor daraufhin die virulente Frage um die Abstammung des Oidipus auf einer imaginierten Landkarte. Die zu Ehren des Berges in Aussicht gestellte Kultfeier eröffnet dabei ein farbreiches Panorama: Die thebanischen Greise sehen voller Zuversicht auf die kommenden Geschehnisse und verbinden durch die Wiederaufnahme des Kithairon als der entscheidenden Örtlichkeit aus dem Bericht des Boten (v. 1026) die Reminiszenz an die Vergangenheit des Oidipus mit einer Aussicht auf die naheliegende Zukunft. Innerhalb dieser Szenerie des ‚Morgen‘ positionieren sie sich selbst in der ihnen als Chor eigenen Tätigkeit des rituellen Tanzens. Hatte sich die erste Strophe in dieser Hinsicht mit ihrer Wendung in die Zu‐ kunft ein wenig von der dramatischen Realität entfernt, spricht die Gegen‐ strophe die zu Grunde liegende Frage direkt aus: „Wer hat dich, Kind, wer hat dich geboren?“ (v. 1098). Der sich auf das interrogative τίς beziehende genetivus partitivus τᾶν μακραιώνων (v. 1099) bestimmt daraufhin den Kreis der in Frage kommenden „Mütter“ des Oidipus näher: Der Chor vermutet sie unter den Be‐ gleiterinnen des Pan, d. h. den Nymphen, oder, so die direkte Frage im Anschluss, unter den Lagergenossinnen89 Apolls; dem nämlich gefielen alle ländlichen Ge‐ genden (πλάκες ἀγρόνομοι), demnach implicite auch das Kithairongebirge. Auch der Herrscher von Kyllana, d. h. Hermes, oder der bakchische Gott, Dio‐ nysos, kommen als „Vater“ in Frage; auch letzterer hätte, da er ja auf den Berg‐ spitzen wohnt, den jungen Oidipus als unverhofften Fund (εὕρημα) von einer der Nymphen aufnehmen können, mit denen er die meiste Zeit spielend ver‐ 88

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Ich schließe mich hier der Textgestalt von L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) an und habe mit K AMERBEEK (1967) S. 209 entgegen den Vorbehalten anderer keine Schwierigkeiten, in τὰν αὔριον πανσέληνον das Subjekt des von ἀπείρων abhängigen AcI zu sehen. Vgl. dazu L LOYD -J ONES /W ILSON S OPHOCLEA (1990) S. 104 ad locum. Ich lese hier mit L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) der Konjektur von Arndt folgend εὐνάτειρα gegen das überlieferte θυγάτηρ.

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bringt (συμπαίζει). Mit der Erwähnung dieses geradezu heiteren Details90 schließt das Chorlied. Dieses Ende des Stasimons kommt überraschend; der in Vers 1110 wieder in den Vordergrund getretene Oidipus unterbricht die Greise in direkter Anrede mit seiner Vermutung, den lang erwarteten Hirten kommen zu sehen. Dem Chor wird so keine Möglichkeit gegeben, seine Reflexionen zu einem wirklichen Ab‐ schluss zu bringen, er bleibt geradezu im poetischen Bild stecken und wird ab‐ rupt vom Fortgang der dramatischen Realität eingeholt. Eine Rundung des Liedes durch einen Rekurs auf die Ausgangsfrage bleibt aus. Folgendes soll festgehalten werden. Unmittelbarer Anknüpfungspunkt für die Bilderwelt der Gegenstrophe ist die geographische Verortung der im vergan‐ genen Epeisodion erzählten Kindheitsgeschichte des Oidipus sowie das Motiv des Aufnehmens des Säuglings durch verschiedene Personen. Der bereits an‐ geführte Vers 1026 bietet sowohl mit der Nennung des Kithairon als auch der Wortwahl (εὑρών) die begrifflich-motivische Fundgrube der konkreten Ausge‐ staltung des Stasimons (vgl. v. a. den Begriff εὕρημα v. 1106 f.). Die für die Akteure drängende Frage nach der Herkunft des Oidipus bildet dabei die Mitte des gesamten Liedes; gegen die auf ein Höchstmaß gesteigerte innerdramatische Spannung setzt das Stasimon eine ausgreifende Imagination sowie die kontrastierende Bilderwelt einer heiteren Götterszene. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit der im Epeisodion aufgeworfenen Sachlage, der evo‐ zierten Spannung findet dabei allerdings nicht statt: Der Chor verweigert sich geradezu einer wirklichen Diskussion der im Gespräch der Akteure verhan‐ delten Fakten oder auch nur der Reflexion über das Gesehene. Er erlaubt sich stattdessen in einer zutiefst brisanten und für die beteiligten Akteure span‐ nungsvollen Situation einen überschwänglich optimistischen91 Blick in die Zu‐ kunft bzw. die Vergangenheit des Protagonisten, wobei er diesen kultisch ge‐ färbten Ausblick mit einer geographischen Reminiszenz an die Vergangenheit des Oidipus verbindet. Die Spekulation über mögliche göttliche Eltern des Haupthelden hat dabei hinsichtlich der Bühnensituation keine wirkliche Relevanz: Sie stellt keinen ernstzunehmenden reflektierenden Beitrag dar, der für die am Geschehen Be‐ teiligten von Bedeutung oder innerer Logik wäre. Motivisch führt das Lied zwar 90 91

D AWE (1982) S. 208 spricht von „a sprightly note“, verbunden mit dem Hinweis auf die unmittelbar bevorstehende und das Ende des Liedes konterkarierende Katastrophe („disaster is to follow“). So spricht D AWE (1982) S. 205 ganz zu Recht von „the chorusʼ baseless optimism“ und führt aus: „That their optimism is baseless no one will doubt who has studied the play up to this point“.

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Oidipusʼ Selbsteinschätzung als Kind der Τύχη, mithin einer göttlichen Macht fort (v. 1080 ff.) und konkretisiert sie auf Basis einzelner im vorangehenden Ge‐ spräch zu Tage geförderter Fakten; inhaltlich leistet der Chor mit seiner eska‐ pistischen Phantasie allerdings keinen Beitrag, der die Situation einer zufrie‐ denstellenden Lösung entgegenführen würde. Zu fragen, inwiefern die thebanischen Greise selbst ihren Aussagen Gewicht zumessen, konkret: ob die göttliche Abstammung wirklich eine aus Sicht der Sprecher zu erwägende Op‐ tion darstellt, ist müßig und führt zu keinem fassbaren Ergebnis. Die Imagina‐ tion dabei aus dem Charakter des Chors erklären zu wollen, stößt auf besondere Schwierigkeiten: Allein der Unterschied des hier an den Tag gelegten Opti‐ mismus zur düsteren Version des gottlosen Thebens ist bemerkenswert. K AMER‐ BEEK fasst prägnant zusammen: „[…] that the Chorusʼ attitude towards Oedipus seems to contrast in a baffling way with that shown in the preceding stasimon and further that the Chorusʼ fears regarding Iocasta are easily and swiftly for‐ gotten.“92 Die vom Kommentator angeführten zwei Erklärungsansätze (Oidipusʼ Entschlossenheit und Zuversicht würden nicht nur keinen Anlass zu weiterer Besorgnis bieten, sondern schlössen aus Sicht des Chors auch alle anderen Be‐ denken aus) können, wie er selbst zugibt, nur zum Teil überzeugen; ihm ist völlig zuzustimmen, wenn er abschließend festhält: „But such excuses should not blind us to to [sic!] the fact of the Chorusʼ plasticity as a persona tragica, which shows again and again in this and almost every other tragedy.“93 Anders gesagt: Die Themenwahl des Stasimons, seine Gestaltung im Einzelnen sowie seine Ein‐ schaltung genau an diesem Punkt der Tragödie haben letztlich genuin drama‐ turgische Gründe und zielen weniger darauf, das Charakterbild des Chors zu vervollständigen oder eine aus der Sicht der thebanischen Greise wirklich plau‐ sible Lösung der Situation zu bieten, als vielmehr das Drama zu strukturieren, eine entscheidende Funktion im Ablauf der Tragödie zu erfüllen und so eine bestimmte Wirkung auf das Publikum auszuüben. Die generelle Funktion des Liedes ist dabei offenkundig: Vor der mit dem kommenden Auftritt des Hirten bzw. Dieners hereinbrechenden Katastrophe bietet es eine optimistisch hoffnungsvolle Folie, vor der sich das Unheil nur noch deutlicher abzeichnet. Diese Konstruktion gehört zum Repertoire des tragischen Dichters und wird gerade bei Sophokles an entscheidenden Stellen ange‐ wendet.94 Beachtenswert ist dabei, wie Sophokles an unserer Stelle dieser Wir‐ kung besondere Drastik verleiht, sie geradezu überzeichnet. 92 93 94

K AMERBEEK (1967) S. 208. A. a. O. So im Aias mit dem zweiten Standlied oder der Antigone durch den Hymnos an Dionysos (letztes Stasimon) vor dem Bekanntwerden des Todes von Antigone und Haimon.

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Wesentliches Strukturmoment des Stasimons ist die Vor- bzw. Rückblende in andere Zeitstufen sowie deren bildhafte Ausgestaltung. Auf die dramatische Realität, das spannungsvolle Jetzt der Handlung kommt der Chor dabei erst gar nicht zu sprechen. Einzig in der Frage „Wer hat dich, Kind, wer hat dich ge‐ boren?“ (v. 1098) ist die eigentliche Brisanz der Bühnensituation gespiegelt. An‐ statt allerdings diese Ausgangslage zu beleuchten, gruppieren sich um die Mitte des Stasimons mit der zitierten Frage zwei Digressionen: So bietet die Strophe einen Ausblick in die Zukunft („morgen“), während sich die Gegenstrophe der Ausgestaltung der imaginierten Vorgeschichte widmet und nur am Schluss die Angewohnheit des Dionysos geradezu zeitlos im Indikativ Präsens verbalisiert (συμπαίζει v. 1109). Diese weitgehende Ausblendung der aktuellen Situation entfaltet ihre volle Kontrastwirkung dabei sowohl mit Blick auf die in den vo‐ rangegangenen Chorpassagen prominente Gegenwartszentrierung und Selbst‐ verortung des Chors im dramatischen Hier und Jetzt, als auch hinsichtlich der betonten Wendung auf die Gegenwart im folgenden vierten Stasimon (v. a. v. 1204) sowie dem Kommos, der nach dem Hereinbrechen der Katastrophe den Eindruck des visuellen Schreckens verarbeiten wird. Dieser Ausblendung der konkreten Situation entspricht auch die motivische Arbeit des Stasimons, die das Lied im Sinne einer bewussten Kontrastierung dem Erwartbaren oder Bekannten entgegenstellt. Einige herausragende Mo‐ mente sollen im Folgenden Erwähnung finden. Die prominente Stellung des μάντις-Motivs am Beginn des Liedes wurde oben bereits erwähnt. Sie muss vor dem Hintergrund der bisherigen Aussagen des Chors überraschen. Wie schon im zweiten Strophenpaar des ersten Stasimons verkennt der Chor auch hier die Situation grundlegend: Hatten die Greise dort in direkter Verarbeitung der Teiresiasszene die generelle Hochschätzung des μάντις abgelehnt und im Vertrauen auf die eigene Urteilsfähigkeit nach eindeu‐ tigen Anhaltspunkten für die gegen Oidipus erhobenen Vorwürfe gesucht (v. 498 ff.), so wagen sie an unserer Stelle in der Rolle eines μάντις einen hoff‐ nungsvollen Blick in die Zukunft, der die augenblickliche Bühnensituation kon‐ terkariert. Das erneute Irren des Chors ist dabei besonders eindrücklich ge‐ zeichnet: Statt sich wie im ersten Standlied zu den im Epeisodion erhobenen Vorwürfen zu positionieren und so die Problematisierung der Person des Haupt‐ helden zumindest zu reflektieren, blendet das vorliegende Lied die Brisanz der Situation völlig aus und präsentiert eine ausgreifende Imagination statt einer Diskussion. Das μάντις-Motiv ist dabei gerade auf die Spitze getrieben: Die – wenn auch vorsichtige, im konditionalen Vordersatz der Imagination als Bedin‐

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gung vorangestellte95 – Selbsteinschätzung der thebanischen Greise stilisiert die Zukunftsaussicht als geradezu göttlich inspirierte Ahnung; dass sie dabei völlig unzutreffend ist, erhellt nicht nur aus dem unmittelbaren Zusammenhang sowie der Kenntnis des Mythos, sondern vor allem der Phantastik der vom Chor ent‐ worfenen Alternative. Vor dem Hintergrund der Kritik an Teiresias (erstes Sta‐ simon) sowie der harschen Ablehnung der Orakelkritik im zweiten Standlied zeichnet sich so die Fehleinschätzung des Chors an unserer Stelle durch die Selbstzuschreibung umso deutlicher ab. Den Göttern kommt innerhalb des Liedes eine besondere Rolle zu. Der Anruf von Gottheiten als Helfern angesichts außergewöhnlicher Notlagen (Parodos) oder dem Verfall von Frömmigkeit und Religion (zweites Stasimon) war bisher als Moment chorischer Präsenz von zentraler Bedeutung gewesen. Im Panorama des Chors kam dabei Apoll als Gott des delphischen Orakels eine besondere Stellung zu (vgl. im Besonderen v. 203 ff. sowie v. 909 ff.). Der Anruf des Gottes an unserer Stelle in der Mitte des Liedes (v. 1096) steht dabei in einem komplexen Verhältnis zu den vorherigen Invokationen sowie zur Motivik und Stimmung des Stasimons selbst. So ist mit der Apostrophierung des Gottes als ἰήιος einer‐ seits eine begriffliche Reminiszenz an die Parodos gegeben, in der das Adjektiv bereits zweimal verwendet wurde: Zunächst – wie an unserer Stelle – im Anruf Apolls (v. 154), sodann zur Charakterisierung der Nöte, die das von der Pest heimgesuchte Theben getroffen hatten (v. 173). Dass Apoll hier nun erneut mit dem auf einem Klageruf basierenden Adjektiv bezeichnet wird, evoziert sehr subtil den Kontext der Parodos, d. h. die jammervolle und unerträgliche Situation angesichts der grassierenden Pest. Was dem Gott hier allerdings gefallen soll (ἀρέστʼ εἴη), ist die imaginierte Jubelfeier zu Ehren des Kithairon, der – so die Aussicht – Oidipus einen besonderen Dienst erwiesen haben wird. Das Miss‐ verhältnis von Apostrophe und Kontext ist augenscheinlich: Das Adjektiv ἰήιος sowie der dadurch evozierte motivische Bezugsrahmen unterlaufen die Imagi‐ nation des Chors und fügen der hoffnungsvoll überschwänglichen Stimmung eine düstere Note hinzu.96 Damit nicht genug: Die geradezu pittoreske Imagination, mit der das Chorlied schließt, hebt sich von der bisherigen Thematisierung göttlicher Mächte in be‐ sonders eindrücklicher Form ab. Fanden bislang besonders die kriegerischen

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Ohne den Text über Gebühr pressen zu wollen, bleibt festzuhalten, dass der Konditio‐ nalsatz durch die Verwendung von εἴπερ (statt einfachem εἰ) mit besonderem Nach‐ druck ausgezeichnet wird. Vgl. KG § 508, 5, II p. 170, sowie LSJ s.v. εἴπερ II: „in Att. and Trag. to imply that the supposition agrees with the fact, if as is the fact, since“. K AMERBEEK (1967) S. 210 attestiert zu Recht: „The prayer to Apollo crowns the tragic irony“.

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III. Greisenchöre

Qualitäten (v. 203 ff.) der Götter sowie im ersten Stasimon ihr Wissensvorsprung (v. 498 ff.) gegenüber den Menschen Erwähnung, so figurieren sie an unserer Stelle in einem pastoralen Schlaglicht, das sie nicht als überlegene, mächtige Helfer erscheinen lässt, sondern ihrem Tun eine direkt heitere Seite abgewinnt. Dass Apoll dabei als möglicher (Zieh-)Vater des Haupthelden fungiert und die Begründung dafür in seiner Vorliebe für ländliche Gegenden besteht, ist eine Verfremdung des Bildes, das der Chor gerade in der Parodos vom Schützen un‐ bezwingbarer Pfeile (v. 206 ff.) gezeichnet hatte. Dass es ferner gerade Apoll ist, dem Oidipus am Schluss der Tragödie die Vollendung seiner Leiden zuschreiben wird (v. 1329 f.), steigert die dramatische Ironie der hier vorliegenden Zeichnung des Gottes in besonders drastischem Ausmaß. Ganz ähnlich verhält es sich mit Dionysos, der wie in der zweiten Gegen‐ strophe der Parodos auch hier die letzte Stelle des Götterpanoramas einnimmt: Der Chor hatte ihn im Auftrittslied als Verteidiger der Stadt Theben gegen Ares angerufen und dabei auf seine Begleitung durch die Mänaden hingewiesen, deren ekstatischem Tun ja durchaus destruktive Kräfte innewohnen (v. 209). An der vorliegenden Stelle des dritten Stasimons figuriert er dagegen als geradezu harmloser göttlicher Bewohner der Bergspitzen, der mit den dort ansässigen Nymphen seine Spiele treibt (v. 1105 ff.). Dass dabei ein erotischer Kontext im‐ pliziert ist, steht schließlich in noch schärferem Gegensatz zur Parodos und der dort entworfenen Zeichnung des Gottes. Zusammengefasst soll festgehalten werden: Die motivische Arbeit des Stasi‐ mons dient im Wesentlichen der Kontrastierung des Liedes gegenüber der un‐ mittelbaren dramatischen Situation auf der einen sowie den anderen chorischen Passagen auf der anderen Seite. Anders gesagt: Das Lied fällt in mehrfacher Hinsicht aus dem Rahmen, indem es zum einen die dramatische Gegenwart zu Gunsten der Imagination von naher Zukunft und ferner Vergangenheit aus‐ blendet, der Brisanz der Handlungssituation eine phantastisch-eskapistische Szenerie entgegensetzt und dabei bekannte Motive und Themen in spezifischer Weise verfremdet. Die Motivik und Komposition des Liedes dienen so ganz seiner dramaturgischen Funktion als einer möglichst grellen Kontrastfolie hin‐ sichtlich der bevorstehenden Aufdeckung der katastrophalen Zusammenhänge. Betrachten wir die Einbettung des Stasimons in den Ablauf der Tragödie, so scheint es den Fortgang der Handlung für einen nicht allzu langen Augenblick zu unterbrechen und dabei keine Reaktion hervorzurufen, was sich bereits aus der Gesprächssituation ersehen lässt: Der auf den Redeanteil des Protagonisten konzentrierte Wortwechsel zwischen dem Chor und Oidipus war dem Stasimon direkt vorausgegangen und setzt sich nach dem Lied direkt fort. Oidipus geht dabei mit keinem Wort auf die Reflexion des Chors ein, sondern lenkt den Blick

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sofort auf den Diener, der sich bereits der Szenerie nähert. Die Imagination des Chors bleibt so völlig unbeantwortet, der bildgewaltige Ausbruch an Zuversicht und Optimismus verhallt ungehört. Gerade im Vergleich zum vorangegangenen Stasimon entfaltet diese Konstruktion ihre volle Wirkung: Zwar hatte es im Anschluss an das zweite Standlied keine inhaltliche Auseinandersetzung mit den vom Chor ausgeführten Gedanken durch die Akteure gegeben – zumal keiner der Akteure während des Liedes auf der Bühne präsent war – , Iokastes Auftritt allerdings kontrastierte in besonderer Weise mit der Vision des gott‐ losen Theben. Eine Beantwortung fand die Thematik des Liedes so nicht im Bühnendiskurs, wohl aber in der Handlung selbst, zu der das Lied, wie ausge‐ führt, in einem gebrochenen Verhältnis stand. An unserer Stelle nun erfolgt keine direkte Auseinandersetzung mit dem durch den Chor Entfalteten, obwohl Oidipus aller Wahrscheinlichkeit noch während des Liedes anwesend war. Dass der Fortgang der Handlung die Reflexion des Chors als utopisch erweist, steht dabei außer Frage; einen, wenn auch kontrastiven motivischen Rückbezug auf das Chorlied gibt es hier allerdings nicht. Kurz gesagt: Der Fortgang der Hand‐ lung scheint durch die Einschaltung des Liedes an einem besonders brisanten Punkt geradezu eingefroren zu sein. Das Drama gewinnt in dieser Phase dennoch sichtlich an Geschwindigkeit, was sich in der Kürze des Stasimons, seinem abrupten Ende und der geringen Ausdehnung des folgenden Epeisodions widerspiegelt (die Dienerszene und damit die endgültige Aufdeckung des Sachverhalts erstreckt sich gerade einmal über knapp achtzig Verse). Das Stasimon hebt sich so, wie die Interpretation zeigen konnte, in verschie‐ dener Weise aus seinem unmittelbaren handlungstechnischen und motivischen Kontext ab. Es ist allerdings vom dramaturgischen Gesichtspunkt aus passgenau in den Ablauf eingesetzt: Für seine reiche Bildersprache und die damit ausge‐ drückte optimistische Stimmung erkämpft es sich geradezu den Platz zwischen Iokastes angstvollem Abtritt und der endgültigen Aufdeckung des Sachverhalts. Es kommt so an der letztmöglichen Stelle für einen positiven Blick auf die Gestalt des Oidipus zu stehen und kontrastiert wirkungsvoll mit den drohenden Äuße‐ rungen Iokastes. Der mit den dramatischen Techniken unseres Autors vertraute Zuschauer und Leser weiß, dass nun das lang hinausgezögerte Ende der Nach‐ forschungen hereinbrechen wird. In dieser Hinsicht setzt sich das Lied geschickt vom Vorangegangenen wie vom bereits Erahnten ab und entfaltet seine final retardierende Wirkung so besonders eindrücklich – durchaus, wie gezeigt wurde, auf Kosten der Plausibilität der chorischen Imagination.

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Viertes Stasimon (v. 1186 – 1222)

Der weitere Verlauf der dramatischen Handlung entspricht weitestgehend den Erwartungen von Zuschauern und Lesern: Der Auftritt des Dieners bringt die endgültige Auflösung der schwelenden Frage um Oidipusʼ Herkunft und Iden‐ tität. Auf eine inhaltliche Zusammenfassung kann in unserem Interesse hier verzichtet werden; von Belang sind eher formale Gesichtspunkte. Trotz der Kürze des Epeisodions (76 Verse) zögert der Dichter auch hier den entschei‐ denden Punkt des Gesprächs hinaus. Nachdem zunächst Oidipus, der Chor und der korinthische Bote Vermutungen über die Identität des ankommenden Die‐ ners ausgetauscht haben (v. 1110 – 1122) und sich diese nach dessen Auftritt in Vers 1123 eindeutig geklärt hat, entwickelt sich der maßgebliche Wortwechsel zwischen dem Protagonisten und dem neu Hinzugetretenen ab Vers 1149 sti‐ chomythisch und unter einiger Bühnenaktion bis zur vollständigen Klarstellung der Sachlage. In Vers 1181 ist der Zusammenhang schließlich aufgedeckt: Der hinzugetretene ehemalige Diener des Laios hat vor Zeiten Oidipus, den Sohn seines Herrn, von Iokaste anvertraut bekommen, ihn aber entgegen der Anord‐ nung nicht getötet, sondern ihn aus Mitleid im Kithairongebirge einem anderen Hirten übergeben: dem ebenfalls nun anwesenden korinthischen Dienstboten. Oidipus reagiert in Vers 1182 ff. mit einer emotionalen, aber dennoch prägnanten Zusammenfassung seines Schicksals:97 Es habe sich gezeigt, dass er von Men‐ schen abstamme (φύς), von denen er nicht abstammen dürfe, mit denen zu‐ sammen sei (ὁμιλῶν), mit denen er nicht zusammen sein dürfe, und die getötet habe (κτανών), die er nicht hätte töten dürfen. Mit diesen Worten verlässt er das Geschehen, die Bühne leert sich und der Chor beginnt sein viertes Stasimon. Keine achtzig Verse nach dem hoffnungsvoll in die Zukunft und verklärend in die Vergangenheit blickenden Lied ist so die Katastrophe endgültig aufge‐ deckt worden; die wahre Identität des Oidipus ist nun auch für den Chor fassbar und gibt Anlass zur ausgreifenden Betrachtung. Das Bühnengeschehen ist damit zu seinem natürlichen Ruhepunkt gelangt. Hatte das dritte Stasimon den be‐ sonders brisanten und nach einer Lösung strebenden Handlungsverlauf noch angehalten und als retardierendes Moment die endgültige Aufdeckung der Zu‐ 97

Beachtenswert ist die formale Symmetrie und ausgeklügelte Komposition dieses ent‐ scheidenden Gesprächs: Eingeleitet durch einen Doppelvers des Oidipus (v. 1147 f.) entfaltet sich die strenge Stichomythie (v. 1149 – 1170) – eine Reminiszenz an die vor‐ herigen Befragungsszenen (Kreon-Oidipus im Prolog, Oidipus-Teiresias, v. a. Oi‐ dipus-Bote) – die wiederum durch einem Doppelvers (v. 1171 f.), diesmal durch den Diener, beschlossen wird. In der Intensität weiter gesteigert wechseln die Sprecher je einmal in vier Versen, wobei Oidipus schrittweise weniger Text zukommt (v. 1173 – 1176). Nach einer weiteren Frage des Stadtherrn (v. 1177) schließen je vier Verse der beiden Gesprächspartner die Szene (v. 1178 – 1181 sowie v. 1182 – 1185).

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sammenhänge hinausgezögert, so kommt dem vorliegenden letzten Standlied eine dramaturgisch ganz anders zu bewertende Position zu: In einer nun der dramatischen Realität entsprechenden Gesamtschau rekapituliert es Oidipusʼ Werdegang, soweit er für den Chor fassbar ist, und thematisiert in einem allge‐ meineren Rahmen die bedeutungsvolle Wende (ἀλλαγᾷ v. 1206), die das Leben des Haupthelden erfahren hat. Mit seinen knapp vierzig Versen, aufgeteilt in zwei Strophenpaare, setzt es sich dabei auch mit Blick auf seine Länge deutlich vom dritten Stasimon und dem kurzen Epeisodion ab. Anders gesagt: Während sich das dritte Standlied seinen Platz im Ablauf der Handlung geradezu er‐ kämpfen musste und den Fortgang der Geschehnisse nur für einen kurzen Mo‐ ment anhielt, füllt das vorliegende Lied die durch den Handlungsverlauf selbst eingetretene und durch den Abtritt des Protagonisten effektvoll ausgeleuchtete Pause. Mit der Apostrophierung der „Generationen der Sterblichen“ (γενεαὶ βροτῶν v. 1186) beginnt das Lied mit einer allgemeinen Klage: Ihr (der Menschen) Leben zähle in seinen Augen so gut wie nichts (ἴσα καὶ τὸ μηδέν).98 Die Begründung (γάρ) dieser Ansicht erfolgt daraufhin in Form einer direkten Frage, die durch die Wiederholung des τίς in Vers 1189 besonders herausgehoben ist: Welcher Mensch nämlich könne mehr vom Glück (πλέον τᾶς εὐδαιμονίας) gewinnen als gerade so viel, sich für glücklich zu halten (δοκεῖν) und sich daraufhin zu neigen, d. h. das vermeintliche Glück zu verlieren (ἀποκλῖναι)?99 In einem wirkungs‐ vollen dreimaligen Anlauf kommt der Chor mit Vers 1193 auf den unmittelbaren Anlass seiner Verzagtheit und damit auf Oidipus zu sprechen, den er persönlich anredet: Mit dessen Schicksal (δαίμονα), gerade dem Schicksal des bedauerns‐ werten Oidipus (τὸν σόν, ὦ τλᾶμον), als einem Beispiel der entfalteten allge‐ meinen Einsicht preise der Chor nichts aus dem Bereich der Sterblichen (βροτῶν οὐδέν100 v. 1195 f.) glücklich. Der thematische Rahmen der folgenden Reflexion ist damit abgesteckt. Ma‐ chen wir uns an diesem Punkt die Struktur der Strophe kurz bewusst: Beginnend

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Die Konstruktion der in Rede stehenden Verse ist im Einzelnen umstritten: Während J EBB (1914) S. 155 τὸ μηδέν als adverbiellen Zusatz zu ζώσας verstanden wissen will („as living a life which is no life“), fasst K AMERBEEK (1967) S. 222 ζώσας als adverbiales Partizip auf und übersetzt: „how I count you as nothing […] while you live“. Eine Ent‐ scheidung für die eine oder andere Variante fällt schwer; einen wirklich wesentlichen Bedeutungsunterschied kann man allerdings kaum feststellen. Formal liegt wohl ein durch ὅσον eingeleiteter Konsekutivsatz vor; vgl. KG II § 585, 5, II S. 509. Die Konjektur οὐδέν für das einhellig überlieferte οὐδένα hat vornehmlich metrische Gründe (vgl. K AMERBEEK (1967) S. 223 f.).

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mit einer umfassenden Generalaussage zur Nichtigkeit des menschlichen Le‐ bens im Allgemeinen konkretisiert der Chor seinen Blick zunächst auf das Ver‐ hältnis des Einzelnen zum Glück und fokussiert daraufhin auf das vorliegende Schicksal des Haupthelden. Das Verhältnis des Chors zum erreichten Stand der Bühnenhandlung ist in diesem Sinn bereits von gewisser reflektierender Distanz geprägt: Anstatt in einem Ausbruch an Emotionalität unmittelbar auf das Erlebte zu reagieren, eröffnet das Lied zunächst einen weiteren Rahmen, in den es die Erfahrung von Oidipusʼ Schicksal einordnet. Die Strophe zeichnet sich beson‐ ders durch ihre strukturelle Geschlossenheit aus: In ihrer Allgemeingültigkeit entsprechen sich Anfang und Ende, was sich in der formalen Äquivalenz der beiden Prädikate in der ersten Person Singular ἐναριθμῶ (v. 1187) und μακαρίζω (v. 1196) widerspiegelt. Nichtsdestoweniger bildet das Crescendo des dreima‐ ligen τὸν σόν den Auftakt zur fokussierten Betrachtung des Haupthelden und leitet damit zum Mittelteil des Liedes über, der, grob gesagt, Oidipusʼ Werdegang nachzuzeichnen versucht. Die Gegenstrophe beleuchtet in Form eines Relativsatzes101 die positive Vergan‐ genheit des Protagonisten und seinen Einfluss auf die Stadt. Oidipus fungiert dabei weiterhin als direkt angesprochener Adressat der chorischen Äuße‐ rungen:102 Er sei mit einem gezielten Bogenschuss103 Herr eines in jeder Hin‐ sicht104 „glücklichen Heils“ (πάντʼ εὐδαίμονος ὄλβου v. 1198 f.) geworden, als er die Sphinx, das „krummkrallige, Rätsel singende Mädchen“ (γαμψώνυχα παρθένον χρησμῳδόν), zu Grunde richtete und für das Heimatland der Cho‐ reuten zum „Bollwerk gegen den Tod“ seiner Bürger (θανάτων πύργος) wurde. 101

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Der Gebrauch des verallgemeinernden Relativpronomens ὅστις mag an dieser Stelle zunächst verwundern, da damit ja ein konkretes Subjekt bezeichnet werden soll. Viel‐ leicht mag v. 1184 nachwirken, in dem Oidipus selbst einen Relativsatz mit der Ein‐ schätzung seiner eigenen Lage durch ὅστις eingeleitet hat. Ich lese so mit der Mehrzahl der codd. sowie L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) in v. 1198 ἐκράτησας (2. Sg.) gegen die ebenfalls überlieferte dritte Person Sg. ἐκράτησε, dem u. a. J EBB (1914) folgt. Die Junktur καθ' ὑπερβολὰν τοξεύσας ist bewusst mehrdeutig, vgl. K AMERBEEK (1967) ad locum S. 224. Ich schließe mich der von ihm und J EBB favorisierten Deutung an und beziehe das „Zielen“ bzw. „Schießen“ konkret auf die Lösung des Rätselspruchs durch Oidipus („his lucky shot“ a. a. O.). Das einhellig überlieferte und noch von J EBB (1914) und P EARSON (1924) in den Text gesetzte τοῦ durch das von Reisig konjizierte οὐ zu ersetzen, leuchtet mir nicht ein. Natürlich stellt sich der Zustand des Erfolgs, wie ihn Oidipus nach seiner Machtüber‐ nahme in Theben genießt, letztlich als verheerend heraus; aus der Perspektive des Chors, der in der vorliegenden Gegenstrophe zunächst den macht- und glückvollen Zustand des Haupthelden zeichnet, um diesen schließlich mit der momentanen Lage zu kontrastieren, ist τοῦ ganz und gar schlüssig.

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Seitdem, so die Greise, werde Oidipus ihr König genannt (besonders betont durch das Possessivadjektiv ἐμός, das von seinem Bezugswort βασιλεύς durch das Prädikat getrennt wird) und sei zudem als Herrscher im großen Theben mit höchsten Ehren bedacht worden (τὰ μέγιστʼ ἐτιμάθης). Machen wir uns bewusst: In Fortführung der direkten Anrede des allerdings nicht mehr auf der Bühne präsenten Oidipus105 hat die Gegenstrophe das für Theben segensreiche Wirken des Haupthelden ausgeführt. In besonderer Weise hebt der Chor in dieser Darstellung seine eigene Rolle, seine Verbundenheit mit dem Land und dem Stadtherrn heraus: Das zweimal prominent gesetzte Pos‐ sessivum der ersten Person (ἐμᾷ χώρᾳ und βασιλεὺς ἐμός) unterlegt den Rück‐ blick auf die Sphinxepisode und die Einschätzung des Oidipus mit einer latenten Selbstverortung des Chors. Es wird deutlich: Wie schon in der Parodos und dem ersten Stasimon identifizieren sich die Greise mit ihrer Stadt und ihrem Herrn, stehen dem Geschehen nicht als Unbeteiligte gegenüber, sondern wollen sich als in die Handlung Eingebundene verstanden wissen. Im Sinne der Dramati‐ sierung des Liedes schafft freilich die bekundete innere Teilnahme der Sprecher eine Steigerung der Emotionalisierung: Das hereingebrochene Unheil trifft nicht nur Oidipus, sondern die ganze Stadt und damit ebenso den Chor als deren Sprachrohr. Mit der ersten Gegenstrophe ist die Kontrastfolie gegeben, vor der sich die Schilderung des Unheils deutlich abzeichnen kann. Anders gesagt: Im Sinne der in der ersten Strophe entworfenen Rahmenthematik vom Wechsel des menschlichen Glücks ist das erste Moment – der Zustand des Glücks – bild‐ mächtig entfaltet worden. Mit τανῦν δʼ lenkt die zweite Strophe den Blick auf die leidvolle Gegenwart: Der Chor konstatiert die Intensität und Singularität des über Oidipus hereingebro‐ chenen Verderbens, indem er rhetorisch nach „Leidensgenossen“ fragt:106 Wessen Schicksal ist erbärmlicher zu hören, wer ist – wie Oidipus – „Hausge‐ nosse“ so heftigen Unheils (ἄταις ἀγρίαις), solchen Leidens (πόνοις), das in der „Veränderung seines Lebens“ (ἀλλαγᾷ βίου) seine Ursache hat?107 Wie schon in der ersten Strophe folgt auf die Frage keine Antwort, sondern ein erneuter Anruf des Haupthelden (v. 1207), der durch die Hinzusetzung der 105 106 107

Den in Vers 1297 eingefügten Vokativ ὦ Ζεῦ verstehe ich als „inserted exclamation“ (K AMERBEEK (1967) S. 224) und sehe in ihm keinen Widerspruch zur in der Gegenstrophe fortgesetzten Adressierung des Protagonisten. Der Text ist im Einzelnen umstritten, besonders v. 1205 ist verderbt (L LOYD -J ONES / W ILSON (1990) setzen ihn in cruces). Zur konkreten Funktionsbestimmung des Dativs vgl. J EBB (1914) S. 158: „The dat. ἀλλαγᾷ might be instrumental, but is rather circumstantial“, dagegen K AMERBEEK s (1967) eindeutige Zuweisung S. 226: „instrumental dative“.

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Klageinterjektion ἰώ sowie des Adjektivs κλεινόν die Intensität gegenüber dem ersten Anruf in Vers 1195 steigert. Der angeschlossene Relativsatz verbalisiert in einem ersten von zwei kühnen poetischen Bildern das für den Chor entschei‐ dende Moment der nunmehr aufgedeckten Vorgeschichte: Oidipus habe es „ge‐ nügt“ (ἤρκεσεν v. 1206), als Kind und Vater in denselben „großen Hafen“ ein‐ zufallen,108 d. h. wie schon sein Vater seiner eigenen Mutter beizuwohnen. Die direkt angeschlossene Frage des Chors lässt auf das der nautischen Sphäre ent‐ nommene Bild ein weiteres, einer anderen Welt entnommenes folgen: Wie, fragen die Greise und geben dabei durch die Wiederholung πῶς ποτε πῶς ποθʼ (v. 1210) ihrer Erschütterung besonderen Ausdruck, wie konnten die „Acker‐ furchen“ seines Vaters (πατρῷαι ἄλοκες) ihn unter solchem Schweigen er‐ tragen? Das rasche Aufeinanderfolgen der beiden Imaginationen verharmlost das in Rede stehende Ereignis nicht – im Gegenteil: Der abrupte Wechsel zwischen den Bildsphären lässt das Geschehen umso drastischer hervortreten. In ihrer ima‐ ginativen Ausleuchtung des schreckenerregenden Geschehens bildet die zweite Strophe so das Gegenmoment zur ersten Gegenstrophe. Sie erschöpft sich dabei nicht in der Betrachtung des momentanen Zustands (τανῦν), sondern wirft in der doppelten bildhaften Ausleuchtung erneut einen Blick in die Vergangenheit (ἤρκεσεν v. 1208 sowie ἐδυνάθησαν v. 1212). Der glücklichen Vergangenheit, wie sie die erste Gegenstrophe darstellte, wird hier also nicht einfach die schre‐ ckensreiche Gegenwart gegenübergestellt; vielmehr erfolgt im vorliegenden Abschnitt des Liedes auf engstem Raum die gezielte Bewertung der Gegenwart sowie die Rekapitulation des für sie entscheidenden Ereignisses der Vergan‐ genheit. Die abschließende zweite Gegenstrophe thematisiert zunächst die Aufdeckung der wahren Umstände und setzt in ihrem Tempusgebrauch den im zweiten Teil der Strophe etablierten Blick in die Vergangenheit zunächst fort: Die alles se‐ hende Zeit habe Oidipus unfreiwillig (ἄκονθʼ), d. h. entgegen seinen eigenen Intentionen „ertappt“ (ἐφηῦρε) und richte nun die „uneheliche Ehe“ (ἄγαμον

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Die konkrete Konstruktion ist an dieser Stelle umstritten. Ich kann weder K AMERBEEK (1967) S. 226 folgen, der festhält: „καί = atque going with αὑτός, παιδί is predicative adjunct to ᾧ“, noch mich D AWE (1982) S. 218 f. anschließen, der seine Übersetzung „‘for the child and the father’, i.e. Oedipus and Laius“ die Erklärung folgen lässt: „The Oe‐ dipus-as-father theme has not received much attention in the play so far […] We do not require it here“. Dem griechischen Text an unserer Stelle m. E. angemessener ist da J EBB s (1914) Auffassung der beiden Dative παιδὶ καὶ πατρί als gleichgeordnete sub‐ stantivische Adjunkte zu ᾧ (vgl. seine Übersetzung S. 159: „The same bounteous place of rest sufficed thee, as child and as sire“).

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γάμον). Die paradoxe Wirkung dieser an sich schon pointierten Junktur gewinnt durch die beiden angeschlossenen Partizipien τεκνοῦντα καὶ τεκνούμενον er‐ neut an Schärfe: Zum einen verbalisiert der Wechsel der Diathese in äußerster sprachlicher Kürze den bereits in der zweiten Strophe thematisierten Umstand (v. 1208 ff.), dass Oidipus zu Iokaste sowohl im Verhältnis des Zeugenden eigener Nachkommen als auch des Gezeugten steht. Zum anderen ist die eigentlich Oi‐ dipus zukommende Aussage hier auf den Ehebund selbst (γάμος) übertragen;109 diese sprachliche Kühnheit ermöglicht es, zielgenau mit dem Verhältnis der beiden Partner zueinander den eigentlichen Kern der Schandtat zu fokussieren. Ein erneuter Anruf des Oidipus (v. 1216), diesmal pointiert durch die Ver‐ wendung des Patronyms in den inhaltlichen Kontext eingepasst (Λαΐειον τέκνον) und wie schon in der zweiten Strophe durch ἰώ eingeleitet, lässt den Chor auf sein jetziges Verhältnis zum Stadtherrn zu sprechen kommen: Die Greise wünschen, sie hätten ihn nie gesehen (v. 1217). Wortreich thematisieren sie daraufhin in den Versen 1218 – 1220 ihr eigenes momentanes Klagen.110 Mit dem gewichtigen τὸ δʼ ὀρθὸν εἰπεῖν „um es geradeheraus zu sagen“ (v. 1220 f.) leitet der Chor daraufhin eine abschließende Einschätzung seiner Relation zu Oidipus ein, in der er den abwesenden Protagonisten erneut in der zweiten Person apostrophiert: Der Chor habe seinetwegen (ἐκ σέθεν v. 1221) sowohl aufgeatmet als auch das eigene Auge im Schlaf geschlossen (κατεκοίμησα v. 1222).111 Damit hat das Standlied ein Ende gefunden; der aufgetretene zweite Bote wird die Greise im Folgenden über die hinterszenischen Geschehnisse informieren, die sich während der Zeit des Liedes selbst im Palast abgespielt haben.

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Vgl. K AMERBEEK (1967) S. 227: „of the γάμος is said what properly belongs to Oedipus himself“. Die Passage ist textkritisch äußerst umstritten und hat Anlass zu einigen Konjekturen gegeben. Vgl. die ausführliche Diskussion der Stelle bei K AMERBEEK (1967) S. 228 f. In‐ haltlich ist dem Abschnitt – zumindest unter unseren Gesichtspunkten – allerdings wenig zu entnehmen, sodass eine Klärung im Einzelnen nicht nötig ist. Die Bedeutung dieser abschließenden Passage (v. 1220 ff.) ist umstritten, vgl. die Dis‐ kussion bei D AWE (1982) S. 220 f. Ob die Äußerung des Chors eine reine Sympathieäu‐ ßerung mit, wie D AWE formuliert, beinahe erotischer Intensität („the Chorus use lan‐ guage of an intensity that is almost erotic“ a. a. O.) darstellt, den durch Oidipusʼ Sieg über die Sphinx sicheren Schlaf illustriert oder bereits den Fall des Protagonisten und die Auswirkung der katastrophalen Aufdeckung auf die Choreuten thematisiert, bleibt letztlich offen. Der Text des Liedes selbst ist wohl bewusst mehrdeutig; die Bekundung einer Anteilnahme des Chors am Schicksal des Oidipus bleibt indes ein bestimmendes Moment dieser abschließenden Bemerkung.

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Das Standlied hat in einer ausgreifenden Bewegung einen umfassenden Blick auf den Protagonisten geworfen. Damit wurde nicht nur die im Epeisodion end‐ gültig aufgedeckte Vorgeschichte einer poetischen Verarbeitung unterzogen, sondern auch die aktuelle dramatische Situation emotionalisierend ausgedeutet. Beleuchten wir zunächst die strukturelle Komposition des Standliedes. Das zweiteilige Panorama von Oidipusʼ Auf- und Abstieg bildet den Gegenstand der beiden mittleren Strophen und damit den eigentlichen Kern der Partie. Dieser ist wiederum durch zwei Strophen gerahmt: Die zu Beginn der ersten Strophe vorgebrachte allgemeine Klage über die Wandelbarkeit des Schicksals eröffnet dabei, wie bereits gesagt, einen besonders weiten Rahmen, der sich in seiner reflektierenden Allgemeingültigkeit von der konkreten Handlung abzusetzen scheint: Statt einer überwältigten, emotionalen Spontanreaktion der Choreuten folgt auf Oidipusʼ Abtritt eine ausgreifende Verbalisierung einer allgemeinen Wahrheit, die der Chor im vorliegenden Fall verwirklicht sieht. Die auf der Bühne erfolgte Offenlegung der wahren Zusammenhänge, die endgültige De‐ maskierung des Protagonisten und sein daraus resultierender momentaner Zu‐ stand sind so von vornherein in einen reflektierenden Kontext eingebunden. Anders gesagt: Die unmittelbare Reaktion der Greise auf die Bühnenhandlung zeugt von gewisser Distanz, die es ihnen ermöglicht, das Geschehen einzu‐ ordnen, ihm Beispielcharakter zuzuerkennen und trotz aller innerer Beteiligung im Moment der das Selbstbild des Protagonisten umstürzenden Wende eine Ge‐ samtschau zu entwerfen. Mit dem allgemein-reflektierenden Beginn des Liedes kontrastiert sein Ende: Im letzten Anruf des Protagonisten in den Versen 1216 ff. kommt der Chor ganz gezielt auf sein eigenes Verhältnis zu Oidipus zu sprechen und verortet sich selbst in der dramatischen Gegenwart. Stand in der ersten Strophe noch die allgemeine Bewertung menschlichen Glücks angesichts von Oidipusʼ Schicksal im Vordergrund, so treten die Choreuten hier aus ihrer abstrakt reflektierenden Haltung heraus und verbalisieren mit dem Wunsch, Oidipus nie gesehen zu haben, sowie der abschließenden Einschätzung v. 1220 ff. ein Moment starker innerer Beteiligung. Indem sich der Chor so am Schluss des Liedes deutlich von Oidipus distanziert, ist die bevorstehende Konfrontation mit dem Protagonisten bereits antizipiert. Der solchermaßen von einer abstrakt-reflektierenden Rahmensetzung sowie dem betont personalisierten und in seiner Emotionalität gesteigerten Fazit um‐ schlossene Mittelteil entwickelt seine besondere Brisanz sowie seinen poeti‐ schen Reiz aus einer gestuften und komplexen Kontrastierung und Verwebung von Vergangenheit und Gegenwart: So stellte die erste Gegenstrophe das für Theben segensreiche und für Oidipus selbst glückvolle Handeln des Helden dar,

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während die folgende Strophe mit dem inzestuösen Verhältnis den Kern der eben aufgedeckten Katastrophe ebenfalls als ein Geschehen der Vergangenheit the‐ matisiert (vgl. die Aoriste ἤρκεσεν, ἐδυνάθησαν). Zwischen diesen beiden Rück‐ blenden in die Vergangenheit kommt trennend der emotionale Verweis auf die Gegenwart zu stehen (τανῦν δʼ), der in Form eines Ausrufs die aktuellen Folgen der Schandtat vorwegnimmt. In der zweiten Gegenstrophe kommen schließlich Gegenwart und Vergangenheit auf engstem Raum zur Sprache: Die Aufdeckung des schandhaften Verhältnisses durch die alles sehende Zeit selbst ist in den Augen der Greise ein Faktum der Vergangenheit (ἐφηῦρε), während die Verur‐ teilung der Gegenwart angehört (δικάζει).112 Indem der Chor damit das zentrale Ereignis des vorangegangenen Epeisodions, die Offenlegung der tatsächlichen Zusammenhänge, erst am Beginn der zweiten Gegenstrophe expressis verbis thematisiert, erweist er die erreichte dramatische Situation als Endpunkt der entfalteten Vorgeschichte und führt nach dem Rückblick in die Vergangenheit wieder in die dramatische Gegenwart zurück, in der sich die Relation zwischen Chor und Protagonist entscheidend verändert hat. Was also mit der ersten Strophe als poetische Reflexion über die Nichtigkeit menschlichen Glücks begann, endet nach der Vergegenwärtigung der Vergan‐ genheit in einer konkreten Ausleuchtung des brisanten Verhältnisses zwischen Chor und Protagonist. Anders gesagt: Mit dem Ende des vierten Stasimons ver‐ balisiert der Chor seine eigene Position im Gefüge der Akteure und setzt damit die Vorzeichen, unter denen er im Folgenden dem Protagonisten gegenüber‐ treten wird. Kurz gesagt: Reflexion, Einordnung und Rückblick münden so di‐ rekt in die dramatische Situation. Machen wir uns daher bewusst: Zu behaupten, das Stasimon kontrastiere schlicht Vergangenheit und Gegenwart der Oidipus-Figur, würde weder der feinen Arbeit im poetischen Detail noch der gesamten Anlage des Liedes ge‐ recht. Vielmehr ist die Komposition des Stasimons höchst raffiniert: Sie richtet den Blick auf Vergangenheit und Gegenwart neu aus, lässt beide Sphären ge‐ schickt ineinandergreifen und ermöglicht so ein gerundetes Panorama. Dass das Lied dabei im Ganzen trotz seiner elaborierten poetischen Gestaltung im Ein‐ zelnen eine, um mit B URTON zu sprechen, geradezu „luzide Struktur“ aufweist,113 verdankt es zum einen der stringenten Monothematik (Oidipusʼ Werdegang als Exempel einer allgemeinen Wahrheit), zum anderen dem nachvollziehbaren 112

113

Inwieweit πάλαι (v. 1214) tatsächlich, wie von K AMERBEEK (1967) S. 227 vorgeschlagen, auf δικάζει zu beziehen ist, bleibt fraglich. Mir scheint die Stellung des Adverbs zwi‐ schen τὸν ἄγαμον γάμον und den darauf bezogenen beiden Partizipien die inhaltliche Zuordnung zu τεκνοῦντα καὶ τεκνούμενον nahezulegen. B URTON (1980) S. 177: „The structure of this ode is straightforward and lucid“.

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III. Greisenchöre

Gedankengang, in dem die einzelnen Momente und aufgerufenen Bilder jeweils im Sinne der Aussageabsicht klar funktionalisiert sind. Betrachten wir in einem weiteren Schritt, wie sich das vorliegende Lied in den Zusammenhang der chorischen Partien einordnen lässt. Halten wir zunächst fest: Das vierte Stasimon nimmt innerhalb der chorischen Partien ein gewisse Sonderrolle ein. Es beschäftigt sich ausschließlich mit Oidipus und problemati‐ siert dabei gezielt die Zusammenhänge, wie sie sich innerhalb der dramatischen Fiktion wirklich verhalten. Aus dem fragenden, irrenden und vermutenden Chor ist so an unserer Stelle ein um den wahren Sachverhalt wissender geworden, dem es zufällt, in einem Panorama das Geschehen umfassend zu rekapitulieren. Dass dabei allerdings einzig das inzestuöse Verhältnis zur Mutter thematisiert wird, die Bluttat am Vater jedoch unerwähnt bleibt, ist ganz der Perspektivver‐ schiebung ab der Mitte des Dramas geschuldet: War die Suche nach dem Mörder des Laios gegenüber den Nachforschungen hinsichtlich der Abkunft des Haupt‐ helden in den Hintergrund getreten, so setzt das Chorlied in seiner abschlie‐ ßenden Gesamtschau diese Fokussierung fort. Gerade an dieser Aussparung eines für den eigentlichen Mythos nicht unerheblichen Moments zeigt sich, dass das vorliegende Lied keinen generellen, vom Kontext des Dramas abgelösten Überblick über die Lebensgeschichte des Oidipus geben möchte, sondern pass‐ genau in den Zusammenhang der dramatischen Handlung eingesetzt ist. Mit der lyrischen, in zwei Bildern gestalteten Thematisierung der inzestuösen Bezie‐ hung zwischen Oidipus und Iokaste beantwortet es so die im zweiten Teil der Tragödie aufgeworfene Frage und führt diesen Abschnitt der Tragödie einem ersten Abschluss zu. Augenscheinliche motivische Anklänge an vorherige Chorpassagen, die Fort‐ führung gewisser Leitmotive finden sich im vorliegenden Chorlied kaum. Die Spiegelungen bestimmter Motive und Begriffe sind allenfalls subtil und tragen kaum dazu bei, das Lied als eine direkte Antwort auf eine andere chorische Partie begreifen zu können.114 Dagegen ist eine weitere Aussparung im motivischen Kontext des Liedes von besonderer Bedeutung: Zunächst fehlt bis auf den in die Rekapitulation der ersten Gegenstrophe eingesetzten Vokativ ὦ Ζεῦ (v. 1198)

114

So mag man in den prominenten, jeweils durch τίς eingeleiteten Fragen v. 1189 sowie 1204 f. eine Reminiszenz an den Beginn der Parodos (v. 151), den des ersten Standliedes (v. 463) sowie die Mitte des dritten Stasimons (v. 1098) sehen. In ὑπερβολάν (v. 1196) dahingegen einen Rückbezug auf die ὕβρις-Thematik des zweiten Stasimons zu er‐ kennen (vgl. ὑπερπλησθῇ v. 874 sowie ὑπέροπτα v. 883), erscheint mir verfehlt; ähnlich vage ist der Anklang von δικάζει (v. 1214) an die Thematisierung der Δίκα in der zweiten Strophe des zweiten Standliedes (v. 885).

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jede Apostrophierung oder Erwähnung göttlicher Mächte.115 Dass sich darüber hinaus mit der Aufdeckung der wahren Zusammenhänge die an Iokaste bzw. Laios ergangenen Orakelsprüche als tatsächlich eingetreten herausgestellt haben, thematisiert der Chor im vierten Stasimon ebenso wenig. Mit dieser völ‐ ligen Ausblendung der Orakelmotivik entfällt auch jede Selbstreflexion der Greise hinsichtlich ihres eigenen Irrens, das sich besonders prominent im zweiten Teil des ersten Stasimons entfaltet hatte. Dieser Verzicht auf eine Be‐ antwortung der Orakelmotivik angesichts der Erfüllung der göttlichen Voraus‐ sagen verwundert zunächst, ist doch damit ein sowohl für das gesamte Stück als auch die chorischen Passagen im Besonderen wesentliches Moment aus‐ geblendet und eine mögliche Erwartungshaltung der Rezipienten an das Lied untergraben.116 Statt in bewusster Vergegenwärtigung der Vorhersagen eine motivische Syn‐ these der bisher en detail unbeantworteten Chorpartien zu liefern, setzt das vierte Stasimon an unserer Stelle mit seiner Ausleuchtung des Geschehens unter den entwickelten allgemeinen Gesichtspunkten einen eigenen Akzent. Die so bewusst evozierte motivische Leerstelle wird im Folgenden erst der Kommos, genauer: Oidipus selbst füllen, wenn er in Vers 1329 ff. Apoll als den für die Vollendung seines Unheils Verantwortlichen benennen wird. Mit Blick darauf wird deutlich: Auch die weitgehende Aussparung der Götterund Orakelmotivik erweist das vorliegende Stasimon als bewusst in den dra‐ matischen Kontext eingepasst. Indem Sophokles hier den Chor das Geschehen unter einem eigenen Gesichtspunkt betrachten lässt und dabei bisherige Refle‐ xionsrahmen übergeht, stellt er implizit eine weitere Ausleuchtung in Aussicht. Das Reden über Oidipus an unserer Stelle evoziert so geradezu die Äußerung des Protagonisten selbst, der sein eigenes Tun in den weiteren Zusammenhang der Orakel- und Göttermotivik einordnen wird. Von besonderer Kontrastivität gestaltet sich ferner das Verhältnis zwischen dem dritten und vierten Standlied: Das vierte Stasimon bietet den durch die Aufdeckung von Oidipusʼ eigentlicher Identität bereinigten Blick auf die Ver‐ gangenheit des Protagonisten. Es setzt somit dem idealisierten, pittoresken Bild des dritten Standliedes die Realität entgegen, mit der es die Vergangenheit durch 115 116

In χρόνος (v. 1213) eine zumindest quasi-göttliche Macht zu sehen, ist freilich möglich. Die personifizierte Zeit war allerdings bis zu dieser Stelle noch kein fester Bezugspunkt im chorischen Reflexionsrahmen und spielte auch in den Götteranrufungen keine Rolle. Ganz anders an der ähnlich konstruierten Stelle in den Trachinierinnen: Das Chorlied nach dem Abtritt der Hauptheldin (drittes Stasimon) beginnt dort mit der Feststellung, dass sich nun das „gottgesprochene Wort“ verwirklicht habe (v. 821). Die auch in diesem Stück an verschiedenen Stellen bereits evozierte Orakelmotivik ist dort explizit aufge‐ nommen und beantwortet.

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das Aufzeigen von Konsequenzen, die Einordnung in eine allgemeine Betrach‐ tung des menschlichen Glücks und die Selbstverortung des Chors innerhalb beider Zeitebenen geradezu verwebt. Die auf der Bühne in Szene gesetzte Ana‐ gnorisis wird so vermittelst der Rahmung des entscheidenden Auftritts durch zwei in ihrer Verschiedenheit korrespondierende Stasima lyrisch verarbeitet und ausgeleuchtet. Das Verhältnis des vierten Stasimons zu den vorherigen Chorpartien ist, zu‐ sammenfassend gesagt, im Wesentlichen gebrochen: So bezieht das vierte Sta‐ simon seine besondere Spannung gerade aus der Aussparung gewisser Motive und Handlungsmomente, während es in seiner Thematisierung der wahren Zu‐ sammenhänge geradezu die Korrektur des dritten Standliedes darstellt. Was leistet das so in den Zusammenhang der chorischen Partien eingesetzte Stasimon dramaturgisch, d. h. mit Blick auf die Lenkung von Publikum und Le‐ sern, an seiner Stelle im Ablauf der Handlung? Machen wir uns klar: Sophokles lässt Oidipus nach der Aufdeckung seiner Identität nur kurz mit den referierten Versen 1182 – 1185 zur Situation Stellung beziehen; er komponiert an unserer Stelle keine ausgreifende emotionale Szene (denkbar wäre ein Kommos zwi‐ schen Oidipus und den Choreuten), sondern lässt den Protagonisten zunächst abtreten und nimmt ihn so völlig aus dem Geschehen.117 Der damit erreichte Effekt ist an sich bereits wirkungsvoll: Mit Oidipus hat die bestimmende Gestalt den Ort des Geschehens verlassen; die Bühnenhandlung, die mit der Aufdeckung der wahren Zusammenhänge ohnehin ihr eigentliches Ziel erreicht hat, kommt damit zu einem natürlichen Ruhepunkt, der in der leeren Bühne seinen augen‐ scheinlichen Ausdruck findet. Der Abtritt des Protagonisten gehorcht dabei al‐ lerdings auch den praktischen Zwängen der Theaterkonvention, die sich aus der Komposition der gesamten Tragödie ergeben: Will Sophokles die Blendung des Oidipus innerhalb der Tragödie darstellen, so muss er den Vollzug dieser Hand‐ lung im hinterszenischen Bereich verorten. Ein Abtritt des Protagonisten ist so 117

Die Ähnlichkeit der vorliegenden Szene mit einer Szene der Trachinierinnen wurde bereits erwähnt. Auch dort verlässt die Protagonistin nach der Aufdeckung der durch ihr Handeln hervorgerufenen Katastrophe die Bühne (v. 813 f.). Der grundlegende Effekt ist dabei derselbe: Der Abtritt des Akteurs, der die Bühnenhandlung bis zu diesem Zeit‐ punkt bestimmte, hinterlässt ein Vakuum, das im Folgenden zunächst durch eine Chor‐ passage gefüllt wird. Die Unterschiede der beiden Stellen zeigen sich allerdings im De‐ tail: Während sich Deianeira nach dem ausführlichen Botenbericht ihres Sohns (v. 749 – 812) nicht mehr zu Wort meldet, resümiert Oidipus, wie gesehen, an unserer Stelle kurz sein eigenes Schicksal, bevor er die Bühne verlässt. Die erste unmittelbare Reaktion kommt des Weiteren an unserer Stelle dem Chor zu, während in den Trachinierinnen Hyllos das Handeln seiner Mutter noch kurz beleuchtet (v. 815 – 820), bevor der Chor sein drittes Standlied beginnt.

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unmittelbar notwendig, um ihn dann zu einem späteren Zeitpunkt nach der Selbstblendung wieder die Bühne betreten zu lassen. Zurück zur Situation nach Oidipusʼ Abtritt. Der Chor nimmt die prominente Funktion wahr, auf das nun offen zu Tage liegende Unheil direkt nach der kurzen Zusammenfassung des Protagonisten zu reagieren und damit die erste ausführ‐ liche Einordnung zu liefern. Eine entscheidende Stelle im Ablauf der Tragödie fällt so der chorischen Reflexion zu. Die Komposition des Liedes im Einzelnen ist dabei in besonderer Weise dramaturgisch funktionalisiert: Der reflektie‐ rend-allgemeingültige Beginn des Stasimons füllt in seiner ausgreifenden Be‐ wegung die Handlungspause und schafft zunächst gewisse Distanz zum eigent‐ lichen Bühnengeschehen, das ja gezielt unter dem Gesichtspunkt des Exemplarischen kontextualisiert wurde. Mit der Vergegenwärtigung der Vor‐ geschichte wird die Figur des Haupthelden daraufhin in seinen Facetten ausge‐ leuchtet, bis die Thematisierung des konkreten Verhältnisses zwischen Chor und Protagonist den Abschluss des Liedes bildet. Hatte der Beginn des Stasimons den natürlichen Ruhepunkt der vorderszenischen Handlung besonders deutlich herausgehoben, so führt die Konzentration auf Oidipusʼ Person am Ende des Stasimons wieder in die dramatische Realität zurück; die Konfrontation des Chors mit dem Protagonisten ist dementsprechend durch die Vergegenwärti‐ gung des Auf- und Abstiegs des Haupthelden vorbereitet und emotional bereits ausgeleuchtet. Die emotionale Wirkung dieses letzten Teils der Tragödie ist damit bereits vor‐ gezeichnet: Der Wiederauftritt des Protagonisten wird den Kulminationspunkt visueller Drastik darstellen und das volle Ausmaß der aufgedeckten Gegeben‐ heiten und der entsprechenden Konsequenzen in der Reaktion des Protago‐ nisten selbst demonstrieren. Der Abtritt des Haupthelden steht dementspre‐ chend ganz unter der Maßgabe der Konstatierung der Fakten und fungiert so in Hinblick auf den Wiederauftritt als vorbereitendes Moment. Der Dichter trennt auf diese Weise die erste Reflexion des Ereignisses, das den Zielpunkt der ei‐ gentlichen Handlung darstellt, vom Kulminationspunkt drastischer Bühnen‐ wirkung (dem Auftritt des geblendeten Oidipus mit anschließendem Wechsel‐ gesang ab v. 1297). Er überfrachtet die vorliegende Passage nicht mit außergewöhnlichen Effekten, einer ausufernden Emotionalisierung oder dem Einsatz besonderer Bühnenwirkungen, sondern überlässt der Wiedererkennung als Moment der Handlung, reflektiert aus der Perspektive des Chors, die dra‐ matische Wirkung auf Publikum und Leser. Diese geradezu puristische Hand‐ habung dramatischer Formen könnte zunächst den Eindruck erwecken, der Dichter bliebe hinter seinen Wirkmöglichkeiten zurück. Mit dem Fortgang des Stücks, das an unserer Stelle eben noch nicht zu Ende ist, zeigt sich allerdings,

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III. Greisenchöre

dass Sophokles sehr wohl auch im Oidipus drastische, hochemotionale und zu‐ tiefst aufrüttelnde, ja verstörende Mittel sowohl der Sprache als auch der Büh‐ nentechnik einsetzt, um einen Effekt bei seinem Publikum hervorzurufen. Dass dies jedoch erst nach dem eigentlichen Ende des Plots geschieht und geradezu die Folgen der Handlung darstellt, scheint die drastische Szene zunächst vom Rest des Dramas abzukoppeln. Sie korrespondiert demgegenüber als bildmäch‐ tige Inszenierung der Katastrophe mit dem vierten Stasimon, dem jede Aussicht auf eine mögliche Zukunft fehlt. In die Generalpause der vorderszenischen Handlung setzt der Dichter so die letzte ausführliche, rein chorische Partie der Tragödie. Der Chor wird im fol‐ genden Abschnitt bis zum Ende der Tragödie daraufhin keine weit ausholende Reflexion mehr anstellen; seine Äußerungen während der Szenen bzw. im Kommos mit Oidipus beschränken sich auf Nachfragen, Anteilnahme, kurze emotionale Einwürfe oder Einordnungen.118 In seinem mehrfach gebrochenen Verhältnis zu den vorangegangenen Chorpartien eröffnet das vierte Stasimon dabei den letzten Teil der Tragödie, der gegen die geradezu reflektiert-abgeklärte Einordnung der Anagnorisis vom Beginn des Liedes das Moment größter visu‐ eller Drastik setzen wird. Kommos / zweiter Wechselgesang v. 1297 – 1366 / 68)

Zum Ende des vierten Stasimons betritt ein zweiter Bote die Bühne und referiert den hinterszenischen Fortgang der Handlung. Dabei stellt er in der kurzen Un‐ terredung mit dem Chorführer zunächst klar, dass sich zum bereits offen zu Tage liegenden Unheil neues Ungemach gesellt habe. Er vermeldet daraufhin in Vers 1235 in knappen Worten den Tod Iokastes und berichtet nach einer erschütterten Nachfrage des Chorführers in einem ausführlichen Monolog (v. 1237 – 1279) de‐ tailliert über die Geschehnisse im Innern des Palasts: Iokaste habe sich selbst getötet, Oidipus seine tote Frau bzw. Mutter gefunden und sich mit deren Ge‐ wandnadel die Augen ausgestochen. Der Bote resümiert schließlich (v. 1280 – 1285), dass sich das Unheil auf Frau und Mann – d. h. Iokaste und Oidipus – richte und das gewesene Glück an diesem Tag eine Ansammlung aller Übel geworden sei, von denen keines fehle: „Jammern, Verblendung, Tod, Schande“ (στεναγμός, ἄτη, θάνατος, αἰσχύνη v. 1284). Auf die Frage des Chors nach Oi‐ dipusʼ momentaner Beschäftigung (v. 1286) gibt der Bote die Antwort, er fordere unter Schreien auf, die Türen des Palasts (d. h. des Bühnengebäudes) zu öffnen und der Bevölkerung Thebens den Vater- und Muttermörder, d. h. sich selbst, zu

118

Die in ihrer Authentizität ohnehin umstrittenen Schlussverse des Chors (1524 – 1530) bleiben hier zunächst unbeachtet.

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zeigen; ihm selbst fehle dabei die Kraft, die Türen zu öffnen. Darüber hinaus stoße er Verfluchungen aus, die sich der Bote nicht zu wiederholen traue. Schließlich beschreibt er die Öffnung der Türen (v. 1294 ff.) und warnt Chor und Publikum vor dem Anblick, bei dem auch jemand ohne Sympathie für Oidipus und sein Schicksal (στυγοῦντʼ) Mitleid empfinden werde. In Vers 1297 öffnet sich schließlich das Bühnengebäude und gibt den Blick auf Oidipus und wo‐ möglich die Leiche Iokastes frei. Der Effekt muss schockierend sein. Die Cho‐ reuten reagieren in anapästischen Versen unmittelbar auf den sich bietenden Anblick (v. 1297 – 1306): Einem furchtbaren Leid sehen sich die Greise gegenüber, dem furchtbarsten, das sie je gesehen haben. In zwei Fragen versuchen sie, sich dem Geschehenen zu nähern: Welcher Wahn (μανία) habe hier gewirkt, welcher Daimon sei in überaus großen Sätzen (πηδήσας μείζονα v. 1300 f.) zu Oidipusʼ ohnehin unglücklichem Schicksal gesprungen? Der Chor kann nicht hinsehen, wenn er auch vieles erfragen, vieles erfahren, vieles genauer betrachten möchte; ein solches Entsetzen (φρίκην) hat Oidipus bei ihm ausgelöst. Diese Einschätzung des Chors eröffnet den nun folgenden hochemotionalen Abschnitt und ist bereits selbst durch herausragende sprachlich-klangliche Mittel als Ausdruck effektvoller Emotionalität gekennzeichnet: die Steigerung ὦ δεινόν durch das folgende ὦ δεινότατον, das wiederholte Interrogativum τίς – freilich eine Reminiszenz an das prominente Fragen des Chors zu Beginn der Parodos und des ersten Stasimons sowie innerhalb des dritten und vierten Standliedes – , die erneute Kontrastierung von zwei Steigerungsformen μείζονα und μηκίστων, die eingestreute Interjektion φεῦ φεῦ sowie das dreimalige πόλλʼ bzw. πολλά. Auch die Metrik lässt – im Sinne des Wortes – aufhorchen: Den iambischen Sprechversen des Botenberichts setzt der Dichter Anapäste entgegen, die ihrem Aufbau nach Marschanapäste sind (wohingegen Oidipusʼ Antwort in den Versen 1307 ff. bereits in „lyrischen“ Anapästen strukturiert ist).119 Die Ausgestaltung der Passage macht unmissverständlich klar: Was folgen wird, ist der emotionalste und drastischste Abschnitt der Tragödie, nicht nur in Hinsicht auf visuelle Bühneneffekte, sondern genauso mit Blick auf Sprache und Metrik.

119

So D AWE (1982) S. 229 in seiner wertvollen Anmerkung zur Passage: „socalled ‘marching’ anapaests […] ‘melic’ or ‘lyric’ anapaests“.

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Oidipusʼ Erwiderung120 in den Versen 1307 ff. ist bereits erwähnt worden: Unter Voranstellung zweier, je verdoppelter Interjektionen fragt er, wohin er sich nun wenden solle, wohin seine Stimme erschallen werde. Auf seine Frage, wohin der Daimon „gesprungen“ sei, gibt der Chor zur Antwort (v. 1312): „ins Furchtbare, weder erträglich anzuhören noch anzuschauen“ (ἐς δεινόν, οὐδʼ ἀκουστόν, οὐδʼ ἐπόψιμον). Fließend geht die anapästische Passage daraufhin in den eigentlichen, d. h. lyrischen Kommos über. Zur Grobstruktur der Partie soll Folgendes festgehalten werden. Der – mittler‐ weile fast überfällige – Auftritt des Oidipus mit dem anschließenden Wechsel‐ gesang hat einen langen Vorlauf: Zunächst hatte sich der Botenbericht nach der Frage des Chors (v. 1286) von einer Schilderung der unmittelbaren Vergangen‐ heit (Tod Iokastes, Oidipusʼ Reaktion) in eine Beschreibung der aktuellen hin‐ terszenischen Gegenwart gewandelt; die Präsenz des Protagonisten erhöhte sich so schrittweise von der Rekapitulation seines erst kurz zuvor vergangenen Han‐ delns über die Einblendung seiner momentanen Tätigkeit hinter der Bühne bis schließlich zur physischen Anwesenheit vor Chor und Publikum und damit der direkten Konfrontation mit dem visuellen Eindruck der Katastrophe. Ganz ähn‐ lich ist der erste Auftritt des Aias nach seinem Erwachen aus der geistigen Um‐ nachtung (Aias v. 333 ff.) komponiert;121 ließ dort allerdings der Hauptheld selbst seine Stimme aus dem Bereich hinter der Bühne erschallen, so ist die Konstruk‐ tion an unserer Stelle durch die schrittweise Steigerung der Präsenz des Oidipus vielleicht weniger abrupt, auf jeden Fall aber ähnlich spannungsreich und kunstvoll gestaltet. Sophokles inszeniert darüber hinaus an diesem Punkt des Oidipus Tyrannos die erste und einzige Szene, in der Handlungen, die während des Dramenablaufs hinter der Bühne geschehen sind, direkte vorderszenische Auswirkungen haben – wenn man von den Botengängen bzw. dem Herbeiholen verschiedener Personen während des Stücks absieht. Wie im Aias entfaltet sich nach dem Auftritt des Haupthelden ein lyrischer Wechselgesang, der die emotionale Ausdeutung der bildmächtig auf die Bühne

120

121

Die erst zu Beginn der ersten Gegenstrophe erfolgende direkte Anrede des Chors von Seiten des Protagonisten macht es wahrscheinlich, dass Oidipus, ganz versunken in Leid und Kummer, erst im Lauf des Kommos bewusst auf die Einwürfe des Chors ein‐ geht. In diesem Sinne entwickelt sich das eigentliche Zwiegespräch angesichts der Ka‐ tastrophe erst Schritt für Schritt und unterstreicht so die primär visuelle Wirkung des Bühnengeschehens. Vgl. B URTON (1980) S. 180: „The situation at this moment of Oidipus Tyrannus is similar to the one at the beginning of the first commos of Ajax“, und mit Blick auf metrisch-for‐ male Belange: „Similarity of scene has generated similarity of metrical form and struc‐ ture“.

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geholten Katastrophe leistet. Während im Aias dabei mit Tekmessa ein weiterer Akteur am lyrischen Austausch beteiligt ist, stehen sich an unserer Stelle einzig Chor und Protagonist gegenüber; der Bote ist in Vers 1296 ganz in den Hinter‐ grund getreten bzw. hat die Bühne verlassen. Formal entfaltet sich der Wech‐ selgesang in zwei Strophenpaaren, wobei die Betrachtung der Sprechervertei‐ lung die herausgehobene Position des Hauptdarstellers deutlich macht: So antworten im ersten Strophenpaar auf je sechs Verse (bzw. Zeilen) von Oidipus die Greise mit zwei iambischen Versen, im zweiten Strophenpaar schiebt der Chor nach sechs Versen des Protagonisten zunächst einen iambischen Vers ein und schließt die Strophen nach weiteren sieben Zeilen von Oidipus mit je einem wiederum iambischen Doppelvers, deren letzter (v. 1367 f.) den fließenden Über‐ gang in die Sprechpartie ermöglicht. Oidipus steht damit ganz ersichtlich im Zentrum der Szene: Seine emotionalen Ausführungen bilden den Kern der ge‐ samten Passage und werden durch die eingestreuten Wortmeldungen des Chors geradezu kommentiert. Die erste Strophe ist ein einziger Aufschrei angesichts der hereingebrochenen Katastrophe: Oidipus beklagt die in Folge seiner Selbstblendung über ihn he‐ reingebrochene Dunkelheit und belegt sie mit einer Reihe eindrucksvoller Ad‐ jektive: Sie sei „einsam machend“, „unsäglich“, „unbezwingbar“ und „von einem ungünstigen Wind hergeweht“ (v. 1316). Schließlich bricht mit einer wieder‐ holten Interjektion (οἴμοι, οἴμοι μάλʼ αὖθις) und dem folgenden Ausruf sein ge‐ ballter Jammer hervor: Was für ein Stich von diesen Stacheln (οἴστρημα κέντρων) (d. h. dem gegenwärtigen Übel) und welch Erinnerung an vorange‐ gangenes Leid habe ihn ergriffen! Der Chor bestätigt die Einschätzung des Prot‐ agonisten: Es sei kein Wunder, dass er in solchem Unglück geradezu doppelt leide (διπλᾶ πενθεῖν) und verdoppeltes Übel ertragen müsse (διπλᾶ φόρειν122 κακά). Zu Beginn der ersten Gegenstrophe scheint Oidipus die Anwesenheit des Chors zum ersten Mal nach seinem Auftritt bewusst wahrzunehmen; er apo‐ strophiert ihn (bzw. den Anführer) als Freund (ἰὼ φίλος) und positioniert sich im Verhältnis zu den thebanischen Greisen bzw. dem Chorführer als seinem unmittelbaren Gesprächspartner (v. 1321 ff.): Dieser sei ihm als treuer Diener (ἐπίπολος μόνιμος) verblieben und nehme es auf sich, den mittlerweile blinden Oidipus zu pflegen (κηδεύων). Wieder unterbricht eine (verdoppelte) Interjek‐ tion (φεῦ φεῦ) die Rede; Oidipus betont daraufhin geradezu bestätigend, dass er 122

Die von L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) in den Text aufgenommene Konjektur θροεῖν von Nauck erschließt sich mir nicht; gegen das in der Mehrzahl der codd. überlieferte φόρειν ist nichts Gravierendes einzuwenden.

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den Chor(-führer) trotz seiner Blindheit wahrnehme und dessen Stimme deut‐ lich erkenne (γιγνώσκω σαφῶς). Der Chor nimmt diesen Hinweis auf Oidipusʼ Verfassung auf und stellt im iambischen Doppelvers zwei Fragen: Wie habe er den Verlust seiner Augen nur ertragen können? Welcher Daimon habe ihn dazu veranlasst (v. 1327)? Kurz soll dieser erste Abschnitt der Partie überblickt werden. Das erste Stro‐ phenpaar ist ganz auf die mittlerweile visuell präsente Katastrophe gerichtet: Die prominent gesetzten Interjektionen (jeweils zu Beginn bzw. in der Mitte der Strophen) nehmen die Ausrufe der anapästischen Partie wieder auf und ver‐ leihen der Sprache den Duktus des Situativen und Emotionalen. Oidipus selbst konfrontiert den Chor und die Zuschauer mit seiner Tat; die Angesprochenen stehen diesem Übermaß an Leid zunächst rein betrachtend gegenüber und be‐ stätigen in einer ersten Wortmeldung die doppelte Belastung des Protagonisten, ohne dabei explizit angesprochen worden zu sein. Der Kommos wird so erst mit der Gegenstrophe zum lyrischen Dialog, d. h. einem Wechselgespräch im ei‐ gentlichen Sinn. Der Chor antwortet zwar nicht direkt auf das in ihn gesetzte Vertrauen als Helfer in der Not, stellt allerdings selbst eine Frage und versucht so, bewusst in ein Zwiegespräch einzutreten. Mit dem Beginn der zweiten Strophe gibt Oidipus auf die doppelte Frage des Chors eine zweifache Antwort: Apoll sei es gewesen, der Gott habe seine vor Augen liegenden (τάδʼ v. 1330) Leiden vollendet; „geschlagen“ (ἔπαισε v. 1331), d. h. in seinem Fall die Blendung vorgenommen, habe allerdings niemand an‐ deres als er, Oidipus, selbst. Denn was solle er noch sehen, dem nichts mehr angenehm zu sehen sei? Der Chor wirft bestätigend ein: „Genauso, wie du es sagst, war es.“ (v. 1336). Unbeirrt fährt Oidipus fort: Was könnte er noch Liebli‐ ches sehen, was mit Freude hören? Schließlich wendet er sich mit einer kon‐ kreten Aufforderung an die Choreuten: Man solle ihn so schnell wie möglich außer Landes schaffen, ihn, den zutiefst unseligen, den verfluchtesten und den Göttern verhasstesten Sterblichen. Im abschließenden iambischen Doppelvers bedauert der Chor sein Gegenüber gleichermaßen auf Grund seines Verstandes (νοῦ) und seines Schicksals (συμφορᾶς)123 und äußert den bereits im vierten Standlied verbalisierten Wunsch, ihn nie kennengelernt zu haben.

123

Vgl. zu dieser Zweiteilung die Anmerkung von D AWE (1982) S. 233 „wretched for the intention he has put into effect (or perhaps the apprehension of his fate […]) and for his fate“, der J EBB s (1914) Wortwahl aufgreift (S. 175): „[…] alike for the intrinsic misery of his fate, and for his full apprehension of it. A clouded mind would suffer less“.

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Mit einer Verfluchung eröffnet Oidipus daraufhin zu Beginn der zweiten Ge‐ genstrophe den Blick in seine Vergangenheit: Zu Grunde gehen124 solle derje‐ nige, der ihn damals in der Wildnis aufgenommen,125 dem Tod entrissen und gerettet habe, da dieser damit nicht ἐς χάριν, sondern eben gegen den ursprüng‐ lichen Auftrag gehandelt habe.126 Wäre nämlich Oidipus damals gestorben, so der Hauptheld, gäbe es nun weder für seine Freunde noch für ihn selbst solche Betrübnis (τοσόνδʼ ἄχος v. 1355). Auch hier stimmt der Chor zu (v. 1356): „Auch mir wäre das zu Willen gewesen.“ Oidipus gestaltet das entworfene „Was-wäre-wenn / wäre-gewesen-wenn“Szenario in den Versen 1357 ff. weiter aus: Er wäre nicht Mörder seines Vaters geworden, nicht Gemahl seiner eigenen Mutter. Nun aber sei er gottverlassen (ἄθεος), Kind mit Frevel behafteter Eltern und selbst Erzeuger von Kindern mit Verwandten, von denen er selbst abstammt. Wenn es, so die Zusammenfassung, noch eine Steigerung des Übels gebe (πρεσβύτερον ἔτι κακοῦ κακόν), dann sei es Oidipus – betont von ihm selbst in der dritten Person formuliert127 und an den Schluss der Periode gestellt – zugefallen. Die abschließenden zwei iambischen Verse des Chors (v. 1367 f.) stellen bereits den Übergang zur folgenden Sprechszene sowie zum Monolog des Protago‐ nisten dar; inhaltlich verleihen die Greise ihrem Zweifel Ausdruck, ob Oidipus mit seiner Selbstblendung gut beraten war: Vielleicht, so die Aussage, wäre sein Tod die bessere Alternative gewesen. Die unmittelbare Emotionalität des ersten Strophenpaars ist im zweiten Teil der Partie einer mehr abwägenden, reflektierenden Betrachtungsweise gewichen: Der Blick wendet sich vom visuellen Eindruck der Katastrophe mehr zu deren Gründen und Konsequenzen. Dementsprechend fehlen im zweiten Strophen‐ paar auch die gliedernden Interjektionen; die Reflexion des Protagonisten ent‐ faltet sich in ausgedehnteren Perioden. Oidipus steht dabei mit seinen Äuße‐ rungen erneut ganz im Vordergrund; die bestätigenden Einwürfe des Chors (v. 124

125

126 127

Dass Sophokles mit ὄλοιθ' (v. 1349) möglicherweise auf eine verbreitete Etymologie anspielt, die den Götternamen Ἀπόλλων mit ἀπόλλυμι in Verbindung brachte (und so zwischen den Anfängen der zweiten Strophe und ihrer Gegenstrophe eine besonders subtile Beziehung herstellt), erwähnt K AMERBEEK (1967) S. 244 geradezu beiläufig. Der Text ist an dieser Stelle umstritten, die Aussage inhaltlich allerdings verständlich. Im Einzelnen sei besonders auf K AMERBEEK (1967) S. 247 verwiesen, der in seiner Dis‐ kussion der Stelle neben einigen vorsichtigen Lösungsversuchen anmerkt: „[T]he cu‐ mulation of difficulties in metre and wording […] may lead us to suspect deeper cor‐ ruption“. So im Anschluss an K AMERBEEK (1967) S. 247, der die Junktur ἐς χάριν πράσσων mit χαριζόμενος, „einen Dienst erweisend“, (dt.: „willfährig“) gleichsetzt. Vgl. K AMERBEEK (1967) S. 249, der zu Recht ad locum von einem „pathetic effect“ spricht.

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III. Greisenchöre

1336 und 1356) scheinen die Reflexionen des Protagonisten nicht zu unterbre‐ chen, inhaltlich und syntaktisch ergibt sich durch den eingeschalteten Vers kein nennenswerter Bruch. Die resümierenden Doppelverse des Chors an den Stro‐ phenenden bieten dementgegen einen inhaltlichen Impuls, den der Dialog‐ partner im Folgenden aufnimmt. So eröffnet der bereits aus dem vorangegan‐ genen Stasimon bekannte und am Ende der zweiten Strophe erneut vorgetragene unerfüllbare, d. h. irreale Wunsch, Oidipus nie kennengelernt zu haben (vgl. v. 1217), die Konstruktion des „Was-wäre-gewesen“-Szenarios in der Gegenstrophe. Der im Übergang zur Sprechszene vorgebrachte Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Blendung wird von Oidipus direkt zurückgewiesen (v. 1369 f.) und mündet in den langen Monolog des Protagonisten (v. 1379 – 1415, d. h. knapp 50 Verse). Während also das erste Strophenpaar alle Aufmerksamkeit auf den visuellen Eindruck der vollzogenen Selbstblendung lenkt und mit der direkten Ansprache des Chors durch Oidipus das unmittelbare Umfeld des Protagonisten in Szene setzt, weitet das zweite Strophenpaar die Perspektive. Es ordnet das Geschehen in einen größeren Zusammenhang ein, benennt Schuldige (v. 1329 ff.), deutet das weitere Vorgehen an (v. 1340 f.) und leistet mit dem „Was-wäre-ge‐ wesen“-Szenario eine besonders eindrückliche Ausdeutung der Situation, die es so geradezu e negativo charakterisiert. Von einem wirklichen Austausch gleichberechtigter Partner kann im vorlie‐ genden Kommos (sowie der folgenden Szene bis zum Auftritt Kreons) dabei kaum die Rede sein. Die Ausdeutung der Situation obliegt hier im Wesentlichen dem Protagonisten selbst, dem ein kommentierender und fragender Chor als Resonanzboden der Emotionalität gegenübersteht. Der Kommos stellt so das Gegenstück zum vierten Stasimon dar, das dem Chor einen breiten Raum zur Reflexion eingestand, während an unserer Stelle der Hauptdarsteller selbst wieder das Zentrum der Bühnenhandlung und der Situationsdeutung bildet. Der langen Absenz des Protagonisten (dessen letzte Äußerung in v. 1185 erfolgte – also mehr als 120 Verse vor seiner erneuten Wortmeldung in Vers 1307) ist so ein umso drastischerer Wiederauftritt entgegengesetzt, der zudem durch die Ausgestaltung als raumgreifender Wechselgesang mit vorgeschalteten Ana‐ pästen besonders hervorgehoben wird. Die Übergänge zwischen den einzelnen Redebeiträgen innerhalb der lyri‐ schen Partie sind dabei weniger logisch passgenau – einzig die Frage des Chors am Ende der ersten Gegenstrophe findet eine entsprechende Antwort – als viel‐ mehr rein bestätigend bzw. assoziativ, wie im Übergang zur zweiten Gegen‐ strophe. Damit wird erneut in besonderer Weise die zentrale Deutungshoheit des Protagonisten unterstrichen: Konnte der Chor eben noch ungestört die un‐

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mittelbare Reaktion auf die Anagnorisis vorbringen, so ist er nun allenfalls Im‐ pulsgeber im lyrischen Zwiegespräch. Hinsichtlich der Motivik und Thematik müssen wir unter unseren Gesichts‐ punkten zum Kommos nicht viel bemerken; gerade eine ausführliche Diskussion der Schuldfrage auf Grund der Aussagen des Protagonisten soll hier nicht ge‐ geben werden.128 Lediglich Folgendes ist (auch mit Blick auf die Einordnung des Kommos in den Zusammenhang der chorischen Partien und den Gesamtzu‐ sammenhang der Tragödie) festzuhalten: Die Ausdeutung seines eigenen Schicksals und seiner Lage durch den Protagonisten beantwortet in herausge‐ hobener Hinsicht das vierte Standlied, indem es dessen thematische Leerstellen füllt. Zum einen wird die im vierten Stasimon nicht reflektierte Episode des Vatermords von Oidipus in der zweiten Gegenstrophe verarbeitet (v. 1357). Im Selbstbild des Protagonisten spielt also auch dieses Moment seiner Vergangen‐ heit eine entscheidende Rolle, während die Ausleuchtung des Chors ganz auf das inzestuöse Verhältnis fokussiert war. Zum anderen bildet Oidipusʼ Apostrophierung Apolls als des Verantwortli‐ chen zu Beginn des zweiten Strophenpaars das Gegenstück zur weitgehenden Ausblendung der Götter- und Orakelmotivik des vierten Standliedes. Auch wenn Oidipus dabei nicht expressis verbis auf die an seine Eltern ergangenen Orakelsprüche rekurriert, ist mit der Zuweisung der Verantwortung an den Gott Apoll die gesamte Orakelmotivik aufgerufen und produktiv verarbeitet. Es ist also an unserer Stelle der Protagonist selbst, der sich – freilich als Antwort auf die Frage des Chors (v. 1328) – das theologisch-personifizierende Deutungs‐ schema zu eigen macht, mit dem die thebanischen Greise zu Beginn der Tragödie den Zustand Thebens (Parodos) oder die Situation des gesuchten Königsmörders (erstes Stasimon) ausgeleuchtet hatten. Eine tatsächliche Wiederaufnahme aus dem vierten Stasimon stellt dagegen der in Vers 1348 f. geäußerte Wunsch des Chorführers dar, Oidipus nie kennen‐ gelernt zu haben. Mit Blick auf die Situation des Protagonisten als eines auf die Hilfe eines Gegenübers angewiesenen Versehrten kommt der damit erneut be‐ kundeten Distanz des Chors gegenüber Oidipus eine besondere Brisanz zu. Ihre Steigerung erfährt diese distanzierte Haltung schließlich in den beiden Aussagen v. 1356 sowie 1367 f.: Stimmt der Chor an der ersten Stelle dem von Oidipus selbst entworfenen Szenario seines eigenen Todes im Kindesalter zu, so stößt der 128

Eine Aufarbeitung der mit diesem Komplex zusammenhängenden Fragen (v. a. „Wie beurteilt Oidipus seine eigene Verantwortung?“ und „Wie wird der Zuschauer die Ver‐ antwortung des Haupthelden einschätzen?“) einzig auf Grund der Aussagen des Prot‐ agonisten im vorliegenden Kommos wäre angesichts von Oidipusʼ anschließendem Monolog (v. 1369 – 1415) zudem kaum zulässig.

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III. Greisenchöre

Zweifel an dem von Oidipus gewählten Vorgehen der Selbstblendung auf har‐ sche Kritik von Seiten des Angesprochenen, der den Selbstmord des Haupt‐ helden favorisiert hätte. Die im vorangegangenen Standlied indirekt antizipierte Konfrontation des Chors mit dem Protagonisten hat so an unserer Stelle das problematische Verhältnis zwischen den beiden Akteuren offen gelegt. In seiner Motivik blickt der Kommos in besonderer Weise auf das vierte Sta‐ simon zurück, indem er es komplettiert und fortsetzt. Seinerseits beantwortet und fortgesetzt wird der Kommos im Folgenden durch den bereits angespro‐ chenen Monolog des Protagonisten in den Versen 1369 – 1415: Oidipus, der ge‐ genüber dem Chor seine Selbstblendung zu rechtfertigen sucht, rekurriert dort auf bereits im Kommos entfaltete Motive. So fragt er in direktem Anruf das Kithairongebirge, warum es ihn als Knaben nicht sofort getötet habe (v. 1392), was die Verfluchung des Überbringers aus Vers 1349 ff. und das angeschlossene fiktionale Szenario widerspiegelt. Zum anderen bildet die Aufforderung an die Choreuten, ihn nun so schnell wie möglich zu verbergen oder gar zu töten (v. 1410 ff.), ein Echo der Imperative in den Versen 1340 f. Wie bereits an anderen Stellen im Werk unseres Dichters129 erfolgt auch hier eine erneute Verarbeitung der in der lyrischen Partie bereits thematisierten Sachverhalte in einem an‐ schließenden Monolog des Akteurs, der mit dem Chor eben noch in lyrischem Austausch stand. Mit Blick auf die gesamte Partie soll Folgendes festgehalten werden. Sophokles zieht an unserer Stelle alle Register drastischer Szenenkomposition. Die sonst konventionelle, fast puristische Nutzung chorischer Passagen sowie der klare Aufbau des Stücks lassen die formal reichhaltig strukturierte Szene (anapästi‐ sche Partie mit anschließendem lyrischen Wechselgesang) im Kontrast umso wirkungsvoller erscheinen. Gerade vom ersten Wechselgesang, der in drei ein‐ zelne Gesprächssituationen zerfiel, setzt sich unsere Passage ab: Zwar ist die Sprecherzahl geringer, die umfassende Komposition aber, die auf ein Höchstmaß gesteigerte emotionale Intensität, der visuelle Eindruck und die schiere Aus‐ dehnung der Partie (fasst man den anapästischen Teil mit dem lyrischen Wech‐ selgesang zu einer Großpassage zusammen, kommt man auf 70 Verse) gestalten den Wiederauftritt des Protagonisten als drastischen Höhepunkt des gesamten Dramas. Ganz in den Fokus rückt dabei Oidipus als Zentralgestalt der gesamten Tragödie: Schon die visuelle Schockwirkung haftet dem Protagonisten an, sein

129

Vgl. den Monolog Tekmessas v. 284 ff. nach dem Amoibaion zwischen ihr und dem Chor im Aias, den Monolog der Titelheldin v. 254 ff. nach der umfangreichen dialogischen Parodos der Elektra sowie die Fortsetzung der ebenfalls dialogischen Parodos im Oidipus auf Kolonos durch den Monolog des Protagonisten v. 258 ff.

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blutüberströmtes Erscheinen ist das δεινὸν πάθος, das den Chor die Fassung verlieren lässt, zudem ist er selbst Ausdeuter seiner eigenen Situation. Er be‐ herrscht so die Szene sowohl in visueller als auch in sprachlich-formaler Hin‐ sicht, d. h. in den Punkten, die den vorliegenden Kommos als drastischen Kul‐ minationspunkt der Tragödie auszeichnen. Mit einigem Recht kann man die in Form eines Wechselgesangs komponierte Wiederauftrittsszene eine Protago‐ nistenszene mit Chorbegleitung nennen. Trotz seiner formal herausgehobenen Stellung ist der Kommos dabei sowohl in den Ablauf der Bühnenhandlung als auch die thematisch-motivische Struktur des Dramas eingebunden und nimmt im vorliegenden letzten Teil der Tragödie eine bedeutende Stelle ein. Der Kommos als eine feste Form chorischer Präsenz innerhalb der Tragödie ist so an unserer Stelle durch die poetisch-sprachliche Gestaltung im Einzelnen sowie durch seine Einordnung in den Ablauf des Dramas mit erheblicher dra‐ maturgischer Brisanz aufgeladen. Das Aufbrechen hemmungsloser Emotiona‐ lität, gekoppelt mit dem Höchstmaß an visueller Drastik, erfährt eine wirkungs‐ volle lyrische Ausgestaltung, die erneut die herausgehobene Stellung des Protagonisten unterstreicht und so den letzten Abschnitt der Tragödie einleitet. Exodos (v. 1369 – 1530)

Die ausgreifende Schlusspartie der Tragödie (über 160 Verse) können wir auch hier kurz behandeln. Nach der intensiven lyrischen Szene kommt dem Chor – bis auf die umstrittenen Schlussverse 1524 – 1530 – einzig die Auftrittsankündi‐ gung Kreons in den Versen 1416 ff. zu. Den Ausführungen des Protagonisten (v. 1369 – 1415) sowie der anschließenden Unterredung zwischen Oidipus und Kreon folgen die Greise ohne eigene Wortmeldung. Diese chorische Zurück‐ haltung ist inhaltlich und mit Blick auf den Ablauf des Stückes auch formal-dra‐ maturgisch zu erklären: Zum einen steht Oidipus nach seinem Wiederauftritt erneut ganz im Zentrum des Geschehens. Ihm als dem eigentlichen Handlungs‐ träger obliegt es, in einem ausführlichen (und durchaus emotionalen) Monolog seine Beweggründe darzustellen und so das Geschehen aus einer etwas abge‐ klärteren Perspektive nach dem hochemotionalen Kommos zu betrachten. Er ist dabei von seiner Tat so überzeugt, dass er sich jede Einmischung des Chors, d. h. gutgemeinte Ratschläge und Reflexionen, ausdrücklich verbittet (v. 1369). Der Monolog ist damit sozusagen innerdramatisch motiviert und entspricht dem Geltungsbewusstsein des tragischen Helden. Das folgende Gespräch mit Kreon, selbst geprägt durch zwei ausladende mo‐ nologische Partien von Seiten des Oidipus (v. 1446 – 1475 sowie 1478 – 1514), be‐ handelt seinerseits die ganz persönliche Zukunft des Oidipus und thematisiert erneut seine Stellung innerhalb der Familie (als Kind und Vater). Der Chor als

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III. Greisenchöre

Vertreter der Stadt Theben steht dem ähnlich unbeteiligt gegenüber wie der Unterhaltung zwischen Oidipus und seiner Frau / Mutter Iokaste, in deren Ver‐ lauf sich die Greise einzig zu einer Bewertung zu Wort gemeldet hatten (v. 834). Die bereits erwähnte harsche Antwort des Protagonisten an den Chor (v. 1369) mag zudem ein Motiv für die Zurückhaltung der Greise darstellen. Eine ausführliche Einordnung des Geschehens, zumal in lyrischer Form, ist ferner an unserer Stelle nach dem Kommos aus Sicht des Dichters nicht mehr notwendig. Im Sinne einer dramatischen Ökonomie verzichtet Sophokles be‐ wusst auf ein erneutes Chorlied (oder eine andere ausgreifende lyrische Partie), das ohnehin die drastische Wirkung des Wechselgesangs nicht erreichen und auch inhaltlich nur wenig bieten könnte, was über das bisher Gesagte hinaus‐ ginge. Zudem bleibt so die Symmetrie innerhalb der chorischen Partien über das gesamte Drama gesehen gewahrt. Erwähnt werden müssen an dieser Stelle die Schlussverse der Tragödie. Die einhellig überlieferten Verse 1524 – 1530 werden durch die codd. dem Chor,130 durch ein Scholion allerdings Oidipus selbst zugesprochen;131 die dürftige sprachliche Gestaltung des Abschnitts,132 sein gnomologischer Charakter und die Verwirrung um die Sprecherzuordnung haben verschiedentlich zu seiner Tilgung geführt.133 Auf dieser Basis wurde weiterhin angenommen, dass die uns vorliegenden Verse die originalen Schlussanapäste der Tragödie im Lauf der Überlieferung verdrängt haben könnten.134 Was ist unter unseren Gesichtspunkten zu diesem Problem zu sagen? Zu‐ nächst wird man sich B URTON anschließen, der die Schlussverse, wenn sie nicht als unecht getilgt werden, dem Chor, genauer dem Chorführer in den Mund legt. Dieser würde dann in einer letzten Wendung den Abgang des Protagonisten kommentieren und sich dabei an die anderen Choreuten, die Einwohner The‐ bens (πάτρας Θήβης ἔνοικοι) wenden. Dass dabei die abschließenden Worte des Chors am Ende einer Tragödie sich nicht durch gedanklichen Einfallsreichtum oder tiefschürfende Reflexion auszeichnen, lässt sich aus einem Vergleich mit anderen Dramen ersehen (z. B. Aias, Elektra oder Philoktet). Von diesem Stand‐ punkt aus muss, wie B URTON zu Recht erkennt, jede Verurteilung der Verse auf

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Dieser Zuordnung folgen L LOYD -J ONES /W ILSON in der neuesten OCT-Auflage (1990). Vgl. dazu D AWE s (1982) Anmerkungen S. 247 und B URTON s (1980) Diskussion S. 182 ff. sowie die Angaben ad locum in den kritischen Apparaten der Textausgaben. B URTON (1980) S. 184: „to modern taste the lines may appear dull in content, mediocre in expression, and unsatisfactory as an ending to one of the world’s greatest tragedies“. So v. a. P EARSON (1924) aber auch D AWE (1982) S. 247, der die Streichung der Verse in seinem Kommentar mit einiger Bestimmheit verteidigt. Vgl. D AWE (1982) a. a. O.

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Grund ihrer sprachlichen oder inhaltlichen Unangemessenheit subjektiv bleiben.135 Unter dramaturgischen Gesichtspunkten sind die Verse von untergeordneter Relevanz. Wie schon in den angeführten anderen Tragödien käme dem Chor bei der Beibehaltung des Abschnitts ein letzter Blick auf den Protagonisten zu, der noch einmal die immense Fallhöhe seiner Geschichte vor Augen führt. Das ab‐ schließende Diktum, niemanden vor dem Ende des Lebens glücklich zu preisen, könnte so als eine typisch allgemeingültige Phrase das Ende der Tragödie be‐ zeichnen. Rein aus formal-dramaturgischen Gründen ließe sich so gegen die überlieferten Verse nichts Gravierendes einwenden, wenn auch die direkte Wendung des Chorführers an die Greise eine (zumindest für die vorliegende Tragödie) ungewöhnliche Konstruktion darstellt. Das Stück allerdings unter Streichung der Verse 1525 – 1530 mit der letzten Äußerung Kreons ganz ohne eine allgemeine und umfassendere Aussage schließen zu lassen, halte ich mit Blick auf die anderen Tragödien unseres Autors für problematisch.136 Die Ansicht, dass originale Verse durch die uns vorlie‐ genden ersetzt wurden, kann diesem Missstand Abhilfe schaffen. Welche Entscheidung auch immer mit Blick auf die Textkonstitution dieser letzten Verse gefällt wird, eine wesentliche Änderung der dramaturgischen Im‐ plikationen ist nicht zu erwarten. Mit einigem Recht können wir daher davon ausgehen, dass auch der Oidipus Tyrannos mit einer allgemeingültigen und zu‐ sammenfassenden Äußerung geschlossen hat, die mit aller Wahrscheinlichkeit vom Chor oder dessen Anführer gesprochen wurde. Zusammenfassung

1. Zunächst zur Rollenidentität des Chors (Spektrum I). Wie in der Antigone repräsentieren die thebanischen Greise auch in der vorliegenden Tragödie das genuin politische, d. h. auf die Polis als den Rahmen der Handlung bezogene Moment: Sie bilden ein dem Stadtherrscher beigegebenes Beratungsorgan, das sich in besonderem Maß mit seiner Heimatstadt identifiziert und sich seiner Verantwortung um die Polis Theben bewusst ist. Die virulente Krise der Stadt ist dementsprechend Gegenstand der heftigen Sorge des Chors, wie sie bereits die Parodos verbalisiert (vgl. v.a. v. 168 ff.).

135 136

B URTON (1980) S. 184: „Any judgement on this point is likely to be subjective“. So enden von den sieben erhaltenen Tragödien einizg die Trachinierinnen nicht mit einer Äußerung des Chors. Allerdings schließt dort Hyllos das Drama mit einer allge‐ meinen, beinahe standardisierten Floskel (κοὐδὲν τούτων ὅ τι μὴ Ζεύς v. 1278).

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III. Greisenchöre

Als Repräsentant einer solchermaßen um die Polis besorgten kollektiven Identität spielt für die Greise das kultisch-religiöse Moment eine besondere Rolle: Die Einwirkung göttlicher Mächte auf das menschliche Tun, die der Stadt von Seiten bestimmter Schutzgottheiten entgegengebrachte bzw. von diesen er‐ betene Fürsorge sowie die Validität göttlicher Orakelsprüche sind feste Kon‐ stanten des Weltbildes der Greise und prägen die chorische Reflexion dement‐ sprechend maßgeblich. Darüber hinaus ist es den Greisen auf Grund ihres Alters sowie der festen Verwurzelung am Ort des Geschehens möglich, die Vorge‐ schichte (zumindest in Teilen) zu überblicken, was im Besonderen das vierte Stasimon mit seinem Rückblick auf Oidipusʼ Ankunft und seinen Sieg über die Sphinx (v. 1197 ff.) prägt. Ersehntes Ziel des Chors ist die Wiederherstellung der durch die als Befle‐ ckung verstandenen Seuche gestörten kultisch-politischen Ordnung in Theben. Dass die tieferen Ursachen derselben in der Person und Vorgeschichte des Oi‐ dipus liegen und Theben demnach keine genuin politischen Schritte zur Re‐ konstituierung der Ordnung einleiten muss, stellt eine gewisse Unterwanderung der Anspruchshaltung des Chors dar. Indem in der vorliegenden Tragödie dabei ab Iokastes Auftritt bzw. dem sich anschließenden Amoibaion (v. 634 bzw. 649 – 695) der Motivbereich „Mord an Laios / Tätersuche“ durch die schrittweise Fokussierung auf Oidipusʼ Herkunft und seine eigene Verstrickung verdrängt wird, geht damit auch eine gewisse Perspektivverschiebung der chorischen Re‐ flexion einher, die sich besonders in den ganz auf die Person des Haupthelden bezogenen Partien des dritten und vierten Stasimons sowie im Amoibaion (v. 1297 ff.) greifen lässt. 2. Im Mittelpunkt der Handlung steht Oidipus, sein Handeln in Vergangenheit und Gegenwart sowie sein spezifisches, mit der Polis Theben eng verknüpftes Schicksal. Auch wenn Oidipus dementsprechend die Bezugsperson des Chors darstellt, ist das Verhältnis zwischen den thebanischen Greisen und ihm nicht von besonderer emotionaler Bindung oder existenzieller Abhängigkeit, sondern durch die ihm entgegengebrachte, den Greisen rollenimmanente Loyalität ge‐ prägt. Grundlage dieser gegenüber dem Haupthelden eingenommenen bewusst subordinierten und dankbaren Position ist im Wesentlichen sein Verdienst um die Errettung der Stadt von der Sphinx, die für den Chor ein entscheidendes Moment in der Bewertung der Person des Heros sowohl vor als auch nach der Aufdeckung seiner wahren Identität darstellt. So ist die von Oidipus bei dieser Gelegenheit an den Tag gelegte Klugheit (σοφία) Anlass, auch angesichts von Teiresiasʼ Anschuldigungen weiter an die Unbescholtenheit des Stadtherrn zu

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glauben (v. 507 ff.),137 während der Triumph über die Sphinx innerhalb des Pa‐ noramas, das der Chor von Oidipusʼ Leben entwirft, den Moment größten Glücks darstellt (v. 1198 ff.). Die gemeinsame Identifikationsgrundlage zwischen Chor und Haupthelden bilden dabei die Polis und ihr Wohlergehen; zumindest im ersten Teil der Tragödie eint Chor und Haupthelden zudem der Wunsch nach Wiederherstellung der kultisch-politischen Ordnung. Der Chor ist dabei allerdings in keiner Weise ausschließlich an den zentralen Protagonisten gebunden, wie es die Bindung der Mädchen zu Elektra in bei‐ spielhafter Weise inszeniert. Die Gesprächssituation Protagonist-Chor ist viel‐ mehr gerade im ersten Teil der Tragödie auf ein Minimum beschränkt: Zu einem wirklichen Austausch zwischen Oidipus und dem Chor kommt es dabei nur im Anschluss an den Monolog des Protagonisten zu Beginn des ersten Epeisodions (v. 276 ff.); der einzige lyrische Austausch zwischen Oidipus und den Greisen innerhalb des ganzen Stücks ist dabei der Kommos nach Eintritt der Katastrophe (v. 1297 ff.). Das dem Stadtherrn von Seiten der Greise entgegengebrachte Ver‐ trauen ist durch die Aufdeckung der wahren Gegebenheiten allerdings verloren gegangen. Angesichts des komplexen und von gewisser Distanz geprägten Verhältnisses zwischen Chor und Hauptperson verwundert es nicht, dass die Figur des Oidipus nicht den expliziten Anknüpfungs- oder Bezugspunkt aller Chorlieder darstellt. Expressis verbis beschäftigen sich das dritte und vierte Stasimon mit dem Prot‐ agonisten, wobei diese Lieder sich in bereits bekannter Art um die Katastrophe bzw. deren Aufdeckung gruppieren (Lied mit hoffnungsfroher Stimmung – Klage und Jammer).138 Das erste Standlied bezieht sich in seinem zweiten Teil zudem konkret auf Oidipus, wohingegen sein erster Teil sowie das zweite Stand‐ lied ausschließlich implizite Andeutungen auf den Protagonisten enthalten. 3. Diese implizite, d. h. für den mit dem Mythos vertrauten Zuschauer und Leser durchschaubare Bezugnahme auf Oidipus als den Schuldigen ersetzt bis zu einem gewissen Grad die Einblendung hinterszenischer Aktion, wie sie in an‐ deren Tragödien139 eine Funktion chorischer Präsenz ist. Die Konstruktion der Handlung als einer vorwiegend durch den Protagonisten geleisteten schritt‐ weisen Aufdeckung von außerszenischen und weit außerhalb der im Drama dargestellten Zeit verorteten Geschehnissen bringt es mit sich, dass die wesent‐

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Vgl. auch den Verweis auf Oidipusʼ besondere Qualitäten als „Steuermann des Staats‐ schiffs“ im ersten Amoibaion v. 694 ff. Vgl. Antigone letztes Stasimon und Kommos Kreon-Chor. Vgl. im Besonderen die Tragödien mit bipolarer Handlung Trachinierinnen und Elektra, z.T. vergleichbar auch Antigone.

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III. Greisenchöre

liche Aktion vorderszenisch vonstattengeht; die Einblendung oder Andeutung hinterszenischer Vorgänge ist nicht nötig. Mehr noch: Das herausragende hin‐ terszenische Ereignis, die Selbstblendung des Haupthelden, vollzieht sich ohne Wissen des Chors; das zeitgleich gesungene vierte Stasimon enthält dement‐ sprechend einzig in der Motivik des Sehens in der zweiten Gegenstrophe (vgl. die Apostrophierung der „allsehenden Zeit“ v. 1213 sowie den vom Chor in Bezug auf Oidipus geäußerten Wunsch v. 1217 f.) einen besonders subtilen Hin‐ weis auf das Handeln des Haupthelden. Der spezifische Wissensvorsprung des Publikums gegenüber den Akteuren, der die Einordnung der Anspielungen auf Oidipus und die Deutung der ge‐ samten Handlung ermöglicht, beruht in der vorliegenden Tragödie auf dem mythologischen Vorwissen der Rezipienten, wohingegen der Prolog – anders als in den Intrigenstücken (Philoktet, Elektra, vergleichbar: Aias) – kein nur be‐ stimmten Akteuren zugängliches Wissen entfaltet hat. Mit Blick auf den Chor und seine Einbindung heißt dies: Die in das erste (und zum Teil in das zweite) Stasimon und die Parodos eingeflochtenen impliziten Andeutungen und Be‐ zugnahmen auf Oidipus sind nur dem Publikum verständlich, wohingegen die beteiligten Akteure selbst (bis auf Teiresias) dem eigentlich zu Grunde liegenden Sachverhalt unwissend oder gar ablehnend gegenüberstehen. Sophokles stellt so in den Chorliedern der dramatischen Handlung eine Sichtweise gegenüber, die nur der Rezipient ganz würdigen kann; indem so vor dem Auge des Zu‐ schauers und Lesers Oidipus selbst als Schuldiger und Hauptverantwortlicher hinter den Ausführungen des Chors aufleuchtet, wird die gesamte Tragödie mit einem Höchstmaß an dramatischer Ironie durchzogen. Dieser doppelte Boden gerade der chorischen Aussagen reichert die sonst auf einen Strang konzent‐ rierte und in dieser Hinsicht monoperspektivische Handlung140 soweit an, dass sich die der Struktur immanente Spannung („Wie lange dauert es bis zur Auf‐ deckung der Realität? Wie werden die Akteure reagieren?“) voll entfalten kann. Die schrittweise Konkretisierung der chorischen Andeutungen, die Annähe‐ rung an die Problematik der Oidipusfigur, wie sie sich vor allem im Vergleich zwischen dem ersten, (zweiten) und dritten Standlied sowie dem Eingeständnis der Katastrophe im vierten Stasimon zeigt, spiegelt so die Struktur der durch 140

Bezeichnend für die Fokussierung auf Oidipus und sein Schicksal ist, dass der Tod Io‐ kastes kaum ausführliche Beachtung findet. Der Auftritt des Protagonisten nach dem Botenbericht verdrängt alle anderen Gegebenheiten; selbst Kreon reflektiert in der ab‐ schließenden Szene nicht den Tod seiner Schwester, sondern beschäftigt sich ganz mit Oidipus, seinem weiteren Schicksal und den zu treffenden Anordnungen. Vgl. D AWE (1982) S. 237: „Our attention is so much fixed on the tragedy of Oedipus, and how it affects both him and those around him, that we do not notice how Creon expends no word of any kind on the recent suicide of his own sister“.

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Oidipus selbst geleiteten Aufdeckung seiner eigenen Verstrickung wider, un‐ tergräbt diese allerdings aus der Perspektive der informierten Rezipienten. Aus diesem Verhältnis erwachsen die immense dramaturgische Relevanz und die Tiefenwirkung der chorischen Partien. 4. Die in besonderer Regelmäßigkeit in den dramatischen Ablauf eingepassten Chorpartien bedienen sich sowohl imaginierender als auch begrifflich-thema‐ tischer Reflexionsstrategien und -zugänge (Spektrum II). Als im Wesentlichen imaginative Partien sind die Parodos (Schilderung der von der Seuche geplagten Stadt), das erste Strophenpaar des ersten Stasimons (der umherirrende, von den Orakelsprüchen verfolgte Mörder) sowie das dritte Stasimon (imaginierte Ju‐ belfeier sowie pittoreske Götterszene) zu nennen; eine thematisch-begriffliche Reflexion bieten dagegen das zweite Strophenpaar des ersten Stasimons (Prob‐ lematisierung der Vorwürfe des Teiresias) sowie das zweite Stasimon (Reflexion über Gottlosigkeit, Frevel und den Wert mantischer Aussagen). Das vierte Sta‐ simon schließlich vereint zu einem gewissen Grad beide Ansätze, indem es in einer grundsätzlich begrifflich-thematischen Reflexion über das generell jam‐ mervolle menschliche Schicksal (v. 1186 – 1192) einzelne exemplarische Schlag‐ lichter aus der Vergangenheit des Haupthelden einflicht und so zu einem an‐ schaulichen Panorama seines Schicksals wird. Während dementsprechend also das erste Stasimon in seiner bewussten Zweiteilung beide reflektorischen Stra‐ tegien nebeneinander stellt, verwebt sie das letzte Standlied zu einem umfas‐ senden Gesamtblick. Mit Blick auf die Chorpartien der vorliegenden Tragödie lässt sich so zusam‐ menfassen:141 Der Dichter lässt den Chor souverän über beide Reflexionsstra‐ tegien verfügen, was die Ausdeutung der thebanischen Greise besonders viel‐ fältig und abwechslungsreich macht; die Realisierung der einen oder anderen Strategie bzw. einer Mischform gehorcht dabei ganz der durch den Dichter be‐ absichtigten Wirkung der entsprechenden Passage. Gerade das Nebeneinander bzw. die poetisch anspruchsvolle Verwebung beider Ansätze in einzelnen Chor‐ partien wird dabei der prominenten Position der chorischen Reflexion innerhalb der Tragödie gerecht: Indem der Chor sowohl die dramatischen Gegebenheiten betrachtet, weiterdenkt und illustriert, als auch den der Handlung zu Grunde liegenden Momenten und Motiven in argumentativer Weise nachzugehen sucht,

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Die beiden Amoibaia können hier außer Acht gelassen werden, da es in ihnen zu keiner ausgreifenden Reflexion von Seiten des Chors kommt: Als Aktionsamoibaion dient das erste zur wirkungsvollen Inszenierung der Gelenkstelle, das Pathosamoibaion nach dem Wiederauftritt des Haupthelden ist dagegen ganz durch Oidipusʼ Ausdeutung der ei‐ genen Situation geprägt.

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III. Greisenchöre

ist er einerseits als aktiv am Geschehen Anteil nehmender Akteur, andererseits als polyvalentes dramaturgisches Werkzeug des Dichters fest im Gefüge des Stücks verortet. 5. Betrachten wir in aller Kürze die dramaturgischen Implikationen der Chor‐ partien (Spektrum III). Der Varietät hinsichtlich der grundlegenden Reflexi‐ onsstrategien entspricht die dramaturgische Polyvalenz der reflektierenden Passagen der vorliegenden Tragödie, deren Funktionalisierung sich kaum mit einem Schlagwort angeben lässt, da auch hier die beiden Stoßrichtungen (Fo‐ kussierung und Kontextualisierung) bald einander gegenübergestellt, bald mit‐ einander verwoben sind. Diesen besonderen Umstand erklärt ein Blick auf den grundlegenden Deutungsrahmen der chorischen Reflexion und sein Verhältnis zur Handlung selbst: Der Chor interpretiert das Bühnengeschehen im Wesent‐ lichen vor dem Hintergrund eines im Besonderen auf die Themen Apoll und Mantik rekurrierenden theologisch-religiösen Rahmens; konkret greifbar wird diese Deutung in der geradezu leitmotivischen „Theben-Delphi-Thematik“. Grundlage dieses reflektorischen Rahmens ist damit aber zugleich der die Hand‐ lung im Ganzen bestimmende und mit der Person und Geschichte des Haupt‐ helden untrennbar verbundene Komplex „Götterhandeln und Mantik“. Anders gesagt: Immer wenn der Chor das aktuelle dramatische Geschehen im spezifi‐ schen Rahmen der Theben-Delphi-Thematik verortet, es also theologisch-reli‐ giös kontextualisiert, reflektiert er zugleich über ein entscheidendes Moment der Handlung bzw. des Haupthelden selbst. Auch wenn die damit geleistete Fo‐ kussierung auf Oidipus den thebanischen Greisen bis zur Aufdeckung der wahren Verhältnisse nicht bewusst ist, stellt sie für das informierte Publikum ein wesentliches Charakteristikum der Reflexion dar. Kontextualisierung in‐ nerhalb des vom Chor aufgespannten Deutungsrahmens und Fokussierung auf die spezifische Gestalt des Haupthelden fallen so aus der Perspektive des Re‐ zipienten in vielen Fällen zusammen. Einige Beispiele sollen diesen für die vorliegende Tragödie besonders be‐ zeichnenden Umstand illustrieren. Bereits die Parodos ist geradezu doppelt funktionalisiert: Während die Ausleuchtung der Zustände in der von der Seuche heimgesuchten Stadt auf ein der Handlung immanentes Moment fokussieren, eröffnet die Anrufung der Götter den theologisch-religiösen Deutungsrahmen, vor dessen Hintergrund der Chor das Geschehen im Folgenden ausdeuten wird. Ähnlich verhält es sich mit dem ersten Stasimon: Dem gezielt auf die Ausei‐ nandersetzung zwischen Teiresias und Oidipus fokussierenden zweiten Stro‐ phenpaar geht im ersten Strophenpaar eine kontextualisierende Imagination voran, die eine Ausdeutung der tatsächlichen, den beteiligten Personen aller‐ dings unbewussten Situation darstellt und dementsprechend aus Sicht der Re‐

1. Oidipus Tyrannos

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zipienten ebenfalls auf Oidipus und seine Lage fokussiert. Schließlich berührt auch die kontextualisierende, dem unmittelbaren Geschehen etwas entrückte Reflexion des zweiten Stasimons ein Grundthema des gesamten Stücks. Wenn dort auch keine Nennung des Protagonisten oder anderer Akteure erfolgt, er‐ möglicht das Vorwissen des Publikums dennoch die Einordnung der Passage vor dem Hintergrund der tatsächlichen Begebenheiten und den zumindest indi‐ rekten Bezug auf die entscheidenden Personen der Handlung. Sophokles verleiht mit dem spezifischen Deutungsrahmen des Chors einem entscheidenden Moment der Handlung selbst dramatische Dauerpräsenz. An‐ ders gesagt: Die im Mittelpunkt der dramatischen Handlung stehende Figur des Oidipus ist zugleich Fluchtpunkt des der chorischen Reflexion zu Grunde lie‐ genden Deutungsrahmens. Das vierte Stasimon interpretiert dagegen das Schicksal des Oidipus vor einem anderen Hintergrund: Nicht die bis dahin vorherrschende ThebenDelphi-Thematik, sondern die Klage über die allgemeine Wandelbarkeit des menschlichen Schicksals bildet den Kontext, in den das Geschehen eingeordnet wird. Was zunächst wie eine Abkehr von gewohnten Deutungsmustern aus‐ sieht, erweist sich letztlich dennoch als geschickte Entscheidung im Sinne der chorischen Ökonomie: Im folgenden Amoibaion sowie der das Stück beschlie‐ ßenden Auseinandersetzung mit Kreon wird sich Oidipus den theologisch-reli‐ giösen Deutungsrahmen des Chors zu eigen machen; dieser Ausdeutung des eigenen Schicksals unter spezifisch chorischen Deutungskategorien ist dabei das vierte Stasimon als Kontextualisierung aus anderer Perspektive vorgeschaltet. Im Ganzen lässt sich festhalten, dass die chorische Reflexion des Oidipus Ty‐ rannos in besonderer Weise sowohl auf das Geschehen und den Protagonisten der Handlung fokussiert, als auch die so in den Blick genommenen Momente der Handlung in einem weiteren Deutungsrahmen verortet. Das Zusammen‐ fallen dieser beiden dramaturgischen Stoßrichtungen ist dabei nicht nur we‐ sentliches Charakteristikum der Chorführung, sondern als Grundlage für die Doppelbödigkeit der chorischen Äußerungen bestimmendes Moment der dieser Tragödie in besonderem Maße innewohnenden tragischen Ironie.

