Den Verfassungsstaat nachdenken: Eine Geburtstagsgabe [1 ed.] 9783428543236, 9783428143238

»Den Verfassungsstaat nachdenken«: Hinter diesem vieldeutigen Titel verbirgt sich eine Hommage ganz eigener Art an Peter

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Den Verfassungsstaat nachdenken: Eine Geburtstagsgabe [1 ed.]
 9783428543236, 9783428143238

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Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 79

Den Verfassungsstaat nachdenken Eine Geburtstagsgabe Herausgegeben von Alexander Blankenagel

Duncker & Humblot · Berlin

ALEXANDER BLANKENAGEL (Hrsg.)

Den Verfassungsstaat nachdenken

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 79

Den Verfassungsstaat nachdenken Eine Geburtstagsgabe

Herausgegeben von Alexander Blankenagel

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Fotosatz Voigt, Berlin Druck: Meta Systems, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-14323-8 (Print) ISBN 978-3-428-54323-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-84323-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Wie kann man jemandem zu einem runden Geburtstag – einem sehr rundem Geburtstag, nämlich dem 80. – ein Geschenk machen, dem schon alles zuteil geworden ist, Ehrungen, Festschriften, Auszeichnungen und all jene anderen Dinge, mit denen Wertschätzung und Dankbarkeit ausgedrückt werden? Muß da wirklich noch eine weitere Ehrung hinzugefügt werden, zumal wenn es sich bei uns, die wir uns Gedanken um ein Geburtstagsgeschenk für Peter Häberle machten, um Personen handelt, die dem Jubilar so nahe stehen, daß sie ihn nicht nur ehren oder ihm ihre Dankbarkeit erweisen wollen? Uns ging und geht es um etwas anderes und ganz schlichtes: Wir wollten und wollen Peter Häberle durch eine Geburtstagsgabe unsere tiefe Zuneigung erweisen und ihn dieser Zuneigung versichern. Zuneigung folgt nicht dem Magnetismus der großen Taten und bemerkenswerten Verdienste und schert sich auch nicht um manchmal vorkommende kleine nähebedingte Reibungen. Das Wort „Zuneigung“ hat eine wunderbare Bildhaftigkeit: Zuneigung findet statt, indem man sich zu einem anderen hin neigt, quasi in eine Schräglage begibt, die um des anderen willen und wegen des Wunsches nach Nähe zu ihm gewollt ist. In eine solche Schräglage zu Peter Häberle hin wollen wir mit dem Geschenk dieses von uns verfaßten Bandes geraten. Wir waren uns schnell einig, daß sich jeder etwas überlegt und wir Peter Häberle unsere Gedanken schenken würden, mit denen wir den Verfassungsstaat ganz unterschiedlich und jeder auf seine Weise nachdenken. Die konkrete Verwirklichung von Zuneigung ist etwas höchst Persönliches und je Besonderes: wir waren uns ebenso einig darüber, daß jeder, unter diesem sehr allgemeinen und uns mit Peter Häberle verbindenden Schirm des „den Verfassungsstaat nachdenken“, das allein Seinige schreiben solle und würde. Entsprechend vielgestaltig ist diese Geburtstagsgabe geraten:

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Vorwort

Markus Kotzur unternimmt es, das Völkerrecht umzudenken, und schlägt einen Paradigmenwechsel von den Staaten als den Trägern des Völkerrechts zur Menschheit – global commons – vor: Beispiel und Blaupause eines solchen emergenten menschheitszentrierten Völkerrechts sind ihm die Abkommen über die Antarktis und die Nutzung des Meeresbodens; wesentliche Elemente seiner Neukonzeption beinhalten das Überdenken konventioneller Souveränitätskonzeptionen sowie Verfahren als Rahmen der Konkretisierung eines menschheitsbezogenen Gemeinwohls. Jörg Luther sucht nach dem Lachen im Verfassungsrecht und findet es nicht nur im Gefolge von Rudolf Ihering und in den sattsam bekannten, aber nicht immer überzeugenden Versuchen des Gesetzgebers und der Justiz, mit Satire und ins lächerliche ziehender Kritik umzugehen, sondern auch in mannigfachen Varianten von verkehrte Welt spielenden Scherzverfassungen und im Lachen als Teil des „pursuit of happiness“; er schlägt den großen Bogen vom homo ridens zur Menschenwürde und sieht den homo ridens in Konkurrenz zum homo politicus und homo oeconomicus. Lothar Michael denkt die Alltagsselbstverständlichkeit, daß alles endlich ist, in die Verfassungstheorie hinein und entwirft neben der Verfassungsänderung und der Verfassunggebung eine dritte Variante der Schaffung von Verfassungen, die Verfassungsablösung, die die Möglichkeit bieten soll, in einem geordneten Verfahren und unter bewußter Entscheidung für oder gegen die Kontinuität mit der abzulösenden Verfassung mit einfacher Mehrheit eine neue Verfassung zu schaffen. Martin Morlok stellt die von Peter Häberle aufgestellte These, daß in rechtsvergleichender Sicht Verfassungen sich in Textstufen unter Berücksichtigung des Standes der Verfassunggebung weiterentwickeln, auf den Prüfstand des Parteienrechts und weist die Richtigkeit der Beobachtung nach, daß sich die Entwicklung von Verfassungen in der Tat in Stufen vollzieht. Aus den Textstufen zieht er für das Parteienwesen dann noch zusätzliche Erkenntnisse wie etwa die zunehmende Übernahme einer

Vorwort

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staatlichen Gewährleistungsverantwortung für das Wirken der politischen Parteien. Ingolf Pernice denkt über die Rolle von Staat und Verfassung in Zeiten des Internets, über die Verfassung der Internetgesellschaft nach. Er sieht sie als gemeinsames Handlungsfeld von Staat und privaten Akteuren und als ein tendenziell globales System pluralistischer, nebeneinander stehender und miteinander verflochtener Teilverfassungen, die einerseits alte Funktionen wie den Schutz der Grundrechte oder die Gewährleistung demokratischer Legitimation in neuer Form erfüllen und andererseits der Wahrnehmung neuer Funktionen wie der Gewährleistung von Infrastrukturverantwortung und Cybersicherheit gerecht werden müssen. Helmuth Schulze-Fielitz analysiert die besondere Beziehung zwischen Peter Häberle und der Staatsrechtslehrervereinigung, die nach seiner Ansicht über eine banale Gruppenzugehörigkeit weit hinausgeht. Der alltagssprachlich so anders verstandene und in Zeiten der Globalisierung vermeintlich so altmodische Begriff der Heimat scheint auch ihm als Charakterisierung dieser Beziehung angemessen, da in der Staatsrechtslehrervereinigung Peter Häberle seine ihm vertraute theoretische, argumentative und soziale, seine ihm natürliche Umwelt fand und findet. Der Verfasser dieses Vorwortes schließlich befaßt sich mit der Frage, ob es nicht sinnvoll und vielleicht auch an der Zeit wäre, die Grundrechte bzw. ihre Verletzung in Geld aufzuwiegen, und versucht so, der kalten Ökonomisierung einige für die Freiheit nützliche wärmende Aspekte abzugewinnen. Thematisch hat diese Geburtstagsgabe also eine gewaltige Spannbreite. Zwischen den Zeilen aller Beiträge finden sich freilich nur und immer wieder unsere allerbesten Wünsche für Peter Häberle. Im Namen aller Schüler

Alexander Blankenagel

Inhalt Effizienter Grundrechtsschutz: Über die Vereinbarkeit von hehren Grundrechten und schnödem Geld Von Alexander Blankenagel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Das Völkerrecht von der Menschheit her denken. Einige Überlegungen zu den „global commons“ Von Markus Kotzur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Die Verfassungskultur des homo ridens Von Jörg Luther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Verfassungen vom Ende her denken Von Lothar Michael . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Parteienartikel der Verfassungen im Lichte der Textstufenanalyse Von Martin Morlok . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Die Verfassung der Internetgesellschaft. Zur Rolle von Staat und Verfassung im Zuge der digitalen Revolution Von Ingolf Pernice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Staatsrechtslehrervereinigung als „Heimat“ Von Helmuth Schulze-Fielitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

Effizienter Grundrechtsschutz: Über die Vereinbarkeit von hehren Grundrechten und schnödem Geld Von Alexander Blankenagel I. Einleitung Stellen wir einem imaginären Auditorium die folgenden Fragen: Haben alle Grundrechte denselben Wert und denselben Rang oder gibt es Unterschiede zwischen den Grundrechten? Ist das Grundrecht auf Leben zum Beispiel mehr oder weniger wert als das Grundrecht des Eigentums? Muß dann das „wertvollere“ Grundrecht besser geschützt werden? Die Antworten auf die drei Fragen wären, daß nicht alle Grundrechte von ihrem Rang her gleich sind. Das könne man etwa den unterschiedlich strengen Voraussetzungen ihrer Einschränkbarkeit entnehmen: je strenger die Voraussetzungen einer Beschränkung des Grundrechts, desto höher stehe das Grundrecht in der verfassungsrechtlichen und sozialen Werteskala, bis hin zu jenen Grundrechten, bei denen das Grundgesetz gar keine Beschränkung zulasse (bzw. zuzulassen scheine). Aber auch jenseits des Verfassungstextes erscheine es dem Verfassungsjuristen wie dem juristischen Laien unmittelbar einleuchtend, daß manche Grundrechte eben wichtiger sind als andere, das Recht auf Leben und persönliche Freiheit etwa wichtiger als das Grundrecht des Eigentums. In der Konsequenz müsse dann, so würde die letzte Antwort lauten, das Recht auf Leben auch besser geschützt sein als das Recht des Eigentums. Stellen wir nun eine Anschlußfrage: Ist ein Grundrecht dann besser geschützt, wenn das Rechtssystem dem beeinträchtigten Grundrechtsinhaber die Möglichkeit gibt, die Rechtswidrigkeit der Beeinträchtigung gerichtlich feststellen zu lassen, oder dann,

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wenn die Verletzung des Grundrechts zusätzlich noch sanktioniert wird, etwa durch eine Entschädigungszahlung? Es ist kaum zweifelhaft, daß die Antwort einen besseren Schutz für den zweiten Fall der Feststellung der Rechtswidrigkeit mit Sanktion, einer geldlichen Kompensation oder auch einer anderen Form von Sanktion, bejahen würde. Es dürfte auch kein Problem sein, eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung einer solchen Sanktionierung zu finden, sei es, daß man es den allgemeinen Schutzpflichten entnimmt, sei es auch, daß man dieses Gebot effizienten Grundrechtsschutzes eher vordergründig im Gebot des effizienten Rechtsschutzes des Art. 19 Abs. 4 GG verortet. In der Folge möchte ich mich der Frage widmen, wie es denn mit der so verstandenen Effizienz des Grundrechtsschutzes – Feststellung der Grundrechtswidrigkeit, Rückgängigmachung des Eingriffs und Sanktionierung – bei unterschiedlichen Grundrechten aussieht. Bei der Grundrechtsbeeinträchtigung werde ich mich auf Grundrechtsbeeinträchtigungen durch die öffentliche Gewalt durch Gebote und Verbote, also Einzelakte, und bei der Sanktionierung auf geldliche Kompensationen von Grundrechtsbeeinträchtigungen beschränken. II. Bestandsaufnahme: Geldliche Kompensation bei Grundrechtsverletzungen 1. Die Regelungssystematik Betrachten wir zunächst die Regelungssystematik. Kompensationsnormen lassen sich an ganz unterschiedlicher Stelle finden. Da ist zunächst die allgemeine Regelung im Zivilrecht: Klassisch und im Ergebnis grundrechtsschützend ist § 839 BGB i.V. m. Art. 34 GG: Die amtspflichtwidrige (= rechtswidrige1)

1 s. etwa BGHZ 18, 366/368; BGHZ 55, 261/266; BGH, NJW 1973, 894; eine ausführliche Darstellung der unterschiedlichen Amtspflichten, bei denen es ja um Pflichten gegenüber dem Dienstherren, also um Pflichten im Innenverhältnis, geht, die auch den Bürger schützen sollen, s. bei F. Ossenbühl/M. Cornils, Staatshaftungsrecht, 6. Aufl., 2013, S. 44 ff.

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und schuldhafte – in Person des Beamten im haftungsrechtlichen Sinne – Verletzung von durch § 839 BGB geschützten Rechtspositionen ist Grundlage nicht nur eines Kompensations-, sondern sogar eines Schadensersatzanspruches. Die durch § 839 BGB geschützten Rechtspositionen sind grundrechtlich unterfüttert, auch wenn der Gesetzgeber des BGB damals an Grundrechte nicht gedacht hat und auch in Ermangelung derselben nicht denken konnte. Daneben gibt es eine Reihe von Normen, die bei Grundrechtsverletzungen durch konkrete Träger hoheitlicher Gewalt Kompensations- oder auch Schadensersatzansprüche gewähren: Das bekannteste Beispiel sind die polizeirechtlichen Ersatz- und Entschädigungsansprüche;2 ähnliche Ersatz- oder Entschädigungsansprüche finden sich aber auch in anderen Gesetzen des besonderen Verwaltungsrechts, die „gefahrgeneigte“ Verwaltungstätigkeit regeln.3 Ein anderer Ansatz der Regelungssystematik ist der Schutz besonders und regelmäßig gefährdeter Grundrechte. Hier existieren zunächst spezialgesetzliche Reglungen, die für die rechtswidrige Beeinträchtigung bestimmter Grundrechte wie des Grundrechtes der persönlichen Freiheit die Pflicht zu staatlichen Entschädigungszahlungen normieren, wie das HaftentschädigungsG4 oder, zum Schutz des Rechtes auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG (sowie der Art. 6 Abs. 1 und 13 EMRK), das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren5. Auch die meisten 2 s. etwa die §§ 59 ff. ASOG Berlin; zu den ordnungsrechtlichen Ausgleichs- und Ersatzansprüchen s. F. Rachor, in: E. Denninger/H. Lisken, Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl., 2012, Kapitel M, S. 1315 ff. 3 So etwa das Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten von 1976, s. dazu die kurze Darstellung bei Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht (Fn. 1), S. 469 ff.; als weiteres Beispiel s. die verschuldensunabhängige Haftung nach den §§ 53, 54 LuftVG. 4 s. das Gesetz über die Entschädigung bei Strafverfolgungsmaßnahmen vom 8.3.1971 in der Fassung vom 8.12.2010. 5 Auslöser des Gesetzes waren die vielen Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland durch den EGMR wegen Verletzungen von Art. 6

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Datenschutzgesetze enthalten Grundlagen für einen verschuldensunabhängigen Schadensersatzanspruch bei Verletzungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung durch rechtswidrige automatische Datenverarbeitung: erfaßt werden jene Schäden, die auf die typische Automationsgefährdung zurückzuführen sind.6 Schließlich gibt das Gleichbehandlungsgesetz in § 15 einen Schadensersatzanspruch, der nach § 15 Abs. 2 auch den immateriellen Schaden umfaßt, allerdings in der Höhe auf drei Monatsgehälter begrenzt ist: Die gleichheitswidrige Verletzung von Art. 12 GG, aber eben nicht jede Verletzung des Grundrechts wird so entschädigungspflichtig. Neben den spezialgesetzlichen Regelungen gibt es aber auch die auf dem Aufopferungsgedanken beruhenden ungeschriebenen, aber durch ständige Rechtsprechung anerkannten Entschädigungsansprüche für Eingriffe in Leben und Gesundheit oder in das Eigentum. Beim Eingriff in das Eigentum gibt es die Variante des rechtswidrigen Eingriffs – enteignungsgleicher Eingriff7 – sowie die des rechtmäßigen Eingriffs, der gleichwohl zur Entschädigungspflicht des Staates führt.8 (Rechtmäßige) EingrifAbs. 1 sowie Art. 13 EMRK, s. z. B. EGMR, NJW 2006, 2389 – Sürmeli; EGMR, NJW 2010, 3355 – Rumpf; hierbei handelt es sich um ein Pilotverfahren, S. 3356 Rz. 53 ff., das auf strukturelle Probleme im Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland hinweist. Wie beim HaftentschädigungsG ist allerdings der Umfang der Ausgleichszahlungen mit 1200,– Euro für jedes Jahr der Verzögerung lächerlich niedrig und entbehrt sowohl jeder Wiedergutmachungswirkung wie auch, sofern beabsichtigt, irgendeines Steuerungseffekts; zur Kritik s. Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht (Fn. 1), S. 464 ff. 6 s. die Nachweise zu den Datenschutzgesetzen bei Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht (Fn. 1), S. 459 Fn. 7. 7 Klassisch hier die Entscheidung des Großen Zivilsenates des BGH vom 10.6.1952, BGHZ 6, 270/289 ff. Weiter etwa BGHZ 32, 208/210 ff. und dann die Anpassung an die Naßauskiesungsentscheidung des BVerfG (BVerfGE 58, 300) in BGHZ 90, 17/31 ff.; s. allgemein z. B. die Darstellung bei R. Steinberger/A. Lubberger, Aufopferung – Enteignung und Staatshaftung, 1991, S. 327 ff. 8 s. etwa BGHZ 23, 157; BGHZ 57, 359/363 ff.; s. weiter die ausführliche Diskussion bei Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht (Fn. 1), S. 325 ff.

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fe in Leben und Gesundheit deckt der allgemeine Aufopferungsanspruch ab.9 Schließlich gibt es noch einen weiteren grundrechtlich begründeten Entschädigungsanspruch, der allerdings nur ausnahmsweise zum Tragen kommen wird: den Folgenentschädigungsanspruch. Der Folgenentschädigungsanspruch ist ein Derivat des grundrechtlich begründeten Folgenbeseitigungsanspruchs: Rechtswidrige Eingriffe in Grundrechte, dies ist der eigentliche Anspruch, sind zu unterlassen; wenn die Folgen eines rechtswidrigen Grundrechtseingriffs andauern, so sind sie durch die öffentliche Gewalt zu beseitigen: der grundrechtliche Unterlassungsanspruch wird zum Folgenbeseitigungsanspruch.10 Anspruchsvoraussetzung des Folgenbeseitigungsanspruchs ist, daß die Folgenbeseitigung für den Hoheitsträger möglich11 und zumutbar ist: Unzumutbar ist eine Folgenbeseitigung dann, wenn die Kosten der Folgenbeseitigung in Relation zur Schwere der Rechtsbeeinträchtigung völlig außer Verhältnis sind.12 Für diesen Fall geht die Rechtsprechung davon aus, daß der Ausgleichsanspruch ein Teil des Anspruches auf Folgenbeseitigung ist und spricht dem beeinträchtigten Rechtsinhaber einen Anspruch auf billige Entschädigung zu, läßt dabei allerdings noch offen, ob damit der im Schrifttum erörterte allgemeine Folgenentschädi-

9 Grundlegend BGHZ 9, 83/85 ff.; s. weiter etwa BGHZ 20, 61/64 ff.; BGHZ 60, 302/303 ff., im konkreten Fall allerdings anspruchsverneinend; BGHZ 23, 157/171 ff. Zum Anspruchsumfang s. weiter die ausführlichen Rechtsprechungsnachweise und die Darstellung bei Osssenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht (Fn. 1), S. 131 ff., freilich auch daselbst, S. 133, das Zitat von Schwabe, daß Ansprüche aus allgemeiner Aufopferung heutzutage eine Seltenheit seien. Dies liegt zum Teil an den spezialgesetzlichen Regelungen wie z. B. den §§ 60 ff. ImpfschädenG. 10 BVerwGE 94, 100/103, wobei die Herleitung aus den Grundrechten nicht unumstritten ist; s. weiter Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht (Fn. 1), S. 366 ff. mit einer Vielzahl von Nachweisen. 11 s. z. B. BVerwGE 79, 254/262 f.; BVerwG, NJW 1972, 269/269 f. 12 s. etwa BVerwG, NJW 1972, 269; OVG Berlin, NVwZ 1992, 901/ 902; VGH München, NVwZ 1999, 1237/1237 f.; ablehnend OVG Münster, NVwZ 1994, 795/796.

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gungsanspruch anerkannt wird.13 Nicht ganz nachzuvollziehen ist, daß der Folgenentschädigungsanspruch nur bei Unzumutbarkeit, nicht aber auch bei Unmöglichkeit der Folgenbeseitigung Anwendung finden soll.14 Die Bestandsaufnahme der Regelungssystematik hatte die Funktion, klarzumachen, in welchen Rechtsmaterien Kompensationsansprüche für Grundrechtsbeeinträchtigungen geregelt sein können. Welches Grundrecht konkret auch durch Kompensationsansprüche für den Fall seiner Beeinträchtigung geschützt ist, wird die folgende Analyse zeigen. 2. Eigentum Relativ unproblematisch ist die geldliche Kompensation bis hin zum Schadensersatz beim Grundrecht des Eigentums. Zum einen gibt der Amtshaftungsanspruch des § 839 BGB i.V. m. Art. 34 GG dem beeinträchtigten Eigentümer einen Schadensersatzanspruch, der allerdings durch Subsidiarität, § 839 Abs. 1 S. 2 BGB, Richterprivileg, § 839 Abs. 2 BGB und Schadensminderungspflicht, § 839 Abs. 3 BGB eingeschränkt ist. Zum anderen gibt es eine Reihe von spezialgesetzlichen Ansprüchen wie den Ausgleichsanspruch bei rechtmäßigem oder auch rechtswidrigem polizeilichem Handeln gem. § 59 ASOG Berlin, der, wie § 60 Abs. 1 ASOG zeigt, in seiner Beschränkung auf Vermögensschäden grundsätzlich eigentumsbezogen ist.15 Schließlich gibt es die eben schon erwähnten richterrechtlich anerkannten, auf dem Aufopferungsgedanken beruhenden Ansprüche des enteignungsgleichen Eingriffs bei rechtswidriger und des enteignenden Eingriffs bei rechtmäßiger Eigentumsbeeinträchtigung, die jeweils eine angemessene Entschädigung für die Beeinträch13 BVerwGE 82, 24/29; BVerwGE 94, 100/113 f., 117 ff.; BayVGH, NVwZ 1999, 1237; zu dem ganzen s. die Diskussion mit weiteren Nachweisen bei Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht (Fn. 1), S. 388 f. 14 s. Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht (Fn. 1), S. 384; für gewisse Fälle wollen sie dann hier den Aufopferungsanspruch anwenden. 15 § 60 Abs. 2 ASOG erstreckt diesen Anspruch dann auch auf einen angemessenen Ausgleich für solche Schäden, die nicht Vermögensschäden sind.

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tigung gewähren.16 Zu erwähnen ist zu guter Letzt noch die enteignungsrechtliche Billigkeitsentschädigung bei grundsätzlich verfassungsmäßigen, aber im Einzelfall unzumutbaren und gleichheitswidrigen Inhaltsbestimmungen des Eigentums.17 3. Leben, Gesundheit, Freiheit Das Gleiche wie für das Eigentum gilt auch für Beeinträchtigungen von Leben, Gesundheit und Freiheit. Auch hier greift der Amtshaftungsanspruch aus § 839 BGB i.V. m. Art. 34 GG, auch hier greifen, allerdings schon gebremst, spezialgesetzliche Ansprüche wie § 59 ASOG Berlin i.V. m. § 60 Abs. 2 ASOG Berlin18 oder, bei zu Unrecht erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen, §§ 1, 2 und 7 StrEG und auch hier gibt der allgemeine Aufopferungsanspruch in bestimmten, freilich begrenzten Fällen dem beeinträchtigten Grundrechtsinhaber einen Anspruch auf angemessen Entschädigung.19 Die Beschränkung dieser Ansprüche ergibt sich daraus, daß die Entschädigung nicht für die Rechtseinbuße als solche gewährt wird, sondern soweit und deshalb, wie und weil die Beeinträchtigung von Leben und Gesundheit zu einem Vermögensschaden geführt haben.20 Nur das s. die Nachweise in den Fn. 7 und 8. Ausgangspunkt und klassisches Beispiel dieser Rechtsprechung ist die Pflichtexemplar-Entscheidung des BVerfG, BVerfGE 58, 317; von zentraler Bedeutung dann später die Fortentwicklung und Beantwortung noch offener Fragen wie der Zulässigkeit salvatorischer Klauseln durch die Entscheidung zum DenkmalSchG Rheinland-Pfalz, BVerfGE 100, 226 ff. s. die ausführliche Darstellung bei Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht (Fn. 1), S. 212 ff. sowie bei Steinberger/Lubberger, Aufopferung (Fn. 7), S. 211 ff. 18 Diese spezialgesetzlichen polizeirechtlichen Ansprüche finden sich freilich nicht in allen Bundesländern. Das Bayer. PAG verweist etwa in § 70 PAG nur auf das StrEG und gewährt keine Entschädigungsansprüche für Nichtvermögensschäden. 19 s. die Nachweise in Fn. 2 und in Fn. 9. 20 s. die Regelung des § 60 Abs. 2 ASOG, wonach bei einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit oder bei einer Freiheitsentziehung auch der Schaden, der nicht Vermögensschaden ist, angemessen auszugleichen ist; § 60 Abs. 1 S. 1 ASOG regelt zuvor, daß grundsätzlich nur 16 17

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StrEG kompensiert die Rechtsbeeinträchtigung selbst, also den Verlust an Freiheit, durch die Zahlung einer Entschädigung; das Wort „angemessen“ erscheint allerdings bei einem Tagessatz von 25 Euro pro Hafttag nicht angebracht.21 4. Menschenwürde und das allgemeine Persönlichkeitsrecht Durch eine Ausgleichszahlung sanktionierten Schutz genießen auch die Menschenwürde und das aus Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitete allgemeine Persönlichkeitsrecht. Die Konstruktion dieser Kompensationszahlung ist freilich etwas kompliziert, da hier eine zivilrechtliche Prägung verfassungsrechtlich modifiziert wurde. Gem. § 253 Abs. 2 (früher gem. 847) BGB richtet sich der Amtshaftungsanspruch, sofern es um eine Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit und der sexuellen Selbstbestimmung geht, auch auf den Ersatz des immateriellen Schadens.22 Die Rechtsprechung hat dies schon vor langer Zeit dahingehend erweitert, daß bei Verletzungen der Menschenwürde und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts dem Geschädigten eine Geldentschädigung zugebilligt wird, die die Bedeutung des Opferausgleichs hat und bei der, anders als beim Schmerzensgeldanspruch, der Gesichtspunkt der Genugtuung des Opfers im Vordergrund steht.23 der Vermögensschaden auszugleichen ist. Ein allgemeiner Aufopferungsanspruch dürfte neben der spezialgesetzlichen Regelung des § 59, 60 Abs. 2 ASOG ausscheiden, da die Vorschriften Ausdruck des Aufopferungsgedankens sind, s. Rachor, in: Denninger/Lisken, Polizeirecht (Fn. 2), Rz. 69. 21 s. § 7 Abs. 3 Gesetz über die Entschädigung bei Strafverfolgungsmaßnahmen vom 8.3.1971 in der Fassung vom 8.12.2010. 22 BGHZ 78, 274/280 ff. 23 BGHZ 128, 1/15; BGHZ 161, 33/35 ff.; OLG Düsseldorf, NJW 2005, 1791/1803; eine Betonung des Präventionsgedankens s. in BVerfG, NJW 2000, 2187 (Kammer); s. auch, allerdings konkret eine Verfassungsverletzung verneinend, BVerfG, NJW 2006, 1580 (Kammer): menschenunwürdige Behandlung von Strafgefangenen durch viel zu kleinen Haftraum; eine Kritik des Genugtuungsgedankens und ein Plädoyer für den Präventionszweck s. bei G. Wagner, Ersatz immaterieller Schäden: Bestandsaufnahme und europäische Perspektiven, JZ 2004, S. 319/321 f. –

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5. Andere Grundrechte Bei anderen Grundrechten sieht es mit einem sanktionierten Schutz schlecht aus. Das Problem läßt sich in wünschenswerter Deutlichkeit am Beispiel einer rechtswidrigen Auflösung einer Demonstration zeigen: Die rechtswidrige Auflösung der Demonstration hat die Konsequenz, daß die Demonstrationsteilnehmer nicht mehr gemeinsam ihr Anliegen in der Öffentlichkeit kundtun können, sondern ihnen ihre Grundrechtsverwirklichung untersagt wird und sie den Ort der Demonstration (wegen des regelmäßig erfolgenden Platzverweises) verlassen müssen. Die Demonstrationsveranstalter und Teilnehmer haben zwar die Möglichkeit, die Auflösung der Demonstration und den darauf beruhenden Platzverweis mit einer verwaltungsgerichtlichen Fortsetzungsfeststellungsklage, sofern denn deren besonderes Feststellungsinteresse gegeben ist, nachträglich für rechtswidrig erklären zu lassen; irgendeine andere Form des Genugtuung außer diesem zwischen den Beteiligten und dem Gericht verbleibenden „they have done me wrong!“ stellt ihnen die Rechtsordnung aber nicht zur Verfügung. Diese Situation, daß der in seinen Grundrechten verletzte Grundrechtsträger quasi mit einigen warmen Worten des Gerichts, aber mit leeren Händen aus dem Gerichtssaal kommt, in dem er sich mit viel Aufwand gegen die erledigte Grundrechtsverletzung gewehrt hat, ist die grundrechtliche Regel. Genugtuungsentschädigungen fehlen regelmäßig bei der Religionsfreiheit ebenso wie bei der Meinungsfreiheit, bei der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit ebenso wie bei der Freiheit von Ehe und Familien, bei der Post- und Fernmeldefreiheit ebenso wie beim Schutz der räumlichen Intimsphäre und bei der Freizügigkeit ebenso wie bei der Berufsfreiheit. Geldliche Kompensation wird, mit der Ausnahme der Haftentschädigung sowie der Beeinträchtigung der Menschenwürde, dort gewährt, wo eine geldUnverständlich ist, daß der Gesetzgeber anläßlich der Reform des Schuldrechts und der Ersetzung des § 847 BGB durch § 253 BGB nicht auch den richterrechtlich geschaffenen Ersatz des immateriellen Schadens gesetzlich geregelt hat, so dazu die Kritik bei Wagner, ebda, S. 328.

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liche Ausgleichszahlung zivilrechtlich schon vorgesehen oder vorgezeichnet war, bevor überhaupt die Grundrechte des Grundgesetzes geschaffen wurden: die vorverfassungsrechtliche Struktur wurde übernommen und während der mehr als 60 Jahre Geltung des Grundgesetzes beibehalten. Durch Kompensationszahlungen effektivierter Grundrechtsschutz ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme, und das erstaunliche dabei ist: Niemanden scheint das besonders zu beunruhigen!24 III. Alternativen Daß die fehlende geldliche Sanktionierung einer rechtswidrigen Grundrechtsbeeinträchtigung niemanden beunruhigt, ist um so erstaunlicher, als es eine Reihe von Beispielen für Entschädigungszahlungen bei Grundrechtsbeeinträchtigungen gibt, der Gedanke mit anderen Worten nahe liegt. Das erste Beispiel ist der Versuch der Einführung eines Entschädigungsanspruches für rechtswidrige Grundrechtsverletzun24 Der Beunruhigung am nächsten kommt B. Greszick, Rechte und Ansprüche, 2002, S. 366 ff. mit der Konstruktion eines „grundrechtlichen Folgenersatzanspruches“ in Geld. Greszick will diesen Anspruch potentiell bei allen Grundrechten geben, inklusive etwa auch der nicht kommerzialisierbaren politischen Grundrechte wie der Versammlungsfreiheit, S. 367. Der Anspruch ist jedoch als Schadensersatzanspruch und nicht als angemessener Ausgleich mit Genugtuungsfunktion konstruiert; ersetzt werden sollen die frustrierten kommerzialisierten Aufwendungen für die Ausübung der jeweiligen grundrechtlichen Freiheit. Die jeweilige verletzte grundrechtliche Freiheit könne nicht wiederhergestellt und mangels Kommerzialisierung auch nicht durch eine Geldzahlung ersetzt werden; Geldersatz könne aber zumindest für den kommerzialisierten Teil der jeweiligen Freiheit gezahlt werden, also etwa am Beispiel der Aufwendungen für die Anreise zur Demonstration. In ähnliche Richtung geht W. Höfling, Primärrechtsschutz und Sekundärrechtsschutz im öffentlichen Recht, VVDStRL 61 (2002), S. 260/272 ff., der einen grundrechtsunmittelbaren Anspruch auf „wertmäßigen Integritätserhalt“ konstruiert, mit weiteren Nachweisen in Fn. 85; auch Höfling scheint aber beim materiellen Schaden stehenbleiben zu wollen, s. S. 275. In ähnliche Richtung scheinen auch Steinberger/Lubberger, Aufopferung, S. 352 zu gehen. Ablehnend auch bezüglich dieses kommerzialisierbaren Teils der Ausübung der Versammlungsfreiheit LG Leipzig, NVwZ 2001, 469.

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gen im Zuge der erfolglosen Reform des Staatshaftungsrechts in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts (was zeitlich entfernter klingt, als es ist). Der erste Entwurf der 1970 vom Bundesjustizministerium und vom Bundesinnenministerium eingesetzten unabhängigen Sachverständigenkommission25 formulierte sehr eindeutig: Verletzt die öffentliche Gewalt jemanden in seinen Rechten, so haftet ihr Träger dem Verletzten nach diesem Gesetz. (In seinen Rechten wird jemand verletzt, wenn die öffentliche Gewalt gegen eine ihm gegenüber obliegende Pflicht des öffentlichen Rechts verstößt.)

§ 9 des Kommissionsentwurfs sah dann vor, daß bei einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit, bei einer Freiheitsentziehung sowie bei einer schweren anderen Verletzung der Persönlichkeit der Verletzte auch für den Nichtvermögensschaden einen angemessenen Geldausgleich verlangen konnte, soweit eine Wiederherstellung nicht möglich oder nicht genügend war und dem Verletzten nicht in anderer Weise Genugtuung geleistet worden war.26 Im Zuge des Hin und Her des dann folgenden langwierigen Gesetzgebungsverfahrens kam es noch zu Abschwächungen und Verundeutlichungen. Die Grundkonstruktion aber, wonach immerhin bei bestimmten schwerwiegenden Grundrechtverletzungen eine angemessene Entschädigung zu leisten war, blieb aber;27 weniger die Halbherzigkeit

25 s. die Darstellung bei Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht (Fn. 1), S. 736 f. 26 s. Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht (Fn. 1), S. 740, 744. 27 Die endgültige Formulierung lautete: § 1 Haftung der öffentlichen Gewalt (1) Verletzt die öffentliche Gewalt eine Pflicht des öffentlichen Rechts, die ihr einem anderen gegenüber obliegt, so haftet ihr Träger dem anderen für den daraus entstehenden Schaden nach diesem Gesetz. Die Regelung der Ersatzfähigkeit des Nichtvermögensschadens enthielt dann § 7 StHG § 7 Nichtvermögensschaden (1) Bei einer Verletzung der körperlichen Unversehrtheit, der Gesundheit, der Freiheit oder einer schweren Verletzung der Persönlichkeit ist

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dieses Entschädigungsanspruchs als seine unklare Konstruktion wurde damals in der Literatur kritisiert.28 Das StHG wurde dann sehr vorhersehbarerweise vom Bundesverfassungsgericht aus kompetenziellen Gründen für verfassungswidrig erklärt.29 Nach einigen Versuchen, die gescheiterte Reglung kompetenzgerecht neu zu erlassen und nach der Schaffung einer konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz in Art. 74 Nr. 25 GG im Jahre 1994 fiel dann allerdings das gesamte Unternehmen „Schaffung eines modernen Staatshaftungsrechts“ mitsamt dem Entschädigungsanspruch bei rechtwidrigen Grundrechtsbeeinträchtigungen in ein bis heute andauerndes Koma.30 Ein weiteres Beispiel für Entschädigungsansprüche, die für die widerrechtliche Beeinträchtigung von Grundrechten bzw. Menschenrechten gewährt werden, ist die EMRK bzw. die Rechtsprechung des EGMR. Die EMRK normiert zwei Entschädigungsansprüche. Art. 5 Abs. 5 EMRK gibt demjenigen einen Scha-

der Schaden, der nicht Vermögensschaden ist, unter Berücksichtigung von § 2 Abs. 4 angemessen in Geld zu ersetzen. (2) Der Anspruch entfällt, soweit eine Folgenbeseitigung im Sinne des § 3 möglich ist und genügt oder so weit dem Geschädigten in anderer Weise Genugtuung geleistet worden ist. 28 Kritisch etwa A. Schäfer, Die Bedeutung der neuen Staatshaftung für die Praxis, DÖV 1982, S. 10/16 ff., bes. 18: Es sei unklar, warum der Entschädigungsanspruch auf Vermögensschäden beschränkt sein und die wichtige Funktion der Genugtuung mißachten worden sei; der Autor war im Justizministerium für den Entwurf verantwortlich. s. weiter etwa H.-J. Papier, das neue Staatshaftungsgesetz, NJW 1981, S. 2321/2325 mit weiteren Nachweisen in Fn. 56 und, zur Anhörung im Bundestag, in Fn. 57: hier ging es unter anderem darum, ob die Haftung nur im Falle eines spezifischen Verfassungsverstoßes eintreten sollte. 29 BVerfGE 61, 149. 30 Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht (Fn. 1), S. 751 ff.; als Grund nennen sie die mangelnde Attraktivität für die Politik sowie die Befürchtung, daß damit alles viel mehr kosten werde. Dabei ist es nicht so, daß das deutsche Staatshaftungsrecht in seiner jetzigen, im wesentlichen richterrechtlich geprägten Form wenigstens überzeugende Lösungen haftungsrechtlicher Probleme liefern würde, s. dazu die vergleichende Betrachtung von G. Brüggemeier, Haftungsrecht. Struktur, Prinzipien, Schutzbereich, 2006, S. 164 ff.

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densersatzanspruch, der unter Verletzung des Art. 5 EMRK, des Grundrechts der persönlichen Freiheit, von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist. Durch die Inkorporation der EMRK in das innerdeutsche Recht ist Art. 5 Abs. 5 EMRK eine Norm, auf die sich der Anspruchsberechtigte unmittelbar vor deutschen Gerichten berufen kann; die Norm hat mittlerweile auch in der Rechtsprechung der deutschen Gerichte eine gewisse Bedeutung erlangt,31 regelt aber dem Grunde nach nichts anderes als das Haftentschädigungsgesetz und soll uns deswegen hier nicht weiter beschäftigen. Daneben kennt die EMRK in Art. 41 unter der Überschrift „Gerechte Entschädigung“ eine konventionsrechtliche Schadensersatzhaftung der Vertragsstaaten für Verstöße gegen die Bestimmungen des Vertrages: Stellt der Gerichtshof fest, daß diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.