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III. Greisenchöre

2. Oidipus auf Kolonos Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur

Unter den sieben uns erhaltenen Tragödien des Sophokles nimmt der Oidipus auf Kolonos142 in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung ein. Das vorliegende Stück ist zunächst die umfangreichste Tragödie unseres Dichters.143 Neben dem Philoktet 144 ist er zudem das einzige Stück, dessen Aufführung sich sicher, d. h. durch äußere Indizien datieren lässt: Sie fand im Jahr 401 statt, d. h. vier bzw. fünf Jahre nach dem Tod des hochbetagten Dichters.145 Wir haben es also bei unserer Tragödie mit einer posthumen Produktion zu tun.146 Mit einigem Recht hat man im Oidipus auf Kolonos ein extremes Spätwerk des Sophokles, wahr‐ scheinlich sein letztes Drama gesehen. Was den Inhalt angeht, teilt sich die vorliegende Tragödie mit den Trachinie‐ rinnen sicher den letzten Platz allgemeiner Bekanntheit: Der Oidipus auf Kolonos bildet sozusagen das Fortsetzungsstück des weitaus bekannteren Oidipus Ty‐ rannos, wenngleich beide Tragödien nicht Bestandteil ein- und derselben Tri‐ logie waren.147 Die bekannten Sachverhalte des Oidipus-Mythos – Orakel, Aus‐ 142

143 144 145 146

147

Kolonos, der Schauplatz des Bühnengeschehens, ist ein Hügel nordwestlich des antiken Athens, auf dem sich ein Heiligtum des Poseidon und der Athene befand. Zudem ist der Hügel namensgebend für den Demos Kolonos, dem Sophokles selbst entstammte. Zu beachten ist weiterhin, dass es sich im vorliegenden Fall um den Κολωνὸς Ἵππιος han‐ delt, nicht um den (namensgleichen) Bezirk bzw. Hügel Κολωνὸς Ἀγοραῖος, der, wie der Name bereits erschließen lässt, wesentlich zentraler an der Westseite der Akropolis zu lokalisieren ist. (Vgl. M EYER (1979). „Kolonos.“ in: DKP Band 3, Sp. 275. ). Oidipus auf Kolonos: 1779 Verse, Oidipus Tyrannos 1530 Verse, Elektra 1510 Verse, Phi‐ loktet: 1471 Verse, Aias 1420 Verse, Antigone 1353 Verse, Trachinierinnen 1278 Verse. Die Aufführung des Philoktet fand 409 statt. Sophoklesʼ Geburt datiert man um 496, seinen Tod um 406 / 5, der Dichter wurde dem‐ nach rund neunzig Jahre alt. Die Produktion lag, den Angaben der Hypotheseis zufolge, in den Händen des gleich‐ namigen Enkels unseres Dichters, der ebenfalls Tragödien schrieb und aufführen ließ. (Es ergibt sich die Abfolge: Großvater Sophokles – Sohn Ariston – Enkel Sophokles.) Vgl. Hypothesis II bei P EARSON (1924) sowie L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) S. xv. Der wohl verbreitetsten Datierung des Oidipus Tyrannos folgend, die das Stück in die Jahre 429 – 425 setzt (vgl. E SPOSITO (2014b). „Sophocles: Oedipus Tyrannus (Οἰδίπους Τύραννος).“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy III, hrsg. v. R OISMAN (2014), Malden (MA), S. 1302 – 1309, S. 1306), liegen zwischen den beiden (uns bekannten) Oi‐ dipus-Dramen des Sophokles fünfundzwanzig bis dreißig Jahre. Überhaupt scheint es im Besonderen Sophokles gewesen zu sein, der systematisch Abstand von der aischy‐ leisch geprägten „Inhaltstrilogie“ genommen hat und im Rahmen des Agons drei ei‐ genständige, in sich abgerundete und je einen Mythos darstellende Tragödien zur Auf‐ führung gebracht hat.

2. Oidipus auf Kolonos

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setzung des Knaben, Tötung des Vaters, Sieg über die Sphinx, Ehe mit der Mutter, Selbsterkenntnis und Blendung – liegen zu Beginn des Stücks allerdings bereits in der Vergangenheit. Dargestellt werden einzig die letzten Geschehnisse vor dem Lebensende des Haupthelden im attischen Stadtbezirk Kolonos sowie die unmittelbare Reaktion seiner Töchter auf die Entrückung des Vaters. Ein kurzer Überblick soll den Nachvollzug der Tragödie im Einzelnen er‐ möglichen. Sophokles lässt die Tragödie mit der Ankunft des Haupthelden am Ort des Geschehens beginnen: Geführt von seiner Tochter Antigone trifft der blinde Oidipus im heiligen Bezirk am attischen Hügel Kolonos ein, wo sein Leben einer Weisung Apolls gemäß ein Ende finden wird. Der Chor der kolo‐ nischen Greise steht ihm allerdings zunächst mit starken Vorbehalten gegen‐ über: Oidipusʼ Eindringen in den geweihten Bezirk ist aus Sicht der Einheimi‐ schen nur mit Mühe zu tolerieren. Ismene, Oidipusʼ zweite Tochter, bringt ihrem Vater daraufhin Nachricht von den verheerenden Zuständen in Theben: Oidipusʼ Söhne haben sich heillos über die Herrschaft zerstritten; Kreon, Oidipusʼ Schwager, hat sich auf den Weg nach Athen gemacht, um ihn, Oidipus, zur Rückkehr nach Theben zu bewegen. Der kündigt allerdings an, sich standhaft jeden Ambitionen in dieser Richtung wi‐ dersetzen zu wollen. Der Aufforderung des Chors, Details seiner schauderhaften Vorgeschichte auszuführen, kommt Oidipus daraufhin zumindest andeutungs‐ weise nach – sehr zum Entsetzen der kolonischen Greise. Ihre Vorwürfe ange‐ sichts seiner Taten weist er allerdings mit Entschiedenheit zurück. Versöhnung bringt erst der Auftritt des attischen Königs Theseus: Er gewährt Oidipus Asyl, versichert ihn seines besonderen Schutzes und ordnet eine Entsühnungszere‐ monie an, die Ismene an Stelle ihres Vaters vornehmen soll. Im Gegenzug ver‐ sichert Oidipus ihn seiner Gewogenheit und stellt in Aussicht, dass sein Le‐ bensende vor Ort der Stadt von besonderem Nutzen sein werde. Die folgende Auseinandersetzung mit dem aus Theben nach Athen gekom‐ menen Kreon endet im Eklat: Um Oidipus zur Rückkehr und Parteinahme in seiner Sache zu zwingen, lässt Kreon Antigone und Ismene entführen. Erst die durch Theseus angestoßene militärische Rückholaktion führt Vater und Töchter wieder zusammen. Neues Ungemach droht Oidipus in der Folge von seinem Sohn Polyneikes, der sich ebenfalls nach Athen begeben hat und versucht, seinen Vater für die eigene Sache zu gewinnen. Oidipus erwehrt sich allerdings aller Versuche, ihn zu vereinnahmen, und belegt seine beiden Söhne mit einem Fluch: Sie werden beide im Kampf um Theben den Tod finden. Vater und Sohn gehen im Streit auseinander. Ein Donnergrollen kündigt daraufhin Oidipusʼ Lebensende an: In einer fi‐ nalen Unterweisungsszene instruiert der Hauptheld seinen Gastgeber Theseus

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III. Greisenchöre

hinsichtlich gewisser, sein eigenes Grab betreffender Vorkehrungen, bevor Oi‐ dipus selbst den Zug zum Ort der Entrückung im Inneren des Hains, d. h. im hinterszenischen Bereich anführt. Einem Botenbericht des mystischen Gesche‐ hens folgt daraufhin der Wiederauftritt der Töchter, die das Schicksal ihres Va‐ ters sowie ihre eigene Lage bedauern; Theseus kommt es zu, den jungen Frauen Trost zu spenden und sie wieder nach Theben zu schicken. Mit dem solcher‐ maßen zielgerichteten Auszug des Personals endet die Tragödie. Hinsichtlich der Personen lassen sich in der vorliegenden Tragödie zwei Gruppen einander gegenüberstellen: Der Chor der kolonischen Greise, der „Fremde“ (ξένος)148 des Prologs, der Stadtherr Theseus sowie der Bote bilden das einheimische Personal, Oidipus, Antigone, Ismene, Kreon und Polyneikes stammen dagegen aus Theben. Bis auf Oidipus selbst, der am Ort des Geschehens sein Leben beenden wird, werden alle Thebaner dabei Athen spätestens am Ende der Tragödie wieder verlassen. Mit dem thebanischen Personal ist zudem der Kreis der noch lebenden engsten Familienangehörigen des Haupthelden um‐ rissen (seine Mutter / Frau Iokaste hatte sich ja nach Aufdeckung der wahren Identität das Leben genommen). Die Familie ist allerdings zutiefst zerstritten: So bilden zwar die beiden Schwestern mit ihrem Vater Oidipus eine „Partei“, die beiden Brüder sind allerdings sowohl untereinander verfeindet als auch mit ihrem Vater entzweit, wohingegen Kreon seinerseits sowohl mit seinen Neffen Eteokles und Polyneikes als auch mit seinem Schwager Oidipus in Konflikt steht. Schließlich kommt es auch zwischen den Athenern und den Thebanern im Lauf der Tragödie zu konfliktreichen Situationen, da sowohl die Ankunft des Oidipus wie auch die Versuche der Familienangehörigen, den Haupthelden zu instru‐ mentalisieren, (zunächst) auf entschiedenen Widerstand von Seiten des Chors stoßen. Der Handlung ist so ein immenses Konfliktpotential einbeschrieben. Die vorliegende Tragödie ist im besten Sinne episodisch aufgebaut: Zwischen der Ankunft des Protagonisten und seinem Abschied bildet das Eintreffen ver‐ schiedener Charaktere (Chor, Ismene, Theseus (wiederholt), Kreon, Polyneikes), sowie die Auseinandersetzung derselben mit dem bis zum vierten Stasimon dauerpräsenten Haupthelden das wesentliche Strukturmerkmal des solcher‐ maßen weitestgehend linearen, d. h. durch eine Folge ähnlich gebauter Szenen 148

„Fremd“, d. h. „ausländisch“ ist der Athener, der den Ankömmlingen im Prolog grund‐ legende Informationen gibt, freilich nur aus Oidipusʼ bzw. Antigones Perspektive; die Benennung der Rolle als ξένος mag von der Anrede durch Oidipus in Vers 33 (ὦ ξεῖνʼ) beeinflusst sein. Dabei stellt ξένος eine gängige Anrede von Personen dar, deren Namen man nicht kennt, die einem dementsprechend „fremd“ sind (vgl. LSJ s.v. III, b „as a term of address to any stranger“). L LOYD -J ONES (1994) übersetzt der angenommenen Profes‐ sion des Mannes gemäß durchgängig „peasant“, also „Bauer“ bzw. „Landmann“.

2. Oidipus auf Kolonos

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komponierten Dramas. Es wird im Besonderen zu zeigen sein, welche Funktion den mit einiger Regelmäßigkeit in den Ablauf der Handlung eingesetzten cho‐ rischen Passagen zukommt. Interpretation Prolog (v. 1 – 116)

Der blinde und alte Oidipus kommt, gestützt und geführt durch seine Tochter Antigone, nach längerer Wanderung an den Ort des Geschehens, der sich im weiteren Verlauf als Hain der Eumeniden herausstellen wird. Hier möchte Oi‐ dipus ruhen und bittet Antigone, sich nach einer Sitzmöglichkeit umzusehen (v. 9 ff.). Diese sorgt sich um ihren Vater, erkennt die Türme Athens in der Ferne und vermutet, in einen heiligen Bezirk eingetreten zu sein (v. 14 ff.). Den Ort selbst allerdings vermag sie nicht näher zu bestimmen oder zu benennen (v. 24). Bevor sie allerdings aufbrechen kann, um weitere Informationen einzu‐ holen, sieht sie einen Mann nahen, dessen Ankunft sie ihrem Vater schildert. In Vers 33 tritt Oidipus daraufhin in einen Dialog mit dem hinzugetretenen Fremden, der ihn sofort auf die Problematik der momentanen Situation hinweist: Oidipus sitzt tatsächlich in einem „unberührbaren und unbewohnten“ (ἄθικτος οὐδʼ οἰκητός v. 39) Bezirk, der den furchteinflößenden Eumeniden geweiht ist. Der Aufforderung, sich von seinem Sitz zu erheben und so den heiligen Boden zu verlassen, kommt der Greis allerdings nicht nach. Ihn jedoch ohne Beauftra‐ gung von offizieller Seite (πόλεως δίχʼ v. 47 f.) zu vertreiben, maßt sich der Fremde nicht an. Er verspricht vielmehr, Oidipus mit der gebührenden Ehre zu behandeln, und referiert im Folgenden, zunächst in Form eines Monologs (v. 53 – 63), dann im Zwiegespräch mit Oidipus (v. 64 – 74), einige wesentliche In‐ formationen, die die Lokalisierung des Bühnengeschehens ermöglichen: Man befinde sich in Kolonos, einem nach seinem Lokalheros benannten Bezirk am Rand Athens, der Landstrich sei bewohnt und werde, wie die gesamte Stadt, von Theseus beherrscht. Oidipus bittet daraufhin, dem Herrscher seine Ankunft zu melden, was der attische Fremde schließlich zusichert. Zwar ist ihm der von Oidipus selbst in Aussicht gestellte Nutzen seiner Anwesenheit in Athen nicht ersichtlich, dennoch weist er den blinden Greis an, hier zu warten, bis er an gegebener Stelle Meldung gemacht habe. In Vers 81 verlässt der Fremde da‐ raufhin das Geschehen. Oidipus versichert sich, nun mit seiner Tochter erneut allein zu sein (v. 81 – 83), und ruft daraufhin die Erinyen an. Im umfangreichsten Monolog des Prologs (v. 84 – 110) bittet er die Gottheiten um ihr Wohlwollen und referiert die an ihn ergangene Weisung Apolls: Der Gott habe ihm hier, am äu‐ ßersten Ende des Landes (χώραν τερμίαν v. 89), eine Ruhestatt (παῦλαν v. 88)

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III. Greisenchöre

verheißen, wo er sein elendes Leben beenden werde (κάμψειν τὸν ταλαίπωρον βίον v. 91). Dabei werde er denen, die ihn aufnehmen, von Vorteil sein, denen allerdings, die ihn fortschickten, Unheil bringen. Dass er den Weg gerade in diesen heiligen Bezirk gefunden habe, erkennt er mittlerweile als Fügung der Erinyen selbst (v. 96 ff.). Dementsprechend gipfelt sein Monolog in den wieder‐ holten Anrufungen der Göttinnen, die er zunächst um die Beendigung seines Lebens (βίου πέρασιν), eine Wende (καταστροφήν τινα v. 102 ff.) und schließlich um ihr Mitleid (οἰκτίρατʼ v. 109) bittet. Neben die „lieblichen Kinder der alten Dunkelheit“149 (v. 106), d. h. die Rachegöttinnen, tritt dabei Athen selbst, die „eh‐ renvollste aller Städte“ (v. 107), als Adressatin des inständig formulierten Gebets. Den Schlusspunkt des Monologs bildet eine vernichtende Selbsteinschätzung des Protagonisten: Das erbetene Mitleid solle sich auf ihn, „dieses jammervolle Abbild des Oidipus“ erstrecken, denn seine einstige Gestalt (τὸ ἀρχαῖον δέμας v. 110) biete er nicht mehr. Antigone mahnt daraufhin ihren Vater zu schweigen; sie hat wahrge‐ nommen, dass sich ältere Männer, Aufseher der Örtlichkeit, dem Geschehen nähern. Oidipus verspricht zu schweigen und begibt sich mit Hilfe seiner Tochter in ein Versteck, um dem Auftritt der Choreuten zunächst unerkannt folgen zu können. Mit Vers 117 beginnt daraufhin der Chor die Parodos. Rekapitulieren wir einige Punkte des Prologs, die für die weitere Betrachtung wichtig sind. Die Tragödie beginnt, wie auch Elektra und Philoktet, mit einer Ankunftsszene. Im vorliegenden Drama ist es der Protagonist selbst, dessen ef‐ fektvolles Auftreten den Beginn der Handlung markiert. Von Anfang an ist damit die für das Drama zentrale Rolle des Oidipus etabliert: Er beherrscht das Geschehen des Prologs, ist zentraler Gesprächspartner und repräsentiert mit seiner jammervollen Erscheinung selbst einen Teil der Vorgeschichte. Seine Po‐ sitionierung auf der Bühne wird so zur Verortung des gesamten Geschehens in räumlicher und zeitlicher Dimension. Die Blindheit des Haupthelden lässt dabei die nötige Informationsweitergabe bezüglich Ort und Zeit der Handlung zu einem Moment des Prologgesprächs werden, das ganz und gar der inneren Not‐ wendigkeit der Handlung und ihrer konstituierenden Merkmale entspringt. Anders gesagt: Was dem Zuschauer nicht schon auf Grund der Erscheinung und der Selbstaussagen des blinden Oidipus klar ist (v.a. v. 1 – 6, die die Identität der aufgetretenen Figuren klarstellen), entfaltet das Gespräch zwischen den Ak‐ teuren, das innerdramatisch ja gerade der Information des Oidipus dient. 149

K AMERBEEK (1984). The Plays of Sophocles, Commentaries Part VII The Oedipus Co‐ loneus, Leiden, S. 38 macht den Euphemismus dieser Anrede besonders deutlich, wenn er zu γλυκεῖαι festhält: „an almost shocking epithet for the Erinyes“.

2. Oidipus auf Kolonos

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Die Exposition entwickelt sich dabei geradezu schrittweise über das erste Gespräch des Protagonisten mit Antigone und die weitere Klärung grundle‐ gender Umstände im Austausch mit dem Fremden bis zur umfassenden Aus‐ deutung der Situation im Licht der Voraussagen Apolls durch Oidipus selbst. Dem Monolog des Protagonisten am Schluss des Prologs (v. 84 – 110) kommt dabei besondere Bedeutung zu: Die innerhalb des Prologgesprächs gegebenen Informationen werden hier gebündelt und erfahren aus Sicht des Protagonisten ihre besondere Ausleuchtung. Der grobe Fortgang der Bühnenhandlung sowie ihr Ziel sind damit im Wesentlichen abgesteckt, das Geschehen in einen grö‐ ßeren, theologisch verankerten Kontext gestellt. Dass hierbei gerade Oidipus selbst diese Einordnung vornimmt, unterstreicht die Wichtigkeit seiner Person und wertet die Rolle in ihrer dramatischen Funktion weiter auf: Es ist der Prot‐ agonist, der die Handlung anstößt, sich über die Gegebenheiten informiert und die Einordnung der Sachverhalte in einen größeren Kontext leistet. Er hält damit die Fäden des Geschehens in der Hand. Es ist bereits im Prolog deutlich geworden: Aktion auf der Bühne ist wesent‐ lich Konfrontation mit Oidipus, Auseinandersetzung mit und über ihn; nur in Bezug auf Oidipus und seine Geschichte findet Bühnengeschehen statt. Anders gesagt: Mit Oidipus betritt der Mittelpunkt der Handlung selbst die Bühne: Sein Ankommen ist der Anstoß des Bühnengeschehens, er ist zugleich Hauptakteur, zentraler Gegenstand des Gesprächs und Deuter der eigenen Situation und damit das dramatische Zentrum, auf das sich alle Handlung bezieht. Mit Oidipusʼ Bitte um das Mitleid der Erinyen und der Stadt Athen ist der Prolog zu einem gewissen Ruhepunkt gekommen: Die wesentlichen Informationen sind mitgeteilt, die Hauptperson in Szene gesetzt, das Geschehen in mehrfacher Hinsicht verortet. Zum Fortgang der Handlung bedarf es nun, nachdem das Prologgeschehen aus sich heraus eine Rundung erfahren hat, eines Anstoßes von außen. Die Ankündigung des Fremden, Oidipusʼ Ankunft an gegebener Stelle zu melden (v. 75 ff.), entfaltet daraufhin ihre Funktion als Handlungsimpuls und motiviert den Auftritt der Choreuten in Vers 117. Durch das Herannahen des Chors wird dabei die intime Gesprächssituation Oidipus-Antigone erneut durchbrochen. Der Rückzug der beiden Akteure in ein Versteck (wohl die im

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III. Greisenchöre

hinteren Teil der Bühne angedeutete Grotte der Erinyen150) markiert daraufhin entschieden das Ende der Prologsituation und evoziert zunächst die Situation einer rein chorischen Parodos. Dass sich dabei das Auftrittslied des Chors zu einer umfangreichen Ensembleszene weiten wird, ist allerdings aus der Ankün‐ digung des Oidipus (v. 114 f.) bereits abzusehen. Schließlich gibt er an, nun zu schweigen, bis er die Worte der Herannahenden einzuordnen weiß. Die Kon‐ frontation des Chors mit dem Protagonisten rückt so unmittelbar in die Erwar‐ tung des Publikums. Parodos (v. 117 – 253)

Die Auftrittsszenerie des Chors ist eine lyrische Passage von erheblicher Aus‐ dehnung.151 Unter formalen Gesichtspunkten lassen sich vier größere Ab‐ schnitte bezeichnen: So entsprechen sich metrisch zunächst die Verse 117 – 137 und 150 – 169;152 sie bilden ein erstes Strophenpaar, in dessen Mitte eine anapäs‐ tische Partie (v. 138 – 149) eingeschaltet ist. Strophe und Gegenstrophe fallen dabei in Gänze dem Chor zu, während im anapästischen Mittelteil ein Austausch des Chors mit Oidipus stattfindet. Eine erneute anapästische Passage (v. 170 – 175) im Anschluss an die Gegenstrophe stellt den kurzen Wortwechsel zwischen Oidipus und seiner Tochter dar und leitet zum zweiten lyrischen Ab‐ schnitt über. Die sich anschließenden Verse 176 – 187 sowie 192 – 206 geben mit Blick auf eine mögliche strophische Komposition Schwierigkeiten auf.153 Zwar sind be‐ züglich Metrik und Sprecherverteilung einige Entsprechungen zwischen den angegebenen Teilen signifikant, eine exakte Korrespondenz lässt sich allerdings nur unter Eingriffen in den überlieferten Text herstellen. Am schwersten wiegt dabei die Annahme, dass zwischen v. 183 und 184 vier Verse ausgefallen sein müssten, um die Analogie zu v. 197 ff. zu gewährleisten. Während sich P EARSON (1924), D AWE (1979) und L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) in ihren Textausgaben

150

151 152 153

Vgl. J EBB (1928). Sophocles The Plays and Fragments with critical notes, commentary and translation in English prose: Part II The Oedipus Coloneus, Cambridge (repr. of 1900), S. 10: „The back-scene shows the sacred grove of the Eumenides“ und K AMER‐ BEEK (1984) S. 24: „They [i.e. Oidipus und Antigone] are understood to arrive in front of the sacred grove of the Eumenides at Colonos“. K AMERBEEK (1984) S. 7: „Parodos […] in the form of a long and complicated kommatic structure“. Zur genaueren Analyse der Metrik verweise ich erneut auf die einschlägigen Kom‐ mentare und Nachschlagewerke (im Besonderen J EBB (1928) und K AMERBEEK (1984)). Vgl. dazu J EBB (1928) S. 38, K AMERBEEK (1984) S. 39 sowie die Diskussion bei L LOYD -J ONES /W ILSON S OPHOCLEA (1990) S. 223.

2. Oidipus auf Kolonos

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sowie J EBB (1928) in seinem Kommentar für eine lacuna aussprechen,154 ist K A‐ MERBEEK (1984) zurückhaltend und votiert für eine flexiblere Lösung: It would seem better to speak not of strict responsion between strophe and antistrophe but of two parts that have much in common […] and to consider the whole passage from 176 to 206 […] as a transition from the formally stricter structure 117 – 176 to the entirely astrophic part 207 – 253.155

Ohnehin seien zum Verständnis der Passage keine weiteren Verse nötig.156 Ob dieses Argument allerdings schlagkräftig genug ist, muss dahingestellt bleiben; auch die Annahme einer umfangreichen, metrisch nur in einigen Punkten kor‐ respondierenden Partie ist letztlich kaum zu beweisen, schon allein da es keine vergleichbar gestalteten Passagen in den uns überlieferten Sophoklestragödien gibt.157 Ein freierer Abschnitt als Übergang vom regulierten Strophenschema hin zur astrophischen Epode wäre dabei sicherlich ein Ausweis besonderer Kom‐ positionsabsicht. Im Ganzen allerdings bleibt die Annahme dieser außergewöhnlichen und ge‐ radezu innovativen Gestaltung Spekulation; es bietet sich an, mit aller Vorsicht den genannten Herausgebern zu folgen und auch an dieser Stelle von einem Strophenpaar zu sprechen (v. 176 – 187; 192 – 206), in das erneut ein kurzes ana‐ pästisches System (v. 188 – 191) eingeschoben wurde. Der dritte Abschnitt in den Versen 207 – 236 stellt schließlich die bewegte Wechselrede zwischen Oidipus und dem Chor dar (v. 207 – 227),158 an die sich eine umfangreichere Äußerung des Chors anschließt (v. 229 – 236). Die strenge stichomythische Form des lyrischen Austauschs wird nur durch die beiden

154 155 156 157

158

Die Lösungen der einzelnen Herausgeber bzw. Kommentatoren differieren dabei teil‐ weise in einigen Punkten. So ist die genaue Lokalisierung der lacuna ebenso umstritten wie die Sprecherverteilung im Einzelnen. K AMERBEEK (1984) S. 39. „For the sense the assumption of a lacuna seems hardly necessary“ a. a. O. Als gänzlich astrophische Chorpartie gilt das Lied innerhalb des ersten Epeisodions der Trachinierinnen (v. 205 – 224); eine astrophisch komponierte Epode beschließt zudem den Wechselgesang zwischen Philoktet und dem Chor (v. 1169 – 1217). Eine gewisse Parallele zur generellen Problematik bildet das Amoibaion am Ende der Elektra, wo die Verse 1428 – 1431 durch massiven Textverlust entstellt sind. Vers 217 ist in seiner Sprecherzuweisung umstritten: Während die codd. den Vers An‐ tigone in den Mund legen und sie so der Aufforderung ihres Vaters (v. 216) nachkommen lassen, präferieren L LOYD -J ONES /W ILSON S OPHOCLEA (1990) S.  224 an dieser Stelle mit folgender Begründung den Chor: „[…] when she [Antigone] does burst into speech (237 f.), the effect will be all the more powerful for having kept silence here and after 225. In any case these words, with their undercurrent of menace […], must be given to the Chorus“.

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III. Greisenchöre

Doppelverse 210 f. sowie 214 f. unterbrochen und erfährt durch die gegensei‐ tigen Unterbrechungen, die Einwürfe von Klageinterjektionen und den raschen Sprecherwechsel (vgl. v. 212 und v. a. 220 ff.) eine besondere Dynamisierung. Damit kontrastieren die geradezu apodiktisch nur vom Chor vorgetragenen Verse 229 – 236, auch wenn sie inhaltlich die äußerste Konsequenz der ohnehin aufgebrachten Stimmung, d. h. den Fortgang des Oidipus einfordern. Dazu al‐ lerdings unten mehr. Der überlieferte Text des vierten Teils bietet schließlich eine Besonderheit: Eine Solomonodie Antigones von erheblicher Ausdehnung (v. 237 – 253) schließt die lyrische Großpassage. Die Authentizität dieses μέλος ἀπὸ σκηνῆς159 war schon in der Antike umstritten; so bemerken bereits die Scholien die Athetese der Verse 237 – 253 mitsamt den anschließenden anapästischen Versen des Chors 254 – 257,160 wenn auch die Ausgabe des Didymos sie für unverdächtig gehalten haben muss.161 Allerdings votiert die Mehrzahl der modernen Herausgeber (u. a. D AWE, P EARSON, L LOYD -J ONES /W ILSON) für die Beibehaltung der Verse, wie sie auch von J EBB und K AMERBEEK162 unterstützt wird. Die ausführliche Beschäfti‐ gung mit der Partie im Anschluss soll auch der Frage einer möglichen Streichung nachgehen, da sie unter dem Gesichtspunkt der von Sophokles an den Tag ge‐ legten Kompositionsabsicht von einigem Interesse ist. In unserem überlieferten Textbestand meldet sich jedenfalls im Anschluss an Antigones Ausführungen der Chor mit vier iambischen Versen (254 – 257) zu Wort, worauf Oidipus seinen umfangreichen Monolog beginnt. Die einzelnen Teile der Passage sind damit bezeichnet. Eine Tabelle soll zur erneuten Verdeutlichung dienen:

159 160 161

162

So J EBB (1928) S. 47. Vgl. den textkritischen Apparat der Ausgabe von L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) ad locum. Vgl. den Apparat von D AIN /M AZON (1960). Sophocle: Texte établi et trad. III Philoctète – Œdipe à Colone, Paris, S. 88 ad locum sowie J EBB (1928) S. 74, der zum Fehlen jeglicher Obelisierung bei Didymos anmerkt: „This is important, as making it most improbable that the ἀθέτησις rested on the absence of these verses from the older Alexandrian copies“. J EBB (1928) S. 47: „Though the text is doubtful in some points, the internal evidence cannot be said to afford any good ground for suspicion“. K AMERBEEK (1984) S. 54: „Whoever wanted to reject 237 – 259 […], was ill-advised. […] Who else, moreover, if not the poet himself, could have combined, with such a degree of refinement, the various metrical patterns of the Parodosʼ preceeding parts in the texture of this final monody?“

2. Oidipus auf Kolonos

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Verse

Sprecher

Metrik

Stropheneinbindung

Ab‐ schnitt

117 – 137

Chor

„lyrische“ Maße

Strophe A

I

138 – 148

Oidipus, Chor

Anapäste

keine

150 – 169

Chor

„lyrische“ Maße

Strophe Aʼ

170 – 175

Oidipus, Antigone

Anapäste

keine

Überlei‐ tung

176 – 187

Chor, Oidipus, Anti‐ „lyrische“ Maße gone

Strophe B

II

188 – 191

Oidipus

keine

192 – 206

Chor, Oidipus, Anti‐ „lyrische“ Maße gone

Strophe Bʼ

207 – 227

Oidipus, Chor

„lyrische Stichomy‐ thie“ mit anapästi‐ schen Teilen

keine

229 – 236

Chor

„lyrische“ Maße

keine

237 – 253

Antigone

„lyrische“ Maße

Solomonodie

Anapäste

III

IV

Es ist an diesem Punkt deutlich geworden: Die Auftrittsszenerie des Chors ist eine kunstvoll komponierte Zusammensetzung verschiedener Formteile. Nach dem geradezu standardisierten, d. h. rein chorischen Beginn weitet sich die Partie zu einer umfangreichen Ensembleszene unter Beteiligung von zwei Schauspielern und dem Chor, bis sie schließlich in einer lyrischen Monodie aus‐ klingt. Beim Nachvollzug der Partie hinsichtlich der in ihr geleisteten motivischen Arbeit sowie ihrer sprachlichen Gestaltung werden im Besonderen die Ab‐ schnitte des Chors von Interesse sein, während die dialogischen (und monodi‐ schen) Partien kursorisch abgehandelt werden können.163 Abschließend wird dann die dramaturgische Einordnung der gesamten Partie erfolgen und beson‐ ders ihr Verhältnis zum Prolog herausgestellt werden. Der Auftritt des Chors ist von herausragender Dynamik, ja geradezu nervöser Erregtheit bestimmt: Mit dem prominent an den Beginn der Parodos gestellten

163

Die ausführlichere Behandlung der abschließenden Solomonodie und der Frage ihrer Authentizität steht dem nicht entgegen, da mit der Entscheidung für oder gegen die Beibehaltung der Partie die Komposition und Gesamtwirkung der Parodos aufs Engste zusammenhängt.

538

III. Greisenchöre

Imperativ ὅρα (v. 117) fordern sich die Choreuten selbst auf, das betretene Ge‐ lände genau zu betrachten. Das Ziel ist dabei, den Fremden, von dessen Ankunft sie gehört haben, ausfindig zu machen. Die Identität des in Rede Stehenden ist den Choreuten dabei noch nicht bekannt. So folgen auf den ersten Imperativ drei basale Fragen –„Wer war er?“ (τίς ἄρʼ ἦν;), „Wo wohnt er?“ (ποῦ ναίει;), „Wo hält er sich auf?“ (ποῦ κυρεῖ;) – , wobei das Bild, das sich die Greise vom Ge‐ suchten machen, bereits konturierte Züge trägt. So apostrophieren sie ihn als „verjagten Ausländer“ (ἐκτόπιος συθείς) und als den „Unersättlichsten von allen“ (ὁ πάντων ἀκορέστατος) – letzteres durch die Wiederholung des parti‐ tiven Genetivs besonders betont. Die sich anschließende Kette dreier Imperative (προσδέρκου, προσφθέγγου sowie προσπεύθου) schließt an ὅρα vom Beginn der Strophe an und setzt so die Selbstaufforderung des Chors fort. Die sprach‐ liche Komposition fällt dabei besonders ins Auge und ist geradezu überdeutlich: Das Spiel mit der Assonanz der Vorsilbe προσ- in προσδέρκου und προσπεύθου setzt sich als Alliteration des π in πανταχᾷ, dem sich anschließenden verdop‐ pelten πλανάτας sowie πρέσβυς fort und findet ihren Abschluss in προσέβα (v. 125). Die geradezu fieberhafte Suche nach dem Umherirrenden findet so ihre wirkungsvolle Ausgestaltung. Dass es sich nicht um einen Einheimischen (οὐδʼ ἔγχωρος v. 124 f.) handeln kann, steht für den Chor außer Frage: Ein um die Heiligkeit des Ortes Wissender hätte diesen Bezirk der Eumeniden nie betreten. Diese im negativen Sinn „unwiderstehlichen Mädchen“ (ἀμαιμακετᾶν κορᾶν) nur zu nennen, löst beim Chor Erschauern aus (τρέμομεν). So passieren die Greise das fragliche Gebiet nur ohne hinzuschauen und ohne zu sprechen, indem sie kein Wort ihrer andächtigen Gedanken verlauten lassen. Die klangvolle An‐ einanderreihung der Adverbien ἀδέρκτως, ἀφώνως und ἀλόγως (v. 130 f.) ver‐ leiht der Scheu gegenüber den Gottheiten ihren Ausdruck und mag ihre Reali‐ sierung in einer demutsvollen Geste in Richtung der auf der Bühne angedeuteten Grotte gefunden haben. Nun aber gebe es das Gerücht (λόγος v. 134), es sei jemand hier angelangt, der gegenüber nichts Ehrfurcht an den Tag lege (οὐδὲν ἅζονθʼ); diesen Menschen aber vermag der Chor trotz intensiven Umschauens (λεύσσων v. 135) im ganzen heiligen Bezirk nicht zu finden. Wo er sich aufhält, bleibt den Greisen so zu‐ nächst unklar. Die diesmal abhängige Frage ποῦ μοί ποτε ναίει; v. 137 greift dabei die Frage aus Vers 117 wieder auf und rundet die Strophe ab. Aufgetreten ist somit ein Chor, der von der Ankunft eines Fremden und damit vom Handlungsimpuls des sich entfaltenden Bühnengeschehens gehört hat. Seine ganze Konzentration gilt in dieser ersten Strophe dem Gesuchten, den die Zuschauer bereits als Protagonisten des Dramas kennengelernt haben. Das Vor‐ wissen der Greise über Oidipus wird dabei bewusst ambivalent in der Schwebe

2. Oidipus auf Kolonos

539

gehalten: Zwar vermuten sie hinter dem Eindringling einen unersättlichen Fremden, vor dessen Wagemut sie selbst zurückschrecken; die genaue Identität und damit die verhängnisvolle Vorgeschichte ist dem Chor allerdings unbe‐ kannt. Dieser spezifische Wissenstand der Greise ist dabei wie ihr Auftreten selbst innerdramatisch begründet: Eine Mischung aus Neugierde und Ungläu‐ bigkeit scheint sie dazu getrieben zu haben, der Botschaft von der Ankunft eines Auswärtigen auf den Grund zu gehen. Diese Konstruktion des halbwissenden Chors ermöglicht es dem Dichter, die Handlung nach dem Prolog geradezu neu beginnen zu lassen:164 Die Themati‐ sierung der Ankunft des Oidipus aus der rückblickenden Perspektive des Chors stellt das Geschehen vom Beginn des Prologs erneut vor Augen. Die mit gera‐ dezu plakativen sprachlichen Mitteln ausgeformte Intensität der Suche macht eine effektvolle Konfrontation des Chors mit dem Protagonisten unvermeidlich und wird so mit dem Erscheinen des Protagonisten ein zentrales Moment des Prologgeschehens erneut in Szene setzen. Die besondere Reverenz gegenüber den Eumeniden betont dabei zum einen die Gottesfurcht als wesentlichen Be‐ standteil des Rollencharakters des Chors. Zum anderen ist damit das setting der Tragödie erneut prominent, geradezu überdeutlich vor Augen geführt. Die im Prolog durch den ortskundigen Fremden vorgebrachte und mit einer impliziten Warnung versehene Beschreibung der Lokalität erfährt so eine eindrückliche Wiederholung, deren gesteigerte Intensität und Bühnenwirkung den Anstoß zu konkreten Handlungen des Protagonisten, konkret: seiner Neupositionierung auf der Bühne liefern wird. Die Konfrontation mit Oidipus erfolgt in den an die erste Strophe des Chors angeschlossenen anapästischen Versen. Der Protagonist hat die Mutmaßungen der Greise vernommen und tritt in Vers 138 mit einem betonten „Dieser Mensch bin ich!“ (ὅδʼ ἐκεῖνος ἐγώ) teilweise in das Blickfeld des Chors und des Publi‐ kums. Der Chor reagiert entgeistert: Der Fremde sei furchtbar anzusehen und furchtbar zu hören (δεινὸς μὲν ὁρᾶν, δεινὸς δὲ κλύειν v. 141). Unter Anrufung des Göttervaters stellt der Chorführer erneut die Frage nach der Identität des alten Mannes, die Oidipus selbst zunächst nicht beantwortet. Er sei jemand, der um seines Geschicks willen nicht glücklich genannt werden könne. Daraufhin stellt er die Offenlegung seiner Person in Aussicht (δηλῶ) und merkt an, er sei schließlich nicht zu „so fremden Augen“ (ὧδʼ ἀλλοτρίοις ὄμμασιν) gekommen, die – so die implizite Folgerung – ihn nicht erkennen könnten.

164

So auch S EALE (1982). Vision and Stagecraft in Sophocles, London, S. 122: „It is as though the play begins again. Oedipus leaves the stage and is rediscovered“.

540

III. Greisenchöre

In Vers 150 scheint sich Oidipus schließlich in Gänze den Blicken des Chors zu zeigen. Ein erneuter Aufschrei der Greise (ἐή165 v. 150, die zweite Klageinter‐ jektion nach ἰὼ ἰώ v. 140) eröffnet die Gegenstrophe. Grund dieses bestürzten Rufs und bestimmendes Motiv ist zunächst die Blindheit des Protagonisten; so fragt der Chor, ob Oidipus, offensichtlich ein Mann hohen Alters, bereits von Geburt an (φυτάλμιος v. 151) blind gewesen sei. Mit Vers 153 erweitert sich die Thematik daraufhin. Ein betontes ἀλλʼ leitet eine abwehrende Behauptung ein: Oidipus solle, soweit der Chor selbst dafür sorgen könne, keine Verfluchungen hinzusetzen. Die Erklärung dieser erregten Warnung liefert der folgende, durch γάρ angeschlossene Satz: Der Protagonist hat die Grenze zum heiligen Bezirk überschritten und ist so in verbotenes Gebiet vorgedrungen (περᾷς γάρ, περᾷς v. 155 f.). Das folgende erneute ἀλλʼ eröffnet eine umfangreiche Periode, die in den Imperativen der Verse 161 ff. gipfelt: Oidipus solle sich in Acht nehmen (φύλαξαι), wegtreten und das Gelände verlassen (μετάσταθʼ ἀπόβαθι). Zu Be‐ ginn des Satzes ist das Ziel dieser rabiat anmutenden Anweisungen angegeben: Verhindert werden soll ein Eindringen des Oidipus in das „unaussprechliche, grasreiche Dickicht“ (ἀφθέγτῳ νάπει ποιάεντι), d. h. den innersten Bereich des heiligen Bezirks. Dessen Beschreibung (οὗ „wo“) nimmt die Mitte des Satzge‐ bildes ein (v. 158 – 160): Ein „Krug voller lieblich fließender Wasserbäche“ (κάθυδρος κρατὴρ μειλιχίων ποτῶν) läuft dort zusammen. Der geradezu an‐ mutigen Schilderung folgt ein abwehrender Wunsch des Chors:166 Ihn und Oi‐ dipus möge ein umfassendes Stück Weg voneinander trennen. Der Angesprochene scheint auf die Äußerungen des Chors keine Reaktion zu zeigen. Ein direkter Anruf der Greise sucht die Kommunikation herzustellen: Zunächst fragt der Chor, ob Oidipus, der „leidbeladene Bettler“ (πολύμοχθʼ ἀλᾶτα v. 165), ihn überhaupt hört, und fordert ihn dann auf, mit ihm nur ins Gespräch zu treten, wenn er das unbetretbare, d. h. heilige Gelände verlassen hat, und nur dort, wo es allen erlaubt ist, zu sprechen. Vor diesem Ortswechsel solle er sich allerdings zurückhalten (v. 169). Mit dieser Aufforderung an Oidipus endet die Gegenstrophe des Chors; sie provoziert mit ihrem zweiten Teil (ab v. 153) geradezu die Neupositionierung des Oidipus auf der Bühne, d. h. aktives 165 166

So die von L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) übernommene Konjektur von Dindorf; die codd. lesen einstimmig ἒ ἔ. Ob es notwendig ist, mit L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) in Vers 164 den Optativ ἐρατύοι zu lesen und sich so der Konjektur des einhellig überlieferten Indikativs ἐρατύει anzu‐ schließen, bleibt fraglich. Für die Beibehaltung des überlieferten Textes spricht sich J EBB (1928) S. 37 aus, von dem K AMERBEEK (1984) S. 45 ff. festhält: „Jebb’s objections against the conjecture are valid“. Darin sehen L LOYD -J ONES /W ILSON S OPHOCLEA (1990) S. 222 allerdings einen Fall von Kamerbeeks „usual nervous horror of emendation“.

2. Oidipus auf Kolonos

541

Bühnengeschehen. Die Aufforderung zu Dialog und Austausch (v. 165 ff.) anti‐ zipiert bereits die folgende lyrische Wechselrede. Machen wir uns rückblickend kurz klar: Die Konfrontation der Choreuten mit der Gestalt des Protagonisten und seiner rein physischen Erscheinung führte zu Beginn der Gegenstrophe zu einem Ausbruch unmittelbarer Reaktion. Da‐ raufhin geriet die Brisanz der Lage in das Blickfeld des Chors, dessen Verhältnis zu Oidipus von ausgesuchter Ambivalenz geprägt ist: Zwar sind die Annähe‐ rungen an den Fremden von gewissem Mitgefühl geprägt – vgl. v. a. die Frage nach der Blindheit v. 151 sowie die Anrede πάμμορʼ v. 161 – und lassen die grundlegende Bereitschaft zum Dialog erkennen (v.a. v. 166), deutlich markieren jedoch die abwehrenden Aussagen bzw. Wünsche v. 153 f., 162 f. sowie 169 die vom Chor intendierte Distanz zu Oidipus. Mit Blick auf die Korrespondenz innerhalb des Strophenpaars ergibt sich in mehrfacher Hinsicht eine reizvolle motivisch-thematische Wechselbeziehung: Die angestrengte Suche nach Oidipus und damit das Zentralmotiv der Strophe wird durch den emotionalen Reflex auf die Erscheinung des Haupthelden be‐ antwortet. Dem Fragen und Ausschauen der Verse 117 ff. ist so das Erschrecken der Verse 150 ff. gegenübergestellt: Der Wiederauftritt des Protagonisten findet damit seine wirkungsvolle chorische Ausgestaltung. War weiterhin in der Strophe die Reverenz gegenüber den im Hain ansässigen Erinyen ein zentrales Motiv (v. 127 – 132), so nimmt die schlaglichtartige Be‐ schreibung dieses ‚Allerheiligsten‘ in der vorliegenden Gegenstrophe eine be‐ sondere Stelle ein: Innerhalb der bald warnenden, bald abwehrenden Aufforde‐ rungen positioniert erlaubt die Passage nicht nur einen imaginierten Blick in die Grotte der Erinyen, sondern bereichert so die Strophe um ein ausgestaltendes Moment, das im bewussten Gegensatz zur entsetzlichen Bühnenpräsenz des Protagonisten kurz das Bild eines lieblichen Hains aufruft. Dass dabei das Be‐ treten dieses Gebiets mit einer Verfluchung einhergeht (vgl. v. 154), verdunkelt freilich die Perspektive. Unbestreitbar bleibt allerdings die geradezu flüchtige Aufhellung der Situation. Der vom Chor intendierte direkte Austausch mit Oidipus kommt im An‐ schluss an die Gegenstrophe zunächst nicht zustande. Oidipus tritt vielmehr im anapästischen System der Verse 170 – 175 in ein kurzes Zwiegespräch mit seiner Tochter, die ihm ans Herz legt, den Bitten der Greise zu entsprechen. Daraufhin übernimmt sie – wie schon zu Beginn des Stückes – die Führung ihres Vaters. Dieser richtet unterdessen eine Bitte an den Chor: Ihm solle, wenn er jetzt dem Chor vertraut und seinen Aufenthaltsort ändert, nichts Arges widerfahren (μὴ δῆτʼ ἀδικηθῶ v. 174). Mit der beruhigenden Antwort des Chors (v. 176 f.) beginnt das zweite Strophenpaar und damit der eigentliche lyrische Austausch zwischen

542

III. Greisenchöre

Chor und Akteuren. Inhaltlich lassen sich dabei die folgenden Verse (178 – 183 unter Einschluss der vermutlich ausgefallenen Verse) schnell zusammenfassen: Sie stellen die Kommentierung der eigentlichen Bühnenhandlung dar, schildern so den Ortswechsel des Protagonisten und lesen sich geradezu als ausformu‐ lierte Regieanweisungen.167 Anders gesagt: Der Text bietet keine über das ei‐ gentliche Geschehen hinausgreifenden Informationen, sondern verdoppelt ge‐ radezu die Aktion. Ihren Abschluss findet die teils vom raschen Sprecherwechsel und den kurzen Nachfragen des Protagonisten geprägte Strophe (v.a. v. 177 f.) in einer etwas umfangreicheren Aufforderung des Chors an Oidipus (v. 184 – 187): Er solle sich überwinden (τόλμα), als Fremder in der Fremde das, was die Stadt für widerwärtig hält, auch selbst zu hassen, und im Gegenzug das von der Stadt als angenehm Erkannte zu verehren. Oidipus scheint sich diese Mahnung des Chors zu Herzen genommen zu haben. Im anapästischen System zwischen den Strophen (v. 188 – 191) bittet er seine Tochter, ihn zu dem Platz zu führen, wo sie in gebührender Gottesfurcht (εὐσεβίας) das Gespräch fortsetzen können (τὸ μὲν εἴποιμεν, τὸ δʼ ἀκούσαιμεν); mit der gebotenen Notwendigkeit (χρείᾳ) solle man nicht streiten. Oidipus scheint daraufhin an eine Stelle gelangt zu sein, von deren Betreten keine Gefahr mehr ausgeht. Der Chor fordert ihn so zu Beginn der zweiten Gegenstrophe zum Innehalten auf (v. 191). Im Folgenden ist zunächst das Hin‐ setzen des Protagonisten das zentrale Thema: Wieder verdoppelt der vorge‐ brachte Text im Sinn einer Regieanweisung das Bühnengeschehen. So fragt Oi‐ dipus zunächst, ob er am richtigen Ort angekommen sei (v. 194), schließlich, ob er sich setzen dürfe (v. 195). Dies bejaht der Chor und weist ihm einen speziellen Platz zu (v. 195 f.); Antigone bietet ihrem Vater dabei ihre Hilfe an (v. 197 f. sowie 200 f.), was Oidipus Anlass gibt, sein eigenes Schicksal zu beklagen (v. 199 sowie 202). Erst in Vers 203 hat Oidipus seine endgültige Sitzposition gefunden. Der Chor nutzt diese Situation, um ihn nach seiner eigentlichen Identität zu fragen. Aus den Worten der Greise spricht dabei eine gewisse Anteilnahme: Wie schon in Vers 185 lautet die Anrede ὦ τλάμων,168 diesmal geradezu verstärkt durch das 167

168

Vgl. M ARKANTONATOS (2007). Oedipus at Colonus. Sophocles, Athens, and the World, Berlin, S. 82: „In reality, the Chorusʼ interjections also serve as plain stage directions, accompanied as they no doubt are by agitated gestures, thereby putting the accent on the theatrical spectacle per se“. Das verwendete Wort τλάμων ist dabei durchaus ambivalent. Die von LSJ s.v. ange‐ führten negativ konnotierten Bedeutungen „overbold, reckless“ spiegeln sehr gut den in der ersten Strophe vom Chor geschilderten Wagemut des Eindringlings, wohingegen die Bedeutungsspektren „patient, steadfast“ sowie „wretched, miserable“ durch das hinzugesetzte πολύπονος aufgerufen werden.

2. Oidipus auf Kolonos

543

folgende πολύπονος (v. 205). Erneut ergeht dabei eine Aufforderung an den Prot‐ agonisten: Sollte er sich an der ersten Stelle mit den Maßstäben und Einschät‐ zungen seiner Gastgeberstadt gemein machen, so wird er hier angehalten, über sich selbst Auskunft zu geben. Dem Imperativ αὔδασον, „Sprich aus!“ (v. 204), folgen dabei drei Fragen, die eine gewisse Parallele zu den drei Fragen vom Beginn der Parodos (v. 118 ff.) bilden. War dort neben der Identität des Gesuchten die Frage nach seinem momentanen Aufenthaltsort bestimmend (ποῦ ναίει, ποῦ κυρεῖ), so forschen die Choreuten hier nach der Heimat des Oidipus (τίνʼ […] πατρίδʼ). Der Begriff ἐκπυθοίμαν (v. 206) schlägt dabei eine weitere Brücke zu προσπεύθου v. 122. Es lässt sich so festhalten: Nachdem im lyrischen Austausch des zweiten Strophenpaars Oidipus in direkten Kontakt mit dem Chor ge‐ kommen ist, seinen Platz auf der Bühne unter Anweisungen und Hilfe gefunden und eingenommen hat, ist jetzt erneut das Fragen des Chors das bestimmende Moment der Situation. Die mittlerweile offensichtliche Präsenz des Protago‐ nisten lässt ihn dabei zu einem Gesprächspartner werden; den vagen Vermu‐ tungen des Chors, wie sie die erste Strophe (v. 118 – 137) verbalisierte, wird so der unmittelbare und konkrete Austausch mit dem Akteur gegenübergestellt. Die im Vergleich zum vorangegangenen zweiten Strophenpaar erneut gestei‐ gerte Drastik und Gesprächsintensität bringt die Form dieses Abschnitts zur Geltung: Das weitgehend stichomythische, astrophische Gespräch scheint ganz aus der Situation selbst zu entspringen, ein emotionaler Beitrag folgt dem nächsten, die Gesprächspartner lassen einander kaum ausreden. Wie reagiert nun Oidipus auf die Frage des Chors nach seiner Identität? Mit nicht zu überbietendem Nachdruck (besonders beachtenswert die mehrfache Wiederholung des μή v. 207 / 210) verbittet er sich zunächst sämtliche Nachfor‐ schungen hinsichtlich seiner eigenen Person. Der Chor allerdings bleibt beharr‐ lich (v. 214 f.) und reagiert auf das Zögern des Protagonisten geradezu unge‐ halten (v. 217,169 219). Schließlich entfaltet Oidipus seine eigene Identität und tastet sich dabei in einem Dreischritt vor: Zunächst erwähnt er die Nachkom‐ menschaft des Laios (v. 220) und führt darauf mit der Nennung des Labdaki‐ dengeschlechts (v. 221) zu seiner eigenen Person (v. 222), die er so in den gene‐ alogischen Zusammenhang eingeordnet hat. Die Reaktion des Chors ist zunächst von unmittelbarer Erschütterung geprägt: War schon die schlagwort‐ artige Nennung der einzelnen genealogischen Stationen durch Klageinterjekti‐ onen des Chors kommentiert worden, so brechen die Greise nach einer verun‐ sicherten Rückfrage (v. 222) und Oidipusʼ beschwichtigender Antwort erneut in jammervolles Klagen aus. Besonders eindrucksvoll ist dabei Vers 224, in dem 169

Zur Problematik der Sprecherverteilung dieses Verses siehe oben.

544

III. Greisenchöre

einzig Oidipusʼ an sich selbst gerichteter Einruf δύσμορος das wiederholte ὤ des Chors unterbricht. Die Frage des Protagonisten an Antigone, was im Folgenden mit ihnen ge‐ schehen wird, beantwortet der Chor in rabiater Weise: Sie sollten das Land ver‐ lassen (v. 226). Oidipus sieht sich daraufhin veranlasst, den Chor an seine in Vers 176 f.170 gegebene Zusage zu erinnern, deren Verwirklichung er nunmehr in Ge‐ fahr sieht. Mit dieser Frage („Wohin wirst du setzen, was du versprochen hast?“), aus der sowohl Erregung wie auch Enttäuschung herauszulesen sind, endet das stichomythische Wechselgespräch. In seiner umfangreicheren Antwort (v. 229 – 236) blickt der Chor zunächst aus einer allgemeineren Perspektive auf den Sachverhalt: Kein Mensch müsse für das Strafe erleiden, was er als Reaktion auf bereits erlittenes Unrecht selbst ins Werk setzt; Täuschung allerdings, die mit einer anderen Täuschung in Wettstreit tritt, habe Mühe (πόνον), keinen Dank (οὐ χάριν) zur Folge.171 Mit Vers 233 erfolgt die Wendung auf die konkrete Situation: Er, Oidipus, solle nun, nachdem er seinen Sitz verlassen hat, aus dem Land der Greise forteilen, damit keine weitere Schuld die Stadt anrühre. Diese äußerst direkte und wort‐ reiche Aufforderung an Oidipus (vgl. die eindrucksvolle Wortfolge ἔκτοπος – ἄφορμος – ἔκθορε v. 233 f.) bleibt der letzte Wortbeitrag des Chors innerhalb des lyrischen Austauschs. Die Stimmung scheint sich damit gewendet zu haben, die emotionale Anteilnahme, wie sie der Chor gerade in den Versen 185 und 203 an den Tag gelegt hatte (vgl. die Anrede ὦ τλάμων), ist entschiedener Ablehnung gewichen. Die bewegte stichomythische Partie hat so ihren Endpunkt gefunden: Mit der Aufdeckung von Oidipusʼ Identität ist die Grundfrage des Chors beantwortet, die Konfrontation des Chors mit Oidipus wirklich realisiert und die gesamte Partie einer gewissen, zumindest einseitigen Lösung zugeführt. Das Wissen, hier niemand anderem als eben Oidipus gegenüberzustehen, evoziert dabei bei den Greisen eine Reaktion, die Gefahr läuft, den Dialog mit dem Gesprächspartner abzubrechen und damit das gesamte Geschehen schlagartig zu beenden. Die apodiktisch in den Raum gestellte Ablehnung der Choreuten erfordert so eine direkte Antwort von einem der Akteure.

170 171

Diesen Rückbezug sehen sowohl J EBB (1928) S. 46 als auch K AMERBEEK (1984) S. 53. Be‐ sonderen Nachdruck enthält schließlich auch der folgende wörtliche Rückbezug von v. 233 (τῶνδʼ ἑδράνων) auf v. 176. Die genaue Bedeutung dieser Verse und ihr Bezug zur unmittelbaren Handlung sind schwierig zu ermitteln. Ich verweise im Besonderen auf K AMERBEEK s (1984) Diskussion der Stelle S. 53 f. und seine paradigmatische Feststellung S. 54: „[…] The brevity of the wording remains perplexing“.

2. Oidipus auf Kolonos

545

An dieser Stelle (v. 236) meldet sich Antigone zu Wort. In direkter Hinwen‐ dung zum Chor (ξένοι αἰδόφρονες) bittet sie um Mitleid (οἰκτίραθʼ v. 242), das die Greise zumindest ihr gegenüber erzeigen sollten, da sie wegen der Kunde von Oidipusʼ „unfreiwilligen Taten“ (ἔργων ἀκόντων αὐδάν v. 240) ihn selbst nicht ertragen konnten. Sie, die nicht mit blinden Augen, sondern geradezu als Verwandte dem Chor gegenübertritt, fleht nun darum, dass ihrem Vater Mitleid und Aufmerksamkeit (αἰδοῦς v. 247) zuteilwürden, da sie beide vom Wohlwollen der Greise geradezu wie von einem Gott abhingen. Ihren emotionalen Höhepunkt erfährt Antigones Monodie schließlich in der konkreten Aufforderung um Gewährung der uner‐ warteten Gnade in Vers 248 ff. Antigone fleht bei allem, was den Choreuten teuer sein könnte: Kind, Ehe,172 Besitz, Gott.173 Schließlich könne man auch bei ge‐ nauem Hinsehen (ἀθρῶν v. 252) keinen Menschen erblicken, der der Führung eines Gottes entfliehen kann. Die abschließenden Verse 252 f. der Solomonodie lassen Fragen nach ihrem konkreten Bezug unbeantwortet. Folgen wir der „gängigen Interpretation“174 und beziehen die allgemeine Aussage Antigones auf ihren Vater Oidipus,175 so hat die hingebungsvolle Bitte um Mitleid eine erstaunliche Wendung ge‐ nommen: Was als Appell an die Barmherzigkeit der attischen Greise begann, endet hier mit der impliziten Rechtfertigung und versuchten Entschuldigung des Oidipus. War dessen Tun schon in Vers 240 als „unfreiwillig“ beschrieben worden, so bietet der Schluss die geradezu theologische Einordnung und Recht‐ fertigung des Geschehenen: Oidipus wurde von einem Gott geleitet, konnte so dem ihm verhängten Unheil nicht entgehen und ist geradezu unschuldig. K AMERBEEK (1984) schlägt mit aller Vorsicht176 eine andere Interpretation vor: Für ihn bezeichnen χρέος und θεός (v. 251) mögliche Verbindlichkeiten des Chors gegenüber höheren Mächten,177 die eine mitleidsvolle Aufnahme des Oi‐ dipus einfordern könnten. In diesem Sinn wäre mit der abschließenden Bemer‐ 172 173

174 175 176 177

Das einhellig überlieferte λόγος fällt ganz aus der Reihe, Reiskes Konjektur λέχος wird weitestgehend gefolgt. Dazu merkt D AWE (1979) S. 185 im Apparat seiner Textausgabe ad locum an: „θεός valde suspectum: ne χρέος quidem contextui optime congruit“. Dazu K AMERBEEK (1984) S. 56: „χρέος ‘a precious possession’ (?) and θεός […] are extremely dubious“. Seine im Fol‐ genden referierte Interpretation versucht, gerade diese beiden letzten Glieder der Auf‐ zählung zu erklären. Vgl. K AMERBEEK (1984) S. 57: „the usual interpretation“. So u. a. J EBB (1924) S. 49. Vgl. K AMERBEEK s (1984) Einschätzung des eigenen Lösungsvorschlags S. 57: „But, of course, much can be said against this [i.e. seine eigene] interpretation“. Vgl. K AMERBEEK (1984) S. 57: „[…] she appeals to their experience of godwilled obliga‐ tion“.

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III. Greisenchöre

kung Antigones gerade nicht ihr Vater bezeichnet, der ohne eigenes Zutun an göttliche Leitung gebunden war, sondern vielmehr der Chor selbst: Dem Einfluss eines wohlmeinenden Gottes könnten sich die Greise nicht entziehen und wären geradezu verpflichtet – so die implizite Folgerung – , Oidipus aufzunehmen. Inwiefern K AMERBEEK hier richtig liegt, ist schwer zu entscheiden; der oh‐ nehin zweifelhafte Textbestand in Vers 251 erlaubt keine klare Präferenz zu Gunsten der einen oder anderen Position, auch das einleitende γάρ v. 252 ist kein valider Indikator.178 Der Bezug der Verse 252 f. auf Oidipus und damit dessen implizite Entschuldigung liegen – meinem Empfinden nach – mit Blick auf den inhaltlichen Zusammenhang der Passage näher. Die durch ἔργων ἀκόντων (v. 240) gegebene Andeutung würde so durch den Hinweis auf göttliche Einfluss‐ nahme verdeutlicht, die angeschnittene Frage nach der Schuld des Protagonisten einer ersten Lösung zugeführt werden. Die Aufzählung in Vers 251 bliebe dabei allerdings rätselhaft; eine Entstellung des Textes an dieser Stelle ist daher durchaus denkbar. Andererseits vermag K AMERBEEKs Lösung einen direkten Zusammenhang zwischen den Versen 251 und 252 herzustellen; es ist die logisch nächstliegende Lösung, θεός aus v. 251 und θεός v. 252 in der von ihm geschilderten Art zu verknüpfen. Dabei bliebe die Junktur ἔργων ἀκόντων (v. 240) allerdings uner‐ läutert. Die Doppeldeutigkeit der abschließenden Verse kann schließlich auch bewusstes Kalkül des Dichters gewesen sein. Sophokles würde den Bezug der Verse so absichtsvoll in der Schwebe halten und dem Zuschauer selbst die letzte Konkretisierung überlassen. Mit dem genauen Verständnis der Schlussverse ist jedoch nur ein Problem der gesamten Passage angesprochen. Der Text der Solomonodie bietet – jenseits der überlieferungstechnischen Schwierigkeiten179 – einige weitere Auffällig‐ keiten, die die Authentizität der Verse in Zweifel ziehen können. So verwundert zunächst das prominent hinter den Vokativ gesetzte ἀλλʼ (v. 238): Gegen das logisch eher zu rechtfertigende ἀλλʼ in Vers 241 (im Sinne von: „Wenn ihr schon nicht meinen Vater bemitleidet, dann aber doch wenigstens mich.“180) scheint es inhaltlich zu verblassen. Die Doppelung der sonst zwar auch kurz hinterei‐ nander, allerdings mit großer Achtsamkeit gesetzten Partikel (vgl. v. 153, 156) bleibt selbst dann bedenkenswert, wenn man ihre erste Verwendung in Vers 238

178 179 180

Auch der ausdrückliche Rekurs des Chors auf τὰ ἐκ θεῶν in seiner Antwort (v. 256) lässt in dieser Frage keine klare Entscheidung zu. Im Besonderen sind die Verse 243 (P EARSON (1924) fühlte sich gezwungen, in seiner Ausgabe den zweiten Teil des Verses in cruces zu setzen, vgl. K AMERBEEK (1984) S. 55), 250 und, wie bereits thematisiert, 251 problematisch. So auch J EBB (1924) S. 48 ad locum: „at least“.

2. Oidipus auf Kolonos

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als Ausdruck der grundlegenden Ablehnung versteht,181 mit der Antigone der Aufforderung des Chors aus Vers 233 ff. gegenübersteht.182 Der Plural ἱκετεύομεν (v. 241) ist zudem augenfällig: Antigone tritt dem Chor eigentlich dezidiert als Einzelperson gegenüber und betont gerade durch die Kontrastierung Vater-Tochter (v. 238 gegen 241) und die signifikante dreimalige Wiederholung der singularischen Form ἄντομαι (v. 243, 244, 250) ihre Eigen‐ ständigkeit und Eigeninitiative. Der folgende inhaltliche Gesichtspunkt wiegt dagegen noch schwerer: Die durch Antigone angedeuteten „unfreiwilligen Taten“ (v. 239 f.) ihres Vaters haben bisher weder im Prolog noch in der Parodos Erwähnung gefunden, einzig die Nennung des Namens und seine genealogische Einordnung führte bei den Greisen zur heftigen Abwehrreaktion – ein Umstand, auf den Oidipus in seinem sich anschließenden Monolog explizit hinweist (ὄνομα μόνον δείσαντες „einzig aus Furcht vor dem Namen“ [sc. vertreiben die angeblich so gottesfürchtigen Athener ihn als Bittflehenden] v. 265). Die Thematisierung der konkreten Ver‐ gangenheit des Protagonisten sowie die Diskussion seiner Schuld wird so erst das anschließende Epeisodion auf Initiative des Protagonisten ausführen, der Vorgriff in Antigones Monodie erscheint demgemäß unangebracht.183 Mehr noch: Die eigentliche „Kunde“ (αὐδά)184 von Oidipusʼ Taten, d. h. seine konkreten Verfehlungen kommen erst im Wechselgesang innerhalb des ersten Epeisodions (v. 510 – 548) zur Sprache; dort wird sich der Chor genötigt fühlen, trotz seiner Scheu das „schon lange niederliegende Übel“ (τὸ πάλαι κείμενον ἤδη κακόν v. 510 f.) zu erfragen. Dass das vom Chor dort angedeutete Vorwissen um die nä‐ heren Umstände von Oidipusʼ Vergangenheit (vgl. v. 527) bereits an unserer Stelle vorhanden ist, kann nicht ernsthaft bezweifelt werden, solange man von einem konsistenten Charakter des Chors ausgeht. Allerdings ist es in der Par‐ odos dramaturgisch noch nicht in größerem Umfang produktiv; es bricht sich 181 182 183

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Vgl. LSJ s.v. ἀλλά II, 1: „at beginning of speech, to introduce a general objection“. Das dritte ἀλλʼ innerhalb der Partie (v. 248) lässt sich dagegen als Verstärkung der folgenden Imperative ἴτε und νεύσατε verstehen. J EBB s (1924) Kommentar S. 48 zu ἀίοντες αὐδάν (v. 240): „‘perceiving’, i.e. ‘being aware of’, ‘having heard,’ the report of his involuntary deeds“ bleibt dagegen blass. Auch K AMERBEEK s (1984) Erläuterung S. 55: „[…] Antigone’s intervention results in Oedipusʼ remaining where he is, being afforded the opportunity for expounding the nature of his ἔργα“ kann nicht wirklich überzeugen. Gerade die Offenlegung der eigenen Identität durch Oidipus war vom Chor mehrfach mit dem Begriff αὐδάω eingefordert worden (v. 204, 212). Auch Oidipus selbst hatte genau dieses Wort für seine Äußerungen verwendet (v. 223). In Vers 240 nun von einer ἔργων ἀκόντων αὐδάν zu sprechen, passt nicht in das sonst sehr sorgfältige Geflecht der Begriffe und Motive, da sich die konkrete Tätigkeit des αὐδᾶν auf die Wiedergabe des Namens und der Genealogie beschränkt hat.

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ausschließlich in den jammervollen Einwürfen der Verse 220 ff. Bahn und ent‐ faltet seine volle Ausgestaltung erst im erwähnten Amoibaion. An unserer Stelle reicht die reine Namensnennung, um durch die Ablehnung des Chors den Fort‐ gang des Gesprächs und damit der Handlung zu erzwingen. Anders gesagt: Die Erwähnung und Problematisierung der Vorgeschichte des Protagonisten ist hier noch nicht nötig, da zunächst die Identität und die visuelle Präsenz des Haupt‐ helden die Szenerie bestimmen. Eine Vorwegnahme der später ausgeführten Thematik um Schuld und Verantwortung, wie sie nach der gängigen Deutung gerade auch Antigones allgemeingültige Aussagen am Ende der Solomonodie (v. 252 f.) darstellen, läuft der dramaturgisch geschickten Aufteilung in Parodos und damit korrespondierendem Wechselgesang entgegen.185 Einzig als subtile Andeutung der bevorstehenden Rechtfertigung des Oidipus und seiner Taten mag die Thematisierung dieses Sachverhalts zu rechtfertigen sein. Ich kann angesichts dieser virulenten Auffälligkeiten186 und zumindest leichter logisch-begrifflicher Inkonsequenzen G ÜNTHER nicht folgen, wenn er in seiner Arbeit über Interpolationen im Sophoklestext eine Diskussion der Stelle ablehnt und stattdessen konstatiert: „Die echten und vermeintlichen sprachlichen und metrischen Anstöße der Partie sind von den neuen Oxford‐ herausgebern [Lloyd-Jones/Wilson] alle befriedigend erklärt oder geheilt worden.“187 Zwar will ich hier nicht für eine grundlegende Athetese der ge‐ samten Partie votieren, dennoch zumindest die Möglichkeit eines Eingriffs in den originalen Text nicht völlig ausschließen.188 Versuchen wir nun, die Partie im Ganzen zu überblicken und dramaturgisch einzuordnen. Die Parodos des vorliegenden Dramas ist eine umfangreiche und höchst vir‐ tuos aus verschiedenen Formteilen komponierte Passage, die als Ensembleszene gleich zu Beginn der Tragödie einen besonderen Akzent setzt. Inhaltlich führt sie bestimmende Motive des vorangegangenen Prologs fort (im Besonderen die Ortsproblematik), inszeniert allerdings mit dem effektvollen Wiederauftritt des 185 186 187 188

Noch schwieriger zu rechtfertigen wäre die rein schlagwortartige Erwähnung der „un‐ freiwilligen Taten“ (v. 239 f.), wenn man sich in der Interpretation der Schlussverse 251 f. K AMERBEEK anschließt und dort keinen Bezug auf Oidipus gegeben sieht. Die dreimalige Verwendung des Verbums ἄντομαι innerhalb kürzester Zeit ist ebenso bedenkenswert. G ÜNTHER (1996). Exercitationes Sophocleae, Göttingen, S. 32. Bedenkt man zudem, dass die Aufführung der vorliegenden Tragödie posthum erfolgte, der Dichter selbst so die Hoheit über den dargebotenen Text nicht hatte, so erscheint eine Interpolation durch einen Schauspieler oder den verantwortlichen Choregen be‐ reits um einiges wahrscheinlicher. Letztlich beweisen lassen wird sie sich allerdings angesichts der Sachlage nicht.

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Protagonisten und dem sich anschließenden Konflikt zwischen Oidipus und der einheimischen Bevölkerung ein ausschlaggebendes und entscheidendes Mo‐ ment der Handlung erneut. Sie wiederholt in diesem Sinn den eigentlichen Be‐ ginn des Geschehens und leuchtet ihn in grellen Farben aus. Wesentlich Neues erfahren Zuschauer (und Leser) dabei freilich nicht: Die Partie teilt in diesem Sinn nichts mit, sondern ist selbst inszeniertes Bühnengeschehen. Die Parodos ist so in höchstem Maß dramatisiert und behauptet ihren Platz nach dem Prolog weniger als informierende, reflektierende oder inhaltlich ver‐ tiefende Partie, sondern als effektvolle und hochemotionale Konfrontations‐ szene. Ihre chorlyrischen Abschnitte dienen dabei ganz und gar dramaturgi‐ schen Zwecken: Gerade die ersten beiden Strophenpaare sind auskomponierte Bühnenhandlung, die in ihrer sprachlichen Expressivität die Brisanz der Sze‐ nerie widerspiegeln. Der Auftritt des Chors steht ganz im Dienst der effektvollen Inszenierung des Protagonisten. Die Parodos erschöpft sich so nicht in der Ausgestaltung des Chorauftritts, sondern dient als Rahmen für die erneute Präsentation des Prot‐ agonisten. Sein Erscheinen in Vers 138 bzw. 150 bildet den vom Zuschauer vo‐ rausgeahnten visuellen Anstoß zum lebhaften Bühnengeschehen, das schließ‐ lich in die stichomythische Partie mündet. Der Spannungsaufbau innerhalb der gesamten Szenerie ist dabei meisterhaft: Während zu Beginn, d. h. beim Auftritt des Chors in den Versen 117 ff., Zuschauer (und Leser) bereits über die Situation informiert sind und die folgende Konfrontation antizipieren, scheint sich der Chor erst langsam an die Lage heranzutasten. Daraufhin wird er von der Präsenz des Protagonisten geradezu überwältigt, gewinnt im Dialog mit ihm allerdings bald die Oberhand und wird im Folgenden zum Dirigenten, der das setting auf der Bühne maßgeblich gestaltet. Die Partie ist in diesem Sinn eine geradezu doppelte Liminalszene, da sie sowohl den Einzug des Chors als auch das erneute Auftreten des Protagonisten beinhaltet und wirkungsvoll ausgestaltet. Spätestens hier ist die das gesamte Drama dominierende Position des Protagonisten etabliert. Seine Anwesenheit ist, wie schon im Prolog, so auch hier das entscheidende Moment und geradezu die Mitte des dramatischen Geschehens. Der durch die Parodos hervorgerufene Kontrast zum Prolog und seinem Ende könnte dabei nicht größer sein: Oidipus hatte in seinem Gebet an die Eumeniden (v. 84 – 110) eine erste Einordnung des Geschehens und seiner eigenen Person geleistet. Auf diese geradezu reflektierende Partie folgt mit der ausgreifenden Parodos ein Moment äußerster Drastik und Dramatik. Die Parodos als Handlung legt in ihrer Gestaltung besonderen Wert auf herausragende, geradezu expres‐

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sive Bühnenwirkung.189 Die Überführung des Oidipus an seinen Sitzplatz erfährt dabei ihre volltönende Orchestrierung. Das aufgewühlte und umfangreiche Ge‐ schehen auf der Bühne unterbrach so die intime Dialogsituation des Prologs rabiat. Das im Prolog angedeutete Konfliktpotential erfährt hier keine indirekte Intensivierung durch die Einblendung einer rückblickenden, einordnenden oder generell reflektierenden Parodos.190 Vielmehr bricht es sich gerade in der Auf‐ trittsszenerie des Chors Bahn und beantwortet in dieser Hinsicht den Prolog unmittelbar. Anders gesagt: Die Parodos retardiert nicht, deutet nicht aus und bereitet keinen Konflikt vor, sondern ist selbst die Konfliktszene. Das sonst an wirklicher, d. h. sich offensiv auf der Bühne vollziehenden Kon‐ frontation arme Stück erhält so einen ersten Höhepunkt, dessen Ausgestaltung die formalen Erwartungen an eine Parodos in mehrfacher Hinsicht übersteigt. Wechselgesang im ersten Epeisodion (v. 510 – 548)

In Vers 510 wird das erste Epeisodion von einem Amoibaion zwischen Oidipus und dem Chor unterbrochen. Bevor wir uns dieser Passage widmen, muss eine kurze Zusammenfassung des Bühnengeschehens bis zu diesem Punkt erfolgen. Hatte zunächst der Chor auf Antigones Monodie geantwortet, er könne dem Gesagten trotz seines Mitleids gegenüber Oidipus nichts hinzusetzen (v. 254 – 257), obliegt es nun dem Protagonisten selbst, sich zu rechtfertigen und um freundliche Aufnahme zu bitten. In einem umfangreichen Monolog (v. 258 – 291) appelliert er zunächst an das Selbstbewusstsein der attischen Greise, die ihn eben unmissverständlich zum Verlassen des Ortes aufforderten. Gerade Athen stehe doch im Ruf, die „gottesfürchtigste“ Stadt zu sein und als einzige einen hart bedrängten Fremden (κακούμενον ξένον) beschützen zu können. Wo, so Oidipusʼ Frage, erfahre er nun diese Gottesfurcht und Gastfreundschaft, da ihn die Greise einzig auf Grund seiner Namensnennung bereits ausweisen (v. 263 ff.)? Mit Blick auf die ihm zur Last gelegten Taten treffe ihn ohnehin keine Schuld, da er sie mehr erduldet als wirklich vollbracht habe (v. 266 f.). Den ei‐ gentlichen Sachverhalt, d. h. den Mord am Vater und das Verhältnis zur Mutter bezeichnet Oidipus dabei nicht explizit, sondern spricht ebenso diskret wie wertfrei von τὰ μητρὸς καὶ πατρός (v. 269).

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Vgl. S EALE (1982) S. 122: „The deserted and peaceful scene of the prologue is transformed by the large presence and agitated gestures of the Chorus. And this more spectacular setting of a full ‘stage’ after an empty one provides a new context for the same pattern of movement“. So z. B. in der Antigone, wo dem persönlichen, aufgewühlten und spannungsreichen Prologgespräch eine im Wesentlichen rückblickende Parodos folgt, oder im Aias, dessen Parodos die Vermutungen des Chors über den Zustand des Protagonisten entfaltet.

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In seiner jetzigen Situation erbittet sich Oidipus von den Greisen Rettung und Schutz: Wie sie ihn eben aufstehen machten, so sollten sie ihn nun retten (v. 276), wie sie ihn als Schutzflehenden aufnahmen, so ihn jetzt bewahren (v. 284 f.). Er sei als frommer Mann gekommen und werde den Bürgern der Stadt Nutzen bringen (v. 287 ff.); der Stadtherr werde dies nach seiner Ankunft am Ort des Geschehens verstehen können (ἐπιστήσῃ v. 290), in der Zwischenzeit solle der Chor kein schlechtes Verhalten an den Tag legen (μηδαμῶς γίγνου κακός v. 291). Die vom Landesverweis durch die Choreuten provozierte (und durch Anti‐ gone forcierte) Diskussion um die Vorgeschichte des Oidipus hat hier zunächst ein Ende gefunden. In seiner Antwort verweist der Chor auf die Autorität der Herrschenden: Zwar müsse man auf Grund von Oidipusʼ Erwägungen direkt in Angst geraten, es sei allerdings genug (ἀρκεῖ v. 295), wenn die Lenker der Stadt das Vorgebrachte durchschauten (διειδέναι v. 295). Im weiteren Gespräch sichert der Chor die baldige Ankunft des Stadtherren Theseus zu; dieser werde, sobald er den Namen des Fremden erfahren habe, zum Ort des Geschehens kommen. Schließlich mischt sich in Vers 310 Antigone in die Unterredung: Sie hat ihre Schwester Ismene erkannt, die sich auf einem Fohlen reitend der Szenerie nähert und in Vers 324 die Bühne schließlich betritt. Die konfrontative Stimmung, wie sie noch in der Parodos vorherrschte, hat sich hier endgültig aufgelöst. Oidipusʼ Ausführungen sind beim Chor auf keine Reaktion gestoßen, die einen weiteren Austausch ermöglichen würde, kurz ge‐ sagt: Der Verweis auf Theseus und seine bevorstehende Ankunft hat die inhalt‐ liche Diskussion beendet und die Lösung der Aufenthaltsproblematik aufge‐ schoben. Wieder war es Aufgabe des Protagonisten selbst, seine Vergangenheit einzuordnen und die Zukunft anzudeuten (v. 287 ff.). Wie schon im Gebet am Schluss des Prologs (v. 84 – 110) wird Oidipus auch hier zum Ausdeuter der ei‐ genen Situation und damit der Bühnenhandlung. Anders gesagt: Während die Chorpartie unter Aufbietung expressiver sprachlicher und formaler Mittel mit der Konfrontation Chor-Protagonist den eigentlichen Handlungsfortgang in‐ szenierte, beginnt das erste Epeisodion mit der reflektierenden Gesamtschau aus der Sicht des Protagonisten. Seine Deutung des Geschehens bleibt dabei unbeantwortet und im Wesentlichen unkommentiert: Erst im Amoibaion in Vers 510 wird der Chor mit einer dezidierten Nachfrage an Oidipus herantreten und so die spezifische Gesprächssituation der Parodos und ihre emotionale Stim‐ mung wieder aufrufen. Die sich anschließende Unterredung zwischen Oidipus und Ismene können wir hier kurz abhandeln. Nachdem sich Vater und Tochter gegenseitig erkannt und begrüßt haben (v. 324 – 336), fragt Oidipus zunächst nach seinen Söhnen (v.

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335). Ismenes Antwort lässt nichts Gutes erwarten: Deren momentaner Zustand sei furchtbar (δεινὰ τἀν κείνοις τανῦν v. 336). Oidipus kontrastiert in seinem anschließenden Monolog (v. 337 – 360) zunächst das Verhalten seiner Söhne mit dem seiner Töchter, illustriert Antigones und Ismenes fürsorgliches Verhalten ihm gegenüber und fragt schließlich, welche Botschaft Ismene ihm nun bringe (v. 357 ff.). Der Grund für Ismenes Erscheinen sind die eskalierten Machtstreitigkeiten in Theben: Hatten Oidipusʼ Söhne Eteokles und Polyneikes nach dem Fortgang des Vaters zunächst ihrem Onkel Kreon die Herrschaft über die Stadt überlassen wollen (v. 367 ff.), so streiten sie sich mittlerweile dennoch um die Vormacht‐ stellung (v. 371 ff.). Dabei hat Eteokles seinen Bruder aus der Heimat vertrieben, der Flüchtling Polyneikes jedoch schon neue Verwandte und Verbündete (κῆδός τε καινὸν καὶ ξυνασπιστὰς φίλους v. 379) gefunden, um mit deren Hilfe Theben unter seinen Einfluss zu bringen. Im folgenden Gespräch (v. 385 – 420) unterrichtet Ismene daraufhin ihren Vater von kürzlich ergangenen Orakelsprüchen (τοῖς νῦν μαντεύμασιν v. 387): Oidipus werde, ob tot oder lebendig, für die Thebaner von besonderem Interesse, geradezu „suchenswert“ (ζητητόν v. 389) sein, da „in ihm“ (ἐν σοί v, 392) die Machtgrundlage (τὰ κράτη) begründet sei. Kreon sei bereits auf dem Weg und habe die Absicht, Oidipus in seine Gewalt zu bringen und ihn außerhalb der thebanischen Grenzen zu verwahren, d. h. ihn dort zu begraben, wohingegen ihm eine Grabstätte in heimatlicher Erde verwehrt bleiben müsse (v. 406 f.). Der Protagonist selbst gibt sich entschieden: Nie, so seine Versicherung, werden ihn die Thebaner in ihre Gewalt bringen (v. 408). Dass seine beiden Söhne trotz der Kenntnis des Orakels das persönliche Machtstreben höher schätzen als das Verlangen nach dem eigenen Vater, ist für ihn Anlass tiefster Verbitterung (vgl. die Einschätzung der eigenen Nachkommen als οἱ κάκιστοι v. 418). In einem erneuten umfangreichen Monolog (v. 421 – 460) verleiht er seiner Entrüstung Ausdruck: Nachdem ihn seine eigenen Söhne so schändlich aus Theben vertrieben haben (v. 429 f.), gönnt er keinem der beiden den von ihm für das kadmeische Land ausgehenden Nutzen (v. 450 f.). Dies wisse er genau, da er die beiden ihn betreffenden Orakelsprüche miteinander bedacht hat (συννοῶν v. 452 ff.). Für ihn steht daher fest: Auch die Entsendung Kreons wird keinen Einfluss auf seine Entscheidung haben. Eine direkte Bitte an die Cho‐ reuten beschließt den Monolog: Sollten die Greise mitsamt den Erinyen ihm Hilfe und Schutz gewähren, würden sie ihrer eigenen Stadt einen bedeutenden Wohltäter erwerben, Oidipusʼ Feinden dagegen Mühen bereiten (v. 457 ff.). Der Chor ist – mitsamt dem Publikum – nach den beiden Monologen des Prot‐ agonisten innerhalb der Ismene-Szene über Oidipusʼ Verhältnis zu seinen Kin‐

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dern, den Herrschaftskonflikt in Theben und Oidipusʼ persönliche Ausdeutung der Situation informiert. Die Antwort des Chors (v. 461 – 464) auf die Bitte um Schutz zeugt von besonderer Sympathie: Oidipus sei samt seinen Töchtern des Mitleids würdig; da er sich als Retter des attischen Landes in Aussicht stelle, wolle der Chor ihm nun die nötigen Schritte (τὰ σύμφορα) anraten. Im fol‐ genden, teils stichomythischen Dialog (v. 465 – 492) gibt der Chorführer genaue Anweisungen für ein Ritual, das Oidipus (oder ein anderer an seiner statt (v. 488)) vollziehen soll: Im Rahmen dieses καθαρμός (v. 466) solle der Opfernde um gütige Aufnahme durch die Eumeniden bitten (v. 488) und so den Frevel des unbefugten Eindringens in den geheiligten Bezirk sühnen. Ismene erklärt sich daraufhin bereit, den geschilderten Ritus zu vollziehen; sie fordert Antigone auf, beim gemeinsamen Vater zu bleiben, und verlässt in Vers 510 die Bühne. Der Chor tritt daraufhin in einen lyrischen Austausch mit dem Protagonisten. Verdeutlichen wir uns vor der eingehenden Betrachtung des Wechselgesangs kurz die dramatische Situation: Ismenes unerwarteter Auftritt und ihr Bericht haben eine weitere Ebene der Handlung eingeblendet: Mit dem Wissen um die Lage in Theben gewinnt das Geschehen rund um Oidipus an dramatischer Tiefe. Während dabei die vorderszenische Kontroverse zwischen Oidipus und dem Chor einer ersten Lösung entgegenzugehen scheint, hat sich mit dem thebani‐ schen Machtkampf ein weiteres Konfliktfeld eröffnet, das sich zunächst unab‐ hängig vom eigentlichen Bühnengeschehen zu entwickeln scheint. Die Ankün‐ digung, Kreon werde in Kürze in das Geschehen eingreifen, ist bereits der zweite Vorverweis auf den Auftritt einer weiteren Person. Die inhaltliche Verknüpfung der vorder- und hinterszenischen Handlung bildet dabei die Person des Oidipus selbst: Seine Entscheidung, auf Grund der an ihn ergangenen Orakel hier am Ort zu bleiben und sich nicht den Thebanern auszuliefern, birgt dabei mit Blick auf die kommende Unterredung mit Kreon erhebliche Brisanz. Die Monologe des Protagonisten leisten dabei erneut die Einordnung der Bühnenhandlung in größere Zusammenhänge: Oidipus selbst ist einmal mehr Ausdeuter der eigenen Situation und damit Mittelpunkt von Handlung und Re‐ flexion. Der Abtritt Ismenes mit der konkreten Absicht, das eben beschriebene Ritual auszuführen, lässt die Szenerie zu einem natürlichen Ruhepunkt kommen: Hatte Ismenes Erscheinen die bis zu diesem Punkt etablierte Gesprächssituation Oi‐ dipus-Antigone-Chor unterbrochen, so reinszeniert ihr Abgang diese Konstel‐ lation erneut. Der angekündigte Auftritt von Theseus und Kreon stellt dabei den unmittelbaren Fortgang des Bühnengeschehens in Aussicht und eröffnet die Möglichkeit, die folgenden Konflikte bereits zu antizipieren. Die Stimmung am Ende der Ismene-Szene ist so bewusst ambivalent: Zwar scheint der in der Par‐

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odos virulente Konflikt zwischen Oidipus und dem Chor durch das Reinigungs‐ ritual einer gewissen Lösung zugeführt zu werden; andererseits hat der Bericht Ismenes weitere Konfliktfelder eröffnet, die sich im Folgenden vorderszenisch realisieren werden. Direkt im Anschluss an die Ismene-Szene jedoch eine der angekündigten Personen auf der Bühne erscheinen zu lassen, ist bereits auf Grund der perso‐ nellen Gegebenheiten kaum zu realisieren: Gehen wir von der Aufteilung der Rollen auf drei Schauspieler aus,191 müsste der Wechsel zwischen Ismene und Theseus (bzw. Kreon) innerhalb kürzester Zeit vonstattengehen. Die Einschal‐ tung einer Chorpartie entzerrt diesen Vorgang erheblich und ermöglicht so den Auftritt des attischen Stadtherrn in Vers 551. Inwiefern dem Amoibaion jenseits dieses ganz und gar technischen Aspekts eine dramaturgische Funktion zu‐ kommt, wird die eingehendere Analyse herauszustellen versuchen. Dass die unter formalen Gesichtspunkten an dieser Stelle erwartbare Chor‐ partie dabei gerade als Wechselgesang zwischen Chor und Protagonist realisiert wurde, ist ein Ausweis besonderer Gestaltungsabsicht. Die beiden Strophenpaare des Amoibaions stellen also den lebhaften und hoch‐ emotionalen Austausch zwischen Protagonist und Chor dar. Ausschlaggebend für die Unterredung ist ein direktes Ansuchen des Chors an Oidipus: Es sei zwar furchtbar (δεινόν), das schon lange niederliegende Übel aufzuwecken (ἐπεγείρειν), dennoch verlange es den Chor, etwas zu erfahren (πυθέσθαι v. 512). Oidipusʼ erregte und kurze Zwischenfrage τί τοῦτο (v. 513) unterbricht die Syntax des vom Chor begonnenen Satzes nicht: Gegenstand der Wissbegier ist der elendsvolle, als heillos erscheinende Schmerz (τᾶς δειλαίας ἀπόρου ἀλγηδόνος), mit dem Oidipus in Konflikt geraten ist. Die unmittelbare Reaktion des Angesprochenen ist von entschiedener Ablehnung geprägt: Unter Verweis auf die Gastfreundschaft des Chors bittet er die Greise, sein Leid nicht zu öffnen. Der Chor allerdings lässt von seinem Ansinnen nicht ab: Er wolle das reichhal‐ tige und nie zur Ruhe kommende Gerücht (τὸ πολὺ καὶ μηδαμὰ λῆγον 191

Die Verteilung der Rollen auf die Schauspieler ist in unserem Stück äußerst problema‐ tisch; am wahrscheinlichsten ist (trotz anderer Hypothesen, die die Verwendung von vier oder gar mehr Schauspielern ansetzen) die Annahme der regulären drei Schau‐ spieler sowie eines stummen weiteren Akteurs (παραχορήγημα). Demgemäß werden sowohl Ismene als auch Theseus durch den Tritagonisten verkörpert, dem die Chor‐ partie die Möglichkeit zum hinterszenischen Rollenwechsel bietet. Vgl. dazu C EADEL (1941). „The division of parts among the actors in Sophoclesʼ Oedipus Coloneus.“ in: CQ 35 (1941), S. 139 – 147, im Besonderen den eigenen Vorschlag zur Rollenaufteilung S. 146; des Weiteren P ICKARD -C AMBRIDGE (21988) S. 142 f. sowie K AMERBEEK (1984) S. 23. Die ältere Literatur ist verarbeitet bei S CHMIDT (1961). Das Spätwerk des Sophokles: Eine Strukturanalyse des Oidipus auf Kolonos (Diss.), Tübingen, S. 152 – 165.

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ἄκουσμʼ v. 517) nun geradewegs, d. h. der Wahrheit entsprechend hören.192 Auch Oidipusʼ Klagen (ὤμοι und φεῦ φεῦ) können den Chor nicht beirren: Er solle sich bewegen lassen (πείθου), schließlich habe auch der Chor selbst den Wünschen des Fremden entsprochen (v. 520). Mit der Gegenstrophe kehrt sich die Sprecherverteilung um: Keine Frage des Chors, sondern die erste Antwort des Oidipus eröffnet die Strophe. Er habe, so seine unter Gottesanrufung beteuernde Versicherung, unfreiwillig Unglück (κακότατʼ v. 521) ertragen, nichts davon sei selbstgewählt (αὐθαίρετον) auf ihn gekommen. Der Chor dringt mit seiner kurzen Zwischenfrage ἀλλʼ ἐς τί auf Konkretisierung der ihm allzu wagen Bezeichnung κακότης. Oidipus betont daraufhin erneut seine Schuld- und Ahnungslosigkeit: Ihn habe die Stadt durch eine schlechte Ehe unwissentlich in Schuld verstrickt. Der Chor bohrt weiter nach und formuliert das eigentlich zentrale Moment der Vorgeschichte, indem er fragt, ob Oidipus, wie man es gehört habe, tatsächlich mit seiner Mutter das verrufene Ehebett (δυσώνυμα λέκτρʼ) geteilt habe. Einmal auf diesen Kern des Geschehens angesprochen, scheint Oidipus seine Hemmungen vor der kon‐ kreten Verbalisierung der Vergangenheit zu verlieren: Auch wenn es dem Tod gleichkomme, dies zu hören, bekennt er doch, dass seine beiden Töchter und er aus dem Geburtsschmerz einer gemeinsamen Mutter emporwuchsen. Der Chor unterbricht dabei Oidipusʼ Bekenntnis zunächst durch ein ungläubiges πῶς φής, dann mit dem geradezu apotropäischen Anruf ὦ Ζεῦ, bevor er schließlich mit einer teils konstatierenden, teils rückfragenden Äußerung das zweite Stro‐ phenpaar einleitet (v. 534 f.): Die beiden Mädchen seien also sowohl Oidipusʼ Abkömmlinge als auch – hier unterbricht Oidipus den Chor und setzt den be‐ gonnenen Satz fort – Schwestern ihres eigenen Vaters. Der Protagonist beklagt daraufhin die Wendungen des tausendfachen Übels, bekennt auf das Stichwort des Chors ἔπαθες (v. 538), tatsächlich Unerträgliches zu erleiden, verwehrt sich allerdings entschieden gegen eine eigene Verantwortung. Den Einwurf ἔρεξας (v. 539) nimmt er zum Anlass, seine Sicht der Dinge erneut zu verbalisieren, wobei Vers 541 textkritisch äußerst umstritten und nur schwer zu verstehen ist.193 Schließen wir uns L LOYD -J ONESʼ Übersetzung an:194 Oidipus bekundet, nach 192 193

194

Vgl. K AMERBEEK s (1984) Übersetzung S. 88: „a correct version of the tale“. L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) übernehmen sowohl Meinekes Konjektur ἐπωφελήσας wie auch Rauchensteins Änderung des einhellig überlieferten πόλεως in ὄφελον, bieten allerdings keine wirklich befriedigende Lösung. P EARSON (1924) bleibt etwas näher an der Überlieferung, während K AMERBEEK (1984) S. 90 f. – im Anschluss an D AWE (1978) III S. 139 sowie seine Textausgabe (D AWE (1979)) – das überlieferte ἐπωφελήσας in cruces setzt. L LOYD -J ONES (1994) S. 475: „I received a special gift after the service I had rendered that I, miserable one, should never have accepted!“

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seinem Dienst, d. h. der Befreiung Thebens von der Sphinx, ein Geschenk er‐ halten zu haben (ἐδεξάμην δῶρον v. 540), das er allerdings nie hätte annehmen sollen. In der abschließenden zweiten Gegenstrophe richtet der Chor den Blick auf Oidipusʼ zweite verhängnisvolle Tat. Die direkte Ansprache δύστανε (v. 541) eröffnet dabei eine weitere, um Präzisierung und Vergewisserung ansuchende Frage: Ob Oidipus wirklich den Mord an seinem Vater begangen habe? Die den Chor unterbrechende Rückfrage des Angesprochenen v. 543 ist dabei wirkungs‐ voll vor die entscheidende Angabe πατρός gesetzt. Oidipus legt trotz seiner emotionalen Reaktion erneut Wert auf seine Unschuld: Zwar gesteht er zu, seinen Vater getötet zu haben, ist allerdings der Überzeugung, etwas zu seiner Verteidigung vorbringen zu können. So habe er „in Verblendung gefangen“ (ἄτᾳ ἁλούς)195 gehandelt, sei aber „mit Blick auf das Gesetz rein“ (νόμῳ δὲ καθαρός v. 548) und unwissend (ἄιδρις) bis zu diesem Punkt gekommen. Die nun folgende, bereits in iambischen Trimetern gefasste Auftrittsankün‐ digung (v. 549 f.) stellt keinen Kommentar mehr zu Oidipusʼ Aussagen dar, son‐ dern leitet unmittelbar in die folgende Theseus-Szene über. Der Austausch mit dem Chor hat so ein Ende gefunden, die Rechtfertigung des Protagonisten bleibt (zunächst) unbeantwortet. Mit dem lyrischen Austausch zwischen Protagonist und Chor ist die formale Gesprächssituation der Parodos, genauer die der Epode (v. 207 ff.) wiederherge‐ stellt. Dabei hatte bereits zu Beginn der Parodos die Selbstaufforderung προσπεύθου πανταχᾷ (v. 122) die suchend-fragende Haltung des Chors gera‐ dezu programmatisch verbalisiert, ein weiteres Kompositum von πυνθάνομαι (ἐκπυθοίμαν v. 206) die weitgehend stichomythische Schlusspartie des Ab‐ schnitts eingeleitet. Auch am Beginn unseres Abschnitts formuliert der Chor nun sein Begehren durch den Begriff πυθέσθαι (v. 512) und evoziert so die Si‐ tuation der Parodos erneut: Es stehen sich auch hier der forschende, geradezu nachbohrende Chor und der dadurch in die Enge getriebene Oidipus gegenüber. Gegenstand der Auseinandersetzung ist mit Oidipusʼ Vergangenheit ein zent‐ rales Moment der Vorgeschichte, das in der Parodos noch nicht explizit thema‐ tisiert wurde, sondern allenfalls den durch Zuschauer (und Leser) antizipier‐ baren Hintergrund des aktuellen Bühnengeschehens bildete. Dass der Blick auf 195

So die Konjektur des überlieferten καὶ γὰρ ἄλλους durch L LOYD -J ONES /W ILSON (1990). P EARSON (1924) griff noch nicht so umfangreich in den Text ein, sondern schloss sich nur Porsons Konjektur ἄνους für ἄλλους an. D AWE (1979) setzt den Rest des Verses nach καὶ γάρ in cruces und listet im Apparat einige Lösungsvorschläge auf; dazu K A‐ MERBEEK (1984) S. 92, der nach der Diskussion der Stelle anmerkt: „But I can understand Dawe’s cruces very well“.

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die Vorgeschichte und damit die familiären Umstände des Protagonisten dabei gerade an dieser Stelle innerhalb des Stücks erfolgt, zeugt von besonderer dra‐ matischer Ökonomie: In der Parodos bot die reine Präsenz des Fremden dem Chor Anlass, nach dessen Identität zu fragen; in der Namensnennung (v. 222) erreichte die so erzeugte Spannung ihre Klimax. Die Ismene-Szene des an‐ schließenden Epeisodions hatte daraufhin Oidipus in Interaktion mit seiner Fa‐ milie gezeigt. Die innige Begrüßung v. 324 ff. zwischen den drei auf der Bühne anwesenden Verwandten Oidipus, Antigone und Ismene lieferte dabei den wir‐ kungsvollen Kontrast zur konfliktgeladenen Situation in Theben, als deren ent‐ scheidendes Moment Ismene den Zwist unter den Brüdern Eteokles und Poly‐ neikes sowie das Verhalten des ebenfalls zur Familie gehörenden Kreon referierte. Indem Oidipus im Kommos schließlich explizit auf seine beiden Kinder verweist (v. 530 ff.), wird die Verwandtschaftsbeziehung der Personen untereinander im Licht der Vorgeschichte und damit der Inzestproblematik ge‐ deutet. Rückblickend erfährt so die kontrastiv zum Bruderzwist in Theben ge‐ staltete Familienzusammenführung nach Ismenes Auftritt eine besonders düs‐ tere Note. Mit dieser teils vorder-, teils hinterszenischen Ausleuchtung sind sowohl die Zuschauer als auch die kolonischen Greise über die momentane Familiensitua‐ tion des Haupthelden in Kenntnis gesetzt. Der sich im Kommos anschließende Blick in die Vergangenheit und damit die Thematisierung der zentralen, bisher unausgesprochenen Momente der Vorgeschichte runden hier den expositori‐ schen Teil der Tragödie und komplettieren das Bild des Protagonisten. Die von Beginn der Tragödie an erwartbare Verarbeitung des thebanischen Themen‐ komplexes ist so wirkungsvoll in den Ablauf der Tragödie integriert: Als Post‐ ludium der Ismene-Szene bietet das Amoibaion die thematische Grundierung der Bühnenaktion, auf der sich das aktuelle vorder- und hinterszenische Ge‐ schehen umso greller abheben kann. Bildete also die Thematisierung der Familienverhältnisse eine motivische Brücke zwischen der vorangegangenen Szene und dem Wechselgesang, so war Oidipusʼ Selbstrechtfertigung bereits bestimmendes Moment seines auf die Par‐ odos folgenden Monologs (v. 258 – 291). Zwei deutliche Bezugnahmen erweisen die aufeinander abgestimmte Komposition der beiden Formteile: Zum einen spiegelt sich Oidipusʼ entschiedenes τά γʼ ἔργα με πεπονθότʼ ἴσθι μᾶλλον ἢ δεδρακότα (v. 266 f.) im Dialog der Verse 538 ff. (Chor: ἔπαθες Oidipus: ἔπαθον […] Chor: ἔρεξας Oidipus: οὐκ ἔρεξα). Zum anderen greift Oidipusʼ ab‐ schließende Versicherung, er sei unwissend in diese Lage gekommen (ἄιδρις ἐς τόδʼ ἦλθον v. 548), seine bereits in Vers 273 (οὐδὲν εἰδὼς ἱκόμην ἵνʼ ἱκόμην) gegebene Beteuerung wieder auf. Dass zudem mit νόμῳ δὲ καθαρός (v. 548) eine

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III. Greisenchöre

subtile Vergegenwärtigung der hinterszenisch ablaufenden Reinigungszere‐ monie vorliegt (vgl. die detaillierte Anleitung des Chors zum καθαρμός v. 466), ist weiterhin bemerkenswert: Während also Ismene den Frevel ihres Vaters ge‐ genüber den Eumeniden sühnt, bekundet Oidipus, mit Blick auf die Taten seiner Vergangenheit frei von Schuld zu sein. Der so erfolgte Anklang an das aktuelle hinterszenische Geschehen lädt dabei die Aussage des Protagonisten mit be‐ sonderer Brisanz auf und verleiht ihr geradezu plastische Tiefe. Die formale und sprachliche Gestaltung des Amoibaion knüpft augenschein‐ lich an die der Parodos und ihrer Epode an.196 Wieder ist das Wechselgespräch von kurzen Einwürfen (v. 518, 533), Zwischenfragen (v. 513, 524, 531, 539, 546) und emotionalen Klageinterjektionen (v. 517, 519, 536) geprägt; die teilweise äußerst kurzen Redebeiträge und die Zerstückelung der Perioden durch die ein‐ geschalteten Zwischenfragen verstärken dabei den Eindruck des situativen und impulsiven Gesprächs. Wie schon in der Epode der Parodos bahnt sich dabei die Preisgabe der entscheidenden Information schrittweise an: Der Ablehnung des Protagonisten (v. 515 f.), die im Vergleich mit der entsprechenden Partie der Par‐ odos (v. 208 und 210 f.) weniger entschieden vorgetragen erscheint, setzt der Chor seine unbedingte Wissbegier entgegen und rekurriert auf ein mehr oder minder diffuses Vorwissen (ἄκουσμʼ v. 518). Das anfängliche Zögern des Ange‐ sprochenen (v. 518 – 520, im Vergleich zu v. 212 – 218 etwas gerafft) mündet in das Selbstzeugnis der eigenen Taten, das wiederum dreigliedrig aufgebaut ist: Während auf Oidipusʼ erste, sehr allgemein formulierte Bemerkung (v. 521 – 523) der Chor zunächst die nach Präzisierung bittende Nachfrage ἀλλʼ ἐς τί (v. 524) stellt, leistet gerade die bohrende Nachfrage des Chors auf Oidipusʼ zweite Äu‐ ßerung (v. 525 f.) die entscheidende Konkretisierung. Erst durch das vom Chor ausgesprochene μητρόθεν (v. 527) ist der Kern der Vorgeschichte bezeichnet und der Protagonist endgültig in die Enge getrieben. Zusammengefasst lässt sich sagen: Das Amoibaion reinszeniert in formaler Hinsicht die Parodos, ruft damit die erste effektvolle Konfliktszene des Dramas erneut auf und setzt sie fort. Motivisch liefert es mit der expliziten Thematisie‐ rung der Vergangenheit des Protagonisten den entscheidenden Beitrag zur Ex‐ position des Haupthelden, verengt damit die in der Ismene-Szene virulente Fa‐ milienthematik und gibt Oidipus Gelegenheit, erneut seine Selbstrechtfertigung vorzubringen. Diese im Wechselspiel mit den anderen Formteilen unseres Dramas fortführend-intensivierende Wirkung des Kommos dient dabei letztlich 196

So auch B URTON (1980) S. 264 nach einer Aufzählung der im Kommos erzielten emoti‐ onalen Wirkung: „All this is achieved by further exploitation of the same techniques that were used with such effect in the parodos“.

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der umfassenden Inszenierung und effektvollen Darstellung des Protagonisten: Erst mit dem Amoibaion ist seine Gestalt umfassend ausgeleuchtet. Oidipusʼ direktes wie indirektes Wirken in allen drei Zeitdimensionen – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – sowie den verschiedenen Zusammenhängen – Fa‐ milie, Theben, Athen – ist so mit dem Ende der Partie eingehend thematisiert bzw. im Wesentlichen vorgedeutet. Der Kommos fungiert in diesem Sinn als emotionaler Schlusspunkt der ersten, expositorischen Großpartie der Tragödie und rundet diesen Abschnitt in seiner formalen Bezugnahme auf die Parodos. Nach der Einblendung der Themen‐ komplexe „Familiensituation und Familiengeschichte“ sowie „Theben“ eröffnet daraufhin der Auftritt des Stadtherrn Theseus in Vers 551 eine neue Konfron‐ tationsszene und setzt so die Handlung fort. Die durch Ismenes Abtritt einge‐ tretene Pause im unmittelbaren Hergang des Geschehens ist so mit einer the‐ matisch retardierenden Passage gefüllt, in der die motivischen und formalen Stränge der Tragödie zu einem erneuten effektreichen und emotionalen Aus‐ tausch zwischen Protagonist und Chor verwoben wurden. Erstes Stasimon (v. 668 – 719)

Mit dem ersten Stasimon kommen wir zur ersten rein chorischen Partie unserer Tragödie. Es wird sich im Folgenden zeigen, inwiefern der Passage eine dieser herausgehobenen Positionierung entsprechende Stellung im Gefüge der Tra‐ gödie selbst, d. h. eine besondere dramaturgische oder motivisch-thematische Relevanz zukommt. Überblicken wir allerdings auch hier zunächst kurz die Handlung bis zum Beginn des Chorliedes. Den zweiten Teil des ersten Epeisodions (v. 551 – 667) bildet die Unterredung des Protagonisten mit dem neu hinzugetretenen Stadtherrn Theseus, die einzig durch einen kommentierenden Doppelvers des Chors (v. 629 f.) unterbrochen wird. Der detaillierte Ablauf des Gesprächs ist dabei unter unseren Gesichts‐ punkten von untergeordnetem Interesse; es reicht mit Blick auf die formale Komposition festzuhalten, dass sich im Lauf der Unterhaltung Passagen um‐ fangreicherer Äußerungen, geradezu monologartige Partien (so Theseusʼ erster Beitrag v. 551 – 568, sowie seine Bekundungen v. 631 – 641 und 656 – 667 mitsamt Oidipusʼ Ausführung v. 607 – 629) mit stichomythischen Abschnitten abwech‐ seln. Neben den Versen 579 – 606, in denen die Sprecher (bis auf zwei Aus‐ nahmen, v. 583 f. und 599 ff.) jeweils nach einem Vers wechseln, fällt besonders die Schlusspartie des Gesprächs ins Auge. So steigert der Dichter dort die In‐ tensität des Gesprächs nach Theseusʼ Äußerungen (v. 631 – 641) in zwei Schritten: Schließt sich zunächst eine erneute stichomythische Partie mit Sprecherwechsel zu jedem Vers an (v. 642 – 651), so fällt Theseus seinem erregten Gesprächs‐

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III. Greisenchöre

partner in den nächsten fünf Versen (v. 652 – 656) jeweils an derselben Stelle im Vers ins Wort, unterbricht dabei die Syntax des von Oidipus begonnenen Satzes und führt schließlich seinen letzten Beitrag (v. 656 ff.) in Form einer abschlie‐ ßenden Äußerung fort.197 Blicken wir nach dieser rein formalen Betrachtung noch kurz auf die inhalt‐ liche Entwicklung des Zwiegesprächs: Theseus bekundet gleich zu Beginn, pro‐ funde Kenntnis von Oidipus und seiner Vorgeschichte zu besitzen, und fragt schließlich, welches Ansinnen ihn nach Athen geführt habe (v. 551 – 560). Oi‐ dipus verspricht daraufhin, Theseus seinen eigenen, erbärmlich anzusehenden Körper zum Geschenk machen zu wollen; der daraus entspringende Nutzen sei einer schönen Gestalt bei weitem überlegen (v. 576 ff.). Oidipus erläutert im Fol‐ genden die näheren Umstände der „Selbstschenkung“ und kommt schließlich auf seine besondere Situation und die sich daraus ergebende Problematik zu sprechen: Seine eigenen Nachkommen hätten ihn aus seiner Heimat vertrieben (v. 599 ff.), versuchten nun allerdings, ihn erneut in ihre Gewalt zu bringen, um gemäß göttlicher Weisung in einem zukünftigen Konflikt mit Athen die Über‐ hand behalten zu können. Auf die verwunderte Nachfrage des attischen Stadt‐ herrn (v. 606) verweist der Protagonist auf den Lauf der Zeit: Auch das mo‐ mentan günstige Verhältnis zwischen Athen und Theben werde sich ändern und in einem blutigen Konflikt über dem Grab des Oidipus kulminieren. Allerdings sei es nicht angenehm, darüber zu sprechen; Theseus solle ihn gewähren lassen und einzig seine Sache im Auge haben. Man werde jedenfalls nicht sagen können, dass Oidipus als ein „nutzloser Siedler“ (ἀχρεῖον οἰκητῆρα v. 626 f.) in Athen aufgenommen worden sei. Den Monolog des Protagonisten kommentiert der Chor an dieser Stelle mit einem standardisierten Doppelvers: Diese und gleichartige Versprechen mache Oidipus dem Land schon längere Zeit (πάλαι). Theseus gewährt dem Ankömm‐ ling daraufhin offiziell Asyl: Wer wolle, so die rhetorische Frage des Stadtherren, die Huld eines solchen Mannes ausschlagen? Erstens stehe Oidipus ein gast‐ freundlicher Herd in Athen zur Verfügung, zum anderen komme er als Schutz‐ flehender und verspreche zudem, Athen einen nicht unbedeutenden Vorteil zu gewähren. Den Chor fordert Theseus daraufhin auf, den Fremden, sollte er hier am Ort bleiben wollen, zu bewachen; Oidipus stellt er es frei, am Ort des Ge‐ schehens zu bleiben oder sich mit ihm in die Stadt zu begeben. Der Angespro‐ chene betont allerdings die Notwendigkeit, hier vor Ort bleiben zu müssen: Nur so könne er diejenigen überwinden, die ihn vertrieben hatten (v. 644 ff.). Theseus 197

Vgl. K AMERBEEK (1984) S. 103: „In this structure of ἀντιλαβαί the division between the speakers is the same in all five lines; Theseusʼ part in 656 is the beginnig of a rhesis which concludes the dialogue and the epeisodion“.

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versucht er daraufhin, auf sein gegebenes Wort zu verpflichten und ihn mit einem Eid zu binden, was der Stadtherr allerdings ablehnt. Oidipusʼ Angst vor der unmittelbaren Zukunft, d. h. der Ankunft der thebanischen Gesandtschaft rund um Kreon, ist dabei geradezu mit Händen zu greifen: Innerhalb der bereits im formalen Überblick besonders erwähnten Stichomythie der Verse 642 – 655 verleiht er seinem Gefühl der Hilflosigkeit und Verlassenheit besonderen Aus‐ druck. Die kurzen, eindringlichen Appelle an Theseus können den Stadtherren allerdings nicht davon überzeugen, selbst hier am Ort zu bleiben. Vielmehr ver‐ sichert er Oidipus der Unterstützung durch die Choreuten, fordert ihn auf, Mut zu haben (θάρσει v. 649 sowie θάρσειν v. 664), verbittet sich allerdings Einmi‐ schungen in sein Handeln (v. 654). Oidipus solle, so Theseusʼ Zusage, außer Sorge sein: Keiner werde ihn gegen seinen Willen von hier fortführen; die Ankunft der Thebaner sei auf Grund des langen Wegs ohnehin fraglich. Theseusʼ Name werde Oidipus jedenfalls vor jeglichem Übel schützen. Mit diesen Worten ver‐ lässt der Herrscher in Vers 668 die Bühne; das erste Epeisodion hat damit ein Ende gefunden. Zu einer Kommentierung durch Oidipus kommt es an dieser Stelle nicht, da der Chor nach Theseusʼ Abgang direkt mit seinem ersten Stand‐ lied einsetzt. Der Protagonist wird sich – von seinem sorgenvollen Fragen und Bitten in den Versen 722 bzw. 724 f. abgesehen – erst in der direkten Auseinan‐ dersetzung mit Kreon wieder ausführlicher zu Wort melden (v. 761 – 799). Mit Theseusʼ Zusage, Oidipus Asyl zu gewähren, ihn sogar als Mitbürger auf‐ zunehmen (v. 636 f.), war die der Szene innewohnende Spannung zunächst zu einem Ende gekommen: Das Verhältnis zwischen Oidipus und Theseus schien geklärt, der Verbleib des Bittflehenden in Athen war gesichert, Oidipus nun auch offiziell in Athen angekommen. Die drastische Inszenierung der Angst des Prot‐ agonisten vor Kreon und der bevorstehenden Konfrontation lässt allerdings keine wirkliche Ruhe aufkommen: Mit der Stichomythie erfährt die Szene eine erneute Dynamisierung und Emotionalisierung; Theseusʼ ermunternde Versi‐ cherungen und sein Mahnen zur Ruhe am Ende des Epeisodions können die virulente Spannung dabei nicht wesentlich mindern. Gerade seine grundle‐ genden Zweifel an der Ankunft der thebanischen Gesandtschaft wirken dabei als dramatischer Impuls, der die drohende Konfrontation nur umso lebhafter antizipierbar macht. Nachdem also die wohlwollende Aufnahme durch den Stadtherrn ein Kon‐ fliktfeld befriedet hat, forciert das Ende des Epeisodions den Fortgang der Hand‐ lung erneut und nimmt die bevorstehende Auseinandersetzung Oidipus-Kreon

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III. Greisenchöre

in den Blick. Wie sich in diesen Zusammenhang das erste Stasimon einfügt, wird die genauere Betrachtung der Chorpartie zu zeigen versuchen.198 Übergreifendes Thema des in zwei Strophenpaaren komponierten Liedes ist die Stadt Athen – im Besonderen der Demos Kolonos – und deren spezielle Be‐ günstigung durch göttliche Mächte. Der geradezu hymnisch-preisende Ton ent‐ springt dabei einer detaillierten Beschreibung einzelner Momente, Orte und Er‐ rungenschaften der Stadt sowie deren Einbettung in einen theologischen Kontext. Wie sich zeigen wird, lädt dabei das Lied den entworfenen Raum mit spezieller Bedeutung auf und gewinnt daraus seine besondere dramaturgische Relevanz. Die so komplexe wie ansprechende motivische Komposition des Liedes verlangt dabei an einigen Stellen eine besonders ausgreifende Behand‐ lung; auf die dramaturgischen Implikationen soll im Anschluss an eine abriss‐ artige Darstellung des Stasimons eingegangen werden. Mit einer direkten Anrede an Oidipus (ξένε v. 668) fügen sich die Choreuten in die Sprechersituation des Epeisodions und setzen Theseusʼ Ansprache gera‐ dezu fort. Oidipus sei, so der Chor, innerhalb dieses Landes, das sich besonders durch die Qualität seiner Pferde auszeichnet (εὐίππου χώρας), zu den besten Wohnstätten der Erde gelangt (τὰ κράτιστα γᾶς ἔπαυλα): nach Kolonos – dem Schauplatz der Dramenhandlung. Schon mit dieser Einleitung ist die Tonlage des Liedes deutlich angeschlagen: Was nun folgt, ist nichts Geringeres als die preisende Beschreibung dieser herausragenden Lokalität und damit ein Lobge‐ sang auf Athen, dessen weltweit einmalige Stellung bereits der zweite Vers des Stasimons anklingen ließ. Die Schilderung setzt mit einem äußerst farbigen De‐ tail ein und weitet sich zu einer umfassenderen Ausmalung der Szenerie: Hier am Ort (ἔνθʼ) singe die hellklingende Nachtigall in grünen Schluchten und be‐ wohne den weinfarbenen Efeu sowie das unbetretbare, fruchtreiche, schattige und von allen Stürmen unbehelligte gottgeweihte Gehölz (θεοῦ φυλλάδα).199 Dort wandere immerzu Dionysos in Begleitung seiner göttlichen Pflegerinnen. Beginnend beim Detail der Nachtigall – deren Präsenz am geheiligten Bezirk bereits Antigone im Prolog erwähnt hatte (v. 18) – hat so die erste Strophe bereits ein stimmungsvolles Panorama des Geländes gezeichnet und es durch den Ver‐ weis auf Dionysos und die ihn begleitenden Göttinnen mit religiöser Bedeutung 198

199

Besondere Aufmerksamkeit bei der Behandlung dieses Liedes verdient die wegweisende Interpretation von M C D EVITT (1972). „The Nightingale and the Olive: Remarks on the First Stasimon of Oedipus Coloneus.“ in: Antidosis. Festschrift für Walter Kraus zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Rudolf H ANSLIK , Albin L ESKY , Hans S CHWABL (1972), Wien, Köln, Graz, S. 227 – 237. J EBB (1928) bemerkt zu Recht: „the φυλλάς meant is not only that of the sacred grove; it includes the Academy.“ S. 114.

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aufgeladen. Die Nennung der Nachtigall birgt dabei allerdings eine besondere Implikation: So steht das Singen dieses Vogels in der Regel für Klage, Leid und Jammer200 und dient gerade unserem Dichter regelmäßig als poetischer Ver‐ gleichspunkt für Wehklage und den emotionalen Ausdruck besonderen Schmerzes.201 Mit dieser Konnotation hat die Motivik der Strophe nach den ge‐ radezu programmatischen ersten Versen (668 – 670) eine überraschende Berei‐ cherung erfahren: Neben das Lob des großartigen attischen Landes tritt bei der Ausgestaltung des Panoramas eine klagende Note. Der Blick auf die in Rede stehende Landschaft entfaltet sich syntaktisch aus der Nennung der Nachtigall: Ihren groben Aufenthaltsort bezeichnet zunächst die Angabe χλωραῖς ὑπὸ βάσσαις, bevor ἔχουσα κισσόν die konkrete Wohnstatt des Vogels bezeichnet. Zugleich ist mit der Verbalisierung des Efeus die moti‐ vische Brücke zu Dionysos geschlagen. Der Gedankenfortschritt ist so innerhalb der Strophe besonders assoziativ und imaginativ, die Syntax verleiht dem mo‐ tivischen Progress dabei eine logische Struktur. Ihre herausragende poetische Qualität entfaltet die erste Strophe durch ihre geradezu sinnliche Schilderung der Szenerie, wobei das einzelne akustische Phänomen (λίγεια μινύρεται) mit einer Vielzahl im weitesten Sinne optischer Reize kombiniert wird. Besonderes Augenmerk verdient dabei der bemerkens‐ werte Hell-Dunkel-Kontrast innerhalb der reichhaltigen Farbangaben: Wäh‐ rend Kolonos selbst als „weiß / glänzend“ (ἀργῆτα v. 670) apostrophiert wird,202 erweckt die Beschreibung des Hains den Eindruck eines dunklen, abgeschie‐ denen, geradezu geheimnisvollen Bereichs (im Besonderen durch οἰωπός, ἀνήλιον sowie ἀνήνεμον).203 Dass der so geschilderte Landstrich dagegen durch den wahnhaft rasenden (βακχιώτας) Gott Dionysos und seine Begleiterinnen bevölkert wird, setzt einen energischen Akzent: Das zuvor geradezu verdunkelte und durch die Nachtigallenthematik eingetrübte Bild belebt sich an unserer 200

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Vgl. im Besonderen den reich belegten Artikel von H ÜNEMÖRDER (2000). „Nachtigall.“ in: DNP Band 8, Sp. 672 – 673: („Ihr [i.e.: der Nachtigall] Lied stellt aber immer auch eine Klage dar […] und drückt Leid und Sehnsucht aus.“); sowie zu den biologischen As‐ pekten den Artikel „Aedon“ in: A RNOTT (2007). Birds in the ancient world from A to Z, London und New York, S. 1 f.; zudem S UKSI (2001). „The Poet at Colonus: Nightingales in Sophocles.“ in: Mnemosyne 54 (2001), S. 646 – 658.; sowie zum „avis-Motiv“ in den Klagedarstellungen der Tragödie S CHAUER (2002). Tragisches Klagen: Form und Funk‐ tion der Klagedarstellung bei Aischylos, Sophokles und Euripides (Diss.), Tübingen, S. 225 f. So im Besonderen Trachinierinnen 962, Elektra 107 und 1077 sowie Aias 629. Eine Erläuterung dieses Epithetons gibt J EBB (1928) S. 113 ad locum. Vgl. K AMERBEEKS (1984) kurze Bemerkung S. 106 sowie M C D EVITT (1972): „[…] but at once, in contrast to ἀργῆτα Κολωνόν (shining Colonus) a darker colour begins to ob‐ trude“ S. 231.

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Stelle mit einem Mal und bietet den schlaglichtartigen Ausblick auf eine orgi‐ astisch-rauschhafte Szenerie. In der Gegenüberstellung dunkler und hellerer Farbtöne greifen so drei ver‐ schiedene Motivkomplexe ineinander, die den geschilderten Raum aus verschie‐ denen Perspektiven beleuchten bzw. geradezu in verschiedene Kontexte trans‐ ferieren: Ist der Demos Kolonos zu Beginn der Strophe die strahlend großartige und weltweit einmalige Wohnstätte, so beherbergt er mit der Nachtigall gera‐ dezu exemplarisch Wehklage und Trauer. In einem dritten Schritt erfolgt da‐ raufhin die schrittweise Ausleuchtung der Lokalität als eines Dionysos-Heilig‐ tums (im Besonderen durch die Begriffe χλωρός, οἰνωπὸς κισσός, μυριόκαρπος), die schließlich in der namentlichen Nennung des Gottes gipfelt. Unter betonter Voranstellung des Prädikats (θάλλει v. 681) lenkt die Gegen‐ strophe den Blick zunächst auf zwei prominente Pflanzen, die zur Ausstattung des Bezirks gehören (inhaltlich schließt die Passage dabei an ἔνθʼ aus Vers 670 an und bereichert die Beschreibung des Geländes um einen weiteren Aspekt): Sowohl die „schöntraubige“ (καλλίβοτρυς) Narzisse als auch der „goldglän‐ zende“ (χρυσαυγής) Krokus blühen unter der Einwirkung des himmlischen Taus an jedem Tag. Eingeschaltet in diese Aufzählung ist eine Information zur reli‐ giös-kultischen Einordnung der Narzisse: Sie dient den beiden „großen Göt‐ tinnen“,204 d. h. Demeter und Kore,205 als Bekränzung (στεφάνωμʼ). In reihender Aufzählung (οὐδʼ v. 685) fährt der Chor fort und wendet den Blick auf ein wei‐ teres, die Landschaft prägendes Phänomen: Die Quellen des Kesiphos versiegen nie; vielmehr ergießt sich der Fluss mit unvermischtem Wasserguss über die Ebenen des weitreichenden Landes und begünstigt damit rasches Wachstum und Fruchtbarkeit (ὠκυτόκος v. 689). Ein erneutes, diesmal verdoppeltes οὐδʼ leitet eine weitere theologisch-religiöse Aussage ein: Weder die Chöre der Musen noch Aphrodite mit ihren goldenen Zügeln haben diese Region verab‐ scheut. Auch hier lohnt ein genauer Blick auf die Motivik der Gegenstrophe. Drei Bildbereiche werden in diesem Abschnitt des Liedes aufgerufen: Blumen (Nar‐ zisse und Krokus), der Fluss Kesiphos und die göttliche Begünstigung des Land‐ strichs (Musen und Aphrodite). Widmen wir uns zunächst diesen einzelnen Be‐

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An dieser Stelle (v. 683) bieten L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) ganz zu Recht gegen alle Konjekturen den einhellig (!) überlieferten Text μεγάλαιν θεαῖν. Vgl. M C D EVITT (1972) S. 234: „Although the Chorus continues its praise of Colonus by describing it as flour‐ ishing with lovely flowers, these are the flowers of death“. Vgl. J EBB (1928) S. 115 sowie K AMERBEEK (1984) S. 106, beide gegen die Identifikation der „großen Göttinnnen“ mit den Erinyen, wie sie die Scholien mit Bezug auf Euphorion (fr. 98 G RONINGEN (1977). Euphorion, Amsterdam, S. 164 – 166) annehmen.

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reichen etwas genauer. Mit Narzisse und Krokus ist die Eintrübung der Stimmung aus der vorangegangenen Strophe fortgesetzt: Zwar kommen den beiden Pflanzen mit καλλίβοτρυς und χρυσαυγής zwei besonders kräftige, farbreiche und positiv konnotierte Adjektive zu. Die zu Grunde liegende Sym‐ bolik ist allerdings unmissverständlich: Beiden Pflanzen gemein ist die Aufla‐ dung mit dem Themenbereich Tod und Unterwelt,206 was mit der Apostrophie‐ rung der beiden „großen Göttinnen“, d. h. den eleusinischen Gottheiten Demeter und Kore unmissverständlich klargestellt wird. An diesem Punkt intensiviert so die Gegenstrophe die mit der Nachtigallenthematik in den Versen 670 ff. bereits angedeutete Motivik von Klage, Trauer und Leid und verdichtet sie zu konkreter Todessymbolik. Der Fluss Kesiphos bzw. seine Quellen (κρῆναι v. 686) sind dagegen anders konnotiert: Das ständige Strömen und die damit einhergehende Befruchtung des Landes (ὠκυτόκος v. 689) setzen gegen die vorangegangene Todesmotivik einen besonders lebendigen Akzent. Ähnlich verhält es sich mit der Angabe der den Landstrich begünstigenden Gottheiten: Aphrodite passt dabei mit Blick auf ihr Aufgabengebiet freilich bes‐ tens in die Fruchtbarkeitsthematik; zudem verbindet sie das ihr beigegebene Adjektiv χρυσάνιος (v. 693) auf einer rein bildhaft-assoziativen Ebene mit dem Krokus, der in Vers 685 als χρυσαυγής bezeichnet wurde. Die Musen scheinen sich aus dem unmittelbaren Kontext dagegen etwas ab‐ zuheben, da mit ihrer Nennung weder der Themenbereich Klage und Tod noch Fruchtbarkeit und Vegetation berührt sind. Die Erwähnung ihrer Chöre (χοροί v. 692) erklärt sich dagegen aus dem Vorhandensein eines Musenaltars in der kolonischen Umgegend.207 Wie sind nun diese einzelnen motivischen Bereiche innerhalb der Gegen‐ strophe miteinander verknüpft? Im Vergleich mit der korrespondierenden Strophe wirkt die Abfolge der einzelnen Bilder hier wesentlich reihender, ein durchgehendes syntaktisches Gliederungsmoment scheint zu fehlen. War das Detail der regelmäßig singenden Nachtigall in der Strophe der Ausgangspunkt, den Aufenthaltsort des Vogels und damit den in Rede stehenden Landstrich in einer ausgreifenden Periode näher zu schildern, so tritt hier das fortführende

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Dazu J EBB (1924) S. 115 f. sowie K AMERBEEK (1984) S. 106, beide mit Verweis auf die maßgebliche Passage des homerischen Demeterhymnos v. 6 – 8. Beschrieben wird an dieser Stelle, wie Kore beim Blumenpflücken, genauer beim Pflücken einer Narzisse geraubt wird. Zur besonderen Ausdeutung dieser Motivik vgl. im Besonderen G RETH‐ LEIN (2003). Asyl und Athen: die Konstruktion kollektiver Identität in der griechischen Tragödie, Stuttgart, S. 303 – 307. Vgl. K AMERBEEK (1984) S. 107.

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III. Greisenchöre

οὐδέ (v. 685, 691, 692) an die Stelle elaborierter syntaktischer Gestaltung. Die einzelnen Bilder innerhalb der Imagination (Blumen, Fluss, göttliches Personal) stehen so zwar in einem logisch-motivischen Verhältnis zueinander, sind aller‐ dings syntaktisch nur schwach miteinander verbunden. Während so der Chor scheinbar voneinander unabhängige Phänomene aufzählt, bleibt es den Rezipi‐ enten überlassen, die konkreten Übergänge und Bezüge zwischen den einzeln aufgerufenen Themen- und Bildkomplexen herzustellen. Wie verhält sich jedoch die Gegenstrophe zur der mit ihr korrespondierenden Strophe? Augenscheinlich reichert sie das bereits entworfene Panorama um weitere Details an. Der Übergang ist motivisch dabei durchaus stringent und folgerichtig: So entfaltet die Darstellung von Krokus und Narzisse die in μυριόκαρπον (v. 676) angerissene Vegetationsthematik. Mit θάλλει und καλλίβοτρυς konkretisiert sich das Bild des göttlich begünstigten und besonders fruchtbringenden Hains, bevor die eigentliche Nennung der Blumen den The‐ menbereich „Tod und Vergänglichkeit“ in den Blick rückt. Die beiden gegen‐ sätzlichen Pole Tod und Fruchtbarkeit, deren jeweilige Ausgestaltung eine Kon‐ kretisierung und Intensivierung der durch die Strophe etablierten Motivik darstellte, sind so aufs Engste miteinander verbunden und geschickt in ein farben- und anspielungsreiches Bild verwoben. Halten wir an diesem Punkt fest: Das Ineinandergreifen von Todes- und Fruchtbarkeitsthematik prägt das erste Strophenpaar maßgeblich. Die Beschrei‐ bung des Demos Kolonos, dessen Einmaligkeit die programmatischen Verse zu Beginn des Liedes herausstellten, erschöpft sich so nicht in der Aneinanderrei‐ hung besonders hervorzuhebender Eigenschaften von Landschaft, Flora und Fauna sowie dem Aufzählen bestimmter lokaler Schutzgottheiten. Vielmehr ist mit dem gezeichneten Panorama der Ort der Handlung mit spezifischer Bedeu‐ tung aufgeladen: Kolonos besticht nicht nur durch seine anmutige Landschaft, den Reichtum an Pflanzen und Tieren sowie die besondere Begünstigung durch göttliche Mächte, sondern firmiert als Kulminationspunkt von Tod und Leben, Absterben und überbordender Fruchtbarkeit.208 Wenden wir uns dem zweiten Strophenpaar zu. Unter betonter Voranstellung des Prädikats (ἔστιν δʼ v. 694) entfaltet die zweite Strophe zunächst einen Ver‐ gleich, der die Einmaligkeit Attikas mit Blick auf ein besonderes Detail der heimischen Flora herauszustellen sucht: Es gibt etwas, das nach Kenntnisstand des Chors (ἐγὼ ἐπακούω v. 694 f.) in seiner spezifischen Art und Weise weder in Asien (γᾶς Ἀσίας) noch auf der großen dorischen Insel des Pelops (ἐν τᾷ μεγάλᾳ Δωρίδι νάσῳ) gewachsen ist. Die Rede ist von einem nicht durch Menschen 208

Vgl. M C D EVITT (1972) S. 237: „[…] a place, where new life arises in the midst of death“.

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gepflanzten (ἀχείρωτον),209 sich selbst schaffenden (αὐτοποιόν) Gewächs, das für feindliche Speere ein besonderes Schrecknis darstellt (ἐγχέων φόβημα δαΐων) und in höchstem Maß in diesem Land, d. h. in Attika blüht. Erst am Ende der ausgreifenden Periode und zugleich in der Mitte der Strophe erfolgt die konkrete Nennung der Pflanze:210 Gemeint ist der bläulich-grüne, kindernäh‐ rende211 Ölbaum (γλαυκᾶς παιδοτρόφου ἐλαίας). Dieses Gewächs werde, so der Chor, weder ein junger noch ein alter Mann zerstören, da es unter besonderem göttlichen Schutz steht: Das immerzu bli‐ ckende Auge (ὁ δʼ αἰὲν εἰσαιὲν ὁρῶν κύκλος) des Zeus Morios und die strah‐ lenäugige (γλαυκῶπις) Athene haben es im Blick. Die zweite Strophe scheint zunächst eine Fortsetzung der im ersten Stro‐ phenpaar etablierten Fruchtbarkeitsthematik zu sein: Gegenstand der Betrach‐ tung ist erneut eine Pflanze, ihr besonderes Wachstum und die ihr entgegenge‐ brachte göttliche Fürsorge. Die begrifflichen, motivischen und strukturellen Bezüge und Parallelisierungen zu den ersten beiden Strophen sind dabei offen‐ sichtlich. Es genügt, folgende Punkte zu erwähnen: Wie zu Beginn des Liedes (v. 668 ff.), so schaltet der Chor auch hier eine vergleichende Einordnung vor die Beschäftigung mit dem eigentlich entscheidenden Detail. War an der ersten Stelle dabei universell von den weltweit besten Wohnstätten die Rede (τὰ κράτιστα γᾶς ἔπαυλα), so nennt die zweite Strophe mit Asien und der Pelo‐ ponnes zwei geographisch konkret zu verortende Vergleichspunkte, an denen das in Rede stehende Phänomen nicht auftritt. In beiden Fällen dient der Ver‐ gleich dabei der besonderen Fokussierung auf „dieses“ Land (τᾶσδε χώρας v. 668 f., τᾷδε χώρᾳ v. 700), d. h. Athen bzw. Attika. Mit θάλλει (v. 700) ist weiterhin ein zentraler Begriff der ersten Gegenstrophe (v. 681) wieder aufgegriffen, die Attribute ἀχείρωτον und αὐτοποιόν (v. 698) verweisen wie schon οὐρανίας ὑπʼ ἄχνας (v. 681 f.) auf die besonderen Umstände des thematisierten Pflanzen‐ wachstums. Hatte zudem in der Gegenstrophe das dem Krokus zukommende Attribut χρυσαυγής (v. 685) eine – wenn auch rein bildliche – Verbindung zu der als χρυσάνιος (v. 693) apostrophierten Aphrodite geschaffen, so fordert das auf ἐλαῖα bezogene γλαυκά (v. 701) geradezu die Assoziation zur γλαυκῶπις 209 210

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Zur Problematik dieses Adjektivs vgl. J EBB (1924) S. 118 f. sowie K AMERBEEK (1984) S. 108. Ich schließe mich L LOYD -J ONES (1994) an, der übersetzt: „a tree not planted by men’s hands“ II, S. 495. Vgl. S CHNEIDEWIN (1883) S. 101 f.: „Nun erst, nach spannender Vorbereitung, wird die ἐλαῖα selbst genannt“ sowie K AMERBEEK (1984) S. 109: „[…] the name of the wonderful φύτευμα has been reserved for the last colon (syntactically and metrically) of this long sentence, appearing there as its last word and in an expressive periphrasis“. Das Adjektiv ist in seiner konkreten Bedeutung umstritten. Vgl. K AMERBEEK (1984): „perhaps simply ‘child-nourishing’“ sowie seine Diskussion S. 109.

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III. Greisenchöre

Ἀθάνα, noch bevor die Nennung der Gottheit die Strophe abschließt. Zum dritten Mal innerhalb des Liedes mündet damit die Thematisierung eines be‐ stimmten Moments bzw. Phänomens in die Nennung gewisser (Schutz-)Gott‐ heiten. Die zweite Strophe reiht sich so zunächst motivisch und strukturell in den Kontext des Vorangegangenen; sie bietet dabei die Fortsetzung und weitere Ausgestaltung des Panoramas, das der Chor dem Neuankömmling von seiner Heimat zeichnet. Dennoch hat sich trotz aller Kontinuität mit dem Beginn des zweiten Strophenpaars der thematische Fokus etwas verschoben. Wenn auch die Fruchtbarkeitsthematik des ersten Strophenpaars in der Beschreibung des Ölbaums eine Fortsetzung – sogar, wie sich zeigen wird, eine besondere Klimax – findet, so spielt die Motivik von Klage und Tod an unserer Stelle keine Rolle mehr. An ihre Stelle tritt dagegen eine genuin patriotische, ja politisch-kriege‐ rische Bedeutungsebene. Der motivische Schlüssel ist dabei erneut die in Rede stehende Pflanze, in unserem Fall der Ölbaum. Betrachten wir dazu die fol‐ genden Punkte. Der Ölbaum212 ist wie kaum eine andere Pflanze mit Athene verbunden und so für die Polis Athen mit immenser religiöser und politischer Bedeutung auf‐ geladen. Im Mythos ist er das Geschenk der Göttin an die Stadt213 und gilt daher als handgreifliches Zeichen besonderer Gnade. Die μόριαι genannten und der Stadtgöttin geweihten Exemplare auf öffentlichem Boden standen unter dem Schutz eigener Gesetze, die das Fällen mit dem Tod bzw. der Verbannung be‐ straften.214 Die den Bäumen entgegengebrachte religiöse Scheu soll sogar den spartanischen Feldherrn Archidamos bei seiner Offensive gegen Athen dazu bewogen haben, die μόριαι der Akademie in unmittelbarer Nähe des Demos Kolonos zu schonen.215 Die erstaunlichen Rekreationskräfte des Ölbaums wurden zudem der Legende nach bei einer besonderen Gelegenheit unter Beweis gestellt: So soll das 212

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Zum Folgenden vgl. P EASE (1937). „Ölbaum.“ in: RE Band 17.2, Sp. 1998 – 2022, zur reli‐ giösen Bedeutung v. a. 2015 ff.; S CHERF (2000). „Moirai.“ in: DNP Band 8, Sp. 397; S CHNEIDER (2002). „Speiseöle.“ in: DNP Band 12 / 2, Sp. 1118 – 1122. sowie die Kommen‐ tare von J EBB (1924) und K AMERBEEK (1984) ad locum. Des Weiteren G RETHLEIN (2003) S. 285 ff. mit umfangreichen Literaturangaben (Anmerkung 101 S. 286). Für uns fassbar ist der Mythos vom Streit zwischen Athene und Poseidon um die Vor‐ herrschaft über Athen und das Geschenk der Göttin u. a. bei Herodot VIII, 55 sowie Apollodor, Bibliotheca III, 178+179. Vgl. dazu außerdem B REMMER (2001). „Poseidon.“ in: DNP Band 10, Sp. 201 – 206, im Besonderen 204. Vgl. P EASE (1937) Sp. 2017. Das berühmteste Beispiel für ein Vergehen gegen einen Ölbaum bzw. dessen Stumpf beinhaltet die siebte Rede des Lysias Περὶ σηκοῦ. So die Scholien zu Vers 698 unter Verweis auf die Historiker Philochoros (FgrH 328) und Andotion (FgrH 324).

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Exemplar im Erechtheus-Tempel der Akropolis selbst die Verbrennung durch die Perser überstanden und bereits einen Tag später in erheblichem Ausmaß neu ausgetrieben haben.216 K AMERBEEK greift angesichts der Bedeutung des Ölbaums für Athen nicht zu hoch, wenn er festhält, die Pflanze sei „a corner-stone of Athensʼ wealth and power, and symbol of their continuance“.217 Eine ähnliche Einschätzung gibt M ARKANTONATOS: „The olive-tree is a powerful symbol of the perennitas of Athens [.]“ Was ergibt sich nun daraus konkret für unser Stasimon? Machen wir uns bewusst: Mit der Thematisierung des Ölbaums – eines attischen National‐ symbols – gerät geradezu Athen selbst, d. h. die Polis als politischer und reli‐ giöser Bezugsrahmen der Handlung in den Blick der Choreuten. Die Schilderung des Baums und seiner einzigartigen Qualitäten fügt dem Panorama der attischen Landschaft nicht nur eine weitere Facette hinzu, sondern wird zum Ausdruck höchsten Bürgerstolzes, der die eigene Heimat in bewusster Abgrenzung zu an‐ deren Landschaften und Gegenden verherrlicht. Anders gesagt: Galt das Au‐ genmerk bis zu diesem Zeitpunkt im Wesentlichen dem Demos Kolonos, seiner poetischen Ausgestaltung und religiös-mythologischen Ausleuchtung, so weitet sich hier die Perspektive218 und gewinnt staatstragende Relevanz: Athen, seine wehrhafte Stärke und die besondere göttliche Fürsorge der Stadt gegenüber haben im Bild des Ölbaums ihren wirkungsvollen poetischen Ausdruck ge‐ funden. Die konkrete poetische Ausgestaltung der Strophe ist dabei in höchstem Maß anspielungsreich und rekurriert auf einige, dem athenischen Publikum vertraute Sachverhalte. Andeutungen sollen hier genügen: Mit der Versicherung des Chors, kein Mann, sei er alt oder jung, könne das Gewächs des Ölbaums je vernichten (v. 702 f.), ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die referierten und dem Publikum bekannten Anekdoten von Archidamos und der Verbrennung

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Auch dies bei Herodot VIII, 55. K AMERBEEK (1984) S. 108. Vgl. M ARKANTONATOS (2007) S. 92: „As the choral chant goes on, especially in the last two stanzas […], there is a remarkable widening of perspective to include well-known themes of national pride for the Athenians“.

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III. Greisenchöre

durch die Perser rekurriert.219 Auch die zunächst rätselhafte Bemerkung, der Ölbaum stelle für feindliche Speere ein Schrecknis dar (v. 699), gewinnt mit dem Wissen um diese Sachverhalte an Plastizität. Die betonte Abgrenzung Athens von der „dorischen Insel des Pelops“ (v. 696 f.) beinhaltet dabei ein besonders brisantes Potential. Halten wir uns vor Augen, dass die Entstehung unseres Dramas mit einiger Wahrscheinlichkeit in die Zeit des sog. Dekeleischen Krieges (413 – 404, Sophokles starb nach allgemeiner Auffassung 406 / 405) und somit in die Endphase des Peloponnesischen Krieges fällt. Vor dem Hintergrund des wechselnden und schließlich für Athen verheerenden Verlaufs der Auseinan‐ dersetzungen220 scheint die Selbstvergewisserung athenischer Größe und Ein‐ maligkeit im vorliegenden Stasimon von besonderer inhaltlicher Vehemenz ge‐ wesen zu sein.221 Mit der Apostrophierung des Zeus Morios und der Stadtgöttin Athene am Ende der Strophe findet der Abschnitt schließlich seinen geschickt vorbereiteten Höhepunkt: Zwar war Athen selbst das vorherrschende Thema der Reflexion innerhalb des Liedes, den Namen der Stadt allerdings nennt der Chor nicht ein einziges Mal. Hier nun läuft die Komposition der Strophe auf die geradezu ka‐

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Liest man in Vers 703 nicht die weithin akzeptierte Konjektur von Blaydes συνναίων (so bei P EARSON (1924), D AWE (1979), L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) sowie bei J EBB (1928)), sondern das einhellig überlieferte σημαίνων (so bei D AIN (1960) und K AMER‐ BEEK (1984)) und versteht das Partizip als Variante für das gebräuchlichere σημάντωρ in der Bedeutung „give orders to, bear command“ (LSJ s.v. σημαίνω), so ist der Bezug auf die beiden Feldherren noch klarer: Mit νεαρός wäre dann konkret Xerxes, mit γήρᾳ σημαίνων Archidamos gemeint. Vgl. K AMERBEEK s (1984) Diskussion S. 109 f. Für die Konjektur („Blayde’s clever conjecture“ a. a. O.) und gegen eine konkrete historische Anspielung sprechen geradezu apodiktisch L LOYD -J ONES /W ILSON S OPHOCLEA (1990) S. 238: „γήρᾳ σημαίνων cannot very well mean ‘commanding in old age’ and the his‐ torical allusion is most implausible“. Die wichtigsten Daten und Entwicklungen (nach P LOETZ (321998). Der große Ploetz: Die Daten-Enzyklopädie der Weltgeschichte. Daten, Fakten, Zusammenhänge, Freiburg, S. 155): seit 413 Abfall verschiedener Verbündeter von Athen, 411 oligarchischer Um‐ sturz, 410 Niederlage der spartanischen Flotte bei Kyzikos, 408 Rückkehr des Alkibi‐ ades, 407 Niederlage Athens gegen Lysander bei Notion, 408 trotz hoher Verluste Sieg der Athener bei den Arginusen, im Anschluss sog. „Arginusen-Prozess“, 405 Niederlage Athens bei Aigospotamoi, 404 endgültige Niederlage Athens und Friedensschluss mit Sparta. Entschieden gegen einen historischen Bezug spricht sich P AULSEN (1989) S. 128 im An‐ schluss an W INNIGTON -I NGRAM (1980) S. 273, Anm. 71 aus. Die ausdrückliche Erwäh‐ nung der Peloponnes und Asiens sowie die Anspielungen auf legendäre Kriegshand‐ lungen scheinen mir allerdings in der vorliegenden Passage zu forciert, um dem Stasimon einen historischen, d. h. in der ursprünglichen bzw. durch den Dichter an‐ gedachten Rezeptionssituation aktuellen Bezug gänzlich absprechen zu können. Vgl. weiterhin v. a. G RETHLEIN (2003) S. 318 – 329.

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nonische Bezeichnung der Stadtgöttin hinaus. Bewusst hat der Dichter bis zu diesem Punkt auf die Verwendung des Begriffs Ἀθῆναι verzichtet, um mit γλαυκῶπις Ἀθάνα (v. 705) am Ende der zweiten Strophe einen umso größeren Effekt zu erzielen. Mit der Nennung Athenes ist zugleich ein besonderer Bezug zum Demos Kolonos gegeben, mit dessen Beschreibung das Standlied begann: Das kolonische Heiligtum – zugleich der Schauplatz unserer Tragödie222 – war Poseidon Hippios und eben Athena Hippia geweiht.223 Die Rückversicherung immerwährenden (αἰέν v. 704) göttlichen Schutzes wirkt an unserer Stelle geradezu als athenisches Glaubensbekenntnis und dient der patriotischen Selbstvergewisserung. Zum bereits im ersten Strophenpaar aufgerufenen Götterpanorama (Dionysos und seine Gefährtinnen, die eleusini‐ schen Göttinnen sowie die Musen und Aphrodite) treten an unserer Stelle (zu‐ nächst) zwei genuin attisch geprägte Gottheiten, die als Schützer des Ölbaums Athens Wohlfahrt garantieren. Blicken wir auf die zweite Gegenstrophe. Zunächst erneut eine kurze Zusam‐ menfassung: Einen weiteren lobenswerten Sachverhalt, der für die eigene Hei‐ matstadt von höchster Bedeutung ist (ἄλλον δʼ αἶνον ματροπόλει τᾷδε κράτιστον v. 707 f.), kann der Chor anführen (ἔχω εἰπεῖν). Das als Geschenk einer großen Gottheit (μεγάλου δαίμονος v. 709) bezeichnete αὔχημα (v. 710) besteht in der herausragenden Qualität der Pferde, der Fohlen und der Seefahrt Athens (εὔιππον, εὔπωλον, εὐθάλασσον v. 711).224 Poseidon, den göttlichen Urheber der aufgezählten Wohltaten, spricht der Chor im Folgenden direkt an: Er, das Kind des Zeus, habe die Stadt in diesen Ruhm eingesetzt225 (εἷσας v. 713), indem er zuallererst in diesen Straßen (ταῖσδε ἀγυιαῖς v. 715) den pferdezähmenden Zügel geschaffen habe (κτίσας v. 715).

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Vgl. v. 54 f. mit der Erläuterung des hinzugetretenen Einheimischen, der ganze Ort sei heilig und befinde sich in Poseidons Besitz. M EYER (1979) sowie L OHMANN (1999). „Kolonos [2] híppios.“ in: DNP Band 6, Sp. 666. Zur Athena Hippia vgl. G RAF (1997). „Athena.“ in: DNP Band 2, Sp. 160 – 166, im Be‐ sonderen 164. J EBB (1924) S. 121 übersetzt: „the might of horses, the might of young horses, the might of the sea“, vgl. LSJ s.v. εὐθάλασσος „the gift of sea-power“. K AMERBEEK (1984) S. 111 bemerkt ad locum: „referring to maritime mastery“. Vgl. J EBB (1924) S. 121: „[…] didst establish her in this glory, as in a royal throne“; auf‐ gegriffen durch K AMERBEEK (1984). S. 111.

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III. Greisenchöre

Die nur durch ein fortführendes δʼ angeschlossenen Verse 716 ff. rufen da‐ raufhin ein neues Bild auf:226 Das gut geruderte, wundervolle Ruderblatt (πλάτα) (gemeint ist pars pro toto freilich ein Schiff) eilt (θρῴσκει) als Begleiter der „hundertfüßigen Nereiden“ durch das Meer. Mit diesem Schlaglicht auf die Seefahrt endet das Stasimon; in direkter Reaktion wird Antigone auf das über‐ schwängliche Lob der Greise antworten und angesichts der unmittelbar bevor‐ stehenden Ankunft Kreons eine Demonstration der gepriesenen Fähigkeiten verlangen (v. 720 f.). Thema der das Lied abschließenden Passage ist die besondere Gabe Poseidons an Athen, das die Choreuten auch hier zwar namentlich nicht nennen, mit ματροπόλει τᾷδε (v. 707 f.) allerdings überdeutlich apostrophieren. Die persön‐ liche Beziehung der kolonischen Greise zu Athen ist damit zum ersten Mal in‐ nerhalb des Liedes expressis verbis thematisiert: Erst hier am Beginn der zweiten Gegenstrophe weist der Chor ausdrücklich darauf hin, seine eigene Heimat zu besingen. Von besonderer inhaltlicher Bedeutung ist freilich die Präzisierung des vom Gott als Geschenk gewährten αὔχημα in Vers 711, der so die zentrale Informa‐ tion des Abschnitts in sich birgt. Mit der dreigliedrigen, asyndetischen Angabe (εὔιππον, εὔπωλον, εὐθάλασσον) sind zunächst zwei der Hauptfunktionen Po‐ seidons aufgerufen:227 εὔιππον und εὔπωλον verweisen auf seine Verbindung zu Pferden (im Besonderen zu Pferdezucht und Pferderennen, vgl. Poseidon Hip‐ pios), während in εὐθάλασσον die Herrschaft über das Meer anklingt. Damit nicht genug: Mit εὔιππον (v. 711) ist der Beginn des Stasimons (εὐίππου v. 668) wieder aufgerufen und der Bezug zum Demos Kolonos prominent in den Vor‐ dergrund gestellt. Mit Poseidon Hippios ist die zentrale Schutzgottheit des ko‐ lonischen Heiligtums, mehr noch: des gesamten Demos genannt.228 Die Thema‐ tisierung des für Athen heilbringenden göttlichen Wirkens nimmt dabei mit dem in Rede stehenden Stadtteil samt seinem heiligen Bezirk den Ort der dramati‐ schen Handlung selbst, d. h. die auf der Bühne dargestellte Umgegend, in den Blick. Die Angabe ταῖσδε ἀγυιαῖς (v. 715) verortet das göttliche Wirken konkret: Hier hat Poseidon mit der Erfindung des Zügels die herausragende Stellung Athens im Bereich der Pferdenutzung begründet. Es ist daher nur folgerichtig,

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Der Beginn von Vers 717 ist textlich verderbt; auch der von L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) gegebene Text mit dem Eingriff in die Überlieferung des Verses 716 stellt eine Emendation dar, die die Herausgeber selbst im Vergleich zu anderen Vorschlägen als „a radical solution, that is somewhat less expensive“ bezeichnen (S OPHOCLEA (1990) S. 239). Vgl. für das Folgende B REMMER (2001). Vgl. S. 528, Anm. 142.

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dass der Chor gerade hier vor Ort Poseidons Lob singt und an die herausragende Bedeutung des Gottes erinnert. Die auf den ersten Blick unnötig verdoppelt anmutende Zusammenstellung von εὔιππον und dem zunächst wenig aussagekräftig erscheinenden εὔπωλον zeugt bei genauerer Betrachtung von bewusster Differenzierung:229 Während sich εὔιππον auf die Zähmung und Verwendung der Pferde bezieht, nimmt εὔπωλον speziell den Nachwuchs und damit die Pferdezucht in den Blick. Mit aller Vorsicht mag man darin einen Nachhall der im Stasimon prominent ver‐ tretenen Fruchtbarkeitsthematik wahrnehmen; sicher jedoch hat J EBB Recht, wenn er in εὔπωλον eine Anspielung auf die Dauer und Zuverlässigkeit der göttlichen Begünstigung sieht: εὔιππον, εὔπωλον harmonizes with a strain of feeling which pervades the ode, – that the bounty of the gods to Attica is continued from day to day and from age to age. The supply of good ἵπποι is perpetually replenished by good πῶλοι.230

Auch die Angabe εὐθάλασσον beinhaltet eine weitreichende Anspielung.231 So klingt in ihr neben der allgemeinen Herrschaft Poseidons über das Meer eine spezifisch attische Bedeutung an: Mit θάλασσα wurde das Salzwasservor‐ kommen im Erechtheion der Akropolis bezeichnet, das Poseidon beim Streit mit Athene um die Vorherrschaft über die Stadt hervorgebracht haben soll.232 Nach der Thematisierung des Ölbaums mit seinem besonderen Bezug zu Athene in der zweiten Strophe ist hier nun die Erinnerung an ein weiteres attisches Wahr‐ zeichen und Nationalsymbol wachgerufen, das sowohl den mythologisch-aiti‐ ologischen Kontext rund um die Austattung Athens durch die in Rede stehenden Gottheiten als auch die besondere Stellung der Stadt als Seemacht widerspiegelt. Mit dem Bild des wunderbar dahineilenden, den Nereiden folgenden Schiffs233 am Schluss des Stasimons hat dieser Motivkomplex eine farbenreiche und ein‐ drucksvolle Visualisierung erhalten. Das Lied endet an unserer Stelle so im besten Sinne mit einem Ausblick: Nicht mehr die Stadt Athen bzw. ein be‐ stimmter Landstrich stehen im Fokus des Chors, sondern das Schiff, das gera‐ dezu als Außenposten die Ausweitung des attischen Macht- und Einflussgebiets 229 230 231 232 233

Vgl. K AMERBEEK (1984) S. 110. „Whether or not this is simply fullness of expression is a moot point“ sowie die folgende mit aller Zurückhaltung vorgetragene Differenzierung, der ich hier ausdrücklich folge. J EBB (1924) S. 121. Vgl. J EBB (1924) S. 121 sowie K AMERBEEK (1984) S. 111 „doubtless alluding to the θάλασσα in the Erechtheum“. Referenztexte sind erneut Herodot VIII, 55 sowie Apollodor, Bibliotheca III, 178+179. Das Motiv der göttlichen Begleitung war dabei bereits im ersten Strophenpaar ange‐ klungen (vgl. Dionysosʼ Gefolgschaft v. 680).

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III. Greisenchöre

symbolisiert. Neben die spezifisch kolonisch konnotierten Eigenschaften Posei‐ dons tritt so die Vergewisserung seiner Bedeutung für die ganze Stadt und das von dieser abhängige Seereich. Den Schluss des Liedes prägt folglich ein Bild, das implizit die imperiale Bedeutung Athens ins Gedächtnis ruft und damit den Blick wesentlich geweitet hat. Es ist darüber hinaus besonders bemerkenswert, dass der Chor in der vorlie‐ genden Strophe den in Rede stehenden Gott direkt anspricht. Die reinen Na‐ mensnennungen der vorangegangenen Strophen sind damit in doppelter Hin‐ sicht überboten: Zum einen betont die ausdrückliche Anrede (σὺ γάρ … ἄναξ Ποσειδάν v. 712) das innige Verhältnis der kolonischen Greise zur Schutzgottheit ihrer Heimat. Zum anderen nimmt die namentliche Nennung des Gottes hier die Mitte der Strophe ein und erfolgt nicht, wie in den anderen Fällen, am Schluss der jeweiligen Partie.234 Poseidon figuriert so nicht als göttliche Gestalt, die zu dem in der Strophe thematisierten Aspekt in besonderer Beziehung steht, son‐ dern ist selbst Dreh- und Angelpunkt der Ausführungen. Der Adressat des Liedes hat sich dabei unversehens geändert: Begann das Stasimon mit der Ansprache an Oidipus (v. 668), so endet es hier als preisender Hymnos des Lokalgottes. Der Chor hat damit die eigentliche Gesprächssituation verlassen und sich (scheinbar) aus dem unmittelbaren dramatischen Hand‐ lungszusammenhang gelöst. Machen wir uns daher bewusst: Zu Zeus Morios und Athene tritt in der ab‐ schließenden Gegenstrophe mit Poseidon eine dritte Gottheit, die für das athe‐ nische Selbstverständnis von entscheidender Wichtigkeit ist.235 Die Nennung und Anrufung Poseidons vervollständigt in diesem Sinn das spezifisch at‐ tisch-kolonische Götterpanorama des Stasimons und leistet einen wesentlichen Beitrag zur religiös-theologischen Ausleuchtung des in Rede stehenden Land‐ strichs. Dessen ureigene Verbindung zum segensreichen Handeln der Götter hat das Lied in einem farbigen und detailreichen Panorama dargestellt. Eine strikte Trennung zwischen den rein auf Kolonos bezogenen Passagen des Stasimons und dem allgemeineren Preis Athens ist dabei spätestens in der zweiten Gegen‐ strophe nicht mehr möglich: Beide Sphären fließen beim Lob Poseidons end‐ gültig ineinander,236 der beschriebene Demos erscheint geradezu als Paradebei‐

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Von den „beiden großen Göttinnen“ in Vers 683 (und damit am Anfang der ersten Ge‐ genstrophe) ist hier abgesehen, da diese nicht namentlich genannt werden. Vgl. M C D EVITT (1972) S. 236: „The security of Athens, granted and guaranteed by Athena and Zeus, is enhanced also by the gifts of Poseidon“. Vgl. K AMERBEEK (1984) S. 110 zu ματροπόλει τᾷδε (v. 707 f.): „Athens, but again the glory of Colonos […] and that of Athens are one and the same“.

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spiel attischer Herrschaft und als besonders begnadete Mustergegend der gesamten Polis. In seinem Lied hat der Chor ein farbenreiches Panorama des Demos Kolonos und der Stadt Athen geliefert, um seine Heimat damit in besonderer Weise zu loben. Allerdings erschöpft sich das Stasimon nicht in der Beschreibung des in Rede stehenden Landstrichs oder der Aufzählung besonders hervortretender Momente und Details; die Schilderung des locus amoenus237 im ersten Strophen‐ paar sowie die besondere Fixierung auf genuin attische Wahrzeichen, die Stärke und die überragende Bedeutung der Stadt im zweiten Strophenpaar sind in keiner Weise Selbstzweck. Die eigentliche Absicht des Liedes und seine Gestal‐ tung entspringen vielmehr ganz dem dramaturgischen Zusammenhang: Ziel des Stasimons ist es dabei, Kolonos und Athen in spezieller Weise auszuleuchten, d. h. den Ort der Handlung selbst mit besonderer Bedeutung aufzuladen und implizit den Fortgang der Handlung anzudeuten. Darin entfaltet das Standlied seine Wirkung und erfüllt seine dramaturgische, d. h. publikumslenkende Funk‐ tion. Das Lied ist zunächst als Ankunfts- und Willkommensgruß an den mittler‐ weile rechtmäßig und von höchster Autorität in Athen aufgenommenen Oidipus intendiert. Mit dem einleitenden ἵκου ist die Ankunft des Protagonisten am Ort des Geschehens, d. h. der eigentliche Beginn der Bühnenhandlung dabei erneut in den Blick genommen. Anders jedoch als am Anfang der Tragödie steht an unserer Stelle einer herzlichen Aufnahme durch die Choreuten nichts mehr im Weg: Nachdem mit dem καθαρμός das religiöse σκάνδαλον, mit der Annahme durch Theseus das politische Problem von Oidipusʼ Ankunft gelöst ist, kann sich der Chor unbefangen der Thematik widmen. Mit seinem konkret auf das Ge‐ schehen des Epeisodions bezogenen Anfang ist das Lied im Handlungsablauf verankert und entspringt geradezu der dramatischen Situation.238 Der promi‐ nente Rekurs auf Oidipusʼ Ankunft in Athen (ἵκου v. 668) reinszeniert das aus‐ schlaggebende Moment des Bühnengeschehens unter den mittlerweile verän‐ derten, d. h. im Vergleich mit der ersten Konfrontation Protagonist-Chor positiv umgedeuteten Vorzeichen. Anders gesagt: Aus der Perspektive des Chors be‐ ginnt die Handlung geradezu erneut. Dieser Neuanfang erhält dabei mit dem

237 238

Vgl. G RETHLEIN (2003) S. 303. Vgl. P AULSEN (1989) S. 126: „Der Bezug zur Handlung ist schon rein äußerlich gewahrt, indem der Chor sein Lied an Oidipus adressiert (V. 668); danach verselbständigt sich der Preis zwar, das Stasimon insgesamt ist aber plausibel in das Ganze integriert und gut motiviert“.

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III. Greisenchöre

vorliegenden Stasimon, der ersten rein chorischen Partie der Tragödie, seine effektvolle Ausgestaltung. Dass an unserer Stelle die ehemals virulenten Konflikte zwischen Chor und Protagonist einer Lösung zugeführt worden sind, schlägt sich auch in der Mo‐ tivik des Stasimons nieder. Die bis zu diesem Zeitpunkt vom Chor mit Oidipus assoziierten Themenbereiche scheinen während des Liedes keine wesentliche Rolle mehr zu spielen: Anders als in der Parodos und dem Amoibaion des ersten Epeisodions werden weder die schauderhafte Gestalt des Protagonisten noch seine Vergangenheit behandelt oder auch nur erwähnt. Mehr noch: Oidipus selbst scheint – trotz seiner permanenten Anwesenheit – als Adressat des Liedes, wie oben bereits bemerkt, völlig aus dem Blick des Chors zu geraten. Anders gesagt: Das geeignete motivisch-thematische Material für den Willkommens‐ gruß des Chors bietet nicht der Ankömmling, sondern der Ort seiner Ankunft und somit die Lokalität der Bühnenhandlung. Dass der Chor der kolonischen Greise an unserer Stelle ein Preislied auf seine attische Heimat anstimmt, er‐ scheint dabei in der Folge der Theseus-Szene (v. 551 – 667) nur konsequent: Nach dem Auftritt und gnadenreichen Akt des mythischen Urkönigs und „Staats‐ heros“239 wirkt die Thematisierung der Polis Athen, ihrer besonderen Qualitäten und der ihr entgegengebrachten göttlichen Fürsorge gleichsam als volltönendes Echo der innerhalb der Handlung selbst aufgerufenen Motivik. Schon diese au‐ genscheinlichen motivischen Bezüge und Wiederaufnahmen verorten das Lied im Kontext des Bühnengeschehens. Die dem Lied zu Grunde liegende Motivik und ihre konkrete Ausgestaltung offenbart allerdings einen weiteren, subtilen und besonders engen Zusammen‐ hang zwischen dramatischer Handlung, Figur des Protagonisten und chorischer Reflexion.240 Zunächst zum ersten Strophenpaar: Durch das Ineinandergreifen von Todesund Fruchtbarkeitsthematik hatte der Chor den Demos Kolonos in spezieller Weise ausgeleuchtet und mit Bedeutung aufgeladen: Als Ort besonderer göttli‐ cher Gnadeneinwirkung vereint der in Rede stehende Landstrich die beiden Pole von Tod und Leben auf einzigartige Weise. Das Wissen um Oidipusʼ Zukunft, d. h. seinen bevorstehenden „Entrückungstod“241 vor Ort in Kolonos, lässt die Ausgestaltung des Panoramas an unserer Stelle als frühe Präfiguration dieses für das Drama zentralen Handlungsmoments erscheinen: Im Konnex von Klage und Tod auf der einen sowie Fruchtbarkeit und Lebendigkeit auf der anderen 239 240 241

Vgl. S TENGER (2002). „Theseus.“ in: DNP Band 12 / 1, Sp. 435 – 438. Ich folge dabei ausdrücklich M C D EVITT (1972) in seiner Interpretation und dramatur‐ gischen Einordnung des Liedes. So H ENRICHS (2000). „Oidipus.“ in: DNP Band 8, Sp. 1129 – 1132.

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Seite242 klingt die Transformation des Titelhelden vom gebrechlichen Greis zum quasi vergöttlichten Lokalheros bereits an. War dabei innerhalb des Panoramas mit der Erwähnung der „großen Gottheiten“ (v. 683 f.) die Klagemotivik der ersten Strophe zur konkreten Todesthematik verdichtet worden, so liefert dieser Rekurs auf Kore (und ihre Mutter) zugleich das mythische Vorbild der antizi‐ pierbaren Todesumstände des Oidipus:243 Das Verschwinden des Mädchens sowie seine Transformation zur mächtigen Gottheit wird zum Archetyp der bereits antizipierbaren Verwandlung des Haupthelden der Tragödie. Das Stasimon verarbeitet so den von Oidipus selbst bereits angedeuteten Fortgang des Geschehens in spezifisch poetischer, d. h. imaginativer Weise: Es fungiert geradezu als auskomponierte Antwort244 auf die Äußerungen des Prot‐ agonisten, hier in Kolonos den durch das Orakel bestimmten Zielpunkt seiner Suche gefunden zu haben (v. 84 ff.), sowie der Zusicherung an Theseus, durch seinen Tod und seine „Beerdigung“ am Ort der Stadt Athen von Nutzen zu sein (v. 616 ff.). Die Botschaft des ersten Strophenpaars ist unmissverständlich: Hier in Kolonos kann und wird sich der Tod des Oidipus und damit seine Verwand‐ lung zum Nutzen der Stadt ereignen, da gerade Kolonos den in jeder Hinsicht geeigneten Rahmen für das Geschehen bietet. Für das attische Publikum, das – zumindest partiell – um den vor Ort ansässigen Heroenkult rund um Oidipus (und auch Theseus)245 gewusst haben wird, schließt sich damit ein Kreis: Die für Athener konkret erfahrbare kultisch-religiöse Aufladung des Demos Kolonos als eines besonders mit Poseidon und eben Oidipus assoziierten Geländes erhält so im Stasimon ihre adäquate poetische Umsetzung. Zielte so das erste Strophenpaar durch die motivische Vordeutung der Ent‐ rückung auf Oidipusʼ Lebensende und den Schluss des Dramas, so verarbeitet das zweite Strophenpaar eine Thematik und setzt dramaturgisch eigene Ak‐ 242 243

244 245

Vgl. M C D EVITT s (1972) Einschätzung S. 236 f.: „In the middle stands that complex nexus of images of life amid death.“ Vgl. dazu im Einzelnen G RETHLEIN (2003) S. 305 – 307 mit dem Fazit S. 307: „dass über eine allgemeine Todessymbolik hinaus die Folie der Kore den weiteren Verlauf der Handlung, den Raub der Töchter und den Tod von Oidipus, bereits im ersten Stasimon anklingen läßt“. Vgl. M C D EVITTS (1972) Begrifflichkeit „imagistic response“ S. 236. Vgl. v. 1593 f.: Der Bote spielt dort auf die besondere Beziehung der Gegend zur Erzäh‐ lung von Theseusʼ und Peirithoosʼ Abstieg in die Unterwelt an und erwähnt so implizit die dem Publikum bekannte Kultstätte der beiden Heroen. Ebenso zählt Pausanias bei der Beschreibung von Kolonos Hippios I, 30 die Heroa von Theseus und Peirithoos sowie von Oidipus und Adrastos auf. Vgl. H ONIGMANN (1922). „Kolonos [2] Hippios.“ in; RE Band 11, Sp. 1113 – 1114; sowie R OSCHER (1965). „Oidipus Auswanderung. Tod bez. Entrückung. Grab.“ in: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie Band III. 1, hrsg. v. W. H. R OSCHER (1965), Hildesheim, Sp. 733 – 737.

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zente. Dass die spezifisch attische Motivik als thematisches Echo und Verdich‐ tung der Theseus-Szene angesehen werden kann, ist oben bereits bemerkt worden. Mit den geradezu martialischen Andeutungen der Verse 699 sowie 702 f. ist zudem die besondere Situation des Epeisodions aufgerufen und verar‐ beitet: Die ostentative Betonung attischer Wehrkraft und Zähigkeit am Bild des Ölbaums entfaltet auf dem Hintergrund der durch Oidipus angedeuteten Droh‐ kulisse in weiterer und näherer Zukunft ihre volle Wirkung. Oidipus hatte darüber hinaus in seinem Monolog mit Bezug auf die ihm zu‐ getragenen Orakelsprüche eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen Athen und Theben an seinem Grab vorhergesagt (v. 619 f.) sowie seine Rolle darin kurz skizziert. Im Wissen um die eigene Bedeutung bot dieser in ferner, unbestimmter Zukunft (v. 617 f.) verortete Konflikt jedoch keinen Anlass zu ernster Besorgnis, Oidipus war sich vielmehr sicher, dass einst sein Leichnam das Blut seiner Feinde, d. h. der Thebaner, trinken werde (v. 622). Der unmittelbar bevorstehenden Ankunft Kreons allerdings sah der Protagonist, wie bereits aus‐ geführt, mit Sorge und Angst entgegen. Im erregten Wechselgespräch bat er Theseus um Hilfe, bevor der Stadtherr ihn seiner Unterstützung versicherte. Diese beruhigenden und doch entschiedenen Worte (v. 656 – 667) bildeten dabei geradezu den Auftakt des anschließenden Stasimons und bestimmen den grund‐ legenden Duktus der chorischen Reflexion. Mehr noch: Theseusʼ Zusagen werden durch die Ausführungen des Chors lebhaft illustriert: Die spezifisch at‐ tische, geradezu nationale und martialische Motivik des zweiten Strophenpaars stellt Athen als starke, unbezwingbare und somit in höchstem Maße sichere Stadt dar.246 Sie erfüllt in dieser Hinsicht exakt die Anforderungen des Asyl‐ suchenden und bietet Oidipus eine neue Heimat, die gegen jeden Ansturm aus‐ wärtiger Feinde gewappnet zu sein scheint. Der virulenten Sorge und dramatischen Spannung mit Blick auf die Ankunft der thebanischen Gesandtschaft rund um Kreon setzt das Lied so eine betont positive und selbstbewusste Imagination entgegen. Das Bild des wehrhaften Athens wird sich im folgenden Epeisodion dabei zunächst als Kontrastfolie zur unmittelbaren Handlung erweisen: So wird es den Choreuten trotz Theseusʼ Auftrag (v. 638 f.) nicht möglich sein, Oidipus in jeder Hinsicht zu beschützen und den Raub seiner Töchter durch Kreon zu verhindern. Das Geschehen selbst unterläuft so zunächst die chorische Reflexion und problematisiert den Status der unbesiegbaren und wehrhaften Stadt. Erst das vorder- und hinterszenische 246

Für M C D EVITT (1972) ist die Olive ganz zu Recht geradezu das Symbol für die Sicherheit und Unbezwingbarkeit der Stadt („Thus the olive […] becomes a symbol also of the security and indomitability of Athens“ S. 235) sowie Dreh- und Angelpunkt des ge‐ samten Liedes („The olive is the pivotal point of the whole ode“ a. a. O.).

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Eingreifen des Stadtherrn wird im Folgenden die Situation auflösen. Anders gesagt: Scheinen sich die Choreuten während des ersten Stasimons aus der ur‐ sprünglichen Gesprächssituation und damit dem unmittelbaren dramatischen Kontext gelöst zu haben (vgl. den Wechsel der Anrede in der zweiten Gegen‐ strophe), so holt sie der Auftritt Kreons unmittelbar ins Geschehen zurück. Die Ausleuchtung des Handlungsortes, die Andeutungen des weiteren Verlaufs und die motivisch-thematische Arbeit des Stasimons – sowie freilich seine außer‐ ordentliche poetische Qualität – entfalten ihre Wirkung gerade im Spannungs‐ verhältnis zum Fortgang des Geschehens umso deutlicher. Es hat sich gezeigt, wie sehr die Topographie des vorwiegend kultisch-religiös geprägten Raums Kolonos/Athen auf der einen und die der Handlung zu Grunde liegende Motivik auf der anderen Seite das Stasimon geprägt haben. Diese beiden Pole kulminieren in der Gestalt des Protagonisten selbst: Indem einerseits Oidipusʼ Tod und Entrückung vorgedeutet werden, liefert das Lied zugleich eine implizite Aitiologie der in Kolonos heimischen Oidipus-Verehrung; zum an‐ deren steht die ausgreifende Charakterisierung Athens in direktem Zusammen‐ hang mit Oidipusʼ Ankunft und dem von ihm selbst vorgedeuteten Verlauf des Geschehens. Mit Blick auf die Parodos hat der Handlungsort an unserer Stelle eine be‐ merkenswerte Umdeutung erfahren. War der Umgang mit dem Gelände des heiligen Bezirks in der ersten großen Konfrontationsszene zwischen Chor und Protagonist noch von religiöser Scheu und Besorgnis geprägt, so hat sich die Konnotation des Raums hier gewandelt: Zwar wird auch hier der Hain noch „unbetretbar“ (ἄβατον v. 675, vgl. ἀβάτων ἀποβάς v. 167) genannt, als ein genuin mit Oidipus, seinem Schicksal und damit letztlich der Wohlfahrt Athens ver‐ bundener Ort hat er seinen Schrecken jedoch verloren. Das Stasimon korrigiert in diesem Sinn die Parodos: Hatten sich die Choreuten zu Beginn des Dramas noch gegen Oidipusʼ Eindringen gewehrt, so macht das Standlied an unserer Stelle unmissverständlich klar, dass Oidipus und der Demos Kolonos, d. h. Prot‐ agonist und Handlungsort, eine geradezu symbiotische Beziehung zueinander haben. Das Stasimon ist – vor allem in seinem zweiten Strophenpaar – zudem auf doppelter Ebene ein Lied über Athen, vorgetragen von Athenern für Athener. So wenden sich innerhalb der Handlung die attischen Greise (vgl. die Apostro‐ phierung der Stadt als ματρόπολις v. 707 f.) an den neu in der Stadt Aufgenom‐ menen, um ihm implizit zu verdeutlichen, hier am richtigen Ort angekommen zu sein. Mit Blick auf die (zumindest intendierte) Aufführungssituation ist diese Konstellation freilich von besonderer Wirkung: Das Loblied auf Athen, vorge‐ tragen durch einen attischen Chor im religiös-politisch bestimmten Kontext der

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III. Greisenchöre

Tragödienaufführungen appelliert in herausragender Weise an das Nationalbe‐ wusstsein der Athener im Publikum.247 Trotz seiner anspielungsreichen Bezug‐ nahme auf Momente und Inhalte außerhalb der eigentlichen Handlung und seines Bezugs zur konkreten Lebenswelt des Publikums entbehrt das Lied dabei nicht der engen motivisch-thematischen Einbindung in den dramatischen Kon‐ text. Mehr noch: Gerade in der kunstvollen Verflechtung von dramatisch rele‐ vanten und kontextualisierten Ausleuchtungen sowie der Bezugnahme auf die realen attischen Gegebenheiten entfaltet das Lied seine spezifische poetische und dramaturgische Wirkung. Anders gesagt: Das Stasimon lädt den infor‐ mierten Rezipienten gleichsam ein, sowohl die Handlung des Dramas unter ge‐ nuin attischen Gesichtspunkten als auch das Wissen um die spezifischen Gege‐ benheiten Athens aus der Perspektive der Oidipus-Handlung nachzuvollziehen. Dabei beinhaltet das Lied die für das Drama entscheidenden Vorgänge und Mo‐ tive in nuce und entfaltet sie in einer farbigen, anspielungsreichen Komposition höchster poetischer Meisterschaft. In seiner umfassenden Ausleuchtung der Lokalität leistet das Lied so einen wesentlichen Beitrag zur Dramenhandlung, fügt sich passgenau in den Kontext ein und übersteigt ihn zugleich in äußerst wirkungsvoller Weise. Für das attische Publikum bietet das Stasimon so eine Identifikationsgrundlage, die eine Invol‐ vierung der Rezipienten in das Handlungsgeschehen ermöglicht. Amoibaion im zweiten Epeisodion (v. 833 – 843, 876 – 886)

An der spannungsgeladensten und handlungsreichsten Stelle des zweiten Epeis‐ odions bedient sich Sophokles der Einschaltung einer lyrischen Wechselpartie: Das durch 31 Sprechverse getrennte Strophenpaar (v. 833 – 843 sowie 876 – 886) inszeniert dabei in bewegter Rede den Konflikt zwischen Oidipus und dem Chor auf der einen sowie Kreon auf der anderen Seite. Repetieren wir vor einer kurzen Analyse der Partie zunächst den Handlungsverlauf. Nachdem der Auftritt Kreons durch Antigone angekündigt worden war, hatte der Chor versichert, dass trotz seines eigenen Alters die Stärke des Landes nicht schwach geworden sei (v. 726 f.). Der neu Hinzugetretene hatte daraufhin zu‐ nächst das Wohlwollen der attischen Greise zu gewinnen versucht (v. 728 – 739) und sich daraufhin in direkter Anrede an Oidipus gewandt (ὦ ταλαίπωρʼ Οἰδίπους v. 740 – 760): Er, Kreon, habe die Aufgabe, den einstigen Stadtherrn Thebens wieder zurückzubringen, da ihn das ganze kadmeische Volk mit Recht 247

Im Rahmen welchen Festes unsere Tragödie aufgeführt wurde bzw. welche Auffüh‐ rungssituation Sophokles selbst intendierte, ist nicht zu klären. Ob daher neben dem attischen Publikum auch Auswärtige der Aufführung beiwohnten, wie es im Rahmen der Großen Dionysien zu vermuten wäre, ist nicht mit Bestimmtheit zu sagen.

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zurückrufe. Kreon gibt vor, der Anblick des umherziehenden und nur von seiner Tochter umsorgten Oidipus jammere ihn (v. 744). Oidipus solle ihm gehorchen, in seine Heimatstadt zurückkehren, die als „Ernährerin“ (τροφός v. 760) gegen‐ über dem jetzigen Aufenthaltsort Athen ein höheres Maß an Verehrung von ihrem Zögling einfordere. Oidipus gibt sich in seiner Gegenrede (v. 761 – 799) entschlossen: Zunächst wirft er Kreon vor, ihn nun mit rhetorischen Kniffen (μηχάνημα v. 762) erneut einfangen zu wollen. Schon vor einiger Zeit, als es Oidipusʼ Anliegen war, das Land zu verlassen, habe ihm Kreon diese Gnade nicht gewährt; im Gegenteil habe er ihn vielmehr zu einem Zeitpunkt aus der Stadt vertrieben, da es Oidipus angenehm war, dort seine Zeit zu verleben. Selbst die Verwandtschaft zwischen den beiden habe dabei keinen Stellenwert für Kreon besessen (v. 769 ff.). Auch nun habe Kreon trotz seiner milden und scheinbar freundlichen Worte (μαλθακῶς v. 774, λόγῳ μὲν ἐσθλά v. 782) nicht das im Sinn, was er vorgibt: Sein eigentliches Ziel sei nicht Oidipusʼ Heimführung, sondern seine „Ansiedelung“ als eines Nachbarn Thebens (πάραυλον v. 785), um so in den Genuss der heil‐ bringenden Transformation des Heroen zu gelangen und so Theben unbe‐ schadet von Athens Einfluss zu erhalten. Dagegen bekundet Oidipus jedoch, sein Rachegeist werde dort, d. h. in Theben, verweilen; seine Söhne würden von seinem Land nur ein kleines Stück erlangen, soviel, dass es zum Sterben aus‐ reicht. Oidipus stützt sich bei seinen Vorhersagen ausdrücklich auf Zeusʼ und Phoibosʼ Prophezeiungen, wohingegen Kreons trügerische und zungenfertige Rede (στόμωσιν v. 795) ihm selbst mehr Unheil als Heilbringendes einbringen werde. Oidipusʼ Aufforderung an sein Gegenüber ist daraufhin unmissverständ‐ lich: Kreon solle ihn hier in Athen leben lassen (v. 798). Das sich an die beiden Monologe anschließende Wechselgespräch verschärft den Konflikt der Akteure. Ihren Höhepunkt erreicht die teils stichomythische Partie in Vers 818 f.: Kreon gibt zu, eine Tochter des Oidipus, d. h. Ismene, schon geraubt zu haben, die auf der Bühne präsente Antigone in Kürze fortführen zu wollen. Seine Gefolgsleute scheinen dabei bereits Hand an das Mädchen gelegt zu haben. Der betroffene Vater wendet sich daraufhin fassungslos an den Chor, erinnert ihn an das gegebene Versprechen und fordert entschiedenes Ein‐ schreiten zu seinen Gunsten. Nach der auffallenden Zurückhaltung der koloni‐ schen Greise während des Streitgesprächs selbst schaltet sich schließlich in Vers 824 der Chorführer ein und versucht, Kreon von seinem Vorhaben abzubringen. Dieser zeigt sich jedoch von der Intervention des Chors völlig unbeeindruckt und gibt seinen Dienern den Befehl, Antigone, wenn nötig, auch gegen ihren Willen (ἄκουσαν) wegzubringen. Die Situation spitzt sich weiter zu, sodass Oi‐ dipus nach einem Hilferuf seiner Tochter (v. 828 f.) und einem erneuten kurzen

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III. Greisenchöre

Wortwechsel zwischen dem Chor und Kreon in Vers 833 schließlich die gesamte Polis Athen um Hilfe anfleht (ἰὼ πόλις). Fließend geht damit die bisher rein in Sprechversen komponierte Auseinan‐ dersetzung in eine epirrhematische Partie über, die, wie schon der Mittelteil der Parodos (vgl. v. 176 – 202), das bewegte Bühnengeschehen untermalt und gera‐ dezu abbildet. Mit Blick auf die Sprecherverteilung ergibt sich folgendes Bild: Dem Ausruf des Oidipus folgt zunächst ein Wortwechsel zwischen dem Chor und Kreon, bevor sich der Protagonist in Vers 838 erneut kurz einschaltet. Nach einem weiteren Austausch mit Kreon schließen drei Verse des Chors die Strophe ab. Sprachlich dominieren wie schon in den vorangegangenen Versen erregte Fragen – so vor allem die des Chors nach Kreons Absichten (τί δρᾷς, οὐκ ἀφήσεις v. 834) – sowie gegenseitige Aufforderungen die Partie: Kreons εἴργου und μὴ ʼπίτασσʼ v. 836 bzw. 839 stehen auf Seiten des Chors μέθες und χαλᾶν λέγω σοι v. 838 bzw. 840 gegenüber, wobei letzteres seine direkte Fortsetzung in σοὶ δʼ ἔγωγʼ ὁδοιπορεῖν findet. In den Schlussversen 841 ff. wenden sich da‐ raufhin die Choreuten an ihre attischen Mitbürger: Mit vier chiastisch gestellten Imperativen der gleichen Verbalwurzel (προβᾶθʼ, βᾶτε βᾶτʼ, προβᾶθʼ) verleihen sie ihrem verzweifelten Hilfesuchen besonders wirkungsvoll Ausdruck. Die Strophe führt so in Gesprächssituation und sprachlicher Gestaltung die vorangegangene Auseinandersetzung direkt fort; zwei begriffliche Rückbezüge fallen dabei besonders ins Auge: So wiederholt der Chor mit τί δρᾷς, ὦ ξένʼ (v. 834) seine Frage aus Vers 829 (τί δρᾷς, ξένε), die selbst eine Variation der an ihn ergangenen impliziten Aufforderung durch Oidipus darstellte (v. 823). In der Anweisung an Kreon, das Mädchen rasch loszulassen (μέθες θᾶσσον v. 838 f.) klingt zudem das wenige Augenblicke zuvor ausgerufene χώρει ἔξω θᾶσσον (v. 824) erneut an. Besondere Bedeutung kommt innerhalb der Partie dem Begriff πόλις zu, der mit dem Anruf Athens durch Oidipus in Vers 833 die Strophe geradezu leitmo‐ tivisch eröffnet. Während Oidipus so die Unterstützung der ihm Asyl gewäh‐ renden Stadt Athen erbittet, stilisiert sich Kreon zur Manifestation seiner ei‐ genen Heimatstadt Theben: Wer ihm Schaden zufüge, der kämpfe gegen seine Polis (πόλει μαχῇ v. 837). Dem setzt der Chor in der vollklingenden Aufforde‐ rung an die attischen Landsleute (v. 841 ff.) seinerseits ein besonders inniges Bekenntnis zur Polis Athen, ja geradezu eine Identifikation mit dem Stadtstaat entgegen: πόλις ἐναίρεται, πόλις ἐμά (v. 842). Die im besten Sinne politische Dimension des Konflikts ist damit besonders prominent in den Vordergrund getreten. In πόλις ἐμά klingt zudem das stolze ματρόπολις (v. 707 f.) aus der zweiten Gegenstrophe des ersten Stasimons nach.

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Die kurze Strophe dient augenscheinlich der effektvollen Intensivierung des dramatischen Moments: Als epirrhematische Fortsetzung der Sprechpartie ist sie selbst Bühnengeschehen und Handlung; sie fokussiert das Augenmerk auf die aktuellen Vorgänge und markiert damit deutlich den Beginn der handlungs‐ intensivsten Partie des Epeisodions. Motivisch setzt die Strophe zudem einen besonderen Akzent: Durch die Apo‐ strophierung der Polis Athen durch Oidipus und den Chor sowie Thebens durch Kreon ist der Streit der beiden Akteure mit einer weiteren Bedeutungsebene unterlegt und als Poliskonflikt gekennzeichnet. Die forciert patriotische und martialische Athen-Thematik des ersten Stasimons hat so an unserer Stelle ein konkretes Echo gefunden: Hier stehen sich tatsächlich die beiden πόλεις per‐ sonifiziert gegenüber. Es ist dabei am Chor, die im Stasimon sowie im darauf folgenden kurzen Wortwechsel mit Antigone versprochene Stärke Athens unter Beweis zu stellen. Antigone wird im Anschluss an die epirrhematische Strophe endgültig ihrem Vater entrissen; der Versuch, sich gegenseitig an den Händen zu fassen, misslingt (v. 846). Kreon hat sich dabei vom Einschreiten des Chors nicht beirren lassen; mit äußerster Vehemenz setzt er sein Vorhaben in die Tat um und bekundet außerdem seine Zuversicht, Oidipus werde mit der Zeit schon einsehen, dass er sowohl im Moment als auch in der Vergangenheit nicht gut gehandelt habe. Schließlich steigert sich die Brisanz der Handlung erneut: Kreon macht sich daran, seinen Widerpart Oidipus selbst zu packen und fortzuführen (v. 860). Der Chor reagiert erschüttert (δεινὸν λέγεις v. 861) und hofft auf das Einschreiten des Stadtherrn. Oidipus bemerkt daraufhin, dass Kreon Hand an ihn gelegt hat, und ruft in seiner Verzweiflung die Gottheiten des heiligen Bezirks sowie Helios an. Der Thebaner gibt sich weiterhin entschlossen: Auch wenn er alleine sei und durch sein Alter bereits langsam, werde er den Mut nicht sinken lassen und Oidipus mit Gewalt fortbringen (v. 874). An dieser Stelle äußerster Dramatik leitet Oidipusʼ Klage ἰὼ τάλας die Ge‐ genstrophe ein. Schon hier an ihrem Beginn ist ein Umschwung der Stimmung wahrzunehmen: Rief der Protagonist an der Parallelstelle noch die gesamte Polis an (ἰὼ πόλις v. 833), so scheint er an unserer Stelle die Hoffnung auf ein Ein‐ schreiten Dritter verloren zu haben. Auch der Chor scheint vom aktiven Ein‐ greifen in die Situation Abstand genommen zu haben: Die die Strophe prä‐ genden Fragen nach Kreons Absichten sind hier mitsamt den konkreten Handlungsanweisungen an den Aggressor geradezu konsternierten Feststel‐ lungen gewichen (v. 877 f., 879). Dementsprechend hat auch die πόλις-Thematik der Strophe eine Umdeutung erfahren: Ein Erfolg Kreons in seinem übermütigen Vorhaben würde das Vertrauen der kolonischen Greise in ihre Heimatstadt

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grundlegend erschüttern. In der entsprechenden Aussage τάνδʼ ἄρʼ οὐκέτι νέμω πόλιν (v. 879) kommt so die Verzweiflung und Hilflosigkeit der Choreuten be‐ sonders wirkungsvoll zum Ausdruck: Für sie steht im momentanen Konflikt nichts weniger als die πόλις Athen selbst auf dem Spiel; kann diese nämlich Kreons Handstreich nicht verhindern, ist sie für den Chor keine πόλις im ei‐ gentlichen Sinn mehr. Vor dem Hintergrund des wehrhaften Nationalstolzes des ersten Stasimons und seiner konkreten Fortsetzung in der ersten epirrhemati‐ schen Strophe malt diese Zukunftsaussicht des Chors die Brisanz der Szenerie in besonders grellen Farben. Dass die eingetretene Situation nur noch durch Theseus und damit geradezu durch die Personifikation der Polis Athen selbst gelöst werden kann, zeichnet sich an dieser Stelle bereits ab. Der Ruf der Cho‐ reuten nach dem gesamten Volk Athens und im Besonderen nach den Anführern des Landes (γᾶς πρόμοι v. 884) am Ende der Gegenstrophe wird so zum Wie‐ derauftritt des Stadtherrn in Vers 887 überleiten. Während dabei der für die Motivik des Strophenpaars insgesamt zentrale Be‐ griff πόλις nur ein einziges Mal innerhalb der Gegenstrophe fällt (viermal da‐ gegen in der Strophe), führt die vorliegende Partie mit ὕβρις eine weitere be‐ griffliche Kategorie ein. In welchem inhaltlichen Zusammenhang stehen die betreffenden Verse 881 – 883? Die kolonischen Greise hatten zunächst Zeus als Garanten dafür angerufen, dass Kreon sein Unternehmen nicht erfolgreich be‐ enden werde.248 Der Thebaner reagiert schroff und polemisch: Zeus könne das sicherlich wissen, der Chor selbst allerdings nicht. Die entsetzte Frage des Chors, ob dieses Verhalten nicht Hybris sei (ἆρʼ οὐχ ὕβρις τάδʼ) beantwortet Kreon entschieden: Es sei Hybris, aber sie müsse ertragen werden (ὕβρις, ἀλλʼ ἀνεκτέα v. 883). Das Epeisodion hat an dieser Stelle seine Klimax erreicht: War durch die Strophe der Bühnenkonflikt als Auseinandersetzung zwischen zwei πόλεις aus‐ geleuchtet worden, so erfährt hier nun Kreons Handeln seine spezielle Charak‐ terisierung. Dass diese Bewertung und Ausdeutung des Geschehens in Form des epirrhematischen Austauschs zwischen Akteuren und Chor stattfindet, lässt Handlung und Reflexion miteinander verschmelzen: Zwar versucht der Chor, wie gesehen, an unserer Stelle nicht mehr in vollem Umfang, direkten Einfluss auf Kreon zu nehmen; dennoch will auch die Gegenstrophe bewusst Handlung und Teil des dramatischen Geschehens sein. Als Dialog zwischen den am Kon‐ flikt unmittelbar Beteiligten illustriert sie lebhaft das eigentliche Bühnenge‐ schehen; der Hilferuf der Choreuten in den Versen 884 ff. ist dabei eine aus‐

248

Vers 882 ist durch eine Lücke in der Überlieferung entstellt. Mit L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) folge ich der Ergänzung von J EBB .

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komponierte Auftrittsankündigung, übt also bewusst eine fest umrissene dramaturgische Funktion aus. Wie der Chor als Person eine funktionelle Posi‐ tion innerhalb des Handlungsablaufs hat, so ist auch die epirrhematische Partie selbst fest im Ablauf verankert und Bestandteil der Bühnenhandlung, die sie selbst fortsetzt und intensiviert. Auf der anderen Seite heben sich die korrespondierenden Strophen natürlich von den in iambischen Trimetern komponierten, reinen Sprechpartien ab und fallen daher als im besonderen Maß chorische, d. h. emotionale bzw. reflektie‐ rend-einordnende Formteile ins Auge. Der Fortgang der Handlung wird aller‐ dings an unserer Stelle nicht durch eine längere lyrische Partie unterbrochen, die eine ausführliche Einordnung und Kategorisierung des Geschehens böte. Ausdeutung und Kontextualisierung der Bühnenhandlung erwachsen hier ge‐ radezu aus dem Gespräch der in das Geschehen verwickelten Akteure selbst. Innerhalb des Amoibaions ist so die basale Kontextualisierung und Reflexion des Geschehens geleistet. Dass im Strophenpaar dabei die Motivik des ersten Stasimons wieder aufge‐ griffen wird und ihr konkretisiertes, dramatisiertes Echo innerhalb des Büh‐ nengeschehens findet, bindet die beiden Partien eng aneinander. Ihren Ab‐ schluss wird diese besondere Komposition der aufeinander Bezug nehmenden und die Handlung begleitenden Chorpartien im zweiten Stasimon finden. Fassen wir das Gesagte zusammen: Die zwei innerhalb des Epeisodions eingeschobenen epirrhematischen, in Form eines Strophenpaars korrespondie‐ renden Partien mit expliziter Beteiligung des Chors dienen primär der beson‐ deren Fokussierung und emotionalen Ausdeutung des aktuellen Handlungsge‐ schehens. Die vom Dichter gewählte Form eines in den Ablauf integrierten Amoibaions unter Beteiligung des Chors reiht sich dabei konsequent in die Struktur des Dramas ein: Zum einen hat der Chor der attischen Greise eine dezidierte Aufgabe innerhalb des Handlungsgeschehens, die durch Theseusʼ Auftrag begründet und im ersten Stasimon bildreich umrissen wurde. Sein Han‐ deln und Einschreiten innerhalb des Konflikts zwischen Kreon und Oidipus ist daher direkt erwartbar. Die inhaltliche Brisanz der Szene findet so in der epir‐ rhematischen Komposition der beiden Strophen ihren effektvollen Ausdruck. Zum anderen stellt Sophokles die vorliegende Szene formal in eine Beziehung zu den beiden anderen, ausführlichen Amoibaia: So waren bereits die Parodos und der Wechselgesang im ersten Epeisodion wirkungs- und effektvolle Insze‐ nierungen von Konflikten. Unsere Stelle hebt sich dabei in besonderer Weise ab: So steht der Chor nicht mehr dem Protagonisten gegenüber, sondern bildet mit ihm zusammen eine Partei, die einem weiteren Akteur entgegentritt. Der ‚Ein‐ bürgerungsprozessʼ hat damit sein sichtbares Ziel erreicht.

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III. Greisenchöre

Zum insgesamt dritten Mal markiert der Dichter so an unserer Stelle eine lebhafte Auseinandersetzung, indem er sie als dialogische Passage intensiver chorischer Präsenz gestaltet. Als Brücke zwischen dem ersten und dem zweiten Stasimon gliedert das Strophenpaar so das umfangreiche erste Epeisodion, ver‐ knüpft es motivisch und formal mit anderen Partien der Tragödie und kontex‐ tualisiert den Konflikt zwischen Oidipus und Kreon unter Einsatz effektvoller dramaturgischer Mittel. Zweites Stasimon (v. 1044 – 1095)

Der durch den Chor im bereits behandelten Strophenpaar herbeigesehnte Auf‐ tritt des Stadtherrn in Vers 887 eröffnet eine umfangreiche Unterredung der drei auf der Bühne präsenten Akteure. Durch Oidipus kurz ins Bild gesetzt (v. 891 – 896) gibt Theseus zunächst einem seiner Begleiter den Auftrag, das zum Opfer am Poseidonaltar versammelte Volk zur Verfolgung der beiden entführten Mädchen anzutreiben. Diese sollen geschwind wieder zurückgeholt werden, damit Theseus gegenüber Oidipus nicht zum Gespött wird (v. 902 f.). Im Fol‐ genden macht der Stadtherr dem Eindringling Kreon schwere Vorwürfe: Zwar habe ihn die Stadt Theben nicht als üblen Mann aufgezogen, dennoch werde er mit seinem Vorgehen auch in der eigenen Heimat kein Lob finden können (v. 919 – 923). Im Glauben, eine wehrlose und sklavische Stadt anzutreffen (v. 917 f.), habe Kreon mit der Entführung der Mädchen etwas ins Werk gesetzt, das weder des Stadtherrn Theseus, Kreons selbst noch dessen Heimatlandes würdig sei (v. 911 f.). Unter dem stolzen Bekenntnis zur Gesetzestreue und Rechtsstaatlichkeit Athens (v. 913 f.) scheut Theseus nicht davor zurück, Kreon entgegenzuhalten, er habe seine Stadt beschämt und sei auf Grund seines fortgeschrittenen Alters nicht nur ein Greis, sondern auch ein Tor (τοῦ νοῦ κενόν v. 931). Den Abschluss des Monologs bildet eine erneute Aufforderung, die Theseus mit einer Drohung verbindet: Die beiden Mädchen sollten so schnell wie möglich zum Ort des Ge‐ schehens gebracht werden; andernfalls werde er Kreon auch gegen seinen Willen hier in Athen festhalten. Ein kommentierender Doppelvers des Chors (v. 937 f.) leitet zum Monolog Kreons über. In seiner gerade einmal zwanzig Verse umfassenden Rhesis sucht er sich gegen die Anschuldigungen seines Gegenübers zu verteidigen: Er habe Athen keinesfalls für eine wehrlose oder schlecht regierte Stadt gehalten; viel‐ mehr sei er davon ausgegangen, dass Oidipus auf Grund seiner Vergangenheit gerade hier in Athen kein Asyl finden würde, und habe daher diese „Jagd“ in Angriff genommen (v. 944 – 950). Er versteht seine Aktion dabei geradezu als Rache für die Verwünschungen, die Oidipus seinerseits gegen ihn und sein Ge‐ schlecht ausgestoßen habe (v. 951 – 953). Kreons Zorn (θυμοῦ v. 954) kenne, so

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die Versicherung, kein Alter (v. 954 f.).249 Zwar mache ihn der Umstand, seine Sache hier alleine zu vertreten, klein, gegen handgreifliches Vorgehen allerdings werde er sich trotz seines Alters zur Wehr setzen (v. 956 ff.). Ohne eine weitere Einschaltung des Chors meldet sich daraufhin Oidipus selbst zu Wort. Der folgende, mit 53 Versen (960 – 1013) umfangreichste Monolog dieser Szene ist die ausführliche Selbstrechtfertigung des Protagonisten ange‐ sichts der von Kreon gegen ihn vorgebrachten Anschuldigungen. Nur die Hauptpunkte sollen hier skizziert werden. Oidipus ist überzeugt, dass Kreon ihm kein Fehlverhalten vorwerfen könne (v. 966 f.). Sein Schicksal sei von den Göt‐ tern beschlossen worden (θεοῖς γὰρ ἦν οὕτω φίλον v. 964) und habe sich ohne seine Einwirkung, ja sogar gegen seinen Willen (ἄκων) vollzogen.250 So habe er beim Geschehen am Dreiweg weder gewusst, was er tat, noch mit wem er es zu tun hatte (v. 976), und sei auch die Ehe mit seiner Mutter unfreiwillig einge‐ gangen (v. 986 f.). Selbst Kreon, so die Argumentation des Protagonisten, würde in einer den Todesumständen des Laios vergleichbaren Situation handeln wie Oidipus selbst und dabei auf das, was rechtmäßig ist, keine Rücksicht nehmen (οὐδὲ τοὔνδικον περιβλέποις v. 996). Jede persönliche Verantwortung für die Übel, in die er hineingeraten ist, weist Oidipus daraufhin erneut mit Blick auf die göttliche Einwirkung von sich (θεῶν ἀγόντων v. 998). Kreons Bezug auf den Areopag und Athen in den Versen 947 ff. ist für Oidipus reine Schmeichelei (θωπεῦσαι v. 1003). Zu glauben, Athen würde den Asyl suchenden Oidipus nicht aufnehmen, verkenne seiner Einschätzung nach die Realität: Gerade Athen überrage, so Oidipus, alle anderen Länder an Gottesfurcht, was implizit die be‐ reits vollzogene Einbürgerung des Hilflosen und Schutzflehenden als geradezu notwendige Folge dieser einmaligen Qualität der Stadt erscheinen lässt. Kreon habe diesen Punkt in seinem Lob der Stadt ganz und gar vergessen (v. 1005). Die am Ort ansässigen Gottheiten ruft Oidipus zum Ende seines Monologs als Helfer und Verbündete: Durch ihre Einwirkung soll Kreon erkennen, von welchen Männern Athen tatsächlich beschützt wird (v. 1010 ff.).

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Der Athetese der Verse 954 f., die L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) im Anschluss an Blaydes vornehmen, folge ich nicht; vgl. die Beibehaltung der Verse bei P EARSON (1924) sowie K AMERBEEK (1984), der sich zudem gegen die aus seiner Sicht gerechtfertigte Umstellung der Verse durch D AWE (1978). Sophocles: Women of Trachis, Antigone, Philoctetes, Oedipus at Colonus, Leiden, ausspricht. Von sechs Vorkommen des Wortes ἄκων finden sich drei im vorliegenden Monolog (v. 964 sowie 987 2x). An unserer Stelle verdichtet sich so das bereits von Antigone in Vers 240 angerissene Motiv der Unfreiwilligkeit und erfährt, aus dem Mund des Protago‐ nisten gesprochen, besondere Relevanz. (Die beiden weiteren Vorkommen von ἄκων in den Versen 177 sowie 775 beziehen sich nicht auf Oidipusʼ Handlungen in der Vergan‐ genheit.).

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III. Greisenchöre

Mit dem konventionellen Doppelvers 1014 f. bekundet der Chor seine Sym‐ pathie für Oidipus: Der Fremde sei rechtschaffen (χρηστός), sein Geschick al‐ lerdings ganz und gar verdorben (πανώλεις) und wert, den eigenen Beistand zu finden. Mit Theseusʼ Einschaltung in Vers 1016 findet der ausführliche Austausch von Argumenten und gegenseitigen Vorwürfen ein Ende. Der Stadtherr gibt im Fol‐ genden die nötigen Instruktionen zur Befreiung der beiden Mädchen und ver‐ lässt nach einer weiteren kurzen Einlassung Kreons mit diesem die Bühne. Den Erfolg seines Unternehmens stellt er dabei nicht in Frage, sondern versichert Oidipus, nicht eher aufzugeben, bis er Antigone und Ismene wieder zu ihrem Vater gebracht habe. Mit dem Wunsch des Protagonisten, Theseus möge auf Grund seiner edlen Gesinnung und seines Versprechens Heil und Segen er‐ fahren, schließt das Epeisodion; Oidipus bleibt mit dem Chor alleine zurück. Welche dramaturgischen Implikationen lassen sich zur vorangegangenen Szene festhalten? Mit dem Geschehen der Verse 860 – 885 war der drastische Höhepunkt der Bühnenhandlung erreicht: Kreons Vorhaben, nicht nur Oidipusʼ Töchter, sondern sogar den Protagonisten selbst fortzuführen, war am ent‐ scheidenden Punkt angelangt. Dabei fanden die zugespitzte Emotionalität, Kon‐ fusion und Erregung in der Gegenstrophe des Amoibaions (v. 876 – 886) ihren wirkungsvollen poetischen Ausdruck. Der Auftritt des Stadtherrn Theseus hatte daraufhin die Stimmung verändert und der Szene eine andere Richtung ver‐ liehen: Die visuelle Drastik ist einem Redeagon gewichen. Im Zentrum dieser nach den Versen 551 – 667 zweiten Theseus-Szene stehen die Monologe der drei am Geschehen unmittelbar beteiligten Akteure (Theseus v. 897 – 936, Kreon v. 939 – 959, Oidipus v. 960 – 10 113). Die Rhesis des Protagonisten ist dabei freilich besonders herausgehoben: Zum einen kommt Oidipus als letzter der Akteure zu Wort, zum anderen übertrifft seine Partie in ihrer Ausdehnung die beiden an‐ deren Monologe deutlich. Auch thematisch stechen Oidipusʼ Ausführungen be‐ sonders hervor: Was sich in den konkreten Zusammenhang des Stücks als di‐ rekte Antwort auf Kreons Vorwürfe einpasst, fungiert zugleich als umfangreiche Selbstrechtfertigung des Protagonisten und Stellungnahme zu seiner Vergan‐ genheit. Oidipusʼ Monolog ist so der Höhepunkt dieses zweiten Teils des Epeis‐ odions. Wieder ist es daraufhin Theseusʼ Eingreifen, das die Bühnensituation wei‐ terführt und die Handlung erneut in Gang bringt: Mit seinen konkreten In‐ struktionen nimmt er den hinterszenischen Fortgang des Geschehens vorweg und verbalisiert mit seiner Zusicherung an Oidipus (v. 1038 ff.) den von ihm gewünschten Ausgang des in Angriff genommenen Unternehmens erneut. Statt eine weitere Emotionalisierung des Rededuells zwischen den Antipoden Oidipus

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und Kreon, etwa in Form einer Stichomythie, folgen zu lassen, treibt Sophokles an unserer Stelle so die Handlung wesentlich voran. Wirkliche Spannung, d. h. Ungewissheit hinsichtlich des Erfolgs der Rettungsaktion, kann dabei allerdings kaum aufkommen: Nachdem der Chor an seiner Aufgabe, Oidipus vor Fremd‐ einwirkung zu schützen, gescheitert ist, besteht kein Zweifel, dass Theseus selbst die Situation einer zufriedenstellenden Lösung zuführen wird. Mit dem Abtritt von Kreon und Theseus hat sich der virulente Konflikt und damit die eigentliche Handlung verschoben: Nach der intensiven und drasti‐ schen Auseinandersetzung im ersten Teil des Epeisodions sowie dem durch Theseusʼ Auftritt initiierten Redeagon spielt sich die eigentliche Handlung im Folgenden hinter der Bühne ab. Erst das Ergebnis von Theseusʼ Eingreifen, die Rückkehr der unversehrten Mädchen zu ihrem Vater, wird das zweite Epeis‐ odion eröffnen. Wir kommen so zum Stasimon selbst. Mit seinen zwei Strophenpaaren ist es eine Chorpartie von einiger Ausdehnung und füllt dabei rein bühnenpraktisch die Zeit zwischen Theseusʼ Abgang mit Kreon und seinem Wiederauftritt mit den beiden Töchtern des Oidipus, den der Chor im Anschluss an das Lied in den Versen 1096 ff. ankündigt. Sowohl der Chor der thebanischen Greise als auch das Publikum sind sich dabei bewusst, was sich hinterszenisch während des Liedes abspielt. Die von Theseus initiierte und mit den Anweisungen an Kreon bereits eingeleitete Ret‐ tungsaktion dient dabei konsequenterweise als Thema der chorischen Reflexion, die im Lauf des Stasimons das Geschehen verortet, illustriert und in den bereits etablierten Kontext der Athen-Thematik einordnet. Die basale Funktion der chorischen Partie, die Zeit des hinterszenischen Geschehens zu überbrücken,251 ist damit für alle Beteiligten offensichtlich.252 Der Wunsch der Choreuten, beim Kampf zwischen Theseusʼ Truppen und Kreons Schergen vor Ort zu sein, bildet den Beginn des Liedes. Die dezidiert martialische und expressive Sprache malt dabei ein farben- und detailreiches Bild, das die Hörer des Liedes sofort in die imaginierte Situation versetzt: Gerne wäre der Chor da, wo die Flankenbewegungen der feindseligen Männer (δαΐων 251

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Vgl. B URTON (1980) S. 281: „[…] the interval occupied by the pursuit, the fight, and the rescue and return of the sisters is filled by a song which continues in strophic form the excited anticipation of battle aroused toward the end of the preceeding scene“. Dass dabei freilich die reale Zeit, in der das Lied vorgetragen wird, mit der imaginierten Zeit nicht übereinstimmt, ist eine den Bühnenkonventionen des Theaters geschuldete Un‐ stimmigkeit, die keinerlei Anstoß erregen kann. Auf die Funktion des Liedes, einen Botenbericht von den Kampfhandlungen zwischen Kreon und den Athenern zu ersetzen, wird im Folgenden weiter eingegangen werden.

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III. Greisenchöre

ἀνδρῶν ἐπιστροφαί v. 1044 f.) rasch auf den mit eherner Stimme rufenden Ares (χαλκοβόαν Ἄρη) treffen werden. Im Folgenden sucht der Chor das Kampfgeschehen zu lokalisieren und zählt dabei im Ganzen drei mögliche Orte auf: die „pythischen Küsten“ (v. 1047), die „von Fackeln erleuchteten Küsten“ (v. 1048) sowie zu Beginn der Gegenstrophe das „westliche Gebiet des schneebedeckten Bergs an den Ausläufern der Oiati‐ schen Trift“ (v. 1059 – 1061). Während die erste Angabe mit hoher Wahrschein‐ lichkeit die Gegend des Apollontempels am Pass von Daphni und damit um eine Station auf der Heiligen Straße nach Eleusis, die zweite sicherlich den Kultort selbst bezeichnet, bleibt die genaue Lokalisation der dritten Örtlichkeit auf Grund der syntaktischen und textkritischen Schwierigkeiten der entspre‐ chenden Passage unsicher.253 Wichtiger als die konkrete Zuweisung der Topographie ist unter unseren Gesichtspunkten die in den Versen 1050 – 1053 eingeschobene Periode, die die sichere Identifikation der „mit Fackeln erleuchteten Küsten“ mit Eleusis ermög‐ licht: Dort, so der Chor, pflegten die Herrinnen (πότνιαι) – d. h. Demeter und Kore – heilige Mysterien (σεμνὰ τέλη) für die Menschen, die durch die Eumol‐ pischen Priester zur Verschwiegenheit verpflichtet seien. Schlaglichtartig ist damit der imaginierte Raum ausgeleuchtet, mit Bedeutung aufgeladen und, wie noch zu zeigen sein wird, fest im motivischen Rahmen verankert. Das folgende ἔνθʼ (v. 1054) fasst die Ortsangabe zusammen: Dort werden nach der Vermutung des Chors (οἶμαι v. 1054) Theseus und die beiden Schwestern in Kürze zusammentreffen.254 Besonderen Nachdruck legen die Choreuten dabei auf die betont am Ende der Strophe positionierte Feststellung, dies werde noch innerhalb der attischen Landesgrenzen geschehen (τούσδʼ ἀνὰ χώρους v. 1058). Mit der Gegenstrophe erweitert der Chor das topographische Panorama und stellt einen weiteren möglichen Ort der Auseinandersetzung zwischen Theba‐ nern und Athenern zur Diskussion. Wie schon oben angedeutet, ist dabei die exakte Zuordnung der in Rede stehenden Gegend nicht mehr möglich. Mit ei‐ nigem Recht wird man allerdings J EBB folgen können: Er sieht hier den Nach‐ vollzug einer zweiten möglichen Route, auf der die Athener die in Richtung Theben verbrachten Töchter des Oidipus einholen könnten.255 War dabei in der vorangegangenen Strophe die Überquerung des westlich von Kolonos gele‐

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Zur Diskussion vgl. ad locum J EBB (1924) S. 166 f., 169 f., 286 f. („With our imperfect data, no solution can well claim to be more than probable“) sowie K AMERBEEK (1984) S. 148 ff. Auch an dieser Stelle (v. 1055 ff.) sind der Text sowie seine Deutung umstritten. J EBB (1924) a. a. O. Vgl. besonders die beigegebene Karte zwischen den Seiten 286 und 287.

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genen Gebirgszuges Aigaleos über den Pass bei Daphni insinuiert worden, so scheint die Gegenstrophe hier die nördliche Umgehung des topographischen Hindernisses nahezulegen.256 Dem Zweifel über den tatsächlichen Zielpunkt entspricht die Unwissenheit, ob die Flucht auf Fohlen oder in Wagen (πώλοισιν ἢ ῥιμφαρμάτοις φεύγοντες ἁμίλλαις v. 1062 f.) stattfindet. Dem setzt der Chor die entschiedene Zuversicht auf einen aus attischer Sicht erfolgreichen Ausgang der Mission entgegen: ἁλώσεται (v. 1065) „Er wird gefangen werden!“ bzw. „Er wird besiegt werden!“257 Die folgenden exklamatorischen Schlaglichter wirken durch ihre Kürze und Parallelisierung besonders eindringlich. Sie bieten die Be‐ gründung der Siegesgewissheit, sind allerdings syntaktisch weder mit ἁλώσεται noch untereinander verbunden: Gewaltig sei die Kriegskraft der Nachbarn – gemeint sind damit wahrscheinlich die vor Ort ansässigen Polisbürger – , ge‐ waltig die Kraft der Athener, die hier ganz konkret mit Bezug auf ihren Anführer Θησείδαι genannt werden. Ein zweites Paar parallel aufgebauter Aussagen schließt sich an: Jeder Zügel erglänze, die ganze Anzahl der Berittenen stürme heran.258 Die Auseinandersetzung zwischen Athenern und Thebanern ist damit dezidiert als Reitertreffen charakterisiert; die attische Kavallerie besticht dabei durch ihre Überlegenheit. Der mit besonderem Nachdruck vorgetragene Rela‐ tivsatz untermauert die Identifikation des Chors mit den in Rede stehenden at‐ tischen Soldaten: Sie seien diejenigen, die Athena Hippia und den erderschüt‐ ternden Seegott, den Sohn der Rhea ehren. Das erste Strophenpaar findet in diesem Rekurs auf die spezifisch attischen Stadtgottheiten sein volltönendes Finale. Das Stasimon erfährt an diesem Punkt einen ersten Einschnitt, der es uns möglich macht, folgende wesentliche Beobachtungen zum ersten Strophenpaar

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Die Angabe τὸν ἐφέσπερον (sc. χῶρον) (v. 1059) bezeichnete dann die westlich des Gebirgszuges gelegene Ebene; die Identifikation und exakte Lokalisation von Oia bzw. Oiatis ist dabei ebenfalls unklar. Zur Diskussion über die angemessene Übersetzung vgl. J EBB (1924) S. 170: „‘he [i.e. Kreon] will be worsted’ (not, ‘captured,’ since he was already in the hands of Theseus)“, sowie K AMERBEEK (1984) S. 151 f., der entweder die Ergänzung ὁ ἀγών oder eine un‐ persönliche Auffassung favorisiert: „‘the triumph will be oursʼ“. Geht man dagegen von der Grundbedeutung „gefangen werden“ aus (und nimmt dabei die leichte logische In‐ konsequenz in Kauf), fügt sich der siegesgewisse Ausruf äußerst passend in die an späterer Stelle im Lied prominenter ausgeführte Jagd- und Verfolgungsmotivik, zumal ἁλίσκομαι ein im Kontext der Jagd gängiger Ausdruck, ja geradezu terminus technicus ist (vgl. Ilias 5, 487 sowie v. a. Xenophon Anabasis 5, 3, 10 und Cynegeticus passim). Der Text ist an dieser Stelle (v. 1068 f.) erneut umstritten; ein detaillierter Nachvollzug der Probleme innerhalb dieser von L LYOD -J ONES /W ILSON in cruces gesetzten Partie soll hier allerdings nicht erfolgen. Vgl. L LOYD -J ONES /W ILSON S OPHOCLEA (1990) S. 248 ad locum: „But probability is not attainable, still less certainty“.

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III. Greisenchöre

festzuhalten: Was mit dem Wunsch der Choreuten begann, Augenzeuge der unmittelbar bevorstehenden Konfrontation zu sein, hat sich unversehens in eine siegesgewisse Selbstversicherung attischen „Nationalbewusstseins“ gewandelt. Mit der Gegenstrophe und ihrer Apostrophierung von Athene und Poseidon ist zudem der Rückbezug auf das erste Stasimon überdeutlich geleistet. Waren dabei im ersten Standlied die besonderen Qualitäten Athens vor dem Hintergrund der Aufnahme des Asyl suchenden Oidipus beleuchtet worden, so richtet die vor‐ liegende spätere Partie das Augenmerk besonders auf die herausragende Wehr‐ kraft der Stadt und fokussiert auf ein spezifisches Motiv der chorischen Refle‐ xion. Die in der zweiten Strophe des ersten Stasimons angerissene Kriegsthematik (v. 698 ff.) findet demnach an unserer Stelle ihr Echo:259 Sie ist durch den viru‐ lenten Bezug zum Geschehen auf und hinter der Bühne konkretisiert und kon‐ textualisiert, ja geradezu dramatisiert. Stand im Preislied auf Athen die unzer‐ störbare Olive als Symbol der Stadt allen erdenklichen Feinden entgegen (v. 699 sowie 702 f.), so sind es hier die Athener selbst, die unter der Führung des The‐ seus eine siegreiche Unternehmung unmittelbar in Angriff nehmen. Der um‐ fassende Nationalstolz der kolonischen Greise hat sich dementsprechend an unserer Stelle zur konkreten Siegesgewissheit verdichtet. Neben der Kriegsthematik erfährt ein weiterer motivischer Strang des ersten Stasimons im vorliegenden Lied eine funktionelle Bearbeitung: Der Preis Po‐ seidons und seiner Wohltat gegenüber der Stadt, wie ihn im Besonderen die zweite Gegenstrophe des ersten Standliedes entfaltete (v. 707 ff.), spiegelt sich hier in der herausgehobenen Bedeutung der attischen Kavallerie, der im imagi‐ nierten Aufeinandertreffen die führende Rolle zufällt. Mit dem Bild des „glän‐ zenden Zügels“ (v. 1067) ist der Kern der besonderen Beziehung zwischen Stadt und Gott verbalisiert und poetisch nutzbar gemacht. Anders gesagt: An unserer Stelle füllt sich die Thematisierung des Zügels aus der Anrufung Poseidons erst in vollem Ausmaß mit Leben. Aus dem theologisch-aitiologischen Detail ist ein Moment unmittelbarer dramaturgischer Relevanz geworden, das zugleich die imaginierte Handlung in spezieller Weise ausdeutet und kontextualisiert. Den motivischen Anklang an die theologische Dimension des ersten Stasi‐ mons führt der folgende Relativsatz in den Versen 1070 ff. aus: Die Apostro‐ phierung der beiden Stadtgottheiten Athene und Poseidon ist so der erwartbare Schlusspunkt, dem die siegesgewisse Schilderung des Kampfgeschehens entge‐ 259

In der Wiederaufnahme der Form δαΐων (v. 699 sowie zum Beginn des zweiten Stasi‐ mons v. 1044) mag man einen subtilen begrifflichen Rückbezug sehen. Die Schilde‐ rungen des zweiten Stasimons böten damit die konkrete Ausgestaltung des Schreck‐ nisses (φόβημα v. 699), das den feindlichen Männern von Seiten der Athener droht.

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genläuft. Hier sind die göttlichen Mächte, deren Preis das zweite Strophenpaar des ersten Standliedes bestimmte, konkret genannt und als Objekt der beson‐ deren Verehrung von Seiten der streitenden Athener ausgewiesen. Dass dabei Athene mit dem Attribut ἱππία belegt und so in ihrer speziellen Verbindung zum Pferdewesen bezeichnet wird, reiht sich augenscheinlich in den unmittelbaren Kontext der Kavalleriethematik. Auch dieses Detail verweist auf das erste Sta‐ simon: Wurde sie dort mit Bezug auf den als γλαυκός bezeichneten Ölbaum γλαυκῶπις genannt (v. 706), so ist sie an unserer Stelle ganz und gar in die Kavallerie- und Pferdethematik eingepasst. Die zweite Gegenstrophe unseres Liedes wird darüber hinaus mit Παλλὰς Ἀθάνα (v. 1090) eine dritte Apostro‐ phierung bringen, die eine weitere inhaltliche Dimension eröffnet. Die Figur Athenes als zentrale Gestalt innerhalb der chorischen Reflexion dient so gera‐ dezu als Projektionsfläche, auf der die jeweilige inhaltlich-motivische Dimen‐ sion abgebildet werden kann. Zum bemerkenswerten Tempusgebrauch innerhalb des ersten Strophenpaars soll Folgendes festgehalten werden. Für den Chor liegt das Aufeinandertreffen der beiden streitenden Parteien explizit in der Zukunft. Alle auf das Geschehen bezogenen Verbalformen stehen im Futur (μείξουσιν v. 1047, ἐμμείξειν v. 1057, πελῶσʼ v. 1060, ἁλώσεται v. 1065), wohingegen im kurzen Exkurs zu Eleusis das Präsens (τιθηνοῦνται v. 1050) bzw. das resultative Perfekt (βέβακε v. 1052) vor‐ herrschen. Erst mit der Imagination der anrückenden attischen Streitmacht ab Vers 1065 b wechselt das Tempus: Nicht der Blick in die Zukunft, sondern die konkrete Schilderung der nahenden Soldaten bestimmt die Partie. Während dabei das erste Paar der kurzen, schlaglichtartigen Perioden (δεινὸς ὁ προσχώρων Ἄρης, δεινὰ δὲ Θησειδᾶν ἀκμά) keine Verbalform beinhaltet, ist mit den präsentischen Formen der folgenden Verse (ἀστράπτει v. 1067 sowie ὁρμᾶται v. 1068) das vom Chor entworfene Bild konkret in der Gegenwart ver‐ ortet. Das im ersten Strophenpaar des Stasimons entworfene Zeitverhältnis ist damit von ausgeklügelter Differenzierung: Es erschöpft sich nicht in einer simplen zeitlichen Gleichsetzung vorderszenischer Reflexion und hinterszeni‐ scher Handlung. Vielmehr stellt der Chor die entscheidende Handlung erst in Aussicht und ist sich, wie der Beginn der zweiten Strophe zeigen wird, selbst über die momentane Situation nicht ganz im Klaren. Anders gesagt: Das Kampfund Rettungsgeschehen wird im Stasimon nicht in actu erzählt oder ausgemalt, sondern steht aus der Perspektive des Chors vielmehr erst bevor. Während so das erste Strophenpaar des Liedes den Rahmen der Auseinandersetzung illust‐ riert (Verortung des Geschehens in Zeit und Raum, Beschreibung der anrück‐ enden attischen Reiter, theologische Einbettung) und den Ausgang andeutet

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III. Greisenchöre

(Siegesgewissheit), bleibt das eigentliche Kampfgeschehen selbst unbe‐ leuchtet.260 Nach der Charakterisierung der attischen Reiter als Verehrer von Athene und Poseidon fragen die Choreuten am Beginn des zweiten Strophenpaars nach dem aktuellen Stand der hinterszenischen Geschehnisse: Handeln die Athener be‐ reits, oder zaudern sie (v. 1074 f.)? Den Chor beschleicht die Erwartung (προμνᾶται γνώμα v. 1075 f.), bald auf die Mädchen zu treffen, die durch ihre eigenen Verwandten mit gewaltigem Leid konfrontiert worden sind.261 Mit den Versen 1079 f. folgen zwei asyndetisch angeschlossene und ebenso unterei‐ nander syntaktisch nicht verbundene Ausrufe: Zeus, so der Chor, werde noch an diesem Tag etwas zu Ende führen (τελεῖ); der Chor selbst sei ein Seher güns‐ tiger Wettkämpfe (μάντις ἐσθλῶν ἀγώνων). Den Abschluss der zweiten Strophe bildet daraufhin in den Versen 1081 – 1084 der erneute Wunsch des Chors, am Ort des Geschehens präsent zu sein:262 Als sturmschnelle Taube (ἀελλαία ταχύρρωστος πελειάς) wünscht er sich, den eigenen Blick aus der Höhe einer Wolke auf die Kampfeshandlungen (ἄνωθʼ ἀγώνων) werfen zu können. Der be‐ reits am Beginn des Liedes ausgesprochene Wunsch (v. 1044 ff.) ist an unserer Stelle so in ein besonders ansprechendes poetisches Bild gekleidet. Dieses Ende der zweiten Strophe rundet in seiner Bezugnahme auf den Anfang des Stasimons die Partie und verleiht ihr eine herausragende inhaltliche Geschlossenheit. Mit der Äußerung seiner Erwartung, die beiden Töchter des Oidipus in Kürze wiederzusehen, fokussiert der Chor den Blick bereits auf den Ausgang der Kon‐ frontation zwischen Athenern und Thebanern. War in der ersten Gegenstrophe die heranrückende Kavallerie der Athener das beherrschende inhaltliche Mo‐ ment, so verschiebt der Chor an unserer Stelle die Perspektive und blickt einen weiteren Schritt in die Zukunft: Mit dem vorausgeahnten Ergebnis der militä‐ rischen Intervention ist zugleich der unmittelbare Handlungsverlauf angedeutet

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Man wird P AULSEN (1989) S. 133 daher widersprechen müssen, wenn er in seiner kurzen Inhaltsangabe festhält: „[…] den Rest der 1. Gegenstrophe füllt eine Vision des Kampfes selbst (V. 1065 ff.)“. Genauer bezeichnet da M ARKANTONATOS (2007) den Sachverhalt, wenn er von „their [sc. der Choreuten] incomplete narrative“ spricht (S. 99). Der Text ist an dieser Stelle (v. 1075 – 1078) erneut korrupt. Ich folge aus den bei K A‐ MERBEEK (1984) S. 153 f. gegebenen Gründen der Lesart der Scholien (τᾶν τλασᾶν εὑρουσᾶν gen. pl.) sowie der Konjektur von Bücheler ἀντάσειν . Auch hier bietet der überlieferte Text einige Schwierigkeiten. Eine ausführliche Dis‐ kussion der Varianten kann hier allerdings nicht erfolgen, ich verweise erneut auf K AMERBEEK (1984) S. 154 f., der trotz der vielfältigen Einzelprobleme zum Inhalt festhält: „The overall meaning, of course, is not in dispute: they want to be able, as a bird lifted into the sky, to be present as eyewitnesses of the strife“.

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und der Wiederauftritt des Stadtherrn mitsamt der von ihm befreiten Mädchen in Vers 1099 vorangekündigt.263 Das Lied hat mit dem Ende der zweiten Strophe einen gewissen Ruhepunkt erreicht: Die Rahmung der drei Strophen durch den zweimal artikulierten Wunsch, Augenzeuge der Kampfhandlungen zu sein, nimmt Bezug auf die ak‐ tuelle Bühnensituation des vom eigentlichen Handlungsgeschehen getrennten Chors und führt das Stasimon zu seinem Ausgangspunkt zurück. Zugleich ist die Überleitung zum folgenden Epeisodion geleistet, das passgenau an die Vor‐ ahnung der kolonischen Greise anschließen wird. In einem ausgreifenden Rahmen hat das Lied so einen Bezug zwischen vorder- und hinterszenischer Handlung hergestellt: Durch die Lokalisation des Geschehens, den ausführli‐ chen Blick auf die attische Streitmacht und die Vorahnung des Ausgangs ist die innerhalb der Bühnenhandlung eingetretene Pause nach Theseusʼ Abtritt mit einer mehr oder minder exakten Einblendung der für die Zuschauer unsicht‐ baren Aktion gefüllt. Die eigentliche Imagination hat dabei an unserer Stelle ihr Ende gefunden. Mit der zweiten Gegenstrophe setzt der Chor nun einen vitalen Akzent und emotionalisiert die konkrete Situation erneut. Schon der direkte Anschluss der Schlusspartie hebt sich vom bisherigen Duktus des Liedes ab: Mit einem durch die Interjektion ἰώ verstärkten Imperativ wenden sich die Choreuten direkt an Zeus als den allsehenden Allherscher der Götter (θεῶν πάνταρχε παντόπτα v. 1085 f.). Dieser möge, so der Wunsch des Chors, gewähren, dass die Einwohner dieses Landes, d. h. die Athener, die Jagd- und Überlistungsaktion (τὸν εὔαγρον λόχον) zu einem guten, siegreichen Ende führen.264 Geradezu nachgeschoben schließt der Chor in Vers 1090 auch die „ehrwürdige Tochter“ (σεμνὰ παῖς) des Göttervaters in seine Bitte ein, deren Apostrophierung Παλλὰς Ἀθάνα (nom.) dabei die Mitte der Strophe einnimmt. Der leicht inkonzine Wechsel der Kon‐ struktion (Vokativ Ζεῦ v. 1086 – Nominativ Παλλὰς Ἀθάνα v. 1090) lässt auf‐ horchen und bezeugt die emotionale Erregtheit der kolonischen Greise.

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Dass das ominöse τελεῖ τελεῖ Ζεύς τι κατ' ἦμαρ (v. 1079) dabei auch auf den weiteren Verlauf der eigentlichen Oidipus-Handlung, seine Entrückung und damit das Ende des Dramas anspielt (vgl. K AMERBEEK (1984) S. 154), ist vorstellbar; jedoch scheint mir eine derartige bewusste Vordeutung in diesem thematisch eng auf den Konflikt zwischen Theseus und Kreon begrenzten Rahmen allzu abwegig, um ernsthaft in Erwägung ge‐ zogen zu werden. Die τέλος-Thematik der vorliegenden Verse (τελεῖ τελεῖ v. 1079 sowie τελειῶσαι v. 1089) bezieht sich dagegen zunächst ganz konkret auf den Ausgang der in Angriff genommenen „Jagd“ nach den Töchtern des Oidipus. Vgl. K AMERBEEK s (1984) gelungene Übersetzungsvarianten S. 155: „‘accomplish’, ‘crown with successʼ“.

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III. Greisenchöre

Den indirekten Anruf eines weiteren Götterpaars formulieren die Choreuten in der folgenden Periode als von στέργω (v. 1093 f.) abhängigen AcI. Adressaten der Invokation sind dabei der Jäger Apoll sowie dessen Schwester Artemis, die „Verfolgerin bunt gefleckter, schnellfüßiger Hirsche“: Die beiden sollen sich als „doppelter Beistand“ (διπλᾶς ἀρωγάς) diesem Land und seinen Bürgern nahen. Mit diesem Wunsch endet das eigentliche Stasimon; die sich direkt anschlie‐ ßenden iambischen Verse 1096 – 1098 fungieren als Auftrittsankündigung und stehen dabei in Kontrast zur verklungenen Götterinvokation. In direkter Anrede (ὦ ξεῖνʼ ἀλῆτα) setzen die Choreuten Oidipus von der Ankunft seiner Töchter in Kenntnis und betonen, mit ihrer zuvor geäußerten Vorahnung Recht behalten zu haben: So werde dieser vom Chor als seinem „Wächter“ (σκοπός) sicherlich nicht sagen können, er habe Falsches prophezeit. Dem sich anschließenden Ge‐ spräch zwischen Oidipus, Antigone und Theseus folgen die kolonischen Greise daraufhin ohne eigene Einmischung; die nächste chorische Wortmeldung wird erst das dritte Stasimon sein (v. 1211 ff.). An diesem Punkt soll ein Rückblick auf die zweite Gegenstrophe des vorlie‐ genden Liedes erfolgen. Als Invokation von vier Gottheiten (Zeus, Athene, Apoll, Artemis) bildet sie das volltönende Finale der Partie und stellt eindringlich die persönliche Involvierung der kolonischen Greise in das Handlungsge‐ schehen vor Augen: Ihr inständiges Gebet verleiht der Passage besonderen, kul‐ tisch geprägten Nachdruck. Die Gedankenführung im zweiten Strophenpaar ist dabei von ausgefeilter Assoziativität und verknüpft geschickt verschiedene Motivbereiche. Im Rahmen der Siegesgewissheit steht für die Choreuten das Eingreifen des Göttervaters, der noch an diesem Tag etwas zu Ende führen werde (τελεῖ), außer Frage (v. 1079). Die Anrufung des so erwähnten Gottes nach der poetischen Verbalisie‐ rung des Ausgangswunsches füllt das abstrakte τελεῖ daraufhin mit konkretem Inhalt: Im Infinitiv τελειῶσαι (v. 1089) klingt es dabei sogar begrifflich nach. Zum anderen greift παντόπτα (v. 1085 f.) den eindringlichen Wunsch nach Au‐ genzeugenschaft der kolonischen Greise wieder auf: Hatten sie sich eben noch vorgestellt, als Taube das eigene Auge (τοὐμὸν ὄμμα v. 1084) auf das Geschehen werfen zu können, so wenden sie sich nun an Zeus, der die nicht sicher zu lokalisierenden Vorgänge ohne Zweifel vor Augen haben wird. Die motivische Reminiszenz an die Verse 703 ff. ist augenscheinlich: ὁ γὰρ εἰσαιὲν ὁρῶν κύκλος λεύσσει νιν Μορίου Διός. Die an unserer Stelle in Vers 1090 geradezu nachgeschobene Erwähnung der Stadtgottheit Athene beantwortet daraufhin das Ende der ersten Gegenstrophe. War dort (v. 1070 ff.) die Verehrung der Ἀθάνα ἱππία ein für die Theseiden cha‐ rakteristisches Identifikationsmoment, so tritt mit der von Παλλὰς Ἀθάνα er‐

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betenen Hilfe die Göttin erneut in den Fokus der Reflexion. Der Chor kommt damit der Erwartungshaltung der Rezipienten entgegen: Es steht außer Frage, dass die kolonischen Greise in besonderem Maß auch die Schutzgöttin ihrer Heimatstadt um Hilfe anflehen würden, sobald sie sich an göttliche Mächte wenden. Die allgemeine Verehrung Athenes, deren besondere Beziehung zur Stadt das erste Stasimon ausgeführt hat, kristallisiert sich so an unserer Stelle aus gegebenem Anlass zum konkreten Hilfegesuch. Mit den beiden Gottheiten Apoll und Artemis ist daraufhin die bereits in ἁλώσεται (v. 1065)265 angedeutete Jagd- und Verfolgungsmotivik wieder aufge‐ griffen und personalisiert. So klingt in der expliziten Benennung Apolls als „Jäger“ ἀγρευτάς (v. 1091) die mit εὔαγρον λόχον (v. 1088 f.) gegebene Bezeich‐ nung des Unternehmens nach, während die Apostrophierung der namentlich nicht genannten Artemis als „Verfolgerin bunt gefleckter, schnellfüßiger Hir‐ sche“ die charakteristische Tätigkeit der Göttin aufs Engste mit dem Grund ihrer Invokation verknüpft. Indem als Empfänger der erbetenen göttlichen Hilfe „dieses Land und seine Bürger“ (v. 1095) genannt werden, ist der im besten Sinne politische Rahmen der Unternehmung nach der Apostrophierung Athenes er‐ neut betont und wirkungsvoll an den Schluss des Liedes gestellt. Die Imagination der dramatischen Situation als Jagd auf die mit den Kindern des Oidipus entfliehenden Thebaner ist so an unserer Stelle zu einer poetisch höchst wirksamen, bild- und anspielungsreichen Götteranrufung verdichtet worden. Überdies eingewoben in das motivische Geflecht sind die politische Dimension des Geschehens sowie die persönliche Involvierung der kolonischen Greise. Kommen wir nun abschließend zu einer umfassenderen Einordnung des Liedes in den motivischen und dramaturgischen Rahmen, um so seine spezifische Stel‐ lung, Wirkung und Funktion herauszuarbeiten. Bevor wir in diesem Zusammenhang unser spezielles Augenmerk auf das besondere Verhältnis des Liedes zu den vorherigen Chorpartien richten, sollen zwei Charakteristika des vorliegenden Stasimons gesondert behandelt werden. Zum einen haben die Positionierung im Verlauf des Dramas und der Inhalt des

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Vgl. S. 591, Anm. 257.