Die Vorschrift normiert nicht eigentlich einen Schadensersatzanspruch, sondern vielmehr die subsidiäre konventionsrechtliche Befugnis für den EGMR, eine gerechte Entschädigung zuzusprechen. Der EGMR hat die Subsidiarität dieser Haftung durch seine Rechtsprechung überspielt und bei Konventionsverstößen eine sekundäre Haftung der Vertragsstaaten auf Geld in den Fällen bejaht, in denen sonstige Schäden aufgetreten sind: Die Vorschrift wird vom EGMR in den meisten Fällen angewandt und die Entschädigung beschränkt sich auch durchaus nicht auf symbolische Summen, kann bei entsprechender Schwere der Konventionsverletzung erhebliche Ausmaße annehmen.32 Unklar und 31 BGHZ 45, 58/62 ff.; BGHZ 122, 268/270 ff., 281 ff.; OLG Hamm, NJW 1989, 1547/1547 ff. – allerdings den Anspruch konkret verneinend. 32 Die normalen Beträge liegen im Bereich bis 10.000,– Euro, s. etwa Burdov v. Russia (2) vom 15.1.2009 mit 6000,– Euro Rz. 159 Nr. 9; Krasulya v. Russia vom 22.2.2007, Rz. 59 Nr. 4 mit 4000,– Euro; s. aber andererseits Mikheyev v. Russia vom 26.1.2006 mit 120 000,– Euro für den

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umstritten ist die juristisch-dogmatische Frage, ob es sich um einen echten Schadensersatzanspruch handelt oder aber um einen Anspruch auf billige Entschädigung.33 Erwähnenswert ist, daß der Anspruchsberechtigte der Verletzte ist.34 Bei den konkreten Haftungsvoraussetzung ist hervorzuheben, daß der Anspruch grundsätzlich auf Ersatz des materiellen Schadens (pecuniary damages) geht; der EGMR hat jedoch auch Nichtvermögensschäden nach Art. 41 EMRK als im Prinzip entschädigungspflichtig erachtet und in vielen Fällen Entschädigungsansprüche zugesprochen.35 In anderen (auch zahlreichen) Fällen hat allerdings der EGMR die Verwirklichung der gebotenen Wiedergutmachung schon und nur in der gerichtlichen Feststellung der Konventionsverletzung gesehen.36 Betrachtet man die nichtmateriellen Schaden (plus 130 000,– Euro für den materiellen Schaden, Rz. 164 Nr. 7; weitere Nachweise zur Höhe der Entschädigung bei Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht (Fn. 1), S. 650 Fn. 145. 33 s. die Darstellung des Streits mit zahlreichen Nachweisen bei Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht (Fn. 1), S. 657 f. 34 Zu erwarten wäre nach allgemeinen Regelungsmustern, daß die Schadensersatzverpflichtungen immer nur zwischen Völkerrechtssubjekten entstehen können, s. etwa G. Dannemann, Schadensersatz bei Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1994, S. 92. 35 Zum materiellen Schaden s. die ausführliche Darstellung mit sehr zahlreichen Nachweisen zur Rechtsprechung des EGMR bei Ossenbühl/ Cornils, Staatshaftungsrecht (Fn. 1), S. 648 ff.; zum Ersatz des immateriellen Schadens s. etwa Burdov v. Russia (2) vom 15.1.2009 Rz. 159 Nr. 9; Krasulya v. Russia vom 22.2.2007, Rz. 59 Nr. 4; s. weiter Ossenbühl/ Cornils, ebda, S. 650 Fn. 144, 145 und als ein krasses Beispiel die schon wegen der hohen Entschädigungssumme zitierte Entscheidung Mikheyev v. Russia vom 26.1.2006; Dannemann, Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (Fn. 34), S. 66 ff. und 333 ff. mit weiteren Nachweisen. – J. Meyer-Ladewig, EMRK Kommentar, 3. Aufl., 2011, Art. 41 Rz. 9 spricht davon, daß der Nichtvermögensschaden vom EGMR in der Regel dann zugesprochen wird, wenn es um den Ausgleich psychischer Belastungen geht; Dannemann, ebda, S. 71 ff., kritisiert unter detailliertem Eingehen auf die Rechtsprechung des EGMR die dürftige Begründung des Entschädigungsanspruchs in der Rechtsprechung des EGMR. 36 s. etwa Corigliano v. Italy vom 10.12.1982, Ziff. 53; Pakelli v. Germany vom 25.4.1983, Ziff. 46; in beiden Fällen argumentierte das Gericht, daß ein Schaden nicht nachgewiesen worden sei. s. weiter sehr aus-

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Fälle unter dem Gesichtspunkt, welche Konventionsrechte im Falle ihrer Verletzung den Vertragsstaat gegenüber dem Verletzten entschädigungspflichtig machen, so finden wir im wesentlichen all jene Rechte, die nach unseren Feststellungen im deutschen Recht durch die öffentliche Gewalt „folgen- und kostenlos“ verletzt werden können.37 Insofern entbehrt es nicht der Würze, daß Anspruchsvoraussetzung des Art. 41 EMRK ist, daß das innerstaatliche Recht der Vertragsstaaten nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen der Verletzung gewährt. IV. Klage und begnüge Dich Betrachtet man die Situation insgesamt, so kristallisiert sich eine Art Triptychon heraus. Eine ganze Reihe von Grundrechten ist überhaupt nicht durch kompensatorische Sanktionen geschützt, obwohl dies, wie die Praxis des EGMR sowie partiell das StaatshaftungsG des Jahres 1982 zeigt, ohne weiteres möglich ist und, wie das Beispiel des EGMR zeigt, von den verletzten Menschenrechtsinhabern auch gerne in Anspruch genommen wird.38 Dann gibt es eine Reihe von Rechten, bei denen die

führlich und mit vielen Nachweisen Dannemann, Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (Fn. 34), S. 362 ff., bes. S. 365 Fn. 18; zur Schwere des Eingriffs und seinen Folgen s. ebda, S. 382 ff. 37 Religionsfreiheit: Kokkinakis v. Greece vom 25.5.1993, Rz. 59; Larissis a. o. v. Greece vom 24.2.1998, Rz. 74; Metropolitan Church of Bessarabia v. Moldavia vom 13.12.2001 Rz. 146. Meinungsäußerungsfreiheit: Lingens v. Austria vom 8.7.1986, Rz. 48 ff.; Oberschlick v. Austria vom 1.7.1997, Rz. 36 ff.; Open Door and Dublin Well Women v. Ireland vom 26.10.1992, Rz. 88 ff. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit: Barankevich v. Russia vom 26.10.2007, Rz. 46 ff.; Alekseev v. Russia vom 11.4. 2011, Rz. 112 ff.; Makhmudov v Russia vom 26.10.2007, Rz. 109 ff.; Sergey Kuznetsov v. Russia vom 23.1.2009. Rz. 51 ff. 38 Man braucht sich hier nur den Verfahrensanfall beim EGMR zu vergegenwärtigen. Besonders deutlich ist das dort, wo das Vertrauen der Bürger des Konventionsstaates in die eigene Gerichtsbarkeit sehr gering ist wie etwa in der Russischen Föderation, s. dazu die Analyse bei B. Bowring, Russia and Human Rights: Incompatible Opposites, in: Göttingen Journal of International Law 1 (2009), S. 257/272 ff.

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Rechtsverletzung durch eine Entschädigungszahlung sanktioniert wird. Es handelt sich in der Regel um besonders sensible Rechte wie das Recht der persönlichen Freiheit; diese besondere Empfindlichkeit bzw. Schmerzhaftigkeit der Rechtsbeeinträchtigung schlägt sich allerdings nicht in einer angemessenen, in anderen Worten großzügigen Entschädigung nieder. Schließlich sind Rechte, die vor der Entstehung des Grundgesetzes schon, damals noch als Nicht-Grundrechte, durch kompensatorische Sanktionen geschützt waren, dies auch unter dem Grundgesetz noch. Es handelt sich um solche Rechte, deren Beeinträchtigung sich als finanzieller Schaden des Grundrechtsinhabers darstellen läßt, ohne daß man dazu einen immateriellen Schaden monetarisieren müßte: Die Zurückhaltung und das Mißtrauen, die man bei Schaffung des BGB am Anfang des 20. Jahrhunderts gegenüber immateriellem Schaden hatte, dauern also auch heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, noch an und werden durch ein diffuses Unbehagen an einem Junktim zwischen (manchen) Grundrechten und dem schnöden Geld noch verstärkt. Das deutsche Rechtssystem bleibt hier im Vergleich etwa gegenüber dem französischen Rechtssystem oder dem US-amerikanischen Rechtssystem zurück.39 Auf jeden Fall steckt der Grundrechtschutz noch in vorkonstitutionellen Strukturen (fest?) und das klassische „dulde und liquidiere“ ist gerade bezüglich der Grundrechte, die Modernität ausmachen, durch ein „klage und begnüge dich!“ (mit der Feststellung, daß ein Unrecht geschehen ist) ersetzt worden. Mit dem ersten Teil, dem Recht zu klagen, kann man ja sehr zufrieden sein, weil sich in ihm die Subjektqualität des Individuums manifestiert: der zweite Teil leuchtet aber nicht ein. 39 s. die kurze Analyse bei Wagner, Ersatz immaterieller Schäden (Fn. 23), S. 329; J. J. Park, The Constitutional Tort Action as Individual Remedy, Harvard Civil Rights-Civil Liberties Law Review 38 (2003), S. 393 ff. mit einer ausführlichen Darstellung des Entstehens des Anspruchs (S. 413 ff.) sowie einer Diskussion der Ausgestaltung sowie des Für und Wider der constitutional torts; der Anspruch richtet sich allerdings nicht gegen den Staat, sondern gegen den jeweiligen Amtswalter; zur Kritik daran s. ebda, S. 400 Fn. 38. – Für den Hinweis auf die constitutional torts danke ich meinem Kollegen G. Wagner.

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V. Über die Notwendigkeit und die Vorteile einer geldlichen Kompensation bei rechtswidrigen Grundrechtsbeeinträchtigungen De constitutione lata und de constitutione ferenda spricht einiges für die verfassungsrechtliche Gebotenheit eines Entschädigungsanspruches. Zum einen ist Kompensation für Rechtsbeeinträchtigungen ein modernes Instrument der Gewährleistung gerechter und für alle Seiten akzeptabler Konfliktlösungen im Grundrechtsbereich, dessen Anwendungsbereich sich zunehmend erweitert. Zum anderen verpflichtet der Gedanke der Folgerichtigkeit den Gesetzgeber zu konsistentem Handeln; der Anspruchswirrwarr der öffentlich-rechtlichen Entschädigungsleistungen wird dieser Anforderung nicht gerecht. Und schließlich erfordert das Prinzip effektiven Rechtsschutzes einen Rechtsschutz, dessen Konsequenzen die öffentliche Gewalt dazu veranlassen, nachhaltige Vorkehrungen zur Vermeidung von rechtswidrigem Handeln der Staatsorgane zu treffen. Ob zu guter Letzt nicht auch völkerrechtlich die EMRK bei konsequenter Betrachtung eine Entschädigungen für die Verletzung von Rechten der EMRK und ihrer Zusatzprotokolle erfordert, ist eine wenig gestellte, aber deswegen nicht unberechtigte Frage. 1. Kompensation für Rechtsbeeinträchtigungen Schon das Grundgesetz selbst kennt Kompensationslösungen, allerdings nicht für den hier diskutierten Fall einer geldlichen Entschädigung für eine rechtwidrige Grundrechtsbeschränkung, sondern als einen Ausgleich, um eine vom Gemeinwohl geforderte Grundrechtsbeschränkung verfassungsmäßig zu gestalten. Ein Beispiel ist die Enteignung des Art. 14 Abs. 3 GG, die an die Bedingung einer gesetzlich geregelten Entschädigung geknüpft ist, deren Höhe unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten festzusetzen ist.40 40 Die ist nach h. M. so zu verstehen, daß die Entschädigung auch hinter dem Marktwert zurückbleiben kann; der Wortlaut des Art 14 Abs. 3 S. 3 GG ist vom Parlamentarischen Rat bewußt anders gewählt worden

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Noch klarer kommt die Funktion der Entschädigung als Ausgleich für einen rechtswidrigen(?)41 Grundrechtseingriff in der enteignungsrechtliche Billigkeitsentschädigung zum Ausdruck, die für eine Eigentumsbeeinträchtigung gewährt wird, die, auf einer verfassungsmäßigen Eigentumsausgestaltung beruhend, im Einzelfall einen konkreten Eigentümer unverhältnismäßig und besonders trifft und deswegen nur hinzunehmen ist (bzw. von der öffentlichen Gewalt nur dann ins Werk gesetzt werden darf!), wenn eine Billigkeitsentschädigung gewährt wird.42 Das BVerfG hat sich darüber hinaus in einer Reihe von konkreten Fällen für den Gedanken eines geldlichen Ausgleichs für die Hinnahme einer Grundrechtsbeeinträchtigung offen gezeigt.43 als der des Art. 153 Abs. 2 S. 2 WRV („angemessene Entschädigung“), J. Wieland, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl., 2013, Art. 14 Rz. 129. – In der Sache hat der BGH sich schon relativ früh auf eine Verkehrswertentschädigung festgelegt, dabei aber gleichzeitig auch klar gemacht, daß es sich nicht um eine Schadensersatzleistung im Sinne des Zivilrechts handele, sondern um einen materiellen Ausgleich für die auferlegte Vermögenseinbuße, s. BGHZ 6, 270/295; s. weiter etwa BGHZ 41, 354/358; die neuere Rechtsprechung des BGH ist etwas zurückhaltender, s. BGHZ 83, 1/5 ff. – es geht allerdings um ein Mietrecht; BGHZ 120, 38/45 ff. (Grunddienstbarkeit) Das BVerfG ist demgegenüber der Meinung, daß eine starr am Marktwert orientierte Entschädigung nicht geboten sei, sondern der Gesetzgeber auch eine unter dem Marktwert liegende Entschädigung bestimmen könne, s. BVerfGE 24, 367/421; BVerfG, NVwZ 2010, 512/515 betont in diesem Zusammenhang die Bedeutung situationsbedingter Besonderheiten und daraus folgend die Möglichkeit der Erstattung des Verkehrswertes. 41 Wie auch beim Aufopferungsanspruch ist die Einordnung als „rechtmäßig“ bzw. „rechtswidrig“ eher beliebig: Ist der Grundrechtseingriff rechtmäßig, so ist er ohne wenn und aber hinzunehmen; daß eine Entschädigung gezahlt werden muß, damit er hinzunehmen ist, zeigt, daß er nicht über eine „vollwertige“ Rechtmäßigkeit verfügt. Ob man das dann als rechtmäßig oder rechtswidrig bezeichnet, ist eine – rechtspolitisch durchaus bedeutsame – Frage der Symbolwahl, die aber an dem rechtlichen „auf zwei Stühlen sitzen“ nichts ändert. 42 s. zur enteignungsrechtlichen Billigkeitsentschädigung die Nachweise in Fn. 17. 43 s. z. B. BVerfGE 22, 349/364 ff.: Beitragserstattung in der Angestelltenversicherung; BVerfGE 29, 51/55 ff.: Ausgleich des durch Musterung bedingten Verdienstausfalls; BVerfGE 49, 280/284 ff.: Ausgleich von

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In der neueren Literatur war es vor allem A. Vosskuhle, der sich am Referenzgebiet des Umweltrechts mit der Problematik der Kompensation für Grundrechtseingriffe auseinandergesetzt hat: Sein Fokus war allerdings die Kompensation als ein Regelungsinstrument des Gesetzgebers bei der Regelung eines Konfliktes zwischen zwei Grundrechtsträgern, die, so Vosskuhle, je nach Konstellation möglich oder sogar verfassungsrechtlich geboten ist.44 Insgesamt aber steht die herrschende Meinung einer allgemeinen Akzeptanz des Gedankens, daß Entschädigungen ein Element der Grundrechtsdogmatik, konkret der Verhältnismäßigkeit werden könnten oder sollen, sehr kritisch gegenüber: Daß der Staat dem Grundrechtsträger seine Grundrechte soll „abkaufen“ können, wird als anrüchig wahrgenommen, zumal da es doch um nicht handelbare, höchstpersönliche Güter, nämlich die konkreten Freiheiten gehe.45 Allerdings: Grund dieser Ablehnung von Entschädigungen ist der Verdacht des Vorliegens eines Kaufvertrags „Grundrechtsbeschränkungsmöglichkeit gegen Geld“ zwischen Staat und Bürger bzw. die geldliche Gestaltung eines Interessenausgleich zwischen zwei Grundrechtsträgern; dies ist nicht die Konstellation, die mich interessiert. Mir geht es um den rechtswidrigen, schon abgeschlossenen Grundrechtseingriff und darum, ob die Tatsache, daß die Verhinderung einer Grundrechtsverwirklichung wie einer Glaubensmanifestation, einer Meinungsäußerung oder der Teilnahme an einer Versammlung durch Geld nicht ersatzfähig ist, den Staat auch davon entlasten kann, dem Verletzten eine gewisse Genugtuung in Form einer Entschädigungszahlung Verdienstausfall nach dem ZeugenentschädigungsG; BVerfGE 32, 111/ 122 ff.: Ausgleich von Vertreibungsschäden. 44 A. Vosskuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 361 ff. 45 G. Roller, Genehmigungsaufhebung und Entschädigung im Atomrecht. Einfachgesetzliche Voraussetzungen und verfassungsrechtlicher Ausgleichsanspruch, 1994, S. 207; B. Kempen, Der Eingriff des Staates in das Eigentum. Voraussetzung, Ausgleich und Abwehr durch den Bürger, 1991, S. 96 Rz. 252: „unabsehbare Folgen“ – aber welche eigentlich? E. Klein, Die Kompetenz- und Rechtskompensation, DVBl. 1981, S. 661/ 663 Fn. 24, 666: Freiheit sei kein austauschbares Gut; differenziert Vosskuhle, Kompensationsprinzip (Fn. 44), S. 282 ff.

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zu gewähren. Das Problem des zweifelhaften Abkaufs von Freiheitsrechten existiert also bei einer Genugtuungsentschädigung nicht. Abgelehnt wird diese Genugtuungsentschädigung auf der Grundlage einer unreflektierten Übernahme der zivilrechtlichen, dem immateriellen Schaden negativ gegenüberstehenden Konzeption von Entschädigungsleistungen. Grund für die zivilrechtliche Zurückhaltung bei der Zuerkennung eines Schadensersatzanspruchs für immateriellen Schaden war seinerzeit die Befürchtung des Mißbrauchs eines solchen Ersatzes des immateriellen Schadens wegen Gewinnsucht und Eigennutz, ein Widerspruch zum modernen (damals zur Zeit der Schaffung des BGB) Sittlichkeitsempfinden des deutschen Volkes, das Mißtrauen gegenüber der dem Richter durch die Entscheidung über die Höhe der Entschädigung zuwachsenden Freiheit sowie schließlich die damals noch existierende Möglichkeit einer Buße nach dem (nicht mehr existierenden) § 188 StGB.46 Kann diese (historisch von grundrechtlichen Aspekten völlig ungetrübte) zivilrechtliche Zurückhaltung beim Ersatz eines immateriellen Schadens das (enge) Korsett des Grundrechtsschutzes sein oder aber sollte sich die Grundrechtsdogmatik dieser Beschränkung nicht endlich entledigen,47 zumal da die heute an46 s. G. Schiemann, in: Staudinger BGB Buch 2, 2005, § 253 Rz. 1; s. Rz. 2 zur Irrelevanz bzw. Überholtheit dieser Erwägungen heute. 47 s. etwa U. Stein, in: Münchner Kommentar zum BGB, 3. Aufl. 1992 ff., in der Kommentierung zum mittlerweile aufgehobenen § 847 Rz. 2: „Es entspricht keinesfalls dem Geist des Grundgesetzes, wenn ein Schadensrecht, daß bei Vermögensschäden den Grundsatz der Totalreparation als Leitprinzip anerkennt im Bereich von Persönlichkeitsverletzungen, die als nachhaltige Lebensbeeinträchtigung zu werten sind, zur Zurückhaltung tendiert.“ Ähnlich, wenn auch nicht ganz so ausgesprochen H. Oetker, in: Münchner Kommentar zum BGB, Bd. 2, 6. Aufl., 2012, § 253 Rz. 5. I. Ebert, in: Erman, BGB, Bd. 1, 13. Aufl., 2011, Rz. 2: Weder zeitgemäß noch zwingend noch aus rechtsvergleichender Sicht überzeugend, mit weiteren Nachweisen. D. Medicus, Neue Perspektiven im Schadensersatzrecht – Kommerzialisierung, Strafschadensersatz, Kollektivschaden, in JZ 2006, S. 805/806. – Kritisch aus grundgesetzlicher Sicht auch Schiemann, in: Staudinger, BGB (Fn. 46), § 253 Rz. 2. – s. auch P. Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: ders./J. Isensee, Handbuch des Staatsrechts Bd. V, 2. Aufl., 2000, § 124 Rn. 166 Fn. 335: Keine

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stelle der historischen vorgebrachten Gründe der zivilrechtlichen Zurückhaltung etwa gegenüber der Genugtuungsfunktion einer angemessenen Entschädigung – Stichwort: Privatstrafe – nicht greifen, wenn es um die Haftung des Staates geht.48 Offenkundig verursacht die rechtswidrige Beeinträchtigung eines Grundrechts einen Schaden in Form der Verunmöglichung der Selbstverwirklichung in einer vom Grundrechtsinhaber selbstbestimmten Art und Weise. Die Tatsache, daß sich dieser Schaden nicht unproblematisch und routinemäßig49 durch eine finanzielle Einbuße beschreiben läßt, nimmt der Staat als im übrigen selbstgeschaffene Rechtfertigung, sich auf ein Zugeständnis des Fehlverhaltens – sofern der Grundrechtsträger die Mühe auf sich nimmt, gegen die Grundrechtsbeeinträchtigung zu klagen – zu beschränken.50 Kompensationsfeindlichkeit von Freiheitsrechten schlechthin, sondern nur von höchstpersönlichen, nicht vertretbaren Rechtsgütern. (In der 3. Aufl. von 2010 findet sich die Aussage auf Grund der völligen Neugestaltung des Artikels nicht mehr.) Offen auch U. M. Sieg, Die Schutzauflage im Fachplanungsrecht, 1994, S. 132. 48 s. etwa K. Vieweg, in: M. Herberger/M. Martinek/H. Rüssmann/ S. Weth, JURIS Praxis Kommentar BGB Bd. 2, 4. Aufl., 2009, § 253 Rz. 26 ff., inbes. 29, mit weiteren Nachweisen in Fn. 60.: Die Genugtuungsfunktion rücke den Ersatz immateriellen Schadens in die Nähe einer Privatstrafe, was dem Zivilrecht fremd sei; ähnlich auch C.-W. Canaris, Gewinnabschöpfung bei Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts, in: H. J. Ahrens/C. von Baer/G. Fischer/A. Spickhoff/J. Taupitz (Hrsg.), Festschrift E. Deutsch, 1999, S. 85/107. In der Sache hat allerdings die Rechtsprechung zum Nichtvermögensschaden durchaus Elemente eines Strafschadensersatzes, s. P. Müller, Punitive Damages und deutsches Schadensersatzrecht, 200, S. 259 ff.; differenzierend zum Strafschadensersatz auch Medicus, Neue Perspektiven (Fn. 47), S. 809 ff. – Im öffentlichen Recht greifen diese Erwägungen offenkundig nicht. 49 Daran fehlt es, weil der immaterielle Schaden anders als etwa in den USA wirtschaftlich gesehen kein marktfähiges Gut ist. Das Zivilrecht hat sich allerdings bemüht, bezüglich einer Reihe von Schäden über den Gedanken der Kommerzialisierung immaterieller Schäden das Problem partiell zu lösen, s. dazu mit Nachweisen zu diesbezüglicher Rechtsprechung D. Medicus/J. Luckey, in: H. Prütting/G. Wegen/G. Weinreich, BGB, 8. Aufl., 2013, § 253 Rz. 4 ff. 50 Man darf nicht vergessen, daß die Nicht-Monetarisierbarkeit des Schadens eine Konsequenz der zivilrechtlichen Grundposition ist, die ja auch durch den Gesetzgeber vorgegeben wird und die, wie schon das Bei-

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Der Schaden wird bei dem Verletzten belassen; zum Äquivalent eines in sozialen Beziehungen üblichen Blumenstraußes oder anderen kleinen Entschuldigungsgeschenks mag sich der Staat nicht bequemen. Fehlerfolgen werden (ähnlich wie bei der Rückwirkung von Gesetzen51) schlicht und ziemlich kaltschnäuzig externalisiert. In einer Rechtsordnung, die Konflikte zunehmend auch mit dem Instrument der Kompensation löst, mutet dieser Ausschluß einer Entschädigung gestrig und widersinnig an. 2. Das Gebot der Folgerichtigkeit gesetzgeberischen Handelns Das Gebot der Folgerichtigkeit gesetzgeberischen Handelns wird vor allem mit dem Steuerrecht assoziiert und wurde zentral in der Entscheidung des BVerfG zur Pendlerpauschale und dann in einer ganzen Reihe weiterer steuerrechtlicher Entscheidungen thematisiert;52 es scheint zumindest teilweise an die Stelle des früher (nicht nur im Steuerrecht) genutzten, aus Art. 3 GG abgeleiteten Gebots der Systemgerechtigkeit getreten zu sein.53 spiel der EGMR-Rechtsprechung oder auch das seinerzeitige Staatshaftungsgesetz zeigen, nicht natürlich und alternativlos vorgegeben, sondern durchaus auch anders denkbar sind, man denke etwa an punitive damages, die auch immateriellen Schaden, so etwa den Zeitaufwand der Rechtsverfolgung oder auch den Ärger und Verdruß des Geschädigten ausgleichen sollen, s. dazu Müller, Punitive Damages (Fn. 48), S. 14. 51 Bei der echten Rückwirkung von Gesetzen gibt es die Fallgruppen eines offensichtlichen gesetzgeberischen Fehlers bzw. einer verworrenen Rechtlage, bei denen die echte Rückwirkung nach der Rechtsprechung des BVerfG zulässig ist, weil insoweit kein schutzwürdiges Vertrauen der Normadressaten gegeben sei: BVerfGE 7, 89/93; BVerfGE 19, 187/197; wohl auch BVerfGE 22, 330/348; BVerfGE 30, 367/387 f.; BVerfGE 45, 142/173 f., mit ausführlicher Erörterung der unklaren Situation und des Vorhandenseins von Vertrauen; BVerfGE 72, 200/259; BVerfGE 98, 17/ 39. Auch hier macht die öffentliche Gewalt einen Fehler, trägt aber nicht dessen Konsequenzen. 52 BVerfGE 122, 210. 53 BVerfGE 6, 55/69: „systemwidrige Elemente des Steuerrechts“; s. danach etwa BVerfGE 13, 331/340; BVerfGE 34, 103/115; BVerfGE 59, 36/49; BVerfGE 67, 70/84 f.; BVerfGE 68, 237/253; BVerfGE 81, 156/ 207; BVerfGE 85, 238/247.

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Das Bundesverfassungsgericht hat den Grundsatz der Folgerichtigkeit daneben noch in wahlrechtlichen Entscheidungen54 und auch bei den Freiheitsrechten, konkret beim Nichtraucherschutz55 thematisiert. In der Literatur hat dies zu einer Welle von Veröffentlichungen geführt, die sich vor allem auch mit der Frage beschäftigen, ob es sich hier um eine dogmatische Neuerung handelt und wenn ja, wo ihr dogmatischer Ort ist.56 Eine genauere Analyse der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen zeigt allerdings, daß die Erwartung oder das Gebot an den Gesetzgeber, folgerichtig zu handeln, schon lange vom Bundesverfassungsgericht immer wieder formuliert wird, mal in schon annäherungsweise dogmatisiertet Form, oft aber auch ohne besondere Hervorhebung im Zuge seiner Begründungen.57 Nicht überraschend ist der Inhalt des Gebots bei näherem Hinsehen nicht so recht klar. Das Gebot ist ein Teil der Erwartung der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung und gibt BVerfGE 120, 82/103 f.; s. allerdings schon BVerfGE 1, 208/246 f. BVerfGE 121, 317/344 f.; das BVerfG hatte allerdings schon früher immer wieder das nicht folgerichtige Handeln des Gesetzgebers gerügt, s. etwa das Apothekenurteil, BVerfGE 7, 379/439; ähnliche Argumentationen etwa in BVerfGE 36, 47/63; BVerfGE 115, 276/309 ff., bes. etwa 312. 56 s. z. B. M. Payardeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 ff. – eher kritisch; eher kritisch auch P. Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), S. 630/642 ff. mit dem Versuch, die Rationalitätskontrolle auf ein pragmatisch-prozedurales Verfassungsverständnis herunter zu kochen; positiv und mit dem Versuch einer theoretischen Unterfütterung dagegen C. Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung, Der Staat 49 (2010), S. 77 ff., bes. 91 ff. – Thematisiert wurde die Folgerichtigkeit schon vor der Pendlerpauschale-Entscheidung, s. etwa R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, in: P. Kirchhof/M. Lehner/A. Raupach/M. Rodi (Hrsg.), FS K. Vogel, 2000, S. 293 ff.; K.-A. Schwarz, „Folgerichtigkeit“ im Steuerrecht, in: O. Depenheuer/M. Heinzen/M. Jestaedt, Festschrift J. Isensee, 2007, S. 949 ff.; weitere Nachweise zur Reaktion der Rechtsprechung auf die Entscheidung etwa bei Payardeh, aaO, S. 596 Fn. 87 und 88. 57 s. die eingehende Analyse bei Payardeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit (Fn. 56), S. 581 ff., 589 ff., 603 ff. 54 55

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schon nach der frühen Rechtsprechung des BVerfG dem Gesetzgeber auf, Regelungen so zu gestalten, daß die einem gesetzlichen Reglungsgefüge zugrundeliegenden Prinzipien ihren konsequenten Niederschlag in den einzelnen gesetzlichen Regelungen finden.58 Für das Steuerrecht, mit dem der Grundsatz nach der Pendlerpauschalen-Entscheidung ins allgemeine Bewußtsein kam, hat das BVerfG den Grundsatz auf die Umsetzung von vom Gesetzgeber im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit getroffenen Grundentscheidungen bezogen: Die einmal getroffene Belastungsentscheidung müsse folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umgesetzt werden; Ausnahmen von einer solchen folgerichtigen Umsetzung bedürften eines besonderen sachlichen Grundes.59 Im Wahlrecht spricht das Gericht davon, daß der Gesetzgeber das einmal gewählte Wahlsystem ungeachtet dessen verschiedener Regelungsmöglichkeiten folgerichtig ausgestalten müsse; er dürfe keine strukturwidrigen Elemente einführen.60 Die Geltung des Gebots der Folgerichtigkeit setzt also zunächst einmal die Identifizierung der Grundentscheidung oder des gewählten Systems voraus: das kann erhebliche Schwierigkeiten aufwerfen und vernebelt seinen Inhalt.61 Trotz dieser Schwierigkeiten bei der Identifizierung des Systems möchte ich versuchen, den Gedanken der Folgerichtigkeit auf das Problem der geldlichen Kompensation bei rechtswidrigen Grundrechtseingriffen anzuwenden. Die Bestandsaufnahme hat gezeigt, daß bei einer Reihe von Grundrechten der rechtswidrige (und manchmal sogar der rechtmäßige) Grundrechtseingriff den Staat zu Entschädigungszahlungen verpflichtet, bei anderen Grundrechten aber nicht. Der Wert oder zumindest der Schutz der Grundrechte ist je nach Grundrecht unterschiedlich; BVerfGE 19, 101/116; BVerfGE 21, 160/172. BVerfGE 122, 210/231, unter Verweis auf BVerfGE 99, 88/95 f.; BVerfGE 99, 280/289 f.; BVerfGE 105, 73/126; BVerfGE 107, 27/47; BVerfGE 116, 164/180; BVerfGE 117, 1/31. 60 BVerfGE 120, 82/103 f. 61 s. die beispielhafte Diskussion der Frage, wie denn das System in den zivilrechtlichen Haftungsregelungen identifiziert werden könne, bei Payardeh, Folgerichtigkeit (Fn. 56), S. 590. 58 59

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privilegiert ist vor allem das Eigentum, ohne daß dafür ein rechter Grund ersichtlich wäre.62 Schon das ist, da ein sachlicher Grund der Ungleichbehandlung angesichts der Tatsache, daß bei manchen Grundrechten Genugtuungsentschädigungen gewährt werden, nicht ersichtlich ist, wenig folgerichtig. (Noch eigenartiger mutet es an, daß die rechtswidrige Beschränkung der Berufsfreiheit keinen Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens begründet, wohl aber die gleichheitswidrige Beschränkung der Berufsfreiheit, § 15 Abs. 2 GleichbehandlungsG.) Bei den Entschädigungszahlungen konnten wir zwei Varianten identifizieren: Zum Teil soll die Entschädigungszahlung einen materiellen Schaden ausgleichen; zum Teil hat sie aber auch die Funktion, einen gewissen Genugtuungsausgleich zu gewährleisten, wozu ich auch jene Fälle zählen möchte, in denen zivilrechtsabhängig bzw. in verfassungskonformem Verständnis zivilrechtlicher Positionen auch ein immaterieller Schaden trotz fehlender gesetzlicher Regelung ersatzfähig ist. Die Frage ist, ob diesem Nebeneinander von Entschädigungspflicht und Entschädigungsfreiheit eine sachlich begründete Entscheidung des Gesetzgebers zugrunde liegt. Eine – aus meiner Sicht die einzige – denkbare Systementscheidung des Gesetzgebers zur Frage der Entschädigung bei rechtswidrigen Grundrechtseingriffen könnte darin bestehen daß bei rechtswidrigen Eingriffen in besonders wichtige Grundrechte oder bei besonders tiefgehenden und schweren Grundrechtseingriffen eine Entschädigung zu zahlen ist. Eine überzeugende Rangordnung der Bedeutung der Grundrechte aufzustellen ist sicher nicht möglich: Gleichwohl korreliert, so meine ich, die Pflicht zur Entschädigungszahlung gerade nicht mit der Bedeutung der Grundrechte. Ein System des „ob“ der Entschädigungszahlung bei rechtswidrigen Grundrechtseingriffen ist zumindest für mich nicht erkennbar; die Regelungen scheinen vielmehr zivilrechtlichen, hier und da unwillig63 an das GG angepaßten Prinzipien zu folgen. Folgerichtig ist das nicht und gesetzgeberische Konsistenz ist hier nicht zu So auch Höfling, Primärrechtsschutz (Fn. 24), S. 275. Die „Unwilligkeit“ zeigt sich etwa in den lächerlich niedrigen Tagessätzen bei zu Unrecht erlittener Freiheitsentziehung. 62 63

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entdecken. C. Bumke ist der Meinung, daß die zahlreichen Bezugnahmen des BVerfG auf die Rationalität des Gesetzgebers auf ein allgemeines verfassungsrechtliches Gebot gesetzgeberischer Konsistenz hinauslaufen, dessen Grundlage er im Rechtsstaatsprinzip sieht64 und das durch die wirre Rechtslage bei der Frage der Entschädigungspflicht für rechtswidrige Grundrechtseingriffe wohl verletzt wäre.65 Sei es das Gebot der Folgerichtigkeit oder jenes allgemeine Gebot gesetzgeberischer Konsistenz: Die wirre Rechtslage bei der Entschädigung rechtswidriger Grundrechtseingriffe ist verfassungsrechtlich zutiefst suspekt (und, dies muß einmal gesagt werden, die nun schon 33 Jahre dauernde Weigerung des Gesetzgebers, ein Staatshaftungsgesetz zu schaffen, in dem diese Frage analog dem Staatshaftungsgesetz 1981 konsistent geregelt wäre, schlicht ein Skandal). 3. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet als Konkretisierung des allgemeinen Justizgewährleistungsanspruchs Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt.66 Art. 19 Abs. 4 GG garantiert aber mehr als nur den Rechtsschutz also solchen; er garantiert effektiven Rechtsschutz im Sinne eines Anspruchs auf eine lückenlose, tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle des Handelns der öffentlichen Gewalt.67 Art. 19 Abs. 4 GG gibt der Reglung 64 Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung (Fn. 56), S. 91, 93; s. auch S. 87 ff., die Diskussion der auch hier angesprochenen unterschiedlichen Beispiele mit der Konsequenz einer Neuausrichtung anerkannter Gebote rationaler Gesetzgebung, S. 90. 65 Den von Folgerichtigkeit völlig unberührten Wirrwarr des Rechtes der staatlichen Entschädigungsleistungen kritisiert auch Höfling, Primärer Rechtsschutz (Fn. 24), S. 265 ff. 66 s. z. B. BVerfGE 88, 118/123; BVerfGE 96, 27/39 f.; BVerfGE 107, 395/401; BVerfGE 116, 135/150; weitere spezialgesetzliche Gewährleistungen sind Art. 14 Abs. 3 S. 4 sowie Art. 34 S. 3. GG, s. dazu H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier, Grundgesetz Kommentar Bd. 1 (Fn. 40), Art. 19 IV Rz. 35 . 67 Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar (Fn. 40), Art. 19 Abs. 4 Rz. 80 mit zahlreichen Nachweisen zur Rechtsprechung des BVerfG und der Literatur in Fn. 369.

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des Prozeßrechts durch den Gesetzgeber das Ziel eines wirkungsvollen Rechtsschutzes vor: Die Ausgestaltung muß im Hinblick auf dieses Ziel möglichst geeignet, angemessen und zumutbar sein.68 Rechtsprechung und Literatur haben dieses Gebot eines effektiven Rechtsschutzes nun ausführlich und detailliert auf die unterschiedlichsten Aspekte des gerichtlichen Verfahrens heruntergebrochen, vom Zugang zum Gericht bis zum Instanzenzug, von den Rechtsschutzformen über die zeitlichen und sonstigen Anforderungen an das Gerichtsverfahren bis hin zum Problem der Kontrolldichte bei unbestimmten Rechtsbegriffen und Ermessensentscheidungen.69 Auch die gerichtliche Entscheidung und ihre Umsetzung hat man im Hinblick auf das Gebot der Effektivität des Rechtsschutzes nicht aus den Augen verloren, wenn auch nicht zu verkennen ist, daß im Fokus der Bearbeitung des effektiven Rechtsschutzes nicht die gerichtliche Entscheidung, sondern der Zugang zum Gericht und die Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens stehen.70 Gefordert sei eine Entscheidungsbefugnis des Richters, die die Verletzung des subjektiven Rechts zu beseitigen in der Lage ist.71 Dies impliziere den Erlaß einer rechtskräftigen und vollstreckbaren Entscheidung in der Hauptsache und, bei Feststellung der Rechtswidrigkeit, einen materiell-rechtlichen Beseitigungsanspruch im 68 BVerfGE 60, 253/269; BVerfGE 77, 275/284; BVerfGE 88, 118/ 123 ff.; BVerfGE 109, 279/363 ff.; die Attributierung als „möglichst“ in BVerfGE 103, 142/156; BVerfG-K 4, 1/6, 10. 69 Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar Bd. 1 (Fn. 40), Art. 19 Abs. 4 GG Rz. 90–139. 70 Nimmt man den Bearbeitungsumfang etwa durch Schulze-Fielitz im Kommentar von Dreier als repräsentativen Maßstab, so entfallen gerade mal zwei Randziffern oder eine halbe Seite auf die gerichtliche Entscheidung und ihre Umsetzung (Rz. 138, 139); dem Zugang zum Gericht inklusive der Vorwirkungen auf das Verwaltungsverfahren widmet Schulze-Fielitz dagegen 18 Randziffern oder 10 Seiten (Rz. 87–105, S. 1834– 1843) und der Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens inklusive des Problems der Kontrolldichte immerhin 31 Randziffern oder 13 Seiten (Rz. 106–137; S. 1844–1857). 71 BVerfGE 101, 106/123; Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar (Fn. 40), Art. 19 IV Rz. 138 mit weiteren Nachweisen in Fn. 703.