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III. Greisenchöre

Liedes vielfach Anlass gegeben, in ihm den Ersatz einer Botenrede zu sehen:266 Sophokles habe einen möglichen – und aus Kenntnis der Bühnenkonvention vom Publikum wohl erwartbaren – Bericht über die Kampfhandlungen am Be‐ ginn des nächsten Epeisodions durch das vorliegende Chorlied ersetzt und so statt der dramaturgisch ohnehin bedeutungslosen Erzählung eventueller De‐ tails267 die visionäre Vorahnung des Geschehens in lyrischer Form inszeniert. Demgemäß enthält das vorliegende Lied standardisierte Formteile der klas‐ sischen Botenrede (im Besonderen: Lokalisierung und Ausdeutung des Hand‐ lungsortes, detaillierte Schilderung unter Einbeziehung bestimmter Fachter‐ mini),268 die es allerdings angepasst an die konkrete Situation und so in spezifischer Weise verfremdet präsentiert: Die Alternativen bezüglich der Lo‐ kalisierung sowie der Zweifel über die genaue Fortbewegungsart (v. 1062 f.) sind dabei dem Umstand geschuldet, dass der Chor keinen Augenzeugenbericht zu geben vermag.269 Von besonderem Interesse ist zudem das Zeitverhältnis, das die Imagination des Kampfgeschehens bestimmt: Wie bereits dargestellt, werfen die Choreuten mit der Schilderung des Aufeinandertreffens von Athenern und Thebanern dezidiert einen Blick in die unmittelbar bevorstehende Zukunft.270 So dominiert nicht die für die Botenrede typische konkrete Verortung des in Rede stehenden Ereignisses in Raum und (vergangener) Zeit, sondern die mehr oder minder vage Imagination eines zukünftigen Geschehens. Der ‚Botenbe‐ richt‘ ist so durch geschickte Nutzung eigener Charakteristika umgedeutet und zu einer imaginativ-reflektierenden Partie geworden. Das zweite Stasimon er‐ schöpft sich daher keineswegs in einer reinen Botenszene bezüglich der hinter‐ 266

267 268 269 270

Vgl. B URTON (1980) S. 282: „This ode also performs a further function in the structure of the play: it is a substitute for a messenger’s speech“; K AMERBEEK (1984) S. 148: „Mo‐ reover, the function of this Choral ode, sung while the event is taking place, replaces a Messenger’s report after the event“. So auch P AULSEN (1989) S. 134: „Daß dieses Sta‐ simon tatsächlich einen Botenbericht vertritt, erweist sich am deutlichsten in der Fol‐ geszene“. Z IMMERMANN (1997). „Botenszenen.“ in: DNP Band 2, Sp. 755 f. spricht mit größerer Vorsicht von unserer Stelle als einem „besonderen Fall“ der klassischen Bo‐ tenszene, wenn er sie als „Vorwegnahme der kriegerischen Ereignisse in einer Vision des Chors“ bezeichnet. Vgl. P AULSEN (1989) S. 134: „Elegant vermeidet es Sophokles also, detailliert über den Kampf, was doch nichts zur Handlung beigetragen hätte, zu berichten, präsentiert ihn aber dennoch in lyrischer Form“. Vgl. B URTON (1980) S. 282: „Many of the conventional features of such speeches are indeed to be found in the song: detailed description of place and its associations of custom or cult […], and of battle-manoeuvres and highlights in technical language“. Vgl. auch dazu B URTON s Einschätzung a. a. O.: „but because the ode is a vision, not a factual account, the details are presented as alternatives […]“. Vgl. die oben bereits aufgeführten Futurformen im ersten Strophenpaar sowie im Be‐ sonderen v. 1074.

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szenischen Handlung, wenn es auch bestimmte Momente des standardisierten Formteils der Botenrede aufgreift. Mit herausragender dramaturgischer Ökonomie versteht es der Dichter, an diesem Punkt des Dramas den Fortgang der Handlung gerade durch ein einge‐ schaltetes Chorlied zu straffen und mit besonderer Sogwirkung zu versehen. Statt mit einer dem eigentlichen Geschehen nachgeordneten Botenszene das Epeisodion mit einer dann rückblickenden Passage zu eröffnen, komponiert er eine ganz auf die Zukunft bzw. (räumlich vom Ort der Bühnenhandlung ge‐ trennte) Gegenwart gerichtete, außerszenisches Geschehen aus Sicht des Chors visualisierende lyrische Partie, die den Fortgang des Geschehens in den Blick nimmt. Zum anderen spielt das vorliegende Stasimon geschickt mit einem der dra‐ matischen Chorlyrik eigenen Schema und präsentiert eine Variation der sog. escape lyrics.271 Folgendes zum Begriff: Der Wunsch des Chors, den unmittel‐ baren Ort der dramatischen Handlung zu verlassen, ist ein gängiges Motiv chorlyrischer Reflexion. In der Regel ist damit die Intention der Choreuten ver‐ bunden, mit der dramatischen Situation einer für sie (oder einen Akteur) unan‐ genehmen Lage zu entfliehen und an einem anderen Ort von den aktuellen oder erwarteten Schwierigkeiten unbehelligt zu sein.272 An unserer Stelle haben sich die Vorzeichen gegenüber diesem standardi‐ sierten Schema allerdings verschoben: Der Wunsch des Chors, die aktuelle Si‐ tuation zu verlassen, entspringt hier gerade der Absicht, am eigentlichen Ge‐ schehen teilzuhaben und in vollem Maß präsent zu sein. Anders gesagt: Nicht die Flucht aus dem dramatischen Kontext, sondern das Bedürfnis, selbst im Zentrum der Handlung zu stehen, ist das für das Stasimon entscheidende Mo‐ ment. Diese Umkehrung des Musters der escape lyrics kontrastiert bewusst mit der Fokussierung auf den konkreten Handlungsort, wie sie das erste Stasimon bestimmte. Halten wir fest: Das zweite Stasimon vereint geschickt Anklänge an standar‐ disierte Formen und Schemata chorlyrischer (escape lyrics) und genuin nicht-chorlyrischer Präsenz (Botenbericht). Es unterwandert in dieser Hinsicht die Erwartungen der Rezipienten, forciert den Blick ganz auf das außerhalb von Bühnenzeit und -raum stattfindende Geschehen und setzt es dennoch mit der konkreten Bühnensituation in enge Beziehung. 271 272

Vgl. zum Begriff und zum Folgenden B URTON (1980) S. 281 sowie mit Bezug auf letzteren K AMERBEEK (1984) S. 148. Bei Sophokles im Besonderen Trachinierinnen v. 953 ff.; Anklänge an die „escape lyrics“ ebenfalls Aias v. 596 ff. im Preis der fernen Heimat Salamis gegenüber dem aktuellen Schauplatz der Handlung.

600

III. Greisenchöre

Weiten wir nun unseren Blick, indem wir das Standlied in den Kontext der an‐ deren chorischen Partien einzuordnen versuchen. An verschiedenen Stellen in‐ nerhalb der Interpretation ist bereits auf die enge motivische Verbindung zwi‐ schen erstem und zweitem Stasimon hingewiesen worden. Es reicht, an die Bezugnahmen hinsichtlich der Pferdethematik, an die Rolle von Poseidon und Athene in beiden Liedern sowie die patriotische Grundstimmung der Partien zu erinnern.273 Bei genauerer Betrachtung ergeben sich überdies weitere, strukturelle Paral‐ lelen der beiden Stasima: In beiden Fällen nimmt die Beschreibung und Visua‐ lisierung des offensichtlichen bzw. vermeintlichen Handlungsortes eine promi‐ nente Stelle innerhalb des Liedes, genauer: am Anfang der Partie ein. War das erste Strophenpaar des ersten Stasimons den Vorzügen und landschaftlichen wie theologisch-mythologischen Besonderheiten des Demos Kolonos gewidmet, so wirft die erste Strophe des vorliegenden Liedes einen ausführlichen Blick auf Eleusis als einen möglichen Ort der Handlung. In beiden Fällen ist damit das Geschehen in einem genuin attischen Kontext verortet und der Rahmen des imaginierten Geschehens abgesteckt. Beiden Stasima gemein ist zudem eine direkte und im jeweiligen Kontext überraschende Götterinvokation gegen Ende der Partie: War in das deskriptive Lob Athens in der zweiten Gegenstrophe des ersten Standliedes ein Anruf Po‐ seidons eingeflochten (v. 712 – 715), so eröffnete hier die direkte Wendung an den Allherrscher Zeus die abschließende Gegenstrophe des Liedes. Aus der reichen Fülle des ersten Stasimons sind so wesentliche motivische und strukturelle Momente wieder aufgenommen, konkretisiert und dramatisiert worden.274 Anders gesagt: Was im ersten Stasimon Moment der umfassenden und anspielungsreichen Beschreibung und Ausdeutung des engeren und wei‐ teren Handlungsraums (Kolonos und Athen) war, entfaltet in der nächsten rein chorischen Partie eine ganz und gar handlungsbezogene und damit dramatur‐ gische Wirkung. Das zweite Stasimon stellt so die vom konkreten dramatischen Anlass gebotene Verdichtung der im ersten Standlied ausgeführten Thematik dar. Dabei sucht es das hinterszenische Geschehen weniger abzubilden oder wiederzugeben, sondern auszuleuchten und auf der Basis der bereits im ersten Standlied entfalteten Thematik und Motivik zu kontextualisieren. Die beiden Standlieder bilden so für das Epeisodion zwischen ihnen einen besonders differenzierten und bedeutungsreichen chorischen Rahmen. Die Be‐ antwortung des ersten Stasimons durch das zweite nach über dreihundert 273 274

Weitere Parallelen sind in den Einzelerklärungen aufgeführt. Vgl. M ARKANTONATOS (2007) S. 98: „[…] the second stasimon of the play complements the famous Ode to Colonus in more respects than one“.

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Versen (Ende des ersten Stasimons v. 719, Beginn des zweiten v. 1044) stellt Anfang und Ende der Kreon-Handlung in eine enge Beziehung miteinander und rundet den handlungs- und emotionsreichen Abschnitt der Tragödie in heraus‐ ragender Weise. Damit nicht genug: Mit dem zweistrophigen Amoibaion (v. 833 – 843, 876 – 886) ist die chorische Präsenz in den Handlungsverlauf selbst eingebunden und bereichert ihn an der entscheidenden Stelle von innen heraus. Die Passage hat den Konflikt zwischen Oidipus und Kreon dezidiert als Auseinandersetzung der beiden πόλεις Athen und Theben interpretiert und an prominenter Stelle den Wunsch des Chors verbalisiert, ganz Athen möge Oidipus zu Hilfe kommen (vgl. v. 841 ff. sowie 884 ff.). Mit dem Einschreiten der attischen Streitmacht (Θησειδᾶν ἀκμά v. 1066) hat sich die Hoffnung des Chors erfüllt, das Amoibaion ist in dieser Hinsicht beantwortet. Handlung und Reflexion innerhalb der Kreon-Episode des Dramas greifen so funktionell und strukturell eng ineinander. Dem Dichter gelingt es, durch die Rahmung und Einschaltung chorischer Partien den Handlungsverlauf zu struk‐ turieren, thematisch auszuleuchten und in besonderer Weise zu rhythmisieren. Das zweite Stasimon erschöpft sich so nicht in der poetischen Ausgestaltung einer von der Bühnenkonvention geforderten Handlungspause, sondern leistet einen unverzichtbaren Beitrag innerhalb der Dramaturgie und Motivik der Tra‐ gödie. Drittes Stasimon (v. 1211 – 1248)

Vom Chor triumphal angekündigt (v. 1096 ff.) betreten Theseus, Antigone und Ismene erneut die Bühne. Der von der Freude, seine Töchter wieder bei sich zu wissen, übermannte Oidipus wendet sich nach der ausführlichen Begrüßung seiner Töchter (v. 1099 – 1116) an Theseus, dem er als Retter und Wohltäter seinen tief empfundenen Dank abstattet. Theseus ist sich seiner besonderen Rolle gegenüber Oidipus bewusst, lehnt es im konkreten Fall allerdings ab, de‐ taillierter über die Rettungsaktion Auskunft zu geben (v. 1148 f.). Stattdessen berichtet er von einem ihm Unbekannten, der nach Athen gekommen sei, um dort mit Oidipus zu sprechen. Auch wenn Theseus bezüglich der Identität des Ankömmlings keine konkreten Angaben machen kann, ist Oidipus sich schließ‐ lich sicher: Es muss sich um seinen Sohn Polyneikes handeln (v. 1173 f.). Diesem zu begegnen, lehnt er allerdings entschieden ab: Selbst Polyneikes nur anzu‐ hören, stelle für ihn eine ungeheure Zumutung dar. Theseus solle nicht versu‐ chen, ihn durch Zwang in diesem Punkt zum Nachgeben zu drängen (v. 1178). Der Einwurf des Stadtherrn, Oidipus solle Polyneikesʼ Status als eines Schutz‐ flehenden am Altar (τὸ θάκημʼ v. 1179) berücksichtigen, verhallt scheinbar un‐

602

III. Greisenchöre

gehört. Erst als sich Antigone in einem umfangreicheren Monolog (v. 1181 – 1203) für ihren Bruder einsetzt und vorsichtig mahnend auf ihren Vater einwirkt, lässt sich Oidipus überzeugen: Unter der Bedingung, dass sich niemand seiner eigenen Person bemächtige, stimmt er dem Kommen seines Sohnes zu. Mit Theseusʼ Versicherung, Oidipus werde solange nichts geschehen, wie die Götter ihn selbst beschützen, schließt das Epeisodion. Theseus verlässt mit seinem Gefolge die Bühne und wird das Auftreten des Polyneikes veranlassen; am Ort verbleiben Oidipus und seine beiden Töchter. Formale und motivische Gestaltung des Epeisodions sollen kurz überblickt werden. Die thematische Zweiteilung der Partie ist offensichtlich.275 Bis Vers 1150 dominieren Wiedersehensfreude und Dankbarkeit die Szenerie, in der die Ergebnisse der hinterszenischen Handlung präsentiert werden: Der Konflikt mit Kreon ist gelöst, Oidipus wieder mit seinen Töchtern vereint. Theseusʼ tatsäch‐ licher Triumph hat die Siegesgewissheit des zweiten Stasimons realisiert und erfüllt so die poetische Imagination rückblickend mit Leben. Gerade aus der Weigerung des Stadtherrn, detaillierter über das zurücklie‐ gende Geschehen zu berichten, erwächst im Folgenden die motivische Wende: Statt konkret vom Kampf gegen Kreon zu erzählen und damit den Blick explizit auf das Vergangene zu wenden, konfrontiert Theseus sein Gegenüber mit den Gerüchten (λόγος v. 1150) um die Ankunft des Fremden und setzt so einen vi‐ rulenten Impuls, der den Blick auf den unmittelbaren Fortgang der Handlung richtet. Mit der Ankunft des Polyneikes ist damit ein erneutes hinterszenisches Geschehen auf der Bühne zur Sprache gebracht. Ab Vers 1150 ist so die Fixierung des dramatischen Moments einer weiteren Zukunftsaussicht gewichen: Nicht mehr der durch hinterszenische Vorgänge erreichte Zustand, sondern die Aus‐ sicht auf einen weiteren Konflikt prägt das Bühnengeschehen bis zum Beginn des Stasimons. Formal gliedert sich das Gespräch dabei in vier Abschnitte, die sich durch ihre je andere Gesprächssituation und -form unterscheiden: Während Oidipus zu‐ nächst seiner Freude und Erleichterung im bewegten Austausch mit Antigone Ausdruck verleiht (v. 1099 – 1118) (1), wendet er sich darauf in einem ausgrei‐ fenden Monolog (v. 1119 – 1138) an Theseus, der seinerseits mit einem Monolog antwortet (v. 1139 – 1153) (2). Das folgende Wechselgespräch (v. 1154 – 1180) (3) der beiden Akteure ist erneut von besonderer Dynamik geprägt und erreicht

275

Vgl. K AMERBEEK (1984) S. 170: „The third epeisodion is itself a diptych“.

2. Oidipus auf Kolonos

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seinen Höhepunkt in den Versen 1196 / 7.276 Mit Antigones Monolog in den Versen 1181 – 1203 beginnt der letzte Abschnitt des Epeisodions (4): Der aus‐ greifenden Einschaltung Antigones folgen zwei kurze Beiträge von Oidipus (v. 1204 – 1207) und Theseus (v. 1208 – 1210), die das Epeisodion abschließen. Die vier Abschnitte können also im Ganzen überblickt werden: 1. 2. 3. 4.

dialogische Partie Oidipus-Antigone v. 1099 – 1118 Monologe Oidipus und Theseus v. 1119 – 1153 dialogische Partie Oidipus-Theseus v. 1154 – 1180 Monolog Antigone und Abschluss 1181 – 1210.

Mit dem vorliegenden Epeisodion hat Sophokles so eine formal besonders ab‐ wechslungsreiche Partie komponiert, in der die motivisch-thematische Ent‐ wicklung ihren sinnfälligen Ausdruck in den verschiedenen Gesprächssituati‐ onen findet. Das Epeisodion erfüllt dramaturgisch eine doppelte Funktion: Zum einen bringt es die Kreon-Episode durch die erneute Familienzusammenführung zu einem glücklichen Ende. Zum anderen entwickelt es aus sich heraus, d. h. ohne einen Impuls von außen, die Handlung fort: Theseus, der sowohl als Repräsen‐ tant der mittlerweile zurückliegenden Kampfhandlungen als auch als Bote der Ankunft des Polyneikes figuriert, wird zum dramaturgischen Angelpunkt der Szenerie; sein Kommen und Gehen, die von ihm angestoßenen Handlungen und sein hinterszenisches Wirken prägen das Geschehen maßgeblich und leisten die wesentlichen Impulse zum Fortgang der Handlung. Seine dramaturgische Dop‐ pelrolle lässt das Epeisodion nicht in einzelne Gespräche zerfallen, sondern gibt ihm einen strukturellen Rahmen, der die verschiedenen Zeitebenen miteinander verknüpft und dem Epeisodion als Gelenkstelle einen festen Platz im Hand‐ lungsverlauf verleiht. Der Chor ist dem Gespräch der Akteure seit der Auftrittsankündigung in den Versen 1096 ff. wortlos gefolgt. Dieser völlige Verzicht auf eine chorische Äu‐ ßerung verwundert zunächst, waren doch die kolonischen Greise im vorange‐ gangenen Epeisodion aktiv am Geschehen beteiligt und sahen sich selbst in der Pflicht, Oidipus im Rahmen ihrer Möglichkeiten vor Kreon zu beschützen (vgl. im Besonderen v. 829 ff.). Die Lage stellt sich an unserer Stelle allerdings anders

276

Von der detailreichen Kompositionsabsicht des Autors zeugt die beachtenswerte Re‐ gelmäßigkeit der Sprecherwechsel innerhalb des vorliegenden Gesprächs: So antwortet Theseus in den Versen 1160 – 1168 zunächst dreimal mit je einem Doppelvers auf die von Oidipus in einem Vers gestellte Frage. Nach je einem Vers von Oidipus (1171) und Theseus (1172) folgen abwechselnd schließlich zwei Doppelverse der Akteure.

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III. Greisenchöre

dar: Schon mit dem persönlichen Eingreifen des Stadtherrn in Vers 887 hatte die von Theseus angeordnete Fürsorgepflicht des Chors gegenüber Oidipus ein Ende gefunden. Seine erneute Präsenz im vorliegenden Epeisodion macht daher eine Einmischung des Chors überflüssig. Anders gesagt: Indem Theseus die Fäden der Handlung selbst in der Hand hält und an unserer Stelle geradezu in persona die verschiedenen Teile des Dramas miteinander verknüpft, reduziert sich die Aufgabe des Chors auf die Rahmung des im Wesentlichen durch die Akteure gestalteten Geschehens. Der Dichter konzipiert die vorliegende Gelenkstelle bewusst als Handlung, die von Akteuren ausgeht und unmittelbare Auswirkungen auf andere Akteure haben wird. Im Gegensatz zum vorangegangenen Epeisodion, in dem die cho‐ rische Präsenz strukturell mit den Bühnenvorgängen verwoben war, stellt er nun (Schauspieler-)Handlung und chorische Reflexion absichtlich nebenei‐ nander und lässt auf ein handlungsintensives Epeisodion eine im Wesentlichen allgemein reflektierende Chorpartie folgen. Das Stasimon gliedert sich in ein Strophenpaar, dem eine Epode von zehn Versen Ausdehnung angeschlossen ist. Mit seinen 36 Versen ist es die bisher kürzeste reine Chorpartie der Tragödie277 und erfüllt in bühnenpraktischer Hinsicht eine ähnliche Funktion wie die vorangegangenen Stasima: Wieder gilt es, eine gewisse Zeitspanne zu überbrücken, innerhalb derer sich hinterszenische Aktivitäten abspielen, die im Folgenden ihre unmittelbare Auswirkung auf die Bühnenhandlung entfalten werden. Konkret steht an unserer Stelle die Herbei‐ holung des Polyneikes bevor, die Theseus nach seinem Abtritt in Angriff nehmen wird. Der Chor beginnt die Partie mit einer bewusst allgemein formulierten Aus‐ sage: Wer auch immer (ὅστις betont an den Beginn des Liedes gestellt v. 1211) über das Maß hinaus zu leben begehrt, der ist in den Augen des Chors nicht mehr als ein „Hüter von Unverstand“ (σκαιοσύναν φυλάσσων v. 1223). Die sprachliche Gestaltung dieser ersten Periode des Stasimons ist beachtenswert. Während der Nebensatz eine besonders kompakte, ineinander verwobene und geradezu kühne Konstruktion aufweist,278 stellt der Hauptsatz das dezidiert ei‐ gene Urteil der kolonischen Greise mit besonderem Nachdruck vor Augen: Be‐

277 278

Erstes Stasimon: 52 Verse, zweites Stasimon: 50 Verse. So hängt von χρῄζει der Genetiv τοῦ πλέονος μέρους ab, zu dem darüber hinaus ζώειν als epexegetischer Infinitiv gestellt ist. (So die Lösung von K AMERBEEK (1984) S. 170 f. unter besonderem Bezug auf K ELLS (1961). „Hyperbaton in Sophocles.“ in: CR 11,3 (1961), S. 188 – 195). Auf πλέονος bezieht sich zudem τοῦ μετρίου als genetivus compa‐ rationis.

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sonders auffällig sind dabei das betonte ἐν ἐμοί, das eindrückliche κατάδηλος ἔσται279 sowie das Hapax σκαιοσύναν (für gewöhnlicheres σκαιότης). Auf welche inhaltliche Dimension sich das in Rede stehende Maß konkret bezieht, präzisiert die folgende Periode: Es geht dem Chor um ein Leben, das eine gewisse Dauer überschritten hat und daher sämtlicher Annehmlichkeiten und Freuden entbehrt. Da die „langen Tage“ (αἱ μακραὶ ἁμέραι), d. h. eine lange Lebenszeit, vieles „aufbewahren“ (κατέθεντο), was dem Schmerz näher liegt, könne man nach Überschreitung des Maßes nicht mehr sehen, wo die erfreuli‐ chen Dinge (τὰ τέρποντα) des Lebens verblieben seien. Damit ist das Thema des Liedes klar umrissen: Im Folgenden wird sich der Chor dem Alter widmen und es als mühevolle, trostlose und unangenehme Zeit der Spanne der Jugend ge‐ genüberstellen. Für die thebanischen Greise steht dabei außer Frage, dass das Alter eine Überschreitung des gesunden Maßes darstellt und daher für den Be‐ troffenen besonders unerfreulich ist. Der gedankliche Konnex zur ersten Periode des Liedes ist offensichtlich: Unter dem Gesichtspunkt der Maßlosigkeit und des damit verbundenen Leides muss der Wunsch des Menschen nach einem langen Leben (χρῄζει v. 1212) als Torheit (σκαιοσύνα) betrachtet werden.280 Der durch δʼ angeschlossene Fortgang der Strophe nimmt ab Vers 1220 einen weiteren Aspekt in den Blick: Der Chor richtet sein Augenmerk auf den Tod, der schlussendlich (ἐς τελευτάν) als „allen gemeinsamer Helfer“ (ἐπίκουρος ἰσοτέλεστος) in Erscheinung tritt, sobald das Todeslos erfüllt ist. Erneut lässt die sprachliche Gestaltung der Partie aufmerken. Besonders ins Auge fällt zu‐ nächst das Fehlen einer finiten Verbform im Hauptsatz: In seiner elliptischen Konstruktion rahmt er den Temporalsatz (bemerkenswert dabei die klang‐ lich-begriffliche Bezugnahme von τελευτά (v. 1223) auf ἰσοτέλεστος (v. 1220)) und besticht besonders durch seinen wuchtigen Schluss (θάνατος ἐς τελευτάν), der den in der Strophe entwickelten Gedanken zu einem geradezu natürlichen Abschluss bringt: Der Tod, pikanterweise als Helfer bezeichnet, bereitet allen dasselbe τέλος,281 unabhängig von der jeweiligen Lebensdauer. Innerhalb des Nebensatzes zeichnet sich die Reihung der auf μοῖρα bezogenen Adjektive (ἀνυμέναιος, ἄλυρος, ἄχορος) durch ihre hohe Suggestivität aus; das sprachliche Mittel der dreifachen Alliteration des alpha privativum werden die Verse 1236 f. mit Bezug auf γῆρας wiederholen und so einen engen motivischen Bezug zwischen Strophe und Gegenstrophe herstellen.282

279 280 281 282

Vgl. K AMERBEEK (1984) S. 171 ad locum: „an emphatic φανήσεται“. Vgl. K AMERBEEK (1984) S. 171. Vgl. K AMERBEEK (1984) S. 172. Die Alliteration ist an unserer Stelle durch ἀναπέφηνε noch fortgesetzt.

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III. Greisenchöre

Der gedankliche Rahmen der ersten Strophe ist geschlossen: In der Anein‐ anderreihung von persönlicher Einschätzung (v. 1211 – 1214) und zweiteiliger Begründung derselben (v. 1215 – 1220: „Mühen des Alters“ sowie 1220 – 1223 „gleicher Tod für alle“) eröffnet sie die Reflexion mit einer besonders entschie‐ denen Wertung des Alters und zugleich einem geradezu resignierend-pessimis‐ tischen Blick auf den in Rede stehenden Lebensabschnitt.283 Die Formulierungen sind dabei so allgemein wie nur möglich: Das einleitende ὅστις (v. 1211), im Folgenden durch τις (v. 1219) wieder aufgegriffen, steht dabei in bewusstem Kontrast zu den Eingangspartien der vorhergehenden chorischen Partien. So war dort der prägnante Verweis auf die dramatische Rahmensituation bzw. die anwesenden Personen oder Adressaten des Liedes ein bestimmendes Moment,284 während hier ein wirklich zwingender Bezug zur Handlung nicht gegeben zu sein scheint. Einzig der Umstand, dass mit dem Chor eben kolonische Greise singen und auch Oidipusʼ Alter und Gebrechlichkeit den bisherigen Handlungs‐ verlauf maßgeblich prägten, stiftet eine thematische Beziehung zwischen cho‐ rischer Partie und Handlungsrahmen; von einem konkreten Bezug zur aktuellen Situation, die mit dem vorangegangenen Epeisodion erneut an Brisanz ge‐ wonnen hat, kann allerdings keine Rede sein. Statt daher wie im zweiten Sta‐ simon das in der Szene angedeutete Konfliktpotential zu thematisieren und in einem poetischen Bild zu verarbeiten, eröffnet die vorliegende Strophe eine ge‐ nuin reflektierende Partie, die zunächst bewusst allgemeingültige Gedanken vorzubringen sucht. Ohne syntaktische Verbindung zum Vorhergehenden verbalisiert der Chor zu Beginn der Gegenstrophe erneut eine allgemeingültige Aussage (v. 1224 – 1227): Nie entstanden zu sein (μὴ φῦναι), überrage jeden anderen λόγος; das zweitbeste sei es allerdings, wenn man nun doch „erschienen“, d. h. am Leben sei, so schnell wie möglich von dort285 dahin zurückzukehren, woher man gekommen ist. In dieser pessimistischen Einschätzung findet die in der Strophe entwickelte The‐ matik ihre Steigerung: War dort der Wunsch nach einem langen Leben als Tor‐ 283 284

285

Vgl. M ARKANTONATOS (2007) Einschätzung S. 102: „an enormously pessimistic insight into the apparent futility of human existence“. Die Parodos begann mit der an sich selbst gerichteten Aufforderung des Chors, die Bühnensituation zu erfassen und den „Eindringling“ ausfindig zu machen (v. 118 ff.). Das erste Stasimon war des Weiteren direkt an Oidipus adressiert (ξένε v. 668) und verwies überdeutlich auf den Handlungsraum (τᾶσδε χώρας). Das zweite Standlied spielte, wie gezeigt werden konnte, ganz bewusst mit der Unsichtbarkeit des aktuellen Handlungsraums und blendete eine Vision des Geschehens ein, um so die hinterszeni‐ sche Handlung greif- und erfahrbar zu machen. So der von breiter Überlieferung gestützte und bei L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) gege‐ bene Text κεῖθεν ὅθεν. Vgl. K AMERBEEK s (1984) Anmerkung 1 S. 173.

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heit abgetan worden, so wird hier die Option, erst gar nicht geboren worden zu sein, als geradezu idealer Zustand proklamiert. Demgegenüber misst der Chor einzig der schnellen Rückkehr an den Ort des Nicht-Geborenseins einen ge‐ wissen Wert bei. Das kurze Erschienensein, d. h. die geringe Lebenszeit, kann so nach der Ansicht der Choreuten keine eigene Qualität beanspruchen; es fungiert vielmehr als reines Durchgangsstadium, das es rasch zu verlassen gilt. Wie schon in der Strophe schließt sich auch hier nach der vier Verse umfas‐ senden allgemeinen Aussage die Begründung derselben an, diesmal in der Form zweier Fragen, denen ein Temporalsatz vorgeschaltet ist (v. 1229 – 1232): Welches Unheil ist fern, welche Mühe nicht nahe,286 wenn die Jugend (τὸ νέον) samt ihrer leichten Sorglosigkeit vorübergegangen ist? Die folgende eindrucksvolle Aufzählung der Plagen („Mordtaten, Aufstände, Streit, Kämpfe und Missgunst“287) in Vers 1234 f. gipfelt in der Angabe des Übels, das dem betroffenen Menschen als letztes (πύματον) zufällt: das kraftlose, un‐ gesellige und unangenehme Alter (ἀκρατὲς ἀπροσόμιλον γῆρας ἄφιλον). Eine weitere Bestimmung dieses Lebensabschnitts beschließt die Gegenstrophe: Mit dem Alter wohnen die gravierendsten Übel (κακὰ κακῶν) zusammen. Blicken wir kurz auf die Gedankenführung sowie die formale und sprachliche Gestaltung der Gegenstrophe, deren feine formale wie inhaltliche Korrespon‐ denz mit der Strophe besonderes Augenmerk verdient. Auf die Parallele zum Aufbau der korrespondierenden Strophe wurde bereits hingewiesen: Auch hier schließt sich an eine allgemeingültige Aussage eine dezidiert als Begründung formulierte Periode an. Dass an unserer Stelle der einleitende Gedanke ohne den betonten Hinweis auf die eigene Person der Choreuten vorgetragen wird (vgl. ἐν ἐμοί am Beginn der Strophe v. 1214), lässt die Aussage noch apodiktischer erscheinen: Während der Chor zu Beginn des Liedes noch explizit seine eigene

286

287

Angelehnt an die Übersetzung von L LOYD -J ONES (1994). Der dort zu Grunde gelegte Text von L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) präsentiert an der textkritisch umstrittenen Stelle mit der Konjektur von Herweden πλαγά statt πλάγχθη (so auch schon J EBB (1928) und D AWE (1979) sowie D AWE (1996), anders P EARSON (1924) sowie D AIN (1960), beide mit Getrenntschreibung des in den codd. überlieferten πολύμοχθος) eine ohne besondere Schwierigkeiten lesbare Version, die mit einigem Recht die prominente Kontrastierung ἔξω und ἔνι herauszuheben vermag. (vgl. L LOYD -J ONES /W ILSON S OPHOCLEA (1990) S. 252 f.). Vgl. ebenso K AMERBEEK (1984) ad locum S. 173 f. So im Anschluss an L LOYD -J ONES /W ILSON (1990), die den in den meisten codd. überlie‐ ferten Text bieten. Dass dabei φθόνος den prominenten Platz am Ende der Aufzählung mit Recht innehat, begründen die Herausgeber L LOYD -J ONES /W ILSON S OPHOCLEA (1990) S. 252. Anders P EARSON (1924), D AWE (1979), D AWE (1996) u. a., die der Umstel‐ lung von Faehse folgen.

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III. Greisenchöre

Meinung verbalisiert hat, stellt er hier den pessimistischen Leitgedanken288 kontextlos, ja geradezu als allgemein anerkannte Lebensweisheit in den Raum. Den Fragen der Verse 1231 f. liegt dabei der bereits in der Mitte der Strophe ausgeführte Gedanke zu Grunde: War dort in einer positiven Formulierung von der Menge der Unannehmlichkeiten des Alters die Rede (v. 1215 ff.), so fragt der Chor hier konkret nach den Übeln, die den Menschen gerade nicht beeinflussen. Die beiden direkten – freilich rhetorischen – Fragen führen so die innerhalb der Begründungsperiode der Strophe eingebundene indirekte Frage (τὰ τέρποντα … ὅπου v. 1217 f.) unter veränderten Vorzeichen fort. Besonders kunstvoll ist dabei durch die gedoppelte Fragestellung und die Kontrastierung zwischen ἔξω und ἔνι die Totalität der den Menschen bedrängenden Mühsal verbalisiert: Der zwei‐ fache Anlauf der Fragestellung findet so seine Beantwortung in der umfangrei‐ chen Aufzählung der hereinbrechenden Übel in Vers 1234 f. Strukturell zeigt sich daraufhin am Ende der Partie wieder eine Parallele zur Strophe: War dort mit dem Tod explizit der Schlusspunkt des Lebens bezeichnet (ἐς τελευτάν v. 1223), so wird auch hier das Alter expressis verbis als πύματον (v. 1238) charakterisiert; es steht demgemäß in der Reihung der Widrigkeiten an letzter Stelle und ist wie Ἄϊδος μοῖρα in der Strophe durch drei verneinte Ad‐ jektive besonders herausgehoben. Auch die Gegenstrophe läuft so thematisch einem Zielbegriff entgegen, dessen Nennung und Ausgestaltung den Gedan‐ kengang abschließt und rundet. Mit der konkreten Thematisierung des Alters und seiner wortreichen Ausleuchtung in den Versen 1235 ff. ist die Reflexion des Chors wieder an ihrem Ausgangspunkt angelangt. Das Strophenpaar hat so in zwei Anläufen den Grundgedanken der Verwerf‐ lichkeit des Alters entworfen und mit besonderem Nachdruck auszugestalten versucht. Während dabei die Strophe den Wunsch nach einem langen Leben mit Blick auf die Mühen des Alters und den ohnehin allen Menschen gemeinsamen Tod als Wahn abgetan hat, präsentiert die Gegenstrophe mit der Überlegung, erst gar nicht geboren zu sein, die beste Alternative. Die Vorzüge des kurzen Lebens kontrastierte der Chor daraufhin mit den Plagen, die nach der Jugendzeit virulent werden, und erreichte mit der bildhaft-assoziativen Schilderung des Alters erneut den thematischen Kern der gesamten Partie. Die feinen formalen und sprachlichen Korrespondenzen zwischen Strophe und Gegenstrophe lassen diesen ersten Abschnitt des Liedes als in sich geschlossen erscheinen: Die be‐ wusst allgemeingültige Reflexion hat mit der Formulierung der Verse 1237 f. ihr markantes Ende gefunden. Vor diesem dunklen Hintergrund wird in der Epode

288

Zur Motivgeschichte und den Vergleichsstellen bei Theognis, Bakchylides und Euri‐ pides vgl. K AMERBEEK (1984) ad locum S. 172.

2. Oidipus auf Kolonos

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die Konkretisierung und der explizite Bezug auf die dramatische Situation umso wirkungsvoller hervortreten. Das die abschließende Partie des Stasimons einleitende Relativpronomen (ἐν ᾧ v. 1239) fasst die Ausführungen des Strophenpaars bezüglich des Alters und des daraus entstehenden Elends zusammen.289 Die syntaktische Bindung zwi‐ schen Gegenstrophe und Epode ist dabei besonders eng: Der vorliegende rela‐ tivische Anschluss290 lässt das Folgende geradezu als nachgeschobene und nicht minder konsequente Erläuterung der in der Gegenstrophe entwickelten The‐ matik erscheinen. In „diesem“ Zustand also (ἐν ᾧ), so der Chor, befinde sich nicht nur er selbst (οὐκ ἐγὼ μόνος), sondern auch „dieser“ (ὅδʼ), d. h. der auf der Bühne präsente Oidipus. Was folgt, ist ein besonders bildmächtiger Vergleich: Wie ein von Wogen gepeitschtes, dem Nordwind ausgeliefertes Ufer bedrängt wird, so setzen diesen, d. h. Oidipus (τόνδε v. 1242), immerzu gewaltig brandende Un‐ glücksfälle (ἆται) in Verwirrung. Das Bild des vom Unheil bedrängten Protagonisten entfalten daraufhin die vier abschließenden Verse der Epode in einer mehrgliedrigen Aufzählung; damit wird die zunächst unbestimmte Angabe aus Vers 1244, die ἆται seien ἀεὶ ξυνοῦσαι, detailreich ausgestaltet: Sie kommen aus allen vier Himmelsrich‐ tungen, vom Untergang der Sonne (Westen), ihrem Aufgang (Osten), der Rich‐ tung ihres mittäglichen Strahls (Süden) sowie dem nächtlich-dunklen Rhi‐ paia-Gebirge, das man im Norden Skythiens, d. h. am nördlichen Rand der bekannten Welt lokalisierte.291 In dieser Schlusspartie des Stasimons sind die beiden Ebenen des poetischen Vergleichs – die über Oidipus hereinbrechenden ἆται als Gegenstand sowie das von Stürmen gepeitschte Ufer als Bild des Ver‐ gleichs – miteinander zu einem Ganzen verwoben worden.292 Der Chor regist‐ riert nicht nur die grundlegende Ähnlichkeit der beiden Sphären und stellt sie in einem logisch nicht weiter spezifizierten „wie … so auch“ gegenüber, sondern malt das effektvolle Bild des bedrängten Protagonisten, indem er die Eigen‐ schaften der Stürme und Winde auf die ἆται überträgt: Beachtenswert sind dabei die sprachlich-begrifflichen Entsprechungen κυματοαγεῖς v. 1243 (aktivisch von den ἆται) – κυματοπλήξ v. 1241 (passivisch von ἀκτά) sowie κλονέουσιν v. 1244 (Subjekt: ἆται, Objekt: τόνδε = Oidipus) – κλονεῖται v. 1241 (grammatisches 289 290 291

292

Vgl. K AMERBEEK (1984) S. 175 ad locum: „referring to the whole preceding sentence“. Zum Phänomen vgl. KG II, § 561, 2. Vgl. dazu K AMERBEEK (1984) ad locum S. 175 sowie S TENGER (2001). „Rhipaia ore.“ in: DNP Band 10, Sp. 992 f. Dass dabei der Bezeichnung der nördlichen Richtung die Schlussposition zukommt, greift βόρειος ἀκτά vom Beginn der Epode (v. 1240) wieder auf und rahmt so den Gedankengang bzw. das poetische Bild. Vgl. K AMERBEEK (1984) S. 175: „The image and what it represents merge into each other“.

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III. Greisenchöre

Subjekt: ἀκτά). Die sprachlich subtile In-Eins-Setzung der beiden Vergleichs‐ ebenen intensiviert dabei die ohnehin lebhafte Imagination und verleiht ihr be‐ sondere Suggestivität. Damit schließt das Stasimon. Die sich unmittelbar anschließende Äußerung Antigones (v. 1249 ff.) fungiert als Auftrittsankündigung für Polyneikes, der in Vers 1254 seinen Monolog beginnen wird. Was lässt sich unter unseren spezifischen Gesichtspunkten zur Epode fest‐ halten? Trotz ihres syntaktisch engen Anschlusses an das Strophenpaar hebt sie sich mit Blick auf ihre inhaltliche Fokussierung deutlich vom vorangegangenen Teil des Stasimons ab. Waren die Ausführungen in Strophe und Gegenstrophe von besonders betonter Allgemeingültigkeit geprägt, so inszeniert der Chor hier eine konkrete und doppelt demonstrative Geste. Er lenkt den Blick damit be‐ wusst auf etwas vor Augen Liegendes und Bekanntes: Zum einen fasst das Re‐ lativpronomen (als Ersatz eines Demonstrativums am Beginn der Periode) die vorangegangenen Ausführungen in ihrer Gesamtheit zusammen, zum anderen verweist ὅδε explizit auf den Protagonisten der Handlung (und wird sicherlich mit einer sichtbaren Wendung der Choreuten zum Akteur verbunden gewesen sein). An unserer Stelle verknüpft so der Chor die eigene Reflexion explizit mit der Bühnensphäre: Die allgemeinen, gnomischen Aussagen des Strophenpaars werden in der Epode mit Leben gefüllt, im dramatischen Kontext verortet und konkret auf den Protagonisten der Handlung bezogen. Darüber hinaus positioniert sich der Chor erneut selbst im Geflecht zwischen Reflexion und Handlungsausdeutung. Mit dem geradezu ‚sympathischen‘ οὐκ ἐγὼ μόνος (v. 1239) bekunden die kolonischen Greise ihre grundlegende Ver‐ bundenheit mit dem Haupthelden und machen überdies erneut deutlich, dass sie im Bereich der von ihnen ausgeführten Altersthematik als Experten zu gelten haben. Hatte der Chor schon am Beginn des Liedes (v. 1213 ff.) seine dezidiert eigene Meinung vertreten, so untermauert er an unserer Stelle, wenn auch kurz, erneut seine persönliche Involvierung. Der Fokus der Epode ruht, von dieser kurzen Selbstcharakterisierung abge‐ sehen, ganz auf Oidipus und seiner bedauernswerten Situation. Nach der Gnomik des Strophenpaars und der konkreten Zuweisung in Vers 1239 nehmen so der Vergleich des Protagonisten und die Ausgestaltung des poetischen Bildes die gesamte Schlusspartie des Stasimons ein. Die Wiederaufnahme des de‐ monstrativen Gestus aus Vers 1239 innerhalb des Vergleichs (τόνδε v. 1242) ver‐ ankert dabei die Imagination des Chors überdeutlich im dramatischen Rahmen: Die Choreuten zeichnen hier das Bild des von Mühsal geplagten Oidipus, der ihnen innerhalb der Bühnensituation konkret vor Augen steht. Das Finale des

2. Oidipus auf Kolonos

611

Stasimons bildet so die besonders bild- und wortgewaltige Ausleuchtung der Situation des Protagonisten, wie sie sich für die Choreuten darstellt. Dass der Chor dabei trotz des kurzen, Sympathie bekundenden Einschubs v. 1239 in der Epode eine gewisse Distanz zur Bühnensphäre an den Tag legt und mehr betrachtend an sie herantritt als wirklich involviert aus ihr heraus das Wort zu ergreifen, offenbart ein Blick auf die Gesprächssituation des Liedes: Die kolonischen Greise adressieren ihre Reflexion nicht an Oidipus, sprechen nicht mit ihm (vgl. v. a. das erste Stasimon mit seinem prominenten Vokativ ξένε v. 668), sondern dezidiert über ihn. Der Gebrauch der Demonstrativa macht deut‐ lich: Der Chor steht dem Protagonisten gegenüber und lenkt den Blick (des Publikums) auf ihn, anstatt mit ihm in direkten Austausch treten zu wollen. Der Text des Liedes enthält dementsprechend keine Andeutung einer wirklichen oder auch nur intendierten Interaktion zwischen Chor und Akteur. So ist auch die zweite Person Singular ἴδοις v. 1218 mit Bestimmtheit keine direkte Anrede an den auf der Bühne verbliebenen Oidipus, sondern dient zur Bezeichnung des unbestimmten Subjekts „man“.293 Zwar ist der Blick der Choreuten auf den Haupthelden von Mitleid und Verständnis geprägt (vgl. die Apostrophierung τλάμων v. 1239), von einer wirklichen Wendung an ihn kann allerdings keine Rede sein. Als innerdramatischer Adressat der Reflexion fungiert vielmehr der Chor selbst; unter dramaturgischen Gesichtspunkten ist das Lied freilich ganz und gar an das Publikum gerichtet. Betrachten wir an diesem Punkt die Einbindung des Liedes in den unmittelbaren Kontext des Dramas. Wie schon gesehen, begann mit dem dritten Stasimon zum ersten Mal eine chorische Partie innerhalb der Tragödie nicht mit einem direkten Verweis auf die dramatische Handlung, die aktuelle Situation oder den Hand‐ lungsort. Nach dem spannungsgeladenen zweiten Teil des vorangegangenen Epeisodions mag dies zunächst verwundern: Weder Polyneikesʼ bevorstehende Ankunft noch der angedeutete Familienkonflikt oder die Situation in Theben dienen dem Chor als Anknüpfungspunkte seiner Reflexion; mehr noch: Der im Stasimon erreichte Handlungsfortschritt spielt innerhalb der Reflexion keine explizite Rolle.294 Das bereits antizipierte Konfliktpotential der Begegnung Oi‐ dipus-Polyneikes scheint allenfalls in der Aufzählung der Verse 1231 ff. (vgl. v. a. 293 294

Zur 2. Person sing. opt. eines Nebentempus in dieser Funktion vgl. KG II, § 352 An‐ merkung 4. Wie K AMERBEEK (1984) S. 170 bin ich von W INNIGTON -I NGRAM s (1980) Einschät‐ zung S. 252 „what is said of youth (1229 ff.) relates to Polyneices (and his brother)“ nicht überzeugt. Die Gestalt des Polyneikes scheint mir dagegen für den Chor an unserer Stelle keine wirkliche Relevanz zu haben.

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III. Greisenchöre

ἔρις v. 1234) vorzuschweben; von einer chorlyrischen Fortsetzung und Bearbei‐ tung entscheidender Motive und Stimmungen des Epeisodions kann allerdings im Gegensatz zu den beiden ersten Stasima hier keine Rede sein. Während dort der Chor Theseusʼ Schutzversprechen an Oidipus im Lob der eigenen Heimat verarbeitet (erstes Stasimon) und eine Vision der hinterszenischen Kriegsvor‐ bereitungen und -handlungen geboten hat (zweites Stasimon), blendet das vor‐ liegende Lied die konkrete Bühnenhandlung zunächst völlig aus.295 Anders gesagt: Warum der Chor gerade an unserer Stelle ein Lied über die Mühen des Alters zu singen beginnt, erschließt sich aus dem Epeisodion nicht. Explizit waren dort weder das Phänomen „Alter“ noch der spezifische Aspekt des Protagonisten als eines alten Mannes296 thematisiert worden. Die Gründe, gerade an unserer Stelle mit einer Reflexion über das Alter einzusetzen, offen‐ baren dementgegen eine tieferliegende, dramaturgische Absicht des Dichters. Sophokles scheint mit dem explizit allgemeingültigen Beginn des Liedes einen bewussten Kontrast zur vorangegangenen Szene zu beabsichtigen: Die Einschaltung einer genuin reflektierenden Partie vor dem antizipierten Konflikt wirkt geradezu als Unterbrechung des Handlungsverlaufs. Das vom aktuellen Geschehen rund um die Akteure zunächst unbeeindruckte Räsonieren des Chors lenkt so den Blick von der unmittelbaren Bühnenhandlung fort, eröffnet eine neue Perspektive und schafft einen gewissen Abstand. Der Dichter bedient sich dabei eines geradezu standardisierten Schemas297 chorischer Partien: Die Refle‐ xion setzt an einem der Handlung (scheinbar) entlegenen Punkt ein und führt so zunächst aus dem unmittelbaren Kontext heraus. Während dabei implizite Andeutungen auf die dramatische Situation oder grundlegende thematische Korrespondenzen zwischen Reflexion und Handlung gegeben sein können (in unserem Fall besonders die Aufzählung v. 1231 ff.), erfolgt die Kontextualisie‐ rung der Reflexion erst am Ende des Liedes. Das Stasimon wird so geradezu von hinten les- und deutbar, da es seine volle dramatische Relevanz erst in seiner Schlusspartie entfaltet.298

295 296

297 298

Vgl. K AMERBEEK s (1984) Einschätzung S. 170: „The song shows a striking contrast both to the first and second stasimon“. Antigone konzentriert sich in ihrem Einschreiten für den eigenen Bruder in den Versen 1181 ff. argumentatorisch nicht auf das Alter ihres Vaters, sondern vielmehr auf die familiäre Bindung sowie den Erfahrungsschatz, über den Oidipus mit Blick auf sein eigenes Schicksal verfügt. Vgl. z. B. die Ausführungen zum ersten Standlied der Antigone. Das heißt allerdings im Umkehrschluss nicht, dass sich die einzelnen Momente der Reflexion präzise auf die dramatische Situation beziehen lassen, ihr exaktes Gegenstück im Handlungsrahmen finden und so geradezu „enträtselt“ werden könnten; sie behalten vielmehr ihren eigenen, poetisch-imaginativen Charakter.

2. Oidipus auf Kolonos

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Was als bewusst allgemeine Reflexion über das Alter und seine Mühen be‐ gann, wird durch den demonstrativen Gestus der Epode zu einem Lied, das sich konkret auf Oidipus und seine Situation bezieht. Der Chor ist so am Ende des Stasimons – ungeachtet seines Anfangs – im Kern der dramatischen Handlung, d. h. bei Oidipus selbst angekommen, auf dessen demonstrative Ausleuchtung das Stasimon geradezu trichterförmig hinausläuft. Das Lied entlässt die Rezi‐ pienten dementsprechend mit dem forcierten Blick auf den Protagonisten. Es liefert eine verdichtete Zusammenfassung der Lage, in der sich Oidipus befindet, und deutet implizit sowohl Vergangenheit als auch Zukunft mit Hilfe des Bildes vom gepeitschten Ufer: Was mit Polyneikesʼ Auftritt unmittelbar bevorsteht, ist nichts anderes als eine erneute ἄτη, die über Oidipus hereinbrechen wird. Das Stasimon selbst zieht diese Konsequent freilich expressis verbis nicht; das wirk‐ mächtige Bild auf die antizipierten Geschehnisse der nahen Zukunft zu be‐ ziehen, bleibt dem Rezipienten überlassen. Halten wir also fest: Während sich der Anfang des Stasimons thematisch und strukturell vom unmittelbaren Kontext abhob und so bewusst eine durch re‐ flektierende Digression gefüllte dramatische Pause inszenierte, kommt die Schlusspartie auf den Kern der Handlung zu sprechen und verbalisiert die all‐ gemeine Lage des Protagonisten in einem eindrucksvollen Bild. Der Rezipient ist so vor der letzten konfliktreichen Auseinandersetzung des Protagonisten noch einmal ins Bild gesetzt worden. Mit der Alters- und Todesthematik des Strophenpaars intendiert der Dichter neben der bewussten poetischen Digression eine weitere motivische (und dra‐ maturgische) Absicht. Rufen wir uns dazu Folgendes in Erinnerung: Die beiden ersten Stasima der vorliegenden Tragödie waren in diffiziler Weise aufeinander abgestimmt, standen sich im Verhältnis von allgemeiner Reflexion und kon‐ kreter Realisierung des Gesagten auf der Basis der fortgeschrittenen Handlung gegenüber und bildeten, gemeinsam mit dem geteilten Amoibaion der Verse 833 – 843 sowie 876 – 886, den chorischen Binnenrahmen der Handlung. Die mo‐ tivische Geschlossenheit der beiden reinen Chorpartien und des Wechselge‐ sangs leuchtete das Epeisodion in spezifischer Weise aus und diente so als ge‐ radezu strukturierendes, rahmendes Moment der Kreon-Episode. An unserer Stelle verhält es sich anders: In seiner Alters- (und Todes-)The‐ matik rekurriert das dritte Stasimon expressis verbis auf keine chorische Partie,299 sondern öffnet vielmehr eine neue Perspektive und gibt der Handlung eine ent‐ 299

Einzig zur subtilen Todesthematik, die die Ausleuchtung des Demos Kolonos im ersten Stasimon (v. 681 ff.) durchzog, mag man an unserer Stelle einen Rückbezug erkennen; eine direkte Beantwortung aber liegt hier nicht vor.

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III. Greisenchöre

scheidende Wendung. Mit der Reflexion über die Bereiche „Tod und Lebensende“ sowie der besonderen Fixierung auf Oidipus ist eine Vorahnung der gegen Ende der Tragödie bevorstehenden Ereignisse ermöglicht. Oidipusʼ Tod als das zent‐ rale Ereignis der Handlung beginnt sich so am Horizont abzuzeichnen bzw. tritt als Kulminationspunkt vor der Folie des aktuellen konfliktreichen Bühnenge‐ schehens deutlich hervor. Das Lied blickt in seiner Motivik so nicht nach hinten, sondern deutet nach vorne: Seine konkrete Beantwortung wird es im vierten (und letzten) Stasimon der Tragödie finden, in dem die Choreuten ihren Wunsch nach einem gnädigen Tod für Oidipus verbalisieren werden. Innerhalb des dramatischen Gefüges spielt das vorliegende Chorlied so eine wesentliche Rolle: Es eröffnet mit seiner Alters- und Todesthematik sowie der besonderen Fokussierung auf den Protagonisten einen weiteren Großabschnitt der Tragödie, der schließlich in Oidipusʼ Entrückungstod kulminieren wird. Noch bevor mit der Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn die thebani‐ sche und familiäre Dimension der Handlung zu einem Abschluss gekommen ist, blendet es so die bestimmende Thematik der Schlussphase des Stückes ein und ruft geradezu das Ziel des gesamten Bühnengeschehens in Erinnerung. Das Stasimon erweist sich in diesem Sinn als motivische Gelenkstelle. Anders als die beiden ersten Standlieder bedarf es dabei keiner außerchorischen Anre‐ gung: Den Wechsel von Motivik und Stimmung entwickelt es ganz aus sich heraus. Die souveräne eigene Themensetzung der chorischen Reflexion zeugt so von der dramaturgischen Zielsetzung des Autors, der an unserer Stelle den Chor bewusst als motivischen Impulsgeber nutzt und mit dem Lied die Thematik von „Alter und Tod“ in den Raum stellt. Amoibaion (v. 1447 – 1499)

Die sich an das dritte Stasimon anschließende Polyneikes-Szene (1249 – 1446) kann mitsamt dem Amoibaion der Verse 1447 – 1499 unter unseren Gesichts‐ punkten rasch abgehandelt werden. Zunächst zum Epeisodion: Für den in Vers 1254 aufgetretenen Polyneikes bleibt das Gespräch mit Vater und Schwester wider Erwarten gleich in doppelter Hinsicht erfolglos. Fassen wir zusammen: Nachdem Eteokles seinen Bruder Polyneikes aus Theben vertrieben und selbst die Herrschaft über die Stadt übernommen hatte, kam letzterer nach Athen, um dort die Hilfe seines Vaters zu erflehen. Der Anblick des heimatlosen Greises ruft bei ihm tief empfundenes Mitleid hervor (v. 1254 – 1263). Ein Gespräch mit Oidipus scheint allerdings unmöglich zu sein: Auch auf Polyneikesʼ zuversicht‐ liche Äußerung, die durch ihn begangenen Verfehlungen (ἡμαρτημένων) könnten zwar nicht überboten, dafür aber geheilt werden (v. 1269 f.), reagiert Oidipus nicht; er verweigert sich zunächst jeder Auseinandersetzung mit seinem

2. Oidipus auf Kolonos

615

Sohn (eindrucksvoll der Versuch der Kontaktaufnahme durch Polyneikes v. 1271 f.). Ermuntert durch seine Schwester Antigone (v. 1280 – 1283) legt Polyneikes in einem ausführlichen Monolog (v. 1284 – 1345) daraufhin Grund und Absicht seines Kommens dar: Er befinde sich im Vorfeld eines bewaffneten Konflikts mit seinem Bruder, habe mit der Unterstützung seines Schwiegervaters Adrast ein Heer aufgestellt (v. 1301 ff.) und werde in Kürze die Rückeroberung Thebens in Angriff nehmen. Als Zukunftsaussicht schwebt ihm eine klare Alternative vor: Entweder werde er „mit vollem Recht“ (πανδίκως) im bevorstehenden Kampf sterben oder seine Gegner selbst aus der Stadt vertreiben (v. 1306 f.). Obwohl er dabei Oidipusʼ Erinys für seine eigene missliche Lage verantwortlich macht (v. 1298 f.), bittet er dennoch seinen Vater, den schwerwiegenden Groll (μῆνιν βαρεῖαν) ihm gegenüber aufzugeben. Schließlich sei durch Orakelsprüche be‐ stätigt, dass diejenige Partei, der sich Oidipus anschließe, den Sieg davontrage (v. 1331 f.). Den Abschluss der Rhesis (v. 1333 – 1345) bildet die wortreiche Bitte an Oidipus, ihn zu unterstützen; nur so könne er mit wenig Aufwand und in kurzer Zeit sein Ziel erreichen und seinen Bruder vernichtend schlagen, ihn aus Theben vertreiben und sich selbst dort als Herrscher installieren (v. 1340 f.). Auch an dieser Stelle scheint Oidipus an einem Gespräch mit seinem Sohn nicht interessiert. Erst die direkte Aufforderung des Chors, ihm um Theseusʼ Willen die „entsprechenden Dinge“ (ὁποῖα ξύμφορʼ) mitzuteilen und ihn dann fortzuschicken (v. 1346 f.), liefert dem Protagonisten den Anlass, selbst das Wort zu ergreifen. In seinem Monolog (v. 1348 – 1396) beantwortet er Polyneikesʼ Rhesis und erteilt den Hoffnungen seines Sohnes eine entschiedene Absage: Polyneikes sei es schließlich gewesen, der ihn, seinen eigenen Vater, aus der Heimat vertrieben und ihm diese Mühsal verursacht habe – ja, Oidipus werde sich seiner als seines eigenen Mörders erinnern (v. 1356 ff.). Aus diesem Grunde werde Polyneikes, so die Prophezeiung seines Vaters, nie Theben niederreißen, den Sieg erringen oder auch nur in seine Heimat zurückkehren. Vielmehr stehe ihm bevor, mitsamt seinem Bruder zu sterben, Eteokles, der ihn aus der Stadt warf, zu töten und dabei selbst von dessen Hand zu fallen (v. 1372 ff. sowie 1385 ff.). Die zur Bekräftigung seiner verwünschenden Weissagung (τοιαῦτʼ ἀρῶμαι v. 1389) angerufenen Gottheiten eröffnen ein dunkles Panorama: Ge‐ nannt werden die Dunkelheit des Tartaros, die im kolonischen Hain ansässigen Erinyen und Ares als personifizierter Urheber des Bruderzwists (v. 1389 – 1392). Daraufhin entlässt Oidipus seinen Sohn und offenbart noch einmal die bitterste

616

III. Greisenchöre

Verachtung300 ihm gegenüber: Dieser solle allen Kadmeiern und den Seinen ver‐ künden, dass diese Verwünschungen seine Ehrengabe, sein Vermächtnis (γέρα v. 1396) an seine Söhne seien. Für den Protagonisten ist die Unterredung damit beendet, er wird sich bis zum Amoibaion (v. 1457) nicht mehr zu Wort melden. Wie nach Polyneikesʼ umfangreichen Monolog, so kommentiert auch hier zunächst der Chor mit einem ungewöhnlich entschiedenen Doppelvers: Die ko‐ lonischen Greise haben sich über Polyneikesʼ Reisen – d. h. seine in den Versen 1301 ff. geschilderten Unternehmungen zur Sammlung eines Heeres – nicht ge‐ freut; nun solle er so schnell wie möglich verschwinden. Polyneikes verleiht im Folgenden seiner Erschütterung Ausdruck (v. 1399 – 1404); seine Schwestern bittet er, ihn für den Fall, dass sich die Prophe‐ zeiungen des Vaters erfüllen und er im Kampf gegen seinen Bruder das Leben verliert, in gebührender Weise zu beerdigen (v. 1404 – 1410); das werde den Mäd‐ chen, die sich ohnehin durch die Pflege des gemeinsamen Vaters besonderes Verdienst erworben haben, weiteres Lob einbringen (v. 1411 – 1413). Bevor sich Polyneikes nun aus Kolonos entfernen kann, verwickelt ihn seine Schwester Antigone in ein Gespräch: Sie fleht ihn an, sein Heer nicht gegen Theben zu führen und so die Stadt zu verschonen. Schließlich werde er so die Weissagungen (μαντεύμαθʼ v. 1425) seines Vaters erfüllen und dem sicheren Tod entgegen‐ gehen. Polyneikes ist sich zwar der Brisanz seines Unternehmens bewusst, be‐ harrt aber auf den getroffenen Entscheidungen und nimmt den eigenen Tod billigend in Kauf (εἰ χρή, θανοῦμαι v. 1441). Das bewegte Wechselgespräch zwi‐ schen den Geschwistern endet so für Antigone enttäuschend: Ihr Bruder verlässt mit den besten Wünschen für sie und ihre Schwester den Ort der Unterredung, sie selbst bleibt mit Ismene beim Vater zurück. Polyneikesʼ Abgang beendet damit die letzte Konfrontationsszene der vorlie‐ genden Tragödie. Der Dichter zeigt dabei in der Komposition des Abschnitts besonderes dramaturgisches Geschick: Während die eigentliche Auseinander‐ setzung zwischen Polyneikes und Oidipus (v. 1254 – 1398) von monologischer Statik geprägt wird, belebt sich das Bühnengeschehen nach Polyneikesʼ resig‐ nierender Klage (v. 1399 – 1413) im stichomythischen, schließlich antilabischen (v. 1438 – 1443) Streitgespräch der Geschwister. P FEIFFER -P ETERSEN zeigt dabei ganz richtig, wie gerade diese abschließende Dialogszene Polyneikesʼ Sinnes‐ wandel von unsicherer Verzagtheit hin zu „gefasster Entschlossenheit“301 insze‐ niert. Die ganze Partie schließt so mit einer bewusst dynamischen Note: Poly‐ neikes geht sehenden Auges seinem Schicksal entgegen, das Oidipus 300 301

Vgl. K AMERBEEK (1984) S. 192: „the summit of sarcastic scorn is reached in this last verse [1396]“. P FEIFFER -P ETERSEN (1996) S. 169. Vgl. zudem S. 167.

2. Oidipus auf Kolonos

617

vorhergesagt hat. Noch vor dem Ende der Tragödie ist so der Fortgang der Handlung nach Oidipusʼ Tod in den Blick genommen: Die informierten Rezi‐ pienten sind sich bewusst, dass damit nun diejenigen Geschehnisse um Poly‐ neikes, seinen Kampf um Theben und die Auseinandersetzungen bezüglich seiner Bestattung angestoßen sind, deren dramatische Bearbeitungen unter an‐ derem in Aischylosʼ Sieben gegen Theben sowie der Antigone unseres Dichters vorliegen. Der Oidipus auf Kolonos weist so an unserer Stelle über sein eigenes Ende hinaus und stiftet mit der Entlassung des Polyneikes durch seinen Vater den Auftakt zur Fortsetzung der Handlung in der Folgegeneration.302 Die Beteiligung des Chors war während der Polyneikes-Szene auf ein Min‐ destmaß reduziert: Einzig die beiden Doppelverse nach den entscheidenden Monologen zeugen von der inneren Anteilnahme der kolonischen Greise am aktuellen Geschehen. Dass sie dabei Polyneikes und seinem Ansinnen äußerst ablehnend gegenüberstehen, ist nachdrücklich bekundet worden. Von einem lebhaften Eingreifen des Chors in die aktuelle Bühnensituation kann allerdings an unserer Stelle kaum gesprochen werden: Anders als im Konflikt mit Kreon spielen die Choreuten keine aktive Rolle in der Auseinandersetzung mit dem Hinzugetretenen. Zwar bewegen sie Oidipus zur Darlegung des Sachverhalts aus seiner Perspektive und fordern Polyneikes mit einiger Bestimmtheit auf, den Ort des Geschehens zu verlassen, eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Problematik aber findet von Seiten des Chors nicht statt. Dem Gespräch zwi‐ schen den Geschwistern in den Versen 1399 – 1446 folgen die kolonischen Greise daraufhin wortlos; erst mit der ersten Strophe des folgenden Amoibaions wird sich der Chor wieder zu Wort melden. Wir kommen so direkt zum Beginn des Amoibaions. Zunächst einige formale Bemerkungen: Sophokles komponiert an unserer Stelle eine umfangreiche epirrhematische Partie von immerhin mehr als fünfzig Versen Ausdehnung, in die zwischen den in zwei Paaren korrespondierenden vier Strophen des Chors je fünf Sprechverse der Akteure eingefügt sind. Dabei kommen Oidipus jeweils die ersten und letzten beiden Verse zu, während Antigone dazwischen je einen Vers spricht. Die Sprecherverteilung ist demnach wie folgt (die Chorpartien sind zur Verdeutlichung zentriert gesetzt):

302

Zur Ausdeutung dieser „dunklen Folie“, vor der sich Oidipusʼ bevorstehender Entrü‐ ckungstod abspielen wird, vgl. R EINHARDT (31960) S. 228.

618

III. Greisenchöre

Sprecher

Chor

Metrik / Strophe

Anzahl der Verse

lyrische Maße, 1. Strophe

9

Oidipus

iamb. Trimeter

2

Antigone

iamb. Trimeter

1

Oidipus

iamb. Trimeter

2

Chor

lyrische Maße, 1. Gegenstrophe

9

Oidipus

iamb. Trimeter

2

Antigone

iamb. Trimeter

1

Oidipus

iamb. Trimeter

2

Chor

lyrische Maße, 2. Strophe

8

Oidipus

iamb. Trimeter

2

Antigone

iamb. Trimeter

1

Oidipus

iamb. Trimeter

2

Chor Theseus

303

lyrische Maße, 2. Gegenstrophe iamb. Trimeter

8 5

Die grundlegende Funktion der Partie im Ablauf der Handlung lässt sich leicht aus ihrer Positionierung ersehen: Sie teilt das umfangreiche Epeisodion, d. h. die Passage zwischen dem dritten und vierten Standlied, und leitet von der Kon‐ frontationsszene zwischen Oidipus und Polyneikes zum Gespräch mit Theseus über. Den entscheidenden Impuls setzen die Choreuten dabei allerdings nicht aus sich heraus. Vielmehr bedient sich der Dichter eines besonderen Bühnen‐ effekts, um die Handlung in die entscheidende Richtung zu lenken: In Form von Donnerschlägen bzw. Donnergrollen ertönt vor bzw. während der epirrhema‐

303

Theseus kommen nach seinem Auftritt zunächst fünf Verse zu, also genau die Anzahl der Verse in den Sprechpartien zwischen den Chorstrophen. Auf diese strukturell enge Verbindung der epirrhematischen Partie mit Theseusʼ Auftrittsworten weist zu Recht K AMERBEEK (1984) S. 198 hin.

2. Oidipus auf Kolonos

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tischen Partie das von Oidipus bereits im Prolog (v. 95) angekündigte göttliche Zeichen. Hier eröffnet sich ein weites Problemfeld: Dass die im Text der Partie er‐ wähnten Donnergeräusche (v. 1456, 1462 f., 1478 f.) bei der Aufführung der Tra‐ gödie tatsächlich realisiert wurden, ist weitestgehend akzeptiert.304 Umstritten ist allerdings folgende Frage: Wann ertönt der erste Donner, dessen Grollen die Choreuten in Vers 1456, also am Ende der ersten Strophe, erwähnen? Die Aus‐ leger sind gespalten: J EBB, B URTON , K AMERBEEK und M ARKANTONATOS305 – um die wichtigsten zu nennen – plädieren dafür, den Donner erst in Vers 1456 ertönen zu lassen; sie lesen den in Rede stehenden Vers demnach als unmittel‐ bare, überraschte Reaktion der Choreuten auf das unvorhergesehene Ereignis, das sie in ihrer Reflexion über das eben Erlebte, d. h. die Polyneikes-Szene un‐ terbricht.306 Dagegen vertreten W ILAMOWITZ , R EINHARDT und P AULSEN307 die Ansicht, dass bereits unmittelbar nach dem Abtritt des Polyneikes (v. 1446) der Donner zu hören sei; der Chor beziehe sich demnach schon mit νέα τάδε (v. 1447) auf das Grollen und verbalisiere das für das Publikum ohnehin vernehm‐ bare Geschehen erst am Ende der Strophe expressis verbis.308 Mit aller gebotenen Vorsicht plädiere ich an dieser Stelle für die zweite Lösung und nehme zumindest ein Donnergrollen bereits in Vers 1447 an. P AULSEN309 listet die Argumente für diese Annahme in konziser Form auf; die folgenden 304

305 306 307 308

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Es ist hier nicht der Ort, auf bühnenpraktische Aspekte der Realisierung einzugehen. Nimmt man den Gebrauch der für die spätere Zeit hinlänglich bezeugten, „Bronteion“ genannten Theatermaschine bereits für das fünfte Jahrhundert an, so wurde zur Er‐ zeugung des Donnergeräuschs mit einiger Wahrscheinlichkeit hinterszenisch ein mit Kieseln gefüllter Ledersack gegen ein Bronzeblech geschlagen oder Steine in Gefäße aus Erz geschüttet (vgl. R EISCH (1897). „βροντεῖον.“ in: RE Band 3, Sp. 890; sowie B LUME (1997). „Bronteion.“ in: DNP Band 2, Sp. 789 f.). Zur weiteren Diskussion verweise ich auf A RNOTT (1962). Greek scenic conventions in the fifth century B. C., Oxford, S. 89 f. („There is no conclusive evidence for assigning this [i.e. das Bronteion] to the fifth century, but it is a simple and obvious sound effect that might have occurred to anybody at any time.“); P ICKARD -C AMBRIDGE (1946) S. 235 f. J EBB (1928) S. 223 f., B URTON (1980) S. 268 f., K AMERBEEK (1984) S. 198 f., M ARKANTO‐ NATOS (2007) S. 107. Dezidiert dazu B URTON (1980) a. a. O. zu den Versen 1447 – 1455: „[…] the chorusʼs com‐ ment on the preceding scene“ und schließlich zu Vers 1456: „At this moment the first clap of thunder breaks their reflections“. W ILAMOWITZ (1917) S. 363, R EINHARDT (31960) S. 228, P AULSEN (1989) S. 140. Einen Mittelweg versuchen diejenigen Ausleger einzuschlagen, die zwar den eigentli‐ chen Donnerschlag erst am Ende der Strophe ansetzen, zu Beginn der Partie allerdings ein unbestimmtes Grollen o. dgl. veranschlagen. Vgl. J EBB (1928) S. 223 und S CHADE‐ WALDT (2002) in seiner Übersetzung (Regieanweisung zu Vers 1447: „Ein Gewitter zieht herauf. Sausen des Windes“ und schließlich zu Vers 1457 „Ein Donnerschlag“ S. 475 f.). P AULSEN (1989) S. 140 f.

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daran angeschlossenen Bemerkungen mögen daher genügen: Beziehen sich be‐ reits die ersten Worte des Chors (v. 1447 f.) auf das Donnergrollen, ist die in‐ haltliche Kohärenz der gesamten Partie gewahrt; in ihr würde dann ohne the‐ matischen Bruch die Unterweisungsszene zwischen Oidipus und Theseus sowie die Entrückung des Protagonisten vorbereitet. Eine explizite Thematisierung des in der Polyneikes-Szene Erlebten widerspräche ohnehin der auffälligen Zu‐ rückhaltung, mit der der Chor der vorangegangenen Konfliktszene folgte. An‐ ders gesagt: Die kolonischen Greise zeigten schon nach der Ankündigung von Polyneikesʼ Kommen durch Theseus in den Versen 1150 ff. kein konkretes Inte‐ resse für die Gestalt des Oidipus-Sohns und die mit ihm assoziierte Problematik. Stattdessen beherrschte das dritte Stasimon, wie oben gezeigt wurde, eine sub‐ versive Alters- und Todesthematik mit besonderer Fokussierung auf Oidipus. Die Polyneikes gegenüber an den Tag gelegte Ablehnung der kolonischen Greise innerhalb des Epeisodions erschien vor diesem Hintergrund nur folgerichtig. Warum der Chor an unserer Stelle nun nach dem Abtritt des Polyneikes zum ersten Mal auf das Geschehen rekurrieren sollte, dem er bisher weitestgehend passiv gegenüberstand, erschließt sich nicht; die von L INFORTH310 ins Feld ge‐ führte These: „It is natural for the chorus to make some remark about the pre‐ vious scene“, lässt in ihrer Allgemeinheit keinen zwingenden Schluss zu. P AULSEN betont zu Recht, dass sich Sophokles sicherlich „im Zuge einer drama‐ tisch wirkungsvollen Gestaltung Freiheiten gegenüber der Gattungskonvention erlaubt“.311 Erst die Annahme eines Donnergrollens bzw. -schlages in Vers 1447 füllt zudem die chorische Sorge vor νέα βαρύποτμα κακά mit konkretem Inhalt: Welche neue Unbill sollte allein auf Grund der Polyneikes-Episode die Kolonier in solche Sorge versetzen (vgl. das betonte μοι v. 1447), da sie zum ganzen Ge‐ schehen rund um Oidipusʼ Sohn keinen wirklichen Bezug haben? Wesentlich überzeugender wirkt da die Hypothese, gleich zu Beginn der Strophe zumindest wahrnehmbare Vorboten des Donnerschlages – wenn eben nicht den eigentli‐ chen Donner – erklingen zu lassen, auf die die Choreuten dann reagieren. Der damit hergestellte weitgehend nahtlose Übergang von der Poly‐ neikes-Episode in die Schlusspartie der Tragödie, die sich ganz dem Entrü‐ ckungstod des Haupthelden widmet, entspricht dabei der motivischen Straffung und Konzentration, die bereits das dritte Stasimon eingeleitet hatte. Die in diesem Lied forcierte Alters- und Todesthematik entfaltet so im vorliegenden Amoibaion schlagartig ihre handlungsrelevante Umsetzung. Mit L INFORTH da‐ 310 311

L INFORTH (1951). Religion and Drama in „Oedipus at Colonus“, Berkeley and Los An‐ geles, S. 166, Anm. 66. P AULSEN (1989) S. 140 f.

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gegen von einer Art „Generalpause“312 im Ablauf des Stücks nach Polyneikesʼ Abtritt auszugehen, erscheint mir verfehlt. Gerade an unserer Stelle dynamisiert sich das Geschehen wesentlich und nimmt das Ende der Tragödie in den Blick. Es ist dementsprechend nicht, wie L INFORTH meint, „clumsily artificial“,313 den Donner direkt auf Polyneikesʼ Abtritt folgen zu lassen, sondern gerade ein Aus‐ weis der dramaturgischen Ökonomie und effektvollen Gestaltung der ent‐ scheidenden Gelenkstellen innerhalb der Handlung. P AULSEN hat demnach ganz Recht, wenn er festhält, es sei wahrscheinlicher, „daß das Zeichen von Oidipusʼ Erlösung genau in dem Moment ertönt, in welchem er seine letzte Prüfung be‐ standen hat – das heißt mit Polyneikesʼ Abgang – , als daß es mit Verzögerung zu hören ist.“314 Ich gehe unter diesen Voraussetzungen davon aus, dass die beiden weiteren Donnerschläge zu Beginn der ersten Gegenstrophe (zu v. 1462) und der zweiten Strophe (zu v. 1477) ertönen. Gegen B URTON315 nehme ich damit eine regelmäßige

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L INFORTH (1951) S. 166: „After the departure of Polyneices there is a momentary cessa‐ tion of speech and action“ sowie S. 167 „The wheels of action seemingly have ceased to turn. The cessation of speech and action, which has already been pointed out, resembles a ‘grand pause’ such as is sometimes found in musical scores“. Ähnlich, wenn auch in abgeschwächter Form, M ARKANTONATOS (2007) S. 107: „After the fierce opposing ten‐ sions of the preceding scene, there follows a moment of apparent calm […]“. L INFORTH (1951) S. 166 Anmerkung 66. Befremdlich wirkt zudem die Begründung „as if it [i.e. der Donner] were controlled by the structure of the play“ sowie die allgemeine Feststellung „Thunder cannot be controlled by art“ S. 167. Es scheint die Vorstellung zu Grunde zu liegen, Sophokles habe sich in der Komposition seiner Tragödie und ihrer Teile gewissen Naturgegebenheiten zu unterwerfen.Vielmehr verfügt er als Dichter doch souverän über die Bühneneffekte und verfolgt mit der geschickten Kombination von Effekt und gesprochenem bzw. gesungenem Text dramaturgische, d. h. publikums‐ leitende Absichten. P AULSEN (1989) S. 140 f. B URTON (1980) S. 269: „It is to be noted that the peals of thunder occur at unsymmetrical and therefore unexpected intervals during the chorusʼs lyrics“. Vor allem seine Lokali‐ sierung des zweiten Donnerschlags während der ersten Gegenstrophe in Vers 1466 erschließt sich mir nicht.

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Abfolge der Donnerschläge an, die mit der Struktur der gesamten Partie kor‐ respondiert.316 Kommen wir so zum Amoibaion selbst. Auf einen detaillierten Nachvollzug der Partie im Einzelnen soll hier verzichtet werden; in aller Kürze sollen die grund‐ legenden Aspekte rekapituliert werden, bevor wir die dramaturgische Einord‐ nung der Passage skizzieren. Von den vier Strophen des Chors stellen die ersten drei die unmittelbare Re‐ aktion der kolonischen Greise auf das Donnergrollen bzw. die Donnerschläge dar. Da die Choreuten, anders als Oidipus, über Grund und Zweck des Donners nicht informiert sind, stehen sie dem aus ihrer Perspektive unerwarteten Phä‐ nomen zunächst mit vorsichtiger Ungewissheit, schließlich mit offener Angst und geradezu panischer Furcht gegenüber.317 Die emotionale Intensität der Re‐ aktion steigt dabei von Strophe zu Strophe: Zu Beginn der Partie befürchten die Choreuten zwar neues Ungemach von Seiten des „blinden Fremden“ (παρʼ ἀλαοῦ ξένου v. 1449), verbalisieren ihre konkrete Angst aber erst in der Gegen‐ strophe nach dem zweiten Donnergrollen (v. 1464 f.) und einem erneuten Auf‐

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Bei allen Versuchen, die nicht überlieferten Regieanweisungen unserer Stelle aus dem Tragödientext zu erschließen und so das komplexe Bühnengeschehen zu rekonstru‐ ieren, muss man sich Folgendes vor Augen halten: Es ging Sophokles wohl kaum darum, ein reales Gewitter oder mit dem Donner auch nur einen Teil desselben abzubilden, d. h. die perfekte Illusion des in Rede stehenden Phänomens zu liefern; für ihn als Dichter stehen hier sicherlich die dramaturgischen, d. h. die mit der Handlung verbundenen und auf Publikumswirkung ausgelegten Aspekte im Vordergrund. An der Übereinstimmung von akustischem Effekt (Donnerschläge) und formaler Struktur des Amoibaions sollte man daher keinen Anstoß nehmen. Zudem ist es schlicht unmöglich, das Phänomen „Blitz und Donner“ sprachlich in Echtzeit abzubilden; dass daher die Feststellung ἔκτυπεν αἰθήρ (v. 1456) resümierend zu verstehen ist und nicht mit dem unmittelbaren Ereignis zusammenfallen muss, kann nicht verwundern. Dass, wie K AMERBEEK (1984) S. 201 angibt, der Aorist hier geradezu beispielhaft in seiner Funktion, ein unmittelbar vorangegangenes Ereignis zu verbalisieren, stehe, ist kein zwingender Grund, zumin‐ dest ein Grollen bereits zu Beginn der Strophe auszuschließen. Vgl. P AULSEN (1989) S. 140: „Mit jedem Donnerschlag […] wird der Chor ängstlicher und gerät schließlich in der 2. Strophe in wilde Panik“.

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leuchten am Himmel318 (v. 1469). Dass sich mit dem Donner dabei ein göttliches ἀξίωμα (v. 1451) kundtut, steht für die kolonischen Greise außer Frage; neben der geradezu leitmotivischen Anrufung des Zeus in seiner Funktion als Don‐ nergott am Ende der drei ersten Strophen (v. 1456, 1471, 1485) unterstreicht besonders die Apostrophierung des „Krachens“ (κτύπος) als διόβολος, „von Zeus gesandt“ in Vers 1464 die theologische Ausdeutung, der die Choreuten das Phänomen unterziehen. Verweisen sie dabei in der ersten Strophe (v. 1454 f.) noch in gefasster Stimmung auf die prominente Rolle der alles sehenden Zeit (χρόνος), unter deren Einfluss eines emporwächst, anderes wieder umgewendet wird (στρέφων),319 verbalisiert die Gegenstrophe die verunsicherte Frage nach Ausgang und Ziel des Blitzens am Himmel (v. 1468). Niemals nämlich, so der Chor, trete dieses „vergeblich“ (ἅλιον) und ohne Bezug zu einem gravierenden Ereignis auf (ἄνευ ξυμφορᾶς v. 1470). Zu Beginn der zweiten Strophe schließlich erreicht die Erregung der Cho‐ reuten ihren vorläufigen Höhepunkt: Das erneute Tosen des Donners veranlasst sie, sich nach einem aufgewühlten Ausruf (v. 1477 f.) direkt an Zeus zu wenden. Dieser möge für den Fall, dass er der Erde etwas „Finsteres“ (v. 1481) bringe, gnädig sein; die Gemination des bedeutungsvollen ἵλαος, das den Vokativ ὦ δαίμων umrahmt, sowie die Ellipse einer finiten Verbform verdeutlichen die emotionale Ausnahmesituation der Choreuten. In ihrem Bitten gehen sie da‐ raufhin auf Oidipusʼ Anwesenheit ein: Der Anblick des „fluchbeladenen Mannes“ (ἄλαστος ἀνήρ v. 1483) solle ihnen nicht zum Nachteil gereichen und ihnen Anteil an einer ἀκερδὴς χάρις320 geben (v. 1484). Ein nachdrücklicher

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Die Frage nach der Realisierung von Blitzen und anderen Lichterscheinungen innerhalb des antiken Theaters ist umstritten. Gegen S CHNEIDER s entschiedene Aussage, das κεραυνοσκοπεῖον, eine für die hellenistische Zeit belegte Bühnenmaschine zur Erzeu‐ gung von Lichteffekten, sei bereits zur Zeit des Aischylos vorhanden gewesen (S CHNEIDER (1922). „Keraunoskopeion.“ in: RE Band 11, Sp. 270 f.) vgl. A RNOTT (1962) S. 89: „Again no date can be assigned to the mechanism, and there is no evidence that it was used in classical times“. Wie wir uns die Realisation unserer Stelle vorzustellen haben, bleibt demnach offen. Festzuhalten ist jedenfalls: Die Partie verliert sicher nichts an Drastik und Wirkung, wenn man aus bühnenpraktischen Gründen auf die konkrete Visualisierung der Lichteffekte verzichtet und diese der Imagination des Publikums überlässt. Der Text ist an dieser Stelle korrupt und wohl kaum zu heilen. Die von L LOYD -J ONES / W ILSON (1990) übernommene Konjektur στρέφων stellt zwar einen erheblichen Eingriff in die Überlieferung dar, bietet aber einen lesbaren Text und ermöglicht ein sinnvolles Verständnis der Passage. Vgl. die treffende Charakterisierung der Junktur durch K AMERBEEK (1984) S. 203 ad locum: „a grim oxymoron“.

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zweiter Vokativ in Vers 1485 schließt die Strophe ab und verleiht der Invokation besonderes Gewicht. Während sich also die kolonischen Greise auf Grund ihrer Unwissenheit in Angst und Panik steigern, erfasst Oidipus die Situation sofort, identifiziert den Donner als das gottgesandte Zeichen, das ihn „zum Hades führen wird“ (v. 1460 f.), und ergreift sogleich angemessene Maßnahmen. Mit besonderem Nach‐ druck weist er seine Töchter an, Theseus baldmöglichst an den Ort des Gesche‐ hens bringen zu lassen. Ihm müsse er unbedingt noch lebend gegenübertreten, um ihm den „vollendenden Dank“ (τελεσφόρος χάρις v. 1489) für das abzu‐ statten, was er erfahren habe (ἀνθʼ ὧν ἔπασχον v. 1489). Als volltönendes Echo dieser Bitten und Verheißungen schließt sich die zweite Gegenstrophe des Chors an: Die kolonischen Greise wenden sich direkt an Theseus und fordern ihn auf, sich von seinem derzeitigen Aufenthalt – einem Poseidonaltar, an dem er Opfer vollzieht – hierher zu verfügen.321 Der Fremde, so ihre Begründung (γάρ v. 1496), halte es für richtig, Theseus und den Seinen sowie der Stadt seinen gerechten Dank (δικαίαν χάριν v. 1498) für die ihm er‐ wiesenen Wohltaten abzustatten.322 Erneut legt der Chor in dieser Passage gesteigerte Emotionalität an den Tag, auch wenn kein Donnerschlag unmittelbar voranging: Korrespondierend mit der zweiten Strophe eröffnen auch hier zwei Interjektionen die Passage (ἰὼ ἰώ v. 1491); die Gemination des Imperativs βᾶθι in Vers 1491 sowie die erneute Häufung der Imperative am Ende der Gegenstrophe (σπεῦσον ἄισσʼ v. 1499) verdeutlichen die persönliche Involvierung der Greise. Nach der panischen Re‐ aktion auf den letzten Donner in der zweiten Strophe hat sich der Fokus der Choreuten nun verschoben: Nicht das Phänomen von Blitz und Donner, sondern die von Oidipusʼ in Aussicht gestellte χάρις bildet den Grund ihrer Exaltiertheit. Der Herbeigerufene erscheint schließlich in Vers 1500 und wird in der Folge mit Oidipus in ein kurzes Wechselgespräch eintreten, bevor dieser wiederum in einem ausgreifenden Monolog letzte Anweisungen hinsichtlich seines bevor‐ stehenden Todes erteilen wird. Die epirrhematische Partie hat so mit dem Auf‐ tritt des Stadtherrn ein Ende gefunden. Dem damit angebrochenen zweiten Teil des Epeisodions wird der Chor wortlos folgen.

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Der Text ist auch an dieser Stelle (v. 1492) heillos verderbt; auch L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) bieten in ihrer Ausgabe keine praktikable Lösung der Korruptele. Auf die kühne syntaktische Verdichtung der Periode weist zu Recht K AMERBEEK (1984) S. 205 hin. Der gegenseitige Austausch der in Rede stehenden χάρις – ein Zentralbegriff des zweiten Strophenpaars (s. u.) – durch Oidipus und Athen wird so besonders ein‐ drucksvoll verbalisiert.

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Folgende Punkte sollen zum Amoibaion im Ganzen festgehalten werden. Die Gesprächssituation innerhalb der Partie ist von besonderem Interesse: Zu einem wirklichen Austausch zwischen dem Chor und den Akteuren, d. h. Oidipus und seinen Kindern, kommt es nicht. Oidipus wendet sich in seinen Fragen und Aufforderungen explizit an seine Töchter (ὦ τέκνα τέκνα v. 1457, ὦ παῖδες v. 1472, τέκνα v. 1486) und scheint keine Interaktion mit dem Chor zu intendieren. Auch die kolonischen Greise sind an einem Austausch mit ihm nicht interessiert: Die Bekundung der eigenen Sorge und Angst im ersten Strophenpaar ist ganz aus dem Affekt gesprochen und hat keinen wirklichen Adressaten; sie dient vielmehr einzig der Selbstversicherung des Chores. Oidipusʼ Anwesenheit ist den Greisen zwar voll bewusst, allerdings sprechen sie dezidiert über ihn und nicht mit ihm; die auf ihn bezogenen Aussagen offenbaren zudem die signifi‐ kante Distanz, mit der die Kolonier Oidipus nun erneut gegenübertreten323 (vgl. παρʼ ἀλαοῦ ξένου v. 1449, ἄλαστον ἄνδρʼ v. 1483). In den drei ersten Strophen scheinen die Choreuten außerdem von Oidipusʼ Erläuterungen bezüglich der Donnerschläge keine Notiz zu nehmen: Dass sich Blitz und Donner auf ihn be‐ ziehen und ihnen selbst damit keine wesentliche Gefahr droht, nehmen sie in ihrer emotionalen Verwirrung nicht wahr. Aber auch Oidipus selbst scheint sich von den ängstlich-panischen Reaktionen der Kolonier nicht aus dem Konzept bringen zu lassen: Sein wiederholtes Insistieren auf die zeitnahe Herbeischaf‐ fung des Theseus zeugt zwar von besonderer innerlicher Beteiligung, wirkt al‐ lerdings gegenüber der chorischen Exaltiertheit besonders zielgerichtet, ja ge‐ radezu rational. Erst in der zweiten Gegenstrophe wenden sich die kolonischen Greise schließlich dezidiert an einen Akteur – der allerdings noch nicht auf der Bühne präsent ist: Mit ihrem Anruf des Theseus kündigen sie den unmittelbar bevor‐ stehenden Auftritt des Stadtherrn an und öffnen zugleich die Gesprächssituation der epirrhematischen Partie. Auch hier bleibt Oidipus Objekt der Betrachtung: Auf ihn suchen die kolonischen Greise ihren herannahenden Herren hinzu‐ weisen (ὁ γὰρ ξένος v. 1496), während ihr eigentlicher Blick ganz auf Theseus ruht. Anders gesagt: Interaktion zwischen dem Protagonisten auf der Bühne und dem Chor kommt auch an dieser Stelle nicht zu Stande. Machen wir uns daher bewusst: In der epirrhematischen Partie laufen die Äu‐ ßerungen des Chors und die der Schauspieler, d. h. die Interaktion zwischen Oidipus und seinen Töchtern, bis zur finalen zweiten Gegenstrophe weitestge‐ hend nebeneinanderher, ohne wirklich beantwortet zu werden oder konkreten Einfluss aufeinander zu nehmen. Ihre je verschiedene Reaktion auf den Donner 323

Vgl. P AULSEN (1989) S. 141.

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entfalten der Chor und Oidipus so auf zwei verschiedenen Ebenen, die erst durch Theseusʼ Herbeiholung wieder ineinandergreifen. Dass die Partie dabei trotz ihrer Bipolarität nicht auseinanderfällt, sondern sich letztlich als ein Ganzes präsentiert, liegt in ihrer geschickten Komposition begründet. Sophokles versteht es, die einzelnen Abschnitte und Redeanteile zwar nicht streng dialogisch, d. h. in Form von Rede und Gegenrede, jedoch motivisch-begrifflich miteinander zu verbinden. Betrachten wir dazu den Ge‐ brauch dreier Zentralbegriffe innerhalb der Partie. Unschlüssig, wie sie das erste Donnergrollen einzuordnen haben, beteuern die Choreuten in der ersten Strophe, keine „Forderung göttlicher Mächte“ (ἀξίωμα δαιμόνων v. 1451 f.) ergehe vergeblich (ματᾶν). Es ist sicher kein Zufall, dass im Anschluss Antigone erneut den Begriff ἀξίωμα verwendet: So fragt sie in Vers 1459 ihren Vater nach der „Forderung“, auf Grund derer er rufe (τἀξίωμʼ ἐφʼ ᾧ καλεῖς). Auch die Bezugnahme auf Zeus als den Urheber des Donners stiftet ein ver‐ bindendes Moment zwischen den Strophen des Chors und den Sprechpartien. Erwähnung findet der Göttervater dabei sowohl in den chorischen Strophen (am prominentesten freilich in den direkten Anrufungen v. 1456, 1471 sowie 1480 ff., aber auch in διόβολος v. 1463), als auch in Oidipusʼ Erläuterungen Διὸς πτερωτὸς ἥδε βροντή v. 1460 f. (dass hinter θέσφατος v. 1472 ebenso Zeus zu vermuten ist, ergibt sich aus diesem Zusammenhang).324 Im zweimaligen Gebrauch des Begriffs ἀξίωμα und der Zeus-Motivik greifen so die chorischen Aussagen und die iambischen Partien der Verse 1457 – 1461 sowie 1472 – 1476 semantisch und motivisch ineinander. Die Verbindung ist dabei allerdings keinesfalls dialogisch oder von zwingender gedanklicher Fort‐ entwicklung geprägt; die durchaus bewusste Wiederaufnahme der gleichen Be‐ griffe verknüpft die einzelnen Passagen vielmehr assoziativ und subtil mitei‐ nander. Anders verhält es sich beim zweiten Strophenpaar, in dem der zentrale Begriff χάρις eine wesentliche Umdeutung erfährt. Fürchten sich die Choreuten in der zweiten Strophe noch vor der ἀκερδὴς χάρις (v. 1484), die die Nähe zu Oidipus nach sich ziehen könnte, so verspricht Oidipus selbst, seinen Wohltätern eine τελεσφόρος χάρις für das, was er erfahren hat (ἔπασχον), zu erweisen (v. 1489). Darauf rekurrieren die Choreuten, wenn sie ihrem Herrn Oidipusʼ Absicht vor Augen stellen, der Stadt als Gegenleistung (παθών) eine δικαία χάρις zu gewähren (v. 1498).

324

Auch Theseus wird nach seiner Ankunft am Ort des Geschehens Zeus als Urheber des Wetterphänomens vermuten (Διὸς κεραυνός sowie θεοῦ χειμάζοντος v. 1502 f.).

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Die thematisch-motivische Verknüpfung, die das zweite Strophenpaar in sich sowie mit den iambischen Versen 1486 – 1490 verbindet, ist somit besonders eng: Anders als im ersten Strophenpaar greifen wir hier neben der reinen Wieder‐ holung gleicher Begriffe eine gedankliche Fortentwicklung. In ihr wird die Deu‐ tung des unmittelbaren Geschehens, wie sie Oidipus selbst von vornherein in‐ tendierte, durch den Chor zumindest ansatzweise nachvollzogen: Die Präsenz des Flüchtlings, vor dem sich die kolonischen Greise bei den wiederholten Don‐ nerschlägen erneut gefürchtet haben, verliert ihren Schrecken und steht im Be‐ griff, heilbringende Wirkung zu entfalten. Im Spiel mit dem vieldeutigen Begriff χάρις verdichtet Sophokles hier das komplexe und emotional aufgeladene Ver‐ hältnis zwischen Oidipus und dem Chor. Damit ist zugleich die folgende Szene vorbereitet und der personelle sowie motivische Rahmen des sich anschlie‐ ßenden Gesprächs abgesteckt. Das Amoibaion präsentiert sich so trotz seiner Bipolarität als geschlossene Partie, in der beide Ebenen des Bühnengeschehens – Chor und Akteure – zu‐ nächst rein begrifflich, dann schließlich logisch miteinander verknüpft sind. Was können wir unter unseren genuin dramaturgisch-formalen Gesichts‐ punkten zum vorliegenden Amoibaion festhalten? Bereits erwähnt wurde die basale Funktion der Partie: Sie leitet von der Konfliktszene mit Polyneikes zur Instruktion des Stadtherrn Theseus durch Oidipus über und forciert so den fi‐ nalen Abschnitt der Tragödie, d. h. Oidipusʼ Entrückungstod. Sophokles reali‐ siert diese Gelenkstelle unter Aufbietung besonderen dramaturgischen Ge‐ schicks: Er kombiniert die emotionale Reaktion des Chors auf den Donner mit den in Sprechversen gehaltenen unmittelbaren Anweisungen des Protagonisten zu einem Amoibaion, das so chorische Reflexion und Handlung miteinander verknüpft: Während Oidipus, indem er auf das rasche Erscheinen des Stadtherrn insistiert, den Fortgang der Handlung forciert, inszenieren die chorischen Par‐ tien eine Dehnung des dramatischen Moments und retardieren das Geschehen. Sophokles versteht es, durch die Komposition der epirrhematischen Partie beide dramaturgischen Zielsetzungen – die den Fortgang der Handlung in den Blick nehmende Herangehensweise des Protagonisten und die retardierende Emoti‐ onalität des Chors – in einer Passage zu verschmelzen. An der besonderen Ge‐ sprächssituation konnte gezeigt werden, dass mit der chorischen Reaktion auf der einen und Oidipusʼ Handlungsanweisungen auf der anderen Seite geradezu zwei Ebenen nebeneinander herlaufen und erst zur finalen Gegenstrophe funk‐ tional ineinandergreifen. Gerade aus dieser formalen Bipolarität erwächst so die besondere Spannung der Partie, die ihrer dramaturgischen Bedeutung ent‐ spricht.

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III. Greisenchöre

Viertes Stasimon (v. 1556 – 1578)

In einem kurzen Wechselgespräch überzeugt Oidipus den am Ort des Gesche‐ hens eingetroffenen Theseus zunächst davon, dass ihm die Götter sein unmit‐ telbar bevorstehendes Lebensende durch die wiederholten Donnerschläge an‐ gekündigt haben (v. 1508 ff.). Der Stadtherr bittet daraufhin um weitere Instruktionen (v. 1517). In seinem Monolog (v. 1518 – 1555) schärft Oidipus seinem Gesprächspartner vor allem ein, den genauen Ort seines Todes geheim zu halten. Oidipus selbst werde diese Stelle aussuchen, von der nur Theseus Kenntnis erlangen solle. Dieser wiederum dürfe erst an seinem Lebensende das Wissen darum „einzig dem Herausragendsten“ (τῷ προφερτάτῳ v. 1531) wei‐ tergeben. Auf diese Weise werde Theseus eine von den Thebanern nicht ange‐ feindete Stadt (ἀδῇον v. 1533) bewohnen, d. h. den Schutz Athens vor den krie‐ gerischen Aggressionen Thebens sicherstellen. Eine eindringliche Mahnung schließt daraufhin den unmittelbar an Theseus gerichteten Teil des Monologs: Viele Städte seien bereits – selbst bei guter Verwaltung – in Hybris verfallen; die Götter allerdings sähen sehr wohl, wenn jemand τὰ θεῖα vernachlässige und sich dem rasenden Wahn hingebe. Darauf solle Theseus jedenfalls nicht sein Wollen richten. Oidipus wendet sich daraufhin an seine Kinder und fordert sie auf, ihm nun zu folgen. In Umkehrung der bisherigen Verhältnisse werde er ihnen als Führer vorangehen und den Ort finden, an dem er durch die attische Erde verborgen werden muss. Hermes und Persephone (ἡ νερτέρα θεός v. 1548) trieben ihn in die konkrete Richtung an, in die er seine Töchter in Vers 1547 aufzubrechen heißt (τῇδε). Die in den Abschiedsreden tragischer Helden geradezu konven‐ tionelle Apostrophierung des „letzten Lichtes“,325 das der Todgeweihte nun zu Gesicht bekommt, erfährt an unserer Stelle (v. 1549 ff.) daraufhin eine leichte Variation: Der blinde Oidipus sieht das Licht freilich nicht zum letzten Mal, er fühlt, wie sein Körper es zum letzten Mal „berührt“.326 Die letzten Worte des Protagonisten auf der Bühne gelten schließlich Theseus, dessen Land und Die‐ nern: Sie sollen glücklich werden und sich dabei seiner auch nach seinem Tod erinnern (v. 1552 – 1555). Im Anschluss macht sich Oidipus mitsamt seinen Töch‐ tern und Theseus auf, im Hain der Eumeniden den Ort seines Entrückungstodes zu finden. Die Bühne leert sich; zurück bleibt der Chor, der in Vers 1556 das vierte und letzte Standlied anstimmen wird.

325 326

Vgl. u. a. Antigone v. 808 f. und Aias v. 856 f. Seinen sinnfälligen Ausdruck findet dieser Umstand in der eindrucksvollen Junktur φῶς ἀφεγγές (v. 1549).

2. Oidipus auf Kolonos

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Die Unterweisungsszene konzentriert noch einmal den dramatischen Fokus ganz auf Oidipus: Er steht im Mittelpunkt des Geschehens, organisiert den un‐ mittelbaren Fortgang der Handlung und interpretiert die aktuelle Situation auch unter Einbeziehung ihrer Folgen für die fernere Zukunft. Der Protagonist hält so noch einmal die Fäden der Handlung und ihrer Deutung selbst in der Hand. Gerade das Schweigen der anderen Akteure und des Chors, die alle Oidipusʼ Ausführungen und Abschiedsworten still folgen, unterstreicht dabei die beson‐ dere Autorität, die ihm in dieser letzten Szene seiner Bühnenpräsenz zukommt: Unkommentiert und unwidersprochen beanspruchen seine Aussagen so ein he‐ rausgehobenes Maß an Gültigkeit. Dass mit ihm schließlich das gesamte Personal die Bühne verlässt, stellt im Rahmen unserer Tragödie einen besonderen Effekt dar: Die Dauerpräsenz des Protagonisten findet mit dieser Szene ein Ende. Mit seinem Auftreten, d. h. seiner Ankunft in Athen, hatte die Tragödie begonnen, er hatte den Ort des Geschehens bis zu diesem Punkt nicht verlassen und war so sichtbarer Dreh- und Angel‐ punkt des Bühnengeschehens. An unserer Stelle schließt sich der kompositori‐ sche Kreis: Indem Oidipus abtritt, verlagert sich das gesamte Geschehen in den hinterszenischen Bereich, wo mit dem Entrückungstod der Kulminationspunkt der Handlung erreicht werden wird. Augenfällig bringt diese generelle Ver‐ schiebung der gemeinsame Abgang der Beteiligten zum Ausdruck: Zurück bleibt allein der Chor, der im vergangenen Epeisodion ohnehin der Handlung größ‐ tenteils betrachtend gegenüberstand. Die Bühnensituation des vierten Stasimons ist demnach eine besondere: Zum ersten und einzigen Mal innerhalb unserer Tragödie singt der Chor bei leerer Bühne. Er hat so keinen direkten Ansprechpartner wie im ersten Stasimon (ξένε v. 668)327 oder die Möglichkeit, demonstrativ auf die präsente Gestalt des Prot‐ agonisten verweisen zu können (vgl. drittes Stasimon v. 1239). Indem sich die Handlung so für die Zeit des hinterszenischen Entrückungsgeschehens aus dem Blickfeld des Chors (und damit des Publikums) verlagert, ist allein der Chor Träger des Bühnengeschehens; sein Singen füllt auf diese Weise nicht nur ge‐ radezu als Begleiterscheinung der Handlung eine durch Bühnenkonventionen bedingte Pause im unmittelbaren Fortgang, sondern steht in Ermangelung des Protagonisten selbst im Fokus der Aufmerksamkeit. Wir kommen so zum vierten Stasimon selbst, das mit 24 Verszeilen das kürzeste Lied innerhalb unserer Tragödie darstellt. Das Strophenpaar beinhaltet, grob

327

Ich folge dabei der von allen modernen Herausgebern akzeptierten Konjektur von Reiske, der statt des überlieferten σε in Vers 1567 σφε liest.

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III. Greisenchöre

gesagt, die Anrufung verschiedener Unterweltsgottheiten, um deren Gnade für Oidipus die kolonischen Greise bitten. Mit einem vorsichtigen Konditionalsatz eröffnen die Choreuten ihre Invoka‐ tion: Wenn es erlaubt sei, die „verborgene Göttin“ (ἀφανὴς θεός), d. h. Perse‐ phone, sowie Hades selbst bittend zu verehren, dann sollen diese veranlassen, dass „der Fremde“ (Oidipus) ohne Mühsal und Leiden328 die „Ebene der Toten“ (νεκρῶν πλάκα) und das „Stygische Haus“ (Στύγιον δόμον) erreicht. Die Be‐ gründung dieser Bitte329 (γάρ) bietet die angeschlossene, ganz zurückhaltend im Potentialis formulierte Aussage:330 Obwohl viel Unheil über Oidipus gekommen sei, könne ein gerechter Daimon (δαίμων δίκαιος) ihn wieder „wachsen lassen“ (ἂν αὔξοι). Die Gegenstrophe beginnt mit der direkten Anrufung weiterer Unterwelts‐ gottheiten: Neben den Erinyen (χθόνιαι θεαί) steht dabei besonders Kerberos im Fokus: Angerufen wird ganz konkret der „Körper des unbezwingbaren Tieres“ (σῶμα ἀνικάτου θηρός). Der darauf bezogene Relativsatz (v. 1569 – 1573) malt unter Berufung auf den verbreiteten λόγος (v. 1573) ein farbenreiches und eindrucksvolles Bild des Unterwelttiers: Es liege in der Toröffnung des Hades und knurre als ein unüberwindlicher Wächter aus den Grotten des Totenreiches hervor. Unter Anrufung des Sohns der Erde und des Tartaros (v. 1574) äußern die Choreuten schließlich einen weiteren Wunsch: Kerberos solle „dem Fremden“ (ξένῳ), d. h. Oidipus, der sich zur Ebene der Toten bewege, den Eintritt in die Unterwelt ermöglichen.331 Mit einer nachdrücklichen Anrufungsformel schließt 328 329 330

331

Vers 1561 ist textkritisch höchst umstritten (D AWE (1996) setzt ihn in seiner Ausgabe in cruces); inhaltlich bietet er allerdings keine wesentlichen Verständnisschwierig‐ keiten. Vgl. K AMERBEEK (1984) S. 214: „introducing the ground for some hope of fulfilling their prayer“. Die Modalpartikel ἄν steht in unserem Fall besonders weit vom Prädikat αὔξοι getrennt. Es bleibt folglich zu überlegen, ob so trotz des formalen Potentialis beim betont an den Schluss der Strophe gestellten Prädikat αὔξοι nicht auch eine genuin optativische Nu‐ ance, d. h. der Ausdruck eines Wunsches, eines vorsichtigen Anliegens mitschwingt. Ohnehin changiert auch der Optativ mit ἄν vielfach zwischen potentialer und optati‐ vischer Bedeutung. Vgl. KG II § 396, 4, wo unter Angabe vielfältiger Belegstellen (gerade auch aus der sophokleischen Tragödie) festgehalten ist, der Optativ mit ἄν erscheine „in der II. und III. Person als mildere (mitunter auch schärfere) Form der Bitte und Aufforderung“. Das ἄν in unserem Fall zum genetivus absolutus zu ziehen und ihm so entweder potentiale oder irreale Färbung zu geben, ist meines Erachtens keine Option. Die genaue Bedeutung der Phrase ἐν καθαρῷ βῆναι (v. 1575) ist unklar und umstritten. Wahrscheinlich bittet der Chor schlicht darum, dass Kerberos dem herannahenden Oi‐ dipus aus dem Weg geht und ihm so den Gang durch das Tor ermöglicht. Vgl. zur Dis‐ kussion K AMERBEEK (1984) S. 215.

2. Oidipus auf Kolonos

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daraufhin das Standlied. Obwohl hier keine konkrete Namensnennung der in Rede stehenden Gottheit erfolgt und auch die genealogische Angabe aus Vers 1574 zunächst etwas rätselhaft bleibt,332 erlaubt die Bezeichnung des Angeru‐ fenen als αἰὲν ὕπνον die Identifikation: Es handelt sich um Thanatos selbst, der Oidipusʼ sichere Ankunft in der Unterwelt garantieren soll. Das Lied findet so in der Anrufung des Todes seinen thematisch-motivischen Kulminationspunkt. Das Lied entfaltet in Form eines Gebets ein Panorama der Unterwelt und ihrer Gottheiten, das es gerade in der Schilderung des Torwächters Kerberos beson‐ ders detailreich ausgestaltet. Seine Bitten trägt der Chor zwar mit ausgesuchter Scheu und Ehrfurcht den Göttern gegenüber vor, er ist in seiner Absicht dabei aber um nichts weniger bestimmt und klar: Unter besonderer persönlicher In‐ volvierung (vgl. den prominenten dativus ethicus μοι am Beginn des Liedes v. 1556) bitten die kolonischen Greise, dass Oidipus ein schmerz- und leidloses Hinüberkommen in die Unterwelt gewährt werde. Die ausführliche Schilderung einzelner Details des Totenreiches und seiner Bewohner imaginieren bewusst einen dunklen, bedrohlichen Raum (vgl. v. a. ἀφανής v. 1556, ἐννυχίων v. 1558, παγκευθής v. 1563). Vor dieser Folie hebt sich freilich der Wunsch der Choreuten nach einem schmerzfreien Eintritt des Helden in den Hades besonders wir‐ kungsvoll ab. Zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Verheißungen, die Oidipus noch im Gespräch mit Theseus verbalisiert hat (vgl. v. 1533 f.), kommt es im vorliegenden Standlied nicht. Zwar hatte der Chor seinen Herrn explizit auf die Absicht des Asylanten hingewiesen, der Stadt eine δικαία χάρις zu erweisen (v. 1496 ff.), das vorliegende Stasimon allerdings dominiert thematisch einzig das bevorstehende bzw. zeitgleiche Sterben des Haupthelden; weder die Auswir‐ kungen des Geschehens auf die Stadt Athen noch der angedeutete Familienzwist zwischen Oidipusʼ Söhnen finden Beachtung. Einzig in der Schlussbemerkung der Strophe (δαίμων δίκαιος αὔξοι v. 1567), Oidipus könne nach den erlittenen Übeln von Seiten einer gerechten Gottheit eine Art Wiedergutmachung wider‐ fahren, thematisiert der Chor ein aller Wahrscheinlichkeit nach über den reinen Sterbevorgang hinausgehendes Moment.333 Die Andeutung dieses für den be‐ troffenen Haupthelden selbst möglicherweise versöhnlichen Ausgangs bleibt indes vage und unbestimmt.

332 333

Vgl. K AMERBEEK (1984) ad locum. Ich schließe mich dabei K AMERBEEK (1984) S. 214 an, der in Absetzung zu L INFORTH (1951) (seine Interpretation der fraglichen Verse S. 187 – 191) festhält : „Some hint of the power he [Oidipus] will exercise as ‘herosʼ seems to be implied in the wording“.

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III. Greisenchöre

Was ist mit diesem recht engen thematischen Fokus in dramaturgischer Hinsicht gewonnen? Sophokles verzichtet an unserer Stelle bewusst auf eine Weitung der Perspektive, einen Ausblick in die fernere Zukunft. Statt die mit dem Abtritt des Protagonisten eingetretene Pause im unmittelbaren Handlungsverlauf mit einer thematisch weiter ausgreifenden Reflexion zu füllen und das Bühnenge‐ schehen so in einem größeren Rahmen zu verorten, führt er die Abschiedsthe‐ matik, die Oidipus in seinem Monolog evoziert hatte, auf einer anderen Ebene geradezu weiter und orchestriert mit dem vorliegenden Geleitlied den Auszug des Protagonisten. Den Bewegungsimpuls, den der Abgang des Personals von der Bühne initiierte, greift das Lied dabei motivisch auf und setzt ihn produktiv um: Die Imagination von Oidipusʼ Gang in die Unterwelt bildet so die Fortset‐ zung des realen Abgangs des Protagonisten und leuchtet ihn in Hinblick auf das unmittelbar bevorstehende Geschehen aus. Das Stasimon will so dezidiert keine Unterbrechung der Aktion sein, keine Einblendung einer kontrastiven Reflexion; es gewährt vielmehr einen imagina‐ tiven Blick in eine besondere Dimension des aktuellen, hinterszenischen Ge‐ schehens, das es so unter veränderten Vorzeichen fortzusetzen scheint. Dabei geht es nicht darum, die Vorgänge um Oidipusʼ Tod genau abzubilden oder im Einzelnen zu erahnen – das wird der Bericht des Boten am Beginn des folgenden Epeisodions leisten. Vielmehr entwirft der Chor mit seiner Vision der Unterwelt ein emotional ausgeleuchtetes Panorama, das zum einen seine besondere Ver‐ bundenheit mit Oidipus illustriert, zum anderen den eigentlichen Höhepunkt der Tragödie deutlich markiert und die folgende Konfrontation mit dem Er‐ gebnis der hinterszenischen Aktionen, d. h. konkret mit der Todesbotschaft vor‐ bereitet. Blicken wir kurz auf die Einbindung des vorliegenden Liedes in den Ablauf der chorischen Partien unserer Tragödie. Ganz offensichtlich ist der thematische Bezug zum vorangehenden Stasimon: Die betont allgemeine Reflexion über das Alter und seine Mühen, wie sie der Chor vor dem Auftritt des Polyneikes ent‐ wickelte und schließlich mit der Gestalt des Oidipus in Verbindung brachte (v. 1238 ff.), findet an unserer Stelle ihre konkrete und im Ablauf der Handlung fest eingebundene Fortsetzung bzw. Verdichtung. Besonders greifbar wird dies in der veränderten Funktionalisierung der in den chorischen Partien figurierenden Gottheiten. Die Erwähnung des Todes als „allen gemeinsamer Helfer“ (v. 1220) im dritten Stasimon korrespondiert mit der direkten Anrufung des Thanatos im vierten Standlied (v. 1578): War dort der Tod Zielpunkt einer Reihe allgemein‐ gültiger Gedanken, so tritt er hier als persönliche Macht auf, die im vorliegenden Einzelfall um günstiges Eingreifen gebeten wird. Ganz vergleichbar verhält es

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sich mit Hades, der im dritten Standlied erwähnt (v. 1221), an unserer Stelle (v. 1559) besonders betont angerufen wird. An die Stelle der Reflexion über das Lebensende ist mit dem vierten Stasimon so die konkrete Auseinandersetzung mit dem Sterben des Haupthelden getreten. Im Verhältnis der beiden chorischen Passagen zueinander wird so die dramati‐ sche Progression besonders greifbar: War mit dem dritten Standlied die The‐ matik „Alter, Leiden und Tod“ vom Chor relativ unvermittelt, d. h. ohne wirklich zwingenden dramatischen Impuls angeschlagen worden, so ist deren Beant‐ wortung im vorliegenden Lied ganz und gar von der konkreten Bühnenhand‐ lung motiviert und angestoßen. Nachdem also das dritte Standlied den Schluss‐ abschnitt der Tragödie geradezu aus sich heraus eingeleitet hat, gestaltet das vorliegende Lied den Höhepunkt des Dramas in bewusster Engführung des zuvor eröffneten motivischen Panoramas und beantwortet so das dritte Sta‐ simon. Das letzte Stasimon unserer Tragödie steht zugleich in enger, mehrfacher Be‐ ziehung zum ersten Standlied: Hatten die Choreuten den Asylsuchenden dort in Kolonos willkommen geheißen, so orchestrieren sie hier seinen Abschied. In beiden Liedern spielt dementsprechend die Motivik des Gehens und Ankom‐ mens eine besondere Rolle: Konstatierte der Beginn des ersten Stasimons die Ankunft des Helden in Kolonos mit dem komplexiven Aorist334 ἵκου (v. 668), so bildet hier die Vorstellung einer guten, schmerzlosen Ankunft im Totenreich (ἐξανύσαι v. 1562, βῆναι v. 1575) den Inhalt des Wunsches. Zum anderen beantwortet das vorliegende Lied in seiner Motivik und beson‐ ders der herausgearbeiteten Farbigkeit das auskomponierte Panorama von Ko‐ lonos, wie es der Chor im ersten Stasimon entwarf. Schon mit der Erwähnung der Nachtigall in Vers 672 f., besonders aber mit dem Hinweis auf Narzisse und Krokus sowie deren Bezug zu den „großen Göttinnen“ in Vers 682 f. hat sich in die überschwängliche Beschreibung des Handlungsortes eine dunkle Note ge‐ flochten. Bildeten diese sehr subtilen Andeutungen der Thematik „Klage und Tod“ dort einen Hinweis auf die Bestimmung, die der Demos Kolonos für Oi‐ dipus an dessen Lebensende erhalten sollte, so ist die Todesthematik im letzten Standlied der Tragödie schließlich vorherrschend. Die Imagination der düsteren Unterwelt, in die Oidipus nun hinabsteigen wird, setzt so im letzten Teil der Tragödie einen wirkungsvollen Akzent gegen die betont licht- und glanzvolle Ausgestaltung Athens am Beginn des Dramas. Geradezu spiegelbildlich entsprechen sich so das erste und das letzte Stasimon unserer Tragödie: dort die Ankunft an einem besonders strahlenden, positiv 334

Vgl. KG II, § 386, 4.

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III. Greisenchöre

besetzten Ort – hier das Geleit für den Übergang in einen düsteren, bedrohlichen Raum. Sorgte dabei im ersten Standlied die subtile Todesmotivik für eine leichte Eintrübung des Panoramas, so hebt sich im letzten Stasimon die kurze Erwäh‐ nung eines möglicherweise positiven Ausgangs für Oidipus (v. 1565 ff.) gegen die finstere Imagination ab. Beide Standlieder greifen so besonders wirkungsvoll ineinander; das vierte Stasimon ist nicht nur Antwort auf den Willkommens‐ gruß, sondern geradezu Fortsetzung, Weitung und Komplettierung des dort er‐ öffneten Panoramas. Besonders deutlich wird dies auch hier an der unterschied‐ lichen Funktionalisierung des göttlichen Personals: Die Anrufung der ἀφανὴς θεός (v. 1559) schlägt eine Brücke zur geradezu beiläufigen Bemerkung der „großen Göttinnen“ (v. 683) im ersten Stasimon. War dort die Erwähnung der Unterweltsgottheiten ein subtiles, aber nicht minder bedeutendes Detail im Pan‐ orama, so konstituiert die direkte Hinwendung an Persephone, Hades und Tha‐ natos die Gesprächssituation des vierten Standliedes als die eines ὕμνος κλητικός.335 Zusammengefasst kann festgehalten werden: Sophokles bündelt mit dem vor‐ liegenden letzten Stasimon die gesamte Aufmerksamkeit noch einmal auf den Protagonisten und sein unmittelbar bevorstehendes Schicksal. Er führt das Pub‐ likum so direkt am Lauf des Geschehens entlang, selbst wenn mit Oidipus der eigentliche Handlungsträger die Bühne verlassen hat. Anders gesagt: Das Lied ersetzt mit seiner Fokussierung auf Oidipus geradezu die physische Präsenz des Protagonisten, überhöht seinen realen Abgang von der Bühne durch die bild‐ gewaltige Ausdeutung des Totenreichs und deutet ihn so in bewusster Raffung der realen Zeit bereits als Übergang in die Unterwelt. Das Lied dient demnach der besonders eindrücklichen Ausleuchtung der vorliegenden Liminalszene. Das Stasimon inszeniert darüber hinaus in bewusster motivisch-thematischer Bezugnahme auf die vorhergehenden chorischen Partien (v. a. auf das erste und dritte Stasimon) den von Beginn an intendierten Zielpunkt336 der gesamten Bühnenhandlung. Gerade durch den spiegelbildlichen Rückbezug auf das erste Standlied erzeugt es dabei eine besondere Kontinuität: Hier in Kolonos geht Oidipus nun unter besonderer Anteilnahme des Chors seinem Lebensende ent‐ gegen, hier und jetzt verwirklichen sich die im ersten Standlied subtil gegebenen Hinweise hinsichtlich der Bedeutung des Handlungsortes für den Protagonisten.