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Sinne eines wirksamen Sanktionsrechts.72 Der Gedanke, daß einem effektivem Rechtsschutz auch eine Kompensation immateriellen Schadens, einen Ausgleich für die Verunmöglichung der Verwirklichung von grundrechtlichen Freiheiten gut anstünde, ist in der gängigen Literatur nicht zu finden. Es sind zwei Aspekte, die für eine solche Erweiterung der ja bei bestimmten Grundrechten schon existierenden Ansprüche auf eine Genugtuungskompensation für rechtswidrige Grundrechtsbeschränkungen sprechen. Art. 19 Abs. 4 GG garantiert effektiven Rechtsschutz nicht nur um des Schutzes der Rechte des Grundrechtsinhabers willen: Ratio oder gewollter Nebeneffekt der Vorschrift ist ebenso die Setzung eines Anreizes für die Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns durch die Drohung mit dessen gerichtlicher Überprüfung und gegebenenfalls Aufhebung. Dies ist eine kaum noch erwähnte Selbstverständlichkeit des Verständnisses von Art. 19 Abs. 4 GG und gerichtlicher Kontrolle staatlichen Handelns;73 in konkreten Konstellationen wie etwa beim besonderen Rechtsschutzbedürfnis der Fortsetzungsfeststellungsklage tritt dies dann jedoch zu Tage, wenn eben die Wiederholungsgefahr eine Variante dieses besonderen Rechtsschutzbedürfnisses ist.74 Bestünde ein Anspruch auf angemessene Entschädigung bei allen rechtswidrigen Grundrechtsbeeinträchtigungen, so würde dies offenkundig den Anreiz für 72 Von einer verbindlichen Entscheidung sprechen BVerfGE 107, 395/ 401; BVerfGE 113, 273/310; zur Notwendigkeit und Wirksamkeit der Sanktion s. BVerfG-K, NVwZ 1999, 1330/1331; BVerfG-K, NJW 2000, 2187/2187 f.: Rechtsschutz ohne Sanktion als Verkümmerung des Rechtsschutzes/allgemeines Persönlichkeitsrecht; BVerwGE 94, 100/114. 73 s. dazu etwa, allerdings ohne direkten Bezug auf Art. 19 Abs. 4 GG, Greszick, Rechte und Ansprüche (Fn. 24), S. 368; ein konkretes Beispiel ist der vom BGH in ständiger Rechtsprechung anerkannte Anspruch auf Entschädigung in Geld bei Persönlichkeitsverletzungen durch Medienberichte, s. etwa BGHZ 26, 349/354; BGHZ 35, 363/366 f.; BGHZ 39, 124/130 ff.; BGHZ 128, 1/14 ff.: Nachweise zur zumeist kritischen Literatur s. bei Greszick, ebda, S. 368 Fn. 115. 74 s. etwa OVG Lüneburg, NJW 2003, 531/532; VGH München, NVwZ-RR 1997, 375; weitere Nachweise und Darstellung s. bei F. O. Kopp/W.-R. Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. Aufl., 2009, § 113 Rz. 114.

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den Staat und seine Organe, sich rechtmäßig zu verhalten, erheblich verstärken: Die Konsequenzen des geschehenen Unrechts beschränken sich dann eben nicht mehr auf die symbolische Last eines „Dies war rechtswidrig“75, sondern das Unrecht wird, wie auch bei Beeinträchtigungen des Eigentums, teuer, was, wie uns die Ökonomie lehrt, zu Vermeidungsverhalten führt76 (aber auch ohne Ökonomie unmittelbar einsichtig ist)77. Selbst wenn man diesen Entschädigungsanspruch nicht bei allen, sondern nur bei schweren Grundrechtsbeeinträchtigungen gibt, so wie es der Praxis des EGMR und auch der seinerzeitigen Regelung des StaatshaftungsG entspricht, bleibt der Anreiz zur Vermeidung, da die materielle Sanktion ja immer möglich ist. Der zweite Aspekt bricht das restitutionsgeprägte Verständnis des Gebots effektiven Rechtsschutzes auf. Grundsätzliches Ziel des Rechtsschutzes ist die Wiederherstellung des vorherigen Zustandes und bei Vermögensschäden, soweit dies nicht möglich ist, ein materieller Ausgleich für die Nicht-Wiederherstellbarkeit. Der Kompensationsanspruch ist also die Metamorphose des Restitutionsanspruchs. Der materielle Ausgleich bei Vermögensschäden soll dann dem Geschädigten ermöglichen, sich, so 75 Die Ineffizienz solcher feststellenden Urteile beklagt auch Park, Constitutional Tort Action (Fn. 39), S. 448. 76 s. dazu Wagner, Ersatz immaterieller Schäden (Fn. 23), S. 322 zur Präventionsfunktion des Ersatzes immaterieller Schäden bei Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch die Presse, sowie S. 326 zur haftungsrechtlichen Zurückhaltung des deutschen Haftungsrechts bei Tötungen mit Nachweisen zur ökonomischen Analyse von Haftungsregelungen ebda Fn. 91: – Der Gesetzgeber ist sich im Einzelfall dieser Tatsache durchaus bewußt: So soll das Gesetz gegen überlange Gerichtsverfahren vor allem auch eine präventive Wirkung haben, s. BT-Drucksache 17/3802, S. 16. Ob das in diesem Fall allerdings so ist, erscheint wegen der Verzögerung der Sanktion fragwürdig, so Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht (Fn. 1), S. 465. 77 Der Anreiz zum Vermeidungsverhalten entfällt auch deswegen nicht, weil der Staat, anders als ein Privater, auf erhöhte Kosten nicht unbedingt mit Vermeidungsverhalten reagiert, wie dies in den USA für die constitutional torts diskutiert wird, s. Park, Constitutional Tort Action (Fn. 39), S. 400 ff., 403 ff.; weitere Nachweise ebda, S. 393 Fn. 3 sowie S. 394 Fn. 6.

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er will, ein vergleichbares materielles Gut zu beschaffen. Ob der Geschädigte sich tatsächlich ein vergleichbares materielles Gut beschafft, ist allerdings seine freie Entscheidung: Er kann etwa, anstatt sich nach einem Kfz-Totalschaden ein neues Kfz zu beschaffen, sich auch dazu entscheiden, zum Beispiel mit dem erhaltenen Geld einen Urlaub zu finanzieren oder an der Börse zu spekulieren. Bei der rechtswidrigen Verhinderung einer Grundrechtswahrnehmung ist eine Restitution von vornherein nicht möglich (wie im übrigen auch des öfteren bei Vermögensschäden78). In der Konsequenz, so die herrschende Meinung und Rechtsprechung, kann es auch keine Metamorphose zur Kompensation geben (soweit der Gesetzgeber dies nicht ausdrücklich entscheidet). Die Unmöglichkeit der Restitution entlastet also den Schädiger/den rechtswidrig Grundrechte beschränkenden Staat von der Verpflichtung, eine Wiedergutmachung zu leisten, die – als geldliche Kompensation – zwei Funktionen hätte. Sie wäre Ausdruck der Tatsache, wie teuer (!) dem Staat die Grundrechte sind, und sie würde dem in seinen Grundrechten Beeinträchtigten die Möglichkeit geben, sich grundrechtlich anderweitig schadlos zu halten; es sei daran erinnert, daß das BVerfG immer wieder darauf hingewiesen hat, daß das Eigentum Element der Sicherung persönlicher Freiheit und Voraussetzung der Verwirklichung anderer Grundrechte ist.79 Effektiver Rechtsschutz würde dann verstanden als Rechtsschutz, dessen Effizienz sich auch dadurch verwirklicht, daß er dem Betroffenen mehr anbietet als eine „lahme Entschuldigung“. 4. „Unvollkommene Wiedergutmachung“ Ein weiteres Fragezeichen für das Fehlen einer angemessenen Entschädigung ergibt sich aus Art. 41 der EMRK. Wir hatten gesehen, daß der EGMR in vielen Fällen den verletzten Konventionsrechtsinhabern auch eine Entschädigung für den erlittenen 78 Man denke an die Zerstörung einzigartiger und nicht wiederherstellbarer Sachen. 79 s. etwa BVerfGE 50, 290/340; BVerfGE 53, 257/290; BVerfGE 102, 1/15; BVerfGE 104, 1/8.

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immateriellen Schaden zuspricht;80 Voraussetzung dieser Entschädigung ist, daß das innerstaatliche Recht des jeweiligen Staats nur eine unvollkommene Wiedergutmachung der Folgen der Verletzung gestattet. Die Tatsache, daß der EGMR mit einer gewissen Regelmäßigkeit, also nicht nur im Einzelfall bei Verfahren gegen einen Konventionsstaat, konkret die Bundesrepublik Deutschland Entschädigungen zuspricht, impliziert eigentlich, daß das Rechtsystem ein strukturelles Defizit aufweist, das der Vertragsstaat zu beheben verpflichtet wäre und der EGMR, um diese Behebung zu initiieren, in einem Pilotverfahren auf der Grundlage von Art. 46 EMRK thematisieren könnte.81 Die unvollkommen Wiedergutmachung nach innerstaatlichem Recht hat allerdings in der Rechtsprechung des EGMR kaum Bedeutung erlangt, da der EGMR mit dieser Bedingung der Zusprechung einer Entschädigung sehr frei umgeht;82 auf ein entsprechendes Pilotverfahren, das dann offenkundig gegen viele Vertragsstaaten eingeleitet werden könnte, sollte man also nicht warten. Gleichwohl formuliert die EGMR-Rechtsprechung zu Art. 41 EMRK eine nicht überhörbare Frage an den deutschen Gesetzgeber. VI. Schluß Es spricht also einiges – das Verfassungsrecht, die Rechtsdogmatik und auch das Interesse an der Durchsetzung der Grundrechte – für einen allgemeinen Kompensationsanspruch bei rechtswidrigen Grundrechtseingriffen. Das Beispiel des EGMR zeigt, daß ein solcher Anspruch an die Schwere der Grundrechtsbeeinträchtigung gekoppelt werden kann und daß, wenn der Gesetzgeber keine Vorgaben zur Höhe der Kompensation macht, die Gerichte durchaus dazu in der Lage sind, angemessene Maßstäbe für die Höhe des Kompensationsanspruches zu finden. s. die Nachweise in Fn. 32 ff., insbesondere Fn. 36. Als Beispiele solcher Pilotverfahren s. etwa Burdov 2 v. Russia vom 15.1.2009; Ananyev v. Russia vom 10.4.2012. 82 Meyer-Ladewig, EMRK Kommentar (Fn. 35), Rz. 4. 80 81

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Was spricht dagegen oder, richtiger ausgedrückt, was blokkiert die Einführung eines solchen allgemeinen Kompensationsanspruches? Aus meiner Sicht gehen hier zwei Dinge eine sehr unheilige Allianz ein. Auf der einen Seite manifestieren und formulieren sich die fiskalischen Interessen des Staates, die wegen der befürchteten höheren Haushaltsbelastungen eine solche Regelung, ja schon die Diskussion über eine solche Regelung verhindern, wie sie ja, ich wies schon darauf hin, auch in skandalöser Weise eine transparente und angemessene Regelung der Staatshaftung blockieren: Eben jene fiskalischen Interessen, die vom BVerfG wieder und wieder in unterschiedlichen Zusammenhängen als nicht ausreichende oder schwache Rechtfertigung staatlichen Handelns entlarvt und bewertet worden sind.83 Auf der anderen Seite ertönt, gesungen nach einer uralten zivilrechtlichen Melodie, das Lied, daß Geld nicht alles ist und daß die Versagung der Verwirklichung der für das Individuum und den Staat so wichtigen nichtwirtschaftlichen Freiheiten in Geld nicht aufgewogen und durch schnödes Geld nicht ausgeglichen werden kann und deswegen dann doch auch bitte nicht mit dem Ziel der Genugtuung zu entschädigen ist. Dieses Lied singt, diesen Anspruch formuliert auch noch derjenige, den ansonsten die schmerzhafte Pflicht zur Leistung der vermeintlich anrüchigen angemessenen Entschädigung treffen würde. Möge diese unheilige Allianz das verdiente84 Schicksal aller anderen unheiligen Allianzen teilen!

83 s. etwa die Entscheidung zum hessischen Maßregelvollzug, BVerfGE 130, 76/116: allein fiskalische Gründe nicht ausreichend; s. weiter die Sportwetten-Entscheidung, BVerfGE 115, 276/307: rein fiskalische Gründe keine ausreichende Rechtfertigung des Sportwetten-Monopols. 84 Daß alle unheiligen Allianzen letztlich gescheitert sind, will ich damit nicht sagen, sondern nur einen diesbezüglichen Wunsch ausdrücken.

Das Völkerrecht von der Menschheit her denken Einige Überlegungen zu den „global commons“ Von Markus Kotzur I. Die Menschheit in guter Verfassung? Wer das Völkerrecht vom Menschen respektive der Menschheit her denken will, findet in Immanuel Kants philosophischem Entwurf „Zum ewigen Frieden“ (1795) einen wegweisenden Klassikertext und mit Peter Häberle einen längst zum Klassiker der „universalen Verfassungslehre“1 avancierten Wegbereiter. Es genüge heute nicht mehr, das Völkerrecht schlicht als Recht der Staaten oder Völker, als bloßes „Zwischensouveränitätsrecht“ zu begreifen, lautet sein Monitum schon aus den 1990er Jahren.2 Vielmehr sei das Völkerrecht „Menschheitsrecht, das alle Menschen friedlich zusammenführend Schutz verleiht, in ihnen bzw. den Menschenrechten den letzten Geltungsgrund hat.“3 Häberle betont, bei „aller Differenz“, die „Einheit des Menschengeschlechts“ und variiert die berühmt Formel von Herrenchiemsee, wonach der „Staat um des Menschen willen“ 1 P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur. Vorstudien zu einer universalen Verfassungslehre, 2013. 2 Prägend P. Häberle, Das „Weltbild“ des Verfassungsstaates – eine Textstufenanalyse zur Menschheit als verfassungsstaatlichem Grundwert und letztem Geltungsgrund des Völkerrechts, in: FS M. Kriele, 1997, S. 1277 ff. 3 P. Häberle, Nationales Verfassungsrecht, regionale „Staatenverbünde“ und das Völkerrecht als universales Menschheitsrecht: Konvergenzen und Divergenzen, in: ders., Verfassungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher Absicht. Späte Schriften (hrsgg. von M. Kotzur/L. Michael), 2009, S. 231 ff., 232 (für eine weitere Quellenangabe siehe Fn. 12).

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da sei und nicht der Mensch um des Staates willen, völkerrechtsspezifisch: Auch das Völkerrecht, so sein gewiss idealistisches, aber auf die fundierte Exegese völkerrechtlicher Texte gestütztes Credo, „ist um des Menschen willen“ da.4 1. Die Menschheit als Geltungsgrund des Völkerrechts Hinter dieser Fortschrittserzählung einer kontinuierlichen Humanisierung des Völkerrechts verbirgt sich nichts anderes als Kants Formel, wonach „der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen“ als „Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauch für diesen oder jenen Willen“ existiere und deshalb in „allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden“ müsse.5 Der Mensch ist daher der erste und letzte Grund allen Rechts und jeder Rechtsordnung – auch der Völkerrechtsordnung.6 Aus diesem Grunde mögen die Bedürfnisse und Erwartungen der Menschheit als solcher7 auch geeignet sein, eine materielle Rechtsquelle auszubilden, wo es an einer „single overarching authority“ fehlt und die normativ verbindlichen Regelungen nicht auf einen einheitlichen Souverän, einen zentralen „Weltgesetzgeber“ zurückgehen.8 Die in der Völkerrechtsordnung wirksam werdende legitimierende Kraft („the power of legitimacy“9), so ließe sich folgerichtig argumentieren, hinge damit ab von einer Humanisierung Ebd. I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785, Erster Abschnitt, AA IV 428. 6 In diesem Sinne Ph. Allott, Reconstituting Humanity – New International Law, European Journal of International Law 3 (1992), S. 219 ff.; vorher schon – im Titel ebenso programatisch wie emphatisch – ders., Eunomia – New Order for a New World, 1990. 7 Heute schon klassisch C.W. Jenks, The Common Law of Mankind, 1958; siehe auch A. A. Cançado Trindade, International Law for Humankind: Towards a New Jus Gentium, 2010; weiterhin B. de Sousa Santos, Towards a New Legal Common Sense, 2002. 8 J. Klabbers, International Law, 2013, S. 9. 9 Th. M. Franck, The Power of Legitimacy among Nations, 1990. 4 5

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des Völkerrechts, einer „humanization of International Law – in which human rights constitute the basic foundation of the legal order“.10 Die Menschenrechte wären die primäre konstitutionelle Grundlage der solchermaßen vom Menschen her legitimierten Ordnung, die Menschheit als solche wäre ihr erster und letzter Bezugspunkt, ihre prima und zugleich ultima causa. Die relevanten Bedürfnisse der Menschheit oder, noch basaler formuliert, die Dinge, die die Menschheit insgesamt angehen, sind vielfältig. Hier nur einige zentrale Beispielsfelder: der schon erwähnte Menschenrechtsschutz, das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die nachhaltige Entwicklung, der Umweltschutz, die globale Abrüstung, die weltweite Armutsbekämpfung, der effektive Flüchtlingsschutz respektive die verantwortungsbewusste Migrationssteuerung, nicht zuletzt die rechtliche Einhegung der Datenströme im world wide web.11 a) Idealistisch gedacht: Menschheitsgewissen und Menschheitsbewusstsein Vertreter einer solchermaßen menschheitsorientierten und von den Bedürfnissen der Menschheit her angelegten Völkerrechtskonzeption12 verweisen mitunter auf ein universales „juridical conscience“ als die „ultimate material source of law“13. Sie tun das durchaus im Bewusstsein der begrifflichen Ambivalenz von „conscience“, ein Terminus, der „Bewusstsein“ ebenso wie „Gewissen“ umgreift. So heißt es bei A. A. Cançado Trindade:

10 A. A. Cançado Trindade, International Law for Humankind: Towards a New Jus Gentium, 2010, S. 28. 11 Zur Hungerbekämpfung im Kontext des Syrien-Konflikts jüngst M. Bothe, Die Waffe Hunger, in: SZ vom 03.02.2013, S. 9. 12 Wiederum P. Häberle, Nationales Verfassungsrecht, regionale „Staatenverbünde“ und das Völkerrecht als universales Menschheitsrecht: Konvergenzen und Divergenzen, in: C. Gaitanides/M. Kadelbach/G. C. Iglesias (Hrsg.), Festschrift für M. Zuleeg, 2005, S. 80 ff. 13 A. A. Cançado Trindade, International Law for Humankind: Towards a New Jus Gentium, 2010, S. 144.

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„The conceptions of common heritage and of common concern of mankind embody universal solidarity and social responsibility (. . .), emanate from human conscience (. . .), reflect basic values of the international community as a whole (rather than State interests), and strengthen the notion of an international ordre public (rather than a fragmented contractual vision). They do so in order to face the new global challenges to the international community as a whole, and indeed to all humankind (. . .).“14

Die dahinter stehende (Rechts-)Behauptung ist weitgehend: allgemeine Rechtsprinzipien, wenn nicht sogar allgemeine Grundsätze des Völkerrechts im Sinne von Art. 38 Abs. 1 lit. c IGHStatut erscheinen als Emanationen des „human conscience“, als normativ verbindliche Konsequenzen des „Menschheitsgewissens“ und des „Menschheitsbewusstseins“. Die Judikatur des IGH liefert für diese Deutung immerhin Anhaltspunkte. Das „conscience of mankind“ ist Argumentationstopos in dem berühmten Gutachten zur Völkermordkonvention aus dem Jahre 1951 (Advisory Opinion on Reservations to the Convention against Genocide).15 Ein Menschheitsgewissen mag auch – im Sinne der Barcelona Traction-Rechtsprechung des IGH16 – von den grundlegenden Werten der internationalen Gemeinschaft als solcher widergespiegelt werden.17

14 Ebd. Trinidade verweist dabei auf seine Sondervoten in: Inter-American Court of Human Rights [IACtHR], case of the Massacre of Plan de Sanchez versus Guatemala (merits, Judgment of 29.04.2004), Separate Opinion of Judge A. A. Cançado Trindade, Rn. 13, sowie Advisory Opinion n. 18 (of 17.09.2003), on the Juridical Condition and Rights of Undocumented Migrants, Concurring Opinion of Judge A. A. Cançado Trindade, Rn. 21–30. 15 ICJ Reports (1951) S. 23. 16 Case concerning the Barcelona Traction, Light and Power Co Ltd, New Application: 1962, Belgium v Spain, Second Phase [1970] ICJ Rep 3. 17 B. Simma, From Bilateralism to Community Interest in International Law, 250 Recueil des Cours de l’Academie de Droit International de La Haye [RCADI] (1994), S. 289 ff.; C. Tomuschat, Obligations Arising for States without or against Their Will, 241 RCADI (1993), S. 224 ff.; A. Paulus, Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht. Eine Untersuchung zur Entwicklung des Völkerrechts im Zeitalter der Globalisierung, 2001.

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Damit aber beginnen erst die kritischen Fragen. Die Berufung auf ein (wenn nicht gar die Beschwörung eines) Weltgewissen(s) ist gewiss von Idealismus und Emphase getragen, bleibt konzeptionell aber aus vielen Gründen unbestimmt. Die Scheidung von Gewissen und Bewusstsein berührt Grundlagenfragen von Psychologie, Ethik, Philosophie und Erkenntnistheorie, denen sich der Jurist zwar öffnen kann (und sollte), die sich aber nur schwerlich zur Begründung normativer Verbindlichkeit werden aktivieren lassen. Vorgelagert ist aber noch das Problem, ob überhaupt so etwas wie ein universeller Begriff des Rechts und damit eine universelle Rechtsordnung existiert (respektive existieren kann). Gibt es ein „Weltrecht“ wenigstens in statu nascendi18, als dessen (werdende) legitimatorische Grundlage Menschheitsbewusstsein und Menschheitsgewissen taugten? Wenn dem so wäre, könnte dann, um an Abraham Lincolns berühmte „Gettysburg Address“ 19 mit ihrer Scheidung von Input- and Output-Legitimation anzuknüpfen, eine (Welt-)Rechtsordnung „of humankind, by humankind, and for humankind“ von Menschheitsbewusstsein und Menschheitsgewissen her gedacht werden? Kritiker mögen rasch verneinend den Kopf schütteln, wenn universelle Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung auf eine so schwer fassbare, so wenig greifbare und nicht zuletzt vorverständnisbelastete20 Legitimationsquelle gestützt werden sollen. In der Tat könnten gemeinsame universelle Werte, gemeinsame moralische Prinzipien, gemeinsame Rechtsstandards, die die Idee eines Menschheitsgewissens/Menschheitsbewusstseins ja zur impliziten Voraussetzung hat, schnell als eurozentrische Utopie entlarvt werden.21 Das Menschheitsbewusstsein/Mensch18 A. Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht, 2007; M. Kotzur, Weltrechtliche Bezüge in nationalen Verfassungstexten, in: Rechtstheorie 39 (2008), S. 191 ff. 19 Abgedruckt in A. Lincoln, Speeches and Writings 1859–1865: Speeches, Letters, and Miscellaneous Writings, Presidential Messages and Proclamations, 1989, S. 536 ff. 20 J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972; H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 5. Aufl. 1986, S. 281 ff. 21 Allgemein A. Peters, Realizing Utopia as a Scholarly Endeavour, European Journal of International Law 24 (2013), S. 533 ff.

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heitsgewissen liefe Gefahr, jenem Sendungsbewusstsein Vorschub zu leisten, hinter dem manche schlicht einen westlichen Werteoktroi oder gar machtgeleiteten „Menschenrechtsimperialismus“ versteckt sehen. b) Realistisch gedacht: Die global vernetzte Menschheit Weit weniger anspruchsvoll und vorbelastet ist eine andere Annäherung an die Menschheit als Nukleus des Völkerrechts. Zu einem guten Teil reagiert die heute intensivere Menschheitsorientierung lediglich auf neue Wirklichkeitsbefunde. Sie ist, jedenfalls in gewissem Maße, unvermeidbare Konsequenz der Globalisierung und ihrer menschheitsbezogenen Phänomene, ihrer die Menschheit notwendig betreffenden Konsequenzen.22 Wirklichkeitsgeleitete Völkerrechtswissenschaft23 muss die Menschheit schon deshalb und nicht aus reinem Idealismus oder der Lust an Theoriebildung in luftigen Höhen ernst nehmen. Oft wurden die relevanten weltweiten Abhängigkeiten, Vernetzungen und Verflechtungen, wurde das „Aufeinander-Angewiesensein“ im „global village“ beschrieben: auf den Feldern der Technologie, der Ökonomie und Ökologie, der Politik etc. Es sind diese Befunde, die die traditionell staatszentrierten Kategorien im Nachdenken über die Legitimationsgrundlagen von politischer Willensbildung sprengen und den Staat im wahrsten Sinne des Wortes menschheitlich transzendieren. All das bedingt Gewissheitsverluste in der bisherigen Theoriebildung und richtet den Blick auf das vom Staat Losgelöste, notwendig Universelle hin. 22 P. Häberle, Menschenrechte und Globalisierung, JöR 55 (2007), S. 397 ff.; S. Sassen, A Sociology of Globalization, 2007; A. MacGillivray, A Brief History of Globalization, 2006; P. Zumbansen, Spiegelungen von Staat und Gesellschaft: Governance-Erfahrungen in der Globalisierungsdebatte, in: ARSP, Sonderheft 79, 2001, S. 13 ff.; Th. L. Friedmann, The Lexus and the Olive Tree. Understanding Globalization, 1999; R. Dahrendorf, Anmerkungen zur Globalisierung, in: U. Beck (Hrsg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, 1998, S. 31 ff. 23 H. Heller, Staatslehre, 1934, S. 37 ff.; dazu A. Dehnhard, Dimensionen staatlichen Handelns, 1996, S. 50 ff.; P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 176, 242 f., 343 f.

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Damit freilich ist schon das nächste Problem benannt. Die schlichte Berufung auf das feierliche Pathos der Universalität greift in ihren Beschreibungs- wie Erklärungsgehalten zu kurz. Im Gegenteil: Wer sich mit dem Verweis auf diffusen Wirklichkeitswandel emphatisch auf den „einen blauen Planeten“ bezieht und „Globalisierung“ als allzu pauschale Blaupause für seine Universalitätsbehauptungen ins Feld führt, macht sich verdächtig. Das gilt erst recht für den, der diese Universalitätsbehauptungen durch die Idee einer Verfassung für die gesamte Menschheit abzustützen versucht. Tut er es, ohne tragfähige Argumente für Verfassungsqualität anführen zu können, bleibt er die entscheidenden Antworten schuldig. Tut er es, ohne das anspruchsvolle Attribut der Verfassung in ihren materiellen Gehalten, institutionellen Ausgestaltungen und prozeduralen Absicherungen rechtfertigen zu können, betreibt er ein rein semantisches Glasperlenspiel. 2. Eine von der Menschheit her gedachte Konstitutionalisierung des Völkerrechts In der Völkerrechtslehre der letzten Dekaden hat eine intensive, ebenso variantenreiche wie kontroverse Diskussion um globale Konstitutionalisierungsprozesse und Formen des vom Staat losgelösten Konstitutionalismus stattgefunden.24 An einem auch nur annähernd einheitlichen Verständnis dessen, was mit Konstitutionalismus oder – in abgeschwächter Form – Konstitutionalisierung gemeint ist, fehlt es aber. Zur vorläufigen Standortbestimmung seien zwei Dichotomien vorgeschlagen: „Losgelöster Konstitutionalismus/losgelöste Konstitutionalisierung“ (A. Wiener/S. Oeter sprechen von „constitutionalism unbound“, unten Fn. 32) kann einmal als Chiffre dafür gedacht werden, dass vormals rein staatlich gebundene Verfassungsstrukturen 24 Th. Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht, 2012; M. Avbelj/J. Komárek (Hrsg.), Constitutional Pluralism in the European Union and Beyond, 2012; J. Klabbers/A. Peters/G. Ulfstein, The Constitutionalization of International Law, 2009; J. L. Dunoff/J. P. Trachtman (Hrsg.), Ruling the World? Constitutionalism, International Law and Global Governance, 2009.

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nun in den Raum jenseits des Staates übertragen und damit von staatlicher Souveränität, einem spezifischen Territorium und einem bestimmten Staatsvolk losgelöst werden. Er kann aber auch auf einen Prozess ganz autonomer, niemals staatsgebundener Entwicklung von transnationalen Verfassungsstrukturen verweisen. Mit dem Konzept eigenständiger, vom Staat losgelöster Konstitutionalisierungsprozesse kann ferner der Versuch verbunden sein, gegenwärtige Transformationen im internationalen Recht, der internationalen Politik und den internationalen Beziehungen deskriptiv zu erfassen, ihnen beschreibend eine gewisse Konstitutionalisierungsdynamik zuzuschreiben. Sehr viel weiter ginge demgegenüber die Absicht, solche Transformationen mit dem Konstitutionalisierungsmodell zugleich auch zu erklären und legitimatorisch an eine vom Staat losgelöste verfassunggebende Gewalt rückzubinden. Mit Blick auf die letztgenannte Variante genügt es gewiss nicht, Verfassungskonzepte semantisch in Völkerrechtskonzepte zu übersetzen und Strukturanalogien zu unterstellen, wo strukturelle Divergenzen offensichtlich sind.25 Der Ausgangspunkt muss, wie bereits skizziert, vielmehr die nüchterne Beobachterperspektive bleiben. Zu beobachten sind dabei nicht nur globalisierungsbedingte Veränderungen – bis hin zu Paradigmenwechseln – in den internationalen Beziehungen, zu beobachten sind vielmehr auch Veränderungen des rechtlichen Rahmens der internationalen Beziehungen – und zwar gerade bedingt durch diese Globalisierungsprozesse.26 Die Veränderungen in der normativen Architektur der Weltgemeinschaft scheinen für den Beobachter über die ihm vertrauten Internationalisierungsprozesse herkömmlichen Zuschnitts hinauszugehen und zwar sowohl 25 A. Segura-Serrano, The Transformation of International Law, Jean Monnet Working Paper 12/09, accessible online: httpp://centers.law.nyu. edu/jeanmonnet/papers (zuletzt besucht am 03. Januar 2014). Der Autor verweist (S. 3) dabei auch auf Transformationsprozesse innerhalb der Europäischen Union und den „conceptual apparatus“, dessen sie bedürfen. Siehe auch J. H. H. Weiler, The Transformation of Europe, 100 Yale L. J. 2403 (1991). 26 M. Albert, Globalization Theory: Yesterday’s Fad or More Lively Than Ever?, in: International Political Sociology (2007), S. 165 ff.

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quantitativ als auch qualitativ. Er erkennt Machtverschiebungen – z. B. weg vom Staat hin zu Internationalen Organisationen, aber auch privaten Akteuren wie Nichtregierungsorganisationen und transnationalen Unternehmen, er bleibt aber vorläufig noch unsicher, zu welchen neuen rechtlichen Regimen (weniger anspruchsvoll: Arrangements oder Konstellationen) diese Verschiebungen führen und ob die neu entstehenden Regime konstitutionelle Qualität für sich beanspruchen können. II. Die Verfassungsidee als Matrix: Machtverschiebungen, neue verfassunggebende Gewalten 1. Verfassungsqualität und die „verfassunggebende Gewalt“ der Menschheit Ist von Verfassungsqualität die Rede, stellt sich die Frage nach deren Indikatoren. Vom klassischen Konstitutionalismus herkommend ist die „verfassunggebende Gewalt“ eine erste maßgebliche Größe.27 Dass die einmalige Betätigung verfassunggebender Gewalt bloße Fiktion und letztlich ein Schöpfungsmythos ist, hat die Verfassungslehre längst erkannt.28 Damit ist die Größe „verfassunggebende Gewalt“ aber noch nicht obsolet geworden, weil jede konstitutionelle Ordnung wenigstens eines Referenzsubjekts bedarf, das für ihre eigene Legitimation – ihre selbstbestimmte Selbstermächtigung – unverzichtbar ist. Der nationale Verfassungsstaat demokratischer Provenienz erkennt im Volk den maßgeblichen Träger der ihn konstituierenden verfassunggebenden Gewalt, ohne damit die Frage zu beantworten, wie deren Betätigung exakt konzipiert werden kann. Er kann sich aber immerhin an relativ eindeutigen Parametern dieser verfassunggebenden Gewalt orientieren: der Rückführbarkeit auf 27 Etwa Ch. Möllers, Verfassunggebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung, in: A. v. Bogdandy/J. Bast, Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 227 ff.; Ch. Winterhoff, Verfassung – Verfassunggebung – Verfassungsänderung, 2007. 28 Ausführlich L. Michael, in: Bonner Kommentar, Art. 146 (Aktualisierung Nov. 2013), Rn. 289 ff.

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den politisch agierenden demos, der Einhaltung materieller Garantien (Grundrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit etc.), der Ermöglichung durch spezifische Verfahren oder schlicht der nachfolgenden Akzeptant durch die verfasste politische Gemeinschaft.29 Losgelöst vom Staat bleiben solche Parameter freilich sehr viel diffuser, es kommen multiple potentielle Träger „verfassunggebender Gewalt“ ins Spiel und es stellt sich die Frage, ob es so etwas geben kann wie eine „verfassunggebende Gewalt“ der Menschheit als solcher. Die Realität im global village ist freilich sehr viel komplexer als dass sich die Menschheit als offensichtliche Kandidatin für eine potentielle Trägerschaft von „pouvoir constituant“ aufdrängte. Worin besteht diese Komplexität? Primär in der Loslösung von einer zentralen souveränen Gewalt.30 Die Stelle dieser Zentralgewalt kann die Menschheit als bloße Chiffre, als ideale Zuschreibungsadressatin nicht einnehmen, weil die Akteure, die hinter der Kategorie Menschheit stehen, noch sehr viel differenzierter, kulturell heterogener, in ihrer Wirkungsmacht schwerer erfassbar, schlicht diffuser sind als die hinter der Kategorie „Volk“. Eine Selbstermächtigung der Menschheit ist weder praktisch vorstell- noch theoretisch ohne weiteres konstruierbar.31 Die Spurensuche nach „verfassunggebender Gewalt“, prä29 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995 (Neudruck 1999), Rn. 42; L. Michael, in: Bonner Kommentar, Art. 146 (Aktualisierung Nov. 2013), Rn. 311. 30 N. Krisch, Beyond Constitutionalism. The Pluralist Structure of Postnational Law, 2010. 31 Erinnert sei in diesem Zusammenhang an eine vielzitierte Beobachtung von J. Delbrück, Exercising Public Authority Beyond the State: Transnational Democracy and/or Alternative Legitimation Strategies, Indiana Journal of Global Legal Studies 10 (2003), S. 29 ff., 29: „In our time, dealing with the problem of the legitimacy of public authority has become additionally complicated because under the impact of globalization – understood as a process of denationalization – public authority is no longer exclusively exercised within clearly defined territorial entities, i. e. within the sovereign states. Rather, the ,production of public goods‘ or the performance of hitherto genuinely state tasks, like external security and economic and social welfare, has been shifted, in part, to international and sometimes supranational non-state entities that are constituted

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ziser nach einem transnationalen Äquivalent dazu, hat also sehr viel vorsichtiger und vielfaltsbewusster vorzugehen. Das Denken in der Kategorie der Verfassung ist hier vielmehr das Denken in Form einer Matrix. Nur von einer Matrix zu sprechen, hat gute Gründe. Eine Matrix erklärt noch nicht, welchen qualitativen normativen Transformationsprozessen das internationale Recht und die internationalen Beziehungen unterworfen sind. Eine Matrix behauptet noch nicht die Setzung durch eine bestimmte, mit Setzungsmacht ausgestattete Gewalt. Eine Matrix will vielmehr den Analyserahmen für die Beobachtung und die anschließende Neuvermessung der Welt jenseits des States vorgeben. Sie will erfassen, was die Literatur wie folgt beschreibt: „the puzzling co-evolution of constitutionalisation and contested compliance in the global realm“.32 2. Multiple „verfassunggebende Gewalten“ Ideengeschichtlich ist der Sprung in eine vom Staat losgelöste, konstitutionell geordnete Welt gewagt. Dass der Konstitutionalismus entwicklungsgeschichtlich in der Amerikanischen und Französischen Revolution gründet und sich nicht von den konkreten historischen Ereignissen um 1776 und 1789 lösen lässt, bedarf kaum der Begründung.33 Darum geht es der konstitutionellen Matrix auch gar nicht. Sie will nicht das Vorgefundene aus seinem historischen Wurzelgrund reißen und seine Kontingenz bestreiten. Sie bindet sich weder an politische Revolutionen noch ideengeschichtliche Traditionen. Als Matrix bleibt die Verfassungsidee territorial ungebunden. Sie ist losgelöst nicht nur vom Staat, sondern auch von der europäisch-atlantischen Denktradition, von spezifischen Rechtskulturen und spezifiby States, but have their own legal status and capacity to act alongside the states.“ 32 A. Wiener/S. Oeter, Constitutionalism Unbound. Framework Paper (unveröffentlicht). 33 P. Häberle, 1789 als Teil der Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Verfassungsstaates, in: H. Krauß (Hrsg.), Folgen der Französischen Revolution, 1989, S. 61 ff.

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schen (europäischen) Paradigmen. Die Matrix ist ein Angebot an die globalisierte Welt, sich selbst neu zu entdecken und neu zu beschreiben. So wenig der Konstitutionalismus ein unangefochtenes Paradigma ist, so sehr hat die konstitutionelle Matrix doch universelles Potential.34 Um dieses zu nutzen, darf sie die Suche nach einer für sie letztlich relevanten Form von „pouvoir constituant“ nicht ausblenden Eine Stärke der konstitutionellen Matrix liegt auch darin begründet, dass sie den Blick auf die zentralen Funktionen von Verfassung freigibt: die Begründung und Begrenzung hoheitlicher Gewalt ganz gleich, ob sie staatlich gebunden oder teils weniger stark, teils stärker, teils gänzlich losgelöst vom Staat ausgeübt wird. Indes bleibt auch bei funktioneller Betrachtungsweise die Frage nach der Autorität, die Macht begründen und im Moment ihrer Begründung sogleich wieder begrenzen kann, entscheidend.35 Für den demokratischen Verfassungsstaat ist der Nexus von verfassunggebender Gewalt und „We, the people“ evident. Die US-amerikanische Bundesverfassung liefert das klassische Beispiel. Wird hoheitliche Macht indes losgelöst vom Staat und von nichtstaatlichen Akteuren ausgeübt, verliert der Nexus seine Evidenz und wird fragil. Die Frage nach der verfassunggebenden Gewalt stellt sich neu, ohne ein evidentes Referenzsubjekt ausweisen zu können. Nicht einmal die Charta der Vereinten Nationen wagt in ihrer Präambel36 ein emphatisches „We, humankind“ – und in der Tat war das „We, the People of the United Nations“ Wagnis genug.

34 Th. Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht, 2012; M. Avbelj/J. Komárek (Hrsg.), Constitutional Pluralism in the European Union and Beyond, 2012. 35 M. Kumm, The Legitimacy of International Law: A Constitutional Framework of Analysis, 15 European Journal of International Law (2004) 5, 907; R. Wolfrum, Legitimacy in International Law, in: Liber Amicorum Hanspeter Neuhold, 2007, S. 471 ff. 36 P. Häberle, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: J. List/H. Schambeck (Hrsg.), FS Broermann, 1982, S. 211 ff.

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3. Multiple Akteure, die im Namen der Menschheit „verfassunggebende Gewalt“ beanspruchen – ein erster Blick auf die „global commons“ Damit zurück zur Ausgangsfrage. Die Menschheit in abstracto taugt nicht als Trägerin einer wie auch immer gearteten verfassunggebenden Gewalt. Indes könnte ihr von der Bedürfnisseite her – das Stichwort „concerns of all humankind“ – zuwachsen, was das Legitimationspotential verfassunggebender Gewalt ausmacht. Darum geht es auch den vorgestellten Ansätzen zu einem Menschheitsgewissen oder Menschheitsbewusstsein. Doch wie lässt sich ein effektives Gebrauchmachen dieses Legitimationspotentials denken? Welcher Verfahren und Akteure bedürfte es dazu? Hilft ein Trust-Modell weiter: „acting on behalf of all humankind“? Der Trust-Gedanke lenkt den Blick auf ein Referenzgebiet, das für die hier aufgeworfenen Grundsatzfragen erste Aufschlüsse geben könnte: die „global commons“37. Es gibt Güter, die als eine Art ursprünglichen Gemeinbesitzes38 der Menschheit als solcher anvertraut sind, die den Bedürfnissen der Menschheit als solcher korrespondieren (die englischsprachige Wissenschaft spricht von einem „needs-based approach“) und die den Allgemeininteressen der Menschheit dienen („interest-based approach“).39 Die völkerrechtlichen Regime zur Regelung dieser „commons“ nehmen implizit auf die Menschheit als ihr legitimatorisches Referenzsubjekt, als ihre „constituent power“ Bezug (davon sogleich III.). M. Risse führt die heute völkerrechtlich aktivierte Idee des „ursprünglichen Gemeinbesitzes“ ideengeschichtlich zurück auf die politische Philosophie des ausgehenden 17. Jahrhunderts, insbesondere auf Klassiker40 wie Grotius, Hobbes, Pufendorf,

37 W. Durner, Common Goods – Statusprinzipien von Umweltgütern im Völkerrecht, 2001. 38 Jetzt monographisch aufbereitet bei M. Risse, On Global Justice, 2012. 39 Vgl. etwa L. Doyal/I. Gough, A Theory of Human Need, 1991. 40 P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981.

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Selden, Filmer oder Locke.41 Die historischen Rahmenbedingungen im Zeitalter der Entdeckungen waren ein maßgeblicher Anlass für deren konzeptionelle Hinwendung zu dem, was der Menschheit als solcher gemeinsam gehört. Europa hatte die Seewege in weit entfernte Erdteile entdeckt und suchte nach Argumentationsmustern, einen Anspruch auf diese Erdteile, vor allem auf deren reiche Ressourcen rational zu begründen. Europäischen Machtanspruch galt es mit der Kraft der Vernunft zu behaupten, europäischen Einfluss galt es effektiv zu sichern.42 Europa wollte freilich mehr als seinen fairen Anteil an dem Gemeinbesitz der Menschheit. In Zeiten des Kolonialismus diente er als prekäres Argument für Anspruchs- und Souveränitätsbehauptungen. Heute sind es umgekehrt prekäre Gefährdungen des gemeinsamen Menschheitserbes43, die den Gedanken des ursprünglichen Gemeinbesitzes nun zur Begründung gemeinsamer Verantwortung nutzen und Ressourcenverbrauch dadurch nachhaltig begrenzen wollen. Die Rechtsregime betreffen den Weltraum, die Hohe See, den Meeresboden, die Antarktis oder das kulturelle Menschheitserbe. Sie limitieren Anspruch und Zugriff, weil sich die Menschheit der Begrenzung ihrer natürlichen Ressourcen und der Gefährdung ihrer (ökologischen) Lebensgrundlagen immer bewusster wird.44 Die moralische Signifikanz dieser neuen Menschheitsorientierung steht außer Frage. Daraus folgt aber weder eine eindeutige M. Risse, On Global Justice, 2012. Ebd. 43 R. Wolfrum, Common Heritage of Mankind, in: Max Planck Encyclopedia of International Law (Online-Ausgabe ), 2009; S. Paquerot, Le statut des ressources vitales en Droit international – Essai sur le concept de patrimoine commun de l’humanite, 2002; K. Baslar, The Concept of the Common Heritage of Mankind in International Law, 1998; W. Stocker, Das Prinzip des Common Heritage of Mankind als Ausdruck des Staatengemeinschaftsinteresses im Völkerrecht, 1992; A. Blanc, El Patrimonio Comun de la Humanidad – Hacia un Regimen Juridico Internacional para Su Gestion, 1992. 44 J. Passmore, Man’s Responsibility for Nature: Ecological Problems and Western Traditions, 1974; H. Arendt, The Human Condition, 1958, S. 2. 41 42

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normative Konsequenz noch ein automatisches Aufrücken der Menschheit in die Rolle einer wie auch immer gearteten „verfassunggebenden Gewalt“. Es sind, wie gerade gezeigt, ja ganz unterschiedlich Rechtsregime vom Weltraum bis zum kulturellen Welterbe, von ganz unterschiedlichen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren ausgehandelt, die zwar mitunter im Namen der Menschheit auftreten, Vollmacht aber nur idealiter, nicht realiter auf diese zurückführen können. Mitunter werden durch emphatischen Menschheitsbezug auch nur egoistische Machtinteressen semantisch verbrämt. Der demokratische Verfassungsstaat kennt Institutionen und Verfahren, um seinen „Souverän“ handlungsmächtig zu machen und die Partizipation der Legitimationssubjekte zu sichern. Dem Völkerrecht fehlen jedenfalls strukturanaloge prozedurale Mechanismen der Legitimationsableitung, Machtrationalisierung und Teilhabeermächtigung mit Blick auf die Menschheit. Eine zentrale Herausforderung bleibt vor allem, wie (wessen?) chancengleiche Partizipation gesichert, wie Rechtsbehauptungen legitim erhoben oder bestritten, wie Rechtsbefolgung gesichert werden können/kann. Konzepte wie ein „common law of all mankind“45 oder „Menschheitsrecht“46 könnten indes auch auf die Idee einer stillschweigend (impliziten oder konkludenten) Ausübung verfassunggebender Gewalt verweisen, ohne über den Menschheitsbezug hinaus Verfahren und Akteure explizit zu benennen. Für das klassisch auf Staatenkonsens abstellende Völkerrecht bleibt ein solches Modell hochproblematisch. Jenseits des Staatenkonsenses mag es aber so etwas wie ein universelles Bewusstsein für die Grundbedürfnisse und Interessen der Menschheit geben, das wenigstens die „Fiktion“ einer menschheitsimmanenten verfassunggebenden Gewalt grundlegen könnte. Doch selbst unter der Prämisse, ein solches Bewusstsein genügen zu lassen, bedürfte es hinreichender Kriterien und Maßstäbe für seine Bemessung, C. W. Jenks, The Common Law of Mankind, 1958. P. Häberle, Nationales Verfassungsrecht, regionale „Staatenverbünde“ und das Völkerrecht als universales Menschheitsrecht: Konvergenzen und Divergenzen, in: C. Gaitanides/M. Kadelbach/G. C. Iglesias (Hrsg.), Festschrift für M. Zuleeg, 2005, S. 80 ff. 45 46

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bedürfte es äußerer, greifbarer Manifestationen: es bedürfte eindeutig formulierter Rechtsbehauptungen oder eindeutigen Bestreitens vormals formulierter Rechtsbehauptungen. Klar ist bislang nur eines: das überkommene, mehr oder weniger exklusiv auf den Konsens souveräner Staaten abstellende Völkerrecht (mit der Konsequenz, Staaten nicht gegen deren Willen binden zu können) verliert mehr und mehr an Überzeugungs-, ja „Lebenskraft“. Neue Akteure erscheinen auf der völkerrechtlichen Bühne und formen neue – vom Staat (territorial) losgelöste und damit auch vom Staatenkonsens abgelöste – Formen der „network governance“.47 Diese neuen, höchst einflussreichen Akteure sind in der Lage, neben den Staaten Bedürfnisse der Menschheit als solcher zu artikulieren, im Namen der Menschheit zu agieren. Die Validität dieser Behauptung „to act on behalf of humankind“ ist dabei aber zunächst völlig offen. Die legitime „Ermächtigung“ zu dieser Behauptung steht in Zweifel. Nicht in Zweifel steht demgegenüber, dass die Frage nach der legitimen Ermächtigung weder innerhalb der tradierten völkerrechtlichen Kategorien noch rein staatsgebunden beantwortet werden kann. Eine amorphe globale Zivilgesellschaft bestehend aus Nichtregierungsorganisationen, Transnationalen Unternehmen, sozialen Netzwerken (Stichwort Internet), Interessen- und Lobbygruppen beansprucht Rechtsetzungsmacht – und setzt de facto Recht – jenseits der herkömmlichen staatlich verfassten Rechtsetzungsinstrumente bzw. -verfahren.48 Diese schlichte Beobachtung bedingt Fragen sowohl kognitiver (Wer hat hinreichende Beteiligungschancen und Durchsetzungsmacht, um Einfluss auf Prozesse der Netzwerk-Governance nehmen zu können?) als auch normativer Art (Wie und anhand welcher Kriterien lässt sich die legitime Handlungsermächtigung der vielfältigen Akteure bemessen? Wie kann ihnen Verantwortung für die Ergebnisse ihres Tuns zugerechnet werden?). Mit Bezug auf die Menschheit und deren gemeinsames

47 48

J. Klabbers, International Law, 2013, S. 40. Ebd., S. 304.

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Erbe lassen sich immerhin zwei erste Vermutungen anstellen: Die Akteure erfahren Handlungsimpulse und, wichtiger noch, Rückhalt durch Bedürfnisse bzw. Interessen der Menschheit als solcher. Deshalb können sie die Legitimationsbehauptung aufstellen, Rechtsregime auszuformen, denen menschheitlich gedacht eine Art Verfassungsqualität zugeschrieben werden kann. III. Völkerrechtliche Teilregime auf dem Weg zu „Verfasstheit“ – ein zweiter Blick auf die „global commons“ als Referenzfeld Wer im Völkerrecht nun nach Teilregimen sucht, bei denen Verfassungsqualität wenn nicht naheliegend, so jedenfalls möglich erscheint, wird seinen ersten Blick auf die Menschenrechte, seinen zweiten Blick auf die „global commons“ richten. Für den hier unternommenen Versuch, Handeln im Namen der Menschheit auf seine Inanspruchnahme von „verfassunggebender Gewalt“ (respektive einem Äquivalent) hin zu untersuchen, ist der zweite Blick besonders ergiebig. Die Rechtsregime der „global commons“ betreffen etwa, wie bereits ausgeführt, die Antarktis, den Meeresboden, den Weltraum, das gemeinsame Kultur- oder Naturerbe oder das Internet als der Menschheit (potentiell) gemeinsame Ressource von Wissen und Information.49 Diese „commons“ sind per se weder territorial gebunden noch auf ein spezifisches (Staats-)Volk hin limitiert. Im Gegenteil, weil sie elementare Bedürfnisse und entgrenzte Gestaltungsräume betreffen, haben sie die Menschheit als solche zu ihrer Adressatin.50 Die sie steuernden Rechtsregime können auf keine InputLegitimation verweisen, die den traditionellen Regeln von Verfassunggebung, rückgebunden an einen vermeintlich präexisten49 Zu letzterem Ch. Hess/E. Ostrom (Hrsg.), Understanding Knowledge as a Commons, 2006; mit Blick auf ersteres Ch. Joyner, Governing the Frozen Commons: The Antarctic Regime and Environmental Protection, 1998. 50 Nochmals P. Häberle, Nationales Verfassungsrecht, regionale „Staatenverbünde“ und das Völkerrecht als universales Menschheitsrecht: Konvergenzen und Divergenzen, in: C. Gaitanides/M. Kadelbach/G. C. Iglesias (Hrsg.), Festschrift für M. Zuleeg, 2005, S. 80 ff.

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ten Träger der verfassunggebenden Gewalt folgt. Die UN-Seerechtskonvention (United Nations Convention on the Law of the Sea, UNCLOS) und die Antarktisverträge (Antarctic Treaty System, ATS) formen zwei exemplarische solche Regime.51 Von ihren Zielsetzungen, institutionellen Settings und prozeduralen Mechanismen her liegt es nahe, hinter diesen Regimen Verfassungsqualität zu vermuten. Die kontroversen Debatten um ihre Entstehung und Fortschreibung rücken weiterhin konstitutionalisierungstypische Machtverschiebungen, neue Formen von Herrschaftsbegründung und Herrschaftsbegrenzung, nicht zuletzt das dynamische (Re-)Arrangement von Akteuren mit potentiell „verfassunggebender Gewalt“ in den Blick. UNCLOS wie ATS sind globale Foren für das Behaupten wie Bestreiten von menschheitsbezogenem Willen zur Verfasstheit. Sie ermöglichen Dialog52, deliberative Entscheidungsprozesse, das Aushandeln von Macht- und Gestaltungsoptionen53 und nicht zuletzt differenzierte Streitschlichtungsmechanismen54. Sie bilden Vertragsnetzwerke, die bewusst vielfältige Akteure einbinden und Bestreiten nicht minder bewusst zulassen.55 UNCLOS wie ATS stützen sich einerseits auf traditionelle, von der internationalen Gemeinschaft lange anerkannte Konzepte des Völker-

51 R. Wolfrum, Die Internationalisierung staatsfreier Räume: Die Entwicklung einer internationalen Verwaltung für Antarktis, Weltraum, Hohe See und Meeresboden, 1984; ders., Law of the Sea at the Crossroads: The Continuing Search for a Universally Accpeted Regime, 1991; ders., The Convention on the Regulation of Antarctic Mineral Resource Activities, 1991; A. D. Watts, International Law and the Antarctic Treaty System, 1992. 52 Insoweit programmatisch H. Herstermeyer/N. Matz-Lück/A. Seibert-Fohr/S. Vöneky (Hrsg.), Law of the Sea in Dialogue, 2011. 53 M. Hyder/H. Wallace, The UN Conference on the Law of the Sea. A Negotiation Exercise, 1982. 54 J. Crawford, The Antarctic Treaty after 50 Years, in: D. French u. a. (Hrsg.), International Law and Dispute Settlement: New Problems and Techniques, 2010, S. 271 ff. 55 P. Vigni, The Interaction between the Antarctic Treaty System and the other Relevant Conventions Applicable to the Antarctic Area, in: MaxPlanckUNYB 4 (2001), S. 481 ff.

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rechts wie das Souveränitätsprinzip (Art. 2 Nr. 1 UN-Charta) oder die „Freiheit der Meere“ (seit der berühmten Schrift von H. Grotius aus dem Jahre 160956). Andererseits (er-)fassen die beiden Vertragsregime diese Grundsätze neu, um dem fundamentalen Strukturwandel der internationalen Ordnung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Rechnung zu tragen.57 Je rasanter dieser Strukturwandel im 21. Jahrhundert fortschreitet, umso mehr provoziert er (interessengeleitet und auf neue Bedürfnisse gegründet) ein Bestreiten des überkommenen Ordnungsrahmens oder, auf einer Vorstufe dazu, Neuinterpretationen vorgefundener Normensembles. Mögen UNCLOS und ATS bei ihrer Genese nichts anderes als klassische völkerrechtliche Vertragsinstrumente gewesen sein, ist in ihrem Werden und in ihren Strukturen doch schon mehr, ein „Darüber-Hinauswachsen“ angelegt: sie können zu Instrumenten der global governance erstarken58, schrittweise Verfassungsqualität ausprägen oder wenigstens ein konstitutionelles Momentum aufgreifen.59 Beide Regime teilen gemeinsame normative Wurzeln. Sie beziehen sich auf das schon eingangs beschriebene Kantische Ideal der Menschheit als erster und letzter Adressatin eines mundial gedachten „bonum commune humanitatis“60. Sie denken die Menschheit als „ihre“ Verfassungs-

D. Armitage (Hrsg.), The Free See – Hugo Grotius, 2004. S. Rosenne, Establishing the International Tribunal for the Law of the Sea, American Journal of International Law 89 (1995), S. 806 ff.; R. Wolfrum, Law of the Sea at the Crossroads: The Continuing Search for a Universally Accepted Regime, 1991. 58 A. Proelß, The Role of the Authority in Ocean Governance, in: H. N. Scheiber/J. H. Paik (Hrsg.), Regimes, Institutions, and the Law of the Sea: Studies in Ocean Governance, 2013, S. 145 ff. 59 B. Ackerman, We the People. Foundations, 1991, S. 59; siehe weiterhin ders., Transformative Appointments, in: Harvard Law Review, 101 (1988), S. 1164 ff.; ders., Higher Lawmaking, in: S. Levinson (Hrsg.): Responding to Imperfection. The Theory and Practice of Constitutional Amendment, 1995, S. 63 ff.; ders., The Broken Engine of Progressive Politics, in: American Prospect 9 (1998), S. 34 ff. 60 A. Verdross, Das bonum commune humanitatis in der christlichen Rechtsphilosophie, in: Festschrift Arnold, 1963, S. 33 ff. 56 57

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gemeinschaft. Hier lohnt der präzise Blick auf die Vertragstexte in einer der authentischen Vertragssprachen. So denkt die Präambel der Seerechtskonvention (UNCLOS) den BarcelonaTraction-Ansatz des IGH mit (Stichwort Rechtsprechungsrezeption61) und zeigt sich überzeugt „that the achievement of these goals will contribute to the realization of a just and equitable international economic order which takes into account the interests and needs of mankind as a whole“. Der Text fährt sodann mit einem zweiten expliziten Menschheitsbezug fort: „(. . .) that the area of the seabed and ocean floor and the subsoil thereof, beyond the limits of national jurisdiction, as well as its resources, are the common heritage of mankind, the exploration and exploitation of which shall be carried out for the benefit of mankind as a whole, irrespective of the geographical location of States (. . .)“. Nicht minder ergiebig ist der Vorspruch des Antarktisvertrages. In seinem zweiten Präambelpassus anerkennt der Vertrag „that it is in the interest of all mankind that Antarctica shall continue forever to be used exclusively for peaceful purposes and shall not become the scene or object of international discord.“ Wiederum ist die Barcelona-Traction-Logik präsent und zum völkerrechtlichen Vertragstext „nachgeführt“.62 Was die beiden Vertragsregime UNCLOS und ATS neben ihrer Menschheitsorientierung weiterhin verbindet, ist die Art, wie sie (Input-)Legitimation verstehen. Sie verlassen sich dabei nicht allein auf die Vermittlungsleistung ihrer Vertragsstaaten und kennen selbstverständlich keine staatsanaloge Operationalisierung einer potentiell wirksamen verfassunggebenden Gewalt. Selbst mit dem Standardinstrumentarium der global governance lässt sich nur eingeschränkt erklären, wie ATS und UNCLOS ihre Legitimationsgrundlagen begreifen und wie sie als „Konsens plus“-basierte Vertragsregime wirksam werden wollen. In ihrer Entstehung wie in ihrer dynamischen Fortgeltung weisen

61 P. Häberle, Theorieelemente eines allgemeinen juristischen Rezeptionsmodells, JZ 1992, S. 1033 ff. 62 Der Begriff der Nachführung geht zurück auf K. Eichenberger, Der Staat der Gegenwart, 1980.

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sie neben den sie tragenden Signatarmächten eine neuartige Akteursvielfalt auf. Innerhalb des ATS formen selbst die staatlichen Akteure keine homogene, sondern eine graduell ausdifferenzierte Gruppe. Nur die ursprünglichen Unterzeichnerstaaten genießen alle Rechte in vollem Umfang. Später beitretende Staaten, deren Beitritt durch fundamentale Interessen an wissenschaftlicher Forschung in der Antarktis motiviert ist und die reale Forschungstätigkeit entfalten (Art. IX:2 Antarktisvertrag), haben einen nur abgeschwächten Einfluss auf Entscheidungen innerhalb des Vertragsregimes.63 Sonstige beitretende Staaten genießen nur einen Konsultativstatus.64 Darüber hinaus können nichtstaatliche Akteure auf formellem und informellem Wege am ATS teilhaben. So werden Nichtregierungsorganisationen wie das „International Council of Scientific Unions“ oder die „Antarctic and Southern Ocean Coalition“ als Beobachter zugelassen. Dasselbe gilt für Vertreter privater Unternehmen, so z. B. die „International Association of Antarctic Tour Operators“65. Das gesamte Vertragsregime gründet damit in formalisierten politischen Praktiken (regelmäßige Konsultativtreffen) und halbformalisierten respektive gänzlich informellen diskursiven Strukturen. Das entscheidende ist, dass eine Vielzahl staatlicher und nicht-staatlicher Akteure an diesen Diskursen teilhaben und konstituierend für das Vertragsregime wirken kann.66 Besondere Aufmerksamkeit verdient das Souveränitätsregime.67 Bezogen auf die größten Teile der Antarktis erheben sieben Staaten Souveränitätsansprüche. Zu diesen sogenannten „claimants“ gehören Argentinien, Australien, Chile, Frankreich, Neuseeland, A. v. Arnauld, Völkerrecht, 2012, Rn. 841. S. Vöneky/S. Addison-Agyei, Antarctica, in: MPEIL (online Version), 2011, Rn. 27 und folgende. 65 Ebd., Rn. 33. 66 A. Wiener, Contested Compliance: Interventions on the Normative Structure of World Politics, European Journal of International Relations 10 (2004), S. 189 ff. 67 A. v. Arnauld, Völkerrecht, 2012, Rn. 840; J. Grob, Antarctica’s Frozen Territorial Claims: A Meltdown Proposal, in: BCIntl&CompLRev 30 (2007), S. 461 ff. 63 64

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Norwegen und das Vereinigte Königreich. Die Vereinigten Staaten und Russland haben sich das Recht vorbehalten, zu einem späteren Zeitpunkt solche Ansprüche geltend zu machen. De facto sind die Ansprüche der „claimants“ nicht durchsetzbar, weil es zum einen an der Beherrschbarkeit des Gebietes fehlt und weil die anderen Vertragsstaaten (die sog. „non-claimants“, zu denen auch die Bundesrepublik Deutschland rechnet) diese Ansprüche nicht anerkennen. Aus deren Sicht handelt es bei der Antarktis um einen „nicht aneignungsfähigen Staatengemeinschaftsraum.“68 Er könnte auch als Raum bezeichnet werden, der im ursprünglichen Gemeinbesitz der Menschheit als solcher steht. Wie verhält sich das ATS nun zu diesen konfligierenden Anspruchsbehauptungen und Zuschreibungen? Es friert die Ansprüche der „claimants“ ein und stellt den Souveränitätsstreit damit zurück. Gem. Art. IV des Antarktisvertrages halten alle Seiten ihre Rechtsansichten explizit offen. Alle Normen des ATS müssen mit den Positionen sowohl der „claimants“ als auch der „non-claimants“ vereinbar sein. Neue Felder (diskursiven) Bestreitens sind damit eröffnet: etwa mit Blick auf Fischereirechte, auf den ungehinderten Zugang für wissenschaftliche Forschung oder auf touristische Nutzung.69 Die derzeitige Nutzung der Antarktis, soweit faktisch überhaupt möglich, ist primär auf wissenschaftliche Forschung „im Interesse der Menschheit“ beschränkt. Vergleichbare Mechanismen des „Bestreitens“ kennt auch die Seerechtskonvention.70 Wie innovativ sich das Souveränitätsregime der Antarktis entfaltet, erweist ein vergleichender Blick auf die Arktis. Diese kennt keinen auch nur annähernd vergleichbaren Grad der Vergemeinschaftung im Menschheitsinteresse.71 Die Nutzungsrechte stehen, klassischen Souveränitätskonzepten folgend, den An-

A. v. Arnauld, Völkerrecht, 2012, Rn. 840. S. Vöneky/S. Addison-Agyei, Antarctica, in: MPEIL (online Version), 2011. 70 Für eine Übersicht T. Treves, Law of the Sea, MPEIL (online Version), 2011. 71 A. v. Arnauld, Völkerrecht, 2012, Rn. 843. 68 69

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rainerstaaten zu. Für die Distribution greifen die Regeln des Seevölkerrechts über die Anschlusszone, die Ausschließliche Wirtschaftszone und den Festlandssockel. Weil es mit Blick auf die Abgrenzung der Festlandsockel aber Unklarheiten gibt, ist das Konfliktpotential in Sachen Ressourcennutzung groß.72 Ein Gesamtüberblick zu den Staatengemeinschaftsräumen (Hohe See, Tiefseeboden, Weltraum, Antarktis) weist bei allen Unterschieden hinsichtlich des Institutionalisierungsgrades, der Nutzungsrechte- und der Nutzungsregeln eine entscheidende Gemeinsamkeit auf: Der Verträge schließen souveräne Rechte einzelner Staaten an den global commons aus oder legen sie wenigstens auf Eis.73 Die an den Vertragsregimen beteiligten Akteure nehmen Menschheitsinteressen wahr: Umso wichtiger ist die Berechtigung der Akteure zu solcher Wahrnehmung. Am ATS sind z. B. nur rund 45 Staaten beteiligt, die aber mehr als drei Viertel der Weltbevölkerung stellen.74 Besonders wichtig ist es, die gleichen Teilhabechancen der Entwicklungsländer sicherzustellen, da andernfalls wesentliche Menschheitsinteressen ausgeblendet blieben75 IV. Die global commons und das „bonum commune humanitatis“ Von der Menschheit ausgehend richten die vorgestellten commons den Blick auf das oben bereits skizzierte „bonum commune humanitatis“. Das Regelungsziel der sie konstituierenden Rechtsregime ist es, menschheitsbezogen Gemeinwohlkonkretisierungen zu ermöglichen.76 Für eine Globalisierung der Gemeinwohldiskussion verweist P. Häberle auf das große Wort

72 A. Proelss/T. Müller, The Legal Regime of the Arctic Ocean, ZaöRV 68 (2008), S. 651 ff.; A. v. Arnauld, Völkerrecht, 2012, Rn. 843. 73 Ebd. 74 Ebd., Rn. 841. 75 Ebd., Rn. 833. 76 I. Feichtner, Community Interests, in: MEPIL (online version 2011), Rn. 9; Barcelona Traction – 1970 ICJ Rep., Rn. 3 ff., 32.

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vom Interesse der Menschheit, das sich schon im Briand-Kellog-Pakt aus dem Jahre 1928 findet:77 „Die Menschheit bzw. die Völker unseres Globus sind Bezugssubjekte allgemeiner Interessen, wenn man es will: des völkerrechtlich konkretisierten und weiter zu konkretisierenden Gemeinwohls. Die vornehmste Bezugnahme steckt in allen Klauseln zum Schutz des ,Gemeinsamen Erbes der Menschheit‘ (,common heritage‘). (. . .). Auch im internationalen ,ordre public‘ dürften Gemeinwohlaspekte verborgen sein. Das müsste Gegenstand einer eigenen Monographie werden.“78

Eine solche Monographie wäre gewiss ihrerseits eine Menschheitsaufgabe im Menschheitsinteresse. Sie müsste auf die großen Gemeinwohldebatten im politischen Denken seit Plato zurückgreifen.79 Die Hinweise auf das Gemeinwohl sind überraschend vielfältig.80 Und ebenso vielfältig sind die terminologischen Varianten. Es finden sich, zumeist ohne klare Begriffsdefinition und durchaus im Bewusstsein der Ambivalenz in den Bedeutungsebenen Formulierungen wie Gemeininteressen („common interests“, „common concerns“) oder gemeinsame Werte („common values“).81 Während die Verfassungstheorie das Gemeinwohl as regulative Idea nutzt, um eine konkret territorial radizierte politische Gemeinschaft zu begründen und diese Begründung auf das gemeinsame Wollen des Volkes (d.h. der Bürgerinnen und Bürger) zu stützen, konzeptualisieren völkerrechtliche Gemeinwohltheorien das „bonum commune humani-

77 P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 2. Aufl. 2006, S. 791; zur „Gemeinwohltypologie im heutigen Konstitutionalismus“ ders., Der kooperative Verfassungsstaat aus Kultur und als Kultur. Vorstudien zu einer universalen Verfassungslehre, 2013, S. 464 ff. 78 P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 2. Aufl. 2006, S. 791. 79 H. Münkler/H. Bluhm (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. 1, 2001. 80 S. Oeter, Gemeinwohl in der Völkerrechtsgemeinschaft, in: W. Brugger/M. Anderheiden (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, 2002, S. 215 ff. 81 I. Feichtner, Community Interest, in: Max Planck Encyclopedia of Public International Law (online Version), 2007, Rn. 1.

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tatis“ als den Versuch, die Partikularinteressen souveräner Staaten im gemeinsamen Menschheitsinteresse zu überwinden. Wissenschaftler wie P. C. Jessup, C. W. Jenks oder W. G. Friedmann nutzten diese menschheitliche Gemeinwohlorientierung, um die Transformation des Völkerrechts vom Koexistenz- hin zum Kooperationsrecht zu erfassen.82 Kontextsensibel verbindet B. Simma den Universalitätsanspruch des Völkerrechts mit dem Gemeinwohldenken: „a consensus according to which the respect for certain fundamental values is not to be left to the free disposition of States individually or inter se but is recognized and sanctioned by international law as a matter of concern to all States“.83 Das „bonum commune humanitatis“ (E. de Vattel) stand Pate für die Idee eines gemeinsamen Menschheitserbes („common heritage of mankind“), auf das P. Häberle in seiner oben zitierten Schrift so nachdrücklich verweist.84 Wie aufgezeigt, operieren UNCLOS und ATS mit dieser Perspektive und denken ihre Governance-Instrumente von dem her, was der Menschheit gemeinsam gehört.85 Was immer territorial begrenzt und reich an Ressourcen ist, weckt die Begehrlichkeiten souveräner Staaten („potential object for claims of sovereignty by individual States“).86 Was indes als „res communis omnium“ gilt, wird die-

82 P. C. Jessup, A Modern Law of Mankind, 1950; C. W. Jenks, The Common Law of Mankind, 1958; W. Friedmann, The Changing Structure of International Law, 1964; A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, 1995, S. 35 ff. und passim (zum Allgemeininteresse); ferner M. Knauff, Konstitutionalisierung im inner- und überstaatlichen Recht – Konvergenz oder Divergenz, ZaöRV 68 (2008), S. 453 ff. 83 B. Simma, From Bilateralism to Community Interest in International Law (1994) 250 RdC 217–384, S. 288; darauf verweist auch I. Feichtner, Community Interest, in: Max Planck Encyclopedia of Public International Law (online Version), 2007, Rn. 3. 84 A. Pardo, The Common Heritage: Selected Papers on Oceans and World Order 1967–1974, 1975. 85 Ch. Joyner, Governing the Frozen Commons, 1998, S. 83. 86 Wiederum I. Feichtner, Community Interest, in: Max Planck Encyclopedia of Public International Law (online Version), 2007, Rn. 24.

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sen Begehrlichkeiten entzogen, und das nicht zuletzt im Interesse künftiger Generationen: „This internationalization aims to ensure not only that all States can share in the exploitation of the resources found in these areas – directly or indirectly – but also to protect the interests of future generations in these resources.“87 Wer „Internationalisierung“ durch „Konstitutionalisierung“ ersetzt, wird auf die Grundsatzfrage einer „verfassunggebenden Gewalt“ der Menschheit zurückverwiesen. Damit schließt sich der Kreis. Heutiges Völkerrecht wird durch eine Vielzahl von Akteuren in vielfältigen Prozessen rechtspluralistisch geformt. Die Lehre vom Staatenkonsens als Basis der Völkerrechtsordnung kann diese Phänomene weder wirklichkeitstreu beschreiben noch die drängenden Legitimationsfragen beantworten. Das kann auch der Verweis auf ein „Gemeinwohl der Menschheit“ nicht. Er lenkt mit der Konkretisierung von Gemeinwohl das Augenmerk aber auf eine zentrale Verfassungsfunktion.88 Weil ein a priori feststehendes, unveränderbares gewisses Wissen des Richtigen, ein „vorgegebenes Kriterium der sozialen Richtigkeit“ nicht gegeben sein kann89, kann es auch kein präexistentes Gemeinwohl geben, das es nur noch aufzudecken gälte. Vielmehr bedarf das Gemeinwohl immer neuer Konkretisierung und Aktualisierung durch Verfahren.90 Es gilt, die beteiligten Akteure in personeller respektive institutioneller, die Arenen in sachlicher, räumlicher und zeitlicher Hinsicht abzugrenzen. Gemeinwohleffiziente VerEbd. R. Falk, The World Order between Inter-State Law and the Law of Humanity, in: D. Archibugi/D. Held (Hrsg.), Cosmopolitan Democracy, 1995, S. 163 ff. 89 P. Badura, Verfassung und Verfassungsgesetz, in: H. Ehmke/J. H. Kaiser/W. A. Kewening (Hrsg.), FS U. Scheuner, 1973, S. 19 ff., 30; Ch. Engel, Offene Gemeinwohldefinitionen, Rechtstheorie 32 (2001), S. 23 ff. 90 P. Kirchhof, Staatliche Verantwortlichkeit und privatwirtschaftliche Freiheit, in: H.-D. Horn (Hrsg.), FS W. Schmitt Glaeser, 2003, S. 3 ff.; O. Lepsius, Nachhaltigkeit und Parlament, in: W. Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, 2008, S. 326 ff., 333; P. Saladin/C. A. Zwenger, Rechte künftiger Generationen, 1988. 87 88

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fahrensregeln sind festzulegen.91 Es ist diese Verfahrensperspektive, die allein über die der Menschheit zugeschriebene „constituent power“ Aufschluss geben kann. So wie im demokratischen Verfassungsstaat der demos erst im Prozess der Verfassunggebung zu einem solchen wird, weil er sich nun erstmals in demokratischen Verfahren artikulieren und materielle Gemeinwohlprinzipien formulieren kann92, sind es Verfahren, aus denen völkerrechtliches Agieren im Namen der Menschheit seine Legitimation gewinnt.93 Auf die Legitimationsfrage und die Frage nach der „constituent power“ ist damit noch keine Antwort gegeben, aber zum Ausdruck gebracht, wie sich eine Antwort konkretisieren lässt: durch Verfahren, wie sie die Regime der „global commons“ vorhalten. V. Schlussbemerkung Peter Häberle ist nicht erst seit seinem berühmten Regensburger Staatsrechtslehrerreferat zu einem Vordenker der „Legitimation durch Verfahren“ in den Verfassungsrechtswissenschaften geworden. Ausgehend vom nationalen Verfassungsstaat94 über die europäische Integration95 hat er den Verfahrensgedanken für eine universale Verfassungslehre96 fruchtbar gemacht. Er hat ihn auf die Menschheit hin bezogen97, dabei intensiv mit den global commons – seinem kulturwissenschaftlichen Ansatz 91

1998.

Allgemein H. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 2. Aufl.

92 Zu dieser Diskussion M. Kotzur, Demokratie als Wettbewerbsordnung, in: VVDStRL 69 (2010), S. 173 ff., 196 ff. 93 N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 3. Aufl. 1987. 94 Etwa P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozess, 3. Aufl. 1998. 95 P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011. 96 P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur. Vorstufen zu einer universalen Verfassungslehre, 2013. 97 P. Häberle, Nationales Verfassungsrecht, regionale „Staatenverbünde“ und das Völkerrecht als universales Menschheitsrecht: Konvergenzen und Divergenzen, in: ders., Verfassungsvergleichung in europaund weltbürgerlicher Absicht. Späte Schriften (hrsgg. von M. Kotzur/ L. Michael), 2009, S. 231 ff.

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folgend insbesondere mit dem gemeinsamen kulturellen Erbe – gearbeitet98 und für das Völkerrecht etwas geleistet, was dem genuinen Völkerrechtler so nicht möglich wäre: eine „universale Verfassungslehre“ aus einem „Ensemble von nationalen Teilverfassungen und Teilverfassungen des Völkerrechts“ vorzudenken.99 Als ebenso inspirierter wie inspirierender Vordenker „den Verfassungsstaat und die Verfassung nachdenken“ – sei es die nationale, die europäische oder die (vielleicht werdende) der Völkerrechtsgemeinschaft – ist Peter Häberle mehr als ein Beruf und mehr sogar als eine Berufung; es ist ihm Lebensform.100 Die „Freude am lebenslangen Lernen“ formt dabei sein „Lebensgesetz“.101 Diese Freude hat der „Meister“ über Jahrzehnte hinweg seinen Schülern weitervermittelt und er tut das bis heute. Möge das auch im neuen Lebensjahrzehnt und weit darüber hinaus so bleiben. Ein von Herzen dankbares „Ad multos annos“!

98 P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 98 ff. 99 P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur. Vorstufen zu einer universalen Verfassungslehre, 2013, Vorwort (S. 6). 100 P. Häberle, (Rechts-)Wissenschaft als Lebensform, JöR 52 (2004), S. 155 ff. 101 So H. Schulze-Fielitz in diesem Band unter Verweis die ursprüngliche Formulierung von W. Graf Vitzthum, „Auf den Schultern von Riesen (. . .)“, in: P. Häberle, Kleine Schriften, hrsgg. von W. Graf Vitzthum, 2002, S. 397 ff., 407.

Die Verfassungskultur des homo ridens Von Jörg Luther I. Fragestellung Den Verfassungsstaat nachzudenken ist Aufgabe nicht allein der Verfassungsrechtslehre, sondern auch der „schönen Literatur und Künste“1, jedenfalls soweit sie sich mit Recht, Politik und Gerechtigkeit befassen wollen. Wenn Literatur und Literaten „Lebensbedingungen jeden Verfassungsstaats“ sind, dessen Meinungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheiten auch seine eigenen kulturellen Voraussetzungen garantieren, dann geraten sie auch als Faktoren der Rechtsgewinnung und der Bildung von Orientierungswerten in den Blick. Ihre Bedeutung ist in den letzten Jahrzehnten besonders in der kulturwissenschaftlichen Law and Literature-Bewegung gewachsen, die sowohl literature as law als auch law as literature behandelt und mit den Mitteln der Literaturkritik eine Erneuerung der Rechtskritik zu betreiben versucht.2 Traditionell nutzen sie zu solchem Nachdenken vor allem Tragödien und Dramen, speziell wenn sie ein republikanisches Freiheitspathos erzeugen. Der Verfassungsstaat erscheint so jedoch eher als eine ernste Angelegenheit, deren Interpreten weniger öffentlich als privat zu lachen haben. Dieser Eindruck täuscht, weil auch Komödien und Satiren kulturelle Leistungen erbringen und gerade das Lachen über Recht und Politik, Juristen und Politiker die Verfassungskultur zu fördern 1 P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 504 ff. 2 Vgl. nur im Anschluss den gleichnamigen Aufsatz von B. Cardozo im Yale Law Journal von 1925; R. Posner, Law and Literature: A Misunderstood Relation, 1988; M. Nussbaum, Poetic Justice, 1995; R. Weisberg, Rechtsgeschichten (1984), 2013; bespr. von M. Stolleis, FAZ 9.3. 2013.