335 336

Vgl. K AMERBEEK (1984) S. 215 mit besonderem Blick auf das Ende des Stasimons. Ich kann so L INFORTH (1951) S. 168 nicht folgen, wenn er festhält: „There has been no‐ thing whatever to suggest to the audience that Oedipusʼ end is at hand. That he will some day die and be buried in Colonus, they know; but nothing has been said to make them expect it within the compass of the play“.

2. Oidipus auf Kolonos

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Kommos (v. 1670 – 1750)

Der in Vers 1579 auftretende Bote informiert zunächst den Chor über den Tod des Oidipus und gibt auf die Nachfrage der kolonischen Greise in einem um‐ fangreichen Monolog (v. 1586 – 1666) den genauen Hergang der Geschehnisse wieder. Die konkreten Details sind dabei für uns vernachlässigenswert, einzig folgende Punkte sollen festgehalten werden: Oidipus führte, wie er es ange‐ kündigt hatte, seine Töchter, Theseus und dessen Gefolge an die entsprechende Stelle, verabschiedete sich dort noch einmal von seinen Angehörigen und wurde schließlich von einer göttliche Stimme direkt angeredet: Was zaudere man noch, sich auf den Weg zu machen (τί μέλλομεν χωρεῖν v. 1627 f.), die Angelegenheit sei genug herausgezögert worden. Der Bote war daraufhin beim eigentlichen Entrückunsgstod des Haupthelden nicht mehr anwesend, da Oidipus einzig Theseus gestattet hatte, Augenzeuge des Geschehens zu werden. Nur der Stadtherr selbst, so der Bote, könne daher Auskunft darüber geben, auf welche Weise sich Oidipusʼ Lebensende vollzogen habe (v. 1656 f.). Er sei allerdings nicht unter Seufzen oder beklagenswert unter Unheil (οὐ στενακτὸς οὐδὲ σὺν νόσοις ἀλγεινὸς v. 1663), sondern wie ein „be‐ wundernswerter Sterblicher“ (τις βροτῶν θαυμαστός) fortgeschickt worden (ἐξεπέμπετʼ). Der Chor stellt im Anschluss an den Bericht keine inhaltliche Nachfrage, sondern erkundigt sich einzig nach dem momentanen Aufenthaltsort von Oi‐ dipusʼ Töchtern und den übrigen Gefährten. Der Bote verweist daraufhin kon‐ kret auf Antigone und Ismene: Unter deutlich vernehmbarem Klagen nähern sie sich bereits der Szenerie (v. 1668 f.). Mit ihrem Auftritt in Vers 1670 treten sie in einen lyrischen Wechselgesang mit dem Chor. Folgendes soll zunächst festgehalten werden. Der ausführliche Botenbericht konstatiert den Vollzug des lange vorbereiteten Entrückungstodes. Auch die emotionale Rückfrage des Chors „So ist der Unglückselige denn gestorben?“ (v. 1583) täuscht nicht darüber hinweg, dass Oidipusʼ Lebensende von allen Betei‐ ligten bereits antizipiert worden ist und das Faktum an sich so keine Überra‐ schung bereithält. Der Informationswert des Botenberichts beschränkt sich dementsprechend auf die Wiedergabe der konkreten Einzelheiten, die sich im außerszenischen Bereich abgespielt haben. Auf das vierte Stasimon mit seiner zeitgleich zum Sprechakt bzw. in der un‐ mittelbaren Zukunft verorteten Vision folgt so eine Passage, die – ganz stan‐

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III. Greisenchöre

dardisiert – auf etwas Geschehenes zurückblickt.337 Nach der imaginativen Aus‐ leuchtung einer besonderen Dimension der Handlung erfolgt so im Botenbericht die Konfrontation mit den Fakten und Einzelheiten. Die Szenerie wird dabei von einer besonderen emotionalen Zurückhaltung geprägt: Freilich zeugt die zitierte Frage des Chors in Vers 1583 von seiner Involviertheit; zu einer weiteren Kom‐ mentierung des Geschehens von Seiten der kolonischen Greise kommt es aller‐ dings nicht. Auch der Bote selbst enthält sich jeder expressiven Ausdeutung; einzig in der Erzählung vom Klagen der Begleiter des Haupthelden (v.a. v. 1607 f., 1621) ist der Emotionalität innerhalb der Passage ein gewisser Raum eingeräumt. Im Mittelpunkt der Erzählung steht allerdings auch hier Oidipus selbst, der in einem letzten Akt von Selbstbestimmung und Souveränität seine Angelegen‐ heiten ordnet und so noch einmal die Fäden des Geschehens in der Hand hält. Das vom Boten angekündigte Herannahen der Töchter lässt daraufhin die folgende Szene erahnen: Nach der relativ sachlichen Botenszene bricht sich im Folgenden die Emotionalität Bahn; den Töchtern des Verewigten fällt es dabei zu, Oidipusʼ Tod noch einmal zu verkünden, ihn zu beklagen und die eigene Situation auszuleuchten. Der Kommos zerfällt in zwei Strophenpaare, die sich formal deutlich vonei‐ nander absetzen. Die Sprecherverteilung sowie die Länge der einzelnen Wort‐ beiträge fallen dabei besonders ins Auge: Das erste Strophenpaar prägen längere Beiträge von Antigone (v. 1670 – 1676, 1678b-1688; entsprechend 1697 – 1703, 1705b-1714) und Ismene (v. 1689 ff.;338 1715 ff.339), die durch kurze, teils fragende, teils resümierende Einwürfe des Chors (v. 1677 f.; 1704 f.) unterbrochen werden. Den Abschluss von Strophe und Gegenstrophe bildet jeweils eine direkte Wen‐ dung des Chors an beide Töchter (v. 1693 ff.; 1720 ff.). Anders verhält es sich im zweiten Strophenpaar: Hier fallen sich die Akteure fast durchgängig im selben Vers ins Wort, stellen und beantworten erregte Zwischenfragen und vollenden beinahe keinen Gedanken, ohne vom Gesprächspartner unterbrochen zu 337 338

339

Dass sich dabei Stasimon und Botenbericht zueinander wie Gebet und Erfüllung ver‐ halten, sagt richtig R EINHARDT (31960) S. 230; warum dabei die Erfüllung allerdings „un‐ erwartet“ sein soll, erschließt sich mir nicht. Die Zuweisung dieser Partie an Ismene geht auf den französischen Humanisten Tur‐ nebus und seine Sophoklesausgabe von 1552 / 53 zurück; die so hergestellte Symmetrie berechtigt, auch gegen die codd., die an unserer Stelle Antigone sprechen lassen, hier Ismene als Sprecherin anzunehmen. (Zu Turnebus vgl. S IER (2012). „Turnebus, Ad‐ rianus.“ in: DNP Supplemente Band 6, Geschichte der Altertumswissenschaften Bio‐ graphisches Lexikon, Sp. 1235 f.). Hier sind einige Verse in der Überlieferung ausgefallen. Überhaupt leidet der Text des Amoibaions an einigen Verlusten und Verderbtheiten, die auch in der Ausgabe von L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) nicht zur vollsten Zufriedenheit gelöst worden sind.

2. Oidipus auf Kolonos

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werden. Innerhalb der Strophe (1724 – 1736) meldet sich dabei der Chor nicht zu Wort, wohingegen er in der Gegenstrophe als Gesprächspartner Antigones fun‐ giert und dabei die Versteile übernimmt, die in der Strophe Ismene zugefallen sind. Im Ganzen beläuft sich die Beteiligung des Chors damit auf ein recht ge‐ ringes Maß. Anders gesagt: Schon an der Versaufteilung zwischen den Akteuren lässt sich ablesen, dass das Schwesternpaar im Mittelpunkt der Partie steht und im besten Sinne Träger der Szenerie ist. Antigone bekundet gleich mit ihrem Auftritt, dass sie und ihre Schwester nun besonderen Grund zur Klage haben: Nicht nur, dass sie durch ihren Vater in der Vergangenheit unablässig Mühen zu ertragen hatten; nun sehen sie sich zu guter Letzt (ἐν πυμάτῳ v. 1675) mit „unzählbaren“ Übeln konfrontiert. Auch wenn sich der genaue Hergang von Oidipusʼ Lebensende nur vermutend erschließen (εἰκάσαι) lasse, bekundet Antigone dennoch, dass er auf eine wünschenswerte Weise gestorben sei. Ihrer Schwester und ihr sei nun allerdings „die verderbliche Nacht“ vor Augen getreten: Wie sie sich in Zukunft ihren Lebensunterhalt be‐ schaffen sollen, kann sie nicht sagen. Ismene geht daraufhin so weit, sich selbst den Tod zu wünschen, da ihr der Rest des eigenen Lebens nicht mehr lebenswert zu sein scheint (οὐ βιωτός v. 1693). Mit einer Mahnung zur Mäßigung von Seiten des Chors schließt die Strophe: Die beiden Mädchen sollten nicht im Übermaß „brennen“ (φλέγεσθον v. 1695), da man die göttliche Fügung (τὸ θεοῦ φέρειν340) ertragen müsse. Antigone scheint sich davon nicht beeinflussen zu lassen: In der Gegen‐ strophe preist sie die Zeit, in der sie den Vater noch „in Händen hielt“ und ver‐ sichert ihn in direkter Ansprache der eigenen und Ismenes ewiger Liebe auch über den Tod hinaus (v. 1700 ff.). Immerhin habe er mit seinem Tod in diesem ihm fremden Land das zu Wege gebracht, was er wollte (ἔπραξεν οἷον ἤθελεν v. 1704). Nun habe er immerzu ein „gut beschattetes Lager in der Unterwelt“ (κοίταν νέρθεν εὐσκίαστον), sie selbst hingegen wisse nicht, wie sie das über‐ große Leid aus den Augen schaffen könne. Ismene lenkt den Blick daraufhin direkt auf das Schicksal, dem sich die beiden Schwestern nun zu stellen haben.341 Der Chor mahnt nach diesem düsteren Blick in die eigene Zukunft erneut zur Zurückhaltung: Da doch Oidipus sein Leben segensreich (ὀλβίως v. 1720) be‐ endet habe, sollten die beiden Töchter von ihrem Kummer ablassen; ohnehin gebe es niemanden, der von Übeln unberührt sei.

340 341

L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) folgen in ihrem hier zitierten Text gegen die einhellige Überlieferung wohl metri causa den Rekonstruktionen von Bergk und Wilamowitz. Der Textverlust der Verse 1715 ff. beeinträchtigt das Verständnis der Passage nicht we‐ sentlich.

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III. Greisenchöre

Das erste Strophenpaar hat damit ein Ende gefunden. Im Zentrum der Sze‐ nerie stehen, wie schon angemerkt, Antigone und Ismene, deren Reaktion auf den Tod des Vaters den Hauptgegenstand der emotionalen Partie bildet. Aller‐ dings erschöpft sich die Passage bereits bis zu diesem Punkt nicht in einer reinen Totenklage. Freilich bekundet gerade Antigone überdeutlich ihre Trauer um den verblichenen Vater (v.a. v. 1697 ff. sowie 1709 ff.); als weitere Ursache zur Klage steht den Töchtern allerdings um nichts weniger ihre eigene Situation vor Augen: Die Sorge um den Lebensunterhalt ist so virulent, dass sich Ismene den eigenen Tod wünscht. Ja, Antigone kann dem Tod ihres Vaters sogar positive Aspekte abgewinnen: Die Todesumstände zeichnet sie in den Versen 1678 ff. als geradezu wünschenswert, beteuert, Oidipus habe nach seinem eigenen Willen gehandelt (v. 1704 f. sowie 1713 f.), und bezeichnet den jenseitigen Aufent‐ haltsort ihres Vaters als κοίτα εὐσκίαστος (v. 1706 f.). Ihre eigene Situation be‐ werten die Schwestern dagegen durchgängig negativ (v. 1683 ff., 1715 ff.). Der Chor steht den beiden Akteuren dabei mit gewisser Zurückhaltung ent‐ gegen: An den Klagen beteiligt er sich nicht; neben den halb fragenden, halb konstatierenden342 Einwürfen der Verse 1677 f. sowie 1704 f. bedient er sich in seinen Mahnungen an den Strophenenden auffallend allgemeingültiger Phrasen. Einzig die Versicherungen, Antigone und Ismene seien bisher „unta‐ delnswert gelaufen“ (οὔτοι κατάμεμπτʼ ἔβητον v. 1695 f.), Oidipus dagegen habe sein Leben segensreich beendet (v. 1720 f.), nehmen Bezug auf die aktuelle Si‐ tuation; zu einer weitergehenden Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten durch die kolonischen Greise kommt es an unserer Stelle allerdings nicht. Mit dem zweiten Strophenpaar belebt sich die Szenerie erheblich. Antigone ruft in Vers 1724 ihre Schwester auf, sich nun in Bewegung zu setzen. Im Wechsel‐ gespräch mit ihr offenbart sie ihre Absicht: Sie wolle nun die Stelle sehen, an der ihr Vater gestorben sei. Ismene weist den Vorstoß der Schwester entschieden ab: Zum einen sei es nicht rechtens, die Stelle zu besichtigen (v. 1729), zum anderen existiere auch gar keine wirkliche Grabstelle, da Oidipus „ohne Grab und fern von jedem“ (ἄταφος δίχα τε παντός v. 1732) gefallen sei. Antigone reagiert darauf besonders drastisch: Sie fordert ihre Schwester auf, sie an den besagten Ort zu führen und sie dort zu töten ((ἐπ)ενάριξον343 v. 1733). Die so Angesprochene antwortet mit einem klagenden Aufschrei: Wo werde sie nun, solchermaßen allein, ihr dürftiges Leben fristen?

342 343

So K AMERBEEK (1984) S. 226 ganz mit Recht zu v. 1678 (βέβηκεν) „half question, half statement“. Das Kompositum ist erneut eine von L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) gegen die einhellige Überlieferung in den Text aufgenommene Konjektur.

2. Oidipus auf Kolonos

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Zu Beginn der Gegenstrophe mischt sich der Chor in das Gespräch der beiden Schwestern: Nichts, so die beherzte Aufforderung, sollten die beiden fürchten (τρέσητε μηδέν v. 1737). Antigone sieht allerdings ratlos in die Zukunft: Sie wisse nicht, wohin sie fliehen solle. Der Chor sucht zunächst zu beschwichtigen: Is‐ mene und sie seien bereits einmal entkommen (angespielt ist dabei freilich auf die Errettung der beiden Schwestern aus Kreons Entführungsversuch). Einen konkreten Lösungsansatz bieten die Greise in der momentanen Situation jedoch nicht; sie mahnen nur, die Rückkehr nach Theben erst gar nicht in Angriff zu nehmen (v. 1743). Antigone fasst ihre Situation daraufhin noch einmal zu‐ sammen: Schon in der Vergangenheit sei ihre Lage ausweglos gewesen, nun sei sie allerdings noch schlimmer.344 Dem Chor bleibt nichts, als zu konstatieren, dass beide Töchter ein „großes Meer an Übeln“ (μέγʼ ἄρα πέλαγος) erlost hätten. Die lyrische Partie schließt daraufhin mit einer doppelten Frage Antigones, wobei die erste direkt an den Göttervater Zeus gerichtet ist: Wohin solle sie mit ihrer Schwester nun gehen? Die ganze Ausweglosigkeit ihrer Situation wird daraufhin deutlich, wenn sie als Begründung anfügt: „Denn zu welcher Hoff‐ nung treibt mich die Gottheit nun?“ (v. 1749 f.). Mit dem Auftritt des Theseus in Vers 1751 beginnt der letzte Abschnitt unserer Tragödie, den wir uns an dieser Stelle ebenfalls kurz vergegenwärtigen, weil er die lyrische Partie direkt fortsetzt und zu einem Abschluss führt. In der über‐ schaubaren anapästischen Partie (1751 – 1779) ist der Stadtherr die zentrale Figur: Zunächst fordert er dazu auf, mit den Klagen nun aufzuhören (v. 1751),345 weist mit Blick auf Oidipusʼ eigenes Verbot Antigones Ansinnen, den Todesort ihres Vaters zu sehen, zurück (v. 1758 sowie 1760 ff.) und schickt die beiden jungen Frauen auf eigenen Wunsch nach Theben (v. 1773). Alles, so seine Zu‐ sicherung, werde er tun, um damit den Töchtern nützlich zu sein und dem Toten, der gerade eben gestorben ist, einen Dienst zu erweisen. Eine kurze Bemerkung des Chors schließt die Tragödie: Nun solle man keine weiteren Klagen mehr aufwecken; diese Dinge (τάδε) – entweder konkret Theseusʼ Zusagen, oder der allgemeine Verlauf der Handlung rund um Oidipus346 – hätten ganz und gar Gültigkeit (κῦρος v. 1779). Im Vergleich mit dem ersten Teil der Passage hat sich die Szenerie nicht nur wesentlich belebt, auch der thematische Fokus hat sich endgültig verschoben: 344 345 346

Ich verstehe τοτέ … τοτέ (v. 1745) als konkrete Gegenüberstellung der Zeit vor und nach Oidipusʼ Tod. Damit ist Antigones Klage aus den Versen 1671 sowie 1674 f. wieder auf‐ genommen und erneut prägnant verbalisiert. Ich folge mit allen modernen Herausgebern der Zuweisung von Heath, der gegen die codd. die Verse 1751 – 1753 bereits von Theseus, nicht vom Chor sprechen lässt. Zur Doppeldeutigkeit vgl. J EBB (1928) S. 273 sowie K AMERBEEK (1984) S. 236.

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III. Greisenchöre

Ist im ersten Strophenpaar des Amoibaions die Klage um den Vater noch aus‐ schlaggebendes Moment und geradezu Anstoß der Reflexion gewesen, so stehen hier die dringendsten Folgeprobleme im Fokus: der Wunsch Antigones, den ge‐ nauen Ort der Entrückung ihres Vaters zu sehen, sowie die Frage nach einer möglichen Rückkehr nach Theben. Der Wechselgesang selbst bietet dabei keine Lösung: Erneut muss der Auftritt des Stadtherren Theseus die nötige Klärung bringen. Dass dieser dabei die ihm von Oidipus auferlegten Maßgaben treu be‐ folgt, lässt ihn einmal mehr als den zuverlässigen und pflichtbewussten Macht‐ haber erscheinen, der bereits in den Konflikten um die Aufnahme des Asylanten Oidipus sowie in der Auseinandersetzung mit Kreon entschieden gehandelt hatte. Dieser letzte Auftritt des Theseus wird so noch einmal zu einer genuin dramatischen, d. h. handlungstragenden, Manifestation der Athen-Thematik, wie sie die Tragödie bereits maßgeblich geprägt hat: Theseusʼ Einschreiten er‐ möglicht einmal mehr die Realisierung der von Oidipus intendierten und vo‐ rausgesagten Umstände. In der Interaktion zwischen Oidipus und Theseus spie‐ gelt sich so, auch nach dem finalen Abtritt des Protagonisten, das Verhältnis zwischen der Stadt und der mythischen Figur, die sie als einen Lokalheros ver‐ ehrt. Die lyrische Partie der Verse 1670 – 1750 ist so nicht von den folgenden ana‐ pästischen Schlussversen (1751 – 1779) zu trennen: Als Problemstellung und Auflösung stehen sie in einem engen Verhältnis zueinander und bilden erst in der Gesamtheit eine dramaturgische Einheit, die die Tragödie nach dem Ab‐ treten des Protagonisten zu einem Ende führt. Dass Antigone und Ismene schließlich auf eigenen Wunsch Athen verlassen und den bekanntermaßen unheilvollen Geschehnissen in Theben entgegen‐ gehen, setzt aus der Perspektive des mit dem Fortgang des Mythos vertrauten Zuschauers freilich einen bewussten Kontrapunkt zur Stimmung, die Theseusʼ Einschreiten am Ende der vorliegenden Tragödie evoziert: Gerade die vom Chor in seinem Schlusswort wieder aufgegriffene Aufforderung des Stadtherrn, nun endgültig mit den Klagen aufzuhören (παύετε θρῆνον v. 1751, ἀποπαύετε μηδʼ ἐπὶ πλείω θρῆνον ἐγείρετε v. 1777 f.), forciert ein versöhnliches Ende. Theseus – und mit ihm der Chor – sieht keinen Grund für weitere Klagen, die Angelegen‐ heit scheint aus ihrer Perspektive gelöst. Sophokles komponiert mit dem vorliegenden Kommos am Schluss der Tragödie eine umfangreiche, metrisch und formal vielfältige Partie, die mehr leistet als die reine emotionale Konfrontation mit dem Ergebnis der hinterszenischen Handlung. Vielmehr entwickelt die Partie in der formalen Zweigliedrigkeit des lyrischen Austauschs ausgehend vom aktuell erreichten Stand der Handlung die finale Verschiebung des Fokus. Der Kommos tritt thematisch nicht auf der Stelle,

2. Oidipus auf Kolonos

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verarbeitet nicht – wie der Botenbericht im vorausgegangenen Epeisodion – ausschließlich Vergangenes, sondern blickt zugleich in die Zukunft und eröffnet mit der konkreten Sorge der beiden Töchter eine neue Perspektive. Die lyrische Passage erzwingt dabei in ihrer problemorientierten Emotionalität geradezu den erneuten Auftritt des Theseus, der schließlich die Rundung des Abschnitts und der gesamten Tragödie leisten wird. Eine wirklich chorische Partie ist der in Rede stehende letzte Abschnitt der Tragödie mitsamt dem Kommos nicht, was schon ein Blick auf die geringen Redeanteile des Chors erhellt. Seine Beiträge beinhalten zudem, wie bereits he‐ rausgestellt wurde, keine wesentliche inhaltliche Diskussion, sondern sind – grob gesagt – nicht mehr als Kommentare und Einwürfe, vor denen sich die Emotionalität der beiden Schwestern umso deutlicher abheben kann. Anders gesagt: Während es nach dem Abtritt des Protagonisten dem Chor zugefallen war, im vierten Stasimon die hinterszenische Handlung andeutend auszumalen, stehen nun die von den Auswirkungen des Geschehens Betroffenen im Brenn‐ punkt der Aufmerksamkeit. Der Chor dient dabei als personeller, die Gattung des Wechselgesangs als formeller Rahmen, um die finale Wendung innerhalb der Tragödie in Szene zu setzen und damit die Rundung des gesamten Stücks vorzubereiten. Dem Kommos kommt im Ablauf der lyrischen Partien eine besondere Auf‐ gabe zu. Rufen wir uns dazu in Erinnerung: Das dritte Stasimon (v. 1211 – 1248) stellte die Alters- und Todesthematik zunächst allgemein in den Raum, das Amoibaion der Verse 1447 – 1499 inszenierte die unterschiedliche Reaktion von Protagonist und Chor auf den Donner als dem Zeichen, das Oidipusʼ unmittelbar bevorstehendes Lebensende ankündigte, das vierte Standlied (v. 1556 – 1578) suchte schließlich den aktuellen Übergang des Haupthelden in die Unterwelt zu imaginieren. Schon das dritte Standlied bezog die vorgebrachten, allgemeingül‐ tigen Aussagen in seinem letzten Teil auf Oidipus (v. 1239 ff.) und etablierte so die Blickwendung auf den Protagonisten, der das Bühnengeschehen bis zu seinem Abtritt maßgeblich prägen sollte. Der vorliegende Wechselgesang dient dahingegen, wie gesehen, zur wirkungsvollen Fokussierung auf Oidipusʼ Töchter und die Folgeprobleme, die sich aus Oidipusʼ Entrückungstod ergeben; er korrespondiert so in besonderer thematischer Weise mit dem dritten Stand‐ lied, das den abschließenden Großabschnitt der Tragödie eingeleitet hatte. Als letzte lyrische Partie der Tragödie steht der Kommos zudem in einem speziellen Verhältnis zur Parodos (v. 117 – 253), die als erste lyrische Passage ebenfalls in Form eines Wechselgesangs komponiert war. In ihr hatte sich, aus‐ gehend von der Ankunft des Oidipus in Kolonos (die in der hochdramatisierten Passage geradezu wiederholt wurde), das Konfliktpotential zwischen Oidipus

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III. Greisenchöre

und dem Chor ein erstes Mal entladen. Die Parodos reinszenierte dabei als erste effektvolle Konfrontationsszene das ausschlaggebende Moment der Handlung und deutete mit den Fragen des Chors nach der Identität des Asylanten (v. 204 ff.) bereits die Vergangenheit und ihre Problematisierung an. Mit dem Kommos an unserer Stelle schließt sich der Kreis: In der Rückschau wird dabei zunächst das eigentliche Schlussgeschehen der Oidipus-Handlung beleuchtet, bevor sich der Fokus ganz auf die anschließenden Folgeprobleme verschiebt. Zusammenfassung

1. Was lässt sich zur Rollenidentität des Chors (Spektrum I) festhalten? Die ko‐ lonischen Greise stehen auf Grund ihrer Herkunft in enger Verbindung zum Ort des dramatischen Geschehens – und damit zugleich zu einem der zentralen in‐ haltlichen Momente der Handlung. Auch wenn sie im Gegensatz zu den anderen beiden Greisenchören (Oidipus Tyrannos und Antigone) kein ausgewiesenes Be‐ ratergremium des Stadtherrn darstellen und ihnen so keine direkte politische Rolle im Machtgefüge der Polis zukommt, repräsentieren sie den unmittelbaren lokalen, politischen und religiösen Bezugsrahmen, in dem sich das Geschehen abspielt. Ihre Sorge um das lokale Heiligtum, ihr Stolz auf die Polis Athen sowie das Wissen um den Einfluss göttlicher Mächte auf das Handeln der Menschen sind dabei markante Bezugspunkte der chorischen Ausdeutung und Weltsicht. Wie ist der Chor innerhalb des Personenspektrums der Tragödie verortet? Zu zwei Akteuren haben die Greise eine besondere Beziehung: Theseus, dem Stadt‐ herrn, stehen sie mit unbedingter Loyalität gegenüber; er ist für die Greise so‐ wohl Anlaufpunkt in Gefahr als auch Inhaber der maßgeblichen Autorität. Zu einem umfangreicheren Austausch zwischen Theseus und dem Chor, einer of‐ fiziellen Beratungs- oder Verkündungsszene, wie es sie in den beiden anderen Tragödien mit einem Greisenchor gibt, kommt es auf Grund der Stellung des Chors jenseits der etablierten politischen Machtstruktur nicht. Als geradezu Subordinierte nehmen die Greise dennoch Anweisungen von Theseus entgegen und versuchen seinen Vorgaben gemäß, die Sicherheit des Asylanten Oidipus zu gewährleisten. Das Verhältnis des Chors zu Oidipus als dem maßgeblichen Zentrum des Büh‐ nengeschehens unterliegt im Lauf der Tragödie einer spezifischen Wandlung: Bereits Oidipusʼ Eindringen in den heiligen Bezirk ruft eine Gegenreaktion der Greise hervor und offenbart gewisses Konfliktpotential. Ihre Steigerung findet die das Verhältnis Chor-Protagonist zunächst prägende Distanz schließlich im ersten Wechselgesang (v. 510 ff.), in dem der Chor trotz seines Wissensdrangs eine besonders emotionale Abwehrhaltung gegenüber der aus seiner Sicht

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schauderhaften Vergangenheit des Haupthelden einnimmt. Mit der von Theseus verordneten Entsühnung allerdings ist das zunächst konfliktreiche Verhältnis entspannt: Die offizielle Begrüßung des Asylanten im ersten Stasimon markiert dabei geradezu einen Neubeginn im Verhältnis zum Haupthelden. Im Auftrag des Stadtherrn setzen sich die Greise daraufhin in der Auseinandersetzung mit Kreon – im Rahmen ihrer Möglichkeiten – aktiv für Oidipus ein. Mit seiner Altersthematik betont das dritte Stasimon daraufhin verbindende Momente zwischen dem Chor und Oidipus, die auf dieser gemeinsamen Grundlage gera‐ dezu eine Leidensgemeinschaft bilden (vgl. im Besonderen die Epode v. 1239 ff.). Mit dem Beginn der epirrhematischen Partie v. 1447 ff. scheint diese Verbun‐ denheit allerdings gestört zu sein: Die Greise bekunden ihre Angst vor dem mit Oidipusʼ Anwesenheit in Verbindung stehenden Götterhandeln. Der im vierten Stasimon geäußerte Wunsch im Interesse des Haupthelden ist schließlich wieder ganz von der mitfühlenden Sympathie getragen, die das dritte Standlied verba‐ lisiert hatte. Welchen Niederschlag findet dieses komplexe und wechselvolle Verhältnis Protagonist-Chor konkret in den Formteilen des Chors? Die dialogische und im Wortsinne dramatische, d. h. handlungsintensive Parodos etablierte die für den ersten Teil der Tragödie zentrale Gesprächssituation Protagonist-Chor, die das Amoibaion der Verse 510 – 550 in reiner Form, d. h. ohne Einschaltung Dritter, reinszenierte. In beiden Fällen zeichnete sich die Interaktion dabei durch be‐ sondere, ja geradezu konfliktvolle Intensität aus. Auch das erste Stasimon ver‐ stand sich – zumindest in seinem Beginn – als direkte Anrede des Chors an den Protagonisten (v. 668); anders gesagt: Selbst die erste rein chorische Partie un‐ serer Tragödie suchte die Gesprächssituation Chor-Protagonist erneut aufzu‐ rufen und erweckte somit den Eindruck einer, wenn auch einseitigen, Interak‐ tion zwischen den beiden Akteuren. Die ersten drei Chorpartien unserer Tragödie sind also bewusst als Austausch des Chors mit dem Protagonisten komponiert: Die kolonischen Greise sprechen dezidiert mit Oidipus und treten in wechsel- oder einseitige Interaktion mit ihm. Das Strophenpaar im zweiten Epeisodion dient zwar wieder der effektvollen Inszenierung einer Konfliktszene, ist aber angesichts der maßgeblichen Bühnenpräsenz Kreons weniger Aus‐ tausch des Chors mit Oidipus als vielmehr Parteinahme für ihn und Einmi‐ schung statt seiner, d. h. in seinem Interesse. Im zweiten Standlied schließlich spielt der auf der Bühne verbliebene Protagonist für die Choreuten keine we‐ sentliche Rolle: Weder wird er direkt angesprochen, noch bildet er in der Ima‐ gination des hinterszenischen Geschehens einen thematischen Fixpunkt, auf den die Choreuten eingehen. Anders gesagt: Die Konzentration des Chors auf die Handlung rund um Theseus und den Kampf gegen Kreon lässt ihn Oidipusʼ

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III. Greisenchöre

vorderszenische Präsenz für eine gewisse Dauer aus dem Blick verlieren.347 Mit dem dritten Stasimon ändert sich schließlich die Perspektive, aus der innerhalb der chorischen Partien der Protagonist betrachtet wird, erneut: Bis zum Ende der Tragödie findet von Seiten des Chors kein wirklicher Austausch mehr mit ihm statt, stattdessen dominiert der Hinweis auf ihn (vgl. Epode des dritten Standliedes) sowie die Reflexion über ihn. Wie gezeigt wurde, stehen sich selbst in der epirrhematischen Partie der Verse 1447 – 1499 mit dem Chor auf der einen sowie Oidipus und seinen Töchtern auf der anderen Seite zwei Sphären gegen‐ über, zwischen denen keine wirkliche Interaktion stattfindet. Das vierte Sta‐ simon und das Schlussamoibaion der Tragödie sind daraufhin ganz vom Blick auf Oidipus geprägt, der nicht mehr als Adressat, sondern als thematischer Be‐ zugspunkt den inhaltlichen Fokus der Partien bildet. Das formale Verhältnis zwischen Chor und Protagonist innerhalb der Chor‐ partien lässt sich grob in drei Phasen einteilen: Während zunächst die Choreuten (zu Beginn durchaus konfliktreich) mit Oidipus in direkter Interaktion stehen (Parodos, erstes Amoibaion, erstes Stasimon), ergreifen sie in der Auseinander‐ setzung mit Kreon für ihn Partei (Strophenpaar) und stehen ihm schließlich gegenüber, indem sie über ihn und sein Schicksal reflektieren (drittes Stasimon, epirrhematische Partie, viertes Stasimon). Sophokles bildet mit dem Wechsel der Gesprächssituation innerhalb der cho‐ rischen Partien eine handlungsimmanente Dynamik ab: In dem Maß, in dem im Lauf des Stückes die direkte Interaktion zwischen Chor und Protagonist einem kommentierenden Nebeneinander beider Bereiche weicht, nimmt Oidipusʼ In‐ volvierung in die konkreten Auseinandersetzungen mit anderen Akteuren ab. Der (scheinbar) Fremdbestimmte und auf verschiedene Weise Bedrängte mani‐ festiert sich so als eigentlich Handelnder, der sich schrittweise aus den Bin‐ dungen gegenüber anderen löst und schließlich offensichtlich über sein eigenes Schicksal bestimmt. Wenn Oidipus am Schluss der Tragödie in einem Akt he‐ rausgehobener Autonomie sein eigenes Lebensende und seine Entrückung im Einklang mit den göttlichen Maßgaben zu gestalten weiß, bleibt dem Chor nur noch die Rolle des Betrachters. Anders gesagt: Oidipus, der sich zu Beginn der Bühnenhandlung noch mit den Greisen in einer ausgreifenden Konfliktszene auseinandersetzen musste, steht dem Chor in der Schlussphase der Tragödie in

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Dass dabei die Imagination des hinterszenischen Geschehens freilich auch dem blinden Oidipus einen Eindruck der Vorgänge zu geben vermag, steht außer Frage; die gänzliche Nichtbeachtung des auf der Bühne verbliebenen Haupthelden von Seiten des Chors während des Liedes ist allerdings nur konsequent: Sie entspringt der vollständigen Fo‐ kussierung auf den außerszenischen Raum, die die eigentliche Umgebung konsequent ausblendet.

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voller Souveränität gegenüber. Die chorischen Partien reflektieren so in beson‐ derem Maße die innerdramatische Entwicklung348 des Haupthelden und dienen geradezu als ein Indikator des dramatischen Fortschritts innerhalb der Tragödie. 2. In insgesamt vier Stasima etabliert Sophokles das chorisch-reflektierende Moment als einen wesentlichen Bestandteil des Dramas. Gerade der Vergleich mit dem Philoktet, dessen sichere Datierung in der späten Schaffensphase un‐ seres Dichters eine Gegenüberstellung mit dem ebenfalls im hohen Alter ge‐ schriebenen Oidipus auf Kolonos nahelegt, ist dabei instruktiv: Während im Philoktet der Chor nur ein einziges wirkliches Stasimon singt – die übrigen cho‐ rischen Partien sind, wie am entsprechenden Ort gezeigt wurde, Amoibaia oder epirrhematischer Natur – , ist hier der Einschub rein chorischer Passagen fester Bestandteil des Ablaufs. Sophokles gewährt so dem Chor in regelmäßigen Ab‐ ständen die volle Aufmerksamkeit des Publikums – besonders freilich im vierten Stasimon, das als einziges Standlied vor leerer Bühne gesungen wird. Dem re‐ flektierenden und imaginierenden Blick des Chors auf die Handlung kommt so innerhalb der Tragödie eine besondere Stellung zu. Die vorliegende Tragödie zeichnet sich zugleich durch eine hohe Anzahl von Amoibaia bzw. epirrhematischen Partien aus: Mit dem Aktionsamoibaion der Parodos (v. 117 – 253), dem Wechselgesang zwischen Oidipus und dem Chor in den Versen 510 – 548, dem Strophenpaar innerhalb der Kreon-Szene (v. 833 – 843, 876 – 886), der epirrhematischen Partie der Verse 1447 – 1499 sowie dem Schluss‐ kommos (v. 1670 – 1750) zählt das Drama vier umfangreiche Passagen, in denen der Chor mit einem oder mehreren Akteuren auf der Bühne in direktem Aus‐ tausch steht oder das aktuelle Bühnengeschehen kommentiert. Die kolonischen Greise erweisen sich so schon aus formaler Perspektive als besonders in das Bühnengeschehen involviert. Gerade ihr regelmäßiger Austausch mit dem Prot‐ agonisten in der ersten Hälfte des Stücks bildet, wie unter Punkt 1 bereits gesagt, eine für die Tragödie grundlegende Gesprächssituation. Dabei realisiert sich die chorische Präsenz sowohl in reflektierenden, dem eigentlichen Geschehen ent‐ gegengesetzten Partien, wie auch in Abschnitten, in denen die kolonischen Greise bewusst in den Gang der Ereignisse einzugreifen suchen. 3. Innerhalb der rein chorischen Partien überwiegt der imaginativ-visualisie‐ rende Reflexionszugang (Spektrum II): An entscheidenden Stellen der Hand‐ lung sind mit den Chorliedern bildgewaltige Ausleuchtungen eingeflochten. Bereits das erste Stasimon entwirft das farbenreiche Bild des Bezirks Kolonos,

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„Entwicklung“ soll hier nicht so verstanden werden, als verändere sich etwas Grund‐ legendes in Oidipusʼ Charakter oder seiner Person.

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III. Greisenchöre

bevor es seinen Blick auf die gesamte Stadt weitet. Das zweite Stasimon visua‐ lisiert den Fortgang der im vorderszenischen Bereich angestoßenen Handlung, die sich mit dem Abtritt der entscheidenden Personen in den außerszenischen Bereich verlagert. Das vierte Stasimon schließlich visualisiert in Gestalt eines Wunschs den Übergang des Haupthelden in das Totenreich und setzt nach dem zweiten Standlied erneut eine vorderszenische Dynamik in ein poetisches Bild um. Indem so die Choreuten der abgetretenen Person hinterherblicken, eröffnen sie den Rahmen der imaginierten Situation, die in dieser Weise vom Bühnen‐ geschehen ihren Ausgang nimmt und es geradezu auf anderer Ebene weiterzu‐ führen sucht. Durch das jeweilige Chorlied wird so eine hinterszenische Gege‐ benheit eingeblendet, deren Ausleuchtung ganz aus der Perspektive des erreichten Handlungsstandes erfolgt. Anders gesagt: Der chorische Blick auf einen anderen Ort außerhalb des eigentlichen Bühnengeschehens setzt das Ge‐ schehen fort und füllt damit die durch den Abtritt eines zentralen Akteurs her‐ vorgerufene Pause im unmittelbaren Fortgang der Handlung. Die ersten beiden Stasima sind dabei mit Blick auf ihre imaginativ-visuali‐ sierende Reflexion in besonderer Weise im Rahmen der dramatischen Situation verankert und funktionalisiert, da sie konkret an Oidipus als innerdramatischen Adressaten gerichtet sind. Konkret gesagt: Die Ausleuchtung des Lokals bzw. der hinterszenischen Handlung ermöglicht es dem blinden Haupthelden, sich ein Bild von der Situation zu machen. Anders verhält es sich beim vierten Stasimon, das keinen innerdramatischen Adressaten hat: Es füllt vielmehr das durch den Abgang der beteiligten Akteure entstandene personelle Vakuum und bietet mit seiner düsteren, rein auf den Tod des Haupthelden konzentrierten Ausleuchtung die Kontrastfolie für den sich anschließenden Botenbericht. Eine nicht primär am Zeichnen eines Bildes orientierte Reflexion bietet dagegen das dritte Stasimon: Die Auseinandersetzung mit dem Thema „Alter und Tod“ bedient sich zwar bildlicher Elemente, ist im Ganzen allerdings von eher ab‐ strakter und allgemeingültiger Argumentation gekennzeichnet. Die Interpreta‐ tion hat zudem gezeigt, inwieweit das Stasimon zudem eine Sonderrolle inner‐ halb der chorischen Partien einnimmt: Neben der genuin eigenen Themensetzung durch den Chor, der Struktur des dem Kontext zunächst ent‐ hobenen Beginns sowie der bewussten Fokussierung auf den Protagonisten sticht so auch der anders geartete Reflexionszugang besonders hervor. 4. Die chorischen Partien der vorliegenden Tragödie tragen in hohem Maß zur Strukturierung und Rahmung des Dramas bei (Spektrum III). Der Aufbau der Tragödie zeugt dabei von besonderer Symmetrie und dramatischer Ökonomie.

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Die Einzeluntersuchung hat zeigen können, dass sich die vier Stasima paar‐ weise aufeinander beziehen: So beantwortet das zweite Standlied die Athen-Thematik des ersten im Moment der Bewährungsprobe der Polis, das vierte Standlied rekurriert auf das dritte, indem es dessen allgemeine Refle‐ xionen in einer ausgreifenden Imagination konkretisiert. Zwischen den so kor‐ respondierenden Stasima kommt dabei jeweils eine weitere Partie mit Chorbe‐ teiligung zu stehen: das Strophenpaar der Verse 833 – 843 / 876 – 886 sowie die epirrhematische Komposition in den Versen 1447 – 1499. In beiden Fällen dient die chorische Präsenz im Epeisodion zur Intensivierung eines besonders hand‐ lungsintensiven oder anderweitig bedeutsamen Vorgangs auf der Bühne: Das Strophenpaar im zweiten Epeisodion inszeniert die Kindesentführung durch Kreon, die epirrhematische Partie im Anschluss an die Polyneikes-Szene das göttliche Donnerzeichen sowie die Reaktion der beteiligten Akteure und des Chors. Machen wir uns klar: Sophokles gliedert durch die Abfolge Stasimon A – Amoibaion / epirrhematische Partie – Stasimon B den Mittelteil der Tragödie in zwei thematisch gerundete und hinsichtlich der Chorpassagen parallel aufge‐ baute Großabschnitte, die sich als thematische Blöcke unter den Schlagwörtern Athen, πόλις und πόλις-Konflikt (v. 668 – 1095) sowie Alter und Tod (v. 1211 – 1579) gegenüberstellen lassen. Die beiden Großabschnitte sind, was die räumliche Disposition der Handlung angeht, ebenfalls parallel aufgebaut: Beide beginnen mit besonderer Fokussie‐ rung auf das dramatische Hier und Jetzt (erstes und drittes Stasimon); der kon‐ zentrierte Blick auf die bis zu diesem Zeitpunkt erreichte dramatische Situation ist dabei konstatierender Ruhepunkt und thematisches Präludium zugleich. Nachdem die vorderszenische Aktion daraufhin durch die Einschaltung eines Amoibaions bzw. einer epirrhematischen Partie ihre Klimax erlebt hat, verar‐ beitet das jeweils zweite Stasimon die Verlagerung des Geschehens, nimmt sie zum Anlass poetischer Reflexion und macht sie damit dramaturgisch nutzbar. Anders gesagt: Die Chorpartien leisten die anschauliche Vergegenwärtigung und poetische Verarbeitung der jeweiligen Handlungsräume, deuten sie in be‐ sonderer Weise aus und ermöglichen so einen tieferen Einblick in die verschie‐ denen Dimensionen der Handlung. Dass darüber hinaus das vierte Stasimon als Geleitlied für den abtretenden Oidipus den ausführlichen Willkommensgruß des ersten Standliedes geradezu spiegelt, trägt zur formalen Geschlossenheit der gesamten Tragödie bei. Mit der chorischen Orchestrierung der (formellen) Ankunft sowie des Abschieds des Protagonisten ist das der Handlung zu Grunde liegende Motiv des Kommens

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III. Greisenchöre

und Gehens, des Übergangs in besonderer Weise chorisch verarbeitet; es wird geradezu zur motivischen Klammer, die das gesamte Drama umfasst. Zwischen dem ersten Standlied, das die offizielle Annahme des Asylanten Oidipus am Ort des Geschehens verarbeitet, und dem im vierten Stasimon aus‐ komponierten Ab- und Übertritt des Protagonisten in die Unterwelt spannt So‐ phokles ein Panorama chorischer Partien, die den Hauptteil der Tragödie um‐ fassen und thematisch gliedern. Weitet man den Blick auf den durch die beiden Amoibaia geprägten ersten Abschnitt der Tragödie bis zum Auftritt des Theseus, so tritt zu den beiden thematischen Großabschnitten „Polis“ sowie „Alter und Tod“ die konkrete Auseinandersetzung mit der Person, der Präsenz und der Vorgeschichte des Haupthelden. In einem thematischen Dreischritt „Oidipus – Polis – Alter“ verarbeiten die Chorpartien so zentrale Motive der Bühnenhand‐ lung; sie leisten dabei einen wesentlichen Beitrag zur Strukturierung und Rah‐ mung der gesamten Tragödie. Anders gesagt: Das an sich lineare Geschehen wird erst durch die chorische Reflexion zu einem in sich geschlossenen und damit dramatisch wirkungsvollen Ganzen gerundet. 5. Dem Chor kommt innerhalb der gesamten Tragödie nicht die Rolle des um‐ fassenden Ausdeuters der Handlung zu, der durch Vor- und Rückblenden grö‐ ßere Zusammenhänge verdeutlicht, mythologische Einordnungen vornimmt oder das Geschehen in einen allgemeingültigen Bezugsrahmen einordnet. Viel‐ mehr ist es mit Oidipus der Protagonist selbst, der sein eigenes Handeln und das der anderen Akteure einordnet, maßgeblich bewertet und sowohl Vergangen‐ heit als auch Zukunft aus der dramatischen Realität heraus zu deuten versteht: Ihm fällt es zu, seine Ankunft in Kolonos mit Blick auf das an ihn ergangene Orakel zu deuten,349 seinen eigenen Tod als heilbringend darzustellen und den innerfamiliären Konflikt seiner Söhne anzudeuten. Während so die Ausdeutung des Geschehens im Wesentlichen durch den Haupthelden selbst geleistet wird, dienen die chorischen Partien der Orchest‐ rierung und Ausgestaltung von Motiven und Themenbereichen, die der Hand‐ lung selbst immanent sind. Anders gesagt: Die Reflexion des Chors eröffnet keinen eigenen Deutungsrahmen, der dem Geschehen gegenübersteht; vielmehr entfaltet sie bestimmte Momente des Geschehens und der ihm zu Grunde lie‐ genden Umstände, indem sie ihnen zum einen eine das Drama strukturierende

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Vgl. A LTMEYER (2001). Unzeitgemäßes Denken bei Sophokles, Stuttgart, S. 267: „Der Wille der Gottheit bleibt den Akteuren […] verschlossen, mit Ausnahme von Ödipus. […] Schon am Beginn des Stückes drängt sich dem Zuschauer der Eindruck auf, daß Ödipus in einem besonderen Verhältnis zu den Göttern steht, in deren Nähe er auch von sich aus gerät“.

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Funktion zuweist, zum anderen die Perspektive weitet und das Geschehen vor einem allgemeinen Hintergrund verortet (Spektrum III). Eine entscheidende Kontextualisierung ist dabei die chorische Ausgestaltung des Polis-Motivs: Angesichts des kultisch-politischen Rahmens der Tragödien‐ aufführungen lokalisiert die chorische Ausdeutung die Handlung in der unmit‐ telbaren Lebenswelt der Rezipienten. Gerade das erste Stasimon entfaltet dabei ein herausragendes Identifikationspotential für das Athener Publikum, das sei‐ nerseits so mittelbar zu einer Partei innerhalb des dramatischen Geschehens wird. Abschließend lässt sich festhalten: Sophokles räumt dem Chor in der vorlie‐ genden Tragödie ein besonderes Maß an Bühnenpräsenz ein. Anders gesagt: Die chorische Präsenz ist ein bestimmendes Moment der gesamten Tragödie und findet ihre konkrete Ausgestaltung in einer Reihe unterschiedlicher lyrischer Abschnitte.350 Auf der Basis des ihm zu Gebote stehenden festen Formenschatzes komponiert der Dichter dabei ein formal-gattungsästhetisch reichhaltiges Pan‐ orama verschiedenster chorischer Partien, die gerade durch ihre inneren Bezie‐ hungen, Antworten und Vorausdeutungen maßgeblich zur Phasierung der Tra‐ gödie beitragen. Wie im Einzelnen gezeigt wurde, leisten die Stasima einen wesentlichen Bei‐ trag zur motivischen Vertiefung der Handlung, leuchten hinterszenisches Ge‐ schehen in spezieller Weise aus und stehen zudem untereinander in moti‐ visch-thematischer Korrespondenz. Ihre imaginative Kraft und poetische Wirkung entfalten sich dabei auf Grundlage der jeweiligen dramatischen Situ‐ ation, die sie geradezu fortzusetzen suchen (vgl. v. a. das zweite und vierte Sta‐ simon), oder der sie bewusst eine andere Perspektive entgegenstellen (vgl. das dritte Stasimon). Die Dominanz der visualisierend-imaginativen Reflexion spie‐ gelt dabei mit der Blindheit des Haupthelden ein besonderes Moment der Hand‐ lung wider, während das Grundmotiv „Kommen und Gehen“ bzw. „Ankunft und Abschied“ durch die gegenseitige Bezugnahme der ersten und letzten reinen Chorpartie strukturell funktionalisiert wird. Sophokles versteht es in unserer Tragödie, gerade innerhalb der Chorpartien geschickt lebhafte Konfliktszenen und retardierende Passagen aufeinander ab‐ zustimmen. Die an eigentlichem Bühnengeschehen relativ arme Tragödie wird so durch die Chorpartien in besonderer Weise rhythmisiert und an den ent‐ scheidenden Stellen dynamisiert bzw. retardiert. Der bewusste Wechsel zwi‐ schen der Fokussierung auf vorder- oder hinterszenisches Geschehen, wie ihn 350

Der Kontrast des vier Stasima umfassenden Oidipus auf Kolonos zum Philoktet, der ebenfalls der Spätphase des sophokleischen Schaffens entstammt, ist bezeichnend.

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III. Greisenchöre

im Besonderen die Chorpartien ausgestalten, verleiht der Handlung geradezu räumliche Tiefe und ermöglicht die Ausdeutung über den eigentlich dramati‐ schen Horizont hinweg. Gerade die Chorpassagen tragen so wesentlich zur Ge‐ schlossenheit und Rundung des Stücks bei; anders gesagt: Es sind letztlich erst die Chorpartien, durch die Sophokles das an sich lineare Bühnengeschehen zu einer in sich geschlossenen und vielschichtigen Tragödie formt – einer Tragödie, die trotz ihrer zu Beginn ausgeführten Sonderstellung sowohl unter formalen wie auch inhaltlichen Gesichtspunkten besondere Wertschätzung verdient.

3. Antigone Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur

Die allgemein in die späten vierziger Jahre des fünften Jahrhunderts datierte351 Tragödie entwickelte sich – nicht zuletzt durch die Hochschätzung der deut‐ schen Klassik des 18. Jahrhunderts – zu einem der beliebtesten und meistgele‐ senen Dramen des Altertums. Die Bandbreite an Interpretationen des gesamten Stücks, Ausdeutungen unter philosophischen oder ästhetischen Gesichts‐ punkten, sowie Erklärungen einzelner Partien ist demnach geradezu unüber‐ schaubar;352 ähnlich verhält es sich mit Nachdichtungen,353 Bearbeitungen und

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Die Datierung stützt sich im Wesentlichen auf eine Notiz in der Hypothesis, nach der Sophokles nach dem Erfolg der Antigone zum Strategen gewählt wurde. Vgl. G RIFFITH (1999). Sophocles Antigone, Cambridge, S. 1 f. So auch F LETCHER (2014). „Sophocles: Antigone (Ἀντιγόνη).“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy III, hrsg. v. R OISMAN (2014), Malden (MA), S. 1264 – 1270, S. 1264. L EWIS (1988). „An Alternative Date for So‐ phoclesʼ Antigone.“ in: GRBS 29 (1988), S. 35 – 50 und im Anschluss an ihn E WANS (2014) S. 1276 votieren dagegen für eine Datierung auf das Jahr 438, die letzterer als gesicherte Tatsache präsentiert, was verwundern muss. Von besonderem Wert für die vorliegende Untersuchung sind die philologischen Kom‐ mentare von J EBB (1891). Sophocles The Plays and Fragments with critical notes, com‐ mentary and translation in English prose: Part III Antigone, Cambridge, M ÜLLER (G.) (1967). Sophokles Antigone erläutert und mit einer Einleitung versehen, Heidelberg, K AMERBEEK (1978). The Plays of Sophocles, Commentaries Part III The Antigone, Leiden und G RIFFITH (1999). An einer inhaltlichen Deutung des Stücks und des in ihm verhan‐ delten Konflikts ist diese Interpretation gemäß den methodischen Maßgaben nur am Rande interessiert. Vgl. B RECHT (1965). Die Antigone des Sophokles. Materialien zur „Antigone“, Frankfurt am Main.

3. Antigone

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Übersetzungen.354 Man greift nicht zu hoch, wenn man festhält: Die Geschichte der Tochter des Oidipus, wie sie Sophokles darbietet, ging in die Weltliteratur ein und wurde zu einem integralen Bestandteil des antiken Erbes in Neuzeit und Moderne.355 Als verbreitete Schullektüre356 dient die Antigone (neben dem an der Schule vielleicht etwas seltener gelesenen Oidipus Tyrannos) zudem oft als erster Kontakt mit der antiken Tragödie überhaupt; auch heute noch leistet das vor‐ liegende Drama des Sophokles so einen wesentlichen Beitrag innerhalb der alt‐ sprachlichen Ausbildung.357 Kurz zum weithin bekannten Inhalt der Tragödie: Auf einen Bruderzwist zwischen den beiden Söhnen des mittlerweile in Athen vergöttlichten Oi‐ dipus,358 Eteokles und Polyneikes, folgt ein bewaffneter Kampf um die Vorherr‐ schaft in Theben. Während die Verteidiger der Stadt unter Eteokles den Sieg über die von Polyneikes angeführten Angreifer erringen, töten sich die beiden Brüder im Kampf gegenseitig. Der neue Machthaber der Stadt, Oidipusʼ Schwager Kreon, lässt seinen Neffen Eteokles ehrenvoll beerdigen, verbietet jedoch die Bestattung359 des Polyneikes und droht bei Zuwiderhandlung mit dem 354

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Von besonderem, wenn auch zweifelhaftem Einfluss ist immer noch Hölderlins Über‐ tragung Antigonä aus dem Jahr 1804; vgl. S CHADEWALDT (1970). „Hölderlins Überset‐ zung des Sophokles.“ in: Über Hölderlin, hrsg. v. Jochen S CHMIDT (1970), Frankfurt am Main, S. 237 – 293. Eine Übersicht der Wirkungsgeschichte bietet S ÖFFNER (2008). „Antigone.“ in: DNP Supplemente Band 5 Mythenrezeption, S. 81 – 96. So z. B. im Lehrplan Griechisch, Grund- und Leistungsfach Jahrgangsstufen 11 bis 13 der gymnasialen Oberstufe (1998) des Landes Rheinland-Pfalz im Rahmen des Leis‐ tungsfachs, dort im Bereich Tragödie Teilthema 1: Sophokles, ANTIGONE: Mensch‐ liche und göttliche Prinzipien, S. 50 – 52. Auch im Leistungsfach Deutsch wird Antigone für den Themenbereich „Antike“ zur Behandlung vorgeschlagen, vgl. Lehrplan Deutsch, Grund- und Leistungsfach Jahrgangsstufen 11 bis 13 der gymnasialen Oberstufe (1998) des Landes Rheinland-Pfalz, S. 89. Anders als der Oidipus Tyrannos (mitsamt dem Aias und der Elektra) ist die Antigone allerdings nicht in die sog. byzantinische Trias, eine „Schulausgabe“ von jeweils drei Stücken der drei großen Tragiker, aufgenommen worden. Das Lebensende des Oidipus ist Gegenstand des Oidipus auf Kolonos, an den sich – zeitlich gesehen – die unmittelbare Vorgeschichte unserer Tragödie anschließt. Hin‐ sichtlich der behandelten Zeit ergibt sich so die in der Anordnung der Einzelinterpre‐ tationen dieser Arbeit abgebildete Reihenfolge: Oidipus Tyrannos – Oidipus auf Ko‐ lonos – Antigone, wobei uns mit Aischylosʼ Sieben gegen Theben zudem eine Behandlung des bewaffneten Bruderzwists überliefert ist. Wenn im Folgenden von „Bestattung“ die Rede ist, sind damit die entsprechenden Riten an der Leiche gemeint, die mit einer Bestattung im modernen Sinne nur noch bedingt Ähnlichkeiten aufweisen. Als zentrales Moment gilt dabei die Bestreuung des Leich‐ nams mit Staub, was unserem Begriff „Bestattung“ am nächsten kommt. Die von An‐ tigone im vorliegenden Stück praktizierten Riten haben den Zweck, zumindest die kul‐ tische Grundversorgung sicherzustellen.

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III. Greisenchöre

Tod. Antigone, eine der Schwestern der gefallenen Brüder, setzt sich gegen den Widerstand ihrer Schwester Ismene über das Verbot hinweg und versucht, ihrem Bruder eine rituelle Beerdigungszeremonie zukommen zu lassen. Nachdem der beim ersten Mal auf die Leiche gestreute Staub durch die Wächter Kreons wieder entfernt wurde, wird Antigone beim erneuten Versuch einer Bestattung festge‐ nommen und dem Herrscher vorgeführt. Sie nimmt dabei alle Schuld auf sich, versteht ihr Tun als durch religiöse Verpflichtung motiviert und wird zum Tod verurteilt. Ein Gespräch zwischen Kreon und seinem Sohn Haimon, dem Anti‐ gone als Braut versprochen war, endet im Streit. Kreon bleibt trotz Haimons Selbstmorddrohungen unerbittlich bei seiner Meinung und lässt das Urteil – Tod durch Einmauerung – sofort vollstrecken. Durch eine Weissagung des Teiresias besinnt er sich jedoch eines Besseren, beschließt die Bestattung des Polyneikes und versucht, Antigone zu retten. Diese Hilfe kommt zu spät: Antigone hat sich bereits erhängt, Haimon bedroht seinen Vater und tötet sich daraufhin selbst. Als Kreons Frau Eurydike davon erfährt, nimmt auch sie sich das Leben. Kreon bleibt schließlich nichts, als den Tod seines Sohnes und seiner Frau zu beweinen. Abgesehen von den nicht mythologischen Nebenpersonen (dem Wächter an Polyneikesʼ Leiche sowie zwei Boten im zweiten Teil der Tragödie) und Teiresias stammen alle an der Handlung beteiligten Personen aus einer Familie, stehen also in besonderer Beziehung zueinander. Das Zentrum des umfangreichen Per‐ sonenspektrums bilden dabei die beiden Antagonisten Antigone und Kreon, zu denen sich die weiteren Akteure in je unterschiedlicher Weise verhalten. Kon‐ kret funktionalisiert sind dabei im Besonderen drei Figuren: Ismene dient als Kontrastfolie der Hauptheldin, Eurydikes Rolle beschränkt sich auf einen kurzen Auftritt, in dem sie den Bericht der gescheiterten Rettungsaktion entgegen‐ nimmt, Haimons Stellung potenziert die ohnehin bestehende verwandtschaft‐ liche Beziehung zwischen den beiden Antagonisten und bildet damit die Grund‐ lage einer gesteigerten Emotionalisierung des Grundkonflikts. Den Chor bilden thebanische Greise, die bereits Laiosʼ Herrschaft über Theben miterlebt haben und dem jeweiligen Stadtherren als beratendes Organ gegenüberstehen. Ihr Verhältnis zu Kreon ist demnach von gewisser Loyalität geprägt. Als hervorstechendes Merkmal ihrer Äußerungen vor dem Eintritt der Katastrophe wird sich dabei eine ausgesuchte Ambivalenz erweisen, die eine konkrete Zeichnung des Charakters des Chors erschwert. Umso gebotener ist es, die damit erreichten dramaturgischen Implikationen nachzuzeichnen. Wesentliche Teile der in der Tragödie dargestellten Handlung finden hinter‐ szenisch statt: die eigentliche Bestattung des Polyneikes durch seine Schwester, der Tod von Antigone und Haimon, Eurydikes Selbstmord. Die Frage, wie diese dem Publikum nicht sichtbaren Geschehnisse innerhalb des eigentlichen Büh‐

3. Antigone

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nengeschehens und im Besonderen in den Äußerungen des Chors verarbeitet werden, wird daher ein bestimmendes Moment der Analyse sein. Die Tragödie ist hinsichtlich der Abfolge ihrer Teile besonders streng aufge‐ baut und mag im Nachhinein als geradezu klassisches Muster gelten: Auf den Prolog und die Parodos des Chores folgen fünf Epeisodien, die je von einem Stasimon abgeschlossen werden. Der so geradezu typische Wechsel von Hand‐ lung und Reflexion prägt und strukturiert im Besonderen den ersten Teil des Dramas. In lyrischen Austausch treten Chor und Akteure dabei an zwei Stellen: Das vierte Epeisodion (v. 806 ff.) beginnt mit einem aus dem dritten Stasimon hervorgehenden Kommos zwischen Antigone und dem Chor, die Schlussszene endet in einem zweiten Kommos (ab v. 1257) zwischen Kreon, dem zweiten Boten und dem Chor. Interpretation Prolog (v. 1 – 99)

Sophokles lässt seine Tragödie am Morgen nach der für Theben siegreichen Schlacht gegen die Angreifer unter der Führung des Polyneikes beginnen. An‐ tigone hat ihre Schwester Ismene zu einem intimen Treffen im Morgengrauen vor die Türen des Palasts gerufen (v. 18 f.) und unterrichtet sie über die neuesten Entwicklungen: Nach den vielfältigen Übeln, die ihre Familie von Seiten des Zeus bisher zu erdulden hatte (v. 2 f.), bedeute nun die Verlautbarung des Stadt‐ herrn Kreon ein erneutes Übel (v. 7 ff.). Ismene weiß zwar bereits vom Tod der beiden gemeinsamen Brüder, kennt allerdings den Inhalt von Kreons Erlass noch nicht. Ihre Schwester klärt sie auf: Kreon habe beschlossen, Eteokles als einen Verteidiger der Stadt mit allen Ehren bestatten, Polyneikes aber als Fraß für Vögel und wilde Tiere liegen zu lassen und ihm so das Recht auf eine rituelle Beisetzung zu verweigern (v. 21 ff.). Sie, Antigone, habe dagegen den Plan ge‐ fasst, trotz der Androhung der Todesstrafe an ihrem Bruder die nötigen kulti‐ schen Handlungen zu vollziehen (v. 42). Auf Mithilfe ihrer Schwester kann sie allerdings nicht zählen: Ismene verweist zunächst in direktem Austausch mit Antigone (v. 44 ff.), daraufhin in ihrem Monolog (v. 49 – 68) auf Kreons Autorität, auf das ohnehin verderbliche Schicksal und Ende des gemeinsamen Vaters Oi‐ dipus sowie auf die machtlose Position, die sie und ihre Schwester als Frauen in der Gesellschaft innehaben. Die Notwendigkeit, Polyneikes zu bestatten, gesteht sie zwar ein und bittet die Bewohner und Götter der Unterwelt (τοὺς ὑπὸ χθονός v. 65) um Nachsicht, bekundet allerdings ebenso, den Machthabern (τοῖς ἐν τέλει βεβῶσι) gehorchen zu wollen. Antigone lässt sich in ihrer Entschlos‐ senheit davon nicht beirren und verkündet freimütig, gegebenenfalls auch den

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III. Greisenchöre

eigenen Tod in Kauf zu nehmen (v. 72 f.). Es sei geradezu „schön“ (καλόν), nach vollbrachter Tat zu sterben. Die angstvollen Einwände ihrer Schwester weist sie entschieden zurück. Als Ismene sie darum bittet, den Plan zumindest geheim zu halten, fordert Antigone sie im Gegenzug dazu auf, ihr Vorhaben förmlich aus‐ zurufen (v. 86 f.) und damit an die Öffentlichkeit zu treten. Für Ismene steht fest, dass ihre Schwester Unmögliches verlangt (v. 90); sie, Ismene, werde sich daran nicht beteiligen können. Antigones Reaktion ist besonders konfrontativ: Ihre Schwester werde auf Grund ihrer Weigerung, bei der Beisetzung des Bruders zu helfen, sowohl von ihr als auch von Polyneikes selbst gehasst werden (v. 93 ff.); Ismene solle sie nun „dies Gewaltige“ (τὸ δεινὸν τοῦτο v. 96) leiden lassen. Sie sei nämlich überzeugt, dass es nichts so Großes gebe, was ihre Einschätzung des Todes verändern könnte. Antigone verlässt daraufhin das Geschehen (v. 97). In einem abschließenden Doppelvers würdigt Ismene daraufhin ihre Schwester: Sie gehe zwar „ohne Verstand“ (ἄνους), den Ihren allerdings als eine rechte Freundin (τοῖς φίλοις φίλη).360 Auch sie verlässt daraufhin die Bühne; in Vers 100 zieht der Chor in die Orchestra ein. Einige entscheidende Momente des Prologs sollen rekapituliert werden. Bereits die erste Szene der vorliegenden Tragödie inszeniert eine dramatische Kon‐ frontation unter Beteiligung der Protagonistin. Ihr kommen nicht nur die ersten Worte der Tragödie zu, sie steht auch ganz im Zentrum des Prologs und ist der eigentliche Motor des Geschehens: Im vorgreifenden Wissen um das Edikt Kreons361 wird sie so als zunächst (auf Kreons Verlautbarung) Reagierende zur eigentlich Handelnden. Sophokles lässt uns dabei am Werden ihres Entschlusses nicht teilhaben: Mit Beginn der Tragödie ist Antigone bereits vollauf von ihrem Plan überzeugt, nimmt auch den Tod als dessen Konsequenz willig an und brüs‐ kiert darüber hinaus ihre Schwester, auf deren Argumente sie nicht eingeht. Damit ist die zentrale Figur des Dramas in ihrer bestimmenden Eigenschaft – der mutigen Entschlossenheit, das für richtig Erkannte gegen alle anderen Kräfte durchzusetzen – hinreichend charakterisiert. Ismene dient, dramatur‐ gisch gesehen, als Folie ihrer charakterlich ganz anders gearteten Schwester und spricht mit ihren Bedenken einige für das Drama wichtige Polaritäten an, die im Weiteren noch ausgeführt werden sollen (Macht – Ohnmacht, Frau – Mann, frühere Familiengeschichte – eigenes Handeln). Bereits das Prologgespräch in‐ 360 361

Vgl. L LOYD -J ONES (1994) II S. 15: „[…] but truly dear to those who are your own“. G RIFFITH (1999) S. 119 geht von einer ersten Verkündigung des Beschlusses durch Kreon auf dem Schlachtfeld aus.Woher Antigone Kenntnis von Kreons Beschluss hat, darf nicht gefragt werden, es spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass sie den Inhalt der Verlaut‐ barung, die Kreon am Beginn des ersten Epeisodions verkünden wird, bereits kennt, nicht, wie sie zu diesem Wissen gelangt ist.

3. Antigone

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szeniert dabei die Entfremdung der beiden Schwestern voneinander: Legte An‐ tigone zu Beginn noch besonderen Wert auf sprachliche Formeln, die die fami‐ liäre Zusammengehörigkeit der beiden Akteure verbalisieren (vgl. v. a. die Anrede Ismenes durch Antigone als κοινὸν αὐτάδελφον κάρα v. 1), so steht sie am Ende des Prologs ihrer Schwester mit einiger Verachtung gegenüber. Gera‐ dezu in nuce hat der Prolog so als erste Konfrontationsszene nicht nur den Cha‐ rakter der Hauptheldin, sondern auch ihre Isolation und Sonderstellung wir‐ kungsvoll exponiert. Antigone leistet darüber hinaus den entscheidenden Anteil der Exposition: Von ihr erhalten die Zuschauer Kenntnis über Ort und Zeit der Handlung sowie die wichtigsten Fakten der unmittelbaren Vorgeschichte, im Besonderen freilich den Inhalt des Edikts. Der Theaterbesucher ist somit ins Bild gesetzt und kann das Folgende antizipieren. Er ist nicht, wie im Folgenden der Chor, auf die förm‐ liche Verkündung des Beschlusses durch Kreon (v. 162) angewiesen, sondern verfügt so schon zu Beginn des Stückes über einen gewissen Informationsvor‐ sprung, den er mit Antigone (und Ismene) teilt. Der Prolog ist im Gegensatz zu einigen anderen Prologen unseres Dichters362 nicht in sich durch Auf- und Abtritte gegliedert und bildet so eine geschlossene Szene. Dessen ungeachtet entfaltet sich in der formal so geschlossenen Szene eine besondere Dynamik: Die teils stichomythischen Wechselreden (v. 41 ff., v. 78 ff.) verbalisieren die erhitzte Konfrontation der beiden Schwestern; ihre Ent‐ zweiung bringt einen innerfamiliären und psychologischen Prozess geradezu unter dem Brennglas vor die Augen des Publikums. Antigones Ankündigung, ihren Plan zu verwirklichen, stellt zudem einen dramatischen Impuls dar, der die Handlung mit ihrem Abtritt in die hinterszenische Sphäre verschiebt: Die Zuschauer sind sich über den Fortgang der Handlung bewusst und antizipieren die Konfrontation der beiden Antipoden Antigone und Kreon. Dabei ist die ant‐ agonistische Grundstruktur der Tragödie bereits in der Gesprächssituation „eins-gegen-eins“ des Prologs vorweggenommen; Sophokles verzichtet bewusst

362

Vgl. die Prologe von Aias (Auf- und Abtritt des Aias), Oidipus Tyrannos (Auftritt Kreons), Trachinierinnen (Auftritt des Hyllos), Oidipus auf Kolonos (Auf- und Abtritt des Fremden). Mit Einschränkungen zu vergleichen ist der Prolog der Elektra: Dort kündigt sich die Ankunft der Hauptheldin durch ihren hinterszenischen Ruf bereits im Prolog an (v. 77) und folgt dem Gespräch zwischen Orest und dem Pädagogen nach deren Abtritt direkt.

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III. Greisenchöre

auf die Einführung eines dritten Prologsprechers,363 wie er bis auf den Philoktet in allen anderen überlieferten Tragödien auftritt.364 Der Prolog inszeniert so als private, geradezu heimliche Szene zwischen zwei Blutsverwandten den entscheidenden Handlungsimpuls, der von der Haupt‐ heldin selbst ausgeht. Als erste Konfliktszene ist dem Prologgespräch bereits die grundlegende Struktur des Stücks einbeschrieben; in der Auseinandersetzung der beiden Schwestern sind dabei wesentliche Themen und Motive ange‐ klungen, die in den folgenden Konfliktsituationen – teilweise von anderen Ak‐ teuren (im Besonderen Kreon) – aufgegriffen werden. Parodos (v. 100 – 162)

Zunächst einige Betrachtungen zur formalen Struktur der Partie: Die Parodos besteht aus zwei Strophenpaaren, wobei zwischen Strophe und Gegenstrophe sowie im Anschluss an die zweite Gegenstrophe anapästische Systeme von je sieben Versen eingesetzt sind. Den insgesamt vier lyrischen Abschnitten stehen so ebenfalls vier anapästische Systeme gegenüber. Das letzte dieser Systeme (v. 155 – 162) hebt sich durch das einleitende ἀλλʼ betont vom Rest des Liedes ab und stellt dabei die Auftrittsankündigung für den herannahenden Kreon dar; formal ist es so ein Teil der Parodos, wohingegen es funktionell bereits zum ersten Epeisodion gehört. Diese Konstruktion der in die lyrischen Abschnitte eingesetzten Anapäste innerhalb einer rein chorischen Partie ist im Rahmen der uns überlieferten Par‐ odoi unseres Autors365 einmalig. Die von G RIFFITH366 herangezogenen Parallelen lassen sich nur zum Teil mit der vorliegenden Passage vergleichen: Im Aias geht dem lyrischen Abschnitt (v. 172 – 200) eine umfangreiche, rein anapästische Partie voraus (v. 134 – 171). Die mit dem vorliegenden Abschnitt der Antigone am 363

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Denkbar wäre es z. B., zu Beginn der Tragödie Antigone und Ismene in Ungewissheit die Nachricht vom Ausgang des Kampfs erwarten zu lassen. Ein Bote brächte dann mitsamt der Meldung vom Sieg Thebens zugleich die Anordnung Kreons; daran könnte sich ein erneutes Gespräch der beiden Schwestern anschließen, das mit dem Entschluss Antigones enden würde. Der entscheidende Impuls würde so von außen gegeben werden; Sophokles inszeniert dagegen mit seinem Prolog Antigone als movens der ge‐ samten Handlung, deren Willensbildung mit Beginn des Stücks bereits abgeschlossen ist. Ich zähle bewusst auch die Elektra darunter, da der, wenn auch hinterszenische, Klageruf der Protagonistin ein wesentliches Moment des Prologgesprächs darstellt. So ist der dritte Akteur zwar nicht sichtbar, gibt aber einen besonders wirksamen dramatischen Impuls, der das Geschehen wesentlich dynamisiert. B URTON (1980) S. 94 geht einen Schritt weiter: „unique in the parodoi of extant Greek tragedy“. G RIFFITH (1999) S. 139.

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ehesten vergleichbare Parodos des Philoktet, in der sich lyrische mit anapästi‐ schen Passagen abwechseln, ist dagegen keine rein chorische Passage, da die Schiffsleute dort mit Neoptolemos in direkten Austausch treten und ihm die anapästischen Verse zukommen. In unserem Fall scheinen die anapästischen Verse vom Chorführer vorgetragen worden zu sein.367 Innerhalb der Gruppe des Chors wechseln sich so zwei „Sprecher“ ab, was allerdings nicht über die syn‐ taktisch enge Verflechtung der lyrischen und anapästischen Partien hinweg‐ täuschen darf. Vielmehr muss festgehalten werden, dass die Parodos trotz dieses regelmäßigen Sprecherwechsels kein Zwiegespräch im Sinne von Rede und Ge‐ genrede darstellt. Chorführer und Chor stehen sich so nicht gegenüber; ihre Beiträge greifen vielmehr ineinander und formen ein Ganzes. Die von B URTON368 und G RIFFITH369 mit einigem Nachdruck vorgetragene unterschiedliche Funkti‐ onalisierung der beiden Bestandteile – emotionale Ausleuchtung in den lyri‐ schen Partien, abgeklärtere Narration in den Anapästen – trifft womöglich grundlegend das Richtige, darf allerdings meines Erachtens nicht über Gebühr forciert werden.370 Inhaltlich stellt die Parodos das Triumphlied der thebanischen Greise dar, die nach dem Abzug der feindlichen Truppen göttlichen Mächten für die Errettung ihrer Stadt danken. Dabei sind sie über Kreons Beschluss noch nicht informiert und ahnen daher nicht, dass sich ein besonders virulenter Konflikt anbahnt. Zunächst soll hier ein Nachvollzug des Gedankengangs erfolgen, wobei bereits entscheidende Momente der poetischen Gestaltung Erwähnung finden sollen. Den Eingang des Liedes bildet die direkte Apostrophierung des aufbre‐ chenden „Strahls der Sonne“ (ἀκτὶς ἀελίου v. 100): Dieses im Vergleich mit allem Vorangegangenen für Theben „schönste“ (κάλλιστον) Licht ist nun endlich (ποτʼ v. 103) erschienen. Die dem Vokativ „Auge des goldenen Tags“ (ὦ χρυσέας ἁμέρας βλέφαρον v. 103 f.) folgenden Partizipien beschreiben daraufhin das an‐ 367 368 369 370

B URTON (1980) S. 90 sowie G RIFFITH (1999) a. a. O. Eine wirkliche Begründung dieser Zuteilung bleiben beide Interpreten allerdings schuldig. „[T]he excitement of the lyric opening with its greeting to the sunrise gives place to the quieter narrative anapaests“ S. 94. Bezüglich der Anapäste S. 139: „serving to explain and supplement the more oblique lyrics“. B URTON s (1980) Charakterisierung des ersten und letzten anapästischen Systems als „a narrative, simple in language“ (S. 94) geht an der Wirklichkeit der Texte vorbei. Der aus der (vermeintlichen) Differenz zwischen nicht-lyrischen und lyrischen Partien erwach‐ senen Änderung der in den anapästischen Versen erscheinenden dorischen Formen γᾷ (v. 110) und γᾶν (v. 113) in ihre ionische / attische Gestalt γῆν und γῇ durch Dindorf (vgl. B URTON (1980) Anmerkung S. 90) folgen sogar L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) gegen die einhellige Überlieferung der codd., wohingegen G RIFFITH (1999) wie schon P EARSON (1924) beim überlieferten Textbestand bleibt.

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III. Greisenchöre

gesprochene Licht näher: Es gehe über den Fluss Dirke hinweg371 und habe, so der Chor, den aus Argos anrückenden, mit einem weißen, d. h. blankpolierten372 Schild bewaffneten Mann (φῶτα)373 mit schmerzhafterem Zügel (ὀξυτόρῳ χαλινῷ) angetrieben, sodass dieser in voller Rüstung rasch die Flucht ergriff (so die proleptische Apposition φυγάδα374). Auf eine konkrete Identifikation kann der Chor dabei ganz verzichten; das folgende anapästische System wird explizit klarstellen, dass es sich bei dem erwähnten Mann um die Personifikation des angreifenden Heeres unter der Führung des Polyneikes handelt. Unversehens ist die erste Strophe in eine thematische Auseinandersetzung mit der Vorgeschichte der Bühnenhandlung übergegangen. Machen wir uns dabei bewusst: Die Anrufung des Lichtes markiert zunächst den aktuellen Zeit‐ punkt innerhalb der Bühnenhandlung und bezeichnet angesichts der Konven‐ tion, mit den Aufführungen der Tragödien am frühen Morgen zu beginnen, mit einiger Wahrscheinlichkeit auch (zumindest annähernd) den Moment der Auf‐ führung selbst.375 Für die thebanischen Greise ist der nun anbrechende Tag dabei ein Tag des Triumphs und des Siegs über die von Polyneikes angeführte Armee. Darüber hinaus deutet der Chor das Licht als geradezu handelnden Akteur: In kühner Personifikation wird ihm die Vertreibung des angreifenden Heeres zu‐ gesprochen, wobei in der Erwähnung des Zügels (v. 109) die Motivfelder „Ka‐ vallerie“ und „Wettrennen“ bzw. „Wagenrennen“ angerissen sind. Mit dem Licht hat der Chor so nicht nur den Anbruch des Befreiungstages bezeichnet, sondern zugleich eine detaillierte Schilderung des entscheidenden Ereignisses gegeben. Die Koinzidenz von innerdramatischer Zeit und Aufführungszeit erweitert sich so in spezifisch inhaltlicher Hinsicht: Mit der Personifikation des Lichts gelingt es, in poetisch höchst ansprechender Form das für die Choreuten zentrale Er‐ eignis der Vorgeschichte zu verbalisieren. 371

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Auf die Schwierigkeiten, die sich aus der geographischen Lage des Flusses im Westen der Stadt ergeben, weisen K AMERBEEK (1978) S. 54 und G RIFFITH (1999) S. 144 hin; letz‐ terem wird man sich mit seiner an J EBB (1891) angelehnten Haltung („strict geography is ignored and „Dirke“ stands losely for any river near Thebes“) anschließen. Vgl. K AMERBEEK (1978) S. 54 ad locum. Die Verse 106 f. werfen innerhalb der Überlieferung einige Probleme auf; L LOYD -J ONES / W ILSON (1990) sehen sich sogar gezwungen, sie in cruces zu setzen. Konkret geht es dabei im Wesentlichen um das einhellig (!) überlieferte Ἀργόθεν, das allerdings einer genauen metrischen Entsprechung in der Gegenstrophe entbehrt. P EARSON (1924) hatte dementsprechend einzig das problematische Wort mit einer crux versehen. G RIFFITH (1999) behebt die Problematik, indem er Blaydes Konjektur Ἀργολικόν in den Text setzt. Dem Verständnis der Verse tun die metrisch-textkritischen Schwierigkeiten jedoch keinen Abbruch. K AMERBEEK (1978) S. 54: „proleptic (stirred) ‘to headlong flight’“. Vgl. dazu G RIFFITH (1999) S. 21.

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Bereits in der ersten Strophe greifen wir darüber hinaus einige Charakteris‐ tika, die das Lied im Ganzen prägen. Neben der Personifikation unbelebter En‐ titäten (Licht) bzw. der personellen Verengung ganzer Gruppen auf eine Person (Heer der Argeier als ein Mann gedacht) sowie der gegen Ende der Strophe angeschnittenen Wettkampfmotivik wird sich vor allem der Gebrauch von Farb‐ adjektiven als geradezu programmatisch erweisen: Während der anbrechende Tag als „golden“ bezeichnet wird (v. 104), erfährt die Rüstung des in die Flucht geschlagenen Heeres mit λεύκασπιν (v. 106) einen besonderen Akzent, den die folgende anapästische Partie wieder aufnehmen wird. Das erste anapästische System ist als auf φῶτα (v. 107) bezogener Relativsatz syntaktisch eng mit der Strophe verbunden: Den in Rede stehenden Mann (das argivische Heer) hatte Polyneikes auf Grund tiefgreifender Zerwürfnisse (νεικέων ἐξ ἀμφιλόγων v. 111) gegen das Heimatland der Greise geführt.376 Ein Vergleich malt die Invasion besonders eindrücklich: Gleich einem Adler sei er, spitze Rufe ausstoßend, mit seinem Flügel wie mit Schnee377 das Land bedeckend mit vielen Waffen und rosshaarigen Helmen (ἱπποκόμοις κορύθεσσιν v. 116) in das Land geflogen. Die besonders lebhafte, farbige Imagination des Adlers ist hier in eine sprachlich besonders kühne Konstruktion gefasst, die durch die Abfolge gewaltiger Bilder sowie die Überfülle an beschreibender Information378 den Hörer geradezu überwältigt und mitreißt. Auch die folgende erste Gegenstrophe bedient sich einer besonders bildhaften Sprache, die dem aufgeworfenen Motivfeld ein weiteres hinzufügt. Ohne das Subjekt dabei erneut zu bezeichnen, wird mit den Partizipien στάς (v. 117) und ἀμφιχανών (v. 118) die Imagination der Bedrohung zunächst wortreich fortge‐ setzt: Das Heer, d. h. bildlich gesprochen: der Adler, stand (στάς) über den Dä‐ chern und „umgähnte“ (ἀμφιχανών) mit seinen blutdurstigen Lanzen (φονώσαισιν λόγχαις) den siebentorigen Mund der Stadt. Das Prädikat ἔβα (v. 120) verbalisiert mit dem Abzug des Heeres das eigentliche Geschehen dagegen so kurz wie möglich; durch die Verwendung des verbum simplex anstelle des erwartbaren Kompositums gewinnt diese Kontrastierung zudem besondere Schärfe. Die konkrete Imagination des Adlers scheint unterdessen dem Bild

376 377 378

Der Textverlust zu Beginn von Vers 112 beeinträchtigt das Verständnis der Partie dabei kaum. Dass der Genetiv λευκῆς χιόνος geradezu als Adjektiv zu verstehen ist, bemerkt K A‐ MERBEEK (1978) S. 55 zu Recht. Vgl. G RIFFITH (1999) S. 147 zu v. 155 f.: „Typical hymnic abundance of description, with epic colouring“.

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III. Greisenchöre

einer blutrünstigen, darüber hinaus nicht näher bestimmten Bestie gewichen zu sein.379 Der angeschlossene, durch πρίν eingeleitete Temporalsatz (v. 120 ff.) entfaltet daraufhin die aus Sicht der Choreuten glücklicherweise nicht verwirklichte Verheerung der Stadt: Die feindliche Armee, imaginiert als blutdurstiges Untier, rückte ab, bevor sie sich den Schlund mit „unserem“ (v. 120), d. h. thebanischem Blut füllen, bevor der von Fichtenholz genährte Hephaist (πευκάενθʼ Ἥφαιστον) den Mauerkranz einnehmen konnte. Die bildgewaltig und wortreich geschilderten Umstände der Belagerung fasst der Chor am Ende der Gegenstrophe in doppelter Weise zusammen (v. 125 ff.): Ein derartiges „Ares-Getöse“380 (πάταγος Ἄρεος) war als Drohkulisse aufge‐ spannt worden; asyndetisch angeschlossen die weitere Einschätzung:381 Dies bedeutete für die „Schlange“ – eine gebräuchliche Imagination für Theben bzw. das thebanische Heer382 – einen „hart erkämpften Sieg“.383 Mit dem Ende der Gegenstrophe hat ein erster thematisch-motivischer Ab‐ schnitt der Parodos sein Ende gefunden. Als Hymnos auf das anbrechende Licht hat das Lied, beginnend mit der personifizierten Ausdeutung des Lichts als eines Akteurs im Belagerungsgeschehen um Theben, eine besonders bildgewaltige Rekapitulation der dem Vortrag des Liedes unmittelbar vorausgehenden Ge‐ schehnisse geboten. Der Blick der Choreuten richtet sich dementsprechend in die Vergangenheit: Mit dem Heranrücken des feindlichen Heeres (Ἀργόθεν βάντα v. 107) unter der Führung des Polyneikes, der eigentlichen Belagerung (στάς v. 117, ἀμφιχανών v. 118) und dem Abzug (ἔβα v. 120) sind die wesentli‐ chen Momente umfasst und als poetisch wirkungsvolle Einzelszenen zueinander 379 380 381

382 383

Vgl. G RIFFITH (1999) S. 147: „a gigantic monster“. Vgl. K AMERBEEK (1978) S. 56: „tumultus bellicus“. Die bereits sprachlich schwierige Stelle ist sowohl textkritisch als auch hinsichtlich ihrer genauen Deutung umstritten. Ich schließe mich hier G RIFFITH (1999) an, der gegen L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) (und mit P EARSON (1924)) in Vers 126 ἀντιπάλου liest. Eine besonders ansprechende Lösung unter Beibehaltung des in einigen MSS ebenfalls über‐ lieferten Dativs ἀντιπάλῳ bietet sich in Anschluss an K AMERBEEK (1978) S. 56 f. an, der vorschlägt, das in Rede stehende Wort als dativus incommodi auf ἐτάθη zu beziehen; die abschließende Einschätzung δυσχείρωμα δράκοντος würde sich so durch besonders prägnante Kürze auszeichnen. Vgl. K AMERBEEK (1978) S. 56 f. ad locum: „δράκοντος as a metonymy for the Theban army is not strange and for a moment the battle is seen as a fight between eagle and δράκων“. Die genaue Bedeutung des hinsichtlich seiner Bildung umstrittenen Hapax δυσχείρωμα (vgl. LSJ s.v. „incorrect formation“) bereitet enorme Schwierigkeiten. Zur Übersetzung „a hard-won victory“ sowie zur Deutung vgl. K AMERBEEK (1978) und G RIFFITH (1999) ad locum.

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in Beziehung gesetzt. Eingebunden in diese besonders anschaulich geschilderte und ausgedeutete Vergegenwärtigung des Geschehenen ist mit dem Temporal‐ satz der Gegenstrophe die Imagination der befürchteten Einnahme der Stadt, die mit dem Tod ihrer Bürger und der Verwüstung ihrer Wehranlagen einher‐ gegangen wäre. Mit dem zweiten anapästischen System verlagert sich der Fokus des Chors. In den Blick der als Begründung angeschlossenen Ausführung (γάρ v. 128) gerät Zeus, dessen Name prominent an den Beginn des Systems gestellt ist: Der Göt‐ tervater, so der Chor, hasse nämlich die Prahlereien einer großen Zunge (μεγάλης γλώσσης κόμπους v. 128) in besonderem Maß (ὑπερεχθαίρει) und habe beim Anblick der in großer Anzahl Anrückenden denjenigen Gegner, der bereits im Begriff war, seinen Sieg durch lautes Rufen zu feiern, vom hohen Rand der Stadtmauer gestoßen. In äußerster poetischer Verdichtung beschreibt der Chor hier das Scheitern der Eroberungsaktion als ein direktes Eingreifen des Zeus und deutet das Geschehen moralisch aus. Dabei konkretisiert sich der Blick schrittweise: Die grundlegende Abneigung des obersten Gottes gegen mensch‐ liche Prahlerei bildet den allgemein formulierten Obersatz; daraufhin rückt zu‐ nächst eine Gruppe in den Blick, deren Verhalten den Zorn des Gottes erregt hat,384 bevor schließlich das Schicksal eines einzigen Angreifers ausgestaltet wird. Dass damit zunächst die Gruppe der sieben Angreifer, die je eines der Stadttore zu erstürmen versuchten, und im Besonderen der durch sein gottloses Prahlen hervorstechende Kapaneus385 gemeint ist, erhellt aus dem Vergleich der vorliegenden Passage mit Aischylosʼ Sieben gegen Theben, v.a. v. 422 – 456.386 Dabei erfolgt freilich an unserer Stelle keine dezidierte Namensnennung; gerade die Zuweisung zu einem der mythischen Sieben erfolgt einzig auf Grund der intertextuellen Bezüge. Im Besonderen rekurriert seine Bezeichnung als πυρφόρος (v. 135) auf die Beschreibung der Figur bei Aischylos387 und liefert so hinreichende Anhaltspunkte zur eindeutigen Identifikation. Dass diese dabei vom attischen Publikum geleistet wurde, ist angesichts der prominenten Rolle, die Kapaneus innerhalb des Mythos spielt, zumindest sehr wahrscheinlich. 384 385 386 387

Vers 130 bietet erneut schwerwiegende textkritische Probleme, die das Verständnis er‐ heblich beeinträchtigen. Auf einen Nachvollzug der Problematik sei mit Verweis auf die Kommentare ad locum verzichtet. Vgl. G RIFFITH (1999) S. 149: „Kapaneus, notorious in tradition for his impious boasts and Zeusʼ defying attempt to scale the walls and set fire to the city“. Die teils begrifflichen, teils motivischen Parallelen zeigen K AMERBEEK (1978) S. 57 und G RIFFITH (1999) S. 149 f. im Einzelnen auf; sie sollen hier nicht erneut wiederholt werden. In den Sieben gegen Theben trägt Kapaneus als „Wappen“ auf seinem Schild einen nackten, Feuer bringenden Mann (ἔχει δὲ σῆμα γυμνὸν ἄνδρα πυρφόρον v. 432) mitsamt dem Schriftzug πρήσω πόλιν („Ich werde die Stadt verbrennen!“).

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III. Greisenchöre

Die zweite Strophe (v. 134 – 140) führt die Fokussierung auf den von Zeus aufgehaltenen Angreifer zunächst fort und zeichnet eindrucksvoll sein Schei‐ tern im Kontrast (δʼ v. 134) zur eigenen Siegesgewissheit: Er fiel, von der Mauer geschleudert (τανταλωθείς v. 134), auf die widerhallende Erde, nachdem er mit „rasendem Andrang“ (μαινομένᾳ ξὺν ὁρμᾷ), geradezu bakchisch verzückt, in den „Böen feindlicher Anstürme“ (ῥιπαῖς ἐχθίστων) entbrannt war. Den Abschluss der Strophe bildet ein Seitenblick des Chors auf die Schicksale der anderen An‐ greifer (v. 138 ff.): Während sich Kapaneusʼ Ende in der beschriebenen Weise abspielte,388 wies Ares den anderen Kämpfern andere Dinge (ἄλλα) zu. Der Kriegsgott wird dabei durch den Chor mit einem Partizip und zwei Adjektiven, d. h. gleich drei Attributen belegt: Er, der „große“ Ares (μέγας Ἄρης), „stößt“ bzw. „misshandelt“ seine Opfer (στυφελίζων) und stellt aus Sicht der thebani‐ schen Greise das beste, an der rechten Seite des Streitwagens positionierte Pferd eines Viergespanns dar (δεξιόσειρος).389 Mit Vers 141 kommt die spezielle, besonders durch die angesprochene Bearbei‐ tung des Aischylos geprägte Ausgestaltung des Kampfes um Theben in den Blick. Damit ist die kurze Erwähnung der ἄλλοι aus Vers 138 fortgesetzt und aus geradezu umgekehrter Perspektive konkretisiert: War zu Beginn der zweiten Strophe mit Kapaneus noch ein Angreifer das (grammatische) Subjekt, so richtet sich der Fokus nun auf die Verteidiger der Stadt. Die an den sieben Toren der Stadt gegen gleich viele Angreifer aufgestellten Hauptleute (λοχαγοί v. 141) hinterließen nach ihrem Sieg die Waffen ihrer Gegner als Weihegaben an Zeus. Mit der folgenden Ausnahme (πλήν v. 144) kommt der Chor, ohne auch hier Namen zu nennen, auf das Schicksal der beiden Oidipus-Söhne zu sprechen:390 Geboren von einer Mutter und einem Vater haben sie beide Anteil am gemein‐ samen Tod, nachdem sie ihre beiderseits siegreichen Lanzen gegeneinander ge‐

388

389 390

Die betreffenden Verse sind erneut textkritisch höchst umstritten. Das von Sophokles intendierte klangliche Spiel mit den verschiedenen Formen von ἄλλος hat dabei bereits in der handschriftlichen Überlieferung für einige Konfusion gesorgt; auch die Ret‐ tungsversuche moderner Herausgeber haben die Stelle nicht zufriedenstellend wieder‐ herstellen können. Ich folge in der Paraphrase dem Text von L LOYD -J ONES /W ILSON (1990). Vgl. G RIFFITH (1999) S. 151: „the strongest, pace-setting horse in a team of four“. Auf die sich aus der extremen Verkürzung der Periode ergebende logische Inkonse‐ quenz – es gelang eben nicht sieben, sondern nur sechs der Verteidiger, die entspre‐ chenden τρόπαια zu hinterlassen – weist K AMERBEEK (1978) ad locum S. 59 hin. Auch hier ist der Dichter nicht zu tadeln: Wie schon bei der geographisch zweifelhaften Ver‐ ortung des Dirke-Flusses (v. 104 f.) legt Sophokles den Choreuten vielmehr eine For‐ mulierung in den Mund, die ganz und gar aus der Situation gesprochen zu sein scheint und so die besondere emotionale Involviertheit der thebanischen Greise verdeutlicht.

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richtet hatten. Die bewusste Betonung der Zweizahl der Brüder (Formen des Duals, Schlussstellung des ἄμφω als Abschluss der Strophe v. 146) und ihrer Zusammengehörigkeit (Hinweis auf die Eltern) bildet so den Kontrast zum Schicksal der beiden Kämpfenden, deren Entzweiung im gegenseitigen Töten den sinnfälligsten Ausdruck gefunden hat. Der Übergang zur folgenden Gegenstrophe (v. 148 ff.) ist durch die bewusste Komposition der Brüder-Episode am Ende des eigentlich narrativen Teils der Parodos nur durch ein schroffes ἀλλά (v. 147) zu leisten. Ohne weiter Bezug auf das Erzählte zu nehmen,391 konstatiert der Chor sichtlich erleichtert den Sieg, indem er das Kommen der „hochberühmten Nike“ (μεγαλώνυμος Νίκα) ver‐ meldet, die dabei Theben geradezu entgegenjauchzte (ἀντιχαρεῖσα). Nun, so die Greise, solle man die aktuellen Kriegshandlungen vergessen.392 Eine weitere, bewusst an die erste Person gerichtete Aufforderung, alle Tempel der Götter zu besuchen, sowie der Wunsch, der bakchisch verzückte Dionysos möge den Reigen anführen (ἄρχοι v. 154), schließen die Gegenstrophe. Das folgende anapästische System ist daraufhin, wie bereits bemerkt, die Auftrittsankündigung für den herannahenden Kreon. Dieser hatte, wie aus der Ankündigung hervorgeht, die Versammlung der Ältesten einberufen. War das Kommen der Greise zu Beginn der Parodos nicht motiviert worden, so erfolgt an unserer Stelle die Selbstidentifizierung der Choreuten sowie die Angabe des Grundes, warum sie sich zu diesem Zeitpunkt versammelt haben. Welchen Plan Kreon mit der Einberufung des Rates allerdings verfolgte (τίνα μῆτιν ἐρέσσων v. 159), wissen die Choreuten noch nicht. Dem in der zweiten Gegenstrophe an den Chor gerichteten Impuls, das eigentliche Bühnengeschehen zu verlassen und sich dem bakchantischen Taumel hinzugeben, werden die Choreuten auf

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Die bemerkenswerte Junktur ἀλλὰ γάρ erläutert G RIFFITH (1999) S. 152: „indicating an interruption or rejection of the previous train of thought, with explanation why it is not appropriate“. L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) lesen in v. 151 den an die zweite Person gerichteten Im‐ perativ θέσθε, wohingegen P EARSON (1924), K AMERBEEK (1978) und G RIFFITH (1999) den ebenfalls überlieferten, imperativisch verstandenen Infinitiv θέσθαι favorisieren, der, wie G RIFFITH ausführt, auch als Aufforderung an die erste Person gedeutet werden kann. Neben dieser Deutung schlage ich unter Beibehaltung des Infinitivs Folgendes vor: Lässt man die mit ἀλλά begonnene Periode erst mit λησμοσύναν enden, so be‐ zeichnet θέσθαι als ein in der Dichtung nicht selten nach Verben der Bewegung auf‐ tretender infinitivus finalis (KG II § 473, 7; S. 16 f.) die erstrebte Folge des Erscheinens der Siegesgöttin: „um den Krieg nun vergessen zu machen“. In Analogie zur zweiten Strophe (v. 137) würde daraufhin (metrisch an der entsprechenden Stelle) die zweite, ebenfalls durch δ(έ) eingeleitete Periode mit Vers 152 beginnen und die vom Chor in‐ tendierte Reaktion auf den Sieg verbalisieren.

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III. Greisenchöre

Grund von Kreons Ankunft am Ort des Geschehens nicht nachgehen. Nach dem freudigen Ausbruch wird die Ansprache Kreons (v. 163 – 210) den grundlegenden Konflikt der Handlung verbalisieren. Der Nachvollzug der umfangreichen Parodos hat bereits einige bemerkens‐ werte Momente zu Tage gefördert. Vor einer dramaturgischen Einordnung der Partie soll Folgendes hinsichtlich Aufbau, Motivik und poetisch-sprachlicher Gestaltung zusammengefasst werden. Schlicht festzuhalten, die Parodos erzähle in ihrer Rekapitulation der Bela‐ gerung und Entsetzung Thebens die Vorgeschichte der eigentlichen Bühnen‐ handlung, wird der komplexen Struktur des Liedes und den sich daraus erge‐ benden dramaturgischen Implikationen nicht gerecht. Machen wir uns daher bewusst: Trotz des in die Vergangenheit gerichteten Fokus erzählt die Parodos die Vorgeschichte nicht in einem konsequent chronologischen Durchgang; viel‐ mehr sind verschiedene Zeitebenen innerhalb der bildgewaltigen Rekapitula‐ tion miteinander verwoben und durchdringen sich gegenseitig. Der Chor zeichnet ferner nicht eine Episode der Belagerung und Niederringung des argi‐ vischen Heeres, sondern verknüpft mehrere Bilder und Zeitpunkte des Gesche‐ hens miteinander und stellt sie im Wesentlichen ergebnisorientiert, d. h. aus Sicht des bereits erfolgten Abzugs der Feinde dar. So thematisierte die erste Strophe bereits im Bild des aktiv in das Geschehen eingreifenden Lichts sowohl das Heranrücken als auch die Flucht des Heeres, wohingegen das erste anapäs‐ tische System im Bild des Adlers erneut besonders das Nahen der Soldaten, die Gegenstrophe die eigentliche Belagerungssituation schildert. Nichtsdestowe‐ niger findet aber auch der Abzug der Truppen (ἔβα v. 120) als das zentrale Wen‐ deereignis Erwähnung. In einem erneuten Rückblick schildert das zweite ana‐ pästische System daraufhin das Einschreiten des Göttervaters beim Heranrücken sowie dem versuchten Sturm der Stadtmauern, was das in der ersten Gegenstrophe erwähnte „Umgähnen“ der Stadt (v. 118 f.) konkret ausge‐ staltet. Statt einer Nacherzählung der unmittelbaren Vorgeschichte greifen wir mit der Parodos eine geradezu rauschhafte Vergegenwärtigung entscheidender, in besonders bildgewaltiger Weise ausgestalteter Momentaufnahmen, die die un‐ mittelbare Vergangenheit aus der Perspektive der siegreichen Thebaner mora‐ lisch-theologisch ausdeutet. Eingebunden in diese Verknüpfung verschiedener Zeitebenen ist darüber hinaus die Gegenwart der Sprechenden: Mit der gedop‐ pelten Aufforderung der zweiten Gegenstrophe ziehen die Choreuten geradezu die Konsequenz aus den rekapitulierten Ereignissen und suchen, ihr eigenes Tun damit in Einklang zu bringen. Der Auftritt Kreons und damit der Beginn der

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eigentlichen Bühnenhandlung vereitelt allerdings die Verwirklichung dieses Impulses. Auch eine wirklich logische Gliederung, ein zwingendes Fortschreiten von einem Motiv, einem Schlaglicht zum anderen ist nicht zu erkennen. Selbst wenn gerade im zweiten Teil des Liedes drei Abschnitte durch γάρ eingeleitet werden und so als Begründung des davor Vorgebrachten verstanden werden sollen,393 kann von wirklich zwingenden Kausalbeziehungen keine Rede sein. Die Abfolge der einzelnen Bildbereiche und Episoden bestimmt statt einer chronologischen oder zwingend logischen Anordnung vielmehr die schrittweise Konkretisierung und Fokussierung, die mit einer Steigerung der Drastik ein‐ hergeht. Werden in der ersten Strophe Anrücken und Flucht des Heeres kon‐ statiert, so malen das anapästische System und die Gegenstrophe die eigentliche Belagerungssituation besonders aus. Mit der Nennung des Polyneikes in Vers 110 – der einzigen Namensnennung innerhalb der Parodos – ist damit eine erste Konkretisierung geleistet. Mit dem zweiten anapästischen System tritt zunächst Kapaneus, daraufhin die anderen Anführer der Angreifer in den Fokus. Eine besondere Stellung nimmt schließlich das dritte anapästische System ein (v. 141 – 146), das mit der Thematisierung des Schicksals der beiden Oidipus-Söhne nicht nur eine extreme Fokussierung innerhalb der Beschreibung der Belage‐ rung darstellt, sondern darüber hinaus den unmittelbaren Kern des für die Büh‐ nenhandlung zentralen Konflikts anspricht. Erzählerischer Höhepunkt und dra‐ maturgische Relevanz fallen so in einem Punkt zusammen. Es lässt sich festhalten: Dem geradezu rauschhaften Strom an Bildern und Imaginationen liegt eine durchdachte, sowohl auf die kleinteilige (poetische) Anordnung der einzelnen Teile innerhalb des Liedes selbst als auch auf die (dra‐ maturgische) Wirkung der Parodos im Ganzen abgestimmte Gestaltungsabsicht zu Grunde. Die überreiche poetisch-sprachliche Ausgestaltung, die Fülle an aufgerufenen Motiven und Themen kann und soll hier nicht umfassend behandelt werden. Folgende Punkte sollen erwähnt werden. Formal gesehen ist die Parodos ein Hymnos, in dem die thebanischen Greise gewissen Gottheiten bzw. personifiziert-vergöttlichten Entitäten (Licht) den Dank für die Errettung ihrer Stadt abstatten. Auch wenn dabei einzig das Licht

393

Auf die Einleitung der zweiten Gegenstrophe (v. 147) ist bereits hingewiesen worden. Inwieweit allerdings die zu Beginn des zweiten anapästischen Systems vorgebrachte Aussage über Zeusʼ Hass gegenüber Prahlerei eine Begründung der in der ersten Ge‐ genstrophe ausgestalteten Bildwelt sein soll, erschließt sich kaum. Dagegen ist die Ver‐ bindung der zweiten Strophe zum dritten anapästischen System stringenter.

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III. Greisenchöre

konkret angerufen wird, sind mit Zeus (v. 128, 143), Ares (v. 126, 139) und Nika (v. 147) drei Götter als Handlungsträger der Geschehnisse genannt. Darüber hinaus bildet der Wunsch, Dionysos möge den Reigen der dankbaren Thebaner anführen, den lokaltheologischen Abschluss des aufgerufenen Panoramas gött‐ licher Mächte. Weitere genuin hymnische Aspekte des Liedes394 leisten einen entscheidenden Beitrag zur Rahmung der Parodos: So im Besonderen die beiden Epiphanie-Geschehen (Aufscheinen des Lichtes v. 103 sowie das Kommen Nikas v. 147), die geradezu überbordende Fülle an Adjektiven und Attributen395 sowie der gezielte Aufruf, den Dank an die Götter in einer kultischen Handlung fort‐ zuführen. Im Zusammenwirken von Emotion und Kultus entfaltet die Parodos dabei eine besondere Sogwirkung, die der rauschhaft-ekstatischen Siegesfreude der Greise sprachlich-poetischen Ausdruck verleiht. Welche genuin dramaturgischen, d. h. auf die Lenkung des Publikums gerich‐ teten Aspekte lassen sich nun festhalten? Von entscheidender Bedeutung für die Einordnung des Liedes ist das Verhältnis des Auftrittsliedes zum Prolog, das in der vorliegenden Tragödie von maximaler Kontrastwirkung geprägt ist. Bereits die äußeren Umstände und das Personal unterscheiden sich wesentlich vom setting der Parodos: Inszenierte die Prologszene ein intimes, heimliches Zusam‐ menkommen, so stellt der Einzug des Chores einen offiziellen Akt dar, der im Auftritt des Stadtherrn in Vers 163 gipfelt. Mit Antigone und Ismene standen sich zwei junge Frauen gegenüber,396 wohingegen mit dem Chor thebanische Greise in die Orchestra einziehen. Bereits die Personenkonstellation des Prologs forcierte die familiäre Bindung der Akteure untereinander als zentrales Motiv der gesamten Handlung: Zwei Schwestern kommen fast in unmittelbarem An‐ schluss an den Tod ihrer beiden Brüder zusammen.397 Dagegen leuchtet die Par‐ odos das Geschehen, dem letztlich ein innerfamiliärer Konflikt zu Grunde liegt, gänzlich politisch, d. h. in Hinblick auf Theben, aus und widmet sich der fami‐ liären Dimension des Geschehens nicht in extenso. Der Chor ist darüber hinaus, was den handlungstragenden Konflikt angeht, im besten Sinne ahnungslos: Weder haben die Greise Kenntnis von Kreons Be‐ fehl, noch antizipieren sie die der Situation innewohnende Brisanz – mehr noch: Das Problem einer Bestattung der Söhne des Oidipus spielt für sie keine Rolle, ihre Nacherzählung endet mit dem Tod der Gegner. Sophokles gelingt mit dieser 394 395 396 397

Zur hymnischen Gestalt des Liedes vgl. G RIFFITH (1999) S. 139 f. V.a. die bereits angesprochene Apostrophierung des Ares v. 139 f., des Weiteren v. 104, 108 et passim. Vgl. besonders Ismenes Einwände gegen Antigones Plan v. 61 f. Antigone war es dabei zugefallen, gleich mit ihrer ersten Wortmeldung die Vorge‐ schichte ihrer Familie in Gestalt ihres Vaters Oidipus wachzurufen (v. 2 ff.).

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besonders forcierten Konstruktion des unwissenden Chores398 zweierlei: Zum einen maximiert er den Kontrast zwischen Prolog und Parodos und setzt damit den Zuschauer in eine besonders privilegierte Position, zum anderen motiviert er das Kommen Kreons im folgenden Epeisodion. Dieser wird in einer offiziellen Ansprache dem Chor seinen Beschluss kundtun und so die durch Antigone im Prolog mitgeteilten Informationen durch seine eigene Rede bestätigen. Der aus der Unkenntnis des sich zusammenbrauenden Konflikts hervorbre‐ chende rauschhafte Siegesjubel der Greise steht so auch motivisch in beson‐ derem Kontrast zum Prolog:399 Gegen die düstere, vom Blick auf Leiden400 und Tod konzentrierte Thematik des Prologs setzt die Parodos den freudenvollen, zuversichtlichen Blick und eine von den tatsächlichen Gegebenheiten abwei‐ chende Einschätzung der Situation. Während also die Greise glauben, mit dem Anbruch des Tages sei die entscheidende Begebenheit (der Sieg über die Bela‐ gerer) bereits vergangen, steht das eigentliche Geschehen erst noch bevor.401 Dahingegen dienten die Andeutungen der Vorgeschichte im Prologgespräch zwischen Antigone und Ismene nur als Grundlage des von Seiten Antigones bereits abgeschlossenen Entscheidungsprozesses, was in der aktuellen Situation zu tun sei. Die schnelle Hinführung zum Gegenstand der Tragödie ließ die Zeichnung der mutig entschlossenen Hauptperson dabei umso deutlicher wirken: Antigone schien ganz und gar im Geschehen zu sein, sie war und ist die treibende Kraft des Beginns und dominiert den Verlauf der Handlung, indem sie ihren Plan mitteilt und ausführt. Der Chor dagegen unternimmt in seiner Aus‐ deutung einen zweiten, den tatsächlichen Gegebenheiten nicht entsprechenden Anlauf: Er vergegenwärtigt sich die Vergangenheit, um sich in der neuen Situ‐ ation des Friedens und der (scheinbar) wiederhergestellten Harmonie zurecht‐ zufinden. Dass er dabei einer Täuschung unterliegt und den eigentlich hand‐ 398

399 400 401

Die Situation ist im im Aias und dem Oidipus Tyrannos etwas anders: Während der Chor der salaminischen Schiffsleute zwar über die genauen Vorgänge rund um den Titel‐ helden nicht in Gänze informiert ist, weiß er dennoch um die Außergewöhnlichkeit des Geschehenen. Die thebanischen Greise des Oidipus Tyrannos haben Kenntnis von der im Prolog berichteten Ausschickung eines Botens nach Delphi (möglicherweise auch von seiner Rückkehr), sind allerdings hinsichtlich der genauen Antwort des Orakels unsicher. Mit den fragend-zweifelnden Parodoi dieser Stücke nutzt Sophokles den Wis‐ sensvorsprung des Zuschauers in ganz anderer Weise als im vorliegenden Stück. Vgl. M ÜLLER (1967) S. 47: „Die Ahnungslosigkeit des Chors über das tödliche Problem, das der Prolog vor uns hinstellte, bewirkt einen starken Kontrast zwischen Prolog und Parodos“. So schon Antigones generelle Einschätzung v. 2 sowie ihre selbstgewisse Haltung, auch den eigenen Tod in Kauf zu nehmen v. 72 f. Vgl. M ÜLLER (1967) a. a. O.: „Der Tag, der eben beginnt, scheint Segen zu bringen, er wird in Wahrheit Unheil bringen“.

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III. Greisenchöre

lungsauslösenden Umstand als tragische Note innerhalb der sonst vom triumphalen Siegesgestus getragenen Rekapitulation erwähnt, lädt die gesamte Passage mit besonderer tragischer Ironie auf. Die Einblendung der politischen, rückblickenden Partie kontrastiert zudem mit der Familienthematik des Prologs. Während Antigone bereits von Beginn an die Familiengeschichte rund um Oidipus (v. 1 ff.) sowie das Verhältnis der Blutsverwandtschaft zwischen ihr und Polyneikes (sowie Ismene) thematisiert (v. 45 f.), betrachtet der Chor die Vorgeschichte aus einer genuin politischen Perspektive, die im Besonderen das Verhältnis der Polis zu ihren Schutzgöttern in den Blick nimmt. Dass einzig in der Rekapitulation des gegenseitigen Bru‐ dermords (v. 143 ff.) die Familienthematik verbalisiert wird, unterstreicht die Bedeutung dieser Passage als einer den Greisen freilich unbewussten Fokussie‐ rung auf das der Handlung zu Grunde liegende Moment. So stellt das triumphierende und glücklich erleichterte Chorlied ein retardie‐ rendes Moment dar: Die Entschlossenheit und der beherzte Auftritt wie Abgang Antigones rufen direkt nach einer ebenso forschen Handlung. Der Prolog er‐ zeugt mit seinen gegenseitigen Polaritäten in den Charakteren von Antigone und ihrer Schwester sowie dem unbedingten Handlungswillen der einen eine ungeheure Spannung. Der Zuschauer ist sich bewusst, dass die Handlung hinter der Bühne während des Chorliedes weitergeht, dass Antigone in den Lauf der Dinge eingreifen wird. Das Auftrittslied des Chores verlangsamt dagegen das Erzähltempo des Dramas: Nach einem Prolog voller Energie, Entschlossenheit und angekündigter Handlung folgt ein Formelement der Reflexion. Bei aller Bildhaftigkeit der Erzählung steht doch nicht die Handlung selbst im Mittel‐ punkt, sondern Erinnerung und Aufarbeitung des Erlebten. So folgt auf einen Abschnitt großer Vehemenz und Handlungsbereitschaft eine reflektierende und im besten Sinne rückblickende Sequenz. Erstes Stasimon (v. 332 – 383)

Vor der Beschäftigung mit dem ersten Standlied soll hier kurz das erste Epeis‐ odion wiedergegeben werden. Den Impuls, das Bühnengeschehen zu verlassen, und der Selbstaufforderung, die Tempel der Götter zu besuchen (v. 152 ff.), hatte der angekündigte Auftritt Kreons unwirksam gemacht. Der umfangreiche Mo‐ nolog des Stadtherrn (v. 163 – 210) eröffnet das erste Epeisodion. Führen wir uns zunächst folgende formale Gesichtspunkte vor Augen: Das erste Epeisodion zerfällt augenscheinlich in zwei Teile: Während Kreon zu‐ nächst in Anwesenheit des Chores seinen Beschluss bezüglich der Bestattung seiner Neffen bekannt gibt und dann in ein kurzes Zwiegespräch mit dem Chor‐ führer eintritt, erweitert sich mit dem unerwarteten Auftritt des Wächters in

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Vers 223 das Personenspektrum. Der Abtritt der beiden Akteure in Vers 331 beendet daraufhin die Szene. Ein kurzer Nachvollzug des Epeisodions soll die Analyse des ersten Stasimons vorbereiten. In seiner Ansprache an die versammelten Greise entfaltet Kreon die Leitlinien, an denen er sein Handeln als Stadtherr ausrichten möchte. Der programmatische Monolog soll aus gegebenem Grund etwas näher betrachtet werden. Zunächst lobt Kreon die auf sein Geheiß (ἔστειλʼ ἱκέσθαι v. 165) er‐ schienenen Greise für ihre besondere Treue gegenüber Laiosʼ Thron, d. h. dem Machtanspruch der Labdakiden. Nachdem nun, so Kreon, die beiden Söhne des Oidipus gestorben sind, habe er auf Grund seiner Verwandtschaft mit den Ge‐ töteten alle Macht und die „Throne“ inne (v. 173). In einem thematisch ausgrei‐ fenden Bogen verbalisiert Kreon im Folgenden einige grundlegende Gedanken: Für ihn ist die Polis und ihr Wohlergehen Maßstab jeden Handelns; nur aus seiner Haltung gegenüber Gesetzen und (staatlicher) Autorität lasse sich der wahre Charakter eines Menschen erkennen (v. 175 f.). Von einer Führungsperson verlangt Kreon das Ergreifen „bester Ratschlüsse“ (ἀρίστων βουλευμάτων v. 179), wohingegen er Feigheit und daraus resultierende Entscheidungsschwäche entschieden verdammt. Er selbst verschreibt sich daraufhin ganz der Regierung der Polis: Weder werde er schweigen, wenn er bemerkt, dass sich Unheil der Stadt nähere (v. 185 f.), noch werde er je mit einem der Stadt feindlich gesinnten Menschen Freundschaft schließen (v. 187 ff.): Auch bei der Wahl von Freunden sei schließlich die Polis das entscheidende Kriterium. Der resümierende Vers 191 schließt daraufhin den ersten, allgemeinen Teil des Monologs. Mit καὶ νῦν (v. 192) kommt Kreon daraufhin auf die aktuelle Situation zu sprechen und wie‐ derholt seinen Beschluss, den er bereits gefasst hat: Eteokles, der im Kampf für die Stadt gefallen ist, solle eine ehrenvolle Bestattung zukommen, der Körper des Polyneikes dagegen solle ohne entsprechende Zeremonien und die rituelle Klage (μήτε κωκῦσαι v. 204) unbegraben als Fraß für Vögel und Hunde liegen bleiben. Damit sieht sich der Stadtherr ganz auf der Linie der von ihm entwi‐ ckelten allgemeinen Gedanken: Der aktuelle Beschluss sei diesen geradezu „ver‐ wandt“ (ἀδελφά v. 192). Den Abschluss des Monologs bildet eine zweite resü‐ mierende Formel, mit der Kreon bekräftigt, nur den auch über den Tod hinaus zu ehren, der sich durch Wohlwollen gegenüber der Polis auszeichnete. Die vier Verse umfassende Reaktion des Chorführers im Anschluss an den Monolog sind von besonderer Ambivalenz geprägt: Ihm, Kreon, stehe es zu, in dieser Art gegen den der Stadt feindlich Gesinnten (τῇδε δύσνουν v. 212) wie

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III. Greisenchöre

auch den Wohlmeinenden (εὐμενῆ) zu handeln;402 er könne darüber hinaus jedes Gesetz gegenüber Lebenden wie Toten gebrauchen. Dass dieser direkten Reak‐ tion auf Kreons Ansprache einige Bedeutung zukommt, lässt sich bereits an einer Formalie beobachten: Sophokles weist dem Chor hier nicht nur den stan‐ dardisierten Doppelvers zur Kommentierung einer Rhesis zu,403 sondern lässt den Chorführer in vier Versen eine zweigliedrige Aussage treffen, die sowohl den konkreten Einzelfall (Eteokles und Polyneikes), als auch die grundlegende Machtfülle des Herrschers thematisiert. Wir müssen hier kurz innehalten, da die Interpretation dieser Verse die Ein‐ schätzung des Chors, seiner Rolle und seiner Funktion innerhalb der Drama‐ turgie wesentlich beeinflusst. Für M ÜLLER stellt die Äußerung des Chorführers eine Erklärung dar, „wie sie unterwürfiger nicht sein könnte“;404 sie mache „den Chor zum bedingungslos gehorchenden Untertanen“.405 G RIFFITH dagegen er‐ kennt zwar die der Äußerung innewohnende Loyalität des Chors gegenüber dem Machthabenden an und konstatiert, dass die Greise Kreons Entscheidung akzeptieren, hält aber fest: „the Chorus refrain from approving it [die Entschei‐ dung]“ und überträgt die entscheidende Passage: „Thatʼs what you want to do […] well, itʼs your privilege“.406 Eine Mittelstellung zwischen der Anschauung M ÜLLERs (gehorsame Unterwerfung unter Kreons Edikt) und der von G RIFFITH (vordergründige Akzeptanz, innere Opposition) nehmen J EBB und K AMERBEEK ein. Während ersterer – der originalen Gesprächssituation sowie der sprachli‐ chen Gestaltung angemessener – überträgt „Such is my lordʼs pleasure. And, of course, he can do as seems him good“ und festhält: „The Chorus do not oppose Creon; but they feel a secret misgiving; they wish at least to remain passive“,407 fasst K AMERBEEK zusammen:

402 403

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Das von den meisten Herausgebern aus gutem Grund in den Text gesetzte ποεῖν ist eine Randnotiz der MSS, die Martin als Konjektur statt des überlieferten Vokativs Κρέον aufgenommen hat. Gegen ποεῖν wendet sich M ÜLLER (1967) und schlägt λαβεῖν vor. Auch wenn hier kein anderer Schauspieler auf der Bühne ist, der Chor(führer) also den alleinigen Gesprächspartner des redenden Akteurs darstellt, kann die Kommentierung eines ausführlichen Monologs nur“ durch einen Doppelvers erfolgen: Aias v. 331 f. (nach Tekmessas Monolog), Elektra v. 310 f. (nach Elektras Monolog). Die unserer Stelle (auch inhaltlich) vergleichbare Partie Oidipus Tyrannos v. 276 enthält dagegen ein wirkliches statement des Chors und rechtfertigt so die Verdoppelung des standardisierten Umfangs entsprechender Kommentierungen von Seiten des Chors. M ÜLLER (1967) S. 61. Ders. S. 68. G RIFFITH (1999) S. 163. (Heraushebung im Original durch Kursivdruck). J EBB (1891) S. 49.