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vermag. Um die Nachdenklichkeit des Verfassungsstaats hierzu nicht bloß erheiternd zu hinterfragen, seien vorab einige kulturwissenschaftliche Vorverständnisse erzählt (2.). Sodann wird die Entwicklung der Juristenkarikaturen rekonstruiert (3.). Anschließend ist der Umgang der Satire mit der Verfassunggebung (4.) und der Umgang des Verfassungsstaats mit der Satire auszuleuchten (4.), um abschließend das Menschenbild des homo ridens im heutigen Verfassungsstaat zu skizzieren, dessen Vernunft nicht unphysikalisch und nur emotionsfrei zu haben, sondern auch mit lachenden und weinenden Augen einzusehen ist. II. Kulturen und Funktionen des Lachens Benedetto Croce stritt zu Beginn des letzten Jahrhunderts mit dem Dichter Luigi Pirandello um seine These, der Begriff „umorismo“ lasse sich nicht definieren.3 Das etymologisch auf „chymos“ und die Hippokratische Theorie der Körpersäfte und Temperamente verweisende, ethisch aufgeladene Wort übersetzt das moderne englische Wort „humour“ und gehört zu einem komplexen Wortfeld4, in dessen Mittelpunkt aus humanwissenschaftlicher Sicht das substantivierte Verb des Lachens steht. Die bekannten Schwierigkeiten, Wortkomik zu übersetzen und Situationskomik von ihrem Kontext zu lösen, haben auch die Anthropologie veranlasst, die Formen und Ideen des Lachens geschichtlich bis in die religiösen Kulturen des eurasischen Altertums zurückzuverfolgen.5 Das Bild des lächelnden Buddha ist eines der ältesten.6 Nach einem ägyptischen Mythos entstanden

La Critica 1909, S. 220. Neben Belustigung, Grinsen, Groteske, Heiterkeit, Hohn, Ironie, Kabarett, Karikatur, Komik, Komödie, Lächeln, Parodie, Sarkasmus, Satire, Scherz, Schmunzeln, Spaß, Spott, Witz etc. 5 Vgl. J. Bastien, Humor and Satire, in: M. Eliade (Hrsg.), The Encyclopedia of Religion, VI, 1987, S. 526 ff. 6 Lachend dagegen Krishna. Vgl. auch Konfuzius: „Leuchtende Tage. Nicht weinen, dass sie vorüber. Lächeln, dass sie gewesen.“ Zur Heiterkeit asiatischer Religionsriten S. Rai/C. Dempsey (Hrsg.), Sacred Palay: ritual levity and humor in South Asian Religion, 2010. 3 4

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die Götter aus dem Lachen, der Mensch aus den Tränen des Urgottes.7 „Gelos asbestos“ heißt bei Homer ein titanisches „nicht erlöschendes“ Lachen im Olymp. Im alten Testament ist das Lachen Jahwes über die gegen ihn und den Messias sinnenden Völker und Könige Zeichen seiner Souveränität (Psalm 2, 4) und nur ein Narr kann denken, Gott gebe es nicht (Psalm 52, 2). Das Lachen der Greise Abraham und Sarah, als ihnen Gott die Geburt ihres Sohnes Isaak verheißt, erscheint dagegen als ein Zeichen von Scham, der Freude folgt (Gen. 17, 17; 18, 13 ff.).8 Im Koran sind es die Gläubigen, die über die Ungläubigen lachen, aber nach der Hadith-Literatur lachte wohl auch der Prophet und lacht selbst Gott, wenn er nach seinem Richterspruch die Gläubigen in seinem Himmelreich empfängt.9 Aus dem Dionysoskult und den die Tragödien schließenden Satyrspielen (ca. 5. Jh. v. C.)10 die griechische Komödie. Dionysos selbst wird in Aristophanes’ „Fröschen“ zum Komparsen, der einen Priester um Schutz bittet, um mit ihm zechen zu können. Platons Sokrates kritisiert das Lachen als der Bosheit und Selbstüberschätzung förderlich und der staatsbürgerlichen Erziehung abträglich: „Man darf es also schon nicht angehen lassen, wenn ein Dichter bedeutende Menschen sich maßlos der Lachlust hingeben läßt, noch viel weniger aber, wenn Götter.“ In seinen Idealstaat dürfe von der Dichtkunst nichts anderes Aufnahme finden als Gesänge an die Götter und Loblieder auf 7 A. Assmann, Schöpfungsmythen und Kreativitätskonzepte im Alten Ägypten, in: R. Holm-Hadulla (Hrsg.), Kreativität, 2000, S. 176. G. Minois, Storia del riso e della derisione, 2004, S. 16, erwähnt das priesterliche „Belachen“ der Nilfluten, das der Göttin der Gerechtigkeit Maat galt. 8 „Ein Lachen hat mir Gott bereitet. Jeder der es hört wird mir zulachen.“ (Gen. 21, 6). Zu einem menschlichen Lächeln in einer Stelle des babylonischen Talmud M. Brumlik, Schrift, Wort und Ikone, 1994, 61 ff. 9 L. Holtzman, „Does God Really Laugh?“ – Appropriate and Inappropriate Descriptions in Islamic Traditional Theology, in: A. Classen (Hrsg.), Laughter in the Middle Ages and Early Modern Times, 2010, 165 ss. 10 sÜturoò ist ein Begleiter von Pan und Dionysos, halb Mensch, halb Ziegenbock. Die Etymologie der Aufklärung verweist auf das lateinische satura lanx, eine mit vermischten Gaben an Gott gefüllte Vase.

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die Tugendhaften.11 Das Lachen der Thrakerin über den in den Brunnen gefallenen Philosophen Thales im Theaitetos mag man wie eine Mahnung gegen die Weltfremdheit der Philosophenkönige lesen.12 Der lachende Naturphilosoph Demokrit ließ sich jedenfalls von Hippokrates seine Gesundheit bestätigen.13 Und in Xenophons Erziehung des Perserkönigs Kyros, stellt Aglaitades die unbeantwortete Frage: „Könntest du aber wohl behaupten, dass diejenigen, die Gelächter erzeugen, den Körpern nutzen oder die Seelen besser geeignet machen für die Verwaltung des Haushalts oder des Gemeinwesens?“14 Spätestens seit Aristoteles ist Lachen nur noch ein Verhalten des Menschen, das ihn vom Tier unterscheidet15, auf unverdientes Glück reagiert und der Mäßigung in der Tugend der Eutrapelie bedarf. Während seine Rhetorik in sophistischer Tradition die Ironie des freien Mannes rechtfertigt, hat seine Poetik (entgegen Umberto Ecos Phantasie im Namen der Rose) das Spaßen nicht vom Verdacht befreit, dem Irrtum und der Hässlichkeit zu dienen. Im römischen Kontext entwickelt sich deshalb vor allem die Satire, zunächst im humorvollen Stil von Horaz (200 v. C.), dann im parodistischen Stil des Roman Satyricon (100 v. C.) und zuletzt mit dem ironisch und sarkastisch aufgeladenen Stil des Juvenal, der sich u. a. mit den Institutionen des Klientelarwesens befasste.16 Im hellenisierten Christentum erkannte man dagegen früh, dass auch von Jesus kein Lachen überliefert ist und schon unter den Karolingern wurde dem Klerus verboten, Narren zu Platon, Politeia, 606. H. Blumenberg, „Das Lachen der Thrakerin“, 1987, S. 14. 13 M. Geier, Worüber kluge Menschen lachen – Kleine Philosophie des Humors, 2006, S. 36 ff. 14 Zit. nach M. Reichel, Eine übersehene Reaktion auf Platons Dichterkritik: Xenophon, Kyrupädie 2,2, in: FS W. Kullmann, 1997, S. 104. 15 Vgl. aus der Ethologie zum entwaffnenden Lächeln I. Eibl-Eibesfeldt, Liebe und Haß, 1993, S. 113 f. 16 C. Spirito Razzini, Il diritto romano nelle satire di Giovanale, 1913, S. 11 ff.; zu den lateinischen Komödien U. Paoli, Comici latini e diritto attico, 1962. 11 12

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unterhalten.17 Die Benediktinerregel verbot den Mönchen, Lachen zu provozieren oder selbst in maßloses Lachen zu verfallen. Auch die wohl aus den römischen Saturnspielen entwickelten mittelalterlichen Narrenfeste wurden mit dem Konzil von Basel 1431 aus der Kirche verbannt. Obwohl sich das Konzil von Trient dann jegliches Spaßen mit der Heiligen Schrift verbat, sind der Renaissance die Erneuerung des Karnevals, die Commedia dell’Arte, die höfischen „Buffoni“ und auch die ersten Karikaturen zu verdanken, die den Papst mit einem Eselskopf darzustellen wagten.18 In der Moderne verfestigen sich – aus literaturwissenschaftlicher Sicht vereinfacht19 – drei theoretische Deutungsstränge. Der erste ist die abwertende platonische Theorie der sozialen Selbst(üb)erhöhung, auf die Thomas Hobbes zurückgreift: „Sudden glory, is the passion which makes those grimaces called laughter; and is caused either by some sudden act of their own, that pleases them; or by the apprehension of some deformed thing in another, by comparison whereof they suddenly applaud themselves.“20 Lachen kann nach Descartes Freude mit Hass mischen, in Konflikten arrogant und höhnisch klingen, aggressiv und herabsetzend wirken. Für die Nobelpreistheorie von Henri Bergson wirkt es konstruktiv als Sozialkontrolle speziell für Menschen, die sich anpassungsunfähig wie bloße Objekte oder Maschinen verhalten.21 Man könnte von einer Funktion individueller oder kollektiver Herstellung von Souveränität („souveränisieren“) sprechen.

17 Das Pariser Konzil von 1212 sah den Amtsverlust bei mehr als einjähriger Narretei vor: C. Amelunxen, Zur Rechtsgeschichte der Hofnarren, 1991, S. 19. 18 Literaturwissenschaftlich u. a. C. Kuhn/S. Bießenecker (Hrsg.), Valenzen des Lachens in der Vormoderne (1250–1750), 2012; S. Busch, Verlorenes Lachen, 2004; M. Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, 1969. 19 V. Raskin, Semantic Mechanisms of Humor, 1985, 31 ff.; S. Attardo, Linguistic Theories of Humor, 1994, S. 47 ff. 20 Leviathan, I, 6. 21 H. Bergson, Le rire, 1900.

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Die zweite ist die aufwertende Theorie der psychologischen Erleichterung, die erstmals Lord Shaftesbury vertrat („natural free spirits of ingenious men, if imprisoned or controlled, will find out other ways of motion to relieve themselves in their constraint“22), später auch Sigmund Freud23. Sie betont die Befreiungswirkung des Lachens und seine Tendenz zur Freisetzung von Energie für Emotionen und Gedanken. Für die schon bei Thomas von Aquin anklingende Spieltheorie ist das durch Humor erzeugte Vergnügen („pleasure“) Seelentrost und befreit den Verstand von Stress.24 Seit der Aufklärung kann darüber hinaus von einer Funktion natürlicher moralischer Freiheit und Herstellung von „common sense“ gesprochen werden. Die dritte ist die Theorie der kognitiven Inkongruenz, die nach Aristoteles und Cicero vor allem bei Kant anklingt: „Das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in Nichts.“25 Sie verdankt ihren Namen Schopenhauer: „Das Lachen entsteht jedes Mal aus nichts anderem, als aus der plötzlich wahrgenommenen Inkongruenz zwischen einem Begriff und den realen Objekten, die durch ihn, in irgend einer Beziehung, gedacht worden waren, und es ist selbst nur der Ausdruck dieser Inkongruenz.“26 Die Inkongruenz beruht auf vergleichender Beobachtung und das Lachen kann daher an Relationen zwischen Normen und Tatsachen anknüpfen. Insofern kann man von einer Erkenntnis-, Informations- oder Wahrheitsfunktion sprechen. Die neuere Forschung hat vor allem die sozialen Funktionen von Sprechakten untersucht, die Lachen erzeugen. Neben der 22 Sensus Communis, an Essay on the Freedom of Wit and Humour, 1709. Für Shaftesbury gilt nicht „Interest governs the World“, sondern auch „Passion, Humour, Caprice, Zeal, faction“. Vgl. auch H. Spencer, The Physiology of Laughter, in: Macmillan’s Magazine, 1860, S. 395–402. 23 Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, 1905. 24 Summa Theologia II-IIae, q. 168. a. 2. 25 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, 1790, § 54. Ähnlich schon F. Hutcheson, Thoughts on Laughter, 1727. 26 A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung (1819), 1892, S. 103.

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Sozialkontrolle und Durchsetzung sozialer Normen können sie Zustimmung zu oder Ablehnung von Autorität sowie Partizipation, Distanz und Exklusion oder Kohäsion, Nähe und Inklusion bewirken.27 Nicht zuletzt gibt es auch „pädagogische Komik“. III. Juristen als lachende Dritte und Narren Die Funktionen der Herstellung von Souveränität, der Befreiung und der Erkenntnis von Inkongruenzen charakterisieren in besonderem Masse auch das berufliche Selbstverständnis des Juristen. Wenn zwei sich streiten, lacht insgeheim immer mindestens ein Dritter über die Streithähne. Nicht nur Anwälte setzen Ironie als rhetorische Waffe ein, jeder Jurist versucht rechthaberisch Inkongruenzen und Ungerechtigkeiten zu demaskieren. Juristen meinen Humor zu haben, auch wenn ihr Publikum nicht immer darüber lachen und der Spruch von Ludwig Thoma, „er war ein guter Jurist und auch sonst von mäßigem Verstand“, einige Tausend Euro kosten könnte.28 Satire und Karikatur haben sie seit jeher an die „tiefe Fragwürdigkeit ihres Berufs“ und an die Antithetik von Recht und Gerechtigkeit erinnert.29 Schon Platon war wohl bei den Juristensatiren des Aristophanes das Lachen vergangen. Die Wolken (423 a. C.) verspotteten den Bauern, der Opfer seines in anwaltlicher Rhetorik geschulten Sohnes wurde und die Denkschule in Brand setzte. Die Wespen (422 a. C.) rieben sich an der mangelnden Unabhängigkeit eines Volksrichters, der sich an der Macht berauschte, von den

27 Attardo, Linguistic Theories (Fn. 19), S. 322 ff. Ein „decommitment“, d.h. die auch von Politikern zu hörende Erklärung, man habe nur gespaßt, kann soziale Interaktion entspannen. 28 LArbG Bad.-W., Urteil v. 24.5.2007, 9 Ta 2/07, http://www.schwei zer.eu/bibliothek/urteile/index.html?id=13672. 29 Zu den Gerechtigkeitsmythen der „Frühzeit“ der Völker vgl. G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, § 14: „Das Recht, das starrste unter den Kulturgebilden, und die Kunst, die wandlungsfähigste Ausdrucksform des wandelbaren Zeitgeistes, leben in einer natürlichen Feindschaft . . .“. Vgl. auch ders., Karikaturen der Justiz, 3. Aufl. 1967.

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Regierenden durch hohe Besoldung gefügig gemacht und durch die anwaltliche Rhetorik seines Sohnes dazu gebracht wurde, seinem Hund den Prozess zu machen, ihn freizusprechen und sein Amt aufzugeben. Der Legitimation und Professionalisierung der Ironie diente die in Rom vor allem von Cicero30 weiter entwickelte forensische Rhetorik, die in einer seiner berühmtesten Verteidigungsreden dem wegen Korruption angeklagten Murena zum unverdienten Freispruch verhalf (63 a. C.) – wohl eine Ironie der Geschichte der Ironie. Die Idee, im jüngsten Gericht ringe das Gute mit dem Bösen, regte in der mittelalterlichen Kanonistik neue literarische Prozessformen an. Der „Belial“, eine „Consolatio peccatorum, seu Processus Luciferi contra Jesum Christum“ des Jacopo Palladini aus dem Jahre 1382 stellt einen Prozess des Teufels gegen Christus dar, dessen Freispruch durch Salomon vom Patriarchen Josef bestätigt wurde.31 Aus derselben Zeit stammen auch die Narrengerichte, deren Formen volkstümlicher Zensur wohl in Verbindung mit den Institutionen des Prangers und der Erzählung der „Schildbürgerstreiche“ (1515) stand.32 Die moralische Narrenliteratur ermöglichte es auch, über Berufsrichter zu lachen. Sebastian Brant’s Narrenschiff von 1494 antizipierte die Kritik an den Juristen als bösen Christen.33 In seinen Zeichnungen bot es wohl das erste Bild der verbundenen Augen der allegorischen Gestalt der Justitia, dessen Vorlage der misshandelte Christus vor seinem (angeblichen) Prozess gewesen sein dürfte und das heute die Grenzen der Justizgewalt, die Pflicht ohne Ansehung der Person zu richten und das Recht auf rechtliches Gehör symbolisiert.34 In der amtlichen Ausgabe der De Oratore II, 58–62. S. Taylor, Vox populi e voce professionis. Processus juris joco-serius, in: Classen (Hrsg.), Laughter (Fn. 9), 515 ff. 32 C. Amelunxen, Rechtsgeschichte (Fn. 17), S. 2 f. 33 „Wie du mich richtest und ich dich, / So wird Gott richten dich und mich. / Ein Jeder wart’ in seinem Grab / Der Urtheil’, die er selbst einst gab.“ 30 31

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Bambergischen Halsgerichtsordnung (1507) fanden sich eine Karikatur des Richters mit verbundenen Augen und Narrenkappe: „Aus bös Gewohnheit Urteil geben, / di dem Rechten widerstreben, / ist dieser blinder Narren Leben.“35 Erasmus von Rotterdams humanistisches Lob der Torheit von 1509 warnte schließlich: „Gar viele führen endlose Prozesse, und der Streit der Parteien scheint keinen anderen Zweck zu haben, als einen absichtlich langsamen Richter und einen geriebenen Advokaten zu bereichern.“36 Der französischen Literatur gelangen später viele komische Juristenbilder, an deren Tradition Honoré Daumier und andere in den berühmten romantischen Satirezeitschriften „Le Charivari“, „La Caricature“ oder „Le Journal Amusant“ anknüpften.37 Der Richter Bridoye in Rabelais’ „Gargantua et Pantagruel“ (1532) entschied mit den Würfeln, der Richter Dandin in Racines Les Plaideurs (1668) schlief ein. In Shakespeares Drama Heinrich VI. rief der Metzger Dick dagegen derb: „The first thing we do, let’s kill all the lawyers“ (1596). Subtiler war Ben Jonsons venezianischer Volpone (1606): „it being the office of a comic poet to imitate justice, and instruct to life.“ Seit der Aufklärung fanden sich immer mehr Juristen und Literaten, die ihre Rollen vertauschten oder verquickten.38 Der 34 Vgl. nur M. Stolleis, Das Auge des Gesetzes, 2004; A. Prosperi, Giustizia bendata, 2008. 35 Zit. nach Radbruch, Karikaturen (Fn. 29), S. 18. 36 „Von den Akademikern beanspruchen die Juristen den ersten Rang, und niemand ist so eingebildet wie sie.“ (zit. n. L. Carlen, Recht zwischen Humor und Spott, Berlin 1993, S. 23). 37 Hierzu S. Vernois, The Administration of Justice as Portrayed in Le Charivari and Le Journal Amusant at the End of the 19th Century, in: A. Masson, K. O’Connor (eds.), Representations of Justice, 2007, S. 39 ff.; zur Kritik der konstitutionellen Monarchie D. Kerr, Caricature and French Political Culture 1830–1848, 2004, 155; vgl. auch A. France, Les Juges intègres, in: dies., Crainquebille, Putois, Riquet et plusieurs autres récits profitables, 1904, 239: „J’ai vu, dit Jean Marteau, des juges intègres. Ce fut en peinture. (. . .) Ils sont intègres tous deux, mais visiblement le premier s’attache à la lettre, le second à l’esprit.“ 38 E. Wohlhaupter, Dichterjuristen, 1953 (3 Bde.).

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Anwalt Carlo Goldoni nahm die Kollegen in seinen Komödien eher liebevoll auf die Schippe (L’avvocato veneziano, 1750). Der promovierte Johann Wolfgang von Goethe lachte über Gesetze und über das am Reichskammergericht betriebene juristische Handwerk mit klassischen Sprüchen: „Es erben sich Gesetz und Rechte / wie eine ewge Krankheit fort.“ (Faust I, 1772) „Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr nicht aus so legt was unter.“ (Zahme Xenien, 1821)39 Den hannoverschen Konstitutionalismus verteidigte der Germanist Jakob Grimm, der sich 1807 von Savigny mit der Bemerkung verabschiedete, dass die Jurisprudenz „bloß ein gesundes und vernünftiges Urteil erfordert, sie also weiter keine Wissenschaft mehr ist“. Seine auf die Mund und die Weisen des gemeinen Mannes schauende „Poesie im Recht“ (1816) schloss mit dem „Beweis der Vergnügtheit“ im alten Recht, Ausdruck „der anders gewordenen lebensart und gewohnheit, deren unzertrennliches eingreifen in das recht bewiesen werden soll“.40 Auch Heinrich Heines Harzreise war 1824 ein Abschied vom Recht: „Ich war die letzte Zeit aus dem Pandektenstall nicht herausgekommen, römische Kasuisten hatten mir den Geist wie mit einem grauen Spinnweb überzogen, mein Herz war wie eingeklemmt zwischen den eisernen Paragraphen selbstsüchtiger Rechtssysteme.“ Im Traum floh er vor der trauernden Göttin der Gerechtigkeit in die Arme Apollos, des Gottes der Poesie, in dessen Tempel Augustus die erste juristische Bibliothek errichtet hatte. Aus dem Geist der Poesie nährte er die Hoffnung der „Weltrevoluzion“, der 1830 Frankreich wohl am nächsten kam.41 39 Zu der ihm unterstellten Dissertationsparodie „Juristische Abhandlung über die rechtlichen Verhältnisse der gemeinsamen Freunde der Frauen, das ist der Flöhe“, Frankfurt 1768 H. Schmidt, Juristen-Spiegel, 1965, S. 16. 40 „Ich musz endlich noch zum beweis der poesie, die in dem alten recht, rechnen: seine vergnügtheit 1); worunter ich die neigung verstehe, den leuten nicht gerade zu alles und jegliches fest vorzustecken und auszumessen, so dasz sie alles gerade so wie es sich ereignet von weitem kommen sehen.“

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Die Traumdeutung entwickelte Rudolf Jherings Phantasiebild des juristischen Begriffshimmels (1884) weiter, in dem er den pandektistischen Rechtskonstruktivismus von der Haarspaltmaschine über das „mobile perpetuum“ bis zum naturrechtlichen Beschneidungsverbot und Recht auf Barttracht bebilderte. Seine 1860 in der Preußischen Gerichtszeitung begonnenen Scherze und Selbstironien waren Stilmittel eines neuen romanistischen Realismus.42 Ihm antwortete 1871 Otto von Gierkes eher hölzerne Verteidigung Grimms mit der Notwendigkeit, neue Formen der Volkstümlichkeit des Rechts zu finden: „Der Humor im Recht ist eine dem deutschen und aus deutscher oder doch germanischer Wurzel erwachsenen verwandten Rechte eigenthümliche Erscheinung.“43 Ein vorerst letztes Bild bietet der Torhüter des Gesetzes in Franz Kafkas Roman „Der Proceß“ (1915), eine „Legende“, die sich jeglicher rationaler Deutung, sei es auch nur als Verfremdung des Kleistschen Kohlhaas oder als Parodie der Weberschen Bürokratie entzieht, wie der Satiriker der politischen Justiz Kurt Tucholsky anmerkt: „Also eine Justizsatire? Nichts davon. So

41 Vgl. auch die Memoiren zitiert in T. Vormbaum (Hrsg.), Recht, Rechtswissenschaft und Juristen im Werke Heinrich Heines, 2006, S. 19: „Welch ein fürchterliches Buch ist das Corpus Iuris, die Bibel des Egoismus. Wie die Römer selbst blieb mir immer verhaßt ihr Rechtskodex. Diese Räuber wollten ihren Raub sicherstellen und was sie mit dem Schwerte erbeutet suchten sie durch Gesetze zu schützen; deßhalb war der Römer zu gleicher Zeit Soldat und Advokat. Wahrhaftig jenen Dieben verdanken wir die Theorie des Eigenthums, die vorher nur als Thatsache bestand, und die Ausbildung dieser Lehre in ihren schnödesten Consequenzen ist jenes gepriesene römische Recht, das allen unseren heutigen Legislazionen, ja alle modernen Staatsinstituten zu Grunde liegt, obgleich es im grellsten Widerspruch mit der Religion, der Moral, dem Menschengefühl und der Vernunft“; O. Behrends, Heine und die Rechtswissenschaft, in: V. Lipp u. a., Heinrich Heine. Dichter und Jurist in Göttingen, Göttingen, S. 49 ff. 42 Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, 1884, 69: „Es ist einmal ja so eingerichtet in der Welt, dass die Juristen und Ärzte die Erfahrungen machen und die Parteien und Patienten sie bezahlen – damit muss man sich trösten, es kommt der Menschheit und der Wissenschaft zugute.“ 43 O. v. Gierke, Der Humor im deutschen Recht, 1871, S. 18.

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wenig, wie die ,Strafkolonie‘ eine Militärsatire ist oder die ,Verwandlung‘ eine Bourgeois-Satire – es sind selbständige Gebilde, die niemals auszudeuten sind.“44 Das ungläubige Lachen erstarrt zum Grauen. Wo Tucholsky liest, staunt und dankt, wird für Jacques Derrida das Vor-dem Gesetz-sein und ihm nicht begegnen können zum mystischen Grund der Autorität und für Günther Teubner das Nichtkommunizierbare im Recht erfahrbar.45 IV. Das Lachen in der Verfassunggebung Auch über Verfassungen kann gelacht werden, wenn sie Gegenstand bzw. Mittel juristischer oder politischer Satire und Karikaturen werden. Verfassungssatiren und -karikaturen kamen zuerst in der Verfassunggebung, später eher in der Anwendung des Verfassungsrechts vor. Schon vor den Revolutionen in den Vereinigten Staaten und Frankreich wurden Verfassungen als politische Verträge beschworen, in Gesetzesform geschrieben (Korsika 1755), als Gegenstand eines subjektiven Rechts der Nationen (Emer de Vattel 1758) und als „constitution naturelle du gouvernement“ (Dupont de Nemours 1768) gepriesen. Eine „Satire auf die Verfassung von Schlesien, während der Kaiserlichen Regierung“ hatte 1740 schon Anna Louisa Karsch geschrieben und satirische Elemente finden sich bereits im ersten englischen „Constitutional 44 P. Panter, Die Weltbühne, 09.03.1926: „Auf meine Bitte war Max Brod so freundlich, mir seine Ansicht über den ,Prozeß‘ mitzuteilen; hier ist sie: ,Der Prozeß, der da geführt wird, ist der ewige Prozeß, den ein zart empfindender Mensch mit seinem Gewissen auszufechten hat. Held K. steht vor seinen innern Richtern.‘“ 45 Zur Kafka-Interpretation von Derrida (J. Derrida, Préjugés. Devant la loi, in AA. VV., La faculté de juger, colloque de Cerisy, 1985) zuletzt M. Crepon, Kafka e Derrida: l’origine della legge (2013), in: http://ilra soiodioccam-micromega.blogautore.espresso.repubblica.it/ (3.5.2013) und G. Teubner, Das Recht vor seinem Gesetz: Franz Kafka zur (Un)Möglichkeit einer Selbstreflexion des Rechts, Ancilla Juris 2012, 176 ff. Vgl. auch P. Rehberg, Lachen lesen – Zur Komik der Moderne bei Kafka, 2007.

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Journal“ von 174346. Von 1774 datiert ein im Britischen Museum aufbewahrter Druck47, der als „Verfassung von England“ drei ineinander verschränkte und mit Kronsymbolen behängte Baumstämme zeigt, die durch ein „Respublica“ beschriftetes Band zusammengehalten werden. Sie halten eine Waage, auf der zur Linken Papierrollen von Religion, Gesetz und Macht, zur Rechten Freiheit, Recht und Gehorsam liegen. Als „satirical paper“ könnte die Allegorie nicht nur wegen der Kronsymbole anzusehen sein, sondern auch weil sie wie eine Feuerstelle aussieht.

Abb. 1 © British Museum, AN75248001

46 J. Broadhom/H. Walpole, Four letters publish’d in Old England, or, The constitutional journal, (viz. of Oct. the 8th, 22nd, 29th and Nov. the 5th.), 1743. 47 http://www.britishmuseum.org/research/collection_online/collec tion_object_details.aspx?objectId=1452676&partId=1&searchText=satiri cal,+tree,+constitution&page=1.

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Die amerikanischen Verfassungsväter und ihr Werk waren Gegenstand politischer Satiren und Karikaturen, vor allem auf den Seiten der Anti-federalists. Selbst Benjamin Franklin, der schon 1732 den satirischen Poor Richard’s Almanach gegründet hatte, schrieb am 13.11.1789 in einem Brief an Jean-Baptiste Leroy: „Our new Constitution is now established, and has an appearance that promises permanency; but in this world nothing can be said to be certain, except death and taxes.“48 Eine zeitgenössische Zeichnung zeigte unter dem Titel ,The Providential Detection‘ einen Adler, der Thomas Jefferson daran hindert, mit Hilfe des Satans, Tomas Paine’s und französischer Philosophen die Verfassung am Altar des „Gallischen Despotismus“ zu opfern.49 In Frankreich hatte das Lachen vom Ruhegebot und vom Verbot jeglicher Zeichen der Zustimmung und Ablehnung in der Geschäftsordnung der Nationalversammlung von 1789 befreit und die Revolution angetrieben.50 Die Schrecken der jakobinischen Revolution von 1793 ließen dagegen einen englischen Karikaturisten das Bild der „Ancient Constitution“ gegen das der materiellen Verfassung Frankreichs verteidigen (Abb. 2).51 Besonderen Sarkasmus zog die europäische Verfassunggebung unter Napoleon Bonaparte auf sich. Während seine Getreuen 1814 noch hofften, ihn durch einen Verfassungsakt zum Kaiser eines neuen römischen Reiches zu gewinnen, erschienen in Paris gleich zwei Versionen einer Verfassungsparodie, die ihn zum König der Insel Elba proklamierten und Gegenstand einer Karikatur wurden (Abb. 3).52 Die erste Imitation versuchte die 48 Ähnlich die Anekdote: „A lady asked Dr. Franklin: Well Doctor what have we got a republic or a monarchy? A republic, replied the Doctor, if you can keep it.“ P. Zall, Benjamin Franklin’s Humor, 2005 http://muse.jhu.edu/. 49 http://www.clas.ufl.edu/users/harlandj/courses/4264/cartoons.pdf. 50 Minois, Storia (Fn. 7), S. 564; A. De Baecque, La caricature révolutionnaire, 1988. 51 http://printshopwindow.blogspot.it/2011/10/emblematical-view-ofconstitutions-of.html. 52 http://library.brown.edu/cds/catalog/catalog.php?verb=render&id= 1132582437979519&colid=2.

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Abb. 2 © Anne S. K. Brown Military Collection, Brown University Library

Details so glaubhaft wie möglich zu regeln, um dann am Ende selbst das Werk als einen Traum zu entlarven: „(Ici Buonaparte se réveille en sursaut. – Car il est temps que nos lecteurs apprennent que le décret qu’ils viennent de lire n’est autre chose qu’un songe que Buonaparte fit dernièrement au chàteau de Ferrajo. . . .)“.53 Die zweite verfremdete folgende Details der Verfassung des Empire: Die Monarchie wurde zur Staatsform und Napoleon zum „prince souverain“ erklärt, die bereits geborenen Söhne aber von der Thronfolge ausgeschlossen. Die katholische wurde „religion dominante de l’État“, dem Bischof aber jeder Kontakt zum Papst untersagt. Von fünf Ministern hatten drei militärisch-logistische Ressorts. Dringliche Gesetze dekretierte der Prinz auch ohne Zustimmung der beiden Kammern. Ab dem zehnten Lebensjahr konnten die Bürger zum Meeres-, ab dem achtzehnten zum Heeresdienst verpflichtet werden, wofür der militärische Orden der Krückenträger und ein ziviler Orden der 53 Constitution donnée par Napoléon Bonaparte aux Habitans de l’Isle d’Elbe, Imprimerie de J. Moronval, Paris 1814. http://www.dircost.unito. it/altriDocumenti/docs/18140000_elbaCostituzione_fra.pdf.

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Fische geschaffen wurde. Die Verfassung garantierte Tarife für Kriegsschäden, ausgenommen bei Verlust eines Armes oder Beines, weil mit dem anderen weiter gekämpft werden konnte. Sie sollte durch ein freies Plebiszit ratifiziert werden, sobald jeder dagegen stimmende Bürger des Landes verwiesen war.54

Abb. 3 © Matthew Crocker, Printer Shop Window, UK

Diese napoleonische Verfassung der Insel Elba von 1814 war ein spöttischer Abgesang auf den bonapartistischen Stil der Verfassungsdiktatur. Sie kann heute als Prototyp der „semantischen“ bzw. „Schein“-verfassungen, d.h. der Verfassungen ohne Verfassungsstaat (without constitutionalism) bzw. ohne ernst54 Proclamation de Napoléon Buonaparte a ses nouveaux sujets; Suivie de la Constitution de l’Isle d’Elbe. Traduction littérale de ces deux Piéces officielles imprimèes en langue italiénne, à Livourne, Paris, Mai 1814. http://www.dircost.unito.it/altriDocumenti/docs/18140504_elbaProclama zione_fra.pdf.

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haften Selbstbindungswillen gelesen werden, die in den folgenden Jahrhunderten die Entwicklung des Verfassungsstaates immer wieder aufgehalten, aber seine Wahrnehmung als Erfolgsgeschichte nicht verhindert haben. In die Rubrik der Verfassungsironie gehören im weiteren Verlauf der Geschichte wohl auch die zahlreichen Verfassungen der amerikanischen Indianernationen55, beginnend mit der Präambel der in der „New Town Echota“ am 24.7.1827 von einem Konvent beschlossenen englischsprachigen Verfassung der Cherokee Nation: „We the Representatives of the people of the Cherokee Nation, in Convention assembled in order to establish justice ensure tranquility, promote our common welfare, and secure to ourselves and our posterity the blessings of liberty acknowledging with humility and gratitude the goodness of the sovereign ruler of the Universe offording us an opportunity so favorable to the design and imploring his aid and direction in its accomplishments do ordain and establish this Constitution for the Government of the Cherokee Nation.“ Die Souveränität des mehrdeutigen „ruler of the Universe“ diente zur Vorspiegelung der Unabänderbarkeit der Grenzen des Reservats (sect. 1) und der „sovereignity & jurisdiction of this Government“ über das Land, das zur „Common property of the Nation“ erklärt wurde (sect. 2). In Cherokee Nation v. Georgia 1831 hielt es Chief Justice Marshall nicht für angezeigt, die Verfassung zu zitieren: „If it be true that the Cherokee nation have rights, this is not the tribunal in which those rights are to be asserted.“ Noch 1848 waren Satiren und Karikaturen an der Verfassunggebung beteiligt. Im 1847 der Toscana einverleibten Lucca tauchte bereits 1847 eine angeblich in Paris, tatsächlich wohl in Pisa gedruckte Verfassung auf: „Costituzione accordata ai lucchesi dal duca di Lucca l’anno della passione 1847“. Die enttäuschten Erwartungen des Konstitutionalismus verriet der Titel „Aprilscherz“ auf dem Deckblatt einer Mailänder Veröffentlichung 55 Rechtsquellen unter http://thorpe.ou.edu/const.html. Vgl. R. Miller, Tribal Constitutions and Native Sovereignty (April 4, 2011). http:// ssrn.com/.

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der Übersetzung der österreichischen Verfassung vom 25. April 1848 mit dem Zusatz: „Die Völker Italiens, ja Europas kennen keine längere und liberalere Verfassung als diese: boshafter Erguss der alten Politik, die längst durch den unerbittlichen und siegreichen Gegengesang zu ewigem Fiasko verurteilt ist: ZU SPÄT!“ In Wien zeigte zur gleichen Zeit eine Karikatur den nach London davonlaufenden Metternich unter der Überschrift: „Jede Constitution erfordert Bewegung.“56 Am Ende des 19. Jh. riet Santi Romano dazu, die ersten „kindischen“ Verfassungsbriefe zu vergessen. Lassalle inspirierte Herbert Spencer: „Paper constitutions raise smiles on the faces of those who have observed their results.“ 57 Spätestens mit Abraham Lincolns Amendments hatte sich das Lachen in den Vereinigten Staaten auf Verfassungsänderungen und spätestens mit dem Court packing plan Roosevelts auch auf die Verfassungsrechtsprechung verlagert.58 Im Laufe der Zeit fiel der Wissenschaft die Aufgabe zu, weniger den Wortlaut der Verfassung (z. B. Art. 2, sect. 1 „No Person except a natural born Citizen, or a citizen of the United States, at the time of the Adoption of this Constitution, can be eligible to the Office of President“) und mehr die Rechte „ernst“ zu nehmen (Abb. 4).59 V. Verfassungsrechtliche Regulierungen der Lachkultur Im Verfassungsstaat darf gelacht und Lachen gefördert werden. Lachen und zum Lachen bringen ist grundrechtlich speziell durch die Kommunikationsgrundrechte und die Kunstfreiheit 56 http://www.habsburger.net/de/medien/anton-zampis-karikatur-jedeconstitution-erfordert-bewegung-den-14-marz-1848?language=en. 57 H. Spencer, From Freedom to Bandage, in: T. Mackay (ed.), A Plea for Liberty: An Argument Against Socialism and Socialistic Legislation, New York 1891. 58 http://www.ushistoryscene.com/wp-content/uploads/2013/05/myfriends.jpg. 59 J. Striker/J. Levinson/J. Balkin, Taking Text and Structure Really Seriously: Constitutional Interpretation and The Crisis of Presidential Eligibility, 74 Tex. L. Rev. 237 (1995).