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The Coryphaeus answers in a rather non-committal way, mentioning, perhaps not without a critical intention, Creonʼs absolute power to enact laws for the living and the dead.408

Mit den beiden zuletzt zitierten, eher vorsichtigen, die Ambivalenz der chori‐ schen Aussage betonenden Einschätzungen ist meines Erachtens viel ge‐ wonnen; jede einseitige Interpretation der Verse, die die vom Dichter bewusst lancierte Doppelbödigkeit außer Acht lässt, oder den Fokus im Gegenzug einzig auf verblümte Herrscherkritik legt, wird weder der Stelle selbst noch der spe‐ zifisch dramaturgischen Funktion des Chors gerecht, im ersten Teil der Tragödie als ambivalente Stimme thematische Stränge zu vertiefen, die Perspektiven zu erweitern und gegebenenfalls durch die Einblendung anderer Deutungsebenen das Bühnengeschehen zu konterkarieren. Das folgende kurze Wechselgespräch zwischen Kreon und dem Chor(-führer) können wir mitsamt dem zweiten Teil des Epeisodions dagegen rasch abhan‐ deln. Kreon überträgt den Greisen die Oberaufsicht über die Einhaltung seines Edikts (σκοποί νυν ἦτε v. 215), wohingegen an der Leiche selbst bereits Wächter (ἐπίσκοποι v. 217) positioniert seien. Dass Übertretungen des Bestattungsver‐ bots mit dem Tod bestraft werden, erwähnt Kreon in einem Nachsatz (v. 220), nachdem es der Chor bereits als selbstverständlich vorausgesetzt hat. Mit dem unerwarteten Auftritt eines der eben erwähnten Wächter in Vers 223 endet der erste Teil des Epeisodions. Machen wir uns bewusst: Der Auftritt des Stadtherrn, seine Ansprache und das kurze Zwiegespräch bildeten eine relativ statische, ganz auf Kreon zentrierte Szene, der das Bühnengeschehen dominierte. Mit dem Kommen des Wächters, der nach umständlichen Ausführungen über seine Person, seine Angst, die Nachricht zu überbringen, und der Versicherung, selbst keinen Anteil am Ge‐ schehen zu haben, seine eigentliche Botschaft vermeldet (v. 245 ff.), dynamisiert sich das Geschehen wesentlich. Mit dem ausführlichen Bericht von der ver‐ suchten Bestattung des Polyneikes, konkret: der zu kultischen Reinigungszwe‐ cken dem Leichnam aufgelegten dünnen Schicht Staub (v. 249 – 277) durch einen ihm bisher unbekannten Täter tritt der hinterszenische Bereich als Ort eminent wichtiger Handlungen in den Blick. Für den informierten Rezipienten des Stücks ist offensichtlich: Der von Antigone im Prolog gegebene Handlungsimpuls hat seine Verwirklichung erfahren. Unmittelbar auf den Monolog des Wächters reagiert der Chorführer mit einem Doppelvers (v. 278 f.): Er gibt zu bedenken, dass die berichtete Aktion möglicherweise göttlichen Ursprungs sein könnte; diese Überlegung hege er 408

K AMERBEEK (1967) S. 12.

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III. Greisenchöre

schon lange. Kreons Antwort ist von besonderer Schroffheit und Zorn geprägt: Der Gedanke, dem Leichnam des Stadtfeindes könne göttliche Fürsorge zu‐ kommen, ist ihm unerträglich (v. 282 ff.). Hinter der Bestattungsaktion vermutet er durch Aussicht auf Entlohnung verdingte Täter, denen seine ganze Verach‐ tung gilt. Sein Monolog (v. 280 – 314), in dem er den verderblichen Einfluss des Geldes und der Bestechung eindrücklich schildert, bildet in formaler Hinsicht das Gegenstück zur Botenrede des Wächters. Der sich anschließende Wort‐ wechsel inszeniert den Abgang des Wächters, dem Kreon unter Androhung empfindlicher Strafe das Auffinden der für die Bestattung Verantwortlichen aufträgt. Mit der erleichterten Wortmeldung des Wächters sowie seiner An‐ kündigung, Kreon werde ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen, schließt das Epeisodion mit dem Abtritt beider Akteure. Die Konstruktion, Antigone hinterszenisch nach dem ersten einen weiteren Be‐ stattungsversuch unternehmen zu lassen, dabei ertappt und schließlich Kreon vorgeführt zu werden, ermöglicht es dem Dichter, der erwarteten Konfrontation der beiden Antagonisten Kreon und Antigone eine weitere Szene vorauszuschi‐ cken: das rekapitulierte erste Epeisodion. Dramaturgisch ist damit einiges ge‐ wonnen: Zum einen dient der erste Teil des Epeisodions (v. 163 – 222) zur Cha‐ rakterisierung Kreons. Hatte das Prologgespräch den Charakter der Titelheldin exponiert, so ist nach Kreons Ansprache auch der zweite Antagonist des Ge‐ schehens vollständig etabliert. Die Passage trägt so noch ganz expositorischen Charakter; ihr Informationsgehalt geht dabei einzig in der genauen Zeichnung Kreons über den Prolog hinaus, da sonst keine relevanten Fakten mitgeteilt werden. Zum anderen werden vorder- und hinterszenischer Bereich besonders eng miteinander verwoben: Die hinterszenische Aktion konterkariert die vor‐ derszenische offizielle Verkündung des Edikts und gibt den nötigen Impuls, um den statischen ersten Teil endgültig in wirkliche Bühnenhandlung zu über‐ führen. Am Ende des ersten Epeisodions hat sich die Stimmung im Gegensatz zu seinem Beginn völlig gewandelt: Der Wortwechsel mit dem Wächter hat in der schroffen Reaktion Kreons auf die Nachricht von der Bestattung des Polyneikes ihr Ende gefunden. Damit ist das zentrale Ereignis des Dramas, die Überschrei‐ tung des herrschaftlichen Edikts durch Antigone, in den Fokus gerückt. Kreons Wut und Entrüstung bilden dabei die sinnfällige Folge der in seiner Ansprache an den Tag gelegten allgemeinen Maßstäbe. Die jubelnd-überschwängliche Stimmung der Parodos hat keine Antwort gefunden, sondern scheint durch den Lauf der Geschehnisse bereits jetzt obsolet zu sein. Der durch den Prolog infor‐ mierte Zuschauer und Leser kann darüber hinaus die Situation richtig einordnen

3. Antigone

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und angesichts der Schärfe von Kreons Reaktion den bevorstehenden Konflikt vorausahnen. Der Abtritt der am Bühnengespräch beteiligten Personen und die im An‐ schluss daran leere Bühne führt die Szene dabei zu einem bewussten Ende. An‐ ders als nach dem zweiten und dritten Epeisodion, an deren Ende Kreon auf der Bühne verbleiben wird, folgt mit dem ersten Stasimon an unserer Stelle eine lyrische Partie des Chors, die dieser ganz für sich und ohne potentiellen inner‐ dramatischen Adressaten von sich gibt. Wie schon in der Parodos, so kommt also an unserer Stelle die genuine Stimme des Chors zu Wort; es gilt, sich bei der Interpretation des Liedes diesen Umstand zu vergegenwärtigen. In unserer Betrachtung kommen wir nun zum ersten Standlied selbst. Auf Grund seiner allgemeinen, umfassenden Thematik, der anspielungsreichen, wenig konkreten Sprache und seiner besonderen poetischen Qualität ist es eine der meist gelesenen, am weitesten bekannten (chor-)lyrischen Partien des griechi‐ schen Altertums.409 Wie kaum ein anderes Werk der Chordichtung wurde dieses Stasimon immer wieder analysiert und gab Anlass zu umfangreichen Betrach‐ tungen: Neben Fragen hinsichtlich seiner Bedeutung und Einordnung innerhalb des Dramas suchte man hier nicht nur eine umfassende Kulturentstehungs‐ lehre,410 sondern versuchte zudem, die persönliche Ansicht des Sophokles, seine ganz eigene Bewertung des Bühnengeschehens und der Geistesgeschichte im Allgemeinen zu finden. Angesichts der schier unüberschaubaren Literatur und Verarbeitung des Liedes ließe sich die Beschäftigung mit der (sophokleischen) Chorlyrik geradezu in nuce ablesen. Die Aufgabe dieser Arbeit kann und soll es nicht sein, diese Positionen vorzustellen oder selbst eine umfassende Interpre‐ tation der im Lied vorgebrachten Gedanken zu liefern.411 Das Chorlied soll hier vielmehr unter genuin dramaturgischen Aspekten in den Blick genommen werden. Es ist dementsprechend nicht nötig, hier eine jedes Detail des Liedes wiedergebende oder kommentierende Deutung zu geben;412 eine generelle Re‐ kapitulation ist allerdings angebracht, um in einem zweiten Schritt die drama‐ turgischen Implikationen herausstellen zu können. Mit einer zweiteiligen generellen Aussage beginnt das Stasimon:

409 410 411 412

Vgl. G RIFFITH (1999) S. 179: „This is perhaps the most celebrated song in all Greek tra‐ gedy (often referred to as the ‚Ode to Man‘)“. Vgl. U TZINGER (2003). Periphrades Aner: Untersuchungen zum ersten Stasimon der So‐ phokleischen „Antigone“ und zu den antiken Kulturentstehungstheorien (Diss.), Göt‐ tingen. Zu diesem Zweck sei auf U TZINGER (2003), im Besonderen S. 9 – 11 verwiesen. Vgl. U TZINGER (2003) S. 24 – 38.

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III. Greisenchöre

πολλὰ τὰ δεινὰ κοὐδὲν ἀνθρώπου δεινότερον πέλει Viele gewaltige, bewundernswürdige Dinge gibt es, aber nichts ist gewaltiger und bewundernswürdiger als der Mensch. (v. 332 f.)

Damit ist das Thema des Liedes angegeben und eine Überschrift gesetzt. Ge‐ genstand der Überlegungen und Ausführungen des Chors ist im Folgenden eine Eigenschaft des Menschen, die ihn in besonderer Weise vor allen anderen Le‐ bewesen auszeichnet: seine δεινότης. Schon die Übersetzung der beiden Verse deutet die enorme Bandbreite des Adjektivs δεινός an: Angefangen von „furcht‐ einflößend, schrecklich“ über „großartig, fabelhaft, mächtig“ bis zu „gewitzt, kenntnisreich“413 bezeichnet es alle ein gewöhnliches Maß übersteigenden Ei‐ genschaften. Welche Disposition des Menschen damit konkret gemeint ist, führen die folgenden Verse aus. In einer weiten Priamel (v. 334 – 364) entfaltet der Chor bildmächtig das Panorama herausragender menschlicher Zivilisationsund Kulturleistungen.414 Die Anordnung der einzelnen Glieder unterliegt dabei einem kunstvollen Schema: Zunächst rückt die Herrschaft des Menschen über die Erdoberfläche in den Blick. Der Mensch, so der Chor, bewege sich durch den bzw. beim „winterlichen Südwind“ (χειμερίῳ νότῳ415 v. 335) über das fahle Meer (πολιοῦ πόντου), indem er unter den Wellen hindurchdringe, und wühle die „unvergängliche, unermüdliche Erde“ (Γᾶν ἄφθιτον, ἀκαμάταν v. 338 f.), die höchste der Gottheiten, unter dem Hin und Her der Pflüge Jahr für Jahr auf, indem er sich der Pferde zum Pflügen bediene. Die erste Strophe ist somit neben der generellen Aussage über die herausra‐ gende δεινότης des Menschen von zwei konkreten Bildern geprägt, die zugleich den weiten Rahmen menschlichen Einflusses darstellen: Meer und Erdober‐ fläche umfassen alle dem antiken Menschen zugänglichen Bereiche.416 Mit Schifffahrt und Ackerbau sind dabei zugleich zwei grundlegende Kulturleis‐ tungen des Menschen thematisiert. Die sprachliche Gestaltung der Strophe ver‐ dient zudem besondere Aufmerksamkeit. Der Zweigliedrigkeit der an die Spitze gestellten allgemeinen Aussage entspricht die Aufteilung der Periode: Auch hier 413 414 415

416

LSJ s.v.: „fearful, terrible […] marvellously strong, powerful […] clever, skilful“. G RIFFITH (1999) S. 179: „the extraordinary achievements of human civilization“. Die Funktionalisierung des Dativs ist umstritten: J EBB (1891) S. 70 lehnt die Deutung als Zeitangabe (dat. temp.) entschieden ab, erwägt einen dat. modi (Angabe der Nebenum‐ stände) und plädiert mit einiger Vorsicht für einen dat. instrumentalis; G RIFFITH (1999) S. 186 will unter Angabe einer homerischen Parallele die Angabe des Urhebers (dat. auctoris) erkannt haben. G RIFFITH (1999) S. 185 spricht zu Recht von einer „‘polar’ or ‘universalizing’ doublet: sea and land“.

3. Antigone

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werden zwei Gedanken (Schifffahrt und Ackerbau als Ausdruck der menschli‐ chen δεινότης) reihend nebeneinander gestellt (καί v. 334 – τε v. 338). Hinsicht‐ lich ihres Aufbaus entsprechen sich die beiden Sätze dabei augenscheinlich: Nach der Angabe des jeweiligen Einflussgebiets (in Form eines Präpositional‐ ausdrucks im ersten Satz πολιοῦ πέραν πόντου, eines Akkusativobjekts im zweiten θεῶν τὰν ὑπερτάταν) folgt die Angabe von Begleitumständen (Dativ χειμερίῳ νότῳ, gen. abs. ἰλλομένων ἀρότρων), bevor je ein in leichter Inkon‐ gruenz zu τοῦτο (v. 334) auf gedachtes ἄνθρωπος zu beziehendes Partizip (περῶν sowie πολεύων) den Gedanken abrundet. Den Alliterationen von p und a ver‐ danken die jeweiligen Sätze ihre besondere klangliche Färbung und Geschlos‐ senheit. Die Erwähnung der Pferde (v. 341) leitet zur ersten Gegenstrophe über, in der das Verhältnis des Menschen zu den Tieren im Mittelpunkt steht:417 Der Mensch „führe“ (ἄγει) sowohl die Vögel (φῦλον ὀρνίθων v. 342), die Arten der Wildtiere zu Land als auch die Bewohner des Meers. Besonders wirkungsvoll ist dabei die Angabe des Subjekts περιφραδὴς ἀνήρ an den Schluss der Aufzählung gestellt (v. 347). Der mit dem Prädikat κρατεῖ eingeleitete zweite Teil der Gegenstrophe konkretisiert den Blick auf die Landtiere und ihre Nutzbarmachung durch den Menschen: Er herrsche durch nicht weiter bezeichnete Kunstgriffe (μηχαναῖς v. 349) über das wilde, an Berghängen wohnende Tier (wahrscheinlich die Ziege418) und zügele sowohl das „langmähnige“ Pferd als auch den nicht ermü‐ denden Bergstier mit dem um den Nacken gelegten Joch. Mit dieser Verwendung der Tiere als Jochträger ist die Thematisierung der Landwirtschaft aus der ersten Strophe wieder aufgenommen. Darüber hinaus erweitert der Blick auf die menschliche Herrschaft über die Vögel das aufgeru‐ fene Panorama des menschlichen Einflusses um die Sphäre der Luft, die dem Menschen zwar nicht gangbar ist, deren Bewohner allerdings durch den Men‐ schen gefangen (ἀμφιβαλῶν v. 343) werden und somit dessen umfassender δεινότης unterworfen sind.

417

418

Der Text der Gegenstrophe ist in einigen Punkten umstritten. Während L LOYD -J ONES / W ILSON (1990) in Vers 343 den überlieferten Text wieder herstellen (ἄγει), folgen sie in Vers 351 den durchaus zu rechtfertigenden Konjekturen von Schöne bzw. Schöne und Franz; G RIFFITH (1999) konjiziert in Vers 351 selbst. Zur Diskussion vgl. K AMERBEEK (1978) S. 83 „Three different animals are mentioned and the first must be the (wild) goat“, sowie G RIFFITH (1999) S. 187, der zwar angibt „Sheep and goats might seem the most obvious candidates“, allerdings dafür plädiert, den ersten Teil von Vers 350 als generalisierende Aussage zu verstehen („we should probably re‐ gard it as explanatory“) und mit dem Pferd und dem Ochsen die Erwähnung von nur zwei konkreten Arten anzunehmen.

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III. Greisenchöre

Mit der in der Mitte der Gegenstrophe positionierten Junktur περιφραδὴς ἀνήρ (v. 347) ist eine zweite Charakterisierung des Menschen gegeben, die als Konkretisierung der einleitenden Verse zu verstehen ist: Die δεινότης des Men‐ schen äußert sich in seiner umfassenden Klugheit, als deren praktische Aus‐ wirkungen die angeführte Herrschaftsstellung des Menschen gegenüber der Natur zu betrachten ist. Das erste Strophenpaar ist in sich thematisch und motivisch geschlossen. Als zentrales Thema entfaltet es die umfassende Verfügung des Menschen über die Natur. Während sich dabei die Strophe auf den menschlichen Einfluss gegenüber Wasser und Erdoberfläche in Form von Schifffahrt und Landwirtschaft kon‐ zentriert, präsentiert die Gegenstrophe den Menschen im Verhältnis zu den Tieren, die er fängt, führt und für seine Zwecke nutzbar macht. Die zweite Strophe lenkt zunächst den Blick vom Verhältnis des Menschen gegenüber der Natur hin auf inner- und zwischenmenschliche Eigenschaften. Der Übergang zum ersten Strophenpaar bleibt unbezeichnet: Die Aufzählung zu Beginn der zweiten Strophe erfolgt in Form mehrerer Glieder, denen je ein καί vorangestellt ist. Die erste dieser Konjunktionen mag dabei als anreihende Ver‐ bindung zum vorherigen Strophenpaar wahrgenommen werden, eine wirkliche logische Verbindung zwischen den beiden Strophenpaaren liegt allerdings nicht vor. Der Mensch habe sich, so der Chor, „Lautäußerung“, d. h. Sprache (φθέγμα), „windschnelles Denken“ (ἀνεμόεν φρόνημα) und „städteordnenden Eifer“ (ἀστυνόμους ὀργάς) gelehrt. Das Prädikat ἐδιδάξατο verdeutlicht dabei sowohl lexikalisch („lehren“) den Reflexionsprozess, der zu den genannten Errungen‐ schaften führte, als auch durch seine grammatische Form (Medium) die Einheit von Erfinder und Nutznießer der Kulturleistungen.419 Im Folgenden bricht die Konstruktion leicht: Waren zunächst drei Akkusativobjekte von ἐδιδάξατο ab‐ hängig, so erfolgt die Nennung der vierten Errungenschaft in Form eines Infi‐ nitivs: Der Mensch habe sich gelehrt, vor den Geschossen des Frosts und vor Regenschauern unter freiem Himmel zu fliehen, d. h. durch den Bau wetterfester Behausungen Schutz vor der Witterung zu erlangen. Als Fortführung der eben entfalteten staatsbildenden Tendenzen ist hier wohl nicht nur an primitive Be‐ hausungen, sondern auch an größere Ansiedlungen bzw. an die konkrete Aus‐ gestaltung von Stadtgründungen bzw. -planungen zu denken. Wirkungsvoll an den Schluss der Periode ist mit παντόπορος ein dem Subjekt ἄνθρωπος zukommendes Adjektiv gestellt. Damit findet sich auch in dieser Strophe eine weitere Konkretisierung der δεινότης: Der Mensch weiß sich in

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G RIFFITH (1999) S. 188: „a rare use of the middle as reflexive“.

3. Antigone

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allen Lagen zu helfen; er begegnet den verschiedenen Anforderungen der Um‐ welt an ihn mit besonderer Gewandtheit und zeichnet sich durch eine heraus‐ ragende Lösungsorientiertheit aus. Die Unbedingtheit dieser Disposition entfaltet e negativo die kurze Aussage, der Mensch gehe keinem zukünftigen Geschehen (τὸ μέλλον) ratlos entgegen. Dass παντόπορος und ἄπορος direkt aufeinander folgen, ist dabei sinnfälliger sprachlicher Ausdruck der zugespitzten Aussage und verleiht der Mitte der Strophe besonderes Gewicht. Mit dem Tod thematisiert der Chor anschließend die einzige Grenze des menschlichen Erfindungsgeistes (v. 361 f.): Einzig die Flucht vor dem Tod werde sich der Mensch nicht verschaffen (οὐκ ἐπάξεται v. 362), wohingegen „Flucht‐ möglichkeiten“ (φυγάς) selbst aus eigentlich unheilbaren Krankheiten (νόσων ἀμηχάνων) bereits ersonnen worden sind. Neben der eindrucksvollen Kontrastierung der beiden Adjektive in Vers 360 ist vor allem der Tempusgebrauch in der vorliegenden zweiten Strophe bemer‐ kenswert. Hatte das erste Strophenpaar die Zivilisations- und Kulturleistungen des Menschen im geradezu überzeitlichen Präsens formuliert,420 so blickt der Chor zu Beginn der vorliegenden Strophe zunächst dezidiert in die Vergangen‐ heit (ἐδιδάξατο), um mit ἐπάξεται die Ausweglosigkeit des Menschen gegenüber dem Tod auch als in Zukunft geltende Wahrheit zu verbalisieren. Das abschlie‐ ßende Perfekt ξυμπέφρασται stellt dazu in seinem resultativen Aspekt einen besonderen Kontrast dar: Der Mensch hat die Fluchtmöglichkeiten ersonnen und nutzt sie aktuell.421 Mit der zweiten Strophe hat der Überblick über die Kulturleistungen sein Ende gefunden. Der Beginn der zweiten Gegenstrophe setzt der Aufzählung der ein‐

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Die einzige Ausnahme bildet das durch die Konjektur ὀχμάζεται ersetzte, allerdings schwer zu erklärende Futur ἄξεται v. 351. K AMERBEEK (1978) S. 83 ad locum versucht, es als Angabe einer allgemeinen Wahrheit zu deuten und verweist dazu auf KG I, § 287,3 S. 171; dort allerdings ist vermerkt, das Futur finde sich zuweilen in der be‐ nannten Funktion, „jedoch nur dann, wenn zugleich eine Hinweisung auf die Zukunft ausgedrückt werden soll“. Als Musterbeispiel aller drei für die Verbalisierung allge‐ meiner Gedanken gebräuchlichen Tempora (Präsens, Aorist, präsentisches Perfekt) sowie des Futurs wird daraufhin eben die in Rede stehende Passage Antigone v. 348 ff. angeführt, wobei allerdings die Konjektur ὀχμάζεται (als solche gekennzeichnet) ge‐ lesen wird. Als exemplarisch für das Futur zur Verbalisierung allgemeiner Wahrheiten wollen K ÜHNER /G ERTH demnach nicht das von ihnen ersetzte ἄξεται, sondern ἐπάξεται verstanden wissen und übersetzen demgemäß: „die Flucht vor dem Hades wird er (durch seinen Verstand) nicht herbeiführen“. Vgl. K AMERBEEK (1978) S. 85: „the perfect emphasizes the fact that such remedies exist“. Heraushebung im Original durch Kursivdruck.

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III. Greisenchöre

zelnen Momente eine allgemeine Aussage entgegen, die über ihre Bezugnahme zum ebenfalls allgemeinen Beginn des Stasimons ein neues Moment in die Re‐ flexion einflicht: Zum ersten Mal innerhalb des Stasimons benutzt der Chor moralische Begriffe, um das Handeln des Menschen zu klassifizieren. Der Mensch, über seine Erwartung ausgestattet mit einem μηχανόεν τέχνας (K AMERBEEK: „the resourcefulness of his technical skill“,422 G RIFFITH: „this resourceful of invention“,423 deutsch etwa: „seine geschickte Erfin‐ dungsgabe“, U TZINGER: „die Kunst der Erfindung (Talent zur Techne)“424) komme dabei bald zu Schlechtem (τοτὲ μὲν κακόν), bald zu Gutem (ἄλλοτʼ ἐπʼ ἐσθλόν). Den Maßstab, an dem sich die so postulierte moralische Qualität menschlicher Zivilisations- und Kulturleistungen zu messen hat, entfaltet der Chor im di‐ rekten Anschluss in Form des auf das Subjekt (gedachtes ἄνθρωπος) bezogenen Partizips: νόμους γεραίρων425 χθονὸς θεῶν τʼ ἔνορκον δίκαν [sc. zu Gutem macht sich der Mensch auf,] indem er die Gesetze des Landes und das unter Eid gebundene Recht der Götter ehrt (v. 368 f.)

Die schlagkräftige Zusammenfassung dieser Disposition erfolgt mit dem auf das Subjekt bezogenen (quasi-)Hapax426 ὑψίπολις: Derjenige, der die ihm innewoh‐ nende δεινότης sich solchermaßen im Einklang mit den Gesetzen entfalten lässt,

422 423 424 425

426

K AMERBEEK (1978) S. 85. G RIFFITH (1999) S. 189. U TZINGER (2003) S. 24. Das überlieferte παρείρων („einsetzend“) ist sicherlich korrupt; weder können die Rechtfertigung der Herausgeber L LOYD -J ONES /W ILSON S OPHOCLEA (1990) S. 124 trotz der vermeintlichen Vergleichsstellen noch U TZINGERS (2003) Eintreten für die Beibe‐ haltung des überlieferten Textes S. 18 f. überzeugen. Ich schließe mich hier mit G RIF‐ FITH (1999) der verbreiteten Konjektur von Reiske an. Neben der vorliegenden Stelle erscheint das Wort einzig noch in der Scholiennotiz ad locum.

3. Antigone

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hat einen hohen Stand innerhalb der Polis inne.427 Damit ist deutlich gemacht, dass unter den „Gesetzen des Landes“ dezidiert die Vorschriften der Polis als maßgebender Instanz verstanden werden. Dem umfassenden Charakter der Polis als sowohl politischer als auch kultischer Gemeinschaft entspricht dabei die besondere Betonung der Zusammengehörigkeit von νόμοι χθονός und θεῶν δίκα. In scharfem Kontrast folgt auf die schlagwortartige Charakterisierung des lobenswerten Verhaltens als ὑψίπολις das Gegenteil: Demnach ist ein ἄπολις (K AMERBEEK: „‘outcast from the state’“428), wem sich aus Wagemut (τόλμας χάριν) das Nicht-Schöne zugesellt (ξύνεστι v. 371). Die besonders herausgeho‐ bene Gegeneinanderstellung der konträren Adjektive ist dabei eine Wiederauf‐ nahme der in Vers 360 (παντόπορος – ἄπορος) bereits wirkungsvoll kompo‐ nierten Struktur. Gemäß dieser Analogie schließt sich an ἄπολις eine Definition an (v. 370 f.), die die chiastische Anordnung des Gefüges (Definition – ὑψίπολις – ἄπολις – Definition) komplettiert. Mit dem letzten Satz des Stasimons (v. 373 – 375) kommt zum ersten und ein‐ zigen Mal der Chor mit seiner dezidiert eigenen Meinung in Form eines Wun‐ sches zu Wort: Jemand, der „dieses“ (τάδʼ) ins Werk setzt, solle ihm, dem Chor, weder Haus- noch Gesinnungsgenosse (μήτʼ ἐμοὶ παρέστιος μήτʼ ἴσον φρονῶν) werden. Mit dieser persönlichen Anmerkung schließt der lyrische Teil der Chor‐ partie; die sich anschließenden Anapäste (v. 376 – 383) sind die Auftrittsankün‐ digung für Antigone, die inhaltlich bereits zum folgenden Epeisodion gehören. Machen wir uns im Rückblick auf die zweite Gegenstrophe und ihre Beziehung zum restlichen Lied Folgendes klar: Die konkrete Aufzählung der Kulturleis‐ tungen in den ersten eineinhalb Strophenpaaren war durch die ambivalente ‚Überschrift‘ πολλὰ τὰ δεινά429 eingeleitet worden. Ihre bildgewaltige Darstel‐

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428 429

In der von G RIFFITH (1999) S. 189 eröffneten Alternative („we may understand both (i) ‘ …his city is high […]’ […] and (ii) ‘He is high in his city […]’“) tendiere ich zu letzterem; vgl. K AMERBEEK (1978) S. 86 ad locum „‘ of high distinction in the city’“; sowie U TZINGER (2003) S. 37 f., der zudem S. 38 zu bedenken gibt: „Auch für jemanden, dessen Muttersprache Griechisch war, muss ein solches Kompositum, zumal wenn es sich um einen Neologismus handelt, schwierig und nicht eindeutig zu verstehen ge‐ wesen sein, wenn seine Bedeutung nicht durch den Kontext noch zusätzlich verdeut‐ licht wurde“. Das sieht U TZINGER hier mit gutem Grund durch die Kontrastierung mit ἄπολις als gegeben an und plädiert dafür, ὑψίπολις mit „von hoher Stellung in der Stadt“ wiederzugeben. K AMERBEEK (1978) S. 86. Dass dabei die das Lied einleitende Junktur πολλὰ τὰ δεινά im griechischen Sprachge‐ brauch zunächst negative Assoziationen aufzurufen vermag, erwähnt U TZINGER (2003) S. 31.

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III. Greisenchöre

lung erfolgte daraufhin – zumindest expressis verbis – wertfrei: Die Choreuten enthielten sich jeder explizit wertenden Aussage zur menschlichen δεινότης.430 Ihre Ausdeutung der einzelnen Momente war dabei in mancherlei Hinsicht von besonderer, unausgesprochener Ambivalenz geprägt: Das erste Strophenpaar mit seiner Thematisierung von Ackerbau, Seefahrt und Herrschaft über die Tiere ließ sowohl die Motive des menschlichen Erfindungsreichtums und seiner überaus erfolgreichen Problemlösekompetenz als auch Aspekte einer möglichen Grenzüberschreitung, einer geradezu hybriden Ausweitung des menschlichen Machtbereichs implizit anklingen. Mit der zweiten Strophe rücken daraufhin Errungenschaften in den Blick, denen eine negative Komponente weit weniger immanent zu sein scheint: Denken, Sprache, die Schaffung staatlicher Gemein‐ schaft, der Bau fester Häuser und die Medizin. Die verwendeten Wortfelder und Bilder insinuieren hier zunächst eine zunehmend positive Ausdeutung der menschlichen Kulturleistungen und damit der zu Grunde liegenden Eigenschaft der δεινότης. Die durch thematische Übergänge fein verbundenen Ausfüh‐ rungen enthalten dabei zwei besonders pointiert formulierte Spezifizierungen der δεινότης (περιφραδὴς ἀνήρ und παντόπορος) und münden erneut in eine allgemeine Aussage (v. 365), die den Beginn der zweiten Gegenstrophe markiert. Erst mit der Unterscheidung in Vers 367 wird daraufhin die sittliche Ambi‐ valenz dieses dem Menschen eigenen Charakteristikums thematisiert. Dabei er‐ folgt allerdings keine rückwirkende moralische Ausdeutung der im Vorherge‐ henden aufgezählten Errungenschaften des Menschen; vielmehr wird auf Basis dieses umfassenden Panoramas die grundsätzliche Ambivalenz der dem Men‐ schen eigenen Eigenschaft des μηχανόεν τέχνας getroffen. Als Maßstab der in κακόν und ἐσθλόν polar gegeneinander gestellten moralischen Wertungen wird dabei das rechte Verhältnis des handelnden Menschen zu den Gesetzen des Landes (νόμοι χθονός v. 368) sowie zum Recht der Götter (θεῶν δίκα v. 369) postuliert. Bei dieser Formulierung ist die grundsätzliche Zusammengehörigkeit des staatlichen und göttlichen Rechts implizit vorausgesetzt. Die Einhaltung dieser Normen garantiert die moralische Qualität der Kulturleistungen wie auch einzelner Handlungen. In dem ans Ende der Periode gestellten Subjekt (bzw. dem auf das zu ergänzende Subjekt „der Mensch“ bezogenen Adjektiv) ὑψίπολις gipfelt die Beschreibung des sittlich einwandfrei Handelnden.

430

Vgl. U TZINGER (2003) zum in den ersten drei Strophen gezeichneten Bild des mensch‐ lichen Fortschritts: „Ethisch ist dieser Prozess, der sich in den einzelnen Errungen‐ schaften zeigt, an sich neutral, die Frage nach der Moral wird noch nicht gestellt.“ Trotz dieser zu Recht erkannten moralischen Indifferenz hält er S. 29 fest: „Somit lässt sich m. E. in den ersten drei Strophen ein grundsätzlicher Optimismus feststellen“.

3. Antigone

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Es gilt, sich über die grundlegende Wendung innerhalb des Liedes klar zu werden: Was als allgemeine Ausführung über den Menschen und seine Fähig‐ keit, Probleme zu lösen, beginnt,431 schwenkt mit der zweiten Gegenstrophe in eine moralische Bewertung dieser grundlegenden Eigenschaft des Menschen um und endet mit einer Distanzierung der thebanischen Greise von illegalem und damit moralisch verwerflichem Handeln. Welchen Bezug hat nun dieses themen- und farbenreiche Chorlied zur drama‐ tischen Handlung? Diese Frage soll hier gemäß den Zielsetzungen der Arbeit unter genuin dramaturgischen Gesichtspunkten beantwortet werden. Im Be‐ sonderen kann es dabei nicht darum gehen, im ersten Stasimon einen „Zweitoder Drittsinn“432 zu vernehmen und damit die dramaturgische Gestaltungsab‐ sicht des Dichters zu verwischen. Führen wir uns vor Augen: Das Lied stellt innerhalb des Ablaufs der Handlung die Reaktion der thebanischen Greise auf die Geschehnisse des vorangegan‐ genen Epeisodions dar. Es ist daher zunächst nicht verwunderlich, dass ent‐ scheidende Begriffe und Motive des Bühnengesprächs im Chorlied aufge‐ nommen und verarbeitet werden. Auf eine detaillierte Aufzählung dieser Wiederaufnahmen und Spiegelungen durch den Chor kann dabei mit Verweis auf U TZINGER433 verzichtet werden. Im Folgenden sollen einzig einige Punkte gemäß ihrer dramaturgischen Relevanz erwähnt und ausgedeutet werden. Weder die grundlegende Vertrautheit mit dem überaus bekannten Text des Liedes noch die feinsinnige Analyse motivischer Wiederaufnahmen darf über einen grundlegenden Punkt hinwegtäuschen: Die Choreuten beziehen sich im Lauf ihrer Reflexion an keiner Stelle expressis verbis auf das eigentliche Büh‐ nengeschehen, wie es sich im Anschluss an Kreons Regierungserklärung ent‐ faltet hat: Weder wird einer der Akteure namentlich genannt,434 noch spielt das eminent wichtige Themengebiet „Bestattung“ innerhalb der Reflexion eine Rolle.

431 432

433 434

Es führt in die Irre, mit Blick auf das Lied von einer Rekapitulation der „Kulturentste‐ hung“ zu sprechen, da die Thematisierung der einzelnen Errungenschaften dezidiert nicht chronologisch, sondern thematisch gegliedert ist. Vgl. M ÜLLER s (1967) Terminologie, z.B. S. 86: „Nun aber hat das Lied neben dem Dop‐ pelsinn, den die durchsichtige Formulierung der zweiten Strophe nahelegt, als Ganzes noch einen anderen Sinn. Soll ich ihn Hintersinn oder Vordersinn nennen? Jedenfalls ist es der alles überstrahlende und hauptsächliche Sinn.“ U TZINGER (2003) S. 61 ff. Ganz anders z. B. im zweiten Strophenpaar des ersten Stasimons des Oidipus Tyrannos, in dem die Choreuten unter Nennung von Oidipusʼ Namen gezielt Stellung beziehen und sich im Diskurs der Akteure verorten.

682

III. Greisenchöre

Der mit dem Beginn des Liedes eröffnete motivische Rahmen setzt sich viel‐ mehr in bewusster Weise vom Geschehen, ja: von der dramatischen Situation als Ganzer ab. Wenn auch der Begriff des δεινόν bereits an drei Stellen innerhalb des Bühnengeschehens gefallen ist und mit ihm sowohl Antigones wie auch Kreons Handeln beschrieben wurde,435 wirkt die prominente Positionierung des so bereits in personeller Ambivalenz geprägten Begriffs überraschend. Er dient im vorliegenden Lied nicht dazu, eine Meinung über ein bestimmtes Handeln abzugeben, sondern eröffnet die grundlegende Reflexion über den Menschen und eine ihn generell auszeichnende Eigenschaft. Zwar ist so mit dem Leitmotiv δεινόν ein begrifflicher Bezug zu den „ungeheuerlichen“ Vorgängen der Büh‐ nenhandlung hergestellt, eine konkrete Auseinandersetzung erfolgt allerdings nicht. Schon am Beginn des Liedes bleibt so die Ausdeutung der allgemeinen, bewusst gnomischen Aussage einzig dem Rezipienten, d. h. dem Zuschauer, überlassen.436 Die Aufzählung der menschlichen Zivilisations- und Kulturleistungen, die den größten Teil des Stasimons umfasst, hat daraufhin – zumindest vorder‐ gründig – keinen thematischen Bezug zum Bühnengeschehen. Eingestreut in den Fluss der Aufzählung sind allerdings motivische Anklänge an Partien des Vorangegangenen (z. B. Meeres- bzw. Seefahrtsmotivik vgl. v. 162 f., Motivik des Zähmens vgl. v. 291 f.437). Sie sind besonders subtile Schlaglichter, die nach U T‐ ZINGER die (scheinbare) Digression mit der dramatischen Situation verbinden. Allerdings muss hier festgehalten werden: Zum einen darf die Spiegelung ge‐ wisser Motive nicht überschätzt werden. Wenn der Chor innerhalb seiner Aus‐ führungen die Seefahrt als herausragende Zivilisationsleistung des Menschen erwähnt, so ist damit zwar eine motivische Brücke zum von Kreon gebrauchten Bild der Polis als eines Schiffs gegeben, das Motiv allerdings gänzlich anders funktionalisiert: Kreon dient die Rede vom Staatsschiff als Bild, wohingegen der Chor eine konkrete Kulturerrungenschaft des Menschen konstatiert. Ganz ähn‐ lich verhält es sich mit dem Motiv des Zähmens: Freilich wird Kreon das Bild des gezähmten Pferds auch im folgenden Epeisodion bemühen (v. 477 f.) und damit seine vermeintliche Macht, auch besonders hartnäckige Überzeugungen anderer mühelos brechen zu können, illustrieren. Während der Chor allerdings ganz konkret die Macht des Menschen über die Tiere thematisiert, dient das

435 436 437

So v. 96 (Antigone über ihre eigene Tat), v. 243 (der Chor über die Bestattung), v. 323 (der Wächter über Kreons Vorwürfe); vgl. U TZINGER (2003) S. 61. Ganz ähnlich verhält es sich zudem mit dem Begriffsfeld μηχανή. Vgl. U TZINGER (2003) S. 64: „Schon vor dem Chorlied wird also dieser Begriff auf beide Hauptpersonen des Dramas angewendet, bevor er grundsätzlich und allgemein beleuchtet wird“. Vgl. U TZINGER (2003) S. 63 f.

3. Antigone

683

Motivfeld „Zähmung / Joch“ Kreon nach Vers 291 f. auch an der erwähnten Stelle erneut nur als Bild. Dass mit diesen begrifflich-motivischen Wiederaufnahmen eine Parallele zwischen Kreon und dem περιφραδὴς ἀνήρ der ersten Gegen‐ strophe intendiert ist, erscheint dementsprechend äußerst fragwürdig. Zu einer konkreten Auseinandersetzung mit dem in der vorhergehenden Szene Erlebten kommt es also durch die motivisch-begrifflichen Anklänge innerhalb der ersten drei Strophen nicht; in der Wiederaufnahme bestimmter Motive wird keine ex‐ plizite Wertung, keine personalisierte und passgenaue Einordnung eines be‐ stimmten Handelns, mithin keine das Bühnengeschehen direkt betreffende Re‐ flexion gegeben. Mit der Thematisierung der ethischen Ambivalenz der menschlichen δεινότης und ihrer Bewertung unter politischen Vorzeichen in der zweiten Ge‐ genstrophe erreicht das Lied dagegen nicht nur seine Klimax, sondern fokussiert auf ein Grundthema der Tragödie und kommt dem eigentlichen Bühnendiskurs so thematisch am nächsten. Die Gegenüberstellung von ὑψίπολις und ἄπολις bildet dabei den Kerngedanken der moralischen Reflexion besonders prägnant ab und ist mit Blick auf die Einbindung des Liedes in seinen dramaturgischen Kontext von entscheidender Brisanz: Während die thebanischen Greise eine entpersonalisierte, allgemeingültige438 Aussage treffen, erkennt der Rezipient des Liedes die grundlegende Fragestellung im Gegeneinander der beiden Ant‐ agonisten gespiegelt und vermag aus seiner Sicht eine Zuweisung vorzu‐ nehmen. Dass den thebanischen Greisen ihrerseits der ihnen noch unbekannte Täter als Konkretisierung einer der polar gegenübergestellten Verhaltensweisen vorschwebt, ist zwar denkbar; expressis verbis allerdings findet keine Zuweisung statt, mehr noch: Jeder konkrete Bezug auf das aktuelle Geschehen unterbleibt auch hier.439 Die Ausdeutung der betont allgemeingültigen Reflexion bleibt so einmal mehr dem Rezipienten überlassen; sie ist allerdings thematisch nach der um‐ fangreichen Digression beim Kern der eigentlichen Tragödienhandlung ange‐ langt. Anstatt also den Chor mit dem ersten Stasimon punktgenau in der dramatischen Situation zu verorten und ihm einen fest umrissenen Standpunkt in den Mund

438 439

Vgl. den Gebrauch des verallgemeinernden Relativpronomens ὅτῳ v. 370. Vgl. U TZINGER (2003) S. 67: „Im Zusammenhang mit den davorliegenden Teilen des Chorliedes ist der Bezug auf den Täter aber nur oberflächlich – und soll es wohl auch sein“.

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III. Greisenchöre

zu legen,440 schaltet Sophokles eine genuin kontextualisierende Partie ein, die ausgehend von betonter Allgemeingültigkeit von besonderer Ambivalenz und Indifferenz geprägt ist. Dabei unterlegen die subtilen, teils nur assoziativen mo‐ tivischen Wiederaufnahmen sowie vor allem die Fokussierung auf die funda‐ mentale Frage der Beurteilung menschlichen Handelns im Rahmen der Polis die dem unmittelbaren Kontext scheinbar enthobene Reflexion über den Menschen mit besonderer dramatischer Brisanz. Das Lied ist damit zwar im Ablauf der Tragödie verankert, verweigert sich aber dennoch einer konkreten, schnell er‐ fassbaren Deutung und Einordnung. Anders gesagt: Im eigentlichen Sinn dra‐ matisiert, d. h. in den Kontext der Bühnenhandlung eingeordnet, wird das Sta‐ simon erst an seinem Schluss; die Ausführungen über die δεινότης des Menschen haben für sich genommen keine herausragende Relevanz für das Bühnengeschehen. Anders als eine Reflexion, die direkt ein Motiv der vorangegangenen Szene aufgreift oder sich anderweitig konkret in die Bühnensituation ‚eindenkt‘ – es wäre ja durchaus denkbar, den Chor in seinem Standlied konkret Vermutungen über das Motiv oder die Person des Täters anstellen zu lassen – , weitet das vorliegende Chorlied also die Perspektive und entfaltet einen ausgreifenden ge‐ danklichen Horizont, in den das dramatische Geschehen zwar eingeordnet werden kann, der den unmittelbaren Rahmen der Handlung allerdings auch weit überschreitet. Der Chor steht so dem eigentlichen Bühnengeschehen mit einiger Distanz gegenüber. Was ist mit dieser Konstruktion des Liedes dramaturgisch gewonnen? Halten wir in diesem Zusammenhang fest: Mit Kreons Abgang nach dem ersten Epeis‐ odion war die (vorderszenische) Handlung zu einem natürlichen Ruhepunkt gelangt. Das Chorlied entspricht mit seinem reflektorischen, dem unmittelbaren Handlungsrahmen enthobenen Zugang ganz dieser Drosselung an dramatischer Dynamik. Statt den Chor in seinem Standlied ausführliche Vermutungen über den möglichen Täter und seine Motive anstellen zu lassen und so die Erwartung auf den Auftritt Antigones zu steigern, verlangsamt Sophokles die Geschwin‐ digkeit des dramatischen Ablaufs erneut, um ihn erst mit Antigones Wieder‐ auftritt schlagartig erneut in Gang zu bringen. Indem erst das Ende des Liedes den schwelenden Konflikt aufgreift, lässt es mit seiner Wendung zu moralischer Wertung auch die Handlung wieder in den Fokus geraten. Es endet dabei in der

440

Dass eine solche (in der Regel fehlgeleitete) Parteinahme des Chors für einen Akteur grundsätzlich möglich ist, beweisen das bereits erwähnte erste Stasimon des Oidipus Tyrannos sowie die Äußerungen des Chors der salaminischen Schiffsleute im Aias.

3. Antigone

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scheinbaren Entschlossenheit des Chors (v. 372 ff.) dennoch mit Bezug auf das Personal des Dramas offen. Die reflektorische Distanz des Chors zum Bühnengeschehen bündelt darüber hinaus die Aufmerksamkeit ganz auf den Diskurs der Akteure untereinander: Anstatt die Rechtfertigung Antigones, wie sie das folgende Epeisodion insze‐ nieren wird, durch eine Reflexion über die versuchte Bestattung des Leichnams bereits vorwegzunehmen, lässt der Dichter den Chor das Geschehen aus einer ganz anderen Perspektive beleuchten und überlässt so der eigentlichen Kon‐ frontation der beiden Antagonisten die volle Dynamik und Aufmerksamkeit. Die Reflexion des Chors bildet dabei keinen Beitrag, sondern spannt vielmehr einen Reflexionshintergrund auf, vor dem sich die Aktion rund um die Akteure entfaltet. Eine Beantwortung hinsichtlich gewisser Motive wird das erste Sta‐ simon ferner im zweiten Standlied finden; die beiden Lieder rahmen dement‐ sprechend das zweite Epeisodion, wie weiter unten zu zeigen sein wird. Mit Antigones Auftritt im Anschluss an das Stasimon wird die überführte Tä‐ terin auf die Bühne geholt. Was in der Zwischenzeit nach dem Abtritt des Wächters in Vers 331 geschehen ist, referiert dieser in den Versen 407 ff. Er schildert die zweite Bestattung des Polyneikes durch dessen Schwester Antigone und ihre Festnahme. Machen wir uns die zeitliche Anordnung im Handlungsverlauf klar. Der zweite Bestattungsversuch Antigones findet während der Darbietung des ersten Standliedes statt. Sophokles lässt hier also wesentliche Teile der Handlung – immerhin die Tat der Protagonistin, die den zentralen Konflikt auslöst – hinter der Bühne geschehen. Während der Chor im ersten Standlied die moralische Qualität eines Menschen im Rahmen der göttlichen und menschlichen Gesetze, im Rahmen des Systems der Polis zu denken versucht, ereignet sich hinter der Bühne das für die weitere Handlung entscheidende Ereignis. Sophokles scheint hier in besonderer Weise hinterszenische Aktion mit vorderszenischer Reflexion zu einem besonders dichten dramatischen Moment zu verschmelzen; indem der Chor – für ihn als Person des Dramas freilich unbewusst – die kommende Aus‐ einandersetzung bereits vorausahnt, füllt das Lied eine für den Fortgang der Handlung zentrale Zeitspanne. Der Chor spricht in seiner Reflexion genau den Konflikt an, der der hinterszenischen Tat zu Grunde liegt. Damit bewirkt der Dichter ein hohes Maß der Verflechtung verschiedener Ebenen und zeigt den Chor als Mittel, unabhängig vom Wissensstand der in das Drama als Personen involvierten Choreuten vorangegangene, zukünftige oder zeitgleiche hinter‐ szenische Handlung zu reflektieren. Die das erste Stasimon prägende Ambivalenz der chorischen Äußerungen sowie die teils indifferente und nur vom informierten Zuschauer auf das kon‐

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III. Greisenchöre

krete Geschehen anwendbare Ausdrucksweise werden auch bestimmendes Mo‐ ment der folgenden Chorpartien sein; das erste Standlied ist in dieser Hinsicht programmatisch. Zweites Stasimon (v. 582 – 630)

Im zweiten Epeisodion (v. 384 – 581) findet die seit dem Prolog erwartete Kon‐ frontation zwischen Antigone und Kreon statt. Antigones Auftritt als Gefangene des mit ihr erneut erscheinenden Wächters wird im Anschluss an das erste Stasimon durch den Chorführer in einem ana‐ pästischen System (v. 376 – 383) angekündigt: Der Anblick des in Gewahrsam genommenen Mädchens ist ihm ein geradezu „göttliches Schreckbild“ (δαιμόνιον τέρας v. 376). In direkter Frage an die „unselige Tochter des unseligen Oidipus“ (v. 379 f.) äußert er seine entsetzte Mutmaßung, es könne tatsächlich Antigone gewesen sein, die den königlichen Gesetzen zuwiderhandelte und von den Wächtern in Unbesonnenheit ergriffen wurde. Zu einem Austausch des Chors mit Antigone kommt es allerdings an unserer Stelle nicht. Der Wächter bestätigt kurz die Vermutung des Chors (v. 384 f.) und gibt dem gerade im rechten Augenblick auftretenden Stadtherrn nach einem ersten kurzen Zwiegespräch einen ausführlichen Bericht, wie man Antigone auf frischer Tat ertappte (v. 407 – 440). Im Anschluss daran wird er durch Kreon ent‐ lassen. Mit dem Stadtherrn und der Protagonistin stehen sich ab Vers 446 schließlich die beiden Antagonisten der Handlung gegenüber. Zwischen ihnen entwickelt sich – formal gesehen – ein Redeagon. Ein kurzes Zwiegespräch, in dem Anti‐ gone frei zugibt, trotz ihres Wissens um das Verbot den Bruder bestattet zu haben (v. 443 und 446), mündet nach Kreons Rückfrage in einen Monolog An‐ tigones, in dem sie ihre Motivation darlegt (v. 450 – 470): Sie beruft sich dabei auf göttliches, ungeschriebenes, zeitloses Recht, gegenüber dem Kreons Verfügung keinen Anspruch auf Gültigkeit erheben könne. Sie sei sich ferner bewusst ge‐ wesen, dass ihr als Strafe der Tod drohte; im Gegensatz zu ihrem elenden Leben sei allerdings ihr vorzeitiges Sterben ein Gewinn und nicht im Mindesten kum‐ mervoll. Wirkliches Leid hätte sie nur empfunden, wenn sie den Sohn ihrer Mutter unbestattet gelassen hätte. Die Kommentierung durch den standardisierten Doppelvers des Chors (v. 471 f.) setzt die in der Auftrittsankündigung aufgeworfene Familienthematik fort, wobei es zu keiner inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem von Antigone Vorgebrachten kommt: Es habe sich gezeigt, so der Chorführer, dass Antigones vom „rohen Vater“ (ἐξ ὠμοῦ πατρός) ererbte Entschlossenheit, ihre Art (γέννημʼ) ebenfalls „roh“ (ὠμόν) sei; Übeln zu weichen verstehe sie nicht.

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Seine Gegenrede (v. 473 – 496) beginnt Kreon mit einer allgemeinen Überle‐ gung: Gerade die mit größter Entschiedenheit vorgetragenen Gedanken würden wie im Feuer gehärteter, spröder Stahl am schnellsten brechen; er, Kreon, sei jedenfalls im Stande, durch einen kleinen Zügel auch ein wildes Pferd zu bän‐ digen (v. 477 f.). Auf die von Antigone vorgebrachten Argumente geht er da‐ raufhin nicht ein, sondern bezeichnet ihr Prahlen mit der eigenen Tat als zweite Hybris, derer sie sich nach der eigentlichen Tat nun schuldig gemacht habe. Sie und ihre Schwester würden, so der Stadtherr, trotz des Onkel-Nichten-Verhält‐ nisses zwischen ihnen, nicht dem „schlimmsten Schicksal“, d. h. der Todesstrafe entgehen. Auch Ismene hält er für mitschuldig und gibt den Befehl, sie aus dem Palast, wo er sie eben noch in völliger Raserei gesehen hat, herzuholen. Statt den Chor auch Kreons Rede kommentieren zu lassen, lässt Sophokles direkt Antigone wieder zu Wort kommen. Im folgenden, teils stichomythischen (v. 508 – 523) Wechselgespräch stehen sich Antigone und Kreon direkt gegen‐ über: Während Kreon die politischen Aspekte betont und an seiner Wertung des Polyneikes als eines Staatsfeindes festhält, ist Antigone überzeugt, durch ihre Tat am Bruder göttlichem Recht Genüge getan zu haben. Mit Vers 526 erweitert sich das Personenspektrum: Der Chor sieht Ismene herannahen und kündigt ihren Auftritt in einem kurzen anapästischen System an (v. 526 – 530). Dem sich anschließenden, formal streng gebauten Gespräch der drei Akteure untereinander441 folgt der Chor ohne eigene Wortmeldung.442 Is‐ mene, die versucht, durch das Geständnis eigener Schuld ihre Schwester zu retten, kann Kreon auch nicht durch den Hinweis auf Haimon und die geplante Eheschließung zwischen diesem und Antigone (v. 568 ff.) von seinem Entschluss abbringen. Kreon gibt daraufhin den Befehl, Antigone festzunehmen und ins Gebäude zu bringen (v. 577 ff.); mit dem Abtritt Antigones und Ismenes endet das Epeisodion. Kreon verbleibt auf der Bühne,443 tritt allerdings mit einiger

441

442

443

Die Passage zerfällt in zwei Gesprächssituationen: Nach der ersten Ansprache Kreons an Ismene (v. 531 – 535) treten erst die beiden Schwestern in ein Zwiegespräch (zunächst in Doppelversen v. 536 – 547, dann stichomythisch 548 – 558, abgeschlossen durch einen Doppelvers Antigones), worauf sich Kreon wieder ins Gespräch einschaltet (v. 561 f.). Ihm antwortet Ismene in einem Doppelvers (v. 563 f.), worauf sich eine stichomythische Wechselrede der beiden Akteure anschließt (v. 565 – 575). Das Epeisodion schließt mit einer ausführlicheren Bemerkung Kreons (v. 576 – 581). Die Sprecherverteilung in den Versen 572 – 576 ist problematisch. L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) haben in ihrer Ausgabe zu Recht die Zuteilung der codd. wiederhergestellt: So‐ wohl v. 572 als auch v. 576 werden von Ismene gesprochen (anders noch P EARSON (1924), der v. 572 Antigone, v. 576 den Chorführer sprechen lässt). So auch G RIFFITH (1999) S. 24 und 218.

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III. Greisenchöre

Wahrscheinlichkeit in den Hintergrund, sodass sich mit Beginn des zweiten Stasimons die volle Aufmerksamkeit auf den Chor und seine Reflexion bündelt. Das Epeisodion hat die von Beginn der Tragödie antizipierbare direkte Kon‐ frontation der beiden Antagonisten auf die Bühne gebracht. In besonderer Weise nimmt das Epeisodion auf den Prolog Bezug und rundet so einen ersten Groß‐ abschnitt der Tragödie. Zwei wesentliche Momente der Partie sollen hier Er‐ wähnung finden: Mit Antigone ist das eigentliche agens der dramatischen Hand‐ lung aus dem hinterszenischen Bereich wieder auf die Bühne gekommen. Hatte schon der Bericht des Wächters vom ersten Bestattungsversuch hinterszenische Handlung vorderszenisch präsent zu machen versucht, so tritt nun Antigone selbst wieder vor die Augen des Publikums. Im zweiten Bericht des Wächters (v. 407 – 440) sowie der Rechtfertigungsrede der Hauptheldin (v. 450 – 470) erfährt die erst kurz zurückliegende Handlung besondere Plastizität; Antigones volle Identifikation mit ihrer Tat stellt das ausschlaggebende Geschehen selbst auf die Bühne. Der Auftritt Ismenes und ihr Austausch mit der Schwester (v. 536 – 560) rein‐ szenieren darüber hinaus bis zu einem gewissen Grad die Gesprächssituation des Prologs. Ismenes Argumentation hat sich angesichts der mittlerweile aus‐ geführten Tat ihrer Schwester im Vergleich mit dem Prolog umgekehrt: Lehnte sie im Prolog noch jede Beteiligung an der Tat ab und wollte Antigone von ihrem Plan abbringen, so sucht sie sich an unserer Stelle durch ein falsches Geständnis mit ihr gemein zu machen und sie damit vor der drohenden Strafe zu bewahren. Antigones Haltung ist allerdings gleichgeblieben: Stand sie bereits der ver‐ suchten Intervention Ismenes zu Beginn ablehnend gegenüber, so missbilligt sie auch hier Ismenes Handeln völlig und geht sie zum Teil mit schroffen Worten an (vgl. v. 538 f., 543). Wie bereits im Prolog trennen sich die beiden Schwestern auch hier, ohne eine gemeinsame Position gefunden zu haben.444 Inhaltlich hat sich mit der Konfrontation und Verurteilung der Hauptheldin ein erster Bogen geschlossen: Die zentralen Vorankündigungen des Prologs sind realisiert, Antigones Schicksal scheint beschlossen zu sein, die Handlung ist er‐ neut an einem natürlichen Ruhepunkt angelangt. Wie verortet sich nun der Chor in seiner Reflexion angesichts der eingetretenen dramatischen Situation? 444

Eine weitere motivische Spiegelung aus dem Prolog mag die wiederholte Betonung des Geschlechterverhältnisses und seiner Perversion in Kreons Aussagen darstellen (v.a. v. 484 f., 525). Ismenes im Prolog geäußerte Sorge, als Frau keinen Stand gegen die männ‐ liche Übermacht zu haben (v. 61 ff.), erfährt hier ihre konkrete Ausgestaltung. Dabei ist es allerdings gerade Antigones forsches, selbstbewusstes Auftreten, das Kreon dazu zwingt, das Geschlechterverhältnis als (allerdings wenig sachliches, d. h. an der eigent‐ lichen Tat orientiertes) Argument in die Diskussion einzubringen.

3. Antigone

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Der thematische Rahmen des zweiten Stasimons war dabei durch die Aus‐ sagen des Chors subtil bereits abgesteckt: Schon in der Auftrittsankündigung (v. 376 ff.) wird Antigone dezidiert als Tochter des Oidipus apostrophiert; zudem hebt der Chor nach ihrem Monolog (v. 471 f.) hervor, dass sie ihren „rohen Mut“ (λῆμʼ ὠμόν) von ihrem charakterlich ebenfalls „rohen“ Vater (ἐξ ὠμοῦ πατρός) geerbt habe. Auch in der sich an die Verhaftung Antigones anschließenden Re‐ flexion steht nicht die einzelne Tat, die Rechtfertigung Antigones, das versuchte Einschreiten Ismenes zu Gunsten ihrer Schwester oder das Urteil Kreons, son‐ dern die Einordnung des gesamten Geschehens in einen größeren Kontext im Mittelpunkt. Dabei wird zunächst die Familiengeschichte, schließlich ein allge‐ mein theologischer Zusammenhang reflektiert. Machen wir uns nun in einem kurzen thematischen Durchgang die Struktur des Chorliedes klar.445 Mit einer allgemeingültigen, popularphilosophisch anmu‐ tenden Aussage beginnen die thebanischen Greise: Glücklich (εὐδαίμονες) seien diejenigen, deren Leben keine Übel geschmeckt habe. Denen allerdings, deren Familie (δόμος) durch göttliche Einwirkung (θεόθεν) erschüttert wird, fehle es nicht an unheilvoller Verblendung (ἄτα), die sich durch die Generationen bis zur Fülle fortbewege. Mit einem wirkmächtigen Vergleich illustrieren die Cho‐ reuten ihre Aussage: Dies sei wie eine Meereswelle, die sich beim thrakischen Sturm aus der Tiefe heraus an das Gestade wälzt, während die wogenge‐ peitschten Uferklippen brausen. Die Schilderung des Seesturms erfolgt hier mit besonders eindrucksvollen sprachlichen und lautlichen Mitteln. Der Chor erzielt, wie schon in der Parodos, gerade durch Farbbeschreibungen (v. 585 ἔρεβος ὕφαλον, v. 591 κελαινὰν θῖνα), aber auch durch Lautmalereien (v. 592) und geradezu aufgetürmte Junkturen (v. 586 / 8: δυσπνόοις πνοαῖς) einen besonders lebhaften Eindruck. Hatte die erste Strophe mit einer gnomischen Aussage begonnen, endete sie mit der bildgewaltigen Illustration. Die Gegenstrophe verengt den Blick da‐ raufhin und führt ohne syntaktische Verbindung zum dramatischen Geschehen bzw. zu den an ihm beteiligten Personen: Der Chor sehe (ὁρῶμαι v. 594), dass von früh an das Unheil (πήματα) der Labdakidenfamilie auf anderes Unheil stürzt, keine Generation die andere davon erlöst, sondern einer der Götter das Haus niederreiße (ἐρείπει) und es keine Lösung gebe. Dieser allgemeinen Be‐ obachtung folgt mit Vers 599 eine als Begründung (γάρ) angeschlossene Kon‐

445

Die textkritische Überlieferung des gesamten Chorliedes ist schwierig und wegen der Vielzahl an Konjekturen unübersichtlich. Wichtiger als Varianten zu einzelnen Wörten ist hier allerdings die thematische Struktur des Liedes; daher wird auch hier die Text‐ kritik nur am Rand behandelt.

690

III. Greisenchöre

kretisierung,446 die auf die eben erlebte Bühnenhandlung bzw. die in sie verwi‐ ckelte Generation Bezug nimmt: Nun nämlich sei über dem „äußersten Reis“ (ἐσχάτας ὑπὲρ ῥίζας) im Haus des Oidipus Licht, d. h. Rettung, aufgespannt gewesen. Dieses Reis bzw. dieses Licht447 allerdings bringe der den Unterwelts‐ göttern geweihte, „blutige“ Staub (φοινία θεῶν κόνις)448 sowie die Erinys erneut zum Untergang. Die Gegenstrophe hat mit ihrer Fokussierung auf das Geschlecht der Labda‐ kiden ein Exempel für die in der ersten Strophe verbalisierte Gnome geliefert. Dem von göttlicher Seite ins Werk gesetzten Unheil könne sich, so die Konkre‐ tisierung im zweiten Teil der Gegenstrophe, auch die jüngste Generation nicht entziehen, selbst wenn der Kreislauf an Leid und Übel zunächst unterbrochen schien (v. 599 f.). Das Motiv der Familiengeschichte, der Abfolge verschiedener Generationen und der sich darin fortsetzenden Charaktereigenschaften, wie sie die chorischen Aussagen zu Beginn und in der Mitte des Epeisodions angerissen hatten, sind so im Bild der sich im Haus der Labdakiden fortpflanzenden ἄτα (v. 584) ausgeleuchtet. Die Gegenstrophe stellt dabei eine besonders kunstvolle Annäherung an das eigentliche Bühnengeschehen dar: Angefangen bei der grundlegenden Aussage zu den Labdakiden im Allgemeinen, verengt die Erwähnung der ἐσχάτα ῥίζα (v. 599 f.) den Blick auf das Personal der Handlung, konkret: die Generation der Kinder des Oidipus. Akzeptiert man darüber hinaus das einhellig überlieferte κόνις in v. 603, so ist ein besonders konkreter Bezug zur Bestattungshandlung Antigones an ihrem Bruder gegeben: Der den Göttern geweihte Staub ist so die poetische Verdinglichung der dem Geschehen zu Grunde liegenden Tat Anti‐ gones (v. 429). Die Aussage: „Eine Hand voll Staub ist für die Vernichtung der jüngsten Labdakidengeneration verantwortlich“ ist damit der Höhepunkt der Konkretisierung und bildet den direkten Anknüpfungspunkt an das Bühnenge‐ schehen, die Schnittstelle zwischen Handlung und Reflexion. 446 447 448

Vgl. G RIFFITH (1999) S. 225 ad locum: „explains the preceding generalizations“. Der unklare Bezug von νιν (v. 601) ist eines von sechs (!) Problemen, die K AMERBEEK (1978) S. 119 f. zu den Versen 599 – 603 auflistet; er favorisiert den Bezug auf φάος. Gegen das einhellig überlieferte κόνις folgen P EARSON (1924) und L LOYD J ONES /W ILSON (1990) der Konjektur von Jortin κοπίς. K AMERBEEK (1978) argumentiert ad locum für die Beibehaltung von κόνις, was auch G RIFFITH (1999) im Text stehen lässt. Zu dieser An‐ schauung hatte sich bereits J EBB (1891) durchgerungen (S. 114 f.). Neben der eindeutigen Überlieferungslage spricht auch die im Folgenden angesprochene, in κόνις angerissene Thematik der Bestattung für die Beibehaltung. Darüber hinaus ist mit dem Bezug auf Ilias 24, 165, der einzigen Stelle, an der καταμάω bei Homer erscheint, ein besonders subtiler thematisch-motivischer Anklang zu unserer Stelle gegeben: Iris kommt bei Priamos an, der sich in der Klage um seinen toten und immer noch unbestatteten (!) Sohn Schmutz (κόπρος) auf Haupt und Nacken gehäuft hat.

3. Antigone

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Ohne syntaktische Verbindung wendet sich die zweite Strophe in einer vor‐ sichtig im Potentialis formulierten Frage an den Göttervater: Welche mensch‐ liche Übertretung (ὑπερβασία v. 605), so der Chor, könne Zeusʼ Machtfülle (δύνασιν) zurückhalten? Weder der allbezwingende Schlaf noch die „Monate der Götter“, d. h. die Zeit, der die Götter vorstehen, könnten sie einnehmen; statt‐ dessen, so der Chor, habe Zeus, unbeeinflusst durch den Lauf der Zeit, das fun‐ kelnde Glänzen des Olymps inne. Mit Vers 611 kündigt der Chor daraufhin ein „Gesetz“ (νόμος) an, das in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Gültigkeit beanspruche. Der Text der nun folgenden Gnome gibt Anlass zu textkritischen Fragen: Während P EARSON (1924) nur das überlieferte πάμπολις mit Heath in πάμπολυ ändert (ebenso J EBB (1891)), rekonstruieren L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) den Text in einer eigenen Version, wohingegen G RIFFITH (1999) Vers 613 b f. ganz in cruces setzt; K AMERBEEK (1978) merkt an: „[…] old and deep corrup‐ tion seems to have taken place.“449 Das genaue Verständnis der Stelle leidet unter diesen textkritischen Problemen; als Aussage scheint intendiert gewesen zu sein: Im menschlichen Leben könne entweder gar nichts oder zumindest nichts Großes außerhalb verhängnisvollen Unheils (ἐκτὸς ἄτας) geschehen. Eine Ent‐ scheidung für eine der beiden Varianten zu fällen und damit den Grad der si‐ cherlich zutiefst pessimistischen Weisheit zu bestimmen, fällt angesichts des Textbestands schwer. Als Begründung der Aussage soll die zweite Gegenstrophe verstanden werden (γάρ v. 615); dieser logische Konnex verbindet so das zweite Strophen‐ paar besonders eng. Die Hoffnung (ἐλπίς v. 615 f.) sei zwar für viele Menschen ein Nutzen, für viele allerdings eine „Täuschung leichtsinniger Begierden“ (ἀπάτα κουφονόων ἐρώτων). Nichts, was sich dem Menschen nähere, wisse der im Voraus, bevor er sich – so das Bild – den Fuß am heißen Feuer verbrannt habe (v. 618). Ein zweites Sprichwort kündigt der Chor daraufhin an, das aus der Weisheit eines unbestimmten Menschen (indefinites του) erschienen sei: Das Schlechte scheine demjenigen gut zu sein, dem ein Gott den Sinn in Richtung verderblichen Unheils (πρὸς ἄταν) führe; dieser Mensch handele nur die kür‐ zeste Zeit außerhalb verhängnisvollen Unheils (ἐκτὸς ἄτας). Mit dem Stasimon hat die Reflexion des Chors ein Ende gefunden; der Chor‐ führer vermeldet im Anschluss daran in einem anapästischen System (v. 626 – 60) Kreon die Ankunft Haimons am Ort des Geschehens. Das zweite Strophenpaar ist eine in sich geschlossene Einheit, die es zunächst noch einmal für sich zu betrachten gilt. Thema der erneut bewusst allgemeinen Reflexion ist das Verhältnis menschlichen Handelns und Planens (ὑπερβασία v. 449

K AMERBEEK (1978) S. 122 ad locum.

692

III. Greisenchöre

605, ἐλπίς v. 615) im Verhältnis zur göttlichen Allmacht und dem verhängnis‐ vollen Unheil (ἄτα). Gerade die wörtliche Wiederholung der Junktur ἐκτὸς ἄτας am Ende von Strophe und Gegenstrophe wirkt dabei wie ein Kehrvers,450 der die sonstige Parallelisierung der beiden Strophen hinsichtlich ihres Gedan‐ kengangs verdeutlicht: Die zweite Strophe beginnt mit dem Anruf und dem Preis des Zeus und seiner Macht, die im Gegensatz zur menschlichen Überheblichkeit thematisiert wird (göttliche δύνασις – menschliche ὑπερβασία), bevor der Chor eine allgemeingültige Sentenz (νόμος) darbietet. Die Gegenstrophe thematisiert mit der Ambivalenz der ἐλπίς ein grundlegendes humanum und bedient sich im Begriffspaar ὄνησις – ἀπάτα erneut einer polaren Gegenüberstellung, bevor auch hier ein Sprichwort die Reflexion beschließt. Die Struktur des gesamten Liedes soll hier noch einmal rekapituliert werden, nachdem bereits der thematische Durchgang die kunstvolle Komposition des Liedes vor Augen geführt hat: Der oben behandelte thematische Zusammenhang mit der dramatischen Handlung, d. h. die Gelenkstelle zwischen Chorlied und Bühnenhandlung, bildet die Mitte des Liedes (erste Gegenstrophe). Vorge‐ schaltet ist eine allgemeine Bemerkung, die sichtlich unter dem Einfluss des gerade Erlebten gesprochen zu sein scheint. Das an die Ausführungen zum Fa‐ milienschicksal der Labdakiden angeschlossene Strophenpaar führt die Ge‐ danken des Chors – und damit auch die der Hörer und Leser – wieder zu allge‐ meineren Gegenständen. Dabei sind die Strophenpaare sprachlich-syntaktisch nicht miteinander verbunden; vielmehr scheint die direkte Anrufung des Zeus sowie die Thematisierung menschlicher ὑπερβασία den Gedankengang zu‐ nächst zu unterbrechen und ein neues Einsetzen der Reflexion aus einer erneut geweiteten Perspektive zu markieren. Mit ὑπερβασία und ἐλπίς thematisiert das zweite Strophenpaar zwei Verhal‐ tensweisen, denen der Chor zentrale Bedeutung für das menschliche Dasein zumisst. Dass damit nicht nur eine generelle, auf den Menschen schlechthin bezogene Reflexion in den Raum gestellt wurde, sondern der Chor auch diese Aussagen im Rahmen des Bühnengeschehens verstanden wissen möchte, zeigt die gedoppelte Wiederaufnahme des bereits in v. 584 gefallenen Begriffs ἄτα am Ende der zweiten Strophe und Gegenstrophe. Dieser Zentralbegriff des ge‐ samten Stasimons bildet so geradezu die motivische Klammer, die die beiden Strophenpaare mit ihrem je unterschiedlichen Zugang (genealogische Einord‐ nung, Familienthematik – allgemein theologische Reflexion) miteinander ver‐ knüpft.

450

Vgl. K AMERBEEK (1978) S. 124: „has the effect of a mournful refrain“.

3. Antigone

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Zudem fällt bei der formalen Betrachtung des Stasimons die wirkungsvolle Platzierung der übrigen inhaltlichen Zentralbegriffe auf: Gleich mit dem ersten Wort εὐδαίμονες ist ein Rahmenpunkt der sich anschließenden Kontrastierung gegeben; die erste Gegenstrophe läuft geradezu zielgerichtet auf ihr letztes Wort Ἐρινύς; im Kontrast dazu rückt Zeus mit seiner Macht durch die direkte Anrede und Voranstellung des Possessivums τεάν gleich mit dem Beginn des zweiten Strophenpaars in den Blick der Hörer und Leser. Auf die Rahmung der letzten Gegenstrophe durch ἐκτὸς ἄτας wurde oben schon eingegangen. Die doppelte Nennung des Begriffs ἄτη am Ende zweier aufeinander folgender Verse (624 und 625) lässt die aufgetürmten Junkturen der ersten Strophe wieder anklingen. Insgesamt ist zu erkennen, wie sehr dieses Chorlied durch die Anordnung der Strophen, die raffiniert ausgestaltete Gedankenbewegung und die Platzierung inhaltlicher Kernbegriffe an herausgehobenen Stellen komponiert und stilisiert wurde. Bevor wir die Wirkung dieses Liedes auf den Hörer und Leser der Tra‐ gödie und damit seine dramaturgische Funktionalisierung zu bestimmen ver‐ suchen, müssen wir etwas ausführlicher auf den Inhalt der chorischen Aussagen eingehen. In den Versen 593 – 603 verarbeitet der Chor das Gesehene, d. h. die Überfüh‐ rung und Verurteilung Antigones sowie den Rettungsversuch durch Ismene, indem er es in die der chorischen Reflexion eigenen Kategorien einordnet: Das Handeln Antigones und dessen Auswirkungen werden hier genealogisch aus‐ geleuchtet, in Beziehung zum Schicksal der ganzen Familie gesetzt und er‐ scheinen so geradezu als notwendige Folge der Familiengeschichte. Damit wird der Chor zum Repräsentanten einer konservativen, religiös-genealogisch aus‐ gerichteten Weltsicht, die eine Konstante im mythischen Denken darstellt. Die Charakterisierung des Chors, wie wir sie schon in der Parodos und dem ersten Stasimon greifen konnten, ist hier um einen Aspekt erweitert: Die Thematisie‐ rung des geradezu typisch tragischen Denkmusters von familiärer Schuld und menschlicher Unzulänglichkeit im Gegensatz zur Allmacht des Zeus wird an diesem Punkt des Dramas der Person in den Mund gelegt, deren Geisteshaltung dieser Weltsicht am besten entspricht. Die Theozentrik ihrer Weltanschauung hatten die thebanischen Greise schon in der Parodos ausgeführt, als sie den Sieg gegen Polyneikes als eine durch göttliche Mächte beeinflusste und wesentlich gelenkte Tatsache präsentierten. Ihre Verbundenheit zum Haus des Oidipus, die Kreon lobend herausgehoben hatte (v. 165), prädestiniert sie zu einer Gesamt‐ schau der Familiengeschichte unter Einschluss der jüngsten Generation. Neben dem Chor hatten bis dorthin nur Antigone und Ismene im Prolog eine Einordnung der jüngsten Zeitumstände in die jammervolle Geschichte ihrer Fa‐

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III. Greisenchöre

milie gegeben.451 Gleich zu Beginn des Dramas hatte die Protagonistin ihre Schwester und sich selbst als letzte Leidtragende der wiederholten Einfluss‐ nahme des Zeus auf die Nachkommen des Oidipus bezeichnet (v. 2 ff.). Dabei stellte für sie der Beschluss Kreons, Polyneikes die kultische Bestattung zu ver‐ sagen, den neuesten Schicksalsschlag dar. Anders verfuhr etwas später in der Auseinandersetzung Ismene, die in einer längeren Partie – wie oben schon aus‐ geführt – ihre Gründe aufzählt, vom Plan der Schwester Abstand zu nehmen: Nach dem Tod des Vaters und der Mutter sowie der Doppeltötung ihrer Brüder sei es für die beiden Schwestern ein noch schändlicheres Ende, wegen Missach‐ tung von Anordnungen, d. h. aus Ungehorsam gegenüber staatlichen Instanzen, zu sterben (v. 49 ff.). In Ismenes Argumentation ist es demnach nicht der Be‐ schluss Kreons, sondern die mögliche Umsetzung von Antigones Plan, die eine Kontinuität in der Familiengeschichte herstellen würde. Im vorliegenden Chorlied ist dieser thematische Strang wieder aufgegriffen und bildet das Kernstück der Reflexionen. Allerdings fallen im Vergleich mit den Argumentationen innerhalb des Prologs zwei Unterschiede auf: Zunächst er‐ weitert der Chor die genealogische Perspektive durch die Benennung der Fa‐ milienmitglieder als Labdakiden (v. 594). Den informierten Lesern und Hörern werden damit auch die Geschehnisse vor Oidipus ins Gedächtnis gerufen, wo‐ hingegen Antigone und Ismene als selbst Betroffene nur die Generation ihrer Eltern thematisierten. Wie schon ausgeführt sind die thebanischen Greise ge‐ radezu prädestiniert, eine mehrere Generationen umfassende Sichtweise zu ver‐ treten. Die genealogische Einordnung des Geschehens ist demnach in zwei Weisen auf drei Personen des Stücks verteilt: Einerseits stellen im pragma‐ tisch-argumentativen Kontext des Prologs die beiden Schwestern ihre Abkunft von Oidipus in Beziehung zur Gegenwart, andererseits ist es der Chor, der in einer Reflexion, also in einer durch Rückschau auf Erlebtes geprägten Passage den Blick auf die Geschicke der gesamten Familie weitet. An unserer Stelle liefert Sophokles also mit der genealogischen Einordnung der Gegenwart eine Per‐ spektive der Handlung, die seit dem Prolog bei Hörern und Lesern präsent war. Zum anderen ist die moralische Komponente der getroffenen genealogischen Aussagen zu vergleichen. In Antigones Ausführungen zu Beginn des Stücks ist es Kreon, der mit seinem Beschluss weiteres Unheil über die Familie zu bringen im Begriff ist; in ihren Worten klingt schon hier eine gewisse Verachtung und moralische Verwerfung Kreons an. Obwohl sie hinter der Häufung an Leid und

451

Kreons kurzer Rückblick auf die Vorgeschichte seiner Herrschaftsübernahme (v. 165 ff.) bleibt dabei freilich außen vor.

3. Antigone

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Unheil in ihrer Familie die Wirkung des Zeus sieht, erhält das neueste Übel in der Person Kreons und in seinem Befehl eine konkrete Gestalt. Ismene argumentiert mit einer möglichen moralischen Selbstverurteilung: Durch Ungehorsam gegenüber der staatlichen Autorität stünde ihr und ihrer Schwester ein im Vergleich zu ihren Eltern und den Brüdern um vieles schänd‐ licherer Tod bevor. Auch bei ihr ist die – wenn auch nur hypothetische – Fort‐ setzung der Familiengeschichte im Handeln von Menschen konkretisiert. Ein etwas anderes Bild ergibt sich beim vorliegenden Stasimon. Schon die erste Strophe nennt göttliches Handeln – θεόθεν (v. 584) – als Grund für das unruhige und von Verblendung geprägte Leben des Unglücklichen. Auch in der Familiengeschichte der Labdakiden ist es kein Mensch, der das Unglück des Geschlechts allein zu verantworten hat: ἀλλʼ ἐρείπει θεῶν τις, οὐδʼ ἔχει λύσιν (v. 596 / 7). Die menschliche Seite dieser göttlichen Einflussnahme beschreibt die zweite Gegenstrophe: Zentraler Antrieb menschlichen Handelns ist die Hoffnung in ihrer Ambivalenz zwischen Glück und Täuschung leichtfertiger Begierden. Wem allerdings, weil ein Gott ihn mit Verblendung geschlagen hat, das Schlechte gut zu sein scheint, wird nur kurze Zeit ohne Unheil handeln (v. 622 – 625). Der von göttlichen Mächten zum Unheil Geführte wird sich seiner Verblendung erst bewusst, wenn er „sich seinen Fuß am Feuer verbrennt“ (v. 618 / 19), d. h. wenn er buchstäblich in seiner trügerischen Hoffnung zu weit gegangen ist und die Folgen seines Handelns am eigenen Leib erfährt. Die Frage nach der Ursache des Unglücks Einzelner – und, im Hinblick auf die konkrete Situation, ganzer Familien – ist hier zwar logisch nicht einwandfrei gelöst, aber doch mit einer gewissen Tendenz beantwortet: Verantwortlich für das Leid, das sich durch Generationen „vererbt“, ist göttliches Eingreifen. Mo‐ ralische Wertungen einzelner Personen innerhalb der Familiengeschichte (bzw. des Dramas) sind demnach für den Chor an unserer Stelle gegenstandslos. Na‐ türlich ist das Stasimon auf die konkrete Situation innerhalb des dramatischen Verlaufs bezogen, eine Beurteilung der Personen und ihrer Handlungen aller‐ dings erlauben die allgemeinen Aussagen nicht. Anstatt holzschnittartig die moralischen Kategorien von Gut und Böse auf das Erlebte anzuwenden, weitet das Chorlied den Blick auf ein innerhalb der Labdakidenfamilie wirkendes Prinzip und überlässt eine spezielle Ausdeutung des Gesagten den Hörern des Liedes, d. h. Zuschauern und Lesern der Tragödie. Der Chor selbst verbleibt wie schon im ersten Stasimon in einer bewussten Ambivalenz. Zwar ist die Verbin‐ dung der Reflexion mit dem Bühnengeschehen besonders in der ersten Gegen‐ strophe geradezu mit Händen greifbar (v. 602), allerdings erfolgt die Verarbei‐ tung des Erlebten von Seiten des Chors nicht in einer dem Geschehen

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III. Greisenchöre

immanenten Position, sondern aus bewusster reflektorischer Distanz. Im Kon‐ flikt der beiden Antagonisten bezieht der Chor dementsprechend erneut keine konkrete Stellung. Führen wir uns hier nun die Einbindung des vorliegenden Liedes in den Zu‐ sammenhang der chorischen Partien vor Augen, bevor wir zu einer abschlie‐ ßenden dramaturgischen Einordnung gelangen. Wie bereits angesprochen setzt das Lied mit seinem ersten Strophenpaar die in der Auftrittsankündigung zu Beginn (v. 379 f.) und der Kommentierung in der Mitte des Epeisodions (v. 471 f.) gegebene genealogische Ausdeutung des Geschehens fort. In der lyri‐ schen Reflexion wird diese zunächst von Seiten des Chors nur durch den Chor‐ führer vorgetragene Deutungsebene gebündelt. Aber auch das zweite Strophenpaar nimmt entscheidende Motive anderer chorischer Aussagen wieder auf: Die Thematisierung der Macht des Götterva‐ ters und deren Verhältnis zu menschlicher Überhebung war ein bestimmendes Motiv der Ausdeutung der Vorgeschichte, wie sie die Parodos entfaltet hatte (v. 128 ff.). Die im vorliegenden Stasimon mit einigem Nachdruck vorgebrachte göttliche Motivation der Geschehnisse thematisiert darüber hinaus die spezi‐ fisch theologisch-personifizierende Herangehensweise der Parodos erneut; al‐ lerdings ist es an unserer Stelle einzig Zeus, der namentlich genannt wird, an allen anderen Stellen ist nur von θεός die Rede. Dem elaborierten Panorama personaler göttlicher bzw. vergöttlichter Mächte der Parodos steht so an unserer Stelle eine auf Zeus konzentrierte, eher allgemein reflektierende Ausdeutung gegenüber. Das zweite Stasimon hat so das in der Parodos etablierte Denken in theologischen Kategorien auf die momentane Situation transferiert, wobei mit dem Verzicht auf die konkrete moralische Zuordnung der Gegner des jeweils behandelten Konflikts (Parodos: Theben gegen die Armee des Polyneikes, zweites Stasimon: Antigone und Kreon) die konkret personifizierende Ausdeu‐ tung dem zwar betont theologischen, allerdings indifferenten Aufzeigen göttli‐ cher Motivation gewichen ist. Von besonderer Bedeutung ist schließlich die Relation, in der das zweite zum ersten Stasimon steht. Mit Blick auf Gedankengang und Struktur lassen sich dabei gerade zwischen dem zweiten Strophenpaar des vorliegenden Liedes und dem ersten Standlied Parallelen entdecken: Auch hier sucht der Chor einen be‐ stimmten Aspekt der conditio humana zu reflektieren. Mit der ἄτα als Zentral‐ thema ist die moralische Ambivalenz des ersten Standliedes allerdings einer entschieden negativen Ausleuchtung des humanum gewichen. Der ambiva‐ lenten Ausleuchtung der δεινότης im ersten Strophenpaar entspricht dabei bis zu einem gewissen Grad die Bewertung der ἐλπίς in der zweiten Gegenstrophe: Auch sie kann sowohl nützen als auch schaden, wobei auch hier wieder die

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negative Facette besonders hervorgehoben wird (v. 617 ff.). Begrifflich wird da‐ raufhin die polare Gegenüberstellung der moralischen Alternative „gut – schlecht“ aus der zweiten Gegenstrophe des ersten Standliedes (v. 367) in Vers 622 erneut aufgerufen: Allerdings wird hier nicht der Maßstab des Handelns, sondern die Möglichkeit der (gottgewirkten) Täuschung auf Grund des Ein‐ flusses der ἄτα thematisiert. Wir sind so bei der gravierendsten Differenz zwi‐ schen den beiden Partien hinsichtlich ihres gedanklichen Horizonts angelangt: die prominente Rolle, die der Chor im zweiten Standlied göttlichem Einfluss zumisst. Ging es im ersten Standlied um das selbstbestimmte Tun des Menschen (v. 365 ff.), so spielt im vorliegenden zweiten Standlied die Verantwortlichkeit der handelnden Menschen keine Rolle mehr; sowohl in der genealogischen, auf die Familie der Labdakiden konzentrierten, wie auch der allgemeinen Ausdeu‐ tung anthropologischer Grundkonstanten betont der Chor wiederholt den Ein‐ fluss göttlicher Mächte,452 denen die betroffenen Menschen wehrlos ausgeliefert zu sein scheinen. Dem umfangreichen, bildgewaltigen Katalog der Errungen‐ schaften menschlicher δεινότης entspricht so in wirkungsvoller Umkehrung der Verhältnisse die Schilderung des Seesturms in der ersten Strophe (v. 586 ff.), die die ganze Hilflosigkeit eines von göttlicher ἄτα befallenen Hauses demonstriert. Das im ersten Stasimon aufgeworfene Panorama erfährt so an unserer Stelle eine Erweiterung und Umdeutung durch eine etwas mehr auf die Bühnenhand‐ lung konkretisierte Reflexion, die das Grundproblem der moralischen Ambiva‐ lenz menschlichen Tuns unter Einbeziehung anderer Impulse neu ausleuchtet. Damit ist das erste Standlied nach ungefähr zweihundert Versen beantwortet. Inhaltlich und motivisch ist das fein komponierte Chorlied eng mit der voran‐ gegangenen Handlung verknüpft, die mit der Verurteilung Antigones zu einem natürlichen Ruhepunkt gelangt ist: Die Auseinandersetzung zwischen Kreon und Antigone ist im Wesentlichen beendet, die Protagonistin wird die Bühne nur noch betreten, um sie nach Klagen und einer erneuten Rechtfertigung ihres Handelns effektvoll wieder zu verlassen (Wechselgesang v. 806 – 882, Epeisodion mit Auftritt Kreons v. 883 – 942). Es wird sich dabei zwischen ihr und dem Chor bzw. Kreon kein wirklich dramatischer, d. h. handlungsgefüllter, Dialog mehr entspinnen. In diese Pause des dramatischen Fortschritts singt der Chor das eben analy‐ sierte Lied und rundet damit in Bezugnahme auf die schon im Prolog vorge‐ brachten genealogischen Gedanken und die Reinszenierung der den Prolog prä‐ genden Gesprächssituation einen ersten Großabschnitt des Dramas. Als in 452

Vgl. G RIFFITH (1999) S. 219: „The Chorus insist throughout that all this is brought about by god(s) […] the Chorus say little about the guilt of Oidipousʼ familiy“.

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III. Greisenchöre

mancher Hinsicht gebrochene Beantwortung des ersten Standliedes transferiert das vorliegende Lied zudem entscheidende Ausdeutungskategorien der Parodos. Dabei eignet sich die Thematisierung der Familiengeschichte besonders für ein rückblickendes Atemholen innerhalb des dramatischen Verlaufs. Anders als die Parodos mit ihrer abschließenden Selbstaufforderung an den Chor, nun im Au‐ genblick des Triumphs die Tempel aufzusuchen, enthält dieses Chorlied kein spannungsvolles Moment, das im Folgenden zur Auflösung kommen müsste; vielmehr konstatiert es einen erreichten Zustand. Einzig die imaginierte Gestalt des von Verblendung Geführten enthält in ihrer Ambivalenz einen gewissen Ausblick auf das Kommende: Es wird sich im Verlauf des Dramas zeigen, wie dieses Bild zwar aus der Situation des Chors als allgemeine Aussage angemessen erscheint, allerdings einen dramaturgischen Hintersinn erhält, wenn man es aus der Perspektive des Dichters, d. h. mit Wissen um den Ausgang und die Kom‐ position des gesamten Dramas betrachtet. Gerade die Zurückhaltung der Greise im eigentlichen Konflikt, der Verzicht auf eine konkrete Positionierung und die Reflexion über allgemeingültige Wahrheiten lassen die implizite tragische Ironie umso deutlicher hervortreten. Anders als während der Parodos und des ersten Standliedes ereignet sich hinter der Bühne während des eben besprochenen Liedes nichts Wesentliches, das im Folgenden berichtet werden müsste. Einzig Haimon scheint in dieser Zwischen‐ zeit von der Verurteilung Antigones zu erfahren und tritt im Anschluss an das Lied auf, um mit seinem Vater zu diskutieren. Drittes Stasimon (v. 781 – 800)

Das folgende Epeisodion stellt das Streitgespräch zwischen Kreon und seinem Sohn Haimon (v. 631 – 780) dar. Die Problematik Haimons, der als Verlobter An‐ tigones und Sohn des Stadtherrn geradezu zwischen den Fronten steht, war durch Ismenes emotionalen Ausruf in Vers 568 und den sich daran anschlie‐ ßenden kurzen Wortwechsel bereits angedeutet. Haimons Auftritt kommt daher nicht unerwartet, er setzt vielmehr die am Ende des vorangegangenen Epeis‐ odions aufgeworfene Diskussion über ihn fort, indem er selbst seinem Vater gegenübertritt und seine Sicht der Dinge darlegt. Über das zweite Standlied hinweg sind so die beiden Epeisodien eng miteinander verbunden. Formal betrachtet strukturieren die Äußerungen des Chors die streng aufge‐ baute Szene: Wie schon am Ende der Parodos (v. 155 – 161), des ersten Stasimons (376 – 383) und innerhalb des zweiten Epeisodions (v. 529 – 530) kündigt der Chor auch hier in einer anapästischen Partie den Auftritt einer weiteren Person an und räsoniert über Haimons Motive, sich seinem Vater zu nähern: Zunächst meldet der Chorführer in direkter Ansprache an Kreon, dass sich dessen jüngster

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Spross nähere, und fragt daraufhin, ob er in emotionaler Aufgewühltheit (ἀχνύμενος v. 627) wegen Antigones Geschick und in Schmerz über die Täu‐ schung komme. In geradezu mustergültiger Strenge sind mit der vorliegenden Szene die ein‐ zelnen Teile eines Redeagons mit anschließender direkter Auseinandersetzung der Antagonisten verwirklicht. Es entfallen im Anschluss an die Auftrittsan‐ kündigung des Chors auf Kreon und Haimon je vier Verse (630 – 638), bevor beide in einem Monolog („Standpunktrhesis“453) ihre Position darlegen.454 Je ein Dop‐ pelvers des Chors (v. 681 / 2 sowie 724 / 5) verbalisiert zwischen den Monologen eine Wertung der vorgetragenen Gedanken. In der anschließenden direkten Auseinandersetzung wechseln sich Kreon und Haimon zunächst einmal nach je zwei Versen (726 – 729), im Folgenden (v. 730 – 757) streng stichomythisch ab. Nachdem dann Kreon und Haimon je noch einmal vier Verse gesprochen haben, verlässt Letzterer wutentbrannt die Bühne, was den Chor in besonderes Er‐ staunen versetzt (v. 766 / 7). Nach einem kurzen Wortwechsel zwischen Kreon und dem Chor und einer umfangreicheren Ausführung des Stadtherrn (v. 774 ff.) schließt die Szene mit dem Abgang Kreons in Vers 781. Inhaltlich können wir die Partie rasch abhandeln; statt eines detaillierten Nachvollzugs der einzelnen Redebeiträge soll eine konzise Angabe der wich‐ tigsten Argumente und Standpunkte der beiden Akteure einen umfassenden Überblick geben. Kreon legt Wert darauf, dass der Wille des Vaters für den Sohn absolute Priorität besitzen müsse (v. 640). Haimon solle seine in den Augen des Vaters tüchtige Gesinnung nicht wegen einer Frau preisgeben (v. 648 ff.); als ohnehin dem Tod Geweihte solle er Antigone nicht mehr beachten. Er, Kreon, werde sich und seinen Prinzipien treu bleiben und Antigone, die der Stadt ge‐ genüber ungehorsam war, töten lassen (v. 657 f.). In bewusstem Bezug auf seine Regierungserklärung zu Beginn des ersten Epeisodions referiert er zudem noch einmal, welche Autorität der Polis seiner Meinung nach zukomme, dass der Anarchie als besonders subversiver Gefahr für die staatliche Ordnung mit Ent‐ schiedenheit entgegengetreten werden müsse und er zudem einer Frau nicht weichen werde.

453 454

P FEIFFER -P ETERSEN (1996) S. 29. Noch P EARSON (1924) folgt Dindorf und konstatiert zwischen v. 690 und 691 eine lacuna von einem Vers; die Monologe der beiden Akteure wären so gleich lang. Dieser An‐ schauung folgen allerdings weder L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) noch G RIFFITH (1999), wenngleich dieser S. 242 ad locum vorsichtig festhält: „a line may have dropped out between 690 and 691“. Neben der Symmetrie der beiden Monologe spricht auch, wie G RIFFITH zu Recht anführt, die Syntax sowie der schwer nachzuvollziehende Gedan‐ kengang der Stelle für die Annahme eines Textausfalls.

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III. Greisenchöre

Haimon versucht in seiner Gegenrede, dem von seinem Vater entworfenen Konzept (gegen das er selbst nicht zu argumentieren versucht, vgl. v. 685 f.) eine Alternative gegenüberzustellen. Die Bevölkerung der Stadt, so weiß er zu sagen, stehe Kreon ohne dessen Wissen mit Angst gegenüber (v. 690), beweine aller‐ dings Antigone (v. 693) ob des ihr für die eigentlich bewundernswerte Tat zu‐ gedachten Schicksals (v. 699).455 Mit großer Vorsicht argumentiert er daraufhin, dass ein Dazulernen und Umdenken selbst für einen Weisen keine Schande be‐ deute, bevor er schließlich seinen Vater konkret auffordert, von seinem Zorn abzuweichen und eine Veränderung herbeizuführen (v. 718). Das Streitgespräch der beiden Akteure streift daraufhin mehrere Themen und Motive, die hier nur kurz skizziert werden sollen. So empfindet es Kreon als Zumutung, von einem jüngeren Mann zurechtgewiesen zu werden (v. 726 f.), Haimon insistiert darauf, die Meinung der Bevölkerung zu vertreten (v. 733), wohingegen Kreon die Autorität des Stadtherrn auch gegen das Volk betont (v. 739 sowie 738). Schließlich spielt das Geschlechterverhältnis erneut eine Rolle: Kreon bezeichnet seinen Sohn als „Mitstreiter der Frau“ (v. 740), charakterlich schlechter als eine Frau (v. 746) und „Sklave der Frau“ (v. 756), wogegen Haimon betont, auch um seinen Vater Sorge zu tragen (v. 741, 749). Die Auseinander‐ setzung endet in wüsten Beschimpfungen sowie der doppelten Drohung Hai‐ mons, der Tod Antigones würde zugleich den Tod einer weiteren Person nach sich ziehen (v. 751), wobei Kreon ihn nie wieder zu Gesicht bekommen werde (v. 763 f.). Die Aussagen des Chors innerhalb der Diskussion zwischen den beiden Ak‐ teuren zeichnen sich durch größtmögliche Ambivalenz aus: Zunächst scheint der Chor von den Argumenten Kreons überzeugt zu sein (v. 681 / 2), bewertet dann jedoch auch die Ausführungen Haimons als angemessen (καίριον v. 724) und konstatiert: εὖ γὰρ εἴρηται διπλῇ Gut nämlich wurde von beiden Seiten gesprochen (v. 725)

Dem Streit zwischen Kreon und Haimon folgen die thebanischen Greise wortlos; aus der Bemerkung über den Abgang Haimons (v. 766) spricht dann aber die Erfahrung des Alters und die Sorge um den jungen Mann, der in seinem Zorn

455

Mit diesen Andeutungen (v. 690 ff.) kann der Chor nicht gemeint sein. Erstens haben die thebanischen Greise nie dezidiert eine Aussage oder moralische Wertung zu Anti‐ gone gegeben; zum anderen betont Haimon, es seien ihm heimliche Reden zu Ohren gekommen, während der Chor die gesamte Zeit auf der Bühne war und mit Haimon noch keinen Kontakt hatte.

3. Antigone

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zu allem fähig zu sein scheint. Eine ähnliche Besorgtheit verrät die Frage, ob beide Mädchen – d. h. Antigone und Ismene – für die Bestattung des Polyneikes mit dem Tod bestraft würden (v. 770). Erst daraufhin entschließt sich Kreon, nur Antigone zu töten, Ismene jedoch am Leben zu lassen. Wiederum auf die Frage des Chorführers (v. 772) lässt der Stadtherr die genaue Art der Hinrichtung ver‐ lautbaren: Er wolle sie in eine verlassene Felsenhöhle einschließen, ihr aller‐ dings so viel Nahrung mitgeben, dass der Stadt eine Befleckung erspart bleibe. Zur Behandlung der ebenso wichtigen wie umstrittenen bühnenpraktischen Frage, ob Kreon im Anschluss an seine kurze Ansprache auf der Bühne verbleibt oder in das Palastgebäude tritt, müssen wir etwas ausholen und in mancher Hinsicht vorgreifen. Während K AMERBEEK für Kreons Abtritt in Vers 780 und seinen Wiederauftritt nach dem Kommos, d. h. spätestens in Vers 883 plädiert,456 votiert G RIFFITH mit einiger Vorsicht dafür, seine ununterbrochene Präsenz auf der Bühne anzunehmen.457 Das Fehlen der bisher mit einiger Regelmäßigkeit gesetzten Auftrittsankündigungen durch den Chorführer scheint zunächst für den Verbleib Kreons im Sichtfeld des Chors zu sprechen, da sein möglicher Wiederauftritt in Vers 883 nicht angekündigt wird. Dagegen lässt sich festhalten, dass die bisherigen Auftrittsankündigungen entweder dem Erscheinen einer zum ersten Mal zum Chor hinzutretenden Person galten (Kreon v. 155 ff., Anti‐ gone, vom Wächter geführt v. 376 ff., Ismene v. 526 ff., Haimon v. 626 ff.), oder aber im Fall von Antigones Wiederauftritt im Anschluss an das dritte Standlied die besondere emotionale Ergriffenheit angesichts des dem Tod entgegenge‐ henden Mädchens verbalisierten. Des Weiteren bleibt der Auftritt des Teiresias in Vers 988 unangekündigt, obwohl sein Herannahen unter der Führung eines Dieners besonders eindrücklich ist.458 Es ist demnach keine selbstauferlegte Pflicht des Dichters, das Herannahen eines Akteurs jedes Mal durch den Chor‐ führer ankündigen zu lassen. Als plausibel erscheint demnach, dass Kreon seine drängenden, ungeduldigen Worte v. 883 ff. geradezu beim Verlassen des Palastes spricht, nachdem er dort Antigones anhaltende Klage vernommen hat, das Ge‐

456 457 458

K AMERBEEK (1976) S. 143 sowie 146; ebenso J EBB (1891) ad locum. G RIFFTIH (1999) S. 255 zu Vers 780: „Exit Kreon into the Palace? Probably not.“, sowie S. 274 zu Vers 883: „If Kreon departed at 780, he must re-enter at this point; but more likely he has been present in the background throughout“. Es ist so entweder möglich, dass die Greise das Kommen des Teiresias mit bewusst ehrfürchtigem Schweigen beobachten – man würde so zwischen dem Ende des Chor‐ liedes und dem Beginn der Sprechverse eine gewisse Pause annehmen, in der der Chor (und auch Kreon) auf das Kommen des Sehers stumm (aber möglicherweise unter‐ schiedlich!) reagieren – , oder aber dass Teiresiasʼ erste Wortmeldung ohne größere Un‐ terbrechung dem Standlied folgt und so den Chor (und Kreon) aus der Imagination zurück in die dramatische Realität holt.

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III. Greisenchöre

schehen nun allerdings aktiv beschleunigen will. Das Fehlen einer Auftrittsan‐ kündigung ist so kein hinreichendes Indiz, den Ab- und Wiederauftritt Kreons auszuschließen. Freilich hängt von der möglichen Anwesenheit des Stadtherrn während des dritten Standliedes sowie des Kommos die Interpretation der beiden Partien ab: Unter Umständen äußern sich die thebanischen Greise in diesen Partien in genau der Weise, weil sie von Kreon gehört werden.459 Eine vermeintliche Be‐ weisführung allerdings, die aus der vom Chor in den entsprechenden Partien an den Tag gelegten Ambivalenz auf die Anwesenheit Kreons schließt, muss sich unweigerlich in einem Zirkelschluss verfangen.460 Eine definitive Entscheidung anhand des uns überlieferten Textes ist meines Erachtens nicht zu treffen,461 wenn ich auch dazu tendiere, Kreon nach der Un‐ terredung mit Haimon ab- sowie gegen Ende des Kommos wieder auftreten zu lassen.462 Zum einen scheint es mir aus der Charakterzeichnung des Stadtherrn unwahrscheinlich, dass er der umfangreichen lyrischen bzw. epirrhematischen Partie (v. 781 – 882, also hundert Verse) in Gänze ohne Einschaltung folgt. Zum anderen macht die umfangreiche und effektvolle Gestaltung des Wiederauftritts der Protagonistin die visuelle Präsenz ihres Antagonisten auf der Bühne in meinen Augen unwahrscheinlich. Zwar wäre die Situation so von einer unglaub‐ lichen Spannung geprägt, die Antigones emotionalen Ausbruch mit besonderer Brisanz unterlegen würde; allerdings wäre die herausgehobene Stellung Anti‐ gones sowie die unmittelbare Wucht der unerwartet an den Tag gelegten Emo‐ tionalität dadurch gemindert. Anders gesagt: Mit dem Kommos inszeniert So‐ phokles meines Erachtens ganz bewusst eine Szene, die Antigone in den Mittelpunkt stellt. Die Hauptheldin ist nach der Einschaltung der Haimon-Szene sowie des noch zu besprechenden dritten Stasimons wieder ganz und gar Mit‐ telpunkt des Bühnengeschehens, ihrem Auftritt gilt die volle Aufmerksamkeit des Chors. Das gesamte vierte Epeisodion in seiner Rahmung durch den Kommos und das vierte Standlied dient so der finalen Ausleuchtung der Figur Antigones. Kreons Wortmeldungen (v. 883 – 890, 931 f., 935 f.) initiieren dabei keinen Austausch zwischen den Akteuren mehr, sondern forcieren die Be‐ schleunigung des Geschehens. Dramaturgisch gesehen ist das vierte Epeisodion 459 460 461 462

Vgl. G RIFFITH (1999) S. 261 in Bezug auf den Kommos: „his [Kreons] brooding presence could account for the ambivalence of the Chorus, sorrowing over Ant.’s fate, yet still not retracting their support of the king“. Eine ähnliche Problematik ergibt sich beim Stasimon des Philoktet, vgl. S. 125 ff. Es bleibt schließlich einem Regisseur überlassen, im Rahmen einer Aufführung der Tragödie ein stimmiges Konzept zu entwerfen und dementsprechend Auf- und Abtritte festzulegen. So auch K AMERBEEK (1978) S. 156 zu Vers 882 im Anschluss an J EBB (1891).

3. Antigone

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als Abschiedsszenerie Antigones ganz und gar ihr Moment, den der Dichter durch die besondere formale Ausgestaltung als einen ersten emotionalen Hö‐ hepunkt der Tragödie gestaltet. Die Dauerpräsenz Kreons währenddessen scheint dieser Gestaltungsabsicht zu widersprechen.463 Damit soll allerdings keine endgültige Lösung der Frage intendiert werden; im Rahmen des ausge‐ stalteten dramaturgischen Konzepts sind der Abgang Kreons sowie sein Wie‐ derauftritt durchaus schlüssig. Gehen wir also davon aus, dass Kreon die Bühne im Anschluss an den Streit mit seinem Sohn verlassen hat, und rekapitulieren wir rasch den dramaturgi‐ schen Rahmen des folgenden kurzen Chorliedes: Kreon hat sich über die An‐ gelegenheit Antigones auch mit seinem Sohn zerstritten, dessen Abgang von der Bühne Zuschauer und Leser mit der gleichen sorgenvollen Vorahnung wie den Chor erfüllt. Das Schicksal Antigones scheint nach der kurzen Unterredung Kreons mit dem Chor zudem endgültig besiegelt: Nach der Auseinandersetzung mit seinem Sohn ist das Todesurteil verbindlich gefällt, wobei auch die Todesart mittlerweile festgesetzt ist. Dramaturgisch ist die Szene dabei klar funktionali‐ siert: Zum einen wird am Beispiel des innerfamiliären Konflikts die Entfrem‐ dung Kreons gegenüber seinen Mitmenschen vor Augen geführt: Kreon vertritt auch in der Beziehung zu seinem Sohn den von ihm propagierten Anspruch der Polis an den Einzelnen sowie den Anspruch auf persönliches Regiment mit Ent‐ schiedenheit. Sein Monolog wirkt dabei geradezu als Wiederholung und Be‐ kräftigung der zu Beginn des ersten Epeisodions abgegebenen Regierungser‐ klärung. Zum anderen verdichten Haimons Abgang und Kreons besonders plastische Schilderung der Todesart Antigones die Spannung im Hinblick auf das Kom‐ mende. Zwar wird der Chor diesen dramatischen Impuls im anschließenden Stasimon nicht direkt verarbeiten, sondern sich der Reflexion über die dem Streit zwischen Vater und Sohn zu Grunde liegenden Ursachen widmen; das Schicksal Antigones wird der sich daran anschließende Klagegesang unter Beteiligung der Protagonistin selbst thematisieren. Das Epeisodion nimmt dabei als Ganzes eine eigene Stelle im Ablauf der Bühnenhandlung ein: Die dramatische Brisanz der Bühnenhandlung erwuchs bisher immer aus dem Handlungswillen Antigones, ihrer Präsenz oder der Kon‐ frontation zwischen ihr und Kreon. In der vorliegenden Auseinandersetzung 463

Vgl. K AMERBEEK (1978) S. 156: „Creon’s presence during the Kommos would be un‐ bearable; no dramatic purpose would be served by it“. Es mag einzig sein, dass sich Kreon am Ende der Haimon-Szene ganz in den Hintergrund zurückgezogen hat und so dem dritten Standlied und dem Kommos zwar beiwohnt, allerdings weder für die Zu‐ schauer noch die am Bühnengeschehen beteiligten Akteure eine Rolle spielt.

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III. Greisenchöre

zwischen Kreon und Haimon ereignet sich allerdings weder vorder- noch hin‐ terszenisch etwas durch Antigones Einfluss; sie, die die Bühnenhandlung bisher dominierte, scheint mit ihrem Abgang in Vers 581 vielmehr zunächst ganz aus dem Geschehen getreten zu sein. Freilich ist sie auch im vorliegenden Gespräch der beiden Akteure zentrales Thema; von ihr selbst geht allerdings keine Dy‐ namik aus. Hatte die Konfrontationsszene im vorangegangenen Epeisodion den zentralen Konflikt eindrücklich inszeniert und so einen ersten Höhepunkt der Handlung markiert, drosselt der Dichter mit der Einschaltung der Unterredung zwischen Vater und Sohn zunächst die unmittelbare Dynamik des Geschehens, um sie mit den drohenden Vorankündigungen Haimons gegen Ende des Epeis‐ odions wieder zu erhöhen. Vor den effektvoll inszenierten Wiederauftritt der Protagonistin setzt er darüber hinaus das dritte Standlied, dessen dramaturgi‐ sche Funktionalisierung im Folgenden untersucht werden soll. Zunächst bedürfen einige formale Aspekte des Liedes der Erwähnung. Struk‐ turell und motivisch ist das Lied ein Götterhymnos auf Eros, das noch strenger als die Parodos einige konventionelle Elemente dieser Gattung aufgreift.464 Mit nur einem Strophenpaar ist es zudem die kürzeste Chorpassage der vorliegenden Tragödie: Nach knapp zwanzig Versen wird die vom Chorführer gesprochene Auftrittsankündigung (v. 802 – 805) das nächste Epeisodion mit seiner komma‐ tischen Partie einleiten. Sophokles lässt so den Chor im Anschluss an den Streit zwischen Haimon und Kreon nur für eine überschaubare Zeitspanne in reflek‐ torischer Ausdeutung des Erlebten zu Wort kommen, bevor er die Handlung mit einer visuell und emotional besonders eindrücklichen Szene fortführt. Inhalt und Gedankenbewegung des Stasimons lassen sich kurz zusammen‐ fassen. Die ganze erste Strophe ist eine einzige direkte Anrede des Eros, dessen Einflussgebiete, Aufenthaltsorte und Wirkungen aufgezählt werden. Prägendes syntaktisches Gliederungsmoment der Strophe sind dabei die zwei auf die ge‐ doppelte Anrede des Gottes bezogenen Relativsätze (ὅς v. 782 f.), denen zwei Hauptsätze folgen. Eros, unbesiegt im Kampf (ἀνίκατε μάχαν v. 781), befalle Viehbesitz (κτήμασι465 v. 782), lauere auf den Wangen des jungen Mädchens und schwärme (φοιτᾷς) sowohl über dem Meer (ὑπερπόντιος v. 785) als auch in ländlichen Höfen bzw. Behausungen (ἀγρονόμοις αὐλαῖς). Weder einer der Un‐ 464 465

Vgl. G RIFFITH (1999) S. 255: „The Song observes regular hymnic form […] though there is no initial citing of parentage […], and no final request“. Das einhellig überlieferte κτήμασι hat in der modernen Textrekonstruktion für manche Probleme gesorgt; Bruncks direkter auf Viehbesitz hinweisende Konjektur κτήνεσι wurde noch von P EARSON (1924) in den Text übernommen. Sehr vorsichtig äußert sich G RIFFITH (1999) S. 258: „Various other emendations have been proposed […]; but none is convincing. Perhaps Dawe is right to print daggers“.

3. Antigone

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sterblichen noch ein Mensch, so der Chor, könne ihm, Eros, entfliehen; wer ihn „habe“ (ἔχων), der sei in Raserei versetzt (μέμηνεν). Die erste Strophe zeichnet ein poetisch ansprechendes Bild der Omnipräsenz des personifiziert vorgestellten Verlangens: In drei je zwei Sphären umfassenden Aussagen (Viehbesitz / Tiere – Mädchen / Menschen; Meer – ländliche Ge‐ gend;466 Götter – Menschen) entwirft sie ein umfassendes Panorama seines Ein‐ flusses. Die Perspektive wechselt dabei leicht: Während zunächst Eros selbst als Handelnder vorgestellt wird (ἐν … πίπτεις v. 782, ἐννυχεύεις v. 784, φοιτᾷς v. 785), rückt daraufhin die Seite der Betroffenen in den Blick: Eros ist am Ende der Strophe Objekt zu φύξιμος (besonders herausgehoben durch das verdop‐ pelte467 σ(ε) v. 789 f.); den drei von Eros als Handelndem ausgesagten Prädikaten steht abschließend das auf das „Opfer“ der Leidenschaft bezogene μέμηνεν ge‐ genüber.468 Ganz im Sinne der Anrufung der ersten Strophe rückt das zweimalige vokati‐ vische σύ zu Beginn der Gegenstrophe (nach der elidierten Form v. 787 schon das dritte direktive Personalpronomen) eine weitere Wirkung des Gottes ins Blickfeld und markiert den Subjektswechsel zurück zu Eros besonders deutlich. In paralleler Konstruktion verbalisiert der Chor so zunächst eine allgemeingül‐ tige Einsicht, in direktem Anschluss eine Einschätzung des eben Erlebten: Selbst die Gedanken gerechter Menschen mache Eros ungerecht (proleptisches ἀδίκους v. 791) und ziehe sie zur Schande (ἐπὶ λώβᾳ v. 792). Er habe auch diesen Streit (τόδε νεῖκος) unter verwandten Männern angezettelt (ἔχεις ταράξας). Konstatierend hält der Chor fest: Es siege das mächtige Verlangen nach der jungen, zur Ehe ausersehenen Frau – das Verlangen, das als „Beisitzer bedeu‐ tender Satzungen“ (μεγάλων πάρεδρος θεσμῶν) ähnlichen Einfluss für sich be‐ anspruche.469 Eine abschließende Bemerkung rundet das Ensemble der beiden Strophen: Unbezwingbar treibe die Göttin Aphrodite ihr Spiel (ἄμαχος γὰρ ἐμπαίζει θεὸς Ἀφροδίτα v. 799 f.).

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Bewusst ist dabei, wie G RIFFITH ad locum S. 258 anmerkt, offen gelassen, ob damit die eingefriedeten Hürden oder primitive Häuser gemeint sind. σέ γε (v. 789) ist dabei die sicher richtige Konjektur für das überlieferte ἐπ’ bzw. ἀπ’. G RIFFITH (1999) S. 259 weist zu Recht auf den klanglichen Kontrast hin, den dieses letzte Prädikats zu den vorhergehenden Versen bietet. Die Passage (v. 799 / 800) ist vor allem metri causa umstritten, bietet allerdings auch inhaltlich einige Schwierigkeiten; G RIFFITH (1999) sieht sich sogar zur Setzung von cruces gezwungen. Die oben wiedergegebene Paraphrase orientiert sich an J EBB (1891) S. 147 / 9: „it is a power enthroned in sway beside the eternal laws“, sowie L LOYD -J ONES (1994) II, S. 79: „desire that has its throne beside those of the mighty laws“.

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III. Greisenchöre

Mit Aphrodite ist der im Lied thematisierten Wirkmacht nach Ἔρως und ἵμερος ein dritter Name beigelegt. Mit dem ihr zukommenden Adjektiv ἄμαχος ist ἀνίκατε vom Beginn des Liedes wieder aufgenommen und das Lied so in einer Ringkomposition geschlossen. Mit Vers 801 ergreift der Chorführer daraufhin das Wort, der in einem kurzen anapästischen System (v. 802 – 805) seiner Erschütterung angesichts der heran‐ nahenden Antigone Ausdruck verleiht: Er selbst werde angesichts dieser Situ‐ ation „außerhalb der Satzungen“ (θεσμῶν ἔξω) getrieben und könne seine Tränen nicht zurückhalten. Mit Antigones direkter Ansprache des Chors be‐ ginnt daraufhin in Vers 806 der eigentliche Kommos. Blicken wir kurz zurück auf die Komposition des dritten Standliedes, bevor wir es thematisch und dramaturgisch einzuordnen versuchen. Mit der Gegenstrophe erfährt die Ausleuchtung des Eros eine besondere Wendung: War zunächst nur von seiner Unbesiegbarkeit und seinem umfassenden Einfluss auf im besten Sinne alle – Tiere, Menschen, Götter – die Rede, so verengt sich der Fokus im zweiten Teil des Liedes in doppelter Hinsicht. Zum einen ist (unausgesprochen) nur noch von der Wirkung auf Menschen und ihr Handeln die Rede, zum an‐ deren fällt der Chor gleich mit der Aussage der Verse 791 f. ein moralisches Urteil. Mit dem Potential, gerechte Menschen zu ungerechten Anschauungen zu bringen, wird das dem Eros innewohnende Gefahrenpotential thematisiert. Nicht nur der Sieg des Verlangens (v. 795 f.) und das Spiel der Aphrodite (v. 799 f.) erscheinen vor diesem Hintergrund als moralisch fragwürdig;470 zumin‐ dest implizit urteilt der Chor auch über den vorangegangenen Streit zwischen Kreon und Haimon. Unausgesprochen steht so eine moralische Bewertung des Konflikts im Raum. In der Ansammlung gängiger auf Eros bezogener Topoi ist das Chorlied in‐ haltlich dabei in hohem Maß konventionell.471 Auf eine inhaltliche und motiv‐ geschichtliche Erklärung kann daher verzichtet werden. Diese thematische Konventionalität darf allerdings weder Anlass zu einer negativen Beurteilung des kurzen Liedes geben, noch seine eminente dramaturgische Funktion zu ver‐ schleiern suchen. Es ist vielmehr gerade die Intention des Dichters, den theba‐ nischen Greisen hier ein an Kultgesängen orientiertes und damit im höchsten Maß konventionelles und formal streng aufgebautes Lied in den Mund zu legen.