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Abb. 4 © CartoonStock Ltd., UK

erlaubt, weil es als Form der Äußerung von Persönlichkeit Freiheit dar- und herstellt. Ein Mensch, der nichts zu lachen hat, riskiert, dass man seine Menschenwürde nicht mehr wahrnimmt. Lachen kann aber auch wie gezeigt weitere Funktionen haben. Deshalb gibt es auch öffentliche Aufgaben, die zur Beförderung der allgemeinen Wohlfahrt auch Einrichtungen, Veranstaltungen und Ausgaben rechtfertigen, bei denen gelacht werden soll. Zu denken sei an Veranstaltungen wie die römischen „circenses“ oder den Karneval, Einrichtungen wie öffentliche Theater, Opern, Kabarett und witzige Fernsehprogramme, aber auch an die Lachkultur der Kindergärten und die Lachtherapien im Gesundheitswesen. Selbst Politik kann erheitern. Lachen gehört letztlich zum Recht des „pursuit of happiness“, das Benjamin Franklin in die amerikanische Unabhängigkeitserklärung einbrachte, aber auch zum bonheur de tous, das die Präambel der französischen Menschenrechtserklärung von 1789 verspricht. „Was darf Satire? Alles.“ Schon bei Tucholsky bedeutete dieser Witz keine Preisgabe von Menschenwürde und Grundrechten Dritter, sondern deutet auf ein weises Selbstverständnis, das ein mehr oder weniger spontanes Lachen von mindestens einem durchschnittlich vernunftbegabten Dritten erwartet, der abwä-

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gungsbereit ist und nicht einfach den Wutbürger spielt. Keine Satire ist es mehr, wenn das Lachen bei näherem Hinsehen vernünftigerweise vergeht, weil keine Wahrheit gezeigt und keine Befreiung, sondern nur Erniedrigung erfolgt. Mit diesem Begriffsverständnis ist kein Common sense-Vorbehalt und auch keine political correctness-Bremse errichtet, sondern deutlich gemacht, dass Satiren nicht notwendig abwägungsfeindlich und in Grundrechtsdilemmata verfangen sind. Grundrechte und Menschenwürdegarantie können eine Person dagegen schützen, von öffentlichen Organen ausgelacht oder von Privaten unberechtigt dauerhaft lächerlich gemacht zu werden. Auslachen kann z. B. die Ausübung der Religionsfreiheit oder der Lehrfreiheit und die Anerkennung der Ehre oder des Eigentums (Graffiti) Anderer so stark behindern oder Behinderte, Kleine, Schwache und Andere so stark diskriminieren, dass ihnen angemessener rechtlicher Schutz gewährt werden muss.60 Auch die besonderen staatsorganisatorischen Garantien der Staatsfunktionen rechtfertigen angemessenen Schutz öffentlicher Institutionen gegen Störungen der Ordnung ihrer Funktionsabläufe, z. B. übertriebenes Gelächter im Gerichtssaal, auf der Parlamentstribune, in der Kaserne, im Krankenhaus oder im Klassenzimmer. Wie weit konkret der Grundrechtsschutz der Ausdrucksformen derer geht, die Lachen erzeugen, ist umstritten und variiert zeit-, orts- und kontextgebunden.61 Besonderes Augenmerk ist auf die institutionellen Kontexte der „intermediären“ bzw. gesellschaftlichen Gewalten in maßgeblichen Funktionsbereichen des Verfassungsstaates richten, speziell auf Politik (1), Rechtspflege (2), Religion (3) und Wirtschaft (4). In ihnen zeigen nicht nur die Gewohnheiten der Satire, sondern auch die rechtliche Bewertung ihrer Grenzen geographisch darstellbare Unterschiede, die einer eigenen geschichtlichen Dynamik unterliegen. 60 Aus der traditionell mehr staatsgerichteten Sicht H. Bethge, Grundrecht auf Humor – Darf Satire alles?, in: H. Weber, Juristen hinter Literatur und Kunst, Berlin 2. Aufl. 2013, S. 11 ff. 61 BVerfGE 93, 266 (298), dazu zuletzt D. Hildebrandt: „Was wäre, wenn alle Soldaten nicht potentielle . . ., sondern potentielle Deserteure wären?“

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(1) Die ehemaligen Majestätsbeleidungen sind zu Verunglimpfungen des verfaßten eigenen oder fremden Staates, der Verfassungsorgane und seiner Symbole geworden. Die Verfassungsurkunde selbst und ihr Urheber sind nicht als solche geschützt, wie z. B. die in den Vereinigten Staaten geläufige, zuletzt gegen Präsident Obama verwandte Karikatur der brennenden Verfassung zeigt. Das Verbrennen kann je nach dem faktischen und normativen Kontext nur ein Problem des Brand- und Immissionsschutzes oder auch ein Problem des Verfassungsschutzes speziell in postautoritären Demokratien darstellen. Während der Supreme Court die „flag burning statutes“ für schlechthin verfassungswidrig erklärte, hielt der Conseil constitutionnel das Verbot der Verunglimpfung der Flagge unter der Bedingung für verfassungsmäßig, dass es weder auf „oeuvres de l’esprit“ (Geisteswerke), noch auf private Veranstaltungen Anwendung finde.62 Die Karlsruher Verfassungsrichter ließen ein Bild des Urinierens auf die deutsche Bundesflagge nur im pazifistischen Kontext freisprechen,63 während die italienische Corte costituzionale einen Parlamentsbeschluss aufhob, in dem die öffentliche Äußerung des Abgeordneten Bossi, mit der Tricolore putze er sich nur sein Hinterteil ab, als von seiner Immunität gedeckt qualifiziert worden war.64 Dieser Selbstschutz des Parlaments hat seinerseits ein Vorbild im englischen Parlament, dessen Regeln verbieten, Aufzeichnungen der proceedings in Komödien oder Satire zu verwenden. Der Narrenfreiheit der Politiker im Parlament entsprechend sind in der Demokratie auch Satiren über Politiker und Karikaturen von Politikern eine selbstverständliche Artikulation der Souveränität des lachenden Volkes, die sich auch von der „political correctness“ nicht zensieren läßt.65 Weil entscheidend für die Grenzen des Lachens der Respekt der Menschen62 Conseil Constitutionnel DC 2003-467 DC, 13.3.2003. Zuvor bereits die Urteile des Tribunal Constitucional Nr. 118/1992 und 119/1992. 63 BVerfGE 81, 278 (Urinieren auf Bundesflagge). 64 Corte costituzionale Nr. 249/2006 und Nr. 333/2011 betr. anschließender Richterbeleidigung. 65 Beispiele aus der deutschen Rechtsprechung S. Gärtner, Was die Satire darf, 2009, S. 205 f.

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würde der Person, ihre Ehre und Gleichheit, und damit letztlich auch der Schutz der Demokratie ist, erhalten bisher weder fremde Nationen noch die Europäische Union oder Internationale Organisationen einen vergleichbaren Schutz gegen „libel“. (2) Wenig erforscht ist der Umgang von Richtern und Staatsanwälten mit denen, die über sie lachen. Das Misstrauen gegenüber dem Richterstand war besonders groß in Frankreich. Nachdem Honoré Daumier 1832 Louis-Philippe als Gargantua karikiert und dafür sechs Monate Haft verbüßt hatte, brachte ihn die 1835 eingeführte Bilderzensur auf die Karikatur der „gens de justice“.66 Versuche, die Beurteilung von Pressedelikten in Frankreich einer Jury zu übertragen, scheiterten. Auch das „Volk der Richter und Henker“ (Die letzten Tage der Menschheit, 1915) von Karl Krauss verhinderte nicht die Beschlagnahme seiner pazifistischer Satiren im ersten Weltkrieg. Der ebenso von Frankreich inspirierte Kurt Tucholsky leitete 1921 sein Gedicht „Die Objektiven“ mit dem Epitaph „Beleidigungsklagen dankend verbeten“ ein, blieb aber von Strafverfahren und Ausbürgerung nicht verschont. Ob die 1968 wiederbelebten Erinnerung an seine satirische Richterkritik bereits gemeineuropäisches Kulturrecht geworden ist, mag bezweifelt werden. In Reaktion auf eine Entscheidung des EGMR, verbietet jedenfalls der englische Contempt of Court Act 1981 bis heute sowohl Veröffentlichungen, die den Ausgang eines Verfahrens mit oder ohne Jury beeinträchtigen könnten (sub judice rule), als auch den „Contempt in the face of the Court“, d.h. ein „Verhalten, das Misstrauen oder Respektlosigkeit offenbart oder die Hoheit des Gerichts oder den Vorrang des Rechts selbst in Frage stellt.“67 Verboten ist schon seit 1900 jegliches „scandalizing the court“, einschließlich „a scurrilous attack on the judiciary as whole“.68 In Nigeria wird das mit der „illiteracy“ des Publikums, in Zim66 Zur Karikatur „melon de Gill“ (1868) gegen den gefürchteten Richter Delveaux vgl. R. Goldstein, Censorship of Political Caricature in Nineteenth-century France, 1989, S. 25. 67 http://lawcommission.justice.gov.uk/consultations/contempt.htm. 68 Chokolingo v. AF of Trinidad and Tobago [1981] 1 All ER 244, S. 248.

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babwe mit dem Argument begründet, der Richter könne ein Urteil gegen Satire nicht nachträglich öffentlich verteidigen.69 In den USA wurde das Kriterium von Felix Frankfurter früh als „english foolishnes“ verworfen,70 in der Rechtsprechung des EGMR nicht als unverhältnismäßig eingestuft.71 Die britische Law Commission hat nun Ende 2012 ihre Aufhebung empfohlen.72 (3) Auch Blasphemie ist eine Form der Beleidigung einer Majestät und einer der ältesten und aktuell umstrittensten Gründe der Zensur des „ungläubigen“ Lachens über Religion, dessen Formen von der Karikatur und Satire bis hin zur Parodiereligion reichen.73 Der Nichtvollzug der Fatwa gegen Salmon Rushdie, das Strafverfahren gegen den holländischen Karikaturisten Gregorius Nekschot, die Einstellung des Strafverfahrens gegen die Mohammed-Vignetten in Dänemark, des deutschen Verfahrens gegen die Papstkarikaturen der Titanic, des russische Strafverfahren gegen die „Pussy Riot“ dürften das Genfer Human Rights Committee in seinem General comment Nr. 34 zur Meinungs- und Äußerungsfreiheit des Menschenrechtspakts zur Feststellung bewogen haben, Blasphemieverbote seien nur noch dann paktkonform, wenn sie ein Eintreten für religiösen Hass treffen, das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt aufstachelt.74 Geschützt werden kann der Religionsfrieden und – je

69 Nachweise in http://www.article19.org/data/files/pdfs/publications/ foe-and-contempt-of-court.pdf. 70 Bridges v California (1941) 314 US 252, 287; Garrison v Louisiana (1964) 379 US 64. 71 Nr. 3699/08, Urteil v. 31.5.2011; http://hudoc.echr.coe.int/sites/ eng/pages/search.aspx?i=001-104933. 72 http://lawcommission.justice.gov.uk/docs/cp207_Scandalising_the_ Court_for_web.pdf. 73 Zuletzt J. Isensee, Blasphemie und Säkularität, in T. Lauterbach (Hrsg.), Kann man Gott beleidigen? 2013, S. 193 ff. 74 UN CCPR/C/GC/34 (12.9.2011): „Prohibitions of displays of lack of respect for a religion or other belief system, including blasphemy laws, are incompatible with the Covenant, except in the specific circumstances envisaged in article 20, paragraph 2, of the Covenant. Such prohibitions must also comply with the strict requirements of article 19, paragraph 3, as well as such articles as 2, 5, 17, 18 and 26. Thus, for instance, it would

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nach Religionsverfassung – auch der individuelle oder kollektive Kulturwert der Religion nicht schon gegen ungläubiges Lachen über comic words, sondern allenfalls gegen Religionshass in fighting words. Die Schrankenziehung ist bislang freilich zeit- und ortsbedingt und kann mit der Multikulturalität des Kontextes zusammenhängen.75 In Frankreich wurde das Blasphemieverbot schon 1791, in England erst 2008 aufgehoben.76 Der US-Supreme Court hat auch einen Prediger zu den „öffentlichen Figuren“ gerechnet, die sich Ironien auf dem „marcetplace of ideas“ im neutralen Staat gefallen lassen müssen und nur als gehässig oder verletzend empfundene Worte grundsätzlich hinnehmen zu müssen: „political cartoonists and satirists would be subjected to damages awards without any showing that their work falsely defamed its subject.“77 Im Fall Otto Preminger hielt der EGMR 1994 dagegen das Verbot der Wiedergabe der Aufzeichnung eines in Rom ungehindert aufgeführten Theaterstücks im mehrheitlich katholischen Tirol für konventionskonform, dessen literarische Vorlage bereits 1895 in München zu einem Strafurteil gegen Oskar Panizza geführt hatte.78 1998 hielt dann der Israelische Supreme Court die Verurteilung eines israelischen Siedlers aufrecht, der eine Mohammed-Karikatur in der Palästina-Region zur Schau stellen versuchte.79 Weitere rechtliche be impermissible for any such laws to discriminate in favour of or against one or certain religions or belief systems, or their adherents over another, or religious believers over non-believers. Nor would it be permissible for such prohibitions to be used to prevent or punish criticism of religious leaders or commentary on religious doctrine and tenets of faith.“ 75 Nach D. Grimm, Freedom of Speech in a Globalized World, in: I. Hare/J. Weinstein (Hrsg.), Extreme Speech and Democracy, 2009, S. 17 braucht Multikulturalität mehr Kommunikationsfreiheit als kulturelle Homogenität. 76 Blasphemy, insult and hatred: finding answers in a democratic society, Sytrasburg 2010, http://www.venice.coe.int/webforms/documents/? pdf=CDL-STD(2010)047-e; B. Berkmann, Von der Blasphemie zur „hate speech“? 2009. 77 Hustler Magazine, Inc. v. Falwell, 485 U.S. 46, 108 S. Ct. 816, 99 L. Ed. 2d 41 (1988). 78 Otto Preminger Institut v. Österreich (Nr. 13470/87), Urteil v. 20.9.1994.

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Grenzziehungen sind denkbar, so z. B. wenn unter dem Anschein einer Satire nur die Opfer der Shoah durch Negationismus weiter verfolgt werden. Annäherungstendenzen der Rechtsprechung lassen sich vor allem in der westlichen Welt beobachten, dürfen aber nicht überschätzt werden. (4) Lachen darf schließlich auch Ausdruck rein hedonistischer Lust in der sog. Spaßgesellschaft sein. Der Spaß am Markt darf aber nicht in Schmähkritik gegen andere Marktteilnehmer bzw. Unternehmen ausarten und ihren Markterfolg behindern.80 Das Lachen allein rechtfertigt zudem keine Verletzung von Urheber- und Markenrechten, speziell wenn bei Parodien wirtschaftliche Interessen überwiegen.81 Eine Aufhebung von Art. 118 BGB, der ausdrücklich die Nichtigkeit von Scherzerklärungen gebietet, wäre im Übrigen wohl verfassungswidrig. Nationale Unterschiede lassen sich in diesem Bereich letztlich kaum mehr ausmachen. VI. Das Menschenbild des homo ridens Der homo ridens ist letztlich Ausdruck eines gemäßigt optimistischen, aber nicht unrealistischen Menschenbildes, mit dessen Hilfe vor allem das Menschenwürdeprinzip interpretiert werden kann.82 Schon Kierkegard empfahl die Ironie: „Ebenso wie die Philosophie mit dem Zweifel, ebenso beginnt ein Leben, das menschenwürdig genannt werden kann, mit der Ironie.“ 83 Wer 79 Suszkin v. Israel (1998) IsrSC 52 (3) 289. Vgl. A. Reichman, Criminalizing Religiously Offensive Satire: Free Speech, Human Dignity, and Comparative Law, in: (Fn. 75), S. 289 ff. 80 BVerfG, Beschluss v. 08.05.2007, 1 BvR 193/05. 81 S. Gärtner (Fn. 65), S. 282 ff.; vgl. D. Green, Gulliver’s Trials: A Modest Proposal to Excuse and Justify Satire, Chapman Law Review 2007, 183 ff.; L. Little, Regulating Funny: Humor and the Law, Cornell Law Review 2009, http://ssrn.com. 82 Hierzu P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 2. Aufl. 2001, S. 40 ff. 83 S. Kierkegard, Über den Begriff der Ironie (1841), in: Gesammelte Werke, 1961, S. 4. Hierzu und zu R. Rorty H. Willke, Ironie des Staates, Frankfurt 1996, S. 85 ff., 316 ff.

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nichts zu lachen hat und nur belacht wird, kann Unfreiheit und Erniedrigung erleiden. Durch sein eigenes Lachen kann sich der homo ridens dagegen über Menschenwürde, Freiheit und Wahrheit verständigen und vergewissern, kulturell selbst schützen. Man mag gegen diesen Optimismus einwenden, die moderne Nachfrage nach Lachen beruhe auf einer an die Stelle der Melancholie getretene Hypochondrie der Philosophen.84 Die Volksweisheit „Lachen ist gesund“ beansprucht jedoch weder eine Therapie gegen Hysterie und Nervosität, noch eine zivile Ersatzreligion zu sein, eher eine Anleitung des Gewissens zur „Menschlichkeit“ und zur Selbstregulierung der Temperamente und Passionen. Sie verweist letztlich auch auf eine kulturanthropologische Annahme, dass der Mensch sein Glück nämlich mehr oder weniger selbst bestimmen kann und durch seine Lachkultur an der Entwicklung der Menschheit aktiv teilnimmt. Der homo ridens ist insofern zugleich eine Spezies des homo sapiens und des homo ludens.85 Mimische Spiele, die sexuelle oder freundschaftliche Interaktion und Integration ermöglichen, gibt es zwar auch bei anderen Primaten und der Mensch lacht schon bevor er spricht, aber erst die Entwicklung von Sprache und Geist haben die kulturelle Ausdifferenzierung der verschiedenen menschlichen Ausdrucksformen des Lachens selbst ermöglicht.86 Wenn aktives Lachen notwendige Bedingung für die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit ist, kann die Lachkultur auch als Voraussetzung oder Bestandteil der Konstitution der heutigen menschlichen Gemeinwesen verstanden werden. 84 S. Schroeder, „Lachen ist gesund?“ – eine volkstümliche und medizinische Binsenwahrheit im Spiegel der Philosophie, 2002, S. 163 ff. http://www.diss.fu-berlin.de/diss/receive/FUDISS_thesis_000000000659. 85 J. Huizinga, Homo ludens: Versuch einer Bestimmung des Spielelements der Kultur, 1939. 86 J. Polimeni/J. Reiss, The First Joke: Exploring the Evolutionary Origins of Humor, Evolutionary Psychology 2006, S. 347 ff. führt u. a. eines der ersten Kunstwerke an, das vor ca. 32.000 Jahren einen Löwenkopf mit Menschenbeinen vereinte. Zur ethnographischen Ausdifferenzierung vgl. nur M. Smith, Laughter: Nature or Culture? (2008), https:// scholarworks.iu.edu/dspace/bitstream/handle/2022/3162/Laughter%20 naure%20culture1.pdf.

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Der homo ridens bietet dem Verfassungsstaat ein nicht notwendig modernes Menschenbild, das mit den Fiktionen des homo oeconomicus und des homo politicus zu konkurrieren bzw. ihnen sogar zu widerstehen scheint. Die Baustoffe des Verfassungsstaates, Recht und Politik, sind auf den ersten Blick zwar nicht zum Lachen. Das Recht hat aber an der Formung der Lachkultur Anteil, nicht nur als Grenzen ziehende und regulierende Zwangs-, sondern auch als sie ermöglichende und schützende Freiheitsordnung. Die Politik kann als Suche nach Gemeinwohl auch der Lachkultur dienen, als Kampf um Macht sie nutzen. Im demokratischen Verfassungsstaat bietet die Verfassung allerdings keinen Entwurf einer Lachgesellschaft, sondern nur einen Rahmen für die Autorität der Institutionen und ihrer Gesellschaft. Sie verbietet den Waltern des Rechts und der Politik, den Bürger zynisch zu verlachen oder „hypokritisch“ zum Narren zu halten. Die als verfassungsrechtliches Grundprinzip und Grundrecht garantierte Menschenwürde und die Freiheitsrechte der Kommunikation gebieten dem Staat, die Bürger in ihrer Gesellschaft lachen und scherzen zu lassen, aber verbieten ihnen auch, diese Freiheit zu missbrauchen, um andere Bürger zu schmähen und zu degradieren. In diesem Rahmen hat Lachkultur als Kultur einen unbestreitbaren Wert und grundsätzlich Anspruch auf öffentlichen Schutz und Förderung. Das freie Lachen, auch über sich selbst, macht nicht nur stark für die Demokratie, sondern fördert letztlich auch moralische Tugenden wie Integrität, demokratische Authentizität oder republikanische Lernbereitschaft und nicht zuletzt einen Sinn für Moderation und Menschlichkeit im Umgang mit Anderen.87 Im Lachen können Grundwerte erlebt, reproduziert und erneuert werden. Es kann dazu dienen, soziale Bindungen in der Gesellschaft herzustellen und zu erhalten, auch politische Gegensätze überbrückende „Lachgemeinschaften“. Daher hat die Lachkultur auch Anteil an den Kulturen des Verfassungsrechts und der Verfassungspolitik. Wie gesehen, kann sie bereits in der „Verfassungsrechtschreibung“ wirksam 87

F. Buckley, The Morality of Laughter, 2007.

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werden, zuletzt etwa in der Kritik an der Präambel des gescheiterten EU-Verfassungsvertrags oder an den jüngsten ägyptischen Verfassungen. Sie kann aber auch der Verteidigung einer geschriebenen Verfassung, sogar gegen ihre Richter dienen (Stichwort: „Leichen im Keller des Bundesverfassungsgerichts“). Vor allem Inkongruenzen von Verfassungsnorm und – wirklichkeit lassen sich mit Humor aufzeigen und teils leichter überwinden, teils leichter ertragen („mal comune mezzo gaudio“). Die politische Satire hat allerdings mehr Freiheit als die Richtersatire und die Unbefangenheitspflicht verbietet dem Gericht jeglichen „Gegenschlag“ gegen die Ironie der Anwälte, auch gegen die eines Sondervotums. Das Lachen und wer es provoziert ist in Autokratien suspekt und wird in totalitären Regimes vorzensiert und bestraft oder – wie im nationalsozialistischen „Deutschen Humor“88 – reguliert und instrumentalisiert. In der Demokratie und dem Rechtsstaat darf es dagegen aus der Gesellschaft in den Ernst der Institutionen bis zu einem gewissem Grad auch irritierend hinein schallen. Satiren und Karikaturen bilden und bewahren im Verfassungsstaat politische Freiheit und demokratische Souveränität, sind zivile Zeichen der Kritik, des Dissenses und der Opposition, ohne die Konsens keine Legitimation zu erzeugen vermag. Das Lachen des Publikums kann informell Zustimmung oder Ablehnung signalisieren, Abstimmungen ersparen und Kommunikation vereinfachen. Diese Wirkung setzt freilich voraus, dass ihre Kommunikationsmittel allen Bürgern gleichermaßen offen stehen und nicht gegen die gleiche Freiheit oder gar gegen die Menschenwürde missbraucht werden. Ein „gag“ kann auch Knebelung bedeuten und eine „gag rule“ Kommunikation verbieten, um Gewalt zu verhindern.89 Nicht nur Populisten können das Charisma des 88 Hierzu P. Merziger, Nationalsozialistische Satire und ,Deutscher Humor‘, 2010. 89 Zu den Grundlagen des Verbots von 1836, im Kongress über Sklaverei zu reden, im pessimistischen Bild des „irrationalen“ Menschen bei Hobbes vgl. S. Holmes, Passions & Constraints, 1995, S. 87: „stable government requires gag rules to stifle mutual insult“.

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Lächelns und die Waffen der Ironie nutzen, auch Komiker können sich zum Populismus verführen lassen, was man derzeit in Italien z. B. der von Beppe Grillo geführten Bewegung „Cinque stelle“ vorwirft, deren Impeachment-Antrag den Staatspräsidenten wohl unbeabsichtigt vor der Ironie seiner Kritiker90 rettet. Lachen allein bewahrt und erneuert selbstverständlich noch keine Verfassung, aber ebenso wenig reicht es aus, Verfassungen allzeit nur ernst zu nehmen. Weder das Lachen noch der Ernst können ein Dauerzustand in der Verfassungskultur sein. Im Verfassungsstaat darf man heute zumindest über manche nicht mehr zeitgemäße Teile einer Verfassung, Inkongruenzen ihrer Geschichte oder überspannte Erwartungen an ihre Zukunft eher lachen als weinen. Für Karl Marx war das moderne ancien régime nur mehr „der Komödiant einer Weltordnung, deren wirkliche Helden gestorben sind“: „Die letzte Phase einer weltgeschichtlichen Gestalt ist ihre Komödie. (. . .) Warum dieser Gang der Geschichte? Damit die Menschheit heiter von ihrer Vergangenheit scheide.“91 Im heutigen demokratischen Verfassungsstaat kann der homo ridens souverän auch über sich selbst und seine Nationalität lachen und sich so der Welt öffnen.92

Vgl. M. Travaglio, Viva il Re! 2013. Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1844), in: Werke, Bd. 1, 1964, S. 382. 92 H. Plessner, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen des menschlichen Verhaltens, 1950, S. 154. 90 91

Verfassungen vom Ende her denken Von Lothar Michael I. Respice finem! Der Mensch neigt dazu, jegliches Denken an das Ende zu verdrängen. Hybris ist es, wenn er nicht nur die eigene Endlichkeit verdrängt, sondern auch die Endlichkeit seines Wirkens. Wenn säkulare Verfassungen Menschenwerk sind, sollte uns das nachdenklich stimmen, Verfassungen zu sakralisieren und ihnen den Schutz heiliger Rechte sowie Ewigkeitsansprüche anzudichten. Respice finem. Erinnern wir uns daran, dass mit Peter Häberle „Verfassung als öffentlicher Prozess“ 1 zu begreifen ist. Seine „Verfassungstheorie einer offenen Gesellschaft“ 2 eröffnet mit drei Gedanken:3 Eine demokratische Verfassungstheorie impliziert das „Möglichkeitsdenken“, sie ist nicht ohne das Spannungsfeld zwischen „Zeit und Verfassung“ denkbar und sie hat „ohne Naturrecht“ auszukommen. Eine Sakralisierung und Verewigung von Verfassungsinhalten führt zu einer Herrschaft der Toten über die Lebenden und lässt sich auf der Grundlage dieser Theorie nicht plausibel legitimieren. Denn eine solche Herrschaft schließt Möglichkeiten aus, sie negiert die Zeit oder basiert auf Naturrecht. Doch wie können wir die Lücke füllen, die bleibt, wenn wir auf eine Sakralisierung von Verfassungen verzichten und dennoch ihre legitime Geltung auch Generationen nach ihrer Entstehung behaupten? 1 Das Diktum ist nunmehr 45 Jahre alt: P. Häberle, Öffentlichkeit und Verfassung, ZfP Bd. 16, 1969, S. 273 ff., zur Genese: ders., Verfassung als öffentlicher Prozess (1978), 3. Aufl. 1998, S. 5. 2 So der Untertitel des o. g. Sammelbandes. 3 Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozess (1978), 3. Aufl. 1998, S. 17 ff., 59 ff. und 93 ff.

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„Den Verfassungsstaat nachdenken“ – dies soll hier beim Wort genommen und durch einen Perspektivwechsel reflektiert werden. Verfassungen werden gemeinhin von ihrem Anfang her gedacht – bezogen auf ein Absolutes: Sie werden auf eine schöpferische Verfassunggebung zurückgeführt und zu einer vermeintlich ewigen Geltung überhöht. Die überkommene Verfassungstheorie neigt zu kreationistischem Verfassungsabsolutismus. Dabei wird unterschätzt, welche Sinnstiftung für geltende Verfassungen auch davon ausgehen könnte, sie vom Ende her zu denken. Blicken wir in die Zukunft, ist nicht die Verfassunggebung, sondern die Verfassungsablösung die fundamentale Frage des Verfassungsstaates und der Verfassungstheorie. Gerade um des Verfassungsstaates willen gilt es, Verfassungen von ihrem Ende her zu denken. „Respice finem“ gilt auch für Verfassungen. Um einem Missverständnis hier vorzubeugen: Nicht vom Ende des Verfassungsstaates, sondern vom Ende einzelner Verfassungen, also von der Ersetzung einer Verfassung durch eine neue soll hier die Rede sein. Denn auch die hier vorgelegten Thesen verstehen sich als Bausteine einer demokratischen Verfassungstheorie, deren Prämisse die Volkssouveränität ist und bleibt. Weil die Volkssouveränität kontinuierlich zu denken ist, muss die Verfassung zur jederzeitigen Disposition des Volkes stehen. Dabei ist zwischen der anfänglichen Verfassunggebung und einer zukünftigen Verfassungsablösung zu unterscheiden. Das Denken an das Ende verweist nicht auf eine neue Verfassunggebung, sondern auf eine davon zu unterscheidende Verfassungsablösung. Verfassungsablösung impliziert zwar auch einen neuen Anfang, aber einen Neuanfang aus einem bereits auf der Volkssouveränität beruhenden Verfassungsgefüge heraus. Dadurch ändern sich die Vorzeichen. Das Konzept, Verfassungen vom Ende her zu denken und Verfassungsablösung zu ermöglichen, beansprucht gegenüber der Verfassunggebung Legitimität auf einer höheren, fortentwickelten Stufe des Verfassungsstaates, denn sie kommt ohne die Selbstermächtigung revolutionärer Akteure aus und ist als prozedural demokratisch zu begreifen. Die Anerkennung der

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Verfassungsablösung als eigenständige verfassungstheoretische Kategorie will das Möglichkeitsdenken verfassungsimmanent optimieren. Das Konzept der Verfassungsablösung will den Prozess der Verfassungssäkularisierung, die Volkssouveränität, die Offenheit von Verfassungen und den Rechtsstaat zu Ende denken. Ein Denken vom Anfang her, für das es viele Gründe gibt (dazu II.) schließt keineswegs aus, Verfassungen auch vom Ende her zu begreifen und Letzteres gilt es in einem postrevolutionären Denken in den Mittelpunkt zu rücken (dazu III.). Einwände hiergegen lassen sich entkräften (IV.). Konsequenzen lassen sich auf dem Boden geltender Verfassungen ziehen (V.). Erst wenn wir Verfassungen in der Zeit begreifen und vom Anfang bis zum Ende denken, entfalten diese ihre volle Legitimität. II. Warum wir Verfassungen zunächst vom Anfang her begreifen 1. Entstehung als Erklärung von Sein Ursprungsdenken ist nicht nur in der Verfassungstheorie verbreitet. Was ist, muss entstanden sein.4 Der Mensch fragt danach, wer oder was hinter Entstehungsprozessen steht. Die Biographien von Erfindern, Künstlern und Herrschern und die Umstände der Entstehung ihrer Werke interessieren uns. Geschichte ist vor allem Erzählung von Umbruchsituationen. Revolutionen gehören zu ihren spannendsten Kapiteln.5 Wem die Durchsetzung des politisch Neuen gelingt, „schreibt“ Geschichte. Verfassunggeber stehen in einer Reihe mit anderen Schöpfern, mit Wesen also, denen wir als Erklärungsversuch Heldentum oder Fortune, Genialität oder Transzendenz zusprechen. Es geht also um die Fragen nach der Autorschaft und nach der Authentizität plausibler Entstehungsgeschichten. 4 So die Akzentuierung bei H. Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, 1960, die den von ihrem Lehrer M. Heidegger thematisierten Zusammenhang von „Sein und Zeit“ (1927) mit dessen Todesperspektive umdeutete in eine Philosophie der Gebürtlichkeit. 5 H. Arendt, Über die Revolution, 1963.

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Für die hier gestellte Frage wichtiger als die Personen ist der Akt der Verfassunggebung als geschichtlicher Vorgang. Verfassunggebung wird generell als Schöpfungsakt begriffen und ist als solcher zugleich eine verfassungstheoretische Kategorie. Das Recht bedarf einer Geltungs- und Legitimationsbasis. Der Verweis der Verfassungstheorie auf eine verfassungsgebende Gewalt gibt also eine Antwort (und sei es nur in Form einer Chiffre) auf die alte Frage nach jeglichem Ursprung. Wenn Verfassungen gelten, muss es auch Verfassunggebung geben (richtiger: gegeben haben). Nicht bestimmte geschichtliche Vorgänge prägen den Begriff der Verfassunggebung, sondern das Ergebnis im Rückblick einer entstandenen Verfassung. So gibt es mehr oder weniger blutige bis hin zu nahezu gewaltlosen Revolutionen. Verfahren der Verfassunggebung kennen wir mit und ohne Wahlen einer verfassungsgebenden Versammlung sowie mit und ohne anschließende Verfassungsplebiszite. Verfassunggebung ist eine Kategorie, die denkbar offen ist für sehr verschiedene Prozesse. Im Rückblick werden all diese Entstehungsprozesse gegebenenfalls zu Vorgeschichten einer geltenden Verfassung. Angesichts der Vielfalt solcher Entstehungsgeschichten liegt es fern zu behaupten, der Verweis auf die Verfassunggebung als Ursprung einer Verfassung fülle zugleich die bei der Entstehung verbindlichen Rechts sich auftuende Lücke der Legitimation. Die Geltung von Recht stützen wir auf legitime Verfahren und verfassungsrechtlich legitimierte Institutionen. Gesetzgebung ist im Rechtsstaat, der nicht nur Recht setzt, sondern sich dabei auch selbst an Recht bindet, eine rechtliche Frage. Dies suggeriert eine begriffsbildend gewordene Parallele auch für die Verfassunggebung: So wie hinter dem Gesetz ein Gesetzgeber steht, so steht hinter einer Verfassung ein Verfassungsgeber. Das klingt plausibel, verschleiert aber, dass die Differenz zwischen Verfassungsgeber und Gesetzgeber aus zwei Gründen noch größer ist, als jene zwischen Verfassung und Gesetz. Erstens gibt es für die Verfassungsbindung des Gesetzgebers nicht ohne weiteres ein Analogon für die Verfassunggebung. Zweitens wird dem Gesetzgeber eingeräumt, nicht nur einfache Gesetze zu erlassen und zu ändern, sondern auch die Verfassung oder jedenfalls

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(in der Terminologie Carl Schmitts) das Verfassungsgesetz zu ändern. Ob Verfassunggebung ihrerseits an rechtlichen Maßstäben gemessen werden kann, ist bis heute eine ungelöste und vielleicht auch unlösbare Frage. Hans Kelsen spricht von einer „Grundnorm“ 6 und warnt vor der vorrechtlichen Macht, in deren „Gorgonenhaupt“ 7 wir blickten, hinterfragten wir die Geltung des Rechts und die Verfassunggebung. Vieles spricht dagegen, Verfassunggebung rechtlich fassen oder gar verfassen und binden zu können, wenn wir die Überwindung naturrechtlicher Maßstäbe als zentrales Anliegen des säkularen Verfassungsstaates ansehen. Der berechtigte Hinweis,8 auch die Entstehung einer Verfassung setze zwingend Institutionen und Verfahren voraus, löst die Frage nicht. Denn die Institutionen und Verfahren der Verfassunggebung beruhen im Ausgangspunkt auf Selbstermächtigung, die sich in Kategorien der Legitimität erfassen lässt, nicht aber in Kategorien der Legalität. Selbstbindungen unter Rückgriff auf überkommene Regeln lässt letztere allenfalls als „softlaw“ erfassen. Zwar lassen sich Vorwirkungen demokratischer Verfassungsinhalte auf die Entstehung demokratischer Verfassungen postulieren: Wer für die Zukunft Demokratie fordert, sollte sich bereits selbst daran orientieren. Allerdings gibt es allzu viele Beispiele für Verfassungsentstehungen, die demokratisch zu nennen euphemistisch wäre. Mag es also noch so wünschenswert sein, das Prozedere von Verfassungsentstehung in demokratischem Sinne zu optimieren, ist es doch eine Stärke der Theorie der Verfassunggebung, offen zu sein für effektive und legitime Verfassungsgeltung ohne zwingende prozedurale Voraussetzungen. Mehr noch: Gerade in den Fällen, in denen die Verfassungsentstehung nicht auf Wahlen und Abstimmungen zurückzuführen 6 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 203 f.; vgl. auch F. Fleiner/Z. Giacometti, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 1949, S. 49: „Ursprungsnorm“. 7 H. Kelsen, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 3 (1927), S. 52 (55). 8 D. Grimm, Ursprung und Wandel der Verfassung, in: J. Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), HStR I, 3. Aufl. 2003, § 1 Rn. 41.

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ist, erscheint das Bedürfnis einer plausiblen Geltungsgeschichte umso dringender. In derartigen Fällen die Verfasstheit der Verfassunggebung zu fordern, untergräbt potentiell die Autorität geltender Verfassungen, umso mehr, je höher solche Anforderungen sind. Ein Beispiel hierfür bietet die Diskussion um einen „Geburtsmakel“ des Grundgesetzes.9 Die Anforderungen an eine demokratische Verfassungsentstehung andererseits so zu reduzieren, dass ein solcher Prozess ohne Wahlen und Abstimmungen des Volkes auskommt, unterschätzt die überragende Bedeutung der Legitimität von Verfassungsentstehungsprozessen und den Anspruch des Demokratieprinzips. Die Lösung dieses Dilemmas ist in einer Trennung zwischen ursprünglicher Verfassunggebung einerseits und späterer Verfassungsablösung zu suchen. Nur letztere lässt sich – jenseits von Ansätzen der Vorwirkung, des Naturrechts oder der Selbstbindung – i. S. einer verfassungsrechtlichen Determinierung konstitutionalisieren. Hier soll nicht nach den Vorwirkungen, sondern den Nach- und Weiterwirkungen der Verfassung im Übergang gefragt werden. So wie dem Anfang von Verfassungen eine „Vorgeschichte“ vorausliegt, so ist nach ihrem Ende eine „Nacherzählung“ denkbar. Geltende Verfassungen und deren Ablösung können in einer zukünftigen Vergangenheit zu Vorgeschichten werden. Ein Denken vom Anfang und vom Ende her schließt sich nicht aus: Was ist, muss entstanden sein – was nicht ist, kann noch werden. An die Frage nach dem Anfang schließt sich Möglichkeitsdenken an: Die müßige Frage „Was hätte sein können?“ und die entscheidende in die Zukunft gerichtete Frage „Was könnte sein?“. Letztere im Verfassungsstaat stets stellen zu dürfen, ist eine Konsequenz der Volkssouveränität. Das führt uns zu einem zweiten Gesichtspunkt.

9 Statt aller H.-P. Schneider, Die verfassunggebende Gewalt, in: HStR VII, 1992, § 158 Rn. 37.

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2. Ursprung als Vergewisserung der Identität Noch dringlicher werden die Fragen nach dem Anfang, wenn es um uns selbst geht. Identitätsfragen sind originäre Fragen nach dem Ursprung. Die Frage „Wer bin ich?“ führt uns unweigerlich zu der Frage „Woher komme ich?“. Die Abstammung eines Menschen ebenso wie die Frage nach dem Ursprung der Menschheit und die Geschichte eines Volkes – das sind identitätsstiftende Fragen, die uns besonders bewegen. Die Antworten auf solche Fragen können naturwissenschaftlich bzw. historisch mehr oder weniger belegbar oder auch transzendent begründet werden. Religionen geben eine transzendente Antwort auf die Frage nach der Entstehung der Welt und des Lebens. Naturwissenschaften fragen nach physikalischen und biologischen Ursprüngen. Historische Gründungs- und Entstehungserzählungen geben uns Halt, auch wenn sie mythischer Natur sind. Die großen Worte – etwa des Johannes-Evangeliums oder aus Goethes Faust – über den Ursprung lassen sich mühelos auf Verfassunggebung übertragen: „Im Anfang“ geschriebener Verfassungen „war das Wort“ und „im Anfang“ der revolutionären Verfassunggebung „war die Tat“. Auch eine Verfassung hat eine Identität und diese einen Ursprung. Diesen Identitätsursprung nennen wir Verfassunggebung und begreifen ihn als schöpferischen Akt, als absolut, als originär und als revolutionär. Metaphorisch kann die Identität von Verfassungen sogar einem Wesen zugeordnet werden, nämlich dem Staat, wenn wir ihn als juristische Person begreifen.10 Und hinter dieser Identität steht ein Absolutes. Wenn Verfassungen die Gegenwart prägen und in die Zukunft weisen, stellt sich die Frage, aus welcher Perspektive dies in legitimer Weise geschehen kann. Der Frage „Woher komme ich?“ korrespondiert die nicht weniger essentielle Frage „Wohin gehe ich?“. Verfassungen vom Ende her denken, bedeutet zu fragen: Wohin wollen wir gemeinsam gehen? Wohin sollten wir nicht 10 Vgl. M. Nettesheim, Wo „endet“ das Grundgesetz?, Der Staat 51 (2012), S. 321 (326).

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gehen? Was erwartet uns in der Zukunft? Was wollen wir bewahren und wie sollten wir dies tun? Das sind die Fragen, die sich nicht nur bei der Verfassunggebung, sondern auch mit Blick auf eine zukünftige Verfassungsablösung stellen. Wohin wir gehen, ist nicht nur eine mögliche, sondern eine notwendige Verfassungsfrage. Verfassungen sind nicht nur Erzählungen über die Vergangenheit. Nicht nur die Fragen, woher ein Volk und seine Verfassungsidentität kommen, sind für die Verfassungsgeltung entscheidend. Verfassungen wollen demokratische Entscheidungen in der Gegenwart ermöglichen und begrenzen und diese Möglichkeit auch zukünftigen Generationen bewahren. Verfassungen haben einen Vergangenheitsbezug, gelten in der Gegenwart und sind in die Zukunft gerichtet. So ist aus der Perspektive der Gegenwart sowohl nach dem Anfang von Verfassungen zu fragen als auch nach ihrem Ende. Dieses Ende kann in der Schaffung einer neuen Verfassungsidentität liegen und diese Möglichkeit ist mit der Kategorie der Verfassungsablösung gemeint. Identitätsfragen weisen in die Vergangenheit ebenso wie in die Zukunft. 3. Mythos als Verfassungstradition Auch der narrative Charakter11 der Verfassungstheorie darf den Blick auf die Zukunft nicht verstellen. Gelingt eine Verfassung und wird sie gelebt, dann gibt sie einer Gesellschaft Halt. Sie vom Anfang her zu denken, dient dem Stabilitätsinteresse. Auf die Frage nach dem Ursprung von Verfassungen gibt es verfassungstheoretische und historische Antworten, die mehr oder weniger mythisch geprägt sind. Deren affirmativen, nämlich die Geltung von Verfassungen bejahenden Kern als solchen und insgesamt in Frage zu stellen, gilt als revolutionär bzw. als verfassungsfeindlich. Auch die Sakralisierung von Verfassungen ist verbreitet: Verfassungen sollen natürliche und heilige Rechte 11 O. Depenheuer, Auf der Suche nach dem erzählenden Staat, Überlegungen zur narrativen Fundierung moderner Staaten, in: ders. (Hrsg.), Erzählungen vom Staat, Ideen als Grundlage von Staatlichkeit, 2011, S. 7 ff.