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Etwas anders B URTON (1980) S. 116: „There may be felt in the verb ἐμπαίζει an almost playful tone which corrects the solemnity of the phrase in the preceeding lines and lightens the mood of the whole song at the end“. Vgl. B URTON (1980) S. 116: „The view taken of love in this ode is traditional throughout archaic and classical Greek literature, and Sophocles is no exception“.

3. Antigone

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Die poetische Ausgestaltung dieses Stasimons indessen ist meisterhaft: Die sich immer weiter auftürmenden Anrufungen und Charakterisierungen des Eros in der gesamten ersten und dem Beginn der zweiten Strophe kulminieren schließ‐ lich in Vers 793 in den Worten σὺ καὶ τόδε νεῖκος usw., mit denen die Verbindung zum Drama hergestellt ist. Wie schon beim vorherigen Stasimon liegt der An‐ knüpfungspunkt an die dramatische Handlung gerahmt von allgemeinen Aus‐ sagen in der Mitte des Chorliedes, aus der es daher zu interpretieren ist.472 So bildet auch in diesem kurzen Lied die Bezugnahme auf die dramatische Situation, in der es vorgetragen wird, die eigentliche Herzstelle der Komposition, um die herum sich weitere Ausführungen entfalten. Gerade die dramaturgisch wichtige Gelenkstelle innerhalb des Liedes verlässt so die Sphäre des allgemein-konven‐ tionellen Hymnos und verortet es passgenau im dramatischen Kontext. Halten wir fest: Das kurze Standlied hat in einem theologischen Schlaglicht eine personifizierende Ausdeutung der erlebten Situation entfaltet. In seiner di‐ rekten Hinwendung zum angerufenen Gott verlässt es den Rahmen des unmit‐ telbaren Bühnengeschehens und stellt der aufbrausenden Stimmung des voran‐ gegangenen Epeisodions eine andere Perspektive entgegen. Dabei ist das Chorlied, wie B URTON zu Recht anmerkt, zwar ein Hymnos, der traditionelle Formelemente aufweist und inhaltlich konventionelle Motive verarbeitet. Es ergeht sich allerdings weder in der Verklärung romantischer Liebe noch im Preis der angesprochenen Gottheit.473 Seinen Fokus legt der Chor vielmehr auf die verheerenden Wirkungen des Eros, für dessen Einfluss auf Menschen er mit μέμηνεν ein besonders drastisches Wort findet. Die damit angerissene Wertung des Eros als einer potentiell gefährlichen Macht relativiert der Chor anderer‐ seits – zumindest zum Teil – mit der Aussage der Verse 798 f.: Als den μεγάλοι θεσμοί gleichgeordnet weist er dem Verlangen eine besondere Autorität zu. Von ausschlaggebender Bedeutung ist die dramaturgische Einbindung des the‐ matisch-motivisch konventionellen Stasimons in den Kontext des Dramas. Ma‐ chen wir uns Folgendes bewusst: Der Chor will seine Reflexion dezidiert als eine Verarbeitung des innerfamiliären Konflikts verstanden wissen. Mit dem auf die vorangegangene Streitszene rückblickenden τόδε νεῖκος (v. 793) nehmen die thebanischen Greise so konkret wie noch an keiner Stelle innerhalb der lyri‐ 472

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Dass dahinter die bewusste Komposition des Dichters steht, erhellt schon aus der Über‐ legung, dass auch ein anderer Aufbau möglich gewesen wäre. So hätte das Lied gleich mit einer konstatierenden Bewertung „Eros hat diesen Streit verursacht“ beginnen können, um im Folgenden dann einzelne Bewertungen des Liebesgottes nachzuliefern. B URTON (1980) S. 117: „There is therefore nothing romantic or chivalrous about the concept of Love presented in this ode, nor do the chorus, although their song is in the form of a hymn, praise it in any way“.

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III. Greisenchöre

schen Partien Bezug auf das unmittelbare Bühnengeschehen. Anders gesagt: Der Chor verortet seine Reflexion ganz bewusst im Kontext der dramatischen Hand‐ lung und reagiert so zum ersten Mal punktgenau expressis verbis auf eine Szene. Auch wenn – wie schon in den anderen Chorpartien – keine namentliche Nen‐ nung der beiden Akteure erfolgt, ist augenscheinlich, dass sich die Imagination des von Eros in den Bann Genommenen – zumindest implizit – auf Haimon bezieht.474 Indem der Chor allerdings Eros, d. h. die Macht der Liebe als Ursache für den Streit zwischen Kreon und seinem Sohn angibt, verkennt er die vorangegangene Diskussion und konterkariert im Besonderen die von Haimon angebrachten Argumente.475 Mit keinem Wort hatte Haimon eine emotionale Bindung zu An‐ tigone erwähnt,476 sondern vor allem mit der Position seines Vaters als Staats‐ lenker, der heimlichen Meinung der Bürger und seinem Verständnis der Polis und einer angemessenen Regierung derselben argumentiert. Eine psychologi‐ sche Ausdeutung von Haimons Charakter, die ihm – gerade angesichts seines später referierten Verhaltens kurz vor seinem Tod (vgl. v. 1223 ff.) – zu Recht eine besondere emotionale Bindung zu Antigone beilegt, bleibt davon unbe‐ nommen. Anders gesagt: Dass Haimon Antigone liebt, ist unbestritten. Sein Auftreten war allerdings gerade vom Fehlen besonders emotionaler Motive ge‐ kennzeichnet: Dass es in der Auseinandersetzung mit seinem Vater um seine Verlobte ging, war, wenn überhaupt, angesichts der im besten Sinne politischen Argumente längst nicht in dem Maß wahrzunehmen, wie man es zu Beginn der Szene erwartet hätte. Gerade die Auftrittsankündigung des Chors, im Beson‐ deren v. 630 (ἀπάτης λεχέων), schien zunächst eine Diskussion über die geplante Ehe und deren Scheitern einzuleiten.477 Aber nicht nur zum allgemeinen Verlauf der Diskussion sowie der Argumen‐ tation Haimons im Speziellen bildet das dritte Stasimon einen thematischen Kontrast. Auch der die Rede Haimons kommentierende Einwurf des Chorfüh‐

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Vgl. G RIFFITH (1999) S. 255: „a clear reference to the youthful Haimon“. Hier anzu‐ nehmen, der Dichter lege dem Chor bewusst keine Namensnennung in den Mund, um es möglich zu machen, die Eros-Reflexion ebenso auf eine andere Figur zu beziehen, hieße, entweder Kreon oder Antigone eine im wahrsten Sinne erotische Leidenschaft zu unterstellen. Vgl. B URTON (1980) S. 113: „Whether the chorus are right or wrong in ascribing the quarrel to Ἔρως […], the fact remains that they have ignored the whole moral basis of Haemon’s arguments“. Vgl. B URTON (1980) S. 112: „Haemon himself […] says nothing of his love for her“. Ob Haimons Wahl der Argumente dabei auf der Überlegung basiert, seinen Vater eher durch die vorgebrachten politischen Gründe von einer Revision seines Urteils zu über‐ zeugen, spielt für unsere Zwecke dabei keine Rolle.

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rers innerhalb der Streitszene scheint durch die Eros-Reflexion konterkariert: War noch im oben zitierten Vers 725 beiden Kontrahenten durch den Chor be‐ scheinigt worden, gut, d. h. angemessen und nachvollziehbar geredet zu haben, muss der sich anschließende Streit die Meinung der Alten geändert haben. Die geradezu prophetische Warnung in Vers 766 f., ein junger Geist wie der des Haimon sei in seinem Zorn zu allem fähig, macht den Eindruck, den der wütende Haimon bei den Choreuten hinterlässt, besonders deutlich. Mit ihrer Ausleuchtung des Streits treten die Choreuten so bewusst einen Schritt zurück: Zwar reflektieren sie dezidiert über das Bühnengeschehen, deuten allerdings weniger die wirklich erlebte Diskussion der beiden Akteure. Vielmehr versuchen sie, mit der Thematisierung des Eros bzw. der Liebe als eines grundlegenden Phänomens geradezu hinter die vorgebrachten Argumente zu blicken und die Wirkmacht zu spezifizieren, die sie in Haimons Tun ausgemacht haben. Hinsichtlich einer Wertung des Geschehens bleiben sie dabei in einer besonderen ambivalenten Spannung: Mit seiner Behauptung, das Handeln Hai‐ mons sei ursächlich aus der Macht des Eros abzuleiten, steht der Chor dabei einerseits am ehesten in der argumentativen Linie Kreons. Dieser hatte seinem Sohn vorgeworfen, er sei mit Antigone verbündet (v. 740), befasse sich in seinem Reden nur mit ihr (v. 748) und agiere als ihr Sklave (v. 756). Auch wenn hier von Liebe explizit nicht die Rede ist, lassen sich die Ausführungen des Chors als Fortsetzung dieser Argumentation begreifen. Dementgegen sieht der Chor de‐ zidiert göttlichen Einfluss am Werk, gegen den sich aufzulehnen keine Aussicht auf Erfolg habe. Trotz der konkreten Bezugnahme auf das vergangene Epeis‐ odion nimmt der Chor so keine punktgenaue moralische Einordnung bzw. Schuldzuweisung vor. Das Verhältnis zwischen dramatischer Aktion (d. h. dem Epeisodion) und der chorischen Reflexion im vorliegenden Stasimon changiert so zwischen Nähe und Distanz, der deiktischen Bezugnahme auf das Geschehen (v. 793) und dem Perspektivwechsel hin zu einer Deutung allgemeiner Phäno‐ mene; die Relation zwischen Chorlied und Sprechszene ist so in mehrfacher Hinsicht gebrochen. Auch mit Blick auf die Einordnung des Liedes in den Kontext der anderen Chor‐ partien lässt sich ein komplexes Verhältnis von Nähe und Distanz feststellen. Zum einen ist die Eros-Thematik innerhalb der chorischen Reflexion neu. Bis zu diesem Punkt hatten sich einzig Kreon und Ismene mit der Problematik rund um Haimon und sein Verhältnis zu Antigone befasst (v. 568 ff.); für die thebani‐ schen Greise spielte dies allerdings keine Rolle. Thematisch setzt das dritte Sta‐ simon so innerhalb der chorischen Partien einen neuen Akzent. Des Weiteren rückt der durch das Demonstrativpronomen deutlich markierte Bezug der Re‐ flexion auf die vorhergehende dramatische Situation das Lied in eine bisher

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III. Greisenchöre

ungeahnte Nähe zum eigentlichen Bühnengeschehen: Fehlte dem ersten Sta‐ simon jeglicher konkrete Bezug auf das erste Epeisodion, so enthielt die erste Gegenstrophe des zweiten Standliedes eine bereits recht konkrete Verengung auf das dramatische Personal (v. 599 ff.). Das dritte Stasimon nimmt nun expressis verbis Bezug auf das Geschehen und versteht sich als Ausdeutung der Handlung selbst. Trotz dieser thematischen und formalen Differenzen lässt sich eine grundle‐ gende Parallele zwischen dem zweiten und dritten Standlied feststellen: In beiden Partien thematisiert der Chor eine dem Menschen eigene bzw. im Leben des Menschen bedeutsame, (quasi-)göttliche Macht (Ate bzw. Eros), die das Handeln des Einzelnen in charakteristischer Weise zu beeinflussen im Stande ist. Dem Grundthema der beiden ersten Standlieder – menschliches Handeln im Rahmen moralischer Wertmaßstäbe – bleibt der Chor damit auch an unserer Stelle treu. Was erreicht der Dichter nun in genuin dramaturgischer Hinsicht mit der Ein‐ schaltung dieses Liedes, das zum vorangegangenen Epeisodion sowie den an‐ deren chorischen Partien in der beschriebenen gebrochenen Beziehung steht? Zum einen lässt Sophokles mit dem vorliegenden Stasimon das dritte Epeis‐ odion, die Haimon-Szene, betont enden, indem er der Auseinandersetzung der beiden Akteure eine thematische Reflexion folgen lässt. Mit dem Chorlied ist zudem die gegen Ende der Streitszene aufgebaute dramatische Brisanz und Dy‐ namik zunächst gebremst; mit der Thematisierung des Eros als einer göttlichen Wirkmacht, die das Handeln des Einzelnen moralisch negativ beeinflussen kann, setzt das Chorlied der latenten Spannung, die in Haimons Abtritt kulmi‐ nierte, zunächst eine umfassendere Reflexion entgegen, die das Geschehen ein‐ ordnet und erklärt. Antigones emotionaler Wiederauftritt wird so nach dieser Pause im dramatischen Ablauf seine volle Wirkung entfalten können. Geradezu als Vorbereitung dieses finalen Auftritts der Protagonistin wirkt zudem die Ver‐ arbeitung der Hochzeits- und Brautthematik, wie sie in Vers 795 f. anklingt: Dieses innerhalb der chorischen Reflexion neue Motiv wird im Kommos weitere Ausgestaltung erfahren und mutatis mutandis im vierten Stasimon erneut auf‐ gegriffen werden. Mit der Thematisierung des Eros als umfassender Wirkmacht hat der Chor dabei zwar nicht den Auftritt Haimons im vergangenen Zwiegespräch ausge‐ leuchtet, wohl aber eine Erklärung für dessen Handeln gegeben, wie es am Ende der Tragödie durch den zweiten Boten berichtet wird. In seinem Blick auf die intrinsische Handlungsmotivation und deren Ausdeutung in betont allgemein‐ gültiger Weise tritt die Ausdeutung des Chors in mehr oder minder offenen

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Kontrast mit der von den beteiligten Personen selbst vorgebrachten Motivation ihres Sprechens und Handelns. Schließlich prägt das dritte Standlied eine besondere tragische Ironie: Hai‐ mons versuchte Intervention zu Gunsten Antigones, die der Chor implizit als Raserei und moralisch fragwürdig kennzeichnet, wird sich im Folgenden als der Sache angemessen erweisen.478 Zwar scheitert Haimon in seinem Überredungs‐ versuch, die zweite derartige Szene wird allerdings mit dem Einschreiten des Teiresias endgültig zur Wende führen. Während der Chor so an unserer Stelle die Situation zunächst falsch zu deuten scheint, trifft er gerade in der Paralleli‐ sierung von Eros und μεγάλοι θεσμοί einen entscheidenden Punkt. In der scheinbar thematisch so eng begrenzten Ausdeutung der vorangegangenen Szene liegt so eine Ambivalenz verborgen, die dem Chorlied besondere Relevanz zukommen lässt. In seiner Ausdeutung eines zentralen Phänomens tritt es dabei geradezu an die Seite des zweiten Standliedes. Kommos (v. 806 – 882)

Durch den weiteren Fortgang des Dramas ist angedeutet, was sich hinter der Bühne während des kurzen Stasimons abgespielt haben muss: Antigone hat sich für ihren bevorstehenden Tod gerüstet und ist auf dem Weg, wieder den Ort des Geschehens zu betreten. Bei ihrem Anblick bricht der Chor mit Vers 801 seinen lyrischen Gesang nach nur achtzehn Versen ab und leitet in der schon erwähnten anapästischen Partie zum folgenden Klagegesang zwischen ihm und Antigone über. Dabei wird er zum ersten Mal direkt mit der Protagonistin konfrontiert. Zwei Umstände erlauben es, den an das Standlied anschließenden umfang‐ reichen Kommos rasch abzuhandeln. Zum einen liegt seine dramaturgische Funktion offen zu Tage: Er dient zur effektvollen und emotionalen Inszenierung des Wiederauftritts der Protagonistin, die in Vers 582 die Bühne verlassen hatte. Zum anderen ist er dementsprechend im Wesentlichen eine Partie der Prot‐ agonistin. Wenn auch der Redeanteil des Chors verhältnismäßig hoch ist (von den knapp achtzig Versen entfällt ungefähr ein Viertel auf den Chor479), steht doch Antigone ganz im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: Sie ist es, die sich bei ihrem Wiedererscheinen an die thebanischen Greise wendet und eine Ausdeu‐ tung ihrer eigenen Situation gibt. Dem Chor kommt es dabei im Wesentlichen zu, ihre Beiträge zu kommentieren.

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Vgl. B URTON (1980) S. 113: „[…] to bring out the irony latent in implying at 791 that he [Haimon] has been driven into injustice by Ἔρως when it will be shown later that his advice to his father was in fact just and correct“. Vgl. dagegen die Verteilung im Kommos zwischen Aias und dem Chor, Aias v. 348 – 429.

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III. Greisenchöre

Machen wir uns die formale Gliederung des Kommos bewusst: Die Partie besteht aus zwei Strophenpaaren mit einer angehängten Epode. Während der Chor im ersten Strophenpaar auf die größtenteils choriambisch-glykonischen Verse Antigones480 (v. 806 – 816, 823 – 833) in Anapästen antwortet (v. 817 – 822, 834 – 838), kommen den thebanischen Greisen im zweiten Strophenpaar zwei kurze lyrische (größtenteils iambische) Systeme zu (v. 853 – 856, 872 – 875). In‐ nerhalb der emotionalen Partie ist so noch einmal eine gewisse Steigerung des Effekts zu erkennen. Die Epode (v. 876 – 882) stellt daraufhin geradezu das Schlusswort Antigones dar; sie bleibt von Seiten des Chors unbeantwortet. Antigone und der Chor stehen sich dabei als bewusste Gesprächspartner ge‐ genüber: Antigone spricht die thebanischen Greise dezidiert an (v. 806), hört und verarbeitet deren Antworten und äußert sich wiederum mit direktem Bezug darauf;481 auch der Chor richtet seine zum Teil allgemeingültigen Aussagen di‐ rekt an Antigone.482 Kurz gesagt: Chor und Protagonistin stehen hier in direktem Austausch miteinander und sind sich dieser Kommunikationssituation selbst bewusst. Ein kurzer Überblick über die thematisierten Aspekte wird eine genauere Ein‐ ordnung in den thematisch-dramaturgischen Kontext erleichtern. Geradezu programmatisch verweist Antigone bereits mit ihrer ersten Äuße‐ rung auf ihre momentane Lage: Sie gehe ihren „letzten Weg“ (τὰν νεάταν ὁδόν), sehe zum letzten Mal das Licht der Sonne, das aus ihrem Mund sowohl als generelles Bild für das Leben als auch als Andeutung ihrer Todesart (Ein‐ kerkerung) fungiert. Auf den besonderen Modus ihrer Hinrichtung weist sie in Vers 810 f. hin: Hades führe sie noch lebend (ζῶσαν) zum Ufer des Acheron. Nie habe sie geheiratet, nie habe ihr irgendjemand einen Hochzeitshymnos ge‐ sungen; nun werde sie dem Acheron vermählt werden (Ἀχερόντι νυμφεύσω v. 816). Der Chor legt in seiner Antwort Wert darauf, dass Antigone „berühmt und mit Lob“ (κλεινὴ καὶ ἔπαινον ἔχουσʼ v. 817) sterbe, darüber hinaus nicht dahin‐ gerafft von Krankheit oder direkter Gewalteinwirkung, sondern „alleine“ (μόνη), d. h. als einzige „nach eigenen Gesetzen lebend“ (αὐτόνομος ζῶσα v. 821) in den Hades hinabsteige. 480 481

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Vgl. die metrische Analyse der Partie bei G RIFFITH (1999) S. 261 – 266. Auch hier bietet sich als Vergleichspunkt der erwähnte Kommos zwischen Aias und dem Chor an, der geradezu in Form einer spärlich vom Chor kommentierten Solomo‐ nodie kaum kommunikative Interaktion zwischen den beiden „Gesprächspartnern“ beinhaltet. Vgl. G RIFFITH (1999) S. 261: „The ‘contact’ between Chorus and actor is formally close […] with frequent verbal echoes, addresses, and responses“.

3. Antigone

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Antigone stellt daraufhin zu Beginn der Gegenstrophe einen mythischen Vergleich an, der die wohl als anerkennenden Trost intendierte Behauptung des Chors, sie sei in ihrer Art zu sterben einzigartig, zu widerlegen sucht: Die Gott‐ heit bette sie (Antigone) wie Niobe, von der sie gehört habe (ἤκουσα v. 823), dass sie im Sipylos-Gebirge in einen Stein verwandelt wurde. Das tertium com‐ parationis dieses Vergleichs ist dabei wahrscheinlich zum einen die Rolle von Stein und Fels bei beiden Todesarten, zum anderen das Fehlen von „äußeren Einflüssen“ (Krankheit bzw. direkte Gewalteinwirkung), wie es der Chor für Antigones Fall konstatiert hatte.483 Statt dabei allerdings den Mythos auszu‐ führen, den Namen der Heroine zu nennen oder klar zu verbalisieren, worin ihrer Ansicht nach die Ähnlichkeit zwischen Niobe und ihr bestehe, entwirft Antigone einzig ein kurzes imaginatives Schlaglicht, das in der Beschreibung einzelner Details einer Szene des Mythos eine Stimmung generiert. Der Chorführer betont daraufhin zunächst den Unterschied zwischen Niobe und Antigone: Erstere sei eine Göttin und göttlicher Herkunft, während Anti‐ gone sterblich sei. Dennoch sei es „groß zu hören“ (μέγα κἀκοῦσαι v. 836), d. h. ein besonders hervorzuhebender Umstand, dass sie im Leben und Sterben ein den Göttern gleiches Schicksal erfahre. Die Einzigartigkeit von Antigones Schicksal unter den Sterblichen steht so für den Chor weiter außer Frage. Antigone reagiert darauf besonders emotional: Sie fühlt sich durch die Be‐ merkung des Chors verlacht (γελῶμαι v. 839) und wirft den Greisen in Form einer Frage vor, sie noch zu ihren Lebzeiten statt nach ihrem Tod zu verhöhnen (ὑβρίζεις v. 841). In einer weit gefassten Priamel ruft sie die Stadt, die vielbegü‐ terten Männer der Stadt und die sie umgebende Natur als Zeugen ihres jam‐ mervollen Schicksals an: Sie gehe getrennt von Freunden dem Grab entgegen, weder zu den Lebenden noch zu den Toten gehörend. Die Antwort des Chors zielt auf Antigones Verantwortung für ihr eigenes Schicksal: Sie sei bis zum äußersten Wagemut geschritten und dabei an den „erhabenen Schemel Dikes“ (ὑψηλὸν ἐς Δίκας βάθρον) gestoßen; damit zahle sie nun den Preis der vom Vater ererbten Mühsal (πατρῷον ἆθλον). Diese Erwähnung der Vorgeschichte lässt Antigone in eine Verwünschung ihrer Familie einstimmen: Kurz ruft sie die schändliche Eheverbindung ihres Vaters ins Gedächtnis, bevor sie bekundet, nun solchermaßen fluchbeladen (ἀραῖος) zu ihren Vorfahren zu kommen. Mit einem Anruf ihres Bruders, der 483

Vgl. K AMERBEEK (1978) S. 150: „Antigone evokes the image of Niobe because of the similarity between her imminent fate of being buried alive in a sepulchre carved in the rocks and that of Niobe“. So auch G RIFFITH (1999) S. 268. Die von M ÜLLER (1967) inten‐ dierte weitergehende Parallelisierung von Niobe und Antigone lehnen die beiden Kom‐ mentatoren allerdings ab.

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III. Greisenchöre

nach seinem Tod nun auch sie töte, beschließt sie den Blick auf ihre Familie und nimmt dabei die eigentliche Ursache ihres bevorstehenden Todes in den Blick. Der folgende Kommentar des Chors (v. 872 ff.) ist von besonderer Ambivalenz geprägt. Ich folge in der Deutung dabei K AMERBEEK und G RIFFITH .484 Zwar er‐ kennt der Chor in Antigones Tun eine lobenswerte εὐσέβεια, gibt allerdings gleichzeitig zu bedenken, dass die institutionalisierte Macht zu ehren sei; Anti‐ gone habe „selbstgewählter Eifer“ (αὐτόγνωτος ὀργά v. 875) zu Grunde ge‐ richtet. In der anschließenden Epode resümiert Antigone noch einmal die entschei‐ denden Umstände ihrer Situation: Unbeweint, ohne Freunde und unverheiratet werde sie nun diesen Weg geführt; sie werde das Licht nicht mehr sehen können, und keiner der Freunde werde ihr Schicksal beklagen. Die rabiate Wortmeldung Kreons (v. 883) macht daraufhin dem Kommos ein Ende. Führen wir uns kurz einige Momente vor Augen. Im Kommos gibt Antigone selbst eine emotionale Ausdeutung ihrer eigenen Situation. Ihr Wiederauftritt steht dabei ganz unter den Vorzeichen des bevorstehenden Todes, der sich hin‐ terszenisch ereignen wird; ihre Anwesenheit auf der Bühne ist so nur eine Durchgangsstation, bevor am Ende des Epeisodions ihr endgültiger Abtritt er‐ folgt. Das eigentlich beklagenswerte Faktum, der frühe Tod Antigones, gehört dabei streng genommen erst der unmittelbaren Zukunft an. Dennoch bietet der Kommos hinsichtlich des Tempusgebrauchs ein umfassendes Panorama, das mehrere Zeitebenen umfasst: So legt Antigone den Fokus auf die aktuelle Ge‐ genwart des Geschehens, als deren Momente ihr Gang zum Grab (präsentische Prädikate ἄγει v. 811, wiederaufgenommen in ἄγομαι v. 877) sowie die Reaktion des Chors (γελῶμαι v. 839, ὑβρίζεις v. 841) verbalisiert werden, auf die Vergan‐ genheit (κατήναρες v. 871) und auf die Zukunft (νυμφεύσω v. 816). Der Kontrast zwischen der besonders ostentativ vertretenen Todesverach‐ tung Antigones, die sie bereits im ersten Gespräch mit ihrer Schwester (v. 73 ff.) sowie gegenüber Kreon (v. 460 ff.) an den Tag gelegt hatte, und ihren ausgrei‐ fenden, teilweise stereotypen Klagen im Kommos hat verschiedentlich Anlass zu einer Abwertung der sophokleischen Charakterzeichnung gegeben, wohin‐ gegen man ebenso festgehalten hat, erst durch die ausführliche Klagesequenz der Heldin runde sich deren Charakter und sei im Stande, Mitleid hervorzu‐

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K AMERBEEK (1978) S.  155 mit Bezug auf die Erklärung der Scholien ad locum. G RIF‐ (1999) S. 273. Zur Ambivalenz vgl. seine Einschätzung „an enigmatic final com‐ ment“.

FITH

3. Antigone

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rufen.485 Es ist hier nicht der Ort, dieses Problem ausführlich zu behandeln oder sich gar einer Theorie zum sophokleischen Helden anzuschließen. Wichtig ist, sich der dramaturgischen Wirkung des Kommos bewusst zu werden: Er stellt den ersten emotionalen Höhepunkt innerhalb der vorliegenden Tragödie dar und präsentiert mit Antigone die Hauptheldin und eigentliche Motivatorin des Geschehens in besonders exponierter Weise. Der Wechsel zwischen geradezu kühler, todesverachtender Konzentration auf die auszuführende Tat bzw. deren Rechtfertigung in den Partien bis zum Kommos und der überbordenden Emo‐ tionalität an unserer Stelle ist meines Erachtens bewusstes Kalkül des Dichters: Er wird vom Publikum sicher als solcher wahrgenommen und ruft mit einiger Wahrscheinlichkeit – zumindest zunächst – gewisse Irritation hervor. Aller‐ dings glaube ich kaum, dass das Publikum daran allzu großen Anstoß ge‐ nommen haben wird. Zum einen erweist ein genauerer Blick auf die Partie, dass Antigone auch trotz ihrer Klage ihre eigentliche Tat nicht zurücknimmt, keine Anzeichen von Reue zeigt,486 mehr noch: Zu einer wirklichen Diskussion über die Bestattung kommt es dabei, zumindest von Seiten Antigones, nicht. Ihr Fokus liegt dementgegen ganz auf dem Todesschicksal, dem sie nun entgegen‐ geht. Auch wenn sie damit ihre Todesverachtung konterkariert, bleibt sie sich hinsichtlich ihrer Positionierung im Grundkonflikt völlig treu, was auch ihr anschließender Monolog (v. 891 – 928) eindrücklich zeigen wird. Dass Antigone darüber hinaus auch zu ausgreifenden emotionalen Reakti‐ onen fähig ist, zeigte nicht zuletzt der Bericht des Wächters: Angesichts des vom Staub befreiten Leichnams ihres Bruders war sie in Jammer und Klage ausge‐ brochen (ἀνακωκύει πικρῶς ὄρνιθος ὀξὺν φθόγγον v. 423 f., γόοισιν ἐξῴμωξεν v. 427). Dass sie an unserer Stelle nun eine Totenklage über sich selbst anstimmt, ist eine besonders wirkungsvolle Verkehrung dieser berichteten in eine wirklich inszenierte Klageszene – schließlich ist sie an unserer Stelle selbst das Objekt ihrer Klage. Aus formaler Hinsicht lässt sich ferner festhalten: Wenn Antigones Äuße‐ rungen auch in bewusstem Kontrast zur Charakterzeichnung des ersten Teils der Tragödie stehen, so sind sie im Rahmen des Kommos selbst ganz formgemäß. Dass der Ablauf der Tragödie dabei eine kommatische Partie vorsieht, die den Tod der Hauptheldin zum Gegenstand hat, kann nicht überraschen – anders

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Einen ausführlichen Überblick gibt R OHDICH (1980). Antigone: Beiträge zu einer The‐ orie der sophokleischen Helden, Heidelberg in seiner Einleitung S. 11 – 25. Seine psy‐ chologisch-philosophische Lösung (vgl. S. 227 f.) bleibt allerdings unbefriedigend. Vgl. N ICOLAI (1992). Zu Sophoklesʼ Wirkungsabsichten, Heidelberg, S. 49: „[…] davon, dass sie ihre Handlungsweise am Ende bereut oder rückgängig machen will, ist nirgends die Rede“ .

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III. Greisenchöre

gesagt: Die Hauptheldin ohne eine emotionale lyrische Partie aus dem Ge‐ schehen zu nehmen, ist unter formellen Gesichtspunkten schlicht undenkbar.487 Ihre Rückkehr auf die Bühne nach der Konfliktszene mit Kreon dient ja auch einzig der wirkungsvollen Verzögerung ihres Todesschicksals und damit der emotionalen Ausleuchtung ihres Charakters. Wen aber kann der Dichter zu diesem Zeitpunkt des Stücks um Antigone klagen lassen? Eine emotionale Bin‐ dung zu Antigone vorausgesetzt kommen nur ihr Verlobter sowie ihre Schwester in Frage. Haimons Funktionalisierung als Fürsprecher, der mit rati‐ onalen Argumenten seinen Vater zu bewegen sucht, macht seine Beteiligung an einer solchen Partie allerdings unmöglich. Ein Wiederauftritt nach der Streit‐ szene mit Kreon ist darüber hinaus dramaturgisch kaum denkbar, würde er doch die Wucht des zornigen Abtritts in Vers 765 erheblich mindern. Ismenes Rolle ist ebenfalls anders konzipiert: Als Kontrastfolie für die Entschlossenheit der Protagonistin im Prolog sowie dem versuchten Eingreifen zu ihren Gunsten im zweiten Epeisodion hat sie zur indirekten Charakterisierung Antigones beige‐ tragen. Dass sie als solchermaßen dramaturgisch klar umrissene Nebenfigur nach der Entzweiung mit der Hauptheldin aus dem Geschehen verschwindet, ist unter den Maßgaben der Gattung folgerichtig.488 Sophokles macht sich diesen scheinbaren Mangel zu Nutze, indem er die formell erwartbare Klage der in ihren Überzeugungen ungebrochenen Protagonistin selbst in den Mund legt: Nur so können die Einsamkeit Antigones, ihre Sonderstellung (bzw. Autonomie, vgl. v. 821) und die Einordnung in den genealogischen Kontext einen wirkungsvollen Ausdruck finden. Die bewusst lancierte Differenz zur Geringschätzung des Le‐ bens und der Todesverachtung des ersten Teils der Tragödie nimmt der Dichter dabei nicht nur absichtlich in Kauf, sondern lässt gerade durch sie Antigones Schicksal umso wirkungsvoller hervortreten. Die thebanischen Greise legen im Verlauf des Wechselgesangs die ihnen eigene ambivalente Haltung an den Tag: Zum einen sind sie, wie oben schon ausgeführt, vom Eindruck der zum Tode Gerüsteten bewegt, begegnen ihr gerade im ersten Strophenpaar mit gewissem Mitleid und scheinen der herausragenden Gestalt Antigones dabei Lob abgewinnen zu können (v. 817). Andererseits thematisiert der Chor ebenso die Autonomie Antigones und legt gerade im zweiten Stro‐ phenpaar Wert darauf, dass ihrem Handeln keine uneingeschränkte Wertschät‐ zung zukommen könne; schließlich sei es ihr Zorn gewesen, der ihren Unter‐

487 488

Ganz anders verhält es sich bei Deianeira: Ihr stiller Abtritt (Trachinierinnen v. 812) erfolgt nach der Einsicht in die eigene Verstrickung in das Verhängnis ihres Mannes. Vgl. auch hier die Gestalt der Chrysothemis aus der Elektra, die der Dichter nach ihrem Streit mit der Schwester nach Vers 1057 ebenfalls völlig aus dem Geschehen nimmt.

3. Antigone

717

gang verursacht habe (v. 875). Anerkennung und Verurteilung Antigones und ihres Handelns halten sich so im Ganzen die Waage. Halten wir fest: Der Kommos inszeniert das Klagen der Protagonistin über das ihr bevorstehende Todesschicksal. Der Dichter nutzt ihn dazu, Antigone bei ihrem Wiederauftritt die Ausleuchtung ihrer momentanen Lage unter Rekapi‐ tulation entscheidender Momente der Vergangenheit in den Mund zu legen. Der Chor dient dabei als Kontrastfolie der überbordenden Emotionen der Heroine. Mit Blick auf die Komposition des ganzen Dramas erfüllt der Kommos eine doppelte Funktion: Zum einen markiert er deutlich den Beginn eines drama‐ turgisch anders gestalteten Teils der Tragödie, in dem der ungelöste Konflikt zwischen den beiden Antipoden der Katastrophe entgegengeht. Die vermehrte Einbindung des Chors in das Gespräch sowie die Fokussierung auf Emotion (vgl. die exaltierte Stimmung des letzten Standliedes) und Pathos sind Kennzeichen dieses Wechsels innerhalb der dramatischen Gestaltung. Zum anderen bildet er die Folie, auf der sich der zweite Kommos mit der Beteiligung Kreons (v. 1261 – 1346) abheben wird. Die bipolare Struktur der Handlung bringt es mit sich, dass Kreon am Ende der Tragödie zuvörderst sein eigenes Schicksal, d. h. den Verlust des eigenen Sohns sowie seiner Frau be‐ weinen wird. Die Schlusspartie des Dramas erweist sich so als rückblickendes Gegenstück zum vorliegenden Kommos, der der eigentlichen Katastrophe vo‐ rausgeht. Die beiden Partien rahmen so das zentrale hinterszenische Geschehen im Sinne einer vorbereitenden Ausleuchtung sowie der effektvollen Konfron‐ tation mit dem Ereignis selbst. Wie B URTON festhält, gelingt es dem Dichter in der vorliegenden Partie, durch die Ambivalenz der chorischen Aussagen die Spannung aufrecht zu erhalten.489 Erst der zweite Kommos wird so am Ende des Stücks eine endgültige und unmissverständliche Wertung durch den Chor lie‐ fern. Die Handlung wird dabei durch den vorliegenden Kommos nicht wesentlich vorangebracht. Als erste durchgängig von Klage und Trauer geprägte emotio‐ nale Szene setzt er stattdessen dem bisherigen Verlauf des Dramas ein Ende. Bis zu diesem Punkt war der Konflikt der beiden jeweils in ihrer Weise entschlos‐ senen Charaktere Kreon und Antigone Zentrum der Bühnenhandlung gewesen; der Chor stand dem Geschehen meist als Beobachter und reiner Kommentator entgegen. Einzig im Anschluss an die Regierungserklärung Kreons im ersten Epeisodion hatte sich ein gewisser Dialog zwischen dem Machthaber und den thebanischen Greisen entwickelt (v. 211 – 222). Die restlichen Äußerungen des Chors waren meist moderierender Art, indem sie den Auftritt einer weiteren

489

B URTON (1980) S. 125 f.

718

III. Greisenchöre

Person ankündigten oder bereits Gesagtes einer Wertung unterzogen. Zu einer wirklichen Unterredung einer Person mit dem Chor war es also bis zu diesem Punkt noch nicht gekommen. Erst in unserer Szene tritt nun Antigone in ein direktes Gespräch mit dem Chor. Auch im Folgenden wird der Chor als Gesprächspartner enger in das Bühnengeschehen eingebunden werden (Unterredung Kreon-Chor v. 1091 – 1107, Gespräch Bote-Chor v. 1172 – 1180 sowie 1244 – 1256). Viertes Stasimon (v. 944 – 986)

Die dem Kommos folgende Unterredung zwischen Kreon und Antigone lässt sich rasch zusammenfassen: Kreon insistiert im Anschluss an die Epode des Kommos auf eine rasche Ausführung seiner Befehle; mit Blick auf ihr Schicksal beansprucht er für sich, kultisch rein geblieben zu sein, wohingegen sie des „Bürgerrechts der Oberwelt“ beraubt werde (v. 889 f.). Antigones ausführlicher und im Einzelnen umstrittener Monolog v. 891 – 928 soll hier nicht Gegenstand der Behandlung sein.490 Es reicht, sich Folgendes zu vergegenwärtigen. In direkter Anrede des Grabes entwirft Antigone den ihr bevorstehenden Weg in die Unterwelt: Sie werde nun als letzte zu den Ihren kommen, noch bevor ihr Lebenslos zu einem Ende gekommen sei (v. 892 – 896). Besondere Erwähnung finden daraufhin ihr Vater, ihre Mutter und ihr Bruder:491 An diesen dreien habe sie eigenhändig (αὐτόχειρ v. 900) die Bestattungszere‐ monien durchgeführt, wobei ihr die entsprechenden Handlungen an Polyneikes nun diese Strafe eingebracht hätten (v. 902 ff.). Von der Richtigkeit ihres Han‐ delns ist die Hauptheldin allerdings fest überzeugt (v. 904). Sie bekräftigt ihre tiefe emotionale Bindung zum Bruder daraufhin mit dem als „Kalkül“ so be‐ kannten wie umstrittenen Gedankengang: Weder für ein eigenes Kind noch für den Ehemann hätte sie es unternommen, gegen den Willen der Bürger (βίᾳ πολιτῶν v. 907) dieses Leid auf sich zu nehmen, da sie sowohl ein anderes Kind hätte zeugen oder einen anderen Mann hätte heiraten können. Da aber Vater und Mutter gestorben seien, könne sie keinen weiteren Bruder mehr bekommen. Nach eben diesem νόμος habe sie Polyneikes über alle Maßen geehrt, was Kreon allerdings als Verfehlung und übergroßer Wagemut erschienen sei (v. 913 – 915). 490

Zur Diskussion um die Streichung des sogenannten „Kalküls“ v. 905 – 920 vgl. K AMER‐ (1978) S. 159 f. und G RIFFITH (1999) S 277 f. Ob damit bereits Polyneikes gemeint ist, bleibt umstritten; vgl. K AMERBEEK (1978) S. 158, der für Eteokles plädiert, wohingegen G RIFFITH (1999) S. 276 mit aller Vorsicht den Bezug auf Polyneikes annimmt. Die namentliche und durch δέ abgesetzte Nennung des Polyneikes in Vers 902 scheint dabei nahezulegen, dass in der Aufzählung der Famili‐ enmitglieder zunächst Eteokles gemeint sein soll. Wann allerdings Antigone die kulti‐ schen Handlungen an ihrem zweiten Bruder vollzogen haben soll, bleibt unklar. BEEK

491

3. Antigone

719

Als Spiegelung der von Antigone bereits im Kommos vorgebrachten Motive, die ihr eigenes Leben und ihren Zustand beschreiben, wirken daraufhin die Verse 916 – 921: Kreon lasse sie als eine Unverheiratete und Kinderlose abführen, einsam gegenüber den Freunden gehe sie als Lebende zu den Gräbern der Ver‐ storbenen hinüber. Antigone fragt daraufhin nach der Rechtsgrundlage, die ihre Verurteilung rechtfertige, gibt der von ihr empfundenen Gottverlassenheit Aus‐ druck und fragt schließlich, welchen Gott sie noch als Verbündeten habe, nachdem ihr frommes Handeln (εὐσεβοῦσʼ) ihr (den Vorwurf der) Gottlosigkeit (δυσσέβειαν v. 924) eingebracht habe. Eine zweigliedrige Überlegung zum Ver‐ hältnis von Schuld und Strafe (v. 925 ff.) schließt daraufhin Antigones Monolog. Mit dem Kommentar des Chors in Vers 929 kommt wieder Dynamik in die Szenerie: Der in anapästischen Versen komponierte kurze Wortwechsel zwi‐ schen Chor, Kreon und Hauptheldin492 mitsamt dem Schlusswort Antigones v. 929 – 943 markiert das Ende des Epeisodions und leitet den Abgang der Prot‐ agonistin ein. Während der Chor bekundet, Antigone werde immer noch von den gleichen Stürmen ihrer Seele festgehalten (v. 929 f.), mahnt Kreon die Voll‐ streckung des Urteils an und erteilt jeder Hoffnung eine entschiedene Absage. Antigones letzte Worte sind daraufhin ein Anruf an die thebanischen Greise sowie die Götter: Sie werde nun abgeführt (ἄγομαι) und zögere nicht mehr (κοὐκέτι μέλλω v. 939). Die Choreuten ruft sie daraufhin noch einmal auf zu betrachten, was sie, die einzig Verbliebene des Königsgeschlechts,493 erleide, ob‐ wohl sie ein gottesfürchtiges Verhalten an den Tag gelegt habe. Antigone wird daraufhin (nach Vers 943) abgeführt, Kreon verbleibt am Ort des Geschehens. Einige formale und dramaturgische Implikationen der Abschiedsszenerie sollen hier hervorgehoben werden. Zunächst fällt die metrisch-formale Gestal‐ tung des eigentlichen Abtritts der Hauptheldin ins Auge: War ihr Wiederauftritt im Anschluss an das dritte Stasimon durch den umfangreichen Kommos aus‐ gestaltet worden, so setzt hier das anapästische System einen wirkungsvollen Akzent, der das Ende der eigentlichen Antigone-Handlung damit durch eine metrische Kadenz besonders deutlich bezeichnet.494 Zwischen diesen beiden Partien – dem Kommos sowie dem anapästischen System – kommt das eigentliche Geschehen nicht von der Stelle: Ganz im Mit‐ 492 493

494

Die Zuteilung der Verse 933 f. an Antigone (so K AMERBEEK (1978), L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) und G RIFFITH (1999), anders noch P EARSON (1924) sowie M ÜLLER (1967)) ent‐ spricht zwar nicht den codd., ist aber wohlbegründet und beizubehalten. Dass mit Ismene freilich ein weiteres Mitglied der jüngsten Generation noch lebt, spielt für den Chor keine Rolle. Diese Konzentration auf die Protagonistin entspricht dabei der Rollenkonzeption Ismenes, die einzig als eindeutig funktionalisierte Kontrastfolie der Hauptheldin figuriert. Vgl. G RIFFITH (1999) Bemerkung zur „Schlusswirkung“ der Anapäste ad locum S. 281.

720

III. Greisenchöre

telpunkt der Szenerie steht auch hier Antigone, die in ihrem finalen Monolog noch einmal Stellung bezieht. Anders als im Kommos bietet Antigone in ihrer Rhesis allerdings eine detaillierte Auseinandersetzung mit ihrer Tat als solcher, die sie zu rechtfertigen sucht. Nichtsdestoweniger nimmt sie dabei zentrale Mo‐ tive des Kommos erneut auf: Ehe- und Kinderlosigkeit (v. 917 f.), die Einschät‐ zung ihrer selbst als lebendige Tote (v. 920), ihre Einsamkeit (v. 919), die Ver‐ bundenheit mit den verstorbenen Familienangehörigen (v. 898 ff.), die Frage der Rechtfertigung des Urteils (v. 921). Auch ihr letzter Anruf der thebanischen Greise (925 ff.), sie zu betrachten (λεύσσετε v. 940), spiegelt dabei den Imperativ bei ihrem Auftritt (ὁρᾶτε v. 806) und verleiht der gesamten Partie besondere formale Geschlossenheit. Antigone selbst bündelt auf diese Weise am Schluss der Szenerie die Aufmerksamkeit erneut auf sich. Sophokles hält den Lauf der Handlung so an unserer Stelle bewusst an, um den Fokus noch einmal ganz betont auf die Hauptheldin zu lenken. Der Kommos und die sich anschließende iambische Partie samt ihrem anapästischen Schluss greifen dabei so eng inei‐ nander, dass sie in ihrer thematisch-motivischen Verbundenheit einen eigen‐ ständigen Großabschnitt der Tragödie bilden und den finalen Abtritt der Prot‐ agonistin wirkungsvoll in Szene setzen. Es wird zu zeigen sein, welche Funktion dem folgenden Stasimon innerhalb dieses Abschnitts zukommt. Wir kommen so zur Behandlung des vierten Stasimons, das sowohl sprachlich als auch inhaltlich und besonders hinsichtlich seiner Einordnung in den dra‐ matischen Zusammenhang eine der schwierigsten Partien des Stücks darstellt. Gegenstand des ausgreifenden Liedes, das sich in zwei Strophenpaaren über mehr als vierzig Verse erstreckt, sind mythologische Gestalten, deren Schicksale mit dem Antigones vergleichbar sind oder zu sein scheinen. In seiner aus‐ schließlichen Fokussierung auf mythologisches Geschehen ist das vorliegende Lied im Rahmen der uns überlieferten Tragödien des Sophokles singulär.495 Dabei rekurriert der Chor auf eher abseitige Mythologeme, was das Verständnis der Partie zusätzlich erschwert: Zunächst geraten Danae und Lykurg, der Sohn

495

Vgl. B URTON (1980) S. 129.

3. Antigone

721

des Dryas, in das Blickfeld des Chores (erste Strophe und Gegenstrophe), darauf Kleopatra sowie ihre beiden Söhne (zweite Strophe samt Gegenstrophe).496 Gleich mit dem ersten Wort sowie dem folgenden Satz befindet sich der Chor im thematischen Rahmen des gesamten Liedes: ἔτλα καὶ Δανάας οὐράνιον φῶς ἀλλάξαι δέμας ἐν χαλκοδέτοις αὐλαῖς. Es ertrug auch Danaes Körper, das himmlische Licht einzutauschen in von Erz ge‐ fassten Höfen. (v. 944 / 5)

Die erste Strophe entwirft so zunächst das Bild der in einer unterirdischen Kammer eingeschlossenen Danae, die geradezu „unterjocht“ (κατεζεύχθη v. 947) und in einem grabähnlichen Schlaf- bzw. Brautgemach (θαλάμῳ) verborgen wurde (κρυπτομένα). Gleichwohl, so der Chor in besonders erregtem Gestus (beachtenswert der verdoppelte, auf die nicht mehr auf der Bühne präsente Antigone bezogene Vo‐ kativ ὦ παῖ παῖ v. 949), habe die von ihrer Abstammung her edle Danae die goldtropfenden Samen bzw. Nachkommen des Zeus (γονὰς χρυσορύτους v. 950) einer Hausfrau gleich „in ihren Vorrat genommen“ (ταμιεύεσκε). Die Ima‐ gination bricht nach dieser Thematisierung des Goldregens ab und wendet sich einem allgemeinen Gedanken zu: Die Macht der Moira (μοιριδία δύνασις) aber sei gewaltig; weder Wohlstand (ὄλβος)497 noch Krieg, weder Befestigung noch Schiffe könnten, so die thebanischen Greise, vor ihr fliehen (v. 953 ff.). Der Strophe in Form der gliedernden Adverbien καίτοι (v. 949) sowie ἀλλά (v. 951) eingeschrieben ist eine besonders subtile gedankliche Bewegung:498 Sie erschöpft sich nicht in der Narration eines Mythologems. Vielmehr erzählen die 496

497 498

Zur ersten Orientierung folgende Kurzzusammenfassungen, die einzig einem ersten Verständnis der Chorpartie dienen sollen (zu den einzelnen Mythen vgl. R OSCHER (1965) bzw. LIMC ad locum): Danae wurde von ihrem Vater Akrisios wegen des Orakelspruchs, er werde durch einen seiner Enkel getötet werden, eingekerkert; Zeus zeugt mit ihr daraufhin in Gestalt eines Goldregens den gemeinsamen Sohn Perseus. Lykurg, König der thrakischen Edoner, widersetzte sich der Einführung des rauschhaften Dio‐ nysos-Kults in Thrakien und wurde deswegen durch den gekränkten Gott einer Strafe unterzogen: in der hier vorliegenden Version des Mythos der Einkerkerung in einem Felsengefängnis. Kleopatra schließlich wurde von ihrem ersten Ehemann Phineus zu Gunsten einer anderen Frau verstoßen, die die beiden Söhne aus der Verbindung von Kleopatra und Phineus blendete. Die modernen Herausgeber folgen mit Recht der Konjektur Scaligers gegen das ein‐ hellig überlieferte und durch die Scholien dürftig erklärte ὄμβρος. Zu καίτοι sowie der häufigen Folge καίτοι … ἀλλά vgl. KG II § 506, 7 a, S. 151 f.

722

III. Greisenchöre

Choreuten keine Geschichte, sondern entfalten vor einem wissenden Publikum einzig die Andeutung einer Szene. Danae bleibt hier ganz ein Beispiel und er‐ langt trotz der bild- und farbenreichen Schilderungen (vgl. den wirksamen Kon‐ trast zwischen οὐράνιον φῶς und τυμβήρει θαλάμῳ) keine poetische Selbst‐ ständigkeit. Dem Bild der eingeschlossenen Danae entgegengestellt (καίτοι) ist die schlaglichtartige Verbalisierung des Goldregens, d. h. der Befruchtung durch Zeus, die geradezu als Auszeichnung und besondere Würdigung Danaes ver‐ standen wird, während die Strafe des Eingeschlossenseins ihrem gesellschaftli‐ chen Status (γενεᾷ τίμιος) nicht zu entsprechen scheint. Die letzte Periode mit dem allgemeinen Gedanken der Unentrinnbarkeit des Schicksals ist vom ima‐ ginativen Teil deutlich abgetrennt und ihm mit Nachdruck entgegengestellt (ἀλλʼ v. 951). In ihr kulminiert die Strophe: Nicht der mythologische Einzelfall Danae, sondern die an ihm exemplifizierte allgemeine Einsicht stellt die Aussa‐ geabsicht dar. Die beiden Momente des mythologischen Exempels (das Einge‐ schlossensein Danaes sowie der Goldregen) werden dabei nicht chronologisch erzählt, sondern durch Aufzeigen ihres syntaktisch-logischen Verhältnisses zu‐ einander entfaltet. Die Gegenstrophe führt mit Lykurg ein weiteres mythologisches Exempel an (v. 955 ff.): Der jähzornige Sohn des Dryas, der König der Edoner, sei in einem fel‐ sigen Gefängnis (πετρώδει ἐν δεσμῷ) durch Dionysos wegen seiner spottenden Wut unterjocht worden. Auf diese Weise (οὕτω) tröpfele die Wut seiner Raserei herab. Er habe erkannt, dass er den Gott durch seinen Wahn mit höhnenden Worten ungebührlich angegangen habe. Eine genauere Beschreibung seines Vergehens gibt der die Gegenstrophe abschließende, durch γάρ eingeleitete Satz (v. 963): Lykurg hatte die göttlich verzückten Frauen und das bakchische Feuer zu stoppen versucht und die musikliebenden Musen damit gereizt. Erneut ist damit eine gesellschaftlich hochstehende Persönlichkeit (βασιλεύς v. 956) Gegenstand der Betrachtung, die ihren bedauernswerten Zustand aller‐ dings auf Grund eines eigenen Fehlers selbst zu verantworten hat. Lykurg ist dabei durchgängig als Frevler und von Wahn Befallener geschildert (ὀξύχολος, μανίας δεινὸν μένος, μανίαις γλώσσαις). Im eindringlichen Bild des „Herab‐ träufelns“ (ἀποστάζει v. 899) wird das langsame Entschwinden der überhebli‐ chen Geisteshaltung geschildert, aus der heraus Lykurg die Ausbreitung bac‐ chantischer Riten gegen den Widerstand des Dionysos verhindern wollte. Mit der Strafe des Anschmiedens an einen Berg kommt schließlich die Erkenntnis der eigenen Schuld (ἐπέγνω v. 901). Auch in der Gegenstrophe entfaltet sich keine Erzählung; der geschilderte Sachverhalt (die Festsetzung Lykurgs im Felsengefängnis) ist vielmehr eine ein‐ zige Szene, die nicht Moment eines durchgängigen Narrativs ist, sondern zu‐

3. Antigone

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nächst im Bild ausgeleuchtet (οὕτω), schließlich mit Rückgriff auf die Vorge‐ schichte begründet wird (γάρ). Die Imagination des mythologischen Schlaglichts mündet so auch hier in die Deutung des Mythologems. Als Zent‐ ralbegriffe dieser Ausdeutung etabliert der Chor die das Verhalten Lykurgs als deutlich negativ charakterisierenden Wörter χόλος, ὀργά und μανία. Die gott‐ verhängte Strafe wird so implizit als gerechtfertigt und angemessen dargestellt. Das Verhältnis zur vorangegangenen Strophe ist dabei von besonderer Kom‐ plexität geprägt. Grundlegend verbindendes Moment ist die Art der Strafe in beiden Fällen: die Einkerkerung in einem felsigen bzw. ehernen Verlies. Begriff‐ lich fassbar wird diese motivische Brücke in der Wiederaufnahme des Simplex ζεύχθη zu Beginn der Gegenstrophe (v. 955), das lemmatisch das Kompositum κατεζεύχθη aus Vers 947, hinsichtlich der Stellung als Prädikat am Beginn der Strophe ἔτλα aus Vers 944 wiederaufnimmt. Formal und motivisch ist der Über‐ gang innerhalb des ersten Strophenpaars somit besonders eng. Beiden im ersten Strophenpaar vorgestellten mythischen Gestalten gemein ist darüber hinaus ihre vornehme Abkunft und gesellschaftlich herausgehobene Stellung, auf deren Erwähnung der Chor besonderen Wert legt (v. 948 / 956). Dass sich Danae und Lykurg dabei zunächst fundamental durch ihr Geschlecht un‐ terscheiden, ist längst nicht so trivial, wie es zunächst scheinen mag. Auch die Wertung des aufgeworfenen mythischen Geschehens unterscheidet sich: Wäh‐ rend Lykurg als Frevler einer gerechten Strafe unterzogen wird, die ihn zur Einsicht seines Wahns führt, legen Wortwahl und syntaktisch-logische Gliede‐ rung der Strophe die Einschätzung nahe, dass der Chor im Fall Danaes von einer unverdienten Bestrafung ausgeht – zumindest wird kein Vergehen der Heroine erwähnt. In beiden Fällen spielt für den Chor göttliches Eingreifen eine bedeutende Rolle: Während in Lykurgs Fall Dionysos, der geschmähte Gott, für die eigent‐ liche Bestrafung verantwortlich ist,499 hat Zeusʼ Eingreifen mit der Bestrafung als solcher nichts zu tun. Er überwindet vielmehr die Danae von menschlicher Hand angetane Demütigung und zeichnet sie damit in besonderer Weise aus. Führt also Dionysosʼ Strafhandeln im Fall Lykurgs zur Einsicht der eigenen Hybris, hebt Zeusʼ Handeln Danae als Mutter eines halbgöttlichen Kindes aus ihrer misslichen Situation heraus. Mit dem ersten Strophenpaar sind so also zwei Mythologeme gegenüberge‐ stellt, die sich zwar im geradezu materiell fassbaren Punkt der Bestrafung durch Einkerkerung gleichen, sonst aber gänzlich verschieden ausgeleuchtet werden. Der formal-metrischen Zusammengehörigkeit von Strophe und Gegenstrophe

499

K AMERBEEK (1978) S. 166 übersetzt ἐκ Διονύσου v. 957 mit „by Dionysusʼ command“.

724

III. Greisenchöre

ist so eine besondere Kontrastivität einbeschrieben, deren innere Spannung das Verhältnis der beiden Teile zueinander maßgeblich prägt. Das zweite Strophenpaar ist einer einzigen mythologischen Episode gewidmet. Dieser zweite Abschnitt des Chorliedes bietet die meisten Schwierigkeiten: Zum einen ist der Mythos, mehr noch als in den beiden ersten Strophen, nur andeu‐ tungsweise ausgeführt,500 zum anderen ist die Überlieferung des Textes an ei‐ nigen Stellen (v.a. v. 966 – 969) so korrupt, dass eine Rekonstruktion des Textes nicht mehr möglich ist.501 Darüber hinaus gibt die Einordnung der Partie in den Zusammenhang des Stasimons und des Dramas selbst einige Schwierigkeiten auf. Ein Nachvollzug des Textes soll dem Versuch einer Einordnung vorangehen. Anders als bei den vorangegangenen Beispielen holt der Chor zu Beginn der zweiten Strophe weiter aus und beginnt die Passage mit einer geographischen Verortung des Mythologems: Ort des Geschehens ist die Küste des Bosporus, an der sich der thrakische Ort Salmydessos befindet. Einem antiken Publikum wird bereits diese Information ausgereicht haben, um den Kleopatra-Mythos antizi‐ pieren zu können. Die eigentliche mythologische Szene wird darauf geradezu aus den Augen eines Dritten, des in Thrakien ansässigen Kriegsgottes geschildert. Ares also habe die Wunde der beiden Phineus-Söhne gesehen, die ihnen durch die „wilde Gattin“ (ἐξ ἀγρίας δάμαρτος v. 973) unter Einsatz bloßer Hände sowie mit We‐ berschiffchen zugefügt worden war. Farbenreich und mit dem Einsatz starker klanglicher Effekte (z. B. ἀρατὸν … ἀλαὸν ἀλαστόροισιν v. 972 / 74) malt der Dichter das drastische Bild der durch die Stiefmutter Geblendeten. Der Blick verweilt zu Beginn der zweiten Gegenstrophe zunächst auf den beiden Söhnen: Diese beweinten als „uneheliche Nachkommenschaft“ (ἀνυμφεύτου γονάν v. 980) ihrer Mutter das grausige Leid (μελέαν πάθαν v. 979). Eine durch μέν (v. 981) und ἀλλά (v. 986) geteilte Periode nimmt daraufhin Kleopatra selbst in den Blick: Sie sei, so der in sich wieder zweigeteilte Vorder‐ satz (δʼ in Vers 983 setzt die Abkunft von Seiten der Mutter der noch höher einzuschätzenden väterlichen gegenüber), Abkömmling der altehrwürdigen Erechthiden (des mythischen Geschlechts der Urkönige Athens) und als Tochter 500

501

K AMERBEEK (1978) S. 167 weist zu Recht darauf hin, dass der Mythos um die Söhne von Phineus und Kleopatra einem attischen Publikum geläufig gewesen sein wird: Der Bezug zum attischen Uradelsgeschlecht der Erechthiden (vgl. auch hier v. 982) lässt ihn zum spezifisch attischen Sagengut („specifically Attic lore“) gehören; zudem wurde er in Tragödien des Aischylos und unseres Autors auf die Bühne gebracht. Vgl. K AMERBEEK (1978) S. 168 ad locum: „the text of the mss is manifestly corrupt“; L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) setzen den mittleren Teil des Verses 966 in cruces und bieten zudem keine Füllung für die Lücke in Vers 969.

3. Antigone

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des Boreas in dessen Höhlen aufgezogen worden; der erste Teil der Periode schließt mit dem zusammenfassenden θεῶν παῖς. Mit dem direkten Aufeinan‐ dertreffen dieser volltönenden Charakterisierung Kleopatras als Götterkind kontrastiert der durch ἀλλά eingeleitete zweite Teil der Periode: Auch auf sie hätten es, so der Chor, die „uralten Schicksalsgöttinnen“ (Μοῖραι μακραίωνες v. 987) abgesehen. Besonders prominent an den Schluss des Liedes gestellt ruft die erneute Anrede Antigones ὦ παῖ die vom Chor intendierte Gesprächssitu‐ ation des Stasimons noch einmal in Erinnerung. Gegenüber dem ersten Strophenpaar zeichnet sich das zweite durch besondere inhaltliche Geschlossenheit aus. Mit seiner geographischen Einleitung setzt es dabei bewusst einen neuen Anfang in der Mitte des Stasimons. Statt dabei wie im ersten Strophenpaar die mythologische Kernszene unter Voranstellung eines die Situation prägnant bezeichnenden Prädikats direkt zu entwerfen, fokussiert der Chor im zweiten Strophenpaar erst schrittweise auf das mythologische Ge‐ schehen, um dann von der Imagination der klagenden Söhne auf Kleopatra selbst umzuschwenken. Die Verbalisierung der unverhältnismäßigen Relation ihrer Gotteskindschaft zur Heimsuchung durch die Moiren steht dabei als zentrale Aussage am Schluss der Gegenstrophe und bildet so zugleich die Klimax des gesamten Liedes. Mit einigem Recht können wir in dieser Schlussaussage des Liedes seine Kernthese erkennen:502 Der Macht des Schicksals (der μοιριδία δύνασις bzw. den Μοῖραι) auszuweichen, ist, unabhängig von persönlicher Schuld oder Unschuld, selbst Personen hohen Standes oder gar göttlicher Ab‐ kunft nicht möglich. Verbalisiert wurde diese Kernthese bereits am Ende der ersten Strophe (v. 951 ff.) als Lehre aus dem Exempel Danaes. An unserer Stelle, dem Ende der zweiten Gegenstrophe, ist Danaes Beispiel noch einmal gesteigert: Die Macht des Schicksals hat sich nicht nur an einer hinsichtlich ihrer (mensch‐ lichen) Herkunft besonders ehrenhaften Frau erwiesen, sondern mit Kleopatra selbst die Tochter eines göttlichen Wesens nicht verschont. Fragen wir nach der Einbettung des Liedes in den Kontext der Handlung. Angesichts der Schwierigkeiten des Liedes begibt man sich damit in geradezu vermintes Gelände. Es kann daher an dieser Stelle weder darum gehen, eine umfassende Auflistung aller Schwierigkeiten und der bereits vorgeschlagenen Lösungsansätze zu bieten, noch unter Aufbietung einer eigenen Interpretation die Passage einer Klärung zuführen zu wollen. Vielmehr sollen einzig die groben Linien angedeutet werden, auf Grund derer sich das Lied einer eindimensionalen Deutung entzieht. 502

Vgl. B URTON (1980) S. 131: „Fate’s inevitability, valid for guilty and innocent alike, is the unifying theme of the whole“.

726

III. Greisenchöre

Der eigentliche, d. h. thematisch-motivische Anknüpfungspunkt des Liedes zur dramatischen Handlung ist zu Beginn der ersten Strophe offensichtlich: Wie Antigone wurde auch Danae dem Tageslicht entzogen und eingekerkert (Ker‐ kermotiv). Die Bezeichnung von Danaes Verlies als τυμβήρης θάλαμος (v. 947) nimmt dabei die im Kommos sowie in Antigones Monolog prominente Hoch‐ zeitsthematik wieder auf. Diese Motivik erfährt im Empfangen und Verwahren des Goldregens daraufhin sowohl seine Steigerung – im grabähnlichen Braut‐ gemach findet ein Akt der Zeugung statt – als auch eine Umdeutung: Die Be‐ fruchtung ist göttlichen Ursprungs und soll als Gegenmoment zur eigentlichen Einkerkerung verstanden werden (καίτοι). Die Parallelität zum Geschehen um Antigone geht in diesem Moment verloren: Einzig die Betonung der edlen Her‐ kunft Danaes spiegelt ein auch für Antigone selbst bedeutendes Moment ihres Selbstverständnisses (v. 941). Ansonsten unterscheiden sich Antigone und Danae wesentlich: Letztere, die eine Gefangenschaft in einem unterirdischen Raum geradezu als Vorsichtsmaßnahme ihres Vaters zu erdulden hatte, hat zu ihrem Schicksal im Gegensatz zu Antigone kaum selbst beigetragen. Zudem wissen Zuhörer und Zuschauer, dass die Gefangenschaft Danaes weder als Hin‐ richtung intendiert war, noch überhaupt ihr Ziel, die Empfängnis eines Kindes, verhindern konnte. Problematisch ist so bereits die allgemeine Aussage am Schluss der Strophe: Auf wen bezieht sich die Gnome über die Unentrinnbarkeit des Schicksals? Die in der Reihe unnützer Schutzmaßnahmen aufgezählten Glieder sind, wie G RIF‐ FITH richtig bemerkt,503 bis auf das relativ neutrale ὄλβος „männlich“ konnotiert und können so nur mit Mühe auf Danae (bzw. Antigone) bezogen werden. Hier weitet sich also die Perspektive erneut: Danaes Exempel hat zur Einsicht in die allgemeine Wahrheit geführt und tritt bei der Verbalisierung der Gnome ganz in den Hintergrund. Dass damit zugleich die Kernthese des gesamten Stasimons verbalisiert wurde, ist oben bereits erwähnt worden. Der den Anstoß zur Re‐ flexion liefernde Vergleich Antigones mit Danae besteht so tatsächlich nur in der Situation des Eingeschlossenseins und dem Verlust des Lichtes; jenseits dieses Berührungspunktes entfaltet das kurze lyrische Narrativ und die daran angeschlossene Reflexion eine eigene Dynamik. Auch die erste Gegenstrophe führt zunächst das Kerkermotiv aus: Lykurgs Gefängnis ist in Vers 966 / 7 dezidiert erwähnt und als „felsig“ bezeichnet worden (πετρώδει ἐν δεσμῷ). In dieser Hinsicht ist also auch das in der Gegenstrophe vorgebrachte mythische Exempel mit der Bühnenhandlung, d. h. konkret mit dem der Hauptheldin bevorstehenden Schicksal verknüpft. Dieser scheinbar

503

G RIFFITH (1999) S. 289.

3. Antigone

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unproblematische Konnex ist allerdings nur vordergründig: Die moralische Wertung der Lykurg-Episode kontrastiert mit der Strophe und problematisiert so die implizite, wenn auch nur partielle Analogie von Antigone und Danae vollends. Gerade Lykurgs anmaßender Zorn gegen den Gott Dionysos sowie die durch göttliche Einwirkung auferlegte Strafe ist bis auf das wiederkehrende Motiv der Einkerkerung nicht mit Antigone zu vergleichen, hatte sie doch ge‐ rade in Anwesenheit des Chors behauptet, im Sinne göttlicher Mächte zu han‐ deln. Der konkrete Bezug zu Antigone scheint auch an dieser Stelle verloren gegangen zu sein; einzig die Einkerkerung verbindet ihn mit der Hauptheldin des Dramas. Diese Differenz hat zu verschiedenen Lösungsansätzen geführt. Im Besonderen liegt nahe, in der Gegenüberstellung der beiden mythischen exempla des ersten Strophenpaars – gerade auch auf Grund ihrer Polarität Mann-Frau – eine Spiegelung der beiden Antagonisten der dramatischen Hand‐ lung zu sehen:504 In Danae wäre so, wie bereits angedeutet, Antigone abgebildet, die als Unschuldige eine Strafe zu erdulden hat und doch letztlich die Oberhand behält, wohingegen man in Lykurg, dem König (v. 956), Kreon erkennen könnte, dessen wahnhafte Auflehnung gegen göttliche Mächte zu einer gerechten Strafe führt.505 Im Wissen um den Ausgang der Tragödie könnte dabei neben den An‐ deutungen des Chors über den sozialen Abstieg des aufgebotenen mythischen Personals vor allem der götterverachtende Wahn Lykurgs als ein in Wahrheit Kreon geltendes Bild gedeutet werden. Motivisch-thematische Anklänge an das zweite Stasimon und seine Formulierung πρὶν πυρὶ θερμῷ πόδα τις προσαύσῃ (v. 619) wären so bei den Ausführungen zu Lykurg und seiner späten Erkenntnis in die Falschheit seines Handelns (v. 900 ff.) durchaus beabsichtigt. Ziehen wir in Erwägung, dass Antigone das Bühnengeschehen verlässt, Kreon aber anwesend bleibt, ließe sich auch der das Lied durchziehende direktive Duktus als eine unterschwellige Ansprache an Kreon verstehen. Gekleidet in einen Grabgesang der abgeführten Antigone würde der Dichter so dem Chor eine Ahnung und implizite Warnung vor dem Kommenden in den Mund legen. Sicher ist diese durch den Rezipienten zu leistende Verknüpfung möglich und durch die anspielungsreiche Sprache, die polare Gegenüberstellung und die subtile Einflechtung tragischer Ironie beabsichtigt. Allerdings ist damit keine Methode gegeben, die es ermöglichen würde, das ganze Chorlied in Eins-zu-eins-Relationen zum Bühnengeschehen aufzulösen. Bereits das erste Strophenpaar widersetzt sich, wie angedeutet, einer zu engen Festlegung auf die 504 505

So vor allem M ÜLLER (1967) ad locum, ähnlich W INNINGTON -I NGRAM (1980) S. 101 – 104. Vgl. G RIFFITH (1999), der mit einiger Vorsicht auf die Variante des Mythos hinweist, in der Lykurg zudem seinen Sohn tötet. Im Wissen darum schließt er S. 289 f.: „we may recognize a deeper link with Kreon and Haimon“.

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III. Greisenchöre

Spiegelung der beiden Antagonisten in den mythischen Gestalten: So würde in dem Fall, dass sich die erste Gegenstrophe auf Kreon beziehen sollte, das der Imagination zu Grunde liegende Bild der Einkerkerung völlig an Bedeutung verlieren, da Kreon eben nicht gefangen und gefesselt wird. Gerade die meta‐ phorische Deutung M ÜLLERS506 muss bereits auf Grund dessen sowohl im Detail wie auch in ihrer gesamten Stoßrichtung bezweifelt werden. In noch viel höherem Maß greift die mit der Gegenstrophe bereits angerissene Problematik im zweiten Strophenpaar.507 Konkret stellt sich die Frage: Welchen Bezug hat das mythische Geschehen rund um Kleopatra und ihre Söhne zu An‐ tigone, genauer noch: zu dem Todesschicksal, dem sie nun entgegengeht? Im dritten mythologischen Exempel spielt ein etwaiges Gefängnis, in dem Kleo‐ patra eingeschlossen wäre, expressis verbis keine Rolle mehr. Man mag mit W INNIGTON -I NGRAM davon ausgehen, dass die Erwähnung der Einkerkerung Kleopatras durch den Rezipienten ergänzt werden könnte; ihr Fehlen aber ist angesichts der Betonung, die dieses Motiv im ersten Strophenpaar erfuhr, au‐ genscheinlich. Statt also die motivische Verknüpfung von Lied und Bühnenvor‐ gang erneut zu verbalisieren, wendet sich der Blick im zweiten Paar von Strophe und Antistrophe zunächst ganz auf die Wunde der Söhne und abschließend auf eine Bewertung des Abstiegs Kleopatras von einem umsorgten Götterkind zur verstoßenen Ex-Ehefrau. Einzig die Blendung der Söhne und der damit verbun‐ dene Verlust des Lichts mag eine motivähnliche Verbindung zu dem bereits im Kommos oder dem Stasimon selbst Entfalteten darstellen; ein direkter Vergleich zwischen Kleopatra und Antigone oder auch Kreon ist dagegen kaum anzu‐ stellen. Auch die Deutungsversuche, die in den Söhnen Kleopatras eine Spiege‐ lung Haimons sehen508 und darüber hinaus versuchen, die einzelnen poetischen Motive und Bildelemente des aufgerufenen mythologischen Schlaglichts in Analogie zu Momenten der Bühnenhandlung zu dechiffrieren, überzeugen nicht. Vor das Problem der Einordnung gerade des zweiten Teils des Liedes gestellt hält K AMERBEEK in vorsichtigem Anschluss an M ÜLLER fest: One gets the impression that the Chorus is supposed to choose the examples in such a way that the attention of the hearer is drawn to Creonʼs hybristic conduct and its 506 507 508

So ist für ihn das „bakchische Feuer“ aus Vers 964 Bild des heiligen Eifers, den Antigone an den Tag legt und der von Kreon unterdrückt wird (S. 221). Neben den Kommentaren vgl. W INNIGTON -I NGRAM (1980) S. 105 – 109 sowie B URTON (1980) ad locum. So M ÜLLER (1976) S. 217 f.: „Der hintersinnige Hauptgedanke des zweiten Strophen‐ paares ist also die gegen Haimon verübte Grausamkeit als Folge, Teil oder schließlich Inbegriff von Antigones Leiden“.

3. Antigone

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cruelty (especially by antistr. 1 and str. and antistr. 2) rather than to the superficial analogies (an analogy is hardly to be found between Lycurgus and Antigone) to An‐ tigoneʼs fate.509

G RIFFITH, der bereits die Problematik des ersten Strophenpaars dargestellt hat, kommt hinsichtlich möglicher Verbindungen zwischen dem mythischen Exempel und der dramatischen Handlung zur nachvollziehbaren Einschätzung: „As things stand, with so much uncertain and open to disputed interpretation, any links we make must be tentative: and we cannot tell whether this uncer‐ tainty was shared by the original audience.“510 Während so die etwas vage, meist assoziative Zuordnung der mythologischen Gestalten zu den Handlungsträgern des Dramas im ersten Strophenpaar in gewissem Rahmen nachvollziehbar war und zu einer vorsichtigen Einordnung der Reflexion führte, versagt diese Me‐ thode im zweiten Teil des Standliedes völlig. Allerdings ist die Kleopatra-Episode als Ganze nicht völlig kontextlos ange‐ schlossen. Dass dabei der konkrete Anknüpfungspunkt zur dramatischen Hand‐ lung keine Verbalisierung mehr erfährt und auch der sonstige Bezug zu den Akteuren des Bühnengeschehens – zumindest für uns – teils nur assoziativ her‐ zustellen ist, teils völlig unklar bleibt, ändert nichts an der Tatsache, dass die bereits in der ersten Strophe ausgedrückte allgemeine Erkenntnis (v. 951 ff.) auch den Zielpunkt des zweiten Strophenpaars darstellt. Betrachtet man die an dessen Ende (v. 986 f.) verbalisierte Aussage bezüglich der Unumgänglichkeit des Schicksals so als Kernthese des Stasimons, erscheint das Kleopatra-Mythologem vielmehr als weitere Illustration ebendieser Hauptaussage der chorischen Re‐ flexion. Die Funktion des dritten mythischen Schlaglichts wird so deutlicher: Zwar dient es nicht – zumindest nicht expressis verbis – zur Illustration einer weiteren Einkerkerung, demonstriert aber in besonders eindrücklicher Weise die Macht des Schicksals, der sich wie Kleopatra, so auch Antigone (und Kreon) zu beugen haben.511 Anders gesagt: Der konkrete, die Reflexion des Chors aus‐ lösende Bezugspunkt zur Handlung ist (wie schon im Lauf der ersten Strophe und Gegenstrophe) aus dem Blick geraten; seinen Platz als Konnex zwischen Reflexion und Drama hat die in der ersten Strophe verbalisierte gnomische Kernthese eingenommen, was dem Lied eine herausragende innere Geschlos‐

509 510 511

K AMERBEEK (1978) S. 24. G RIFFITH (1999) S. 292. Vgl. B URTON (1980) S. 128: „The important point is that she [Kleopatra] too, like Anti‐ gone, was the victim of fate“.

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III. Greisenchöre

senheit (Rahmung der ersten und letzten Strophe) sowie eine besonders weit‐ greifende Allgemeingültigkeit verleiht.512 Welche genuin dramaturgischen Implikationen lassen sich trotz aller Pro‐ bleme der Ausdeutung im Einzelnen sowie der Beziehung des Stasimons zum Geschehen festhalten? Zunächst muss konstatiert werden, dass die thebani‐ schen Greise mit ihrem Lied nach dem endgültigen Abtritt Antigones keine ei‐ gentlich inhaltliche Diskussion der Szenerie bieten: Es erfolgt weder Themati‐ sierung noch Bewertung der umfangreichen und durchaus provokanten Ausführungen, die Antigone in ihrem Monolog gegeben hatte. Erneut lässt So‐ phokles den Chor nicht am Diskurs teilhaben, sondern weist ihm eine andere Funktion zu. Der Blick des Chors ist dabei ein gedoppelter: Er richtet sich sowohl in eine mythische Vorvergangenheit, die zeitlich unbestimmt bleibt. Gleichwohl ist mit dem Lied und seinen Imaginationen mythischer Gestalten zugleich eine Ausleuchtung dessen gegeben, was Antigone im Anschluss an ihren Abtritt er‐ wartet: die Einkerkerung in einem Verlies. Gerade die Rückschau in eine nicht weiter spezifizierte Vorzeit enthält so den Ausblick auf das unmittelbar voraus‐ liegende, allerdings hinterszenische Geschehen. Die lyrische Verarbeitung durch das Einblenden mythologischer Parallelen vermeidet es dabei erneut, sich im Konflikt der beiden Antagonisten punktgenau zu lokalisieren. Auch der formale Zugang der Reflexion entspricht diesem Vor‐ gehen. Mit dem Verweis auf mythische Gestalten nimmt der Chor ein Motiv auf, das bereits im Kommos eine Rolle gespielt hatte: Dort war es Antigone gewesen, die in der ersten Gegenstrophe ihr eigenes Schicksal mit dem Niobes verglichen hatte (v. 823 ff.). In der Wiederaufnahme dieser Methode der (Selbst-)Ausdeu‐ tung qua mythischem Vergleich greift der Chor damit bewusst hinter die

512

Dass das Lied damit nicht nur auf die Ausdeutung der spezifischen Situation der Anti‐ gone festgelegt ist, bemerkt B URTON (1980) S. 132 zu Recht: „It [das Stasimon] could indeed with very little alteration be made relevant to any other character in any tragedy who is under sentence of death and who stands in need of exhortation before the stroke falls“. Er sieht darin den Beginn einer Entwicklung, die vor allem aus den Tragödien des Eurpides bekannt ist: „the use of ballad-like lyrics in which there is at times only a very tenuous connection with the plot.“ Damit ist ein entscheidender Punkt angespro‐ chen: Ob die von manchen Interpreten gefundenen subtilsten thematisch-motivischen Verknüpfungen zwischen chorischer Reflexion und der dramatischen Handlung oh‐ nehin vom Publikum, für das die vorliegende Tragödie geschrieben wurde, wahrge‐ nommen wurden, bleibt zu bezweifeln. Sich in diesem Fall B URTON anzuschließen heißt nicht, vor der Schwierigkeit des Textes zu kapitulieren oder Aristotelesʼ Postulat vom sophokleischen Chor als Mitspieler (vgl. Einleitung) zu untergraben; vielmehr wird eine solche Betrachtung sowohl dem Stasimon als in sich geschlossener Partie als auch ge‐ rade der Tragödie als einer auf Wirkabsicht beim Publikum konzipierten, d. h. als einer genuin dramaturgischen Komposition gerecht.

3. Antigone

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Sprechszene zurück, die er so in seiner Ausdeutung übergeht. Die fortgesetzte Adressierung Antigones durch den Chor setzt dabei die Gesprächssituation des Kommos auch über den Abtritt der Heldin fort und lässt das Stasimon so gera‐ dezu zur umfangreichen Antwort der thebanischen Greise auf die schon im Kommos angelegte Situation werden. Bereits formal ist so die enge Zusammen‐ gehörigkeit von Kommos und Stasimon augenscheinlich: Während der Wech‐ selgesang den finalen Auftritt der Protagonistin orchestrierte, fungiert das Standlied als Ausgestaltung ihres Abtritts. Dass Sophokles dabei den letzten Auftritt der Hauptheldin und nicht etwa ihr Abgehen mit einem Klagegesang inszenierte, gibt ihm hier die Möglichkeit, den Chor Antigone nachblicken zu lassen. Die Einschaltung des Stasimons, das seinen Blick expressis verbis in my‐ thische Vorvergangenheit, subtil in die der Heldin bevorstehende unmittelbare Zukunft wendet, beantwortet die Emotionalisierung und Bündelung der Auf‐ merksamkeit auf den aktuellen Vorgang auf der Bühne, wie sie der Kommos erreicht hatte. Im Nachrufen des Chors drosselt der Dichter die durch die erneut konfrontative, d. h. im Angesicht Kreons inszenierte Selbstrechtfertigung Anti‐ gones noch gesteigerte Drastik, indem er ein im Kommos entfaltetes Motiv der Ausdeutung zur Grundlage des Liedes macht und dessen Möglichkeiten zur Blickwendung ausschöpft. Den Ausgangspunkt der chorischen Reflexion bildet dabei die konkrete Ima‐ gination der bevorstehenden Einkerkerung Antigones, die den Vergleich mit den ersten beiden mythischen Gestalten hervorruft. Jenseits dieses tertium com‐ parationis berühren sich die beiden Sphären – Antigones Schicksal, d. h. die dramatische Realität auf der einen, sowie das jeweilige mythologische Exempel auf der anderen Seite – nur noch implizit durch die Spiegelung gewisser Motive oder rein assoziative Verknüpfungen, die im Wesentlichen dem verstehenden, informierten und aktiven Rezipienten überlassen bleiben.513 Was als Ausleuch‐ tung von Antigones Schicksal begann, kann dabei stellenweise ebenfalls auf Kreon bezogen werden und rückt so implizit das Gegeneinander der beiden Ant‐ agonisten in den Fokus, ohne diese Konfrontation selbst zu verbalisieren. Die Ambivalenz des Chors der vorliegenden Tragödie, nur gewisse Sachverhalte auszusprechen, andere anzudeuten und oftmals den Bezug der Reflexion zum Bühnengeschehen offen zu lassen, erreicht so im vorliegenden Stasimon eine neue Qualität. B URTON bleibt zuzustimmen, wenn er festhält: „We would there‐ fore be wrong to seek for precise points of contact at every stage between An‐

513

Vgl. B URTON s (1980) allgemeingültige Einschätzung S. 127: „An important feature of this use of myth for exhortation is the often very tenuous point of contact between the examples chosen and the detailed stories and personalities of the people exhorted“.

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III. Greisenchöre

tigone and Danae, Lycurgus and Cleopatra.“514 Vielmehr ist anzuerkennen, dass das Lied sowohl in seinen narrativen als auch seinen ausdeutend-reflektie‐ renden Partien ein Eigenleben entwickelt, dessen Bezüge zum Bühnenge‐ schehen, wenn vorhanden, nicht immer unmittelbar nachzuvollziehen sind. In seiner dramaturgischen Funktion schillert das Stasimon: Motivisch und strukturell eng mit dem vorangegangenen Großabschnitt des Dramas ver‐ bunden, blickt es in einer Art mythisch gebrochener Visualisierung dennoch in die unmittelbare Zukunft der Handlung und der beteiligten Personen. Es wird so zur Gelenkstelle, die die Antigone-Handlung endgültig von der folgenden Kreon-Handlung trennt. Wenn auch die Zweiteiligkeit der Antigone nicht so deutlich wie die des Aias vor Augen tritt, greifen wir in diesem Stasimon genau den Punkt, von dem an Kreon vollständig in den Mittelpunkt der dramatischen Aufmerksamkeit gerät.515 Der Spannungsbogen des Dramas hat sich endgültig geneigt; die gesamte Dramaturgie wird im Folgenden auf die nahende Kata‐ strophe zulaufen. Als erstes von zwei durch die Kommoi gerahmten Liedern malt es dabei in dunklen Farben das aktuelle Ungemach Antigones und deutet die kommende Katastrophe bereits an. Fünftes Stasimon (v. 1115 – 1152)

Das fünfte Epeisodion inszeniert mit dem Auftritt des Teiresias zunächst eine weitere Konfrontationsszene, die schließlich zur versuchten Wende innerhalb des Handlungsablaufs führt. Der Seher Teiresias motiviert sein Kommen durch die besondere Dringlich‐ keit der Situation; Kreon, der die Stadt bisher auf rechter Bahn leitet, stehe auf „Messers Schneide“ (ἐπὶ ξυροῦ τύχης v. 996). In einem ersten ausführlichen Mo‐ nolog (v. 998 – 1032) berichtet Teiresias von den besorgniserregenden Vorkomm‐ nissen. Sowohl bei der Vogelschau als auch einem Brandopfer habe er ungüns‐ tige Vorzeichen wahrgenommen: Die beobachteten Vögel hätten sich in der Luft selbst zerfleischt (v. 1003), während das Opfer nicht im Feuer aufging, sondern auf dem Altar geradezu zerschmolz (v. 1007 ff.); das Opfer sei also, so der Seher, von den Göttern nicht angenommen worden (v. 1019 f.). Die Ursache dafür sei der Frevel an der Leiche des Polyneikes: Die Vögel gäben keine glücksverhei‐ ßenden Laute mehr von sich, da sie vom Fleisch des Toten gegessen hätten (v. 1021 f.), der immer noch unbestattet daliegt. Teiresias redet Kreon daraufhin ins Gewissen: Es sei menschlich, einen Fehler zu begehen; allerdings sei man 514 515

B URTON (1980) S. 128. Vgl. B URTON (1980) S. 132: „In this play it [das Stasimon] is set precisely where Anti‐ gone’s story ends and the revelation of Creon’s impiety is about to begin“.

3. Antigone

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gut beraten, begangene Missetaten wieder zu heilen (v. 1023 – 1027). Kreon solle nun nachgeben und den ohnehin gestorbenen Polyneikes nicht noch einmal zu töten versuchen. Dass Teiresias dabei, wenn auch unausgesprochen, die Auf‐ forderung erteilt, dem Gefallenen ein Begräbnis zukommen zu lassen, steht außer Frage. Kreon reagiert empört und gibt sich unnachgiebig: Er ergeht sich zunächst in Anschuldigungen gegen Teiresias als Seher, dem er hemmungsloses Gewinn‐ streben unterstellt (v. 1033 – 1039), und bekundet schließlich, keine Furcht vor der Befleckung der Stadt durch den geschändeten Leichnam des Polyneikes zu fürchten (v. 1042 f.). Er werde ihm daher keine Bestattung zukommen lassen. In der sich anschließenden Stichomythie (v. 1048 – 1063) ergehen sich beide Akteure in gegenseitigen Beschimpfungen und Warnungen. In einem zweiten Monolog gibt Teiresias schließlich zu erkennen, was Kreon auf Grund seiner Weigerung zu erwarten hat: Er werde innerhalb kürzester Zeit den Verlust eines weiteren Familienmitglieds zu beweinen haben, da er sowohl eine noch lebende Seele zu Unrecht im Grab verberge, als auch einen Leichnam den Göttern der Unterwelt vorenthalte (v. 1068 – 1071). Die Erinyen würden Kreon bereits be‐ lauern. Nach weiteren teils allgemeinen Bemerkungen, teils auf Kreon bezo‐ genen Voraussagen verlässt Teiresias in Vers 1091 die Bühne. War der Chor(-führer) dem Zwiegespräch der beiden Akteure bisher still ge‐ folgt, wendet er sich nun mit einer vier Verse umfassenden Einschätzung an Kreon (v. 1091 – 1094): Der Seher habe „Gewaltiges“ (δεινά) vorausgesagt; seitdem er, der Chor, statt schwarzer weiße Haare trage, habe Teiresias nie eine Unwahrheit bezüglich der Stadt verlautbaren lassen. Kreon ist mit der Entscheidungsfindung überfordert; ihm erscheinen Nach‐ geben und Beharren als gleichermaßen furchtbar (δεινόν v. 1096). Zum ersten Mal innerhalb der ganzen Handlung fragt er daraufhin die thebanischen Greise um Rat: τί δῆτα χρὴ δρᾶν; φράζε· πείσομαι δʼ ἐγώ. Was muss man jetzt tun? Sprich: Ich werde gehorchen. (v. 1098)

Der Chorführer fordert den Stadtherrn daraufhin auf, Antigone so schnell wie möglich aus ihrem Verlies zu befreien und Polyneikes in einem Grab zu bergen (v. 1100 f.). Nachdem sich Kreon endgültig zu diesem Schritt durchgerungen hat, gibt er Befehl an die ihn begleitenden Diener, sofort zu Antigone zu eilen; er selbst habe sie festgebunden, d. h. mit dem Ziel, sie sterben zu lassen, in die abgeschlossene Behausung gesperrt, er selbst werde sie wieder herauslösen (v. 1112). Die Bühne

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III. Greisenchöre

leert sich in Vers 1115 mit einiger Aktion seitens der Statisten, die, wie Kreon es befohlen hat, mit Äxten und anderen Utensilien abtreten. Folgendes soll vor der Betrachtung des anschließenden Stasimons zum fünften Epeisodion festgehalten werden. Als erneute Konfrontationsszene, in der ein Akteur Kreon von seiner Meinung abzubringen versucht, steht es in besonderer Beziehung zum dritten Epeisodion, das den gescheiterten Versuch Haimons darstellte, bei seinem Vater zu Gunsten seiner Verlobten zu intervenieren. Am Ende der Szene steht allerdings an unserer Stelle mit Kreons Meinungsänderung die entscheidende Wende. Dem unterschiedlichen Ausgang der Konfrontation gemäß variiert Sophokles auch das formelle Schema der Szene in einem beson‐ deren Detail: Weder zu Beginn der Auseinandersetzung516 noch in ihrem Verlauf meldet sich der Chor zu Wort. Statt ihn die Monologe der Kontrahenten mit einem standardisierten Doppelvers kommentieren zu lassen (vgl. v. 681 f. sowie 724), lässt der Dichter die Ausführungen der Streitenden direkt aneinander‐ prallen. Erst den Abtritt des Teiresias kommentiert der Chorführer, wobei die Wortwahl den entsprechenden Kommentar nach Haimons Abtritt widerspiegelt (v. 766). Der Chor ist während der Unterredung zwischen Kreon und Teiresias so gänzlich Betrachtender. Als Kontrapunkt dieser auffallenden Zurückhaltung rückt der Chorführer danach allerdings ins Zentrum des Geschehens: Es ist sein entschiedener Rat‐ schlag, seine Aufforderung (beachtenswert die beiden Imperative ἄνες und κτίσον v. 1101), die Kreons Meinungsänderung hervorrufen und den Anstoß zur Rettungsaktion geben. Das nach der eigentlichen Konfrontation der beiden Ak‐ teure erreichte spannungs- und konfliktreiche Innehalten der dramatischen Handlung löst sich so durch das beherzte Einschreiten des Chorführers. Dieser tritt hier zum ersten Mal als entscheidender Impulsgeber, als wirklicher Mit‐ spieler im eigentlichen Sinne auf. Dabei hat sich das Verhältnis zwischen Kreon und dem Chor im Vergleich zum ersten Epeisodion (v. 163 ff.) geradezu perver‐ tiert: Hatte dort Kreon im Vollbesitz seiner Macht als Stadtherr den Chor einzig über seine selbstgefassten Entschlüsse bezüglich der Bestattung der Oi‐ dipus-Söhne in Kenntnis gesetzt, so ist hier die eigene Intervention des Chors bzw. des Chorführers wesentliches Moment der Handlung selbst; dem ratlosen, passiven Kreon steht an unserer Stelle ein aktiver Chor(-führer) gegenüber. Damit geht freilich die Aufgabe der die chorischen Aussagen bisher prägenden Ambivalenz einher: In seiner Aufforderung an Kreon bezieht der Chorführer gezielt Stellung und verortet sich im Diskurs auf Seiten des Teiresias. Der Ver‐ zicht auf kommentierende (Doppel-)Verse im Anschluss an die Monologe der 516

Zum Fehlen der Auftrittsankündigung vgl. S. 701, Anm. 458.

3. Antigone

735

Kontrahenten ist so auch unter inhaltlichen Gesichtspunkten verständlich, da in den Doppelversen in der Regel abwägende, ambivalente Spontanreaktionen verbalisiert werden. Mit dem Fehlen moderierender Kommentare des Chors ist so nicht nur die der Auseinandersetzung innewohnende Drastik gesteigert, son‐ dern zugleich die punktgenaue Selbstverortung des Chors in der anschließenden Unterredung mit Kreon vorbereitet. Die Situation, aus der heraus das folgende Chorlied dargeboten wird, unter‐ scheidet sich fundamental von den Ausgangssituationen der anderen Stasima. Die Intervention des Chors hat eine Gesinnungsänderung bei Kreon hervorge‐ rufen; die Einmischung des Chorführers macht die thebanischen Greise so mit‐ telbar zu Handelnden innerhalb des Geschehens. Das Stasimon stellt in dieser Hinsicht den Beitrag der Choreuten zur Rettungsmission dar, der sich dem‐ gemäß konkret im Geschehen verorten lässt. Sophokles wahrt dabei die dra‐ matischen Konventionen, indem er den Chor ein Standlied singen lässt. In einer dramaturgisch ähnlichen Situation innerhalb des Aias war auch der Chor ab‐ gegangen (v. 814), um das Leben des Protagonisten zu retten; die Schiffsmann‐ schaft hatte so unter Aufbietung eines besonderen Bühneneffekts direkt in das dramatische und aktionsreiche Geschehen eingegriffen. An unserer Stelle in der Antigone ist allerdings weder ein Szenenwechsel intendiert, der im Aias auf den Abtritt des Chors folgt, noch kommt es den thebanischen Greisen auf Grund ihrer Rolle zu, durch energisches Einschreiten aktiv am Rettungsversuch teil‐ zuhaben. Das vorliegende fünfte Stasimon ist darüber hinaus zwar nicht das erste Standlied, das der Chor auf offener Bühne, d. h. konkret ohne die Anwesenheit Kreons singt.517 Der dem Lied vorausgehende Abtritt Kreons ist dennoch ein‐ zigartig und bringt entscheidende dramaturgische Implikationen mit sich: Kreon verlässt die Bühne mit der konkreten Absicht, hinterszenisch in den Lauf der Geschehnisse einzugreifen (anders nach dem ersten Epeisodion v. 326, wo sich der Stadtherr in Wut zurückzieht, ohne damit einem dramatischen Impuls zu folgen). Damit verlagert sich das gesamte Geschehen in den hinterszenischen Bereich: War zunächst Antigones Handeln hinter-, Kreons Machtdarstellung vorderszenisch verortet, fand die Konfrontation der Akteure auf der Bühne statt. Mit Antigones ausführlich in Szene gesetztem Abtritt war schließlich ein Strang der Handlung erneut in den hinterszenischen Bereich verlegt worden, dem mit Kreons Abgang an unserer Stelle der zweite folgt. Die sich leerende Bühne stellt so nicht nur ein personelles, sondern nach der aktionsreichen Abgangsszene im

517

Während des ersten Stasimons ist Kreon nicht anwesend (vgl. v. 386); zur Diskussion bezüglich des dritten Stasimons vgl. S. 701 ff.

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III. Greisenchöre

besten Sinne dramatisches Vakuum dar und bündelt alle Aufmerksamkeit auf den Chor und sein Stasimon. Die dramaturgische Zielsetzung des Liedes liegt so offen zu Tage: Es über‐ brückt den Rettungsversuch Kreons und stellt damit unter rein dramatischen Gesichtspunkten ein retardierendes Moment dar. Es ist allerdings Zuschauern und Lesern aus der dramatischen Anlage der Tragödie bewusst, dass die in An‐ griff genommene Aktion scheitern muss. Die Todesbereitschaft, die Antigone schon im Prolog gezeigt hatte, muss sich in ihrem Tod erfüllen, da jeder andere Ausgang der Tragödie die Entschlossenheit der Protagonistin unglaubwürdig hätte erscheinen lassen. Die Andeutungen Haimons bei seinem Abgang sowie die sorgenvollen Äußerungen des Chors (v. 751 ff.) lassen zudem den aufmerk‐ samen Leser und Hörer auch den Tod Haimons bereits erwarten. Der Rettungs‐ versuch kann so keine Spannung im herkömmlichen Sinn erzeugen, weil sein Ausgang von vornherein feststeht; vielmehr entfaltet sich im Folgenden vor dem Zuschauer und Leser der beispielhafte Abstieg Kreons, der unaufhaltsam der Katastrophe entgegenstrebt. Der Versuch, Antigone zu retten, wird so aus der Perspektive des Teiresias wie aus der sicheren Ahnung der Rezipienten zum verzweifelten Versuch Kreons, selbst dem Untergang zu entkommen. Soweit zur grundsätzlichen dramaturgischen Einordung des Epeisodions und Stasimons. Ein kleinteiliger Nachvollzug des Liedes ist dabei angesichts seiner klaren Struktur sowie der im Einzelnen für unsere Gesichtspunkte weniger be‐ deutenden Motive nicht nötig. Schon mit der ersten Strophe tritt uns der standardisierte Aufbau eines ὕμνος κλητικός vor Augen: Die Gottheit, im vorliegenden Fall Dionysos, wird zunächst direkt angeredet, dann entfaltet der Betende ihre Abkunft bzw. andere genea‐ logische Zusammenhänge und rekurriert schließlich auf gewöhnliche Aufent‐ haltsorte der Gottheit, d. h. herausragende Kultstätten. Eine Beschreibung der gewöhnlichen Epiphanie des Gottes mündet unter Angabe des aktuell vorlie‐ genden Grundes in die Bitte um Hilfe im konkreten Fall. In poetischer Meisterschaft wendet Sophokles dieses Schema auch in un‐ serem Stasimon an. Dem Anruf des „Vielnamigen“ (πολυώνυμε v. 1115) folgt zunächst die Angabe seiner Eltern, der „kadmeischen Nymphe“ sowie des Göt‐ tervaters Zeus; die Identifikation des namentlich nicht genannten Gottes ist damit geleistet. Im angeschlossenen Relativsatz erwähnt der Chor zwei Gebiete bzw. Ortschaften, die mit Dionysos in besonderer Verbindung stehen: Italien (v. 1118 f.) und Eleusis (v. 1119 ff.), denen Dionysosʼ besondere Sorgfalt gilt. Durch ein auf Dionysos bezogenes Partizip (ναιετῶν v. 1123) kommt er schließlich auf die „Heimatstadt“ des Gottes zu sprechen: Theben, die „Mutterstadt der Bak‐ chantinnen“ (Βακχᾶν ματρόπολιν v. 1122), wird durch das Aufzeigen seiner

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Lage am Fluss Ismenos sowie die Erwähnung der bekannten Erzählung der aus‐ gesäten Drachenzähne geographisch und mythologisch lokalisiert. Die direkte Ansprache des Gottes setzt sich mit Beginn der ersten Gegen‐ strophe fort. In leuchtenden Bildern schildert der Chor Kultfeiern zu Ehren des Gottes bzw. Epiphanien des Angerufenen an jeweils verschiedenen Orten: Ihn, Dionysos, habe der „funkelnde Qualm“ (στέροψ λιγνύς v. 1126 f.) von Fackeln über dem „Felsen mit zwei Gipfeln“ (ὑπὲρ διλόφου πέτρας v. 1126) gesehen. Durch die folgende Nennung der korykischen bakchischen Nymphen und der kastalischen Quelle (v. 1128 ff.) ist der in Rede stehende Berg damit als der Par‐ nass identifiziert. Die durch καί (v. 1131) angeschlossene weitere Ortsbeschrei‐ bung imaginiert mit der „Ausschickung“ (πέμπει) des Gottes aus dem Nysa-Ge‐ birge518 eine Szene voller dionysischer Motivik: Eigentlich Handelnde sind die „efeubewachsenen Hügel“ sowie das durch üppige Vegetation „grüne, trauben‐ reiche Ufer“, die Aktion selbst wird begleitet durch die göttlichen „Euhoe!“-Rufe. Eine weitere Charakterisierung des in Rede stehenden Gottes in Form eines auf σε (v. 1131) bezogenen Partizips schließt die Gegenstrophe: Dionysos ist Auf‐ seher (ἐπισκοποῦντʼ) über die Straßen Thebens, d. h. Wächter seiner Heimat‐ stadt. Das erste Strophenpaar hat ein weites Panorama dionysischer Kultstätten entworfen: Während die erste Strophe dabei relativ statisch die Herrschaft des Gottes über gewisse Orte bekundet, dynamisiert sich die Imagination in der Gegenstrophe. Mit dem Wechsel des grammatischen Subjekts treten genauer umrissene kultische Handlungen in den Fokus, die ihrerseits geographisch lo‐ kalisiert werden (Opfer am Parnass, Zug von Nysa). Am Schluss beider Strophen kommt der Erwähnung Thebens in einer jeweils durch eine auf Dionysos be‐ zogene Partizipialkonstruktion (ναιετῶν v. 1123, ἐπισκοποῦντʼ v. 1136) beson‐ dere Bedeutung zu. Die Fülle der geographischen oder kultischen Details mündet so jeweils in eine Vergegenwärtigung der engen Verbindung zwischen dem Ort des Bühnengeschehens und der angerufenen Gottheit. Darüber hinaus hatte bereits der Beginn der ersten Strophe mit der Bezeichnung Semeles als „kadmeischer Jungfrau“ (v. 1115) einen besonderen Akzent auf die lokaltheolo‐ gische und damit lokalpatriotische Motivik gesetzt. Mit dem imaginierten Festzug des Gottes aus Nysa und der Bemerkung seiner Schutzfunktion gegenüber Theben ist der Übergang zur zweiten Strophe bildlich geleistet; die Theben-Thematik setzt sich fort und wird zum entscheidenden Moment des Invokationshymnos. Mit einigem Stolz bekennt der Chor zunächst,

518

Die Lokalisation ist unsicher; am ehesten folgt man G RIFFITH (1999), der S. 320 das hier genannte Nysa mit der euboiischen Stadt gleichen Namens identifiziert.

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III. Greisenchöre

Dionysos ehre Theben in besonderem Maß vor allen anderen Kultorten. Syn‐ taktisch ist die zweite Strophe dabei durch den relativischen Gebrauch des Ar‐ tikels τάν ganz eng an die erste Gegenstrophe angeschlossen, sodass die be‐ gonnene Periode immer noch weitergeführt zu werden scheint. Die nachgeschobene Erwähnung Semeles – auch sie bleibt namentlich ungenannt – als Dionysosʼ Mutter, die wie ihr Sohn Theben besondere Hochachtung entge‐ genbringt, ruft dabei die genealogische Einordnung der Gottheit vom Beginn des Standliedes wieder auf (v. 1115). Diese besondere Hochschätzung des Dio‐ nysos gegenüber Theben gilt den Greisen als Garant der Gebetserfüllung. In Vers 1140 bringen sie schließlich den eigentlichen Grund ihres Singens vor den Gott: Jetzt (νῦν δέ519), wo die gesamte Stadt durch eine gewaltige Seuche (βιαίας νόσου) in der Gewalt gehalten werde, solle Dionysos mit reinigendem, Sühne schaffendem Fuß (καθαρσίῳ ποδί v. 1144) Theben betreten, sei es, dass er dazu über den parnassischen Abhang oder die „tosende Meerenge“ (στονόεντα πορθμόν v. 1145), d. h. von Euboia komme. Die erbetene Epiphanie des Gottes in seiner Heimatstadt wird hier also ganz gegenständlich als Zug des Dionysos nach Theben verstanden. Konkret und bildlich wird dabei dem Fuß des Gottes, d. h. seinem Betreten der Stadt, reini‐ gende Wirkung zugesprochen. Die Angabe der möglichen Ausgangspunkte und Routen des göttlichen Zuges – über den Parnass oder durch die Meerenge von Euboia – spiegelt dabei die Imagination der zweiten Gegenstrophe, deren zu‐ nächst unbestimmtes Prädikat πέμπει (v. 1133) so durch eine genaue Zielangabe ausgestaltet wird. Anders gesagt: Die zweite Strophe verbalisiert Grund und Ziel der in der ersten Gegenstrophe imaginierten πομπή und liefert dabei in begriff‐ licher Anlehnung an Teiresiasʼ Worte v. 1015 (νοσεῖ πόλις) den konkreten An‐ knüpfungspunkt an die dramatische Handlung. Damit hat die umfassende Pe‐ riode, die mit der ersten Anrufung des Gottes zu Beginn des Liedes v. 1115 ihren Anfang nahm, ein Ende gefunden. Die zweite Gegenstrophe markiert dagegen bewusst einen Neubeginn; sie ist als Ganze eine einzige Invokation des Gottes. Die dreigliedrige Anrede des Dio‐ nysos vor dem entscheidenden Imperativ ist besonders wortreich und elaboriert: Er, der „Anführer des Chors feueratmender Gestirne“ (χοράγʼ ἄστρων …), „Auf‐ seher [ekstatischer] nächtlicher Laute“ (νυχίων φθεγμάτων ἐπίσκοπε) und Kind des Zeus solle erscheinen (προφάνηθʼ v. 1149) – und zwar mitsamt den ihn um‐ gebenden Bakchantinnen, die ihn, ihren Herrn, mit nächtlichen Tänzen in völ‐ liger Ausgelassenheit feiern.

519

So die Konjektur von L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) für einhellig überliefertes καὶ νῦν.

3. Antigone

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Der Chor lässt so die mit dem Einzug des Gottes verbundene Reinigung der Stadt vor seinem inneren Auge in den Versen 1150 ff. schon beginnen; er scheint davon so eingenommen zu sein, dass er den überraschenden Auftritt des Boten in Vers 1155 nicht ankündigt. Es wäre in Analogie zur anapästischen Auftritts‐ ankündigung für Kreon im Anschluss an die Parodos (v. 155 ff.) zumindest denkbar gewesen, den Chor beim Anblick des heraneilenden Boten einige sor‐ genvolle Verse sprechen zu lassen. Sophokles lässt jedoch den Chor ganz in seiner Imagination, wodurch das Chorlied abrupt endet und die Rede des Boten ab Vers 1155 unvermittelt, d. h. auch ohne Auftrittsankündigung, an die Imagi‐ nation der bakchischen Verzückung anschließt. Den Aufbau des Liedes prägt, wie schon angesprochen, im Wesentlichen eine Zweiteilung, die sich allerdings nicht mit den Strophenpaaren deckt. Vielmehr stehen sich mit den ersten drei Strophen sowie der zweiten Gegenstrophe zwei in ihrer Ausdehnung, der sprachlichen Gestaltung sowie der Intensität der Ima‐ gination unterschiedliche Teile gegenüber: Die ausführliche Periode des ersten Teils kommt in zwei Anläufen auf Theben zu sprechen und verortet gleich einer Priamel das eigentliche Ziel der Gedankenbewegung, den erbetenen Einzug des Gottes vor Ort, sowohl kultisch als auch geographisch. Darüber hinaus leistet sie in den Versen 1140 ff. die konkrete inhaltliche Verknüpfung des Liedes zum Bühnengeschehen. Die abschließende zweite Gegenstrophe wiederholt in ge‐ steigerter Intensität die Anrufung des Gottes und den Wunsch nach seinem Erscheinen, wobei sie das Eintreffen des göttlichen Zuges in ihrer lebhaften Imagination bereits vorwegzunehmen scheint. Der Aufbau des Stasimons erinnert zudem an die bereits bei einigen Chor‐ liedern analysierte Struktur: Wieder befindet sich der Anknüpfungspunkt an die dramatische Handlung in der Mitte bzw. ist an das Ende des Liedes gerückt. Im vorliegenden Chorlied ist es die Nennung des Gebetsgrundes in Vers 1140, durch die die Verknüpfung zum Vorangegangenen geleistet ist. Sophokles nutzt hier ganz absichtlich die formale Struktur eines ὕμνος κλητικός, statt den Chor direkt mit einer Aussage zum Status der Stadt oder den Erfolgsaussichten des Ret‐ tungsversuches beginnen und erst im Lauf des Liedes auf eine Anrufung gött‐ licher Mächte kommen zu lassen. Ähnlich wie im dritten Stasimon, dem Hymnos auf Eros, legt der Dichter auch hier dem Chor ein Lied in den Mund, das nach konventionellen kultischen und literarischen Maßstäben komponiert ist und gerade darin seine besondere dramaturgische Funktion entfaltet. Mit seinem Invokationshymnos und der Angabe des Grundes der mit Eifer vor‐ getragenen Bitte an Dionysos steht der Chor in der argumentativen Linie des Teiresias; auch er hatte, wie oben bereits erwähnt, gegenüber Kreon davon ge‐

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III. Greisenchöre

sprochen, dass die Stadt krank sei (νοσεῖ πόλις v. 1015). Das Stasimon hat so seinen genau zu verortenden Sitz innerhalb der dramatischen Situation und ihrer Motivik. Dabei fokussiert der Chor ganz auf die politische Dimension des Geschehens: Für sie geht es um ganz Theben (πάνδαμος πόλις v. 1141), das zugleich Heimatstadt des angerufenen Gottes und der Greise selbst ist. Die menschliche Seite des Geschehens blendet der Chor allerdings völlig aus. Es erfolgt keine Erwähnung von Kreon oder Antigone, keine Thematisierung des der Notsituation zu Grunde liegenden Sachverhalts520 und keine Schuldzu‐ schreibung, wie sie doch gerade Teiresias im bereits zitierten Vers 1015 gegeben hatte: τῆς σῆς ἐκ φρενός. Zwar übernimmt der Chor so von Teiresias das Bild der Krankheit für die kultische Befleckung Thebens; dass der Seher allerdings mit Kreons Gesinnung deren konkrete Ursache benennt, bleibt im Standlied ebenso unerwähnt wie die eben noch mit einiger Dynamik angestoßene Ret‐ tungsaktion. Während die Ursachen für die Not Thebens nicht erwähnt werden, deutet der Chor die mögliche Heilung als gänzlich göttliches Geschehen, das allein durch das Kommen des Dionysos ausgelöst wird. Im vorliegenden Stasimon greifen wir so eine theologisch-politische Aus‐ deutung des Geschehens, die in geradezu kultischer Form521 unter Beibehaltung einer zentralen Metapher (Krankheitsmotivik) eine ansonsten weitgehend selbstständige Reflexion und Imagination entwirft. Gerade die Ausblendung entscheidender Sachverhalte der eigentlichen Handlung sowie der gesamten menschlichen Motivation des Geschehens ist ein wesentliches Moment der Re‐ tardierung des zuvor dynamisierten Bühnengeschehens. Die Stimmungslage des Chors ist dabei am ehesten als vorsichtig optimistisch zu beschreiben:522 Zwar vertrauen die thebanischen Greise auf Grund ihrer engen Verbindung mit Theben und dessen Schutzgottheit auf die Erhörung ihres Gebets und imaginieren den ersehnten Einzug des Dionysos in plastischer Weise; sie sind allerdings weit davon entfernt, in eine jubelnde Zukunftsvision 520 521

522

Die durchgehend metaphorische Auslegung des Liedes durch M ÜLLER (1976) kann weder im Einzelnen noch in der Deutung des gesamten Stasimons überzeugen; vgl. die Ausführungen dazu bei K AMERBEEK (1978) S. 186 f. B URTON (1980) weist zu Recht auf die Koinzidenz zwischen dramatischer und realer Situation hin: Auch das attische Publikum befindet sich in einer kultischen Veranstal‐ tung, die zu Ehren des vom Chor angerufenen Gottes abgehalten wird („This god was as real to them [den Athenern] as he was to the elders of Thebes“ S. 134). Bereits G RIFFITH (1999) S. 314 scheint mir in seiner Einschätzung etwas zu weit zu gehen: „[…] the Chorus pour out fervent expressions of hope, relief and gratitude“. K AMER‐ BEEK (1978) S. 186 verkennt meines Erachtens den gedrosselten Optimismus des Chors, wenn er festhält: „The almost ecstatic character of this dithyrambic song with its joyous overtones against a background of urgent earnest and entreaty […]“.

3. Antigone

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auszubrechen, die die Schwierigkeiten der aktuellen Lage völlig ausblenden würde. Gerade der Vergleich mit anderen, an dramaturgisch ähnlichen Mo‐ menten im Handlungsablauf – d. h. vor dem Bekanntwerden bzw. dem Herein‐ brechen der Katastrophe – gesetzten Chorliedern erweist die zurückhaltende Note, von der die Zuversicht der Choreuten getragen wird. Während der Chor der salaminischen Schiffsleute im Aias nach der Ansprache des Haupthelden jegliche Zurückhaltung aufgibt und in einen jubelnden Freudengesang verfällt (zweites Stasimon, v. 693 – 718) und die Greise im Oidipus Tyrannos vor der end‐ gültigen Aufdeckung von Oidipusʼ Identität zunächst eine Jubelfeier imagi‐ nieren, bevor sie sich in einer pastoralen Götterszene pittoresken Zuschnitts ergehen (drittes Stasimon, v. 1086 – 1109),523 bleibt die der Situation innewoh‐ nende Brisanz an unserer Stelle auch im Chorlied präsent. Das Zentrum des Hymnos bildet die Erwähnung der Krankheit der Stadt, die als Grund der Invo‐ kation funktionell in der Struktur des Liedes verankert ist. Die in den vergleich‐ baren Liedern ausgestaltete konkrete Imagination einer freudvollen, harmoni‐ schen Zukunft ist dabei kein Moment des vorliegenden Liedes, das zwar den göttlichen Einzug in plastischer Schilderung vorwegnimmt, darüber hinaus al‐ lerdings keine Aussicht bietet. Als solchermaßen emotionalisierte theologisch-politische Ausdeutung steht das fünfte Stasimon in einem besonderen Verhältnis zur Parodos. War es dort der Stolz der im Krieg überlegenen Polis, so tritt uns hier ein mythologisch und kultisch gerechtfertigter Bürgersinn entgegen, der die thebanischen Greise auch im Verlauf der Handlung ausgezeichnet hatte. Einige Parallelen zwischen der ersten und letzten (rein) chorischen Partie des Stücks sollen hier erwähnt werden. Bereits im Auftrittslied hatte der Chor das seiner Reflexion zu Grunde lie‐ gende Geschehen (die versuchte Einnahme der Stadt sowie den Sieg über die Angreifer) aus einer lokaltheologischen Perspektive gedeutet, die im Gegensatz zum vorliegenden Stasimon allerdings noch eine menschliche Seite des Gesche‐ hens ansprach: Polyneikes und der namentlich ungenannte Kapaneus dienten als Personifizierung und poetische Verdichtung des Angriffs auf Theben, der damit als gänzlich menschliches Unterfangen gekennzeichnet war. Dement‐ gegen oblag die Rettung der Stadt ganz göttlichen bzw. quasi-göttlichen En‐ titäten, insbesondere dem Morgenlicht, Zeus und Nike, deren Kommen bzw. Handeln elementarer Bestandteil der Narration innerhalb der Parodos war. In der Ausblendung der menschlichen Gegenseite hat das fünfte Stasimon diese in

523

Darüber hinaus vergleichbar sind das astrophische Lied im ersten Epeisodion der Tra‐ chinierinnen (v. 205 – 224) sowie das zweite Stasimon desselben Stücks (v. 633 – 662).