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verbürgen und in ihrem Kern ewig gelten. Droht demjenigen, der dies radikal in Frage zu stellen wagt, in einer Welt des konstitutionalistischen Verfassungsabsolutismus der Vorwurf der Häresie? Verfassungssakralisierung ist zudem Ahnenkult. Die Materialien der Verfassunggebung sind als authentische Zeugnisse die Reliquien dieses Kultes. Respekt gegenüber den Toten und Pflege ihres Erbes gehört zu den Merkmalen kultivierter Gesellschaften. Die Vorgeschichten und Entstehungsgeschichten geltender Verfassungen haben den Charakter von Mythen. Sie interpretieren Geschichte, um eine Tradition zu begründen. Revolutionäre werden als Helden und der Akt der Verfassunggebung als Glücksfall idealisiert – nie wieder Revolution und nie wieder Verfassunggebung lautet das Motto aller geltungserhaltenden Erzählungen des Verfassungsstaates. Das Ende wird in solchen Geschichten ausgeblendet oder aber als die „Gefahr“ der (Konter-)Revolution beschworen. Solche Gründungserzählungen von Verfassungsstaaten sind die Mythen der Aufklärung,12 die ihrerseits tradiert werden. Diese Mythen haben ihre legitime – oder besser: legitimierende – Funktion, soweit sie sich auf eine Vergangenheit beziehen und die gegenwärtige Geltung einer Verfassung stützen. Aber der Mythos der Verfassunggebung tendiert dazu, auch in die Zukunft zu weisen. Das „Utopiequantum“ 13 verfassungsstaatlicher Identitäts- und Ewigkeitsklauseln stellt einen überschießenden Gehalt dar, dem mit einem mahnenden „respice finem“ zu begegnen ist. Mythen sind narrativ zu begreifen und nicht präskriptiv. Sie überhöhen – aus gutem Grunde – die Revolutionäre im Rückblick zu Friedensstiftern. Die Revolution lässt sich aus der Sicht einer geglückten Verfassung interpretieren als Übergang in eine gute Ordnung.

T. W. Adorno/M. Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, 1988. P. Häberle, Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien (1986), in: ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 597. 12 13

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Der normative Gehalt der Verfassungstheorie verdient aber Kritik, wenn postuliert wird: Erstens könne nur durch eine Revolution eine gänzlich neue Verfassung entstehen und zweitens solle nie wieder eine Revolution stattfinden. Dem ist zu entgegnen: Verfassungen können plausibel auch durch Verfassungsablösung entstehen und diese stellen keine Revolution dar. Auch Verfassungsablösung leugnet die Tradition nicht, sondern gründet auf ihr – sogar rechtlich, nämlich in Gestalt des Verfassungsablösungsrechts. Die überkommene Verfassungstheorie pflegt den Mythos der Verfassunggebung und hütet ihn wie einen Gral. Diese Theorie denkt die Verfassung ausschließlich vom Anfang her. Sie erzählt plausibel von einer Verfassunggebung, die stattgefunden hat und auf die unsere in der Gegenwart geltende Verfassung zurückgeht. Nach dieser Theorie ist die Verfassunggebung in alle Zukunft gerichtet und im „Futur I“ wird die Verfassungsgeltung und Verfassungsidentität durch geschriebene oder ungeschriebene Ewigkeitsklauseln abgesichert. Die Theorie ist unterkomplex, weil sie das „Futur II“ nicht bedenkt. Eine Verfassungstheorie, die Verfassungen (auch) vom Ende her denkt, fragt im „Futur II“ nach dem zukünftigen Rückblick auf eine Verfassungsablösung. Wenn Verfassungstheorie auch für diesen Fall affirmativ zur Verfassungsgeltung beitragen und jene nicht subversiv untergraben soll, dann müsste sie heute nach einer Verfassungsablösung fragen, die zukünftig stattgefunden haben wird. Für einen solchen zukünftigen Rückblick ist neben bzw. an Stelle der Figur der Verfassunggebung eine Kategorie der Verfassungsablösung zu entwickeln. Sowohl die Verfassunggebung als auch die Verfassungsablösung sind Formate plausibler Entstehungs- und Geltungsgeschichten. Beide Szenarien unterscheiden sich wesentlich – einerseits das einer Revolution, in der das Volk seine Souveränität erst gegen einen Monarchen behauptet und einen Verfassungsstaat erstmalig durchsetzt und sich eine Verfassung gibt (originäre Verfassunggebung) und andererseits das der Ersetzung der Verfassung eines bereits existierenden Verfassungsstaates durch eine neue Verfassung, ohne dass sich an dem Volk als Subjekt der Staats-

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gewalt etwas ändert (Verfassungsablösung). Im ersten Szenario ist die revolutionäre Selbstermächtigung der Akteure regelmäßig die Voraussetzung des notwendigen Bruchs mit der alten Ordnung. Anlass und Ziel dieser Selbstermächtigung (z. B. die Befreiung eines Volkes aus einer Unrechtsherrschaft) ist regelmäßig zentrales Element solcher Gründungserzählungen. Im zweiten Fall besteht die Chance, nicht nur hinsichtlich mancher Verfassungsinhalte, sondern auch hinsichtlich der Legitimation des Prozesses einen Kontinuitätszusammenhang14 herzustellen. D. h. die Organe und das Verfahren der Verfassungsablösung können auf der Grundlage der abzulösenden Verfassung konstituiert werden. Damit ist nicht gemeint, dass dies im Rahmen der Gesetzgebung geschehen soll. Vielmehr wird sich die Gesetzgebung darauf beschränken, den Prozess der Verfassungsablösung zu initiieren und sein Verfahren zu regeln – soweit nicht das Revisionsrecht der abzulösenden Verfassung entsprechende Vorschriften selbst enthält. Eine Verfassungsablösungsgeschichte ist – wie die Beispiele aus der Schweiz und aus Amerika bestätigen – eine nicht weniger plausible Erzählung für den Anfang einer Verfassungsgeltung als jene der Verfassunggebung. Derartige Verfassungsablösungen können jederzeit und im Laufe der Geschichte immer wieder stattfinden. Anders als der Mythos der Verfassunggebung ist das Konzept der Verfassungsablösung nicht auf ein Absolutes bezogen und nicht auf Unendlichkeit angelegt. Es widersagt jenem Verfassungsabsolutismus, der die heutige Verfassungstheorie prägt. Zwischenergebnis: Es gibt gute Gründe dafür, Verfassungen von ihrem Anfang her zu begreifen. Das schließt jedoch nicht aus, dass wir Verfassungen auch von ihrem Ende her denken. Warum dies tunlich und letztlich vorzugswürdig ist, sei in einem nächsten Kapitel erläutert.

14 Das BVerfG spricht im Kontext des Art. 146 GG von einer „Legalitätskontinuität zur Herrschaftsordnung des Grundgesetzes“, BVerfGE 123, 267 (343) – Lissabon.

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III. Warum wir Verfassungen vom Ende her denken sollten 1. Einlösung eines Säkularisierungsversprechens Denken wir säkulare Verfassungen vom Ende her, wird ihre Legitimität nicht vom Glauben an eine mythische Ewigkeit getragen, sondern von der Glaubwürdigkeit ihrer rational begründbaren Stabilität, deren Inhalte im offenen Diskurs tradiert und weiterentwickelt werden. Gemeinhin wird die Geschichte des Verfassungsstaates als ein doppelter Umbruch, nämlich als Souveränitätswechsel und zugleich als Säkularisierung, gedeutet. Nehmen wir das beim Wort: An die Stelle der souveränen Monarchen trat das souveräne Volk. Während der Obrigkeitsstaat seine Herrschaft gegenüber den Untertanen nur „von oben“, d. h. von Gottes Gnaden ableiten konnte, bedarf die „von unten“ begründete Herrschaft keiner göttlichen Überhöhung. An die Stelle der nur auf Gottes Gnaden zu stützenden absoluten Souveränität des Monarchen ist danach die säkular begründete Volkssouveränität getreten. Wird allerdings die Verfassungsidentität auf heilige Menschenrechte und auf Ewigkeitsklauseln gestützt, liegt eine andere Deutung nahe: Die Monarchen gingen – das Gottesgnadentum blieb und trägt nunmehr den Verfassungsstaat und die in ihm fortlebende Idee göttlicher Gesetze bzw. unantastbarer Verfassungsidentität. An die Stelle des (mehr oder weniger aufgeklärten) monarchischen Absolutismus ist ein (mehr oder weniger säkularer) Verfassungsabsolutismus getreten. Der Hybris der Monarchen folgte die Hybris der Verfassungssakralisierung. Agnostiker sollte die Sakralisierung des (vermeintlich) säkularen Verfassungsstaates nicht überzeugen. Gläubige müssten sich ihrer Endlichkeit besinnen und sollten sich fragen, ob es sich bei Verfassungen und Revolutionen nicht um Menschenwerk handelt. Peter Häberle pflegt vor jeglichem Hochmut zu warnen und auf die „Strafe der Götter“ zu verweisen. Der Versuchung der Verfassungssakralisierung erliegen keineswegs nur gläubige Patrioten. Nach Hannah Arendt impli-

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ziert Anfangsdenken den Verweis auf ein „Absolutes“ 15. Danach handelte es sich nicht um eine Glaubensfrage, sondern um eine Denknotwendigkeit. Aber daraus folgt nicht zwingend die Aura einer „Heiligkeit der Gründung“ 16. Wenn angeborene Rechte des Menschen im 18. Jahrhundert zugleich als heilige Rechte postuliert werden, ist das keine Metapher für deren Unantastbarkeit im Einzelfall. Auch die vermeintliche Verabsolutierung des Wesensgehaltes der Grundrechte wurde von Peter Häberle entzaubert.17 Heilig sollen Rechte vielmehr deshalb sein, weil ihre Gewährleistung dem Verfassungsstaat Legitimität verleihen und weil diese Legitimität geheiligt werden soll. Sogar der für eine säkulare Theorie stets eintretende Horst Dreier18 bezeichnet „Verfassunggebung als Schöpfungsakt“, den Verfassunggeber als „Schöpfer“ und schreibt, der pouvoir constituant lege „in einem außerordentlichen Urakt der Rechtsschöpfung den Grund für die anderen Verfassungsorgane“. Die Frage drängt sich auf: Warum ist die Sakralisierung der Verfassungen säkularer Staaten, die doch wie ein Widerspruch in sich anmuten sollte, so verbreitet? Die Faszination Carl Schmitts und die Brillanz seiner „Politischen Theologie“ 19 mag dazu beigetragen haben, erklärt aber das Phänomen nicht. Denn auch wo Skepsis gegenüber Schmitt überwiegt, ist der Mythos der Verfassunggebung verbreitet. Die „Erfolgsgeschichte“ der Sakralisierung beruht vielmehr darauf, dass sie geradezu entgegengesetzte Vorverständnisse „bedient“. Religiös denkende Menschen fühlen sich „zu Hause“ in den Kategorien der Sakralisierung. Und areligiös denkende Menschen feiern die Antithese 15 Arendt, Was ist Autorität?, in: dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft, 1994, S. 159 (265); H. Vorländer, Gründung und Geltung, in: G. Melville/ders. (Hrsg.), Geltungsgeschichten, 2002, S. 243 (244). 16 Arendt (Fn. 15), S. 159. 17 P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz (1962), 3. Aufl. 1983. 18 H. Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig?, 2009, S. 19 f. 19 Nach C. Schmitt, Politische Theologie, 9. Aufl. 2009, S. 43 hat der „Ausnahmezustand (. . .) für die Jurisprudenz eine analoge Bedeutung wie das Wunder für die Theologie“.

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des säkularen Staates gegenüber dem Gottesgnadentum und halten die Verewigung dieser Antithese für willkommen, wenn nicht für die einzig adäquate Antwort. Verdrängungsmechanismen gegen den Gedanken an das Ende kommen hinzu. Indes: Religiöse Menschen könnten es für inadäquate Hybris halten, die menschengemachten Verfassungen säkularer Staaten mit Gottesschöpfungen zu vergleichen. Und Agnostiker könnten auf den Gedanken kommen, dass sie einer Transzendenz erliegen, die zu leugnen sie vorgeben. Bei Licht betrachtet ist Verfassungssakralisierung weder christlich noch säkular begründbar. Nur wenn wir Transzendenz annehmen und Verfassungen für transzendenzbezüglich erachten, wird deren Sakralisierung plausibel. Aber eine in solchem Sinne von „oben“ gegebene Verfassung widerspricht fundamental der Idee der Volkssouveränität und eines säkularen Verfassungsstaates. Zudem bleibt offen, wie eine solche Verfassungskonzeption diejenigen integrieren soll, die eine der oben genannten Prämissen nicht teilen. Das Konzept der Verfassungsablösung beansprucht für sich, die Säkularisierung des Verfassungsstaats zu Ende zu denken. Erst die vollständige Einlösung des verfassungsstaatlichen Säkularisierungsversprechens ermöglicht eine umfassende Integration. Auch diejenigen, die eine Verfassungssakralisierung für plausibel halten, werden dabei keinesfalls ausgeschlossen, sondern erhalten die Gelegenheit, sich im Rahmen der Verfassungsablösung bzw. bei deren Verhinderung zu bekennen. Es sei betont: Nicht die Verfassungsablösung im Ergebnis, sondern die jederzeitige Option einer Verfassungsablösung gilt es zu postulieren. 2. Den offenen Verfassungsstaat zu Ende denken So sehr Verfassungen auf Beständigkeit angelegt sind, können sie über Generationen nur dauerhaft akzeptiert werden, wenn sie offen für den Wandel der Probleme und Anschauungen unterschiedlicher Generationen sind. Nicht nur die Güte, sondern letztlich sogar die Geltung von Verfassungen hängt davon ab. Offenheit einer Verfassung kann auf verschiedene Weise eingelöst werden. Ihr dienen vor allem Optionen der Verfassungsänderung (im Grundgesetz Art. 79 GG) und die in ihren Grenzen

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freilich höchst umstrittene Verfassungsinterpretation (Stichwort: „Verfassungswandel“ 20). Beide Wege haben Grenzen. Für die Verfassungsänderung gelten die ausdrücklichen Hürden von 2/3-Mehrheiten nach Art. 79 Abs. 2 GG und die inhaltlichen Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG. Nicht nur denkbar, sondern durchaus naheliegend ist, dass bestimmte, durchaus mehrheitsfähige Änderungen des Grundgesetzes dauerhaft auf keinem dieser Wege durchgesetzt werden können, weil die eine Sperrminorität sie nach Art. 79 Abs. 2 GG verhindert, weil Art. 79 Abs. 3 GG inhaltlich entgegensteht und weil das BVerfG keinen entsprechenden Spielraum der Verfassungsinterpretation annimmt. So sehr es plausibel ist, dass nicht der Gesetzgeber mit einfachen Mehrheiten die Verfassung soll ändern können, so fragwürdig ist es, wenn es auf Dauer keinen rechtsstaatlichen Weg geben soll, einer Mehrheit auch auf Verfassungsebene zur Durchsetzung zu verhelfen. Soweit Verfassungen – wie das Grundgesetz – für Verfassungsänderungen absolute Mehrheiten aus gutem Grund nicht ausreichen lassen und ihnen auch inhaltliche Grenzen setzen, entsteht hier eine Offenheitslücke, die auch eine noch so starke Verfassungsgerichtsbarkeit in legitimer Weise durch dynamische Verfassungsinterpretation nicht oder nur zum Teil füllen kann. Die so verbleibende Offenheitslücke füllt das Konzept der Verfassungsablösung. Auf den Wegen der Verfassungsänderung und der Verfassungsinterpretation kann eine Verfassung an „ihr Ende“ stoßen. Das ist im Lissabon-Urteil des BVerfG21 greifbar geworden. Völlig konsequent verweist das Gericht insoweit auf Art. 146 GG. Erst durch ein solches Verfahren, in dem das Volk die Verfassung jenseits der Hürden des Art. 79 Abs. 2 GG und Art. 79 Abs. 3 GG zur Disposition stellen kann, erfüllt sich der Offenheitsanspruch des Verfassungsstaates, der aus dem Prinzip der Volkssouveränität folgt. Für eine Verfassungsablösung haben andere, auf ihre Weise freilich ebenfalls hohe Hürden zu gelten. 20 K. Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, in: FS Scheuner, 1973, 123 ff.; P. Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), S. 111 (129 f.). 21 BVerfGE 123, 267 ff. – Lissabon.

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3. Volkssouveränität zu Ende denken Es ist nicht legitim, Verfassungen wie Stiftungen und den Willen der Verfassungsgeber wie einen Stifterwillen zu behandeln. Verfassungen sind zwar friedensstiftend, aber sie sind keine rechtlichen Stiftungen zugunsten eines Volkes als bloß „Begünstigtem“. Dem Volk bliebe sonst nur die passive, rezeptive Rolle einer verfassungsnehmenden Gewalt. Eine auf der Volkssouveränität gründende demokratische Verfassung impliziert ein jederzeitiges, inhaltlich unbeschränktes, dem Mehrheitsprinzip gehorchendes Recht auf Verfassungsrevision. Die Option der Verfassungsablösung ist somit nicht abhängig davon, ob sie (wie in Art. 146 GG) ausdrücklich geregelt ist. Wer ungeschriebene Ewigkeitsklauseln behauptet (Carl Schmitt22) bzw. geschriebene Ewigkeitsklauseln (z. B. Art. 79 Abs. 3 GG) für legitim hält23 und deren Überwindung der nur revolutionär/originär zu legitimierenden Verfassunggebung vorbehält,24 bleibt dem Möglichkeitsdenken und der vollen Verwirklichung der Volkssouveränität vieles schuldig. Die inhaltlich unbegrenzte Ablösung einer Verfassung nach einem Verfahren auf der Grundlage der abzulösenden Vorgängerverfassung ist nicht nur ein theoretisches Gedankenspiel. Reiches Anschauungsmaterial aus der Geschichte bieten die insgesamt ca. 300 Beispiele für Totalrevisionen in den Schweizer Kantonen und in den amerikanischen Gliedstaaten mit einer in beiden Bundesstaaten (vorbehaltlich der Amerikanischen BunC. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 11 ff., 20 ff., 102 ff. Fundamentale Bedenken wurden dagegen in den ersten Jahren der Bundesrepublik als herrschend angesehen (so F. Klein, in: v. Mangoldt/ Klein (Begr.), GG, Bd. III, 2. Aufl. 1974, Art. 79 Rn. 10). 24 Für dieses Ergebnis sind zwei Begründungsansätze verbreitet: Einerseits wird eine Anwendung des Art. 79 Abs. 3 GG auch innerhalb des Art. 146 GG gefordert (statt aller J. Isensee, Schlußbestimmung des Grundgesetzes: Artikel 146 GG, in: HStR VII, § 166 Rn. 61). Andererseits wird eine Anwendung des Art. 79 Abs. 3 GG i.R. d. Art. 146 GG zwar verneint, letzterer aber als Bezugnahme auf die originäre verfassunggebende Gewalt interpretiert (statt aller P. M. Huber, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2011, Art. 146 Rn. 9). 22 23

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desverfassung als Prototyp des Gegenteils) jeweils durchschnittlichen Frequenz der Verfassungsablösung von 50 Jahren. Diese Verfahren lassen sich weder mit originärer Verfassunggebung vergleichen, weil ihre Akteure auf dem Boden der noch geltenden alten Verfassung handelten, noch lassen sich diese Verfahren mit Verfassungsänderungen durch den Gesetzgeber vergleichen, weil zu ihrem Prozedere regelmäßig Wahlen verfassungsablösender Versammlungen (schweiz. „Verfassungsrat“, amerik. „Constitutional Convention“) sowie Verfassungsplebiszite gehörten. Die Verfassungsvergleichung lehrt uns: Es gibt Verfahren, die einerseits als Revisionsverfahren in der Verfassung geregelt sind und die andererseits mit Institutionen und Verfahren stattfinden, die jenseits der (verfassungsändernden) Gesetzgebung liegen. Die Terminologie unterscheidet in der Schweiz insoweit zwischen Total- und Teilrevision und in Amerika zwischen revision und bloßem amendment. Die Verfassungstheorie sollte insofern zwischen den Kategorien der Verfassungsablösung und der Verfassungsänderung differenzieren. Im Rahmen dieses verfassungstheoretischen Beitrags sei nur erwähnt, dass auch Art. 146 GG in seiner zweiten Fassung von 1990 als Vorschrift der Verfassungsablösung zu lesen ist und nicht – wie verbreitet angenommen,25 aber nur für Art. 146 a. F. GG überzeugend – als deklaratorischer Verweis auf die Verfassunggebung. Verfassungstheoretisch können wir noch weiter gehen: Jede Verfassung, die auf der Volkssouveränität beruht, enthält eine solche Option der Verfassungsablösung (neben jener der Verfassunggebung) auch ungeschrieben. So wie Art. 79 Abs. 3 GG als Positivierung der Theorie der Unantastbarkeit der Verfassung (im Gegensatz zur Änderbarkeit des Verfassungsgesetzes) nach Carl Schmitt gedeutet wird, so ist auch Art. 146 n. F. GG nicht mehr und nicht weniger als die Modellnorm eines verfassungstheoretischen Postulates. Die von Carl Schmitt behauptete Unantastbarkeit der Verfassung steht zwar nicht zur Disposition des Gesetzgebers, wohl aber zur Dispo-

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Vgl. die Nachweise in Fn. 24.

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sition eines der Verfassung immanenten Verfahrens der Verfassungsablösung und nicht nur zur Disposition der Verfassunggebung. 4. Den Rechtsstaat zu Ende denken Das Konzept einer konstitutionalisierten Verfassungsablösung will außerdem den Rechtsstaat zu Ende denken. Verstieße es gegen die Volkssouveränität, die Möglichkeit der Verfassungsrevision auf inhaltlich beschränkte Verfahren zu begrenzen, so bliebe das Rechtsstaatsprinzip uneingelöst, wenn wir die Option inhaltlich unbeschränkter Verfassungsrevision nicht verfahrensrechtlich einbinden würden. Es reicht nicht, (etwa bei der Interpretation des Art. 146 GG) auf die Möglichkeit der Revolution zu verweisen. Vielmehr gebietet es der Ordnungs- und Beständigkeitsanspruch einer freiheitlich demokratischen Verfassung, hierfür einen konstituierten Ordnungsrahmen zu bieten. Waren Revolutionen und originäre Verfassunggebung gegebenenfalls notwendige Voraussetzung des Übergangs in einen freiheitlich demokratischen Verfassungsstaat, entfällt die Notwendigkeit der Revolution, wenn sich die mit ihr erreichte Verfassungsordnung als hinreichend offen erweist. Aus der Perspektive einer geltenden Verfassungsordnung ist die Revolution vergangenheitsbezogene Notwendigkeit ihrer Begründung, nicht aber zukunftsbezogenes Erfordernis zur Begründung einer neuen, ebenfalls freiheitlich demokratischen Verfassungsordnung. Anders als bei der Revolution und Verfassunggebung vermag nicht der Bruch mit einer ungerechten Ordnung der neuen Ordnung Legitimität zu verleihen. Der Übergang von einer demokratischen Verfassungsordnung in eine andere, ebenfalls demokratische Verfassungsordnung ist nicht revolutionärer Natur. Die Tür zu einer neuen Verfassung ist also nicht aufzubrechen, sondern kann mit einem legalen Schlüssel geöffnet werden. Mit dem Schlüssel der Verfassungsablösung können Verfassungen den Übergang zu einer neuen Verfassung ermöglichen und sowohl aus der Perspektive der alten als auch der neuen Verfassung legitimieren. Darin liegt ein Moment rechtsstaatlicher Stabilität, das Kontinuität stiften und Geltung der zukünf-

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tigen Verfassung begründen kann. Dass das Rechtsstaatsprinzip eine spezifisch deutsche Tradition ist, macht diese Interpretation des Art. 146 GG umso plausibler, wenn es um die Geltungsgeschichte einer zukünftigen deutschen Verfassung geht. Wer den verfassten Organen per se abspricht, legal an einem solchen Prozess der Verfassungsablösung teilnehmen oder auch nur auf ihn hinwirken zu dürfen, begibt sich der Chance der rechtsstaatlichen Konstitutionalisierung des Überganges. Ebenso wie die Verfassungsänderung kann auch die Verfassungsablösung ein legales Ziel staatlicher Gewalt sein, das friedlich anzustreben nicht mit Verfassungsbruch und Verfassungsfeindlichkeit verwechselt werden darf. Eine andere Frage ist, ob es einer Art Gewaltenteilung zwischen den Organen der Gesetzgebung und den gegebenenfalls erst zu schaffenden Organen der Verfassungsablösung geben muss. Auch wenn wir die Regelung eines eigenen Verfahrens und die Schaffung eigener Organe jedoch für zwingend halten, brauchen wir gegebenenfalls den Gesetzgeber für die Ausgestaltung. 5. Balance zwischen Kontinuität und Diskontinuität Die Volkssouveränität und den Rechtsstaat auf diese Weise zu Ende denken bringt das verfassungsstaatliche Spannungsverhältnis zwischen Diskontinuität und Kontinuität in eine Balance. Diskontinuität wird in der überkommenen Verfassungstheorie auf den einmaligen Akt der Verfassunggebung konzentriert. Der Bruch mit der alten Ordnung, die blutige oder auch gewaltfreie Revolution ist Inbegriff der Diskontinuität und steht am Anfang des Verfassungsstaates. Nach der Revolution – bzw. zwischen zwei Akten freier Verfassunggebung – wird die Verfassung hingegen durch Kontinuität geprägt, zugespitzt zur These der Unabänderlichkeit der ungeschriebenen Verfassung i. e. S. (Carl Schmitt) und in Verweisen auf eine unantastbare Verfassungsidentität. Entlang der kategorischen Trennlinie zwischen Verfassunggebung und verfasster Gewalt verläuft danach auch die Grenze zwischen Diskontinuität und Kontinuität. Die Identität einer so gegebenen Verfassung wird als statisch verstanden. Daran kann auch die auf eine gewisse Flexibilität angelegte Möglichkeit der

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Änderung des Verfassungsgesetzes durch den Gesetzgeber nichts ändern, da diese ihre inhaltliche Grenze in der Verfassungsidentität sowie in Sperrminoritäten findet. Das verfasste Volk begibt sich als Preis seiner Verfasstheit somit auf unbestimmte Dauer der Möglichkeit der Diskontinuität. Als hätte Carl Schmitt gespürt, dass dies insgesamt ein unausgewogenes Verhältnis zugunsten der Kontinuität und zulasten der Diskontinuität ist, spitzt er die Diskontinuität der Verfassunggebung dahingehend zu, dass diese aus dem „normativen Nichts“ 26 komme – als könne die Bindung der verfassten Gewalten durch die Ungebundenheit der Verfassunggebung aufgewogen werden. Das ist angesichts der auch evolutiven Elemente von Verfassunggebung nicht nur eine fragwürdige27 Dichotomie, sondern sie ändert auch nichts daran, dass auf die Dauer gesehen das Element der Diskontinuität unterbelichtet, ja ausgeblendet wird. Diskontinuität wird zum „Ausnahmezustand“ jenseits verfassungsrechtlicher Einbindung. Der Verfassungsabsolutismus beschränkt das Möglichkeitsdenken und ist auf Kontinuität angelegt. Hier soll dahinstehen, ob ein solches Konzept nicht letztlich das Gegenteil von dem bewirkt, was es verspricht. Hans J. Wolff warnte mit Blick auf Art. 79 Abs. 3 GG: „Sperrklauseln, die vielleicht notwendige Entwicklungen ausschließen, fördern Revolutionen eher, als daß sie sie verhindern.“ 28 Auch soll hier nicht vertieft werden, inwieweit auch die Verfassunggebung – bei aller Ungebundenheit in der Theorie – durch Kontinuitäten geprägt wird.29 Zu fordern ist eine Verfassungstheorie, die das Spannungsverhältnis zwischen Diskontinuität und Kontinuität auch nach eiSchmitt (Fn. 19), S. 42. Gegen Schmitt statt aller: R. Gröschner, Dialogik und Jurisprudenz, 1982, S. 227; P. Häberle, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, in: ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 139 (163). 28 H. J. Wolff, Rechtsgrundsätze und verfassungsgestaltende Grundentscheidungen als Rechtsquellen, in: GS Walter Jellinek, 1955, S. 33 (50). 29 An dieser Stelle soll der Hinweis genügen, dass Rezeption und revolutionärer Bruch sich nicht ausschließen, siehe Kelsen (Fn 6), S. 213. 26 27

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ner Generationen zurückliegenden Verfassunggebung und „innerhalb“ des konstituierten Verfassungsstaates in eine Balance bringt. Diskontinuität für die Gegenwart und Zukunft sollte dann nicht auf den unbeherrschbaren Ausnahmezustand, d. h. auf die Option einer revolutionären Verfassunggebung beschränkt werden. Das heißt keineswegs, dass die Beständigkeit von Verfassungen gering zu achten wäre. Ein Verfahren der Verfassungsablösung sollte so ausgestaltet sein, dass es nicht zum Alltagsgeschäft wird. Aber es muss sich um eine realistische, jederzeit greifbare Option handeln. 6. Legitimitätsgewinn durch Akklamation und Alternativität Die Möglichkeit der Verfassungsablösung schwächt nicht geltende Verfassungen, sondern stärkt sie im Gegenteil. Verfassungen von ihrem Ende her zu denken ist auch ein Legitimitätsgewinn. Dieser besteht in der geltungsstiftenden Wechselbezüglichkeit zwischen dem täglichem Akklamationsplebiszit i. S. von Ernest Renan und der Option eines Ablösungsplebiszits im Rahmen eines jederzeit möglichen Verfassungsablösungsverfahrens: Die Antwort auf die Frage, warum eine Verfassung eigentlich gilt, bleibt notwendig diffus. Zu verweisen ist auf Akzeptanz, auf Mythen, auf Tradition sowie auf die tatsächliche normative Kraft, die sich daran zeigt, dass Rechte der Verfassung in Anspruch genommen und ihre Verfahren eingehalten werden und dass Pflichten und die Hoheitsakte der Organe als rechtsverbindlich anerkannt werden. Ernest Renan30 verdanken wir die schöne Metapher vom täglich sich wiederholenden Plebiszit („plébiscite de tous les jours“). Das Bild trägt umso mehr, wenn wir diese informelle Zustimmung vor dem Hintergrund einer jederzeitigen Alternative der 30 E. Renan, Was ist eine Nation? (1882), in: ders., Was ist eine Nation? Und andere politische Schriften, herausgegeben von W. Euchner, 1995, S. 41 (57); R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: ders., Gesammelte Schriften, 3. Aufl. 1994, S. 119 (136); H. Heller, Staatslehre, 6. Aufl. 1983, S. 160.

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Verfassungsablösung annehmen. Volkssouveränität lebt von Alternativen und nicht von reiner Akklamation. Demokratie ist Herrschaft auf Zeit und Mehrheitsherrschaft wird durch Reversibilität ihrer Entscheidungen legitim. Denken wir die Verfassung nicht vom Anfang, sondern vom Ende her, sollte das auch für die Verfassung selbst gelten. Beliebig alte Verfassungen sind legitim, wenn das Volk ihnen keine Alternative vorzieht, dies aber jederzeit könnte. Abbé Sieyès, Marquis de Condorcet und Thomas Jefferson, drei der Vordenker des modernen Verfassungsstaates, waren sich in gleichzeitigen Publikationen 1789 in einem Gedanken einig: Verfassungen sind keine Werke für mehrere Generationen, geschweige denn für die Ewigkeit. Eine Herrschaft der Toten über die Lebenden wäre nicht legitim. Bei Sieyès heißt es: „Ein Volk hat beständig das Recht, seine Verfassung zu überprüfen und zu erneuern. Es wäre sogar gut, feste Zeitpunkte zu bestimmen, zu denen diese Revision, aus welcher Notwendigkeit auch immer, stattfinden soll.“31 Noch konkreter forderte Jefferson in einem Brief an Madison, eine Verfassung müsse alle 19 Jahre automatisch außer Kraft treten.32 Marquis de Condorcet formulierte es so: „Les bornes de la duree des lois constitutionelles ne doivent pas s’etendre au dela d’une generation“33. Leider haben diese Denker mit den Konsequenzen ihres richtigen Gedankens überzogen: Nachfolgende Generationen haben natürlich auch die Freiheit und gegebenenfalls gute Gründe, die überlieferte Verfassung nicht in Frage zu stellen. Der angemessene Zeitpunkt der Revisionsbedürftigkeit kann nicht fest bestimmt und nicht an die Berechnung von Generationsabständen geknüpft

31 E. J. Sieyès, Einleitung zur Verfassung, in: ders., Politische Schriften 1788–1790, hrsgg. von E. Schmitt/R. Reichardt, 1975, S. 239 (257). 32 T. Jefferson, Letter to James Madison, in: J. P. Boyd et al. (Hrsg.), The Papers of Thomas Jefferson, 1950 (http://press-pubs.uchicago.edu/ founders/documents/v1ch2s23.html, zuletzt abgerufen am 27.1.2014). 33 Marie Jean Antoine Nicola Caritat de Condorcet, Sur la nécessité de faire ratifier la constitution par les citoyens, et sur la formation des communautés de campagne, 1789, S. 3, III.

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werden.34 Nicht die Revision, sondern deren Möglichkeit ist geboten. Statt den im Kern richtigen Gedanken zu relativieren, wurde er überwiegend gänzlich verworfen und bis heute verdrängt. Er „schaffte“ es durch Condorcet noch in die Jakobiner-Verfassung von 1793, die aber nie in Kraft trat („Ein Volk hat stets das Recht, seine Verfassung zu revidieren, zu verbessern und zu ändern. Eine Generation kann nicht ihren Gesetzen die künftigen Generationen unterwerfen.“). In der amerikanischen Diskussion setzte sich – im Gegensatz zu den Gliedstaaten – auf Bundesebene das Stabilitäts- und Kontinuitätsdenken von James Madison durch. Wohl aber in der Schweiz wurde der Konnex zwischen Volkssouveränität und jederzeitiger Möglichkeit der Totalrevision früh und dauerhaft anerkannt. Er kann als gemeinschweizerischer „oberster Grundsatz“35 des Verfassungsrevisionsrechts bezeichnet werden. Exemplarisch für das Kantons- und Bundesverfassungsrecht sei hier als jüngeres Beispiel Art. 132 Abs. 1 Verfassung des Kantons Zürich vom 27. Februar 2005 zitiert: „Die Verfassung kann jederzeit ganz oder teilweise geändert werden.“ Je mehr Verfassungen weltweit und die Idee des Verfassungsstaates insgesamt in die Jahre kommen, desto größer wird die zeitliche Spanne, die es zum Anfang der Verfassunggebung zu überbrücken gilt. Wie das Lissabon-Urteil von 2009 zeigt, droht das Grundgesetz bereits nach 60 Jahren an seine Identitätsgrenzen zu stoßen. An die zentrale Stelle der Kategorie der Verfassunggebung tritt immer drängender die Kategorie der Verfassungsablösung. Einem Zeitalter von Revolutionen36 könnte ein Zeitalter der Revisionen folgen. Es ist der Beruf unserer Zeit, die Verfassungstheorie darauf einzustimmen.

34 F. Bühler, Verfassungsrevision als Generationenproblem, 1949, S. 75 f. 35 F. Fleiner, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 1923, S. 393. 36 H. Arendt, Revolution und Freiheit, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, herausgegeben von U. Ludz, 1994, S. 159 (235), nennt (auch) das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert der Revolutionen.

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IV. Entkräftung möglicher Einwände gegen eine Konzeption der Verfassungsablösung 1. Gefahr der Destabilisierung James Madison37 warnte davor, in Verfassungsfragen mit dem Feuer zu spielen. Danach sollen jene politischen Leidenschaften, die die Verfassunggebung als einmaligen Glücksfall geprägt haben, ab dem Inkrafttreten der Verfassung unterdrückt werden. Solche Verfassungssicherung ist verglichen worden mit dem Mythos des Odysseus, der sich gegen die Versuchungen der Sirenen an einen Pfahl binden ließ.38 Aber Odysseus hat niemanden dauerhaft, geschweige denn seine Kinder und Enkel an den Mast gebunden. Außerdem ist die Vorstellung, politische Leidenschaften seien nur in Momenten der Verfassunggebung konstruktiv zu kanalisieren, fragwürdig: Warum und wie soll ein Volk die Demokratie mit politischem Leben füllen, wenn seine politischen Leidenschaften von Verfassungs wegen unterdrückt statt verfassungsstaatlich eingebunden werden? Eine Verfassung wird nur gelebt und akzeptiert, wenn sie vom Volk beständig aktiviert wird. Wer eine Verfassung als sicheren Hafen stabilisieren will, sollte nicht verbieten, dass die Schiffe fahren. Und sollten einmal Seefahrer zu neuen Ufern aufbrechen und einen neuen Hafen bauen, wird dabei der alte Hafen umso mehr das Vorbild sein, wenn er sich als offen, stabil, sicher und effektiv bewährt hat. In Verfassungsstaaten, in denen die Demokratie nicht nur auf dem Papier steht, sondern gelebt wird, sollte im Gegenteil die Möglichkeit der Verfassungsablösung sogar eine stabilisierende Funktion haben. Sie bewahrt eine Gesellschaft im Falle des Bedürfnisses nach einer neuen Verfassung vor der viel größeren Zerreißprobe eines Aktes der Verfassunggebung. Bei der Verfas37 J. Madison, The Federalist No. 49, February 1788, in: C. L. Rossiter (Hrsg.), The Federalist Papers, 1961, S. 314 ff. 38 J. Elster, Ulysses and the Sirens, 1979, S. 94; krit. U. K. Preuß, Politische Verantwortung und Bürgerloyalität, 1984, S. 13; vgl. auch H. L. Tribe, American Constitutional Law, 2nd ed. 1988, S. 10 f.; dazu Chr. Walter, Hüter oder Wandler der Verfassung, AöR 125 (2000), S. 517 (544 f.).

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sungsablösung erstreckt sich die rechtsstaatliche Ordnungsfunktion auch auf diesen Prozess. Dies schafft Kontinuität und Stabilität – sogar im Übergang. 2. Infragestellung von Prämissen der Verfassung als guter Ordnung Es existieren durchaus Versuche, absolute Elemente der Verfassungsstabilität aus der Gegenwart und aus den Inhalten der Verfassung selbst heraus zu legitimieren statt sie als Überlieferung einer mythisch überhöhten Vergangenheit zu tabuisieren. Ohne die Suggestionskraft der Worte und Bilder einer Verfassungssakralisierung klingt das bei Brun-Otto Bryde so: Die in Art. 79 Abs. 3 GG „für unberührbar erklärten Grundsätze (. . .) (der) Menschenwürde und Demokratie (. . .) haben eine so hohe Evidenz, dass man kaum ihre selbst nur hypothetische Revidierbarkeit befürworten kann.“ 39 Dahinter verbirgt sich die rhetorische Suggestivfrage, wer die Menschenwürde und die Demokratie zur Disposition stellen wollte. Wäre es nicht schlicht unmenschlich und undemokratisch, dies zu tun? Hier wird vom Ergebnis der bestehenden guten Ordnung her an die Vernunft appelliert, diese nicht in Frage zu stellen. Auf dem Boden einer geltenden, weithin akzeptierten Verfassung gibt es viel mehr zu verlieren als zu gewinnen. Mit dem Gedanken an das Ende einer Verfassung verbinden wir in Deutschland das Ende von Weimar. So erscheint plausibel, dass es zum guten Ton gehört, den Ewigkeitsanspruch des Art. 79 Abs. 3 GG zu postulieren. Aber: Sollen wir deshalb einen demokratischen Verfassungsstaat auf der Prämisse des Misstrauens bauen, das Volk könne sich mehrheitlich (!) gegen die Achtung der Menschenwürde oder gegen das Demokratieprinzip aussprechen? Noch unwahrscheinlicher würde dies dadurch, dass für eine Verfassungsablösung mehrere Verfahrensschritte (Wahl einer verfassungsablösenden Versammlung, Entwurf einer neuen Verfassung und abschließendes Verfassungsplebiszit) zusammenkommen müss39 B.-O. Bryde, in: I. v. Münch/P. Kunig (Hrsg.), GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2012, Art. 79 Rn. 26.

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ten. Und wenn es denn soweit kommen sollte, dass ein solches Verfahren eine totalitäre Verfassung hervorzubringen drohte, wäre aus der Fiktion des Verfassungskonsenses, der sich hinter Art. 79 Abs. 3 GG verbergen soll, längst eine Illusion geworden. Es ist nicht sehr plausibel, dass in einer Gesellschaft, die die Menschenwürde und die Demokratie abschaffen wollte, Art. 79 Abs. 3 GG allein noch viel ausrichten könnte. Seine Wirkung würde auf die Diskursrelevanz schrumpfen: Wollen wir diese Tabugrenze wirklich überschreiten? Diese Frage stellt sich auch in den Verfahrensschritten eines Prozesses der Verfassungsablösung. Sie stellt sich verschärft durch die europäische und internationale Einbindung, die insbesondere die Gewährleistung menschenrechtlicher Grundstandards einfordert. Es geht nicht darum, die Gewährleistung der Menschenwürde destabilisieren oder einem postdemokratischen Zeitalter huldigen zu wollen, sondern um folgende Frage: Ist der Schutz der Menschenwürde und der Demokratie gerade durch eine „Ewigkeitsklausel“ gegenüber Menschen- und Verfassungsfeinden wirksam abzusichern? Das ist mehr als fraglich. Hinzu kommt, dass sich Art. 79 Abs. 3 GG auch auf das Sozialstaatsprinzip und auf das Bundesstaatsprinzip erstreckt, die anzutasten zwar die Identität des Grundgesetzes, nicht jedoch die Prämissen des Verfassungsstaates insgesamt berühren würde.40 Eine grundlegende Reform z. B. des Bundesstaates oder die Infragestellung der Verfassungsidentität im Rahmen weiterer Schritte der Europäischen Integration dürfen in legitimer Weise gefordert werden und es ist wenig plausibel, dass das Verfahren des Art. 79 Abs. 2 GG hierfür angemessen und absolute inhaltliche Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG hierfür legitim wären. 3. Gefährdung des Verfassungskonsenses als Grundlage der Verfassungsgeltung Neben dem negativen Argument der Furcht gibt es noch das positive Argument des Konsenses. Auch wenn die Inhalte der 40 Vgl. H. Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, JZ 1994, S. 741 (749).

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Verfassung als relative Prinzipien und ihre Ordnung als offener Rahmen für staatliches Handeln begriffen werden, soll gerade dieser Rahmen unantastbar bleiben: Das Spiel der politischen Kräfte in der Demokratie setzt den Konsens über die Spielregeln voraus. Indes ist Verfassungskonsens ebenso eine bloße Metapher wie die Idee des Verfassungsvertrages. Das gilt sowohl für Verfahren der Verfassunggebung als auch für die dauernde Verfassungsakzeptanz. Nochmals: Ernest Renan hat trefflich von einem täglichen Plebiszit aller gesprochen. Die Stärke und die Grenze dieser Metapher liegen darin, dass es sich um ein lediglich fingiertes, eben nicht in Form einer Abstimmung stattfindendes Plebiszit handelt. Dass Verfassungsakzeptanz auch und wesentlich eine gefühlte Kategorie ist, wurde für die Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes mit dem suggestiven und einladenden Wort vom Verfassungspatriotismus (Dolf Sternberger, Jürgen Habermas) auf den Begriff gebracht. Ein geteiltes Volk findet seine Identität über eine geglückte Verfassung, die nach der Wiedervereinigung für das gesamte Volk gilt! Wer wollte sich einer solchen Geltungserzählung entziehen? Auch hier ist mit der Gegenfrage zu antworten, ob die Integrationswirkung von Verfassungen durch Prozesse der Verfassungsablösung wirklich geschwächt wird und nicht vielmehr durch entsprechende Partizipation des Volkes noch gesteigert werden kann. Vieles spricht dafür, dass die Chancen auch insoweit die Risiken überwiegen. Der Integrationswirkung des Grundgesetzes könnte in einem Verfassungsablösungsprozess dadurch Rechnung getragen werden, dass der Name der Verfassung und viele seiner bewährten Artikel wörtlich übernommen werden könnten (und sollten). Wie Verfassunggebung soll auch Verfassungsablösung einen generationenübergreifenden41 Gerechtigkeitsanspruch haben und rechtskulturelle Traditionen bewahren bzw. weiterentwickeln. Das heißt aber nicht, dass eine vor vielen Generationen mit solchem Anspruch „gegebene“ Verfassung zu versteinern wäre. Diesen Anspruch einzulösen ist vielmehr auch gegenwärtigen Generationen aufgegeben. Generationenübergreifende Gerech41 P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, in: JöR 34 (1985), S. 303 (305).

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tigkeitsideen sind auch in den letzten Jahrzehnten weiterentwickelt worden und könnten konsensfähig sein. Verfassungskonsens wird von der genialen Metapher zur bodenlosen Illusion, wenn er gegen eine gegebenenfalls mehrheitsfähige Verfassungsablösung geltend gemacht wird. Auch deshalb muss für Verfassungsablösungen das Prinzip der absoluten Mehrheit abgegebener Stimmen gelten. Lediglich der Systemkonsens, sich demokratischen Entscheidungen überhaupt zu unterwerfen und das Mehrheitsprinzip zu akzeptieren, liegt dem voraus und wird durch das Konzept der Verfassungsablösung auch nicht in Frage gestellt. Qualifizierte Mehrheiten von 2/3 der Stimmen sind nur als Erschwernisse im „vereinfachten Verfahren“ der Verfassungsänderung durch den Gesetzgeber plausibel und legitim. Solche qualifizierten Mehrheiten steigern nicht demokratische Legitimation, sondern sind im Gegenteil rechtfertigungsbedürftig mit Blick auf mehrheitsfähige Alternativen, die an ihrer Hürde scheitern. Sperrminoritäten sind nicht der Verfassungsidee immanent, sondern müssen Ausnahmen bleiben.42 Die Regel ist das Mehrheitsprinzip, das als goldene Mitte (50% plus 1) auf Chancengleichheit beruht und nach Peter Häberle mehr ist „als eine bloße ,Verlegenheitstechnik‘“43. Sie gilt für Verfassunggebung wie für Verfassungsablösung gleichermaßen. V. Konsequenzen aus der Konzeption der Verfassungsablösung 1. Notwendigkeit einer verfassungstheoretischen Kategorie der verfassungsablösenden Gewalt Der überkommenen Verfassungstheorie fehlt die verfassungsablösende Gewalt als Kategorie: Das zeigt sich besonders deutlich an der Diskussion um Art. 146 n. F. GG. Diese Diskussion krankt daran, dass versucht wird, die Norm entweder der Kategorie der Verfassungsänderung oder aber jener der VerfassungDazu ausführlich Michael, in: BK, Art. 146 Rn. 381–399. P. Häberle, Das Mehrheitsprinzip als Strukturelement der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, JZ 1977, S. 241 (245). 42 43

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gebung zuzuordnen. Der wechselseitigen Kritik beider Ansätze ist insoweit zuzustimmen, als beides sinnwidrig ist. Anstatt an den Prämissen dieser Interpretationsansätze zu zweifeln, kommt das Schrifttum weitgehend zu dem Ergebnis, der Fehler müsse im Grundgesetz liegen. So wird Art. 146 n. F. GG für missglückt,44 für überflüssig45 bzw. für verfassungswidrig46 erklärt. Der Fehler liegt indes in einer Lücke des verfassungstheoretischen Instrumentariums: Was die Grenze des Art. 79 Abs. 3 GG überschreitet und jenseits des Verfahrens nach Art. 79 Abs. 2 GG erfolgt, muss nicht zwingend der Kategorie der originären Verfassunggebung zugeordnet werden. Die Kategorie der Verfassungsänderung nach Art. 79 GG ist nicht die einzige Option einer verfassten Verfassungsrevision, sondern regelt nur den Fall eines „vereinfachten Verfahrens“, nämlich der Verfassungsänderung durch die Organe und im Verfahren der Gesetzgebung. Auch die Hürden des Art. 79 Abs. 2 GG hinsichtlich der Mehrheitserfordernisse und die Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG hinsichtlich der Inhalte von Verfassungsänderungen sind auf dieses „vereinfachte Verfahren“ zugeschnitten und nur in dessen Rahmen plausibel. Neben den Kategorien der originären Verfassunggebung und der gesetzlichen Verfassungsänderung existiert ein „dritter Weg“: Die Verfassungsablösung ist einerseits konstituierte Gewalt, gehört also wie die Verfassungsänderung und anders als die Verfassunggebung zu den pouvoirs constitués. Andererseits sind auf die Verfassungsablösung nicht die Fesseln zu übertragen, die für die Verfassungsänderung gelten. Schließlich muss die verfassungsablösende Gewalt aber von der (verfassungsändernden) Gesetzgebung institutionell durch eigene Organe bzw. Verfahren verschieden sein. Der richtige Gedanke der Gewal44 Dreier (Fn. 40), S. 754, Fn. 126, der Einigkeit im Schrifttum hierüber behauptet. 45 C. Waldhoff, Entstehung des Verfassungsgesetzes, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 8, S. 243 (329): „eine deklaratorische Anerkennung des ohnehin Gegebenen“. 46 B. Kempen, Grundgesetz oder neue deutsche Verfassung?, NJW 1991, S. 964 (966 f.).

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tenteilung, der hinter den dichotomischen Modellen von Sieyès und Carl Schmitt steht, ist zu übertragen auf ein Modell, das nicht nur zwischen pouvoir constituant und pouvoirs constitués (Sieyès) bzw. zwischen Verfassung (Verfassunggebung) und Verfassungsgesetz (Verfassungsänderung) trennt (Carl Schmitt), sondern zwischen Verfassunggebung, Verfassungsänderung und Verfassungsablösung – genauer: zwischen der Verfassunggebung und den drei verfassungsrevidierenden Gewalten, d.h. der Verfassungsänderung, der Verfassungsablösung und dem Verfassungswandel. Auch wenn es abschließend zu einem Verfassungsplebiszit kommt, unterscheiden sich Verfassunggebung und Verfassungsablösung wesentlich: Während ein Plebiszit am Ende der Verfassunggebung primär Akklamationscharakter hat („Friss, Volk, oder lebe ohne Verfassung weiter“), ist ein Plebiszit am Ende eines Verfassungsablösungsprozesses eine echte Alternativentscheidung, nämlich zwischen der Fortgeltung der alten Verfassung und der Inkraftsetzung einer neuen Verfassung. 2. Neubewertung aller Wege der Verfassungsrevision Die verschiedenen Modi, mit denen eine Verfassung sich als offen erweist, stehen in einem Korrespondenzverhältnis zueinander. So hängt z. B. die Bedeutung des Verfassungswandels nicht nur davon ab, ob es eine Verfassungsgerichtsbarkeit gibt und wir diese ausgestaltet ist, sondern auch davon, inwieweit Verfassungsänderungsoptionen eine dynamische Interpretation entbehrlich machen. Nehmen wir die Verfassungsablösung als weiteren Modus der Revision hinzu, wirkt dies als Alternativoption auf die überkommenen Instrumente der Verfassungsänderung, des Verfassungswandels und auch der Integrationsgewalt zurück. Umgekehrt gilt es, die Verfassungsablösung so auszugestalten, dass gerade die Lücken der überkommenen Instrumente der Verfassungsrevision geschlossen werden. In Deutschland liegt das Augenmerk meist darauf, dass Art. 79 GG ein im Verfassungsvergleich sehr „schlankes“ Verfahren der Verfassungsänderung bietet (das gilt auch für die Integrationsgewalt nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG). Es sind weder

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Abstimmungen in unterschiedlichen Legislaturperioden noch Plebiszite erforderlich,47 um das Grundgesetz zu ändern. Diese Beobachtung wird auch statistisch durch die relativ vielen Änderungen des Grundgesetzes im Laufe seiner Geschichte bestätigt. Diese Betrachtung blendet aber wichtige Aspekte aus: Vergessen werden dabei die Nichtänderungen des Grundgesetzes. Zwar hindern die Hürden des Art. 79 Abs. 2 GG nicht, dass das Grundgesetz quantitativ oft geändert wird, aber sie haben spürbare qualitative Auswirkungen darauf, in „welche Richtung“ sich das Grundgesetz ändert. Das Erfordernis eines Konsenses zwischen Bundestag und Bundesrat, verschärft durch das Erfordernis der Zweidrittelmehrheit, begünstigt deren „Organperspektive“ und die Herrschaft der „großen Parteien“. Eine Bundesstaatsreform könnte ganz andere Ergebnisse hervorbringen, wenn eine Föderalismuskommission nicht von diesen Organen besetzt, sondern vom Volk gewählt würde und wenn über deren Vorschläge nicht im Verfahren des Art. 79 Abs. 2 GG, sondern durch ein Plebiszit entschieden würde. Ein solches Prozedere entspräche einer Verfassungsablösung und wäre von Art. 146 GG gedeckt. Das Parlament notwendig entscheiden zu lassen, ob Plebiszite ins Grundgesetz eingeführt oder die informationelle Selbstbestimmung grundrechtlich gestärkt wird, ist eine dysfunktionale Gewaltenzuordnung, weil dieses Organ seine eigenen Spielräume beschränken müsste. In den Fragen der informationellen Selbstbestimmung, aber auch soweit eine Änderung des Art. 6 GG an Zweidrittelmehrheiten scheitert, „springt“ das BVerfG mit einer dynamischen Verfassungsinterpretation „ein“. Wer hier die Grenzen der Interpretation und die Funktion einer Verfassungsgerichtsbarkeit für erreicht oder überschritten hält,48 sollte über die Verfassungsablösung als Alternative nach-

47 Systematisierungen des Verfassungsrevisionsrechts im Rechtsvergleich bei J. Masing, Zwischen Kontinuität und Diskontinuität: Die Verfassungsänderung, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation, 2008, 131, 134 ff.; Michael, in: BK, Art. 146 Rn. 10, 183–200. 48 Krit. zur Rechtsprechung zu den eingetragenen Lebenspartnerschaften etwa C. Hillgruber, JZ 2010, S. 41 ff.

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denken. Noch drängender stellt sich diese Frage, wenn der Integrationsgesetzgeber an die Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG stößt – so drängend, dass das BVerfG sie im Lissabon-Urteil ausdrücklich aufgeworfen hat. Es sollte erkannt werden, dass es verschiedene Bedürfnisse der Verfassungsoffenheit und verschiedene Anlässe der Verfassungsrevision gibt. Für manche Änderungen mag das Gesetzgebungsverfahren nach Art. 79 Abs. 2 GG funktionsadäquat sein, für manche dynamische Verfassungsinterpretation mag das Verfassungsgericht berufen sein. Aber beide Wege stoßen an politische und rechtliche Grenzen. Um verbleibende Lücken schließen und Fehlentwicklungen (Föderalismusreformen) korrigieren zu können, tut die Option eines dritten Wegs not. Dieser dritte Weg ist gleichsam komplementär in einem Gegensatz zum Gefüge des Art. 79 GG abzustimmen. 3. Notwendigkeit einer praktischen Operationalisierung der verfassungsablösenden Gewalt Verfassungen vom Ende her zu denken, hat deshalb vor allem auch praktische Konsequenzen. Es gilt die verfassungsablösende Gewalt zu operationalisieren und zu konstitutionalisieren. Da es sich nicht um Verfassunggebung handelt, geschieht dies auf der Grundlage der noch geltenden, gegebenenfalls abzulösenden Verfassung. Auch das sei am Beispiel des Grundgesetzes kurz skizziert: Um das Problem der Sperrminoritäten nach Art. 79 Abs. 2 GG aufzulösen, muss das Prinzip der Mehrheit der abgegebenen Stimmen genügen. Um die Kompetenzen gerade auch der Gesetzgebungsorgane und der Länder zur Disposition stellen zu können, gilt es eine verfassungsablösende Versammlung zu wählen. Um eine Herrschaft der Toten auszuschließen und der Volkssouveränität Rechnung zu tragen, finden die – für das Verfahren der Gesetzgebung plausiblen – Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG keine Anwendung. Der Gesetzgeber wäre befugt, ein solches Verfahren zu initiieren und auszugestalten, d. h. die drei folgenden Schritte zu regeln: Erstens wäre eine verfassungsablösende Versammlung zu wählen. Zweitens würde diese eine zum Grundgesetz alternative Verfassung entwerfen. Drittens

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würde das Volk in einem Verfassungsplebiszit entscheiden, ob diese in Kraft treten, oder aber das Grundgesetz unverändert fortgelten soll. Da es sich bei der Verfassungsablösung um verfasste Gewalt handelt, wäre auch eine verfassungsgerichtliche Kontrolle des Verfahrens (nicht der Inhalte) denkbar. Ein solches Verfahren wäre darauf angelegt, bewährte Vorschriften des Grundgesetzes (im Zweifel wörtlich) zu übernehmen, Elemente der dynamischen Verfassungsinterpretation im Rahmen einer „Nachführung“ des Verfassungstextes zu rezipieren und grundlegende Strukturen insbesondere des Föderalismus und der Europäischen Integration neu zu ordnen. VI. Denke an das Ende von Lykurg! Verfassungsablösung wird hier als Pendant-Begriff zur Verfassunggebung, aber auch zur Verfassungsänderung verstanden. Ziel dieses Beitrages ist es, die verfassungsablösende Gewalt in den Mittelpunkt der Verfassungstheorie zu rücken. Dies erfolgt auf dreifacher Basis, nämlich erstens der vernachlässigten Gedanken von Abbé Sieyès, Marquis de Condorcet und Thomas Jefferson aus dem Jahre 1789, zweitens der zwei Jahrhunderte umfassenden Verfassungspraxis der Kantone in der „Werkstatt Schweiz“ 49 und drittens der Theorie der Verfassung als öffentlicher Prozess von Peter Häberle. Der hier radikal in Frage gestellte Mythos der Verfassunggebung ist indes kein Phänomen der Aufklärung oder der Verfassungstheorie des 20. Jahrhunderts, sondern reicht in die Antike. Am Ende dieses Beitrags stehe deshalb ein zukunftsweisender Rückblick. Er ist – wie das Thema nahelegt – dramatisch. Im Antiken Mythos des Lykurg wird die Verewigung einer Verfassung sogar mit dem Heldentod des Verfassungsgebers bezahlt. Schon hier wird die Ambivalenz zwischen Hybris und sakralisiertem Heldentum deutlich. Das bedeutet für uns: Denke an das Ende von Verfassungen und erinnere dich an das Ende von Lykurg. Der Mythos des Lykurg nach Plutarch erzählt 49

P. Häberle, „Werkstatt Schweiz“, JöR 40 (1991/92), S. 167 ff.

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davon, der Verfassung von Sparta einen Ewigkeitsanspruch zu verleihen. Das Orakel von Delphi hatte dem Lykurg einst prophezeit, seiner Heimat Sparta die beste aller Verfassungen geben zu können. Seine Verfassung für Sparta mit Elementen der Gewaltenteilung hatte er in verfassungsvergleichenden Studien entwickelt, berief sich aber den Spartanern gegenüber auf eine Eingebung durch das Orakel. Lykurg bricht am Ende seines Lebens erneut auf, um das Orakel von Delphi nach der Qualität der neuen Verfassung zu befragen und dieser gegebenenfalls über seinen Tod hinaus göttliche Legitimation zu verleihen. Vor seiner Abreise nimmt er den Spartanern einschließlich des Königs und der Beamten den Eid ab, die Verfassung jedenfalls bis zu seiner Rückkehr unverändert zu befolgen. Das Orakel bestätigt, dass es sich um die ideale Verfassung handelt. Die Pointe ist, dass Lykurg diese Nachricht aber gerade nicht selbst den Spartanern überbringt. Er starb den freiwilligen Hungertod und verfügte, seine Asche ins Meer zu streuen, um die Spartaner nicht nur auf das Orakel zu verpflichten, sondern außerdem an ihren eigenen Eid zu binden. So wird der Ewigkeitsanspruch der Verfassung durch einen dreifachen Mythos begründet: durch das Orakel vor und jenes nach der Verfassunggebung und einen mythischen Heldentod. Schon bei Plutarch wird deutlich: Ein ewiger Eid auf eine Verfassung lässt sich eben nicht rational begründen. Seine Einhaltung ist vielmehr dem ex post geschaffenen Mythos geschuldet, der von göttlichen Orakeln, von einer heldischen Selbstaufopferung und zugleich von einer List des Helden handelt, die künftige Verfassungsablösung zu versperren. Nüchtern betrachtet zeigt dieser Mythos eines menschlichen Opfers, dass eine Legitimationskluft zwischen der anfänglichen Zustimmung eines Volkes zu einer Verfassung und deren ewigem Geltungsanspruch besteht. Wer Verfassungen als offen begreift und von ihrem Ende her denkt, schließt diese Kluft und kann Ewigkeitsmythen in ihr versenken.

Parteienartikel der Verfassungen im Lichte der Textstufenanalyse Von Martin Morlok I. Parteienartikel als Gegenstand der Textstufenanalyse 1. Einleitung Die Entwicklung des Verfassungsstaates kann gut – und lehrreich – nachvollzogen werden mit Hilfe der Textstufentheorie. Es ist in der Tat so, dass „. . . sich an den Verfassungstexten bereits im ersten Zugriff juristisch sehr vieles von der Gestalt des Verfassungsstaates ablesen lässt, also der Wandel des Verfassungsstaates und seines Rechts bereits prima facie an und in den Texten plastisch wird; . . .“1. Peter Häberle hat dies selbst in zahlreichen Studien zu verschiedenen Gegenständen vorgeführt2. Dies soll hier mit dem von ihm geschaffenen Instrument der Textstufenanalyse für die Parteienartikel in modernen Ver1 P. Häberle, Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, in: ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 3, zuerst in J. Jekewitz (Hrsg.), FS für K. J. Partsch, 1989, S. 555 ff. 2 Mit programmatischem Anspruch in P. Häberle, ebd.; die Textstufenanalyse war dann auch ein methodisches Instrumentarium zur Erschließung einer ganzen Reihe von verfassungsrechtlichen Einzelinstituten, so Die Freiheit der Wissenschaften im Verfassungsstaat, in: P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 407 ff.; Die Freiheit der Kunst im Verfassungsstaat, ebd., S. 441 ff.; Vielfalt der Property Rights und der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff, ebd., S. 484 ff.; Aspekte einer Verfassungslehre der Arbeit, ebd., S. 524 ff.; „Wirtschaft“ als Thema neuerer verfassungsstaatlicher Verfassungen, ebd., S. 552 ff. u. a. m.; aber auch die Entwicklung des Verfassungsstaates selbst wird als Prozess der Textstufendifferenzierung nachgezeichnet, s.: Die Entwicklungsländer im Prozess der Textstufendifferenzierung des Verfassungsstaates, ebd., S. 791 ff.

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fassungen versucht werden. Er selbst hat Ansätze hierzu geliefert3. Mit der (zumindest verbaliter erfolgten) Durchsetzung der Demokratie als maßgebliches Verfassungsprinzip war der erste Schritt getan, um die politischen Parteien in das Aufmerksamkeitsfeld der Verfassungen zu rücken. Der zweite Schritt lag dann darin, dass das Wahlrecht (jedenfalls für Männer) verallgemeinert wurde und die Demokratie zu einer Massenveranstaltung wurde. Da die staatlichen Ordnungen relativ große Einheiten (auch Untereinheiten) bildeten, wurde in aller Regel eine Zahl von Aktivbürgern erreicht, für welche direktdemokratische Muster als Normalfall der politischen Entscheidungsfindung nicht mehr in Betracht kommen: Der Kanton Appenzell Innerrhoden mit seiner Landsgemeinde als Legislativorgan schied als Modell der politischen Entscheidungsfindung mithin aus, es bedurfte der Repräsentativorgane. Sollten diese aber tatsächlich den vielfältigen Interessen und Überzeugungen der zahlreichen Wähler Ausdruck und Beachtung schenken können, so bedurfte es der intermediären Organisationen, welche zwischen der großen Zahl der Bürger und der relativ kleinen Zahl ihrer gewählten Repräsentanten vermittelten. Diese intermediären Organisationen mussten die unterschiedlichen Anliegen der Bürger erfassen, sie zu handhabbaren Blöcken zusammenfassen und in den politischen Entscheidungsprozess einspeisen. In der Theoriegeschichte der politischen Philosophie wurde diesen Vermittlungsinstanzen lange Zeit die gebührende Aufmerksamkeit verweigert. Das politische Denken bezog sich auf den Einzelnen hier und den Staat dort, zwischen welchen Parteien dann etwa nach dem Muster von Hobbes ein Vertrag geschlossen wird. Diese Modellierung war unrealistisch. Demokratien mit großen Zahlen von Aktivbürgern kommen nicht ohne vermittelnde Organisationen aus. Diese Vernachlässigung hatte eine – historisch vielleicht verständliche – Ursache in der Abwendung von und der Auflösung der feudalen Korpora-

3

P. Häberle, Textstufen (Fn. 1), S. 13.

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tionen. Hierfür steht paradigmatisch die Loi Le Chapelier von 17914. Mit der Durchsetzung der Vereinigungsfreiheit im 19. Jahrhundert fand das Bürgertum die rechtliche Absicherung für das ihm „wesensadäquate Mittel zur Vergesellschaftung des Staates“5. Statt vorgegebener Korporation eröffnete sich jetzt die Möglichkeit spezifischer selbstgewählter Assoziation6. Die Vereinigungsfreiheit konnte dann auch (nicht ohne repressive Regelungsversuche) von den politischen Vereinen und den sich entwickelnden politischen Parteien in Anspruch genommen werden7. Die faktische Notwendigkeit solcher intermediärer Organisationen, gerade auch der politischen Parteien, kontrastierte aber mit ihrer Vernachlässigung im theoretischen Diskurs und mit der skeptischen bis ablehnenden Haltung unter der Geltung eines autoritär-substanziellen Gemeinwohlverständnisses, dem das Gemeinwohl als durch die Artikulation unterschiedlicher Partialinteressen gefährdet erschien. Erst die Durchsetzung eines auch normativen Pluralismuskonzepts8 und eines prozeduralen Gemeinwohlverständnisses9 schufen die theoretischen Grundlagen für die Anerkennung und eben auch Akzeptanz des Parteiwesens. Mit der tatsächlichen Durchsetzung einer auf politische Parteien gestützten politischen Struktur entstand dann die reale Möglichkeit und zunehmend auch die Notwendigkeit, 4 Nach Art. 1 dieses Gesetzes zählte „die Vernichtung aller Arten von Korporationen . . . zu den wichtigsten Grundlagen der französischen Revolution“, dazu: S. Simitis, Die Loi de Chapelier: Bemerkungen zur Geschichte und möglichen Wiederentdeckung des Individuums, in: KritJ 22 (1989), S. 157 ff. 5 So E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Band 2, 3. Aufl. 1988, S. 322. 6 Zur Geschichte F. Müller, Korporation und Assoziation, 1965; Zur „freien sozialen Gruppenbildung“, K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 410. 7 Zur zeitgenössischen Diskussion F. Müller, ebd., S. 282 ff. 8 Wichtig dafür im Deutschland der Bundesrepublik war Ernst Fraenkel, s. insbes. die Arbeiten in dem Sammelband „Deutschland und die westlichen Demokratien“, 1964, 9. erweiterte Aufl. 2011. 9 Dazu maßgeblich P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, 2. Aufl. 2006.

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dass die Verfassungen sich auch dieser besonderen Art von Vereinigungen annahmen, freilich durch Vorurteile und ideologische Verblendungen zunächst behindert und jedenfalls verzögert. Was den tatsächlichen Befund angeht, besteht seit längerem weitgehende Einigkeit über die Unverzichtbarkeit politischer Parteien für eine moderne demokratisch strukturierte Gesellschaft. Dafür mag der bekannte Satz von Schattschneider stehen, „. . . political parties created democracy and . . . modern democracy is unthinkable save in terms of the parties . . .“10. Im Folgenden soll der Schwerpunkt auf die europäischen Verfassungen gelegt werden, in eher zufälliger Auswahl werden auch außereuropäische Verfassungen einbezogen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Dies hat damit zu tun, dass die Textstufenanalyse ein qualitativ-interpretatorisches Verfahren ist, das aus Einzelbeispielen Wissen extrahieren will, nicht aber quantitativ vorgeht und nach Häufigkeitsverteilungen sucht11. Die Analyse von Texten hat nach Möglichkeit mit den Texten in ihrer Originalsprache zu arbeiten, allein dies stößt auf Grenzen der eigenen Sprachkompetenz, deshalb wurde häufig auf Übersetzungen ins Deutsche oder Englische zurückgegriffen.

E. E. Schattschneider, Party Government, 1942, S. 1. In dieser Richtung aber I. van Biezen/G. Borz, European Political Science Review 2012, S. 327 ff.; dieser Verzicht auf Quantifizierung entspricht nicht einer grundsätzlichen Abneigung gegen eine solche Vorgehensweise, sondern erklärt sich aus den augenscheinlichen Operationalisierungsschwierigkeiten, rechtliche Gehalte in quantitativ auswertbare Kategorien zu fassen. Diese Schwierigkeiten haben mehrere Ursachen, so die Interpretationsabhängigkeit rechtlicher Texte: Identische Texte können als „lebendes Recht“ in ihrem jeweiligen Wirkungsfeld unterschiedliche Bedeutung annehmen; eine am Wortlaut ansetzende Erfassung muss das Phänomen rechtlich gleichwertiger Synonyme verfehlen, so ist in deutschen Rechtstexten von „Fraktionen“ die Rede, wo in ausländischen Normen auf die „Parteien“ Bezug genommen wird; ein weiterer Grund, der die quantitative Erfassung parteirechtlicher Regulierung erschwert, ist die mindestens partielle Austauschbarkeit von Regelungen auf der Ebene der Verfassung und derjenigen des einfachen Rechts (dazu noch unten IV.). 10 11

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2. Das Konzept der Textstufenanalyse Das Erkenntnisziel und die Vorgehensweise der Textstufenanalyse hat Peter Häberle selbst wiederholt dargestellt12. Gegenstand der Textstufenanalyse sind Rechtstexte, diese werden interpretatorisch erschlossen, insofern hält sie sich an die konventionelle juristische Vorgehensweise. Freilich, sie zielt nicht nur auf die Entfaltung des textlich fixierten Gehaltes der Normen, sie richtet sich vielmehr auf die vielfältigen Rechtsfortbildungsprozesse. Da es eine kaum zu bewältigende Aufgabe ist, die zahlreichen wirksam gewordenen Kräfte einschließlich der gegenläufig aktiven Faktoren auszumachen und diese komplexen Ursachenbündel aufzudröseln, lässt sie diese Aufgabe (zunächst) außer Betracht und erfasst lediglich deren Wirkungen: dokumentiert in der Gestalt der positivierten Resultate. Mit ihrer Hilfe können Entwicklungen des „law in the books“ verfolgt werden und eine durch Wissenschaft und Rechtsprechung anhand von auch relativ frugalen Texten entfaltete Bedeutung einer verfassungsrechtlichen Garantie, also eine Gestalt des „law in action“, dargestellt werden, die auf späteren Textstufen wiederum zum „law in the books“ wird13. Daran lässt sich die Bedeutung der interpretatorischen Arbeit, der prätorischen Entfaltung und der dogmatischen Durchdringung der Verfassungsartikel belegen. Viele wissenschaftlich und jurisdiktionell entwickelten Erläuterungen des Gehalts der Rechtstexte und zu ihnen entwickelte Anlagerungen schlagen sich nicht sofort in Änderungen des Normtextes nieder, zumal Verfassungen eher selten geändert werden. Die Textstufenanalyse reagiert auf diese Schwierigkeit mit der Ausweitung ihres Blickwinkels ins Komparative: Sie s. dazu P. Häberle, Textstufen (Fn. 1), S. 3. Vgl. dazu P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 345: Eine „Pointe“ des Textstufenvergleichs liegt darin, dass sie mittelbar auch Verfassungswirklichkeit erfasst, weil die aus anderen Ländern rezipierten bzw. überarbeiteten Texte das auf Begriffe bringen, was anderwärts von Praxis (z. B. Verfassungsrechtsprechung), Wissenschaft und Lehre fortentwickelt wurde. 12 13

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verfolgt Entwicklungen zu einzelnen Rechtsinstituten in internationaler Breite. Diesem Vorgehen liegt offenbar die Annahme zugrunde, es existiere eine weltweite Vernetzung von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, die Erfahrungen und Lernergebnisse im Umgang mit einer rechtlichen Norm wahrnehmen und oftmals rezipieren und in die eigene Rechtsordnung übernehmen – hier dann öfter in der Gestalt einer Positivierung des Rechtsimportes. Jedenfalls kann es als eine gesicherte Voraussetzung der Textstufenanalyse gelten, dass spätere Rechtssetzungsakte sich an früheren Textfassungen und eben auch an den dazu entwickelten Erkenntnissen und Erfahrungen orientieren14. Zentral für die Textstufenanalyse ist eine Ausdifferenzierungsthese: Eine in früheren Fassungen relativ kompakt gefasste rechtliche Gewährleistung (hier für die politischen Parteien) wird in unterschiedliche Teilaspekte aufgefächert, die je eigenen textlichen Ausdruck finden. Die Leitvorstellung hinter der Textstufenanalyse ist insofern, dass eine normative Kernidee einer verfassungsrechtlichen Garantie für verschiedene Teilgehalte spezifiziert wird. Die Entwicklung der Arbeit an einem Rechtsinstitut führt – gespeist aus der Erfahrung unterschiedlicher zu Tage tretender Probleme im Anwendungsbereich der Norm – zur Ausbildung speziellerer Gewährleistungen, welche die ursprüngliche „Dachgarantie“ verfeinern und zielgenauer fassen15. Der Erfahrungszuwachs bei der Handhabung einer rechtlichen Gewährleistung kann sich auch auf die Einschränkungsnotwendigkeiten eines Rechtes beziehen, auch hier gibt es Fortentwicklungen16. 14 s. dazu etwa P. Häberle, Die Entwicklungsländer im Prozess der Textstufendifferenzierung (Fn. 2), S. 799 ff., s. etwa S. 803 f., wo auf eine „wechselseitige(r) Kenntnisnahme der Verfassungsgeber bzw. -änderer“ abgehoben wird. 15 s. als Bsp. dafür P. Häberle, Die Freiheit der Wissenschaft (Fn. 2), wo ausdrücklich von „Intensivierung, Expandierung, Differenzierung und Pluralisierung“ die Rede ist, s. auch S. 414: „Der wachsende Ausbau differenzierter grundrechtlicher Schutzdimensionen von Wissenschaftsfreiheit“. s. auch für die Kunstfreiheit: ders., Die Freiheit der Kunst (Fn. 2), hier bes. der in fünf Schutzrichtungen der Kunstfreiheit festgehaltene Ertrag der vergleichenden Textstufenanalyse, S. 469 f.

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Hintergrund dieser Anreicherung der Rechtstexte durch Wissenschaft und Praxis, fixiert in der Gestalt von dogmatischen Figuren, ist die Tatsache, dass Rechtsnormen immer nur unvollständig die später auftretenden Fälle regulierend in den Blick nehmen können. Der Rechtsbestand wird durch die Fallerfahrungen immer wieder überrascht und nach rechtswissenschaftlicher Durchdringung und praktischer Entscheidungen (hoffentlich) bereichert. Recht ist und bleibt insofern fallabhängig. Die zur Entscheidung (oder wissenschaftlichen Bearbeitung) anstehenden Fälle sind Anlass zur Entfaltung bestimmter Gehalte einer Verfassungsnorm, Anlass für Differenzierungen und Spezifizierungen. Diese Ausbuchstabierung von bislang nur impliziten Gehalten einer Verfassungsnorm ins Explizite dient der Wirkungsverstärkung der Norm. Rezeption und Variation wie auch Rezeptionsverweigerung hängen dabei wesentlich von dem jeweiligen Kontext ab, in dem die Rechtsetzung und Neuformulierung einer Gewährleistung erfolgt17. Die Aufklärung der einzelnen Kontextelemente ist natürlich eine Aufgabe der Sozialwissenschaften wie auch der kulturwissenschaftlich verfahrenden Verfassungsrechtswissenschaften18. Gesellschaftsstruktur, historische Erfahrungen, kulturelle Prägungen, aber auch der innerrechtliche Kontext bestimmen über Stimuli, Möglichkeiten und Grenzen (verfassungs)rechtlicher Positivierungen19. Die Textstufenanalyse ist als ein juristisches Forschungsinstrument nicht per se sozialwissenschaftlich. Aber die Dokumentation offenbarer Rechtsentwicklungsprozes16 s. für die Kunstfreiheit P. Häberle, Die Freiheit der Kunst (Fn. 2), S. 447. 17 Zur Darstellung einer allgemeinen „Kontextthese“ s. P. Häberle, Recht aus Rezensionen, in: ders., Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 74 ff. 18 Grundlegend P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (Fn. 13). 19 So weisen bspw. I. van Biezen/G. Borz auf die Unterschiede hin, die es bei der Konstitutionalisierung der politischen Parteien zwischen alten und neuen Demokratien, zwischen kontinuierlichen und diskontinuierlichen Demokratien gibt, European Political Science Review 2012, S. 342 ff.

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se und nicht zuletzt auch deren Varianz lädt zur sozialwissenschaftlichen Suche nach deren Ursachen ein. II. Konstitutionalisierungsphasen der politischen Parteien 1. Vorphasen Bei der Nachzeichnung der Prozesse der Konstitutionalisierung der politischen Parteien ist das berühmte Zitat von Heinrich Triepel unvermeidlich: „Geschichtlich angesehen, hat sich das Verhalten des Staates gegenüber den politischen Parteien in einer vierfachen Stufenfolge bewegt. Man könnte von einem Stadium der Bekämpfung, dann von einem der Ignorierung sprechen. An dieses schließt sich die Periode der Anerkennung und Legalisierung, und als letzte würde die Ära der verfassungsmäßigen Inkorporation folgen, die uns freilich zunächst noch in Existenz und Eigenart problematisch ist“20. Unter Vorstellungen der Neutralität des Staates und der Einheit waren die politischen Parteien verdächtige, ja gefährliche Erscheinungen – obschon die Parteien in der politischen Realität wirkmächtig waren. Ihnen kam tatsächliche Bedeutung bei der Kandidatenaufstellung für staatliche Wahlen und dem Erstellen von Parteiprogrammen zu. Sie gewannen Anhänger, mobilisierten Wähler und brachten auch Ressourcen für Bestand und Entwicklung der eigenen Organisation auf. Der innerparlamentarische Prozess wurde zunehmend