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III. Greisenchöre

der Parodos etablierte Deutungsmethode in besonderer Strenge zum struktu‐ rellen Prinzip erhoben. Von besonderer Prominenz ist dabei die Rolle des Dionysos: Die Parodos hatte mit dem Wunsch der Herrschaftsübernahme des Gottes geendet (v. 154). Seine Nennung komplettierte das Götterpanorama, das die Choreuten im Laufe ihrer Imagination aufgerufen hatten, und ließ das Lied mit einem besonders lokal‐ patriotischen und -theologischen Akzent schließen. Im vorliegenden fünften Standlied ist Dionysos nun nicht mehr Bestandteil eines Panoramas göttlicher Mächte, sondern steht allein im Fokus der chorischen Invokation. Neben der Ausblendung menschlicher Motivationen greifen wir in der Fo‐ kussierung auf die eine Schutzgottheit so ein zweites Moment der Konzentration wesentlicher struktureller und motivischer Momente im fünften Stasimon ge‐ genüber der Parodos. Wie in einem dramaturgischen Brennspiegel verdichtet Sophokles so entscheidende Momente der Parodos und steigert deren Wirkung auf Folie der am Ende der Tragödie erreichten Situation. Mit der im fünften Standlied erbetenen Epiphanie des Gottes und den sich daran anschließenden, vom Chor schon imaginierten Feierlichkeiten wird so eine ähnliche Stimmung evoziert, wie sie schon am Ende der Parodos vor‐ herrschte. Lag dort das Eingreifen der Götter zu Gunsten der Stadt, das sich im Sieg gegen das anstürmende Heer des Polyneikes manifestiert hatte, bereits zu‐ rück, wird hier die Erscheinung des Dionysos zwar erst erbeten, gilt aber wegen der engen Bindung des Gottes an Theben als so gut wie sicher. Die Dramaturgie der Einzugsszene und des ersten Epeisodions scheint sich zu wiederholen: Der Rezipient ist über den weiteren, katastrophalen Verlauf der Handlung infor‐ miert, während der Chor (und die hinterszenisch Beteiligten) an einen glückli‐ chen Ausgang glauben. Ebenso wie in der Parodos spielt sich das bedeutende Geschehen auch hier hinter der Bühne ab: Während der Chor sein Stasimon singt, geschieht am Grab Antigones, was der Bote im Folgenden berichten wird. Ähnlich war die dramaturgische Konstruktion bei der Parodos: Dort fand die ausschlaggebende Handlung, die (erste) Bestattung des Polyneikes, hintersze‐ nisch während des Einzugsliedes und Kreons Auftritts statt. In beiden Fällen wissen Zuschauer und Leser um das Geschehen und können so auch das Chor‐ lied in seiner ganzen dramaturgischen Qualität erfassen. Das vorliegende Stand‐ lied setzt so einerseits die Motivik der Parodos in besonderer Konzentration fort und impliziert zudem eine dem Fortgang nach der Parodos ähnliche Drama‐ turgie. Im Gegensatz zu den oben erwähnten, hinsichtlich Positionierung und dra‐ maturgischer Funktion vergleichbaren Liedern anderer Tragödien liegt hier also keine Überzeichnung der hoffnungsvollen Grundstimmung des Chors in eine

3. Antigone

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ekstatische und zum Teil wirklichkeitsfremde Imagination524 vor. Die dem Lied innewohnende Spannung entsteht vielmehr aus seiner kontrastreichen Bezie‐ hung zur unmittelbaren Bühnenhandlung, die als partielle Ausleuchtung einige entscheidende Momente ausblendet, sowie dem bewussten Rückgriff auf die Parodos, deren dramaturgische Implikationen mutatis mutandis in der Ausdeu‐ tung der momentanen Situation erneut Anwendung finden. Die Erwartungshaltung der Zuschauer und Leser im Hinblick auf eine bevor‐ stehende Katastrophe ist nach dem Stasimon bestärkt. Die tragische Ironie, dass der Chor am Ende seines Liedes bereits einen bakchischen Festzug vor Augen hat, während in Wahrheit in einem zweiten Klagegesang gleich mehrere Opfer zu beweinen sein werden, ist vom Publikum und der Leserschaft vorauszusehen. Kommos (v. 1155 – 1353)

In einem generellen Überblick soll das Ende der Tragödie überschaut werden. Diese rasche Übersicht rechtfertigt sich im Verhältnis zur detaillierten Betrach‐ tung des Vorangegangenen aus zwei Gründen: Zum einen dient die dramatur‐ gische Gestaltung dieses letzten Teils nur noch dazu, die über Kreon hereinbre‐ chende Katastrophe wirksam in Szene zu setzen; zum anderen fehlt es an umfangreichen Äußerungen des Chors, die in ihrer motivischen bzw. drama‐ turgischen Struktur zu untersuchen wären. Führen wir uns kurz vor Augen, wie Sophokles den Ausgang des Dramas gestaltet: Die bedeutende hinterszenische Handlung wird, wie die Bestattung des Polyneikes, in mehreren Phasen auf die Bühne gebracht. Zunächst folgt auf das fünfte Stasimon des Chors der Auftritt eines Boten, auf dessen Unglücks‐ meldung vom Selbstmord Haimons (v. 1173) der Chor geradezu gefasst reagiert. Er sieht darin die Erfüllung von Teiresiasʼ Ankündigungen, den er in Abwesen‐ heit direkt anredet (v. 1178). Seinen ausführlichen Bericht von den hinterszeni‐ schen Geschehnissen richtet der Bote daraufhin an die in Vers 1183 aufgetretene Eurydike: Nach der Bestattung des Polyneikes (v. 1199 – 1204) eilte Kreon mit‐ samt seinen Begleitern zum Grab Antigones, von wo bereits aus der Ferne ein Schrei zu hören war (v. 1206 f.). In der Grabhöhle hatte sich Antigone erhängt. Haimon war der Aufforderung seines Vaters, mit ihm den Ort des Geschehens zu verlassen, nicht nachgekommen, sondern hatte zunächst versucht, mit einem Dolch seinen Vater anzugreifen, bevor er sich selbst das Leben nahm. Eurydike, solchermaßen vom Tod ihres Sohnes in Kenntnis gesetzt, verlässt daraufhin in Vers 1244 ohne eine weitere Wortmeldung die Bühne. 524

Vgl. besonders das dritte Standlied des Oidipus Tyrannos sowie die Ausführungen dazu ad locum.

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III. Greisenchöre

Halten wir hier kurz inne, um eine kurze Einordnung der Szene unter unseren Gesichtspunkten zu geben. Der Auftritt Eurydikes in Vers 1183 ist in mancher Hinsicht überraschend: Zum ersten war sie – immerhin Frau des Stadtherrn und Mutter des ebenfalls in die Handlung involvierten Haimon – im Lauf des Stücks noch nie erwähnt worden, zum anderen beschränkt sich ihre Rolle auf die Ent‐ gegennahme des ausführlichen Botenberichts sowie den daran anschließenden stillen Abtritt in Vers 1244. Mit den vor dem Botenbericht gesprochenen neun Versen (1183 – 1191) kommt ihr der geringste Part aller Akteure zu. Ihren hin‐ terszenischen Selbstmord wird nach Kreons Auftritt ein zweiter Bote berichten (v. 1277 ff.). Welche Absichten verfolgt Sophokles mit der wohl auch für das mit dem Mythos vertraute Publikum überraschenden525 Ausweitung des Personals der Tragödie an unserer Stelle? Mit der völlig schuldlosen Eurydike erweitert So‐ phokles den Kreis der Opfer, deren Tod von Kreon zu verantworten ist. Der Dichter steigert dabei die emotionale Brisanz des Schlussteils der Tragödie, indem er neben Haimon eine weitere Person des engsten Kreises um Kreon zum Leidtragenden macht. Die Katastrophe ist so umso deutlicher inszeniert und drastisch ausgeleuchtet.526 Auch dramaturgisch kommt der Präsenz Eurydikes besondere Bedeutung zu: Ihr stiller Abtritt unterlegt die Szenerie erneut mit einer weiteren Handlungs‐ ebene. Wie Deianeira (Trachinierinnen v. 813) und Iokaste (Oidipus Tyrannos v. 1072) verlässt auch an unserer Stelle eine am Geschehen beteiligte und emoti‐ onal zutiefst involvierte Frau das Geschehen, um hinterszenisch ihr Leben zu beenden. Man wird mit einigem Recht davon ausgehen können, dass ein mit den dramaturgischen Mitteln seiner Zeit vertrautes Publikum die bevorstehende Selbsttötung bereits vorausahnte; das kurze und besorgte Zwiegespräch zwi‐ schen dem Chor und dem Boten im Anschluss an den Abtritt Eurydikes (v. 1244 – 1256) und die darin behandelte Frage, wie man das Schweigen Eurydikes einzuordnen habe, wird ihr Übriges dazu geleistet haben. Während also mit dem Botenbericht die Kenntnis des hinterszenischen Geschehens Moment der vor‐ derszenischen Handlung geworden ist und mit Kreons Auftritt die visuelle Rückholung der Handlung in den Sichtbereich des Zuschauers unmittelbar be‐ vorsteht, eröffnet Eurydikes Abtritt eine weitere parallele Handlungsebene. Die Nachricht von ihrem Tod wird als Bestandteil des Kommos dessen Intensität 525 526

Dass Eurydike traditionell innerhalb des Antigone-Mythos wenig Bedeutung zuge‐ messen wurde, bemerkt G RIFFITH (1999) S. 327. Er vermutet darüber hinaus: „[…] the name ‘Eurydike’, and this role for her, may well be S.’s own inventions“. Vgl. G RIFFITH (1999) S. 327: „[…] and the agonized presence of this mother and wife […] adds another dimension of pathos to the catastrophe“.

3. Antigone

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noch einmal steigern. Wieder sind die Zuschauer so gegenüber Kreon in der Informationshoheit: Während er bei seinem Auftritt zunächst einzig den Tod seines Sohns bedauert, weiß bzw. ahnt das Publikum, dass eine weitere Steige‐ rung seines Unglücks bevorsteht. Der eigentliche Schlussteil der Tragödie (v. 1257 – 1353) kann hier rasch erörtert werden, da die dramaturgische Absicht und Funktion der Partie offen zu Tage liegen: In einer emotionalen Szene wird Kreon mit den Auswirkungen seines Handelns konfrontiert. Ganz konkret und bühnenwirksam lässt Sophokles dabei nacheinander die Leichen von Haimon und Eurydike auf die Bühne bringen (bzw. letztere auf dem Ekkyklema herausrollen), was den Kommos zur visuell drastischsten Partie der Tragödie macht. Formal liegt eine besondere Spielart des sogenannten „Ecce-Schluss“ vor, dessen Hauptmerkmal nach Z IMMERMANN die pathosgeladene Präsentation von Tat und Täter527 ist. Wir werden weiter unten auf die Besonderheiten der Partie eingehen. Inhaltlich lässt sich der Abschnitt unter unseren Gesichtspunkten kurz zu‐ sammenfassen: Kreon ist sich im Angesicht der Katastrophe seiner Schuld be‐ wusst geworden, die er mehrmals im Lauf des Kommos expressis verbis einge‐ steht (v. 1262, 1269, 1319 f.). Auch der Chor gibt seine bis dahin höchst ambivalente Zurückhaltung endgültig auf und konfrontiert Kreon bereits in der Auftrittsankündigung mit der moralischen Wertung, die dem Stadtherrn die Verantwortung für die Situation zuweist. Von einigem Interesse ist der formale Aufbau der Partie. Den Auftritt Kreons kündigt der Chor mit vier anapästischen Versen (v. 1257 – 1260) nach dem Abtritt des Boten an, worauf Kreon selbst den Ort des Geschehens betritt und die erste Strophe des Kommos anstimmt.528 Entweder trägt er dabei die Leiche seines Sohnes selbst, oder aber Bedienstete führen sie in seinem Zug mit. Wesentliches Strukturmerkmal des gesamten Kommos ist dabei der Wechsel zwischen lyrischen, ausschließlich Kreon zukommenden Strophen sowie je fünf iambischen Versen, die entweder einen kurzen Austausch zwischen Kreon und dem Boten (v. 1277 ff. sowie 1312 ff.) bzw. Kreon und dem Chor (v. 1354 ff.) oder das kurze Referat des Boten (v. 1301 ff.529) umfassen; auf eine genauere (metri‐ 527 528 529

Z IMMERMANN (2011) S. 519 f. Ob man dabei wie G RIFFITH (1999) die durch einen iambischen Trimeter von Seiten des Chors „geteilten“ lyrischen Partien 1261 – 1269 und 1271 – 1276 als zwei oder eine Strophe auffasst, ist von untergeordneter Wichtigkeit. Die Stelle ist textkritisch verderbt, was L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) dankenswerter‐ weise durch die Setzung von cruces (v. 1301) und den Hinweis auf den Ausfall des zweiten der sechs Trimeter verzeichnen (anders noch P EARSON (1924)). Die Korruptele beeinträchtigt das Verständnis der Stelle allerdings kaum.

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III. Greisenchöre

sche) Analyse kann mit Verweis auf G RIFFITH530 verzichtet werden. Die formal-metrische Zweiteilung spiegelt dabei den Grad der Emotionalisierung: Während Kreon als unmittelbar Betroffener und Verantwortlicher seinen Jammer und Schmerz bekundet, stehen Chor und Bote dem Akteur mit einiger Distanz gegenüber. Ihre kurzen Einwürfe bzw. Wortmeldungen beschränken sich auf moralisierende Einschätzungen (v. 1270, 1312), das kurze Referat ge‐ wisser Gegebenheiten (v. 1278 ff., 1293) oder geradezu schroffe Aufforderungen (v. 1334, 1337). Durch den Auftritt eines zweiten Boten531 in Vers 1277, der den Selbstmord Eurydikes vermeldet, weitet sich zunächst der personelle Rahmen der Szenerie. Nachdem der Bote bereits in Vers 1283 f. den Tod Eurydikes (die namentlich ungenannt bleibt) vermeldet hat, gibt er in den Versen 1301 ff. ein schlaglicht‐ artiges Referat der Vorwürfe, die Eurydike vor ihrem Tod ihrem Mann noch gemacht hat, und informiert Kreon schließlich auf dessen Nachfrage, dass sie sich selbst getötet habe, als sie die Klage um ihren Sohn vernahm (v. 1315 f.). Dem Wunsch nach einem raschen Tod, wie ihn Kreon nach einem weiteren Schuldeingeständnis (v. 1316 – 1325) im Folgenden äußert (v. 1327 – 1331), steht der Chor ablehnend gegenüber: Er solle sich vielmehr um die Dinge kümmern, die nun anstehen; aus dem einmal eingetretenen Verhängnis gebe es für Men‐ schen kein Loskommen (v. 1334 ff.). Den Schluss der Partie bildet daraufhin Kreons Wunsch, man solle ihn weg‐ bringen, dem das Schicksal geradezu „auf den Kopf gesprungen ist“ (v. 1345 f.). Der Chor schließt daraufhin die Tragödie mit einem kurzen anapästischen System, in dem er mehrere allgemeingültige, konventionelle Aussagen zur Prä‐ valenz des φρονεῖν verbalisiert. Die Einbeziehung eines Boten in eine kommatische Partie ist im Rahmen der uns überlieferten Tragödien des Sophokles einmalig. Dem klagenden Helden neben dem Chor eine weitere Figur gegenüberzustellen, belebt die Partie in be‐ sonderem Ausmaß und stellt einen gelungenen formalen Kunstgriff dar: Der Dichter überbietet mit dieser Konstruktion die (standardisierte) Abfolge der

530 531

G RIFFITH (1999) S. 342. Für K AMERBEEK (1978) sind die beiden Boten ein- und dieselbe Person („The matter is of small importance but is perhaps not superfluous to state that not only will the same actor perform the function of ἄγγελος and ἐξάγγελος but also that we have to do with the same dramatis persona“ S. 204); ihm folgt G RIFFITH (1999), der entsprechend in der Personenübersicht auch nur einen ἄγγελος aufführt. L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) be‐ halten die Nomenklatur ἄγγελος und ἐξάγγελος dagegen bei. Für unsere Zwecke (und wahrscheinlich auch darüber hinaus) ist die Frage der Identität des zweiten Boten ir‐ relevant.

3. Antigone

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Formteile „Botenbericht“ und „Klage über das Berichtete“, indem er einen zweiten Bericht hinterszenischer Vorgänge zum Moment der Klagepartie selbst macht. Die Verwebung der beiden Abschnitte wird noch enger, da der Adressat des in dieser Abfolge ersten Botenberichts (Eurydike) gleichzeitig den Gegen‐ stand des zweiten darstellt. Im finalen Kommos sind so zugleich hinter- und vorderszenischer Bereich erneut aufs Engste miteinander verknüpft: War im ersten Botenbericht das Geschehen um Haimon und Antigone berichtet worden, so werden hier die Ereignisse geschildert, die sich in kurzer Frist nach Eurydikes Abtritt hinterszenisch ereignet hatten. Strukturell ergibt sich so folgendes Schema: Botenbericht über hinterszenisches Ereignis A (Tod von Antigone und Haimon) – wortloser Abtritt Eurydikes – Auftritt Kreon und Reaktion auf A – Botenbericht über hinterszenisches Geschehen B (Tod Eurydikes) – Kreons Re‐ aktion auf B. Diese phasenweise Aufdeckung der doppelten Katastrophe, der die Verknüpfung vorder- und hinterszenischer Handlungsebenen einbeschrieben ist, verleiht dem vorliegenden letzten Abschnitt noch einmal eine besondere Dynamik: Statt nur rein statuarisch das eingetretene Unglück durch den betei‐ ligten Akteur (und den Chor) reflektieren zu lassen,532 komponiert Sophokles eine durch Ab- und Auftritte gegliederte, auf drastische Effekte angelegte hoch‐ emotionale Partie, in der Pathos und Aktion miteinander verbunden sind.533 Diese partielle Anreicherung bzw. Umdeutung des Formteils „Kommos“ bringt es mit sich, dass dem Chor in der vorliegenden Passage nur ein geringer Redeanteil zukommt.534 Die vorliegende Passage ist dementsprechend keine wirklich chorische Partie, sondern eine unter Beteiligung des Chors inszenierte Pathosszene, die das Hauptaugenmerk ganz auf die Konfrontation von Kreon mit dem Ergebnis seiner Haltung konzentriert. Betrachten wir abschließend noch das Verhältnis der beiden Kommoi des Stücks zueinander. Als zentrale Partien der beiden Hauptakteure spiegeln sie freilich 532

533

534

Vgl. exemplarisch die ausgedehnte Schlusspartie der Perser des Aischylos: Mit dem Auftritt des Xerxes in Vers 909 ist die eigentliche Handlung zu einem Ende gekommen. Der sich anschließende Klagegesang inszeniert keine Aktion mehr, sondern präsentiert in äußerst pathetischer Ausgestaltung das Leid der geschlagenen Perser und ihres Kö‐ nigs. Es scheint eine Eigenart der uns überlieferten Tragödien des Sophokles zu sein, nicht nur den Prolog, sondern auch den Schluss der Tragödie zu dramatisieren, teilweise geradezu zu dynamisieren (vgl. besonders das hochemotionale Finale der Elektra, das ebenfalls mit dem Ineinander vorder- und hinterszenischer Handlungssphären spielt). Akzeptiert man die bei L LOYD -J ONES /W ILSON (1990) gegebene Sprecherverteilung, so kommt dem Boten innerhalb der kommatischen Partie sogar ein größerer Redeanteil als dem Chor zu (abzüglich der vier anapästischen Verse zur Auftrittsankündigung sowie den Schlussversen der Tragödie).

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III. Greisenchöre

die personelle Polarität der Handlung wider. Dass Antigones Klagegesang der Klage Kreons vorausgeht, trägt dabei der Handlungsentwicklung Rechnung; der Blickwechsel von einem Antagonisten zum anderen wird so besonders deutlich markiert. Dramaturgisch hat Sophokles die beiden hochemotionalen Szenen (Kommos Chor-Antigone und Chor-Kreon) an entscheidende Punkte des Dramas gesetzt: Mit dem ersten Klagegesang wird neben der ausgreifenden Abschiedsszenerie der Teil der Handlung eingeleitet, in der Kreon allein im Mittelpunkt des Ge‐ schehens steht. Mit dem zweiten Kommos findet dieser letzte Abschnitt sein Ende. Die Stellung der beiden Kommoi, von denen der erste das kommende Unheil ausmalt, der zweite die geschehene Katastrophe beklagt, rahmt so den finalen Abschnitt der Tragödie. Formal und dramaturgisch unterscheiden sich die beiden Kommoi wesentlich voneinander. Antigones Kommos (v. 806 – 882) diente ganz der effektvollen Aus‐ leuchtung ihres Auftritts; ihr stand dabei allein der Chor gegenüber. Der Kommos war darüber hinaus das erste Formteil eines größeren Abschnitts: Nach der finalen Auseinandersetzung zwischen Antigone und Kreon setzte das vierte Standlied den Wechselgesang mutatis mutandis fort und orchestrierte so Anti‐ gones Abgang. Eigentliche Handlung inszenierte der solchermaßen gerahmte Großabschnitt nicht, einzig das Kommen und Gehen Antigones sowie die letzte Rechtfertigung ihrer Tat wurden in der ausgreifenden Passage dargestellt. An‐ ders verhält es sich mit dem zweiten Kommos: Die Dramatisierung und Dyna‐ misierung des Geschehens, die Einbindung des zweiten Botenberichts in die kommatische Partie sowie das effektvolle Öffnen des Bühnengebäudes (v. 1293) straffen das Tempo des Stücks wesentlich. Der zweite Kommos stellt so – gerade im Vergleich mit dem wesentlich statischeren ersten Klagegesang – das emotionale Finale, geradezu die ‚Stretta‘ des gesamten Stücks dar. Zusammenfassung

1. Mit Blick auf die Person des Chors (Spektrum I) in der vorliegenden Tragödie lässt sich dasselbe wie zum Oidipus Tyrannos festhalten: Die beiden Chöre weisen, was ihre Rollenidentität angeht, die größtmögliche Ähnlichkeit auf, mehr noch: Sie stellen ein und dieselbe Gruppe dar (thebanische Greise) und sind hinsichtlich Identität und grundsätzlicher Verankerung im Rahmen des Stücks damit (zumindest virtuell) identisch. Auch in der Antigone repräsentieren die Greise den genuin politischen Bezugsrahmen der Handlung; besonders prä‐ gende Momente der chorischen Person sind dabei die ihr innewohnende Für‐ sorge und Anteilnahme am Schicksal der Stadt, die durchgehende theolo‐

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gisch-personifizierende Ausdeutung der Geschehnisse, das Interesse an der (Wieder-)Herstellung einer politisch-kultischen Ordnung sowie die grundsätz‐ liche Loyalität gegenüber der Autorität des Stadtherrn. Der Chor hat darüber hinaus Zugang zum Bereich der kollektiven memoria der Polis; im Besonderen ist die Vorgeschichte der Labdakiden-Familie ein bestimmendes Moment der chorischen Ausdeutung (vgl. zweites Stasimon). 2. Die Frage nach der chorischen Bezugsperson eröffnet im vorliegenden Fall den Blick in das komplexe Personenverhältnis der Tragödie, deren prägendes Moment das kontrastive Verhältnis der beiden Antagonisten Antigone und Kreon darstellt. Der Chor der thebanischen Greise steht dem bis auf die Neben‐ personen innerfamiliären Personal zunächst gegenüber: Keinem der Akteure fühlt er sich auf Grund einer verwandtschaftlichen oder freundschaftlichen Be‐ ziehung emotional besonders nahe; ebenfalls besteht keine existenzielle Ab‐ hängigkeit von einer der Personen. Wie im Oidipus Tyrannos muss bei der Frage nach dem konkreten Verhältnis des Chors zu den Akteuren zwischen der Zeit vor der Katastrophe, in unserem Fall dem Scheitern der Rettungsaktion, sowie danach unterschieden werden. Die besondere Identifikation mit der Heimatpolis Theben sowie die Sorge um ihr Wohlergehen ist zunächst Basis der grundsätzlichen Loyalität, die der Chor dem neuen Stadtherrn Kreon entgegenbringt; das Verhältnis zu dieser Autori‐ tätsperson ist allerdings von besonderer Ambivalenz geprägt: Es ist weder an‐ hand der im direkten Austausch mit Kreon getätigten chorischen Aussagen (im Besonderen v. 211 ff.) noch der lyrischen Abschnitte bis zur Teiresias-Szene möglich, den Chor punktgenau in einem Spektrum zwischen den extremen Polen widerspruchsloser Zustimmung und kritisierender Ablehnung angesichts der Maßnahmen Kreons zu verorten. Während die thebanischen Greise die grundsätzliche Autorität Kreons anerkennen und mit ihm die Verantwortung für die Polis teilen, enthalten sie sich mit Blick auf die konkreten Entscheidungen und Handlungen des Herrschers eines fest umrissenen Urteils. Nachdem allerdings die Rettung Antigones gescheitert ist und Kreon mit dem Ausmaß seiner Handlungen konfrontiert wird, zögern die Greise nicht, ihm die alleinige Schuld zuzuweisen (v. 1257 ff., 1270, 1348 ff.). Ähnlich verhält es sich mit Blick auf das Verhältnis Chor-Protagonistin: Von entscheidender Bedeutung bei der Bewertung Antigones ist für den Chor dabei die Abstammung von Oidipus. Auf dieser Grundlage sucht der Chor die Geis‐ teshaltung und das Handeln der Heroine einzuordnen (vgl. die Auftrittsankün‐ digung v. 376 ff. sowie v. a. die Bemerkungen 471 f. und 856); zu diesen kurzen Einordnungen innerhalb des Bühnendiskurses mit den Akteuren bzw. in di‐

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III. Greisenchöre

rektem Austausch mit der Protagonistin gegebenen Bemerkungen tritt die aus‐ greifende Reflexion über die Familiengeschichte im zweiten Stasimon (v. a. erste Gegenstrophe), die nicht nur die Generationen vor Oidipus in den Blick nimmt, sondern die gesamte Familiengeschichte in einen weiteren Kontext einordnet. Das konkrete Verhältnis des Chors zu Antigone oszilliert dabei zwischen ge‐ wisser Verbundenheit und Sympathie (v. 376 ff., 802 ff.), die sogar ein trostspen‐ dendes, anerkennendes Moment beinhaltet (v. 817 ff.), sowie prägnant formu‐ lierter Opposition gegenüber der von Antigone begangenen Tat bzw. ihrer Haltung (v. 834 ff., 853 ff.). Es ist allerdings signifikant, dass das Einschreiten des Chors zu Gunsten Antigones im Anschluss an die Teiresias-Szene (v. 1098 ff.) nicht durch besonderes Mitgefühl gegenüber der Verurteilten motiviert ist, son‐ dern die Reaktion der Greise auf die Ausführungen des Sehers darstellt. Auch nach dem Eintritt der Katastrophe spielt die Person Antigones für den Chor expressis verbis keine Rolle mehr: Weder gibt speziell ihr Schicksal und ihr Tod Anlass zur Klage, noch rechtfertigt der Chor ihr Tun rückblickend im Kontrast zu Kreon. Das Verhältnis des Chors zu den beiden Antagonisten der Handlung prägt dem‐ entsprechend bis zur Katastrophe eine besondere Ambivalenz. Anders gesagt: Die thebanischen Greise sind im Konflikt der beiden Personen keine deutlich greifbare Partei. Ihre Stellung im Personenspektrum der Handlung lässt sich am besten als weitestgehend unabhängige Position außerhalb des eigentlichen Dis‐ kurses verstehen, den sie zwar mit einigem Interesse verfolgen, in dem sie al‐ lerdings keinen klar formulierten eigenen Standpunkt vertreten. Das Ein‐ schreiten des Chors im Anschluss an Teiresiasʼ Ausführungen stellt einen besonderen Wendepunkt dar: Ihrem Stadtherren treten die Greise dabei betont eigenständig gegenüber; die aus Unabhängigkeit erwachsene Ambivalenz fließt hier in eine konkrete Positionierung, die sich den Prinzipien des theologisch-re‐ ligiösen Deutungshorizonts verpflichtet fühlt. Während daraufhin nach dem Eintreten der Katastrophe die Bewertung Kreons und seiner Schuldhaftigkeit einen starken Kontrast zur bisher an den Tag gelegten Ambivalenz bildet, erfolgt keine abschließende Wertung Antigones. 3. Die Partien des Chors zeichnen sich durch eine besondere Vielfalt der einge‐ setzten Reflexionsstrategien aus (Spektrum II). Ein kurzer Überblick soll hier Klarheit schaffen. Dezidiert imaginierender Natur sind die Parodos mit ihrem farbenreichen Rückblick auf die jüngsten Geschehnisse, das vierte Stasimon in seiner Aneinanderreihung mythologischer Schlaglichter sowie das fünfte Sta‐ simon, das als Kultlied die ersehnte Ankunft des Gottes Dionysos in eindrück‐ lichen Bildern malt. Diesen drei im Wesentlichen imaginierenden Chorliedern

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stehen drei Partien gegenüber, die von begrifflich-thematischer Reflexion ge‐ prägt sind, was den Einsatz von Bildern zu Vergleichs- oder Illustrationszwecken nicht ausschließt. So ist der Reflexion des ersten Stasimons, das die menschliche δεινότης besonders hinsichtlich ihrer politischen Dimension auszuleuchten sucht, eine Reihe imaginierender Einzelbilder einbeschrieben; den Rahmen des Liedes bilden allerdings die geradezu abstrakten Ausführungen der ersten Strophe sowie der zweiten Gegenstrophe. Innerhalb des zweiten Stasimons werden die Themenfelder ἄτη, Familiengeschichte, Macht des Zeus sowie Am‐ bivalenz der menschlichen Hoffnung reflektiert, wobei die beiden prominenten Bilder (Seesturm in der ersten Strophe, junges Reis in der ersten Gegenstrophe) klar im Argumentationszusammenhang funktionalisiert sind. Der Thematisie‐ rung des Phänomens Liebe im dritten Stasimon liegt dabei eine Personifizierung zu Grunde, die der Beschreibung des Eros in der Strophe zwar bildliche Plasti‐ zität verleiht, dennoch die Grundintention einer Ausleuchtung des Phänomens an sich nicht außer Acht lässt. Im Wesentlichen stehen sich so innerhalb der Chorpartien imaginierende und begrifflich-argumentative Reflexionen gegenüber. Dezidiert visualisierende, d. h. (im Sinne der Einleitung) außerszenische, den Rezipienten nicht unmit‐ telbar zugängliche Handlungen darstellende Partien finden sich dagegen nicht. Mit Blick auf die Struktur der Handlung verwundert dieser Befund zunächst: Wie erläutert, spielen sich in der analysierten Tragödie mit der (doppelten) Be‐ stattung des Polyneikes, der Einkerkerung Antigones, dem gescheiterten Ret‐ tungsversuch durch Kreon, Haimons Suizid sowie dem Selbstmord Eurydikes entscheidende Handlungen hinter der Bühne, d. h. für die Zuschauer unsichtbar, ab. Während die Bestattungsaktionen ohne Wissen der thebanischen Greise vonstattengehen, wäre es möglich gewesen, den Chor den Vollzug der Strafe sowie die angestoßene Rettungsaktion konkret visualisieren zu lassen.535 So‐ phokles geht in der vorliegenden Tragödie allerdings anders mit der hintersze‐ nischen Handlung um: Im vierten Stasimon wird zwar die grundlegende Motivik der in Gang gesetzten hinterszenischen Handlung, d. h. die Einkerkerung, in poetischen Bildern ausgestaltet, Sophokles lässt den Chor aber nicht dem Ge‐ schehen als solchem folgen; man mag daher von einer gebrochenen Visualisie‐ rung sprechen. Dahingegen setzt das fünfte Stasimon einen bewussten Kontra‐ punkt zur Dynamik, mit der sich das Geschehen kurzzeitig vom vorder- in den hinterszenischen Raum verlagert: Unter weitgehender Ausblendung der für das Bühnengeschehen entscheidenden konkreten Umstände ist mit der Imagination

535

Vgl. Elektra, drittes Stasimon; Oidipus auf Kolonos, zweites Stasimon.

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des einziehenden Gottes die Folie gegeben, auf der sich die Katastrophe im An‐ schluss besonders wirkungsvoll abheben kann. Die Zuschauer sind sich dabei der Doppelbödigkeit der Situation bewusst: Bei der Bestattung des Polyneikes wissen sie, was hinter der Bühne vor sich geht, beim Rettungsversuch ahnen sie es zumindest, wenn auch das Ausmaß der Ka‐ tastrophe, das den Tod Eurydikes einschließt, selbst für das Publikum überra‐ schend gewesen sein mag. Der Informationsvorsprung, den das Publikum und die Leserschaft vor dem Chor als einer dramatischen Person haben, wird so zum Ausgangspunkt eines dramaturgischen Spiels mit den beiden Handlungslo‐ kalen, das die Zuschauer in die Lage versetzt, die Aussagen des Chors im Rahmen der Antizipation des hinterszenischen Geschehens zu interpretieren. 4. Bevor einige Punkte hinsichtlich der dramaturgischen Funktionalisierung der Chorpartien festgehalten werden sollen, muss kurz auf ein Strukturmerkmal der lyrischen Passagen eingegangen werden, das die vorliegende Tragödie beson‐ ders prägt. Wie in den Einzelinterpretationen gesehen bevorzugt es Sophokles in der Antigone, den konkreten Anknüpfungspunkt an die dramatische Handlung bzw. das eigentlich dramatische, d. h. mit der Handlung in engster Verbindung ste‐ hende Moment in die Mitte oder das Ende des Chorliedes zu rücken: vgl. die Erwähnung der beiden Brüder in der Parodos, die Polis-Thematik innerhalb des ersten Standliedes, die Thematisierung des Generationenfluchs in der Mitte des zweiten Stasimons, die Bezugnahme des Eros-Liedes auf den vorangegangenen Streit sowie die Angabe des Gebetsgrundes im ὕμνος κλητικός an Dionysos (fünftes Stasimon). Die solchermaßen komponierten Chorlieder setzen thema‐ tisch und motivisch gegenüber der vorangegangenen Handlung zunächst ein Gegengewicht, laufen allerdings auf ein zentrales dramatisches Moment zu. Das Chorlied holt so die Zuschauer und Leser nicht an der jeweiligen Gelenkstelle von der dramatischen Handlung ab und führt ihn dann durch die Reflexion zu einer anderen Perspektive des Gesehenen, sondern konfrontiert ihn zunächst mit etwas scheinbar Anderem bzw. Fremdem und kommt schließlich im Lauf der Gedankenbewegung auf die dramatische Handlung und ein oder mehrere Momente derselben zurück. Den in dieser Weise strukturierten Liedern kommt hinsichtlich des dramati‐ schen Tempos dabei eine spezielle Wirkung zu: Mit ihrem dem unmittelbar drängenden Bühnendiskurs enthobenen Beginn drosseln sie zunächst den Fort‐ gang der Handlung und bieten im besten Sinn eine Pause, innerhalb derer sich die Reflexion des Chors entfaltet. Ihr kommt dadurch eine besonders wichtige Stellung zu: Statt den Chor mit dem jeweiligen Lied im konkreten Diskurs der

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Akteure zu verorten, erfolgt die Einschaltung der chorischen Äußerung aus einer das Geschehen betrachtenden, distanzierteren Perspektive. Eine Sonderrolle nimmt in diesem Zusammenhang das vierte Stasimon ein: Seinen motivischen Impuls, d. h. das Kerkermotiv, erhält es aus dem unmittel‐ baren Zusammenhang der vorangegangenen Szene. Erst die Imagination der mit dem unmittelbar bevorstehenden, hinterszenischen Geschehen in Verbindung stehenden Schlaglichter führt dabei zur Formulierung der allgemeinen Wahrheit von der Unentrinnbarkeit des Schicksals. 5. Die Reflexion des Chors (Spektrum III) sucht im vorliegenden Stück mit ei‐ niger Regelmäßigkeit, die konkreten Vorgänge der Handlung unter weiteren Gesichtspunkten auszudeuten und in einem besonders umfassenden Rahmen zu verorten. Die einzelnen Lieder des Chors stehen dabei, wie bereits in der Inter‐ pretation ad locum ausgeführt, in einem besonderen Zusammenhang unterei‐ nander; dadurch kommt ihnen zudem eine besondere Gliederungsfunktion in‐ nerhalb der Tragödie zu. Ein rascher Überblick soll genügen. Parodos und fünftes Stasimon entsprechen sich dabei in ihrer Ausdeutung unter theologisch-personifizierten Maßstäben; während so zu Beginn des Stücks die unmittelbare Vergangenheit triumphal ausgeleuchtet wurde, entfaltet die letzte reine Chorpartie der Tragödie einen hoffnungsvoll optimistischen Blick in die Zukunft. In beiden Fällen wird die Ausleuchtung allerdings durch das Vorwissen bzw. die Antizipation des Kommenden von Seiten der Rezipienten konterkariert. Die beiden Partien rahmen so in ihrer vergleichbaren Ausdeutung sowie der ähnlichen Funktionalisierung die Tragödie. Das erste Stasimon eröffnet in seiner ausgreifenden Reflexion einen abstrakten Deutungsrahmen, indem es mit der δεινότης ein bestimmendes Moment der conditio humana in den Blick nimmt. Das zweite Stasimon prägen daraufhin der Rückblick in die Vergangenheit sowie die Verbindung der theologisch-personi‐ fizierenden Ausdeutung mit dem speziell menschlichen Moment der ἐλπίς, die für den Chor mitsamt der ἄτη ein grundlegendes Deutungsmoment darstellt. Indem es dabei, wie gezeigt, Reflexionsansätze des ersten Standliedes im Zu‐ sammenhang des dramatischen Geschehens verortet, konkretisiert es die bis dahin allgemeine Reflexion des Chors in Richtung auf das Bühnengeschehen. Die Bezugnahme der beiden Stasima aufeinander rundet, wie gesehen, einen ersten Abschnitt der Tragödie. Gegenstand der Reflexion der beiden Partien ist dabei weniger ein bestimmtes Moment der Handlung als vielmehr grundlegende Momente allgemein menschlicher, politischer und familiärer Verfasstheit. Die ersten beiden Stasima haben sich so dem dramatischen Geschehen aus einer besonders weiten Perspektive genähert; in je eigener Weise beziehen sich

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III. Greisenchöre

die folgenden beiden Stasima (das dritte und vierte) auf bestimmte, konkret fassbare Momente des Geschehens: Das dritte Stasimon sucht den Konflikt zwi‐ schen Kreon und seinem Sohn als geradezu exemplarisch für die allgemeine Wirkmacht des Eros zu erweisen. Es schließt damit die vorangegangene Streit‐ szene besonders volltönend ab, bevor mit dem Wiederauftritt der Hauptheldin ein neuer Abschnitt der Tragödie beginnt. Das vierte Stasimon verarbeitet in seiner Aneinanderreihung mythischer Schlaglichter mit dem Kerkermotiv eben‐ falls ein konkretes Moment der Handlung, indem es dem Antigone bevorste‐ henden Schicksal eine Reihe mehr oder minder vergleichbarer Vorfälle entge‐ gensetzt. Zusammen mit dem Auftrittskommos (v. 806 ff.) bildet es den motivisch-formalen Rahmen der letzten Bühnenpräsenz der Hauptheldin. Nach der bewusst den größeren Kontext der gesamten Handlung in den Blick nehmenden Reflexion der ersten beiden Stasima bezieht sich die Ausleuchtung des dritten und vierten Standliedes auf Einzelmomente bzw. konkrete Personen. Die solchermaßen eingeleitete Zuspitzung des reflektorischen Fokus erreicht in der visuellen Konfrontation des Chors mit dem Ergebnis der Katastrophe, d. h. im Wiederauftritt Kreons mitsamt den Leichen der zu Tode Gekommenen, ihren Höhepunkt. Im Ganzen lässt sich festhalten: Die chorische Reflexion innerhalb der Antigone dient in ihrer wesentlich kontextualisierenden Ausrichtung zur Einblendung eines Deutungshorizonts, vor dessen Hintergrund das Geschehen an inhaltli‐ cher Tiefe gewinnt. Der konkrete Bezug der Reflexion zum aktuellen Bühnen‐ geschehen sowie die passgenaue Verortung innerhalb des Konflikts der beiden Antagonisten bleibt allerdings in einigen Fällen entweder in spezifischer Weise unausgesprochen oder wird nur implizit angedeutet. Die Deutung, d. h. die Ver‐ ortung der Reflexion innerhalb der Handlung, obliegt so in besonderer Weise den Rezipienten. Mit dem Fortgang des Stücks rücken dabei konkrete Momente der Handlung in den Fokus der chorischen Reflexion, während im Besonderen das erste Stasimon den grundsätzlichen Bezugsrahmen der chorischen Deutung eröffnet hat. Dieser schrittweisen Konkretisierung auf das Bühnengeschehen ist durch die komplexe chorische Binnenstruktur zudem ein die Tragödie gliedern‐ des Moment einbeschrieben. Die schon das Verhältnis des Chors als Person zu den Antagonisten der Handlung prägende Ambivalenz setzt sich dabei innerhalb der im Wesentlichen kontextualisierenden Reflexion fort: Zu einer konkreten Stellungnahme im Konflikt der beiden Antagonisten kommt es in den chorischen Partien nicht; die Ausdeutung der Geschehnisse sowie der ihnen aus Sicht des Chors zu Grunde liegenden menschlichen und außermenschlichen Motive bietet dementspre‐ chend zwar eine Einordnung der Ereignisse vor dem Deutungshorizont der the‐

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banischen Greise, ermöglicht aber auf Grund der bewusst lancierten Ambivalenz keine Eins-zu-eins-Übernahme der chorischen Perspektive von Seiten des Zu‐ schauers oder eine konkrete Verortung des Chors innerhalb des virulenten Streits der Antipoden Kreon und Antigone.

4. Gesamtschau Greisenchöre: Polisidentifikation, Prinzipienreflexion, Kontextualisierung Die dritte Gruppe, die sich hinsichtlich der Rollenidentitäten des Chors im über‐ lieferten Werk des Sophokles bilden lässt, umfasst die beiden Oidipus-Tragödien sowie die Antigone. In allen drei Fällen bilden einheimische, d. h. dem Ort der Handlung (Theben bzw. Athen) entstammende und diesem Ort besonders ver‐ pflichtete Greise den Chor (Spektrum I). Die Chöre des Oidipus Tyrannos und der Antigone fallen dabei hinsichtlich ihrer Identität zusammen. Während diesem thebanischen Greisenchor innerhalb der Machtstruktur der darge‐ stellten Polis durch seine Beraterfunktion dem jeweiligen Stadtherrn (Oidipus bzw. Kreon) gegenüber eine vergleichsweise offizielle Stellung zukommt,536 fungiert der Chor der attischen Greise im Oidipus auf Kolonos nicht explizit als politisches Organ, das dem Stadtherrn (Theseus) eigenständig gegenüberstünde. Alle drei in Rede stehenden Chöre umreißen trotz ihrer je verschiedenen Einbindung in die personellen und inhaltlichen Strukturen der Stücke den ge‐ nuin politischen Rahmen, innerhalb dessen die im Drama dargestellten mythi‐ schen Episoden verortet werden. Die Greise identifizieren sich in besonderem Maß mit ihrer jeweiligen Polis (Theben bzw. Athen) und sind in allen drei Fällen an der Sicherung und Aufrechterhaltung einer kultisch-religiös fundierten Ord‐ nung interessiert. Ausschlaggebende Momente der Handlungen der einzelnen Tragödien sind dabei gewisse Störungen dieser Ordnung, die das Sprechen und Handeln der Chöre motivieren und prägen: die Befleckung der Stadt durch den ungesühnten Mord an Laios (Oidipus Tyrannos), die (von Teiresias warnend an‐ geführten) Auswirkungen der untersagten Bestattung (Antigone), das Ein‐ dringen des als befleckt verstandenen Oidipus in den heiligen Bezirk sowie schließlich das Einwirken von Kreon und Polyneikes (Oidipus auf Kolonos).

536

Bereits der Auftritt der beiden Chöre ist dementsprechend durch eine offizielle „Ein‐ berufung“ der Versammlung durch den jeweiligen Stadtherrn motiviert (vgl. Oidipus Tyrannos v. 144, Antigone v. 160); das Eintreffen der Greise sowie das Hinzutreten des Stadtherrn im Anschluss an die Parodos konstituiert so eine geradezu formelle Ge‐ sprächssituation administrativ-politischer Natur.

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III. Greisenchöre

Die von den Greisenchören der Polis als Institution entgegengebrachte Lo‐ yalität erstreckt sich ebenfalls – bis zu einem gewissen Maß – auf den jeweiligen Stadtherrn. Die Einbindung des Chors in das konkrete Personenspektrum des einzelnen Stücks ist dabei aufs Engste mit der dramaturgischen Funktion der Rolle des jeweiligen Herrschers verknüpft. Im Oidipus Tyrannos fallen die in‐ haltliche Rolle des Stadtherrn sowie die dramaturgische Funktion der maßgeb‐ lichen chorischen Bezugsperson im Protagonisten zusammen. Der Hauptheld ist dementsprechend sowohl ein thematisch-motivischer Zentralpunkt der cho‐ rischen Reflexion als auch natürlicher Austauschpartner des Chors. Das Ver‐ hältnis der thebanischen Greise zum Herrscher ihrer Stadt erfährt dabei im Lauf der Tragödie bedingt durch die Aufdeckung der wahren Gegebenheiten eine radikale Wandlung: Dem Vertrauen vom Beginn der Handlung steht an ihrem Ende die persönliche Abwendung vom ehemals hochgeehrten und als Retter der Stadt gefeierten Heros.537 Im Oidipus auf Kolonos steht dem Chor mit Theseus zwar geradezu die Ver‐ körperung der eigenen Polis gegenüber; das eigentliche movens der Handlung und damit den Zentralpunkt der chorischen Reflexion bildet allerdings Oidipus, mit dem der Chor in regem Austausch steht. In Abwesenheit des Stadtherrn repräsentieren dabei die Greise des Chors die Polis Athen sowohl gegenüber dem Haupthelden als auch angesichts der virulenten Bedrohung der Ordnung durch Kreon bzw. Polyneikes. Auch hier ändert sich das Verhältnis des Chors zu Oidipus – in geradezu spiegelbildlicher Umkehrung der Verhältnisse des Oidipus Tyrannos: So wird aus dem als kultisch befleckten und gefährlich ein‐ gestuften Fremden durch Theseusʼ Intervention ein im Rahmen der Polis aner‐ kannter Schutzflehender. Ihm bringen die Greise im dritten Stasimon sogar per‐ sönliche Sympathie entgegen, bevor sie schließlich trotz ihrer ehrfürchtigen Scheu vor den Gottheiten der Unterwelt im vierten Stasimon für Oidipus um gute Ankunft im Totenreich bitten. Ebenfalls zwei maßgeblichen Personen sieht sich der Chor der Antigone ge‐ genüber. Das Verhältnis der beiden Antagonisten Antigone und Kreon ist dabei allerdings von extremer Konfrontation geprägt. Der Chor vermeidet es dabei über weite Strecken des Stücks, sich konkret auf der Seite einer Konfliktpartei zu verorten; sowohl die Äußerungen der Greise innerhalb der Sprechszenen als auch die lyrischen Passagen sind dabei von einer anspielungsreichen und teil‐ weise schwer zu durchdringenden Ambivalenz geprägt. Erst im Anschluss an den Auftritt des vom Chor als Autorität anerkannten Teiresias äußert der Chor

537

Vgl. v. a. den Wunsch der Choreuten, Oidipus nie gesehen bzw. kennengelernt zu haben (v. 1217 ff. sowie in direktem Austausch mit dem Protagonisten v. 1347 f.).

4. Gesamtschau Greisenchöre

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expressis verbis einen Standpunkt und greift vermöge seiner Beraterfunktion aktiv in das Geschehen ein. Angesichts der Konfrontation mit der Katastrophe wertet er daraufhin Kreons Handeln explizit, während ein Urteil über Antigone allenfalls implizit gefällt werden kann. Die vom Chor geleistete Identifikation mit der Polis als einer Kultgemeinschaft hat zur Folge, dass das Götterhandeln und theologisch-religiöse Deutungs‐ muster für die Greisenchöre eine besondere Rolle spielen: In allen drei Fällen wissen die Greise ihre Polis unter den Schutz gewisser Gottheiten gestellt, deren Wirken in Vergangenheit und Gegenwart sie besondere Bedeutung zumessen538 und die sie in entscheidenden Situationen in Form rituell-kultischer Gesänge um Hilfe anflehen.539 Neben diese speziellen, im besten Sinne politischen Schutz‐ gottheiten tritt in der Ausdeutung des Geschehens ein vielfältiges Panorama weiterer göttlicher, quasi-göttlicher oder genuin menschlicher, teils personifi‐ zierend vorgestellter, teils abstrakter Prinzipien, deren Einfluss auf das mensch‐ liche Geschehen in der Weltsicht der Greise und damit der chorischen Reflexion entscheidende Bedeutung zukommt.540 Dabei konstatieren die in Rede stehenden Chöre (im Besonderen in der An‐ tigone sowie dem Oidipus Tyrannos) den Einfluss allgemeiner Mächte auch über längere Zeitspannen bzw. mehrere Generationen hinweg; den Greisen steht dabei sowohl die eigene Erinnerung an frühere Ereignisse (persönliche me‐ moria)541 als auch das Wissen um allgemeine Zusammenhänge (allge‐ meine / kollektive memoria) zur Verfügung. Nicht selten fällen die Choreuten dabei auf Basis dieser Erfahrung überzeitlich-gnomische Aussagen,542 deren Verwirklichung sie im aktuellen Bühnengeschehen ausgemacht haben. 538 539 540

541

542

Vgl. v. a. Antigone, Parodos, Oidipus auf Kolonos, erstes und zweites Stasimon. Vgl. v. a. Oidipus Tyrannos, Parodos, Antigone, fünftes Stasimon; vergleichbar ist zudem das Gebet an die Unterweltsgottheiten im vierten Stasimon des Oidipus auf Kolonos. Vgl. die Thematisierungen der menschlichen δεινότης im ersten, die Reflexion über menschliche Verblendung und göttliche Allmacht im zweiten, die Behandlung des Eros als grundsätzlicher Wirkmacht im dritten Standlied der Antigone; die Imagination der delphischen Orakelsprüche im ersten sowie die Auseinandersetzung mit der Δίκα im zweiten Stasimon des Oidipus Tyrannos. Vgl. im Oidipus Tyrannos die Rückblicke des Chors auf Oidipusʼ Ankunft in Theben sowie seinen Sieg über die Sphinx (v. 507 ff., 1197 ff.), in der Antigone die Verweise auf Antigones Vater Oidipus (v. 379 f., 471 f.) sowie die Einordnung des aktuellen Gesche‐ hens in den größeren Zusammenhang der Familiengeschichte, die der Chor zumindest in Ansätzen überblickt (v. 594 ff.). Vgl. die allgemeinen Aussagen zur conditio humana und dem menschlichen Schicksal, Antigone v. 332 f., 582 f., Oidipus Tyrannos v. 1186 ff., zum Verhältnis von ὕβρις und τυραννίς, Oidipus Tyrannos v. 873 ff., zur Nichtswürdigkeit des menschlichen Lebens, Oidipus auf Kolonos v. 1224 f.

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III. Greisenchöre

Entscheidende Momente der Rollenidentität der vorliegenden Greisenchöre sowie Bezugspunkte ihrer Reflexion sind demnach: politische Einbindung und Identifikation, Interesse an Wiederherstellung bzw. Aufrechterhaltung einer übergeordneten Ordnung, kultisch-religiöses Selbst- und Weltverständnis, Teil‐ habe an einer teils politischen, teils allgemein-gnomischen memoria. In beson‐ ders komprimierter Form haften so den drei betrachteten Chören entscheidende Charakteristika des in der Einleitung umrissenen Ritualchors der attischen Le‐ benswelt543 an. Eine kurze Einordnung und Ausdeutung dieses Faktums – gerade auch im Vergleich zu den anderen beiden Chorgruppen im vorliegenden Werk unseres Dichters – soll die abschließende Synthese liefern.544 Es nimmt angesichts der umrissenen Punkte nicht wunder, dass die chori‐ schen Partien der in Rede stehenden Tragödien (im Besonderen im Oidipus Ty‐ rannos sowie in der Antigone) zu einem erheblichen Anteil thematisch-begriff‐ liche Reflexionszugänge beschreiten, um das Wechselspiel der jeweiligen (abstrakten) Prinzipien sowie ihren Zusammenhang zur dramatischen Hand‐ lung teils argumentativ-logisch, teils geradezu spekulativ zu erweisen (Spektrum II). Den thematischen Schlagwörtern kommt dabei freilich besondere Bedeutung zu. So bieten beispielsweise erste und letzte Strophe des ersten Standliedes der Antigone den begrifflich-argumentativen Rahmen der Reflexion über die menschliche δεινότης, wohingegen das zweite Strophenpaar des zweiten Standliedes das komplexe Verhältnis von ὑπερβασία, ἐλπίς und ἄτη entfaltet; Vergleichbares gilt für die begriffliche Argumentation im ersten Stro‐ phenpaar des zweiten Stasimons des Oidipus Tyrannos. Allerdings sind auch die Greisenchöre nicht auf eine Reflexionsstrategie be‐ schränkt. Auch der visualisierend-imaginierende Reflexionszugang steht dabei oft im Dienst gewisser allgemeiner Prinzipien; mit Hilfe des poetischen Mittels der Personifikation zeichnen so die Parodoi des Oidipus Tyrannos und der An‐ tigone je ein bildgewaltiges Panorama der göttlichen Mächte im Verhältnis zur Polis Theben, während die farbenreiche und subtile Visualisierung des Hand‐ lungsortes im ersten Stasimon des Oidipus auf Kolonos die thematischen Mo‐ mente „Leben und Tod“ sowie „Sicherheit“ in ein konkret greifbares Bild um‐ setzt. Angesichts des komplexen Verhältnisses von vorder- und hinterszenischer Handlung in der letztgenannten Tragödie kommt der vom Chor an einigen Stellen geleisteten Visualisierung besondere Bedeutung zu: Zweites und viertes Stasimon machen so entscheidende außerszenische Vorgänge erfahrbar. Mit

543 544

Vgl. Abschnitt A III. 1, S. 31 ff. Vgl. Abschnitt C 3, S. 769 ff.

4. Gesamtschau Greisenchöre

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Blick auf die Blindheit des Haupthelden mag man in der Konstruktion des sol‐ chermaßen sehenden Chors eine subtile Verbindung zu einem Grundmotiv der Handlung erkennen.545 Auch die dramaturgische Funktionalisierung der chorischen Reflexion lässt sich schließlich in Analogie zur oben entwickelten Rollenidentität umreißen (Spektrum III): Mit ihrem Bezug auf göttliche oder allgemein menschliche Prin‐ zipien und Wirkmächte sowie der grundlegenden Verbindung zum Identifika‐ tionsrahmen der Polis kommt es den chorischen Partien in herausgehobenem Maß zu, das Bühnengeschehen in größeren Deutungsrahmen zu verorten, es angesichts umfassender Maßstäbe zu bewerten und so zu kontextualisieren. In den beiden Oidipus-Dramen entspricht dabei der Bezugsrahmen der cho‐ rischen Reflexion in besonderem Maß entscheidenden Momenten der Handlung selbst: So spiegeln die geradezu leitmotivischen Themenbereiche „MantikApoll / Theben-Delphi“ im Oidipus Tyrannos sowie „Polis“ und „Alter“ im Oi‐ dipus auf Kolonos entscheidende Sachverhalte der Handlung bzw. des Protago‐ nisten wider. Insofern fallen, wie im Speziellen zum Oidipus Tyrannos bereits festgehalten wurde, in einigen Punkten Kontextualisierung und Fokussierung in der Beschäftigung mit der Gestalt des Haupthelden zusammen. Eine beson‐ dere Weitung erfährt freilich die politische Ausdeutung im Oidipus auf Kolonos durch den greifbaren Bezug zur Lebenswirklichkeit des attischen Publikums: Der mythischen Aitiologie der Oidipus-Verehrung in Athen ist so ein Identifi‐ kationspotential einbeschrieben, das den Nachvollzug der Tragödie durch den vom Dichter intendierten Rezipienten zu einem genuin politischen Ereignis mit konkretem Bezug zur Lebenswelt macht. Etwas anders verhält es sich in der Antigone: Der vom Chor gerade im ersten Teil der Tragödie aufgespannte Deutungsrahmen ist bewusst von besonderer Allgemeingültigkeit und Zeitlosigkeit geprägt. Anders gesagt: Die weitgehende Ambiguität im Verhältnis zum Konflikt der beiden Antagonisten findet ihre Entsprechung in der Etablierung eines besonders umfassenden chorischen Be‐ zugsrahmens, den konkret auf das Geschehen und die handelnden Akteure zu übertragen dem Rezipienten überlassen bleibt. In besonders hohem Maß gilt es dies beim vierten Stasimon zu beachten, dessen allgemeingültige Wahrheit auf Grund einer sich aus einem Detail (Kerkermotivik) entspinnenden Parallelisie‐ rung des Bühnengeschehens mit mythischen Vorlagen entwickelt wird.

545

Im Oidipus Tyrannos erübrigt sich dagegen die Visualisierung außerszenischen Ge‐ schehens, während in der Antigone an zwei Stellen (erstes und viertes Stasimon) von einer gebrochenen Visualisierung gesprochen werden konnte.

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III. Greisenchöre

Ungeachtet der das Geschehen oft aus gewisser Distanz betrachtenden, kon‐ textualisierenden Perspektive der Greisenchöre kommt ihnen in den vorlie‐ genden Tragödien freilich nicht die Rolle eines überlegenen Deuters des Ge‐ schehens zu: Auch sie bleiben ganz dramatis persona und sind auch vor Fehleinschätzungen der aktuellen Lage nicht gefeit. So entpuppt sich das dem Protagonisten im Oidipus Tyrannos entgegengebrachte Vertrauen der thebani‐ schen Greise (zweites Strophenpaar des ersten Stasimons) als grundlegender Irrtum des Chors; ähnlich verhält es sich mit der Reaktion der kolonischen Greise im Oidipus auf Kolonos auf das Donnergrollen v. 1447 ff., das sie nicht richtig deuten und als unheilvolles Zeichen einschätzen, obwohl es eigentlich den Auftakt zur heilsamen Verklärung des Haupthelden darstellt. Schließlich bleibt die Ausdeutung des Streits zwischen Kreon und Haimon sowie die Er‐ klärung der Motivation des Letzteren, wie sie der Chor der Antigone im dritten Stasimon bietet, zumindest zweifelhaft: Zwar kann von einem Irrtum im strengen Sinn nicht die Rede sein, die Eros-Thematik des Chors allerdings hat in Haimons Ausführungen keinen ersichtlichen Rückhalt. Die solchermaßen im Rahmen der Tragödien verortete chorische Präsenz trägt in allen drei Fällen maßgeblich zur Strukturierung der einzelnen Stücke bei. Am prominentesten ist diese genuin dramaturgische Funktionalisierung der Chorpartien im Oidipus auf Kolonos zu greifen. Es konnten dabei drei wesent‐ liche Punkte festgehalten werden: Die beiden Amoibaia zu Beginn des Stücks markierten die Phase der Konfrontation zwischen dem Protagonisten und dem Chor; die motivisch paarweise aufeinander bezogenen Stasima rahmten zwei thematisch in sich geschlossene Großabschnitte; die erste und letzte reine Chor‐ partie (erstes und viertes Stasimon) rundeten die gesamte Tragödie, indem sie mit der Motivik „Ankunft und Abschied“ ein Grundmoment der Handlung am entsprechenden Punkt des Bühnengeschehens zum Gegenstand der Reflexion machten. In der Antigone sind es ebenfalls die erste und die letzte rein chorische Partie (Parodos und fünftes Stasimon), die der Tragödie auf Grund ähnlicher Thematik (göttliches Eingreifen zu Gunsten der Stadt in der Vergangenheit – erhofftes Eingreifen in der aktuellen Krisensituation) eine besondere Rundung verleihen. Darüber hinaus umfasst die konkretisierende Bezugnahme des zweiten auf das erste Stasimon einen ersten Großabschnitt, wohingegen das Amoibaion der Verse 806 ff. und das vierte Stasimon die letzte Szene unter Anwesenheit der Protagonistin rahmen. Die in den Chorliedern des Oidipus Tyrannos behandelten Themen spiegeln schließlich die interne Zweiteilung der Handlung, innerhalb derer zunächst die Suche nach Laiosʼ Mörder, daraufhin allerdings konkret die Aufdeckung der Herkunft des Haupthelden im Mittelpunkt stehen. So bilden

4. Gesamtschau Greisenchöre

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Parodos, erstes und zweites Stasimon mit der Theben-Delphi-Thematik einen motivischen Großabschnitt, während drittes und viertes Standlied ganz auf Oi‐ dipusʼ Person und seine familiäre Einbindung fokussieren. Zusammengefasst soll festgehalten werden: Die drei Greisenchöre im überlie‐ ferten Werk des Sophokles entsprechen sich trotz ihrer je eigenen Einbindung in das Personenspektrum der Tragödie in ihrer besonderen Identifikation mit dem als Polis vorgestellten Handlungsort. Mit Blick auf die ihre Sicht der Dinge prägenden Prinzipien kommen sie den realen Ritualchören der griechischen bzw. attischen song-and-dance culture besonders nahe. Ihre Reflexion zeichnet sich durch die besondere Beachtung allgemeingül‐ tiger, göttlicher bzw. quasi-göttlicher Prinzipien aus, deren Einfluss auf das dra‐ matische Geschehen besonders in begrifflich-argumentativen Partien themati‐ siert wird. Dramaturgisch dient die chorische Reflexion dabei im Wesentlichen der Kontextualisierung des unmittelbaren Geschehens, d. h. der Einordnung der Handlung in größere Zusammenhänge (Polis, göttliches Handeln, abstrakte Prinzipien), wobei gegebenenfalls auf Grund der inneren Logik der Handlung Kontextualisierung und Fokussierung (auf den Protagonisten) zusammenfallen. Die offensichtlichen, d. h. durch den Rezipienten als solche erkennbaren Irr‐ tümer innerhalb der Ausdeutung des als einer dramatis persona verstandenen Chors dienen darüber hinaus zur besonders wirkungsvollen Einbindung tragi‐ scher Ironie. Der solchermaßen einordnenden und kontextualisierenden Funktion der Chorpartien entspricht dabei ihre strukturelle Funktionalisierung: Die thema‐ tisch-motivische Binnenstruktur dient zur Gliederung einzelner Großabschnitte des Dramas sowie zur Rundung bzw. Rahmung der jeweiligen Tragödie als Ganzer.

C Synthese und Ausblick

1. Rückblick auf die Arbeit und ihre Teile

Die Einzelinterpretationen des Hauptteils haben versucht, in engem Anschluss an den uns überlieferten Text der Tragödien die einzelnen Chorpassagen nach‐ zuvollziehen, ihre Reflexion im motivisch-thematischen Rahmen des jeweiligen Stücks zu verorten sowie ihre dramaturgische Funktionalisierung zu be‐ stimmen. Die Ausführungen wollten dabei im Besonderen dem Einzelstück ge‐ recht werden und so zum Verständnis der chorischen Technik innerhalb der konkret vorliegenden Tragödie beitragen. Rückblickend lässt sich dabei festhalten: Das uns erhaltene Werk des So‐ phokles zeichnet sich durch einen immensen formalen, inhaltlichen und dra‐ maturgischen Reichtum aus. Bereits das durch die sieben erhaltenen Tragödien eröffnete Spektrum dramaturgischer Techniken ist so umfassend, dass eine zwar konzise, allerdings das ganze Werk umfassende Darstellung einzelner Aspekte wie der Chorführung (des Szenenaufbaus, der Prologtechnik, des Umgangs mit Haupt- und Nebenpersonen usw.) kaum möglich zu sein scheint; ebenso schwer ist es, konkrete Leitthemen oder inhaltlich-motivische Grundprobleme anzu‐ geben und dabei allen sieben Einzelstücken mit ihren jeweiligen Helden sowie den in ihnen verhandelten Geschehnissen gerecht zu werden.1 Eine Darstellung, die den Anspruch erhebt, distinkte Aspekte des Gesamtwerks zu beleuchten, muss daher von der genauen Analyse der vorliegenden Stücke ausgehen und sowohl ihr Instrumentarium als auch ihre Kategorien an der Beschäftigung mit den Texten selbst entwickeln. Mit den in der Einleitung allgemein gehaltenen Ausführungen zu Reflexionsstrategien und dramaturgischer Funktionalisierung 1

Mit aller gebotenen Vorsicht angesichts der spärlichen Quellenlage sowie der generellen Unkenntnis hinsichtlich der Entstehungsbedingungen unseres corpus Sophocleum lässt sich spekulieren, dass gerade die enorme Vielfalt und der Formenreichtum des sopho‐ kleischen Schaffens ein Leitprinzip der spätantiken bzw. byzantinischen Philologie bei der Auswahl gewesen sein könnte. So scheint es mir durchaus plausibel, dass die höchstwahrscheinlich zu Schul- und Ausbildungszwecken zusammengestellten Tragö‐ diensammlungen ein sowohl inhaltlich wie formal möglichst umfassendes Panorama des Dichters präsentieren sollten. Es wäre unter dieser Annahme nur folgerichtig, dass man sich zu diesem Zweck unter anderem an der für die Tragödie als Gattung zentralen Kategorie des Chors orientiert haben könnte, um durch eine repräsentative Auswahl gerade auch die Vielfalt der chorischen Technik des Dichters abzubilden. Bemerkens‐ wert in diesem Zusammenhang ist, dass die sog. Byzantinische Trias mit Aias, Elektra und Oidipus Tyrannos je eine Tragödie aus jeder der drei Gruppen der chorischen dra‐ matis personae (wehrfähige Männer, Frauen, Greise) umfasst; sie bildet so das Spektrum I dieser Arbeit in nuce ab und mag dementsprechend auch als Anthologie der sophokleischen Chortechnik verstanden werden.

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C Synthese und Ausblick

sowie der Einteilung der Interpretationen nach den drei Rollenidentitäten der Chöre hat die vorliegende Arbeit diese Maßgabe umzusetzen versucht. Besondere Notwendigkeit für dieses Vorgehen ergab sich aus dem spezifi‐ schen Themenkomplex der Arbeit: Das äußerst polymorphe und polyvalente Phänomen „tragischer Chor“ hat nicht nur in den letzten Jahrzehnten bedingt durch den performative turn innerhalb der Klassischen Philologie besondere Aufmerksamkeit erlangt. Mit ihm greifen wir vielmehr ein zentrales Moment einer der wirkmächtigsten Literaturgattungen der Antike, wobei Sophokles da‐ rüber hinaus den vielleicht populärsten der drei Tragiker darstellt.2 Dass dabei der Chor ein dem modernen Verständnis von Drama weitgehend fremdes Ele‐ ment, in der attischen Kultur des fünften Jahrhunderts allerdings ein sowohl in der Lebenswelt wie in der Literatur geradezu omnipräsentes Phänomen dar‐ stellt, ließ es notwendig erscheinen, den Interpretationen eine ausführlichere Einleitung voranzustellen. In ihr wurde sowohl der Sitz im Leben als auch die spezifische Einbindung des Chors innerhalb der Gattung Tragödie beleuchtet. 2. Allgemeine Gesichtspunkte der sophokleischen Chorführung

Unter allgemeinen Gesichtspunkten ließen sich bei der Betrachtung der ein‐ zelnen Tragödien einige formale Gegebenheiten sowie standardisierte Einsatz‐ möglichkeiten des Formteils „Chor“ beobachten, von denen hier allerdings nur die wichtigsten wiederholt werden sollen. So dient der Chor unabhängig von seiner Rollenidentität bereits durch die im Lauf des Stücks mehr oder weniger regelmäßige Darbietung lyrischer Partien als gliederndes Moment des Einzel‐ dramas. Dabei konnte gezeigt werden, dass sowohl der Häufigkeit, d. h. der An‐ zahl der reflektierenden Partien,3 als auch ihrer Positionierung im Ablauf des Stücks eine bewusste Entscheidung des Dichters zu Grunde liegt. Gerne lässt Sophokles dabei gerade am Beginn der Stücke, d. h. mit dem Übergang vom

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Dieser Ausnahmestatus gründet sich im Wesentlichen auf den Oidipus Tyrannos und die Antigone, die als klassische Ausgestaltungen der entsprechenden Mythen weite Be‐ kanntheit über den engen Kreis wissenschaftlicher Betätigung gefunden haben. Am ehesten vergleichbar ist wohl die Prägung der Medea-Gestalt durch Euripides, in ab‐ geschwächter Form vielleicht noch die Iphigenie-Figur; inwieweit Aischylosʼ Klytaim‐ nestra oder sein Agamemnon noch im allgemeinen Bewusstsein der Gegenwart präsent sind, bleibt zu bezweifeln. Die beiden Extrempunkte sind dabei bezogen auf die Zahl der Stasima in Antigone (fünf Stasima) und Philoktet (ein Stasimon); zählt man die Amoibaia mitsamt den epirrhe‐ matischen Partien, stehen sich Oidipus auf Kolonos (vier Wechselpartien) sowie die Trachinierinnen (eine Wechselpartie) gegenüber.

C Synthese und Ausblick

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Prolog zur Parodos bzw. der Auftrittsszenerie des Chors, emotional völlig konträr bestimmte Partien aufeinanderprallen. Darüber hinaus kommt es gerade den reflektierenden Partien des Chors mit einiger Regelmäßigkeit zu, hinter- bzw. außerszenische Abläufe in der drama‐ tischen Gegenwart oder der Vorgeschichte darzustellen (Visualisierung / Imagi‐ nation) und so dem vorderszenischen Geschehen weitere Handlungsebenen einzublenden. Dass damit keine objektive Ausleuchtung bzw. Berichterstattung verbunden war, sondern eine dramaturgisch in je eigener Weise funktionali‐ sierte Ausleuchtung aus der Perspektive des Chors vorlag, wurde ad locum gezeigt. Fast in allen Tragödien ist es zudem Aufgabe der Chorpartien, die Gestalt des Haupthelden / der Hauptheldin / der Haupthelden auszuleuchten. Dies geschieht in vielfältiger Form: Bald tritt der Chor der entsprechenden Person (den Per‐ sonen) als emotionaler Resonanzboden oder bewusster Kontrapunkt entgegen, bald bildet der Hauptheld / die Heldin ein bzw. das motivisch-thematische Zentrum der chorischen Reflexion. Die chorischen Partien dienen des Weiteren oft zur wirkungsvollen Darbie‐ tung tragischer Ironie. Voraussetzung dafür ist, dass sich der Rezipient gegen‐ über dem Chor durch einen spezifischen Wissensvorsprung auszeichnet, der entweder auf generellem mythologischen Vorwissen4 beruhen kann oder durch die im Prolog mitgeteilten Informationen hergestellt wird.5 In solchen Fällen kommt besonders den Fehleinschätzungen, Irrtümern oder unbewusst den ei‐ gentlichen Sachverhalt treffenden Aussagen des als dramatis persona das Ge‐ schehen beurteilenden Chors die Funktion zu, implizit den Fortgang des Ge‐ schehens anzudeuten oder eine Alternative zu entwerfen, die durch den tatsächlichen Fortschritt der Handlung konterkariert wird. Von besonderer Prominenz ist dabei die geradezu typische Konstruktion, dem Eintritt der Ka‐ tastrophe – konkret: ihrer Einleitung, Aufdeckung bzw. der visuellen Konfron‐ tation mit ihren Folgen – ein hoffnungsvolles oder überschwänglich optimisti‐ sches Lied vorzuschalten; das vom Rezipienten rein affirmativ nicht nachzuvollziehende Lied bildet so die Kontrastfolie, auf der sich das verheerende Geschehen umso deutlicher abzeichnen kann. Im Ganzen konnte dabei gezeigt werden, wie souverän Sophokles über das ihm zu Gebote stehende formale und gattungstechnische Instrumentarium so‐ wohl der Chorlyrik als auch der Tragödie im Ganzen verfügt. Gerade die Ein‐ bindung von Anklängen an genuin chorische, zum Teil kultische Formen (Ge‐

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So geradezu exemplarisch im Oidipus Tyrannos. So z. B. in der Elektra.

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C Synthese und Ausblick

bets- und Invokationshymnen,6 Epinikien7 u. a.) erwies sich in den jeweiligen Zusammenhängen als dramaturgisch absichtsvoll motiviert und gleichzeitig besonders wirkungsvoll funktionalisiert. Sophokles versteht es dabei, die Kon‐ ventionen der Gattung Tragödie in besonders wirkungsvoller Weise seiner dra‐ maturgischen Aussageabsicht anzupassen bzw. gegebenenfalls zu über‐ schreiten: Besonderes Augenmerk verdiente dabei der Abtritt des Chors sowie die Inszenierung des Selbstmords des Protagonisten auf offener Bühne im Aias; es konnte dabei konkret gezeigt werden, inwieweit gerade die Chorpartien der solchermaßen zweigeteilten Tragödie trotz des bewussten Bruchs innere Geschlossenheit und Rundung verleihen. Aber auch in weniger drastischen Ar‐ rangements zeigte sich die besondere Fertigkeit des Dichters, durch die ge‐ schickte Kombination einzelner Formteile zu lyrisch-chorischen Großab‐ schnitten eine besondere dramaturgische Wirkung zu erzielen.8 Als ein die Komposition unseres Autors bestimmendes Prinzip war verschie‐ dentlich die sogenannte chorische bzw. dramaturgische Ökonomie erwähnt worden: Gerade der Verzicht auf die Einschaltung einer chorischen Partie oder die Beteiligung des Chors, wo sie zu erwarten gewesen wäre,9 verleiht der ent‐ sprechenden Passage besondere dramaturgische (dabei je im Einzelfall genauer zu bestimmende) Wirkung. Für den Dichter ist die chorische Reflexion so kein dramatisches Dauerphänomen, das bei jeder sich bietenden Gelegenheit zur Vertiefung der Emotionalität oder der Ausdeutung zentraler Momente des Handlungsgeschehens zur Anwendung käme, sondern ein bewusst eingesetztes Instrument, dessen Positionierung wie Wegfall der jeweiligen dramaturgischen Aussage- bzw. Wirkabsicht unterworfen ist. 6

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Vgl. u. a. die Gebetshymnen an Dionysos im fünften Stasimon der Antigone, die Anru‐ fung der Gaia im Philoktet (v. 391 ff.), die an eine Vielzahl olympischer Götter gerichtete Bitte in der Parodos des Oidipus Tyrannos sowie das Gebet an die Unterweltsgottheiten im vierten Stasimon des Oidipus auf Kolonos. Epinikische Züge tragen dabei im Besonderen die Parodos der Antigone sowie das erste Stasimon der Trachinierinnen. So z. B. in der Auftrittsszenerie der Protagonistin und des Chors in der Elektra sowie der darauf bezogenen Verbindung von drittem Stasimon und folgendem Amoibaion, in der Komposition der Parodos und des „Schlafliedes“ im Philoktet, das in besonderer Weise mit der faktischen Anwesenheit des Protagonisten spielt, sowie in der Inszenie‐ rung der bedeutsamen Gelenkstelle im Oidipus Tyrannos (v. 649 ff.), die mit dem Wechsel von der Mördersuche zur Fahndung nach der wahren Identität des Haupthelden den thematischen Fokus verschiebt. Vgl. im Besonderen die Wiedererkennungsszene der beiden Geschwister samt deren Duett in der Elektra, der der Chor bis auf einen kommentierenden Doppelvers (v. 1230 f.) ohne Beteiligung folgt; ähnlich das Fehlen einer abschließenden chorischen Thematisierung der Bestattungsproblematik und / oder des Eingreifens von Seiten des Odysseus im letzten Teil des Aias.

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3. Verhältnis der drei Spektren zueinander: chorisches Koordinatensystem

Dass dabei die einzelnen Chöre hinsichtlich ihrer Rolle im Gefüge der jeweiligen Tragödie fest verankert sind, sich ihre Aussagen und Lieder (zum größten Teil) als Äußerungen einer an der Handlung teilnehmenden Person verstehen lassen und Aristotelesʼ Postulat vom „mitspielenden Chor“ bei Sophokles (vgl. Einlei‐ tung) damit zutrifft, musste angesichts der umfangreichen Arbeiten zu dieser Fragestellung nicht im Einzelnen erwiesen werden. Wesentlich interessanter waren die (wenigen) Fälle, in denen die Aussagen des Chors nur mit Mühe aus der jeweiligen Situation unter Einbeziehung des Wissensstands sowie des Cha‐ rakters des Chors erklärt werden konnten.10 Die vorliegende Arbeit hat dabei (im Anschluss an B URTON) zu erweisen versucht, dass im Zweifelsfall die vom Dichter beabsichtigte dramaturgische Wirkung der Partie bzw. Szene Vorrang vor der konsequenten Zeichnung der Figur des Chors einnimmt.11 Ein herausgehobenes Interesse galt angesichts der drei Gruppen chorischer Rollenidentitäten der Frage, inwieweit zwischen dem vom Dichter dem Chor in souveräner Bestimmung zugedachten Charakter als dramatis persona auf der einen, der konkreten Art der Reflexion sowie der dramaturgischen Funktiona‐ lisierung auf der anderen Seite eine Relation besteht. Konkret gefragt: In wel‐ chem Verhältnis stehen die drei in der Einleitung umrissenen Spektren zuei‐ nander? Die nach den einzelnen Abschnitten des Hauptteils gesetzten Gesamtschauen sind dieser Problematik nachgegangen. Es ließ sich dabei tat‐ sächlich ein gewisser Zusammenhang der drei Spektren in den durch gleiche oder ähnliche chorische Rollenidentität verbundenen Tragödien feststellen. Ohne die einzelnen Ergebnisse hier in extenso wiederholen zu wollen, soll Folgendes festgehalten werden: Die Chöre wehrfähiger Männer (Philoktet und Aias) spiegeln in herausgehobener Weise den personellen Bezugsrahmen der beiden Soldatenstücke. Ihnen kommt es als im weitesten Sinne dramatisierten Person zu, auf Basis eines rollenimmanenten Abhängigkeitsverhältnisses zu 10

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Als besonders „problematisch“ erwiesen sich in diesem Zusammenhang das Ende des Stasimons im Philoktet sowie das dritte Standlied des Oidipus Tyrannos. Vergleichbar verhielt es sich mit der furchtsamen Reaktion der Greise auf das Donnergrollen im Oidipus auf Kolonos (v. 1447 ff.), die innerhalb der im letzten Abschnitts der Tragödie vorherrschenden Sympathie gegenüber Oidipus einen denkwürdigen Kontrapunkt setzt. Ob diese dem strengen Verständnis der dramatis persona-Theorie widerstrebende Praxis beim Publikum Anstoß erregt haben wird, ist kaum auszumachen; angesichts der Handlungsfehler und logischen Brüche moderner Literatur-, Bühnen- und Filmwerke, die beim unmittelbaren Akt des Rezipierens nicht (als störend) wahrgenommen werden, kann dieser Punkt wohl vernachlässigt werden.

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C Synthese und Ausblick

ihrer jeweiligen Bezugsperson innerhalb des Personenspektrums die Aufmerk‐ samkeit auf den Protagonisten (sowie die eigene Lage innerhalb der Handlung) zu bündeln. Die weitestgehend imaginierend-visualisierenden Partien dienen so der Fokussierung auf das zentrale Moment der Handlung selbst; nur in geringen Ansätzen finden sich dabei kontextualisierende Momente, die das Geschehen in einem weiteren Bezugsrahmen verorten oder ausdeuten. Besonders konsequent war in dieser Hinsicht der Chor des Philoktet komponiert, der – im höchsten Maße dramatisiert – das Geschehen, an dem er teilnimmt, keiner umfassenden Deutung unterzieht. Die beiden Frauenchöre (Trachinierinnen und Elektra) fühlen sich den jewei‐ ligen (weiblichen) Protagonistinnen emotional besonders verbunden und stehen ihnen bald als Resonanzboden, bald als Kontrastfolie ihrer Gefühlswelt gegen‐ über. Das enge, teilweise geradezu vertraute Verhältnis fußt dabei auf einer be‐ sonders weitgreifenden Identifikation des Chors mit der Hauptheldin, ihren Ansichten und grundsätzlichen Zielen. Während dabei in der Elektra Chor und Protagonistin die Erfüllung ihrer Wünsche erleben, kommt es in den Trachinie‐ rinnen zum Bruch zwischen den namensgebenden Frauen des Chors und Deia‐ neira. Die chorische Reflexion dient darüber hinaus im Besonderen der Verge‐ genwärtigung der Bipolarität, die den dargestellten Handlungen eigen ist: In der bald konkret persönlich greifbaren, bald religiös überhöhten, meist imaginie‐ renden bzw. visualisierenden Bezugnahme auf den zweiten Handlungsträger und die mit ihm assoziierten Momente blenden die Chorpartien dabei die zweite Ebene des Geschehens ein. Gerade die Intrigensituation der Elektra lässt den Chor so zum Träger dramatischer Ironie werden, wohingegen in den Trachi‐ nierinnen die Imagination der Herakles-Gestalt durch den realen Auftritt des Helden nach dem Eintritt der Katastrophe konterkariert wird. In beiden Tragö‐ dien entwerfen die Chöre dabei auf Basis drameninterner Motive und Themen einen größtenteils theologisch-religiösen Deutungsrahmen, in den sie das Ge‐ schehen einordnen bzw. überhöhen. Die Greisenchöre der drei Tragödien, die zentrale Episoden aus dem theba‐ nischen Sagenkreis bzw. dessen Implementierung in eine spezifisch athenische Aitiologie darstellen (Oidipus Tyrannos, Oidipus auf Kolonos, Antigone), eint ihre rollenimmanent starke Identifikation mit dem jeweils (freilich anachronistisch, d. h. aus Sicht des fünften Jahrhunderts) als Polis vorgestellten Handlungsort Theben bzw. Athen. Auf Basis dieser Loyalität zum als Kultgemeinschaft ver‐ standenen Stadtstaat kommen dem Glauben an das Eingreifen der personifi‐ zierten (traditionellen) Gottheiten sowie überindividueller allgemeiner, teils ab‐ strakter Prinzipien sowie der hohen Wertschätzung gewisser kultisch-religiöser Momente innerhalb der Geschehens- und Weltdeutung der Greisenchöre be‐

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sondere Relevanz zu. Ein zentrales Anliegen der Greise ist dabei die (Wieder-)Herstellung einer gestörten kultisch-politischen Ordnung. Darüber hinaus partizipieren die Chöre an einer gemeinschaftlichen, teils konkret poli‐ tischen, teils allgemein-gnomischen memoria, die das persönliche Erinnerungs‐ vermögen der Greise ergänzt. Angesichts dieser rollenimmanenten Prinzipien nimmt der begrifflich-thematische Zugang über theologische bzw. philosophi‐ sche Themen eine eminent wichtige Stellung in der Reflexion der Greisenchöre ein. Dramaturgisch dienen die Chorpassagen in herausragender Weise dazu, weite, d. h. die unmittelbare Handlungsebene übersteigende Deutungshorizonte zu eröffnen.12 Entweder wird dabei das dramatische Geschehen durch den Chor explizit in einem derartigen Rahmen verortet und ausgedeutet,13 oder die kon‐ krete Verbindung der Handlung zum aufgeworfenen reflektorischen Bezugs‐ system wird nur implizit angedeutet.14 In diesem Fall bleibt es angesichts der chorischen Ambiguität dem Rezipienten überlassen, die konkrete Verbindung zwischen Reflexion und Handlung zu finden sowie beides auf Basis seines ei‐ genen Wissensstandes auszudeuten. Wenn sich auch in der herausgearbeiteten konkreten Verknüpfung der drei Spektren weder ein strenger Formalismus noch eine exklusive Verengung auf den einen oder anderen Extrempol eines Spektrums bezüglich der Reflexions‐ strategien oder der dramaturgischen Funktionalisierung greifen lässt, bilden die solchermaßen zusammengefassten Entsprechungen dennoch greifbare Ten‐ denzen. Sie ermöglichen eine Einordnung der erhaltenen Tragödien bzw. Tra‐ gödiengruppen innerhalb eines chorischen Koordinatensystems, bei dem die drei Spektren die Achsen bilden. Im solchermaßen eröffneten Raum haben zwei Gruppen den weitesten Abstand voneinander: auf der einen Seite die Greisen‐ chöre, denen – in aller Vereinfachung – die Attribute15 „loyal gegenüber der Polis, bedeutende begrifflich-thematische Reflexion, Kontextualisierung“ zu‐ kommen, auf der anderen die der wehrfähigen Männer, deren Präsenz sich mit 12 13 14 15

Vgl. besonders die Themenbereiche „Mantik und Apoll“ sowie die „Theben-Delphi-The‐ matik“ im Oidipus Tyrannos, „Polis“ sowie „Leben, Alter und Tod“ im Oidipus auf Kolonos sowie „menschliche Grundeigenschaften und göttlicher Einfluss“ in der Antigone. Vgl. die konkreten Ausgestaltungen der „Theben-Delphi-Thematik“ in der Parodos und den ersten beiden Stasima des Oidipus Tyrannos sowie die Verortung der Handlung im politischen Kontext durch die ersten beiden Stasima des Oidipus auf Kolonos. Vgl. erstes Stasimon der Antigone sowie seine partielle Konkretisierung im zweiten Standlied. Diese Schlagwörter unterscheiden sich von den Überschriften der einzelnen Gesamt‐ schauen aus folgendem Grund: Während dort ein differenziertes Bild gezeichnet werden soll, mit dem die Eigenart der einzelnen Chöre umrissen wird, sollen hier die beiden Extrempunkte des Koordinatensystems konfrontativ gegenübergestellt werden.

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den Schlagworten „existenzielles Abhängigkeitsverhältnis von der Bezugs‐ person, imaginierende Reflexion, Fokussierung“ umreißen lässt16. In der Mitte zwischen diesen beiden Gruppen kommen die Frauenchöre zu stehen: Ihre Bin‐ dung an nur einen Akteur, die der inneren Logik der bipolaren Handlungen verpflichtete Visualisierungstendenz der Reflexion sowie die auf die Protago‐ nistin fokussierenden Implikationen bringen sie in die Nähe der ersten Gruppe (wehrfähige Männer); dagegen berühren sie sich mit den Greisenchören mit Blick auf die in der Reflexion prominent verarbeiteten teils göttlichen, teils ab‐ strakten Prinzipien, die ebenfalls vertretenen begrifflich-thematisch reflektie‐ renden Partien sowie die Etablierung eines Deutungsrahmens aus den Motiven der Handlung selbst. Jenseits ihrer oben erwähnten basalen, d. h. auf dem audio-visuell greifbaren Wechsel von Sprechpartien und lyrischen Abschnitten beruhenden Gliede‐ rungsfunktion leisten die chorischen Partien in jeder der sieben untersuchten Tragödien auch durch ihre inhaltlich-motivische Arbeit einen entscheidenden Beitrag zur Strukturierung des Dramas. Es konnte dabei im Einzelnen gezeigt werden, wie die gegenseitige Beantwortung einzelner Partien bzw. eine mehrere oder alle chorischen Passagen prägende Leitmotivik dazu dient, in der Reflexion den Fortgang der Handlung abzubilden17 sowie größere Abschnitte innerhalb des Bühnengeschehens auch über den Wechsel des am Bühnengespräch betei‐ ligten Personals (Ab- und Auftritte) hinweg voneinander abzugrenzen oder mit‐ einander zu verbinden.18 Schließlich kommt es in einigen Fällen besonders den chorischen Partien zu, die Tragödie zu einem formal (und inhaltlich) in sich geschlossenen Ganzen zu formen. Ein besonders herausragendes Beispiel dieser chorischen Binnen‐ struktur bietet dabei der Oidipus auf Kolonos, dessen vier Stasima paarweise aufeinander bezogen sind, wobei sowohl davor als auch danach zwei Kommoi bzw. epirrhematische Partien stehen. Die ausgeklügelte Symmetrie der Chor‐

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Die beiden Extrempunkte hinsichtlich der dramaturgischen Funktionalisierung be‐ setzen in diesem Fall Philoktet mit dem ganz dramatisierten, kaum deutenden Chor auf der einen, Antigone mit dem allgemein-räsonierenden Greisenchor auf der anderen Seite. Vgl. z. B. den Bezug der beiden ersten Stasima der Antigone aufeinander, die Beantwor‐ tung des Auftrittsamoibaions durch den zweiten Kommos zwischen der Protagonistin und dem Chor in der Elektra, die räumliche Konkretisierung der Herakles-Imagination des zweiten Stasimons der Trachinierinnen gegenüber der Parodos. Vgl. z. B. die Rahmung der finalen Aufdeckung von Oidipusʼ Identität durch das dritte und vierte Stasimon des Oidipus Tyrannos, die Rahmung der Abschiedsszenerie in der Antigone durch den Kommos mit der Protagonistin und das vierte Stasimon.

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partien dieser (und anderer19) Tragödien rhythmisiert das gesamte Stück und offenbart die geradezu architektonische Kompositionsweise unseres Dichters, der den spezifischen Formteilen sowohl durch die motivisch-thematische Arbeit im Detail ihre je eigene Form und Wirkung verleiht, als auch darauf aufbauend in der Anordnung und Verwebung der größeren Abschnitte eine je eigene, in sich runde Makrostruktur schafft. Die Chöre der uns überlieferten sieben Tragödien sind so hinsichtlich ihrer Rol‐ lenidentität, der sie prägenden Reflexion sowie einer generellen Tendenz ihrer dramaturgischen Funktionalisierung eingeordnet und zueinander in Beziehung gesetzt. Damit ist das Formelement Chor innerhalb des uns greifbaren Werks des Sophokles ausgeleuchtet und sowohl dramenintern wie auch von einem übergeordneten Standpunkt aus erörtert worden. 4. Erste Folgerungen

Eine der selbstgesteckten Hauptaufgaben der vorliegenden Arbeit war es, das Verständnis der Einzelstücke zu vertiefen; den detaillierten Interpretationen der sieben Tragödien kam daher besondere Bedeutung zu. Auf diesem basalen, auf die jeweiligen Dramen gerichteten Interesse aufbauend hat bereits die im vor‐ hergehenden Abschnitt wiederholte gruppenweise Ausdeutung der spezifi‐ schen Chortechnik einen ausgreifenden Horizont eröffnet. Einige exemplari‐ sche Folgerungen, die sich aus diesen Ergebnissen ableiten lassen, sollen hier kurz angerissen werden. Dieser Abschnitt versteht sich dabei als resümierende und bereits vorsichtig ausblickende Skizze, die den Versuch einer Wesensbe‐ stimmung des Chors bei Sophokles vorbereiten soll. Im Dreiklang von Person, Reflexion und Dramaturgie scheint mir ein Instru‐ mentarium vorzuliegen, das jenseits der von K RANZ vorgenommenen Dreitei‐ lung der Funktion des Chors20 sowie unter Einbeziehung der Erkenntnisse der Forschung nach dem performative turn die Einordnung des Phänomens „tragi‐ scher Chor“ ermöglicht. Die sich teilweise konträr gegenüberstehenden Ein‐ schätzungen des Chors als einer reinen dramatis persona, als Instrument des Dichters sowie als Repräsentant eines kultisch-politischen Kollektivs sind so, wie im Einzelfall gezeigt werden konnte, harmonisiert. Gleichfalls schließt die so entwickelte Auffassung vom Chor die Annahme einer in den chorischen Par‐

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Vgl. die „konzentrische“ Struktur des Aias oder die schrittweise Konkretisierung der Chorpartien der Antigone auf den eigentlichen „Kern“ der Handlung bis hin zur visu‐ ellen Konfrontation mit der Katastrophe im finalen Kommos. Vgl. Einleitung S. 16 f.

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tien mehr oder minder unverfälscht wiedergegebenen Meinung des Dichters („Sprachrohr“) aus. Bereits der Ausgangsproblematik dieser Arbeit, den Chor als Element der jeweiligen dramatischen Komposition zu begreifen, liegt jeder Bezug auf die Person des Autors fern; darüber hinaus hat die Interpretation gezeigt, dass das Einzelverständnis der Dramen sowie die Ausleuchtung des Phänomens „tragischer Chor“ zumindest im vorliegenden Fall des Sophokles auf eine persönliche Bedeutungsebene verzichten und dennoch zu tragfähigen Er‐ gebnissen über die Dramen kommen kann. Ob mit diesem Dreiklang Kategorien gefunden wurden, die auch das Ge‐ samtwerk unseres Dichters beschreiben könnten und ob in den drei hinsichtlich ihrer Rollenidentität, ihrer Reflexion sowie der dramaturgischen Funktionali‐ sierung je eigen geprägten Gruppen geradezu Chor-Typen gesehen werden können, kann angesichts des unzureichenden Überlieferungsstands nicht gesagt werden. Eine Überlegung macht dies allerdings sehr wahrscheinlich: Die (trotz aller Verschiedenheit im Einzelnen virulenten) Parallelen der Schwesternrollen Ismene (Antigone) und Chrysothemis (Elektra)21 sowie der Herrscherrollen Oi‐ dipus (Oidipus Tyrannos) und Kreon (Antigone) bezüglich gewisser Punkte ihrer Charakterzeichnung sowie der dramaturgischen Implikationen und Funktionen lässt erahnen, dass Sophokles bei der Konzeption einzelner Gestalten auf ge‐ wisse Typen zurückgegriffen hat.22 Nichts spricht meines Erachtens dagegen, auch für die Gestaltung des Chors von solchen Kategorien bzw. Typen auszu‐ gehen. Diese wären dabei zugleich hinsichtlich ihrer Rollenidentität als auch mit Blick auf den dementsprechenden Reflexionszugang je eigen bestimmt; ihnen käme so eine bestimmte dramaturgische Valenz zu, die der Dichter bei der Ausgestaltung der einzelnen Tragödie konkret umsetzen, d. h. im Sinne der intendierten Aussage- und Wirkabsicht nutzbar machen könnte. Die konkrete Ausgestaltung der so gearteten Typen unterläge dann freilich in den Einzel‐ fällen, d. h. bei der Komposition einer Tragödie, gewissen Veränderungen und Anpassungen; der Gedanke einer holzschnittartigen, rein typologisch-automa‐ tischen Einsetzung gewisser Chor-Typen in mythologische settings verbietet sich beim Blick auf die Vielfalt der Chortechnik der sieben überlieferten Stücke unseres Autors. Möglicherweise zeichnete gerade der dem jeweiligen dramati‐ schen und mythologischen Sujet angepasste Gebrauch der verschiedenen

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Vgl. dazu die Ausführungen zur Elektra, im Besonderen S. 370, Anm. 223. Dass dabei mit den mythologischen Figuren ohnehin gewisse Archetypen gegeben sind, kommt dem tragischen Dichter dabei zupass. Ohnehin spricht mit dem schieren Umfang des Gesamtwerks unseres Dichters und der sich daraus ergebenden Menge zu konzi‐ pierender Gestalten ein ganz praktischer Grund für die Annahme gewisser Kategorien bzw. Typen, derer sich der Dichter bedienen konnte.

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Chor-Typen unseren Autor (sowie die beiden anderen großen Tragiker) gegen‐ über der Vielzahl der anderen Dichter aus. Hinter Aristotelesʼ als Norm formu‐ liertem Lob der sophokleischen Chortechnik könnte in diesem Fall genau diese Fähigkeit des Dichters gestanden haben.23 Dergleichen produktionsästhetische Überlegungen müssen bei aller Plausi‐ bilität allerdings angesichts mangelnder Nachrichten über die Kompositions‐

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Die damit implizierte Nähe des dichterischen Prozesses zur rhetorischen Komposition, die sich ebenfalls gewisser Topoi bedient, die je nach Anlass und intendierter Absicht ausgesucht, mit dem konkreten Inhalt gefüllt und aufeinander abgestimmt werden müssen, entspricht meines Erachtens dem aristotelischen (sowie dem gemein-antiken) Verständnis. Ein Vergleich zur ebenfalls mit bestimmten Kategorien gattungseigener Werkzeuge sowie einem klar umrissenen Formenschatz arbeitenden Musik der franko-flämischen Vokalpolyphonie, des Barocks, der Klassik sowie der (frühen) Ro‐ mantik sei in der vorliegenden Zusammfassung erlaubt: Auch dort zeichnet die he‐ rausragenden Komponisten gerade der souveräne, anlassgebundene und wirkungsge‐ mäße Einsatz der – je nach Epoche verschiedenen – zur Verfügung stehenden, im Unterricht erlernten Topoi und Formeln aus. Vgl. im Besonderen zu dem ursprünglich der frühbarocken Vokalmusik entstammenden Formenschatz der Musik des Barock (sowie mutatis mutandis der Klassik) H ARNONCOURT (72014). Musik als Klangrede. Wege zu einem neuen Musikverständnis. Essays und Vorträge, Kassel, S. 177: „Auf Grund der Werke dieser ersten Generation von Opernkomponisten war schließlich ein immenses Vokabular an Figuren mit bestimmter Bedeutung entstanden, die jedem gebildeten Hörer vertraut waren. So konnte es nun zu einer Rückkopplung kommen – man konnte dieses Figurenrepertoire auch selbständig, ohne Text, einsetzen: durch die musikalische Figur allein assoziierte der Hörer die Sprache“.

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weise der tragischen Dichter24 sowie den konkreten poetischen (bzw. poetolo‐ gischen) Diskurs der Zeit bis zu einem gewissen Grad Spekulation bleiben.25 Die Analyse der einzelnen Chorgruppen hat ergeben, dass insbesondere den Greisenchören signifikante Charakteristika der realen, d. h. der durch die song-and-dance-culture geprägten und im Rahmen der Polis institutionalisierten Ritualchöre anhaften.26 Diese Charakteristika, v. a. die Betonung göttlicher, all‐ gemeiner Prinzipien, die Teilhabe an der überindividuellen memoria sowie der politisch-kultisch gefärbte Ordnungsgedanke, sind dabei den Chören der beiden anderen Gruppen freilich nicht fremd. Vielmehr lässt sich beobachten, dass in diesem Punkt die oben vorgenommene Verortung im chorischen Koordinaten‐ system die Nähe zum Ritualchor widerspiegelt: Während die Chöre wehrfähiger Männer nur in Ansätzen Vergleichspunkte zum Chor der Lebenswelt aufweisen, 24

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Vgl. S EGAL (1995) S. 183 f.: „The problem [how we think about the choral odes of Greek tragedy S. 183] is intensified by the fact that we do not know how the poet composed his choruses or conceived of them“. Eine zwar skizzenhafte, allerdings entschieden vorgetragende Hypothese zur Kompositionsweise der attischen Tragiker am Beispiel des Philoktet bietet C ALDER (1974). „Die Technik der Sophokleischen Komposition im ‚Philoktet‘“ in: Hellenische Poleis: Krise – Wandlung – Wirkung, hrsg. v. W ELSKOPF (1974), Berlin, III. S. 1382 – 1388. Für ihn ist es ausgemacht, dass der Dichter zunächst eine Prosaskizze angefertigt habe, danach zunächst den „dramatischen Höhepunkt“, schließlich den restlichen Dialog „je nach Inspiration oder Laune“ (S. 1382) ausgear‐ beitet habe. „Zum Schluss kam die Einführung der Choroden“ (S. 1383). In die Richtung der oben angedeuteten „Typologisierung“ der Chöre hinsichtlich Person, Reflexion und dramaturgischem Potential geht dabei die in ihrer apodiktischen Kürze allerdings be‐ fremdliche Aussage: „Nach-Aischyleische Tragödiendichter hatten Stöße von Oden vorliegen.“ Die zumindest im überlieferten Werk des Sophokles vorliegende je eigene dramatische sowie dramaturgische Einbindung der in Rede stehenden Chorpassagen verkennt allerdings die nachgeschobene Bemerkung: „Lieblingsthemen konnten immer einen Platz finden: die Arbeiten des Herakles, die Plünderung von Troja, die Macht der Liebe“. Ebenfalls spekulativ bleibt die Vermutung, die nachklassische, spätantike und / oder byzantinische Philologie könnte mit solchen Kategorien von Chören gearbeitet haben. Angesichts des insgesamt geringen Interesses, das Aristoteles dem Chor im Ganzen entgegenbringt, ist allerdings Zurückhaltung geboten. Das hier zu Grunde liegende Bild des „Ritualchors der Lebenswelt“ (mit G RUBER (2009) ließe sich schlicht vom χορός sprechen) ist dabei freilich das Ergebnis einer Rekon‐ struktion; ihre Grundlagen hat die Einleitung (Abschnitt III, 1 und 2) auf Basis der dort zitierten Werke umrissen. Es liegt dabei in der Natur der Sache, dass diese Rekonstruk‐ tion auf Grund der schlechten Überlieferungslage kein genaues Abbild der Sachlage selbst bieten kann. Dass sich darüber hinaus die Rekonstruktion des Ritualchors in der Forschung angesichts des Mangels an Zeugnissen zum Teil eben auch der Analyse der literarisch überformten, ja sogar der tragischen Chöre selbst bedient, ist – streng ge‐ nommen – ein methodischer Zirkelschluss, der die Zuverlässigkeit der Ergebnisse in Frage stellt.

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die Frauenchöre dagegen bereits in höherem Maß bestimmte Momente repro‐ duzieren, sind vollends die Greisenchöre, wie dargestellt, den Ritualchören am nächsten. Zugleich wurde allerdings festgehalten, dass die Anklänge an den Ritualchor der Lebenswelt sowohl der Rollenidentität der (Greisen-)Chöre, ihrer Einbin‐ dung in das jeweilige Drama als auch der jeweiligen dramatischen Situation entsprechen. Die kultisch-performativen Momente, das Insistieren auf (Wieder-)Herstellung der übergreifenden Ordnung, der Zugriff auf die memoria sowie die religiös-abstrakte Weltausdeutung sind dabei fest im dramatischen Kontext verankert und punktgenau funktionalisiert. Aus einer weiteren Per‐ spektive lässt sich so festhalten: Auch die dem tragischen Chor anhaftenden Charakteristika des politisch-kultisch konnotierten Ritualchors unterliegen einer weitgehenden Dramatisierung: Sie stehen dem dramatischen Ganzen nicht gegenüber, bilden keinen davon abgehobenen Zusatz, sondern sind wesentliche Momente desselben. Es obliegt dabei der bewussten Entscheidung des Dichters, seinen jeweiligen Tragödienchor – innerhalb eines gewissen Rahmens – mehr oder weniger stark in Analogie zum Ritualchor der Lebenswelt zu gestalten bzw. sich eben einer der ihm zur Verfügung stehenden Kategorien / Typen zu be‐ dienen. Er verfolgt dabei genuin dramaturgische Absichten und ist, wie die reichhaltigen Beispiele der sieben überlieferten, hier analysierten Tragödien zeigen, keinem strengen Formalismus unterworfen. Im Ganzen hat die Arbeit gezeigt, dass die Konzeption des Chors und damit die Anlage der gesamten Tragödie bei Sophokles im Wesentlichen inneren, d. h. am darzustellenden Mythos orientierten Kriterien verpflichtet sind und dabei die dramaturgischen Wirkungsabsichten des Dichters spiegeln. Mit diesem Vorrang der souveränen, über ihre Mittel frei verfügenden Komposition des Dichters glaube ich, sowohl dem Chor als Formelement der Tragödie als auch den Stücken als dramatischen Kunstwerken gerecht zu werden. Erklärungsmodelle, die da‐ gegen den bestimmenden Einfluss äußerer Kriterien wie des Alters des Dichters, seines Entwicklungsfortschritts,27 einer angeblich von ihm vertretenen Theo‐ logie, seiner Autobiographie oder ähnlicher Momente auf die Gestaltung der Chorpartien im Einzelnen wie der Tragödien im Ganzen annehmen, laufen Ge‐

27

So z. B. die angesichts der Diptychonstruktur der „frühen“ Stücke vertretene These, Sophokles „überwinde“ diese Form im Lauf seiner Entwicklung – als habe er vor dem Oidipus Tyrannos nur auf diese Weise dichten können. Angesichts der unzureichenden Überlieferungslage können solche Urteile ohnehin keinen Anspruch auf Verlässlichkeit erheben.

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fahr, diesen Primat der poetischen Komposition zu verdunkeln.28 Anders gesagt: Sophokles komponiert seine Chöre und Tragödien als Dichter und bedient sich dabei in besonderer Meisterschaft des ihm zur Verfügung stehenden Instru‐ mentariums. 5. Der Chor als Rahmen der sophokleischen Tragödie: Versuch einer Wesensbestimmung

Das Phänomen „Chor“ als Formteil der sophokleischen Tragödie mit einem Schlagwort zu belegen, fällt angesichts seiner hier aufgezeigten Vielgestaltigkeit besonders schwer: Weder lassen sich, abgesehen von den in den vorherigen Abschnitten aufgeführten allgemeinen Gesichtspunkten, dramaturgische Au‐ tomatismen ausmachen, denen die Verwendung des Formelements gehorchen würde, noch sind über alle sieben Tragödien gesehen Leitthemen erkennbar, die einen umfassenden thematischen Diskurs umreißen würden.29 Dennoch vor die Aufgabe gestellt, im Anschluss an die konkrete Auseinan‐ dersetzung mit den sieben Tragödien eine Wesensbestimmung des Phänomens Chor bei Sophokles zumindest zu umreißen, scheint mir folgende Begrifflichkeit angemessen zu sein: Im Anschluss an sowie in Absetzung von G RUBERs Rede

28

29

Ich stimme dabei ganz mit F ÖLLINGER (2003) überein, die, ausgehend von der zentralen Bedeutung des Plots sowie des dargestellten Handelns des Protagonisten / der Prot‐ agonisten, feshält S. 31: „[…] die Tragödie ist nicht ein Instrument, um Rechtsnormen oder psychische Prozesse zum Ausdruck zu bringen. Diese Bestimmung der Tragödie, die das durch den Tragödiendichter spezifisch gestaltete, unter bestimmten Bedin‐ gungen stehende Handeln der Protagonisten hervorhebt, ist meines Erachtens ein wichtiges Korrektiv zu Anschauungen, die die Tragödie als Vehikel theologischer, mo‐ ralischer oder politischer Anschauungen sehen“. Auch die vorgelegte Untersuchung des Chors bei Sophokles versteht sich in diesem Sinn als ein Korrektiv, das der Gefahr einer allzu einseitigen Tragödiendeutung die bereits in der Einleitung (S. 66) mit Bezug auf S PIRA (1960) entworfene via media entgegen zu halten versucht. Anders scheint es sich bei Aischylos zu verhalten, bei dem nach G RUBER (2009) S. 516 f. der „Dike-Diskurs“ von fundamentaler Bedeutung ist und als ein Leitthema aller uns vorliegenden Tragödien angesehen werden kann (Vgl. S. 52, Anm. 8). Inwieweit aller‐ dings dieser thematische Rahmen für das Gesamtwerk des Dichters konstitutiv sein kann, muss Spekulation bleiben. Es ist zumindest denkbar, dass die Auswahl der uns überlieferten Tragödien bereits auf inhaltlich-thematischen Entscheidungen basierte, und so gerade Stücke, in denen der „Dike-Diskurs“ eine prominente Rolle spiele, tradiert wurden, wohingegen diejenigen Dramen keinen Eingang in die Sammlung fanden, in denen andere Themenkomplexe im Mittelpunkt standen.

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vom Chor als „Boden“ der (vornehmlich aischyleischen) Tragödie30 bietet es sich an, vom Chor als dem „Rahmen“ der sophokleischen Tragödie zu sprechen. Mir scheint dabei gerade dieser Begriff des Rahmens die eigentümlichen Charakteristika des tragischen Chors und damit seine generelle Leistung bzw. Funktion zu umreißen. Die folgenden sechs Punkte umfassen dabei in aller Kürze die entscheidenden Aspekte. Der dem tragischen Chor charakteristischen Doppelnatur als eines sowohl konventionellen Gattungsmerkmals als auch einer je eigen gestalteten dramatis persona soll dabei eine gewisse Zweiteilung gerecht werden: Die ersten beiden Punkte – (1) und (2) – beziehen sich so ganz allgemein auf das Verhältnis von Chor und Tragödie, wie es in seiner klassischen Ausprägung des fünften Jahrhunderts vorliegt; sie umreißen dabei den Rahmen, den der Chor als ein ererbtes, die Gattung Tragödie konstituierendes Phänomen eröffnet. Die Punkte (3) bis (6) verengen den Blick auf das uns überlieferte Werk des Sophokles und suchen auf Basis der geleisteten Interpretation das rahmende Potential des je nach den spezifischen Aussage- und Wirkabsichten des Dichters geprägten Formteils „Chor“ innerhalb des einzelnen Dramas zu umreißen. Wie in der Einleitung festgehalten, stellt der Chor bereits (1) entwicklungsge‐ schichtlich den Rahmen der Tragödie dar: Als Keimzelle ihrer Genese bleibt er auch nach ihrer Etablierung ein zentrales, die (zumindest zeitgenössische) Wahrnehmung der Gattung prägendes Formelement. Dass dabei Chorlyrik und Tragödie in einem besonders engen, von gegenseitigem Austausch geprägten Verhältnis zueinander stehen, hat im Anschluss an die Einleitung auch die Ein‐ zelinterpretation gewisser Chorlieder gezeigt. Der Chor leistet so die Positio‐ nierung der Tragödie im Panorama der Gattungen. Aufs Engste mit dieser gattungstechnischen Rahmenfunktion verknüpft ist (2) der institutionell-lebensweltliche Aspekt. Mit den Anklängen des tragischen Chors an den in der Lebenswelt der Zeitgenossen verankerten Ritualchor ist eine wesentliche Rahmung der Gattung Tragödie verbunden: Das Vorhanden‐ sein des in ihr geradezu dialektisch aufgehobenen Chors verortet sie zum einen in den Institutionen der Polis und bildet zum anderen die Verknüpfung zur vom Chorwesen geprägten Lebenswirklichkeit der Rezipienten. Der im Besonderen dem Chor immanente Bezug zu Kult und Polis sowie die solchermaßen in der Tragödie verankerte Sprache der Chorlyrik stellen dabei (zumindest theore‐ tisch) eine Identifikationsgrundlage dar, die die Einordnung der einzelnen Dramen im Verstehenshorizont der Rezipienten ermöglicht.31 30 31

Vgl. G RUBER (2009) bereits in seiner Kapitelüberschrift „Der Chor als Boden der Tragödie und sein Identifikationspotential für den Zuschauer“ S. 44 et passim. Vgl. G RUBER (2009) S. 57 ff.

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Mit Blick auf die uns vorliegenden und hier untersuchten Tragödien des So‐ phokles lässt sich des Weiteren konkret festhalten, dass der Chor durch die be‐ wusste Zuweisung seiner jeweiligen Rolle durch den Dichter (3) den jeweiligen personellen bzw. inhaltlich-motivischen Rahmen der einzelnen Tragödie umreißt. Während dabei in den Tragödien mit Chören wehrfähiger Männer (Philoktet und Aias) mit der chorischen dramatis persona das bestimmende Milieu der dar‐ zustellenden Handlung umfasst ist, personifizieren im Besonderen die Chöre alter Männer (Oidipus Tyrannos, Oidipus auf Kolonos, Antigone) mit dem politi‐ schen Aspekt ein wesentliches inhaltliches Moment des Geschehens. Wie bereits in anderen Zusammenhängen stehen die Frauenchöre geradezu in der Mitte: Sie spiegeln einerseits mit dem Geschlecht der Protagonistin ein wesentliches per‐ sonales Moment der Tragödie und wecken zudem auf Grund ihrer Rolle be‐ stimmte Assoziationen, die entscheidende thematische Aspekte der Handlung wie Ehe, Abhängigkeit und Familie aufgreifen. Darüber hinaus kommt es im Wesentlichen dem Chor zu, (4) das emotionale Spektrum der jeweiligen Tragödien zu umfassen: Seine Lieder sowie die Wech‐ selpartien zwischen Chor und Akteuren leisten die Ausleuchtung und szenische Repräsentation der Affekte und Empfindung der am Geschehen beteiligten Per‐ sonen. Im Besonderen bestimmen dabei die Repräsentationen der polaren Grundaffekte Freude und Schmerz in je eigener, der dargestellten Handlung entsprechenden Weise die Extrempunkte des darzustellenden Panoramas, in‐ nerhalb dessen die übrigen Affekte verortet werden können. Vor allem in der geradezu standardisierten Abfolge eines vor die Katastrophe gesetzten Jubel‐ liedes sowie der chorischen Reflexion über das in der Folge (wider Erwarten des Chors) eingetretene Unheil sind die Pole der Emotionalität besonders fassbar. Die chorischen Äußerungen spannen in unterschiedlichem Ausmaß den je eigenen Deutungsrahmen der Tragödien auf, leisten also die (5) reflektierende Rahmung des in Rede stehenden Geschehens. Die vom Chor vorgetragene Deu‐ tung des Geschehens ist dabei, wie verschiedentlich festgehalten, keine objek‐ tive, die Handlung von einem dem Geschehen völlig entzogenen Standpunkt aus einordnende und überblickende Interpretation. Als im dramatischen Ge‐ flecht selbst verortete Reflexion einer dramatis persona steht die chorische Deu‐ tung vielmehr von Zeit zu Zeit in entscheidenden Punkten im Widerspruch zum (Vor-)Wissen des Rezipienten, konterkariert dessen Antizipationen und kann so nicht affirmativ nachvollzogen werden. Schließlich leisten die Partien des Chors einen, wenn nicht den entschei‐ denden Beitrag zur (6) strukturell-dramaturgischen Rahmung der einzelnen Tra‐ gödien. Ihre Relevanz geht dabei weit über die rein technische Einschaltung reflektierender, den unmittelbaren Handlungsfluss unterbrechender Partien hi‐

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naus. Die Themenstellung der jeweiligen Partie, ihre Positionierung im Ablauf des Geschehens sowie die poetische Ausgestaltung im Einzelnen konstituieren dabei ihre dramaturgische, publikumsleitende Relevanz. Gerade dem unter (4) erwähnten Nacheinander teils konträrer Emotionen des Chors ist dabei, wie gezeigt wurde, ein dramaturgisches Muster einbeschrieben: Während die Überzeichnung positiver Grundstimmung mit ihrem oft verklä‐ renden Blick in Vergangenheit oder Zukunft die sichere Antizipation des Rezi‐ pienten konterkariert, doppelt die Ausleuchtung der Katastrophe durch den Chor schließlich das Bühnengeschehen. Die Bezugnahme der solchermaßen je eigen funktionalisierten punktuellen chorischen Partien untereinander (chori‐ sche Binnenstruktur) bewerkstelligt dabei die Formung bzw. Rundung einzelner Abschnitte oder der gesamten Tragödie. Alle diese sechs Punkte stehen in einem engen Wechselverhältnis zueinander; ihr konkretes, vom Dichter durch die bewusste Komposition des Chors im Drei‐ klang von Person, Reflexion und Dramaturgie gebildetes Zusammenwirken umreißt dabei die Rahmenfunktion des Formelements Chor. Was ist mit der Bezeichnung des Chors als eines Rahmens der sophokleischen Tragödie nun konkret gewonnen? Es bietet sich an, für die Beantwortung der Frage den bildlichen Charakter der Bezeichnung zu Grunde zu legen; in Ana‐ logie zum Verhältnis von Bild und Rahmen kann so die geradezu doppelte Funk‐ tion bzw. Wirkung des Chors umrissen werden. Zum einen begrenzt der durch den Chor gegebene Rahmen das Einzelstück und gibt ihm von innen heraus ein je eigenes Gepräge; er strukturiert und ordnet es sowohl motivisch als auch kompositionell, indem er gewisse Momente des von ihm Eingefassten aufgreift, spiegelt oder in anderer Form verarbeitet. Sol‐ chermaßen den inneren Kern des jeweiligen Dramas verarbeitend erscheint der Chor als Projektion dieses dramatischen nucleus. Man wird dies die innere, d. h. die auf das Stück selbst bezogene und aus ihm erwachsende Wirkung des Chors nennen können. Zum anderen ermöglicht es der Rahmen, das Einzelstück geradezu von außen zu greifen: Das chorische Element des jeweils vorliegenden Dramas verortet es im Spektrum der Gattung, positioniert es im Verhältnis zu anderen Stücken und leistet für den antiken Rezipienten den Bezug zu dessen Lebenswelt. Als un‐ mittelbarer Anknüpfungspunkt des dramatischen Kunstwerks zu der es um‐ gebenden Realität ist der durch den Chor eröffnete Rahmen so in gewisser Hin‐ sicht das erste, d. h. nächstliegende Moment der aktualen Rezeption. Man wird daher von der äußeren Wirkung des Chors sprechen können. Die beiden Wirkrichtungen (von innen nach außen sowie von außen nach innen) sind dabei die zwei Seiten der in Rede stehenden Rahmenfunktion des

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Chors. Sie bilden in besonderer Weise die dem Formteil Chor innewohnende ‚Andersartigkeit‘ ab, die ihm als integralem Bestandteil der (sophokleischen) Tragödie eigen ist. 6. Ausblick: Weitung der Perspektive und mögliche Nutzbarmachung der Arbeit

Die vorgelegte Studie weist dabei bereits über sich hinaus: Instrumentarium und Methode ließen sich – mutatis mutandis – für die Untersuchung anderer Aspekte im Werk des Sophokles nutzbar machen, in denen z. B. der Einsatz der Neben‐ darsteller oder der Szenenbau genauer zu untersuchen wäre. Darüber hinaus hoffe ich, mit der detaillierten Analyse der dramaturgischen Funktionalisierung der Chorpartien auch der praktischen Umsetzung der behandelten Dramen, d. h. ihrer Aufführung, einen Dienst geleistet zu haben, da gerade die Realisation des Chors moderne Regisseure vor einige Probleme stellt. Auch wenn dabei im Lauf der Analyse auf Momente der konkreten Aufführungspraxis nur am Rande eingegangen wurde, mag die Untersuchung Einsichten und Impulse für einen sowohl kreativen als auch den Werken angemessenen Umgang bieten. Von Interesse wäre zudem ein Vergleich der hier analysierten dramaturgi‐ schen Mittel und Techniken mit Bearbeitungen sophokleischer Werke verschie‐ dener Zeiten, die teils mit, teils ohne das Formelement Chor komponiert sind.32 Schließlich wäre eine Beschäftigung mit dramaturgischen Techniken in (dra‐ matischen) Kunstwerken der Moderne eine reizvolle Beschäftigung, bei der die hier dargestellte sophokleische Chortechnik einen passenden Vergleichspunkt bieten könnte.33

32 33

So z. B. Senecas Oedipus, oder W ARTKE (2009). König Ödipus: Neudichtung nach dem antiken Drama von Sophokles, Hamburg. Im Vergleich der Chortechnik der Elektra mit gewissen dramaturgischen Techniken des modernen Films (exemplarisch dem Werk Alfred Hitchcocks entnommen) habe ich Ansätze dazu bereits auszuführen versucht in: R EITZE (2016). „Emotion, Effekt und Dramaturgie. Zu den Chorpartien der Sophokleischen Elektra“ in: Scrinium LXI, Heft 1 / 2016, S. 14 – 32, (überarbeitete Fassung eines gleichnamigen Vortrags im Rahmen von „Antike Heute“, gehalten am 17. April 2013, Bad Kreuznach, Gymnasium an der Stadt‐ mauer).

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Ausgehend von der formalen und inhaltlichen Differenz von Chorund Sprechpartien innerhalb der Tragödie bietet dieser Band eine ausführliche Interpretation und Einordnung aller chorischen Äußerungen in den sieben erhaltenen Tragödien des Sophokles. Das Phänomen ‚Chor‘ wird dabei zunächst in seiner lebensweltlichen und literarischen Bedeutung verortet, bevor mit den im Titel genannten Punkten „Person, Reflexion, Dramaturgie“ die Maßstäbe der Interpretation abgesteckt werden. Der Fokus liegt auf der Gestaltung der einzelnen Partien, ihrer Einordnung sowie den damit verbundenen dramaturgischen Absichten. Dabei kann gezeigt werden, dass zwischen der chorischen dramatis persona, den spezifischen Reflexionsstrategien der einzelnen Lieder sowie der dramaturgischen Funktionalisierung des Chors ein innerer, wesensmäßiger Zusammenhang besteht. Neben einem vertieften Verständnis der einzelnen Chorpartien sowie der Tragödien bezüglich Struktur und Wirkabsicht bietet der Band eine Gesamtschau des sophokleischen Chorgebrauchs.

www.narr.de

ISBN 978-3-8233-8095-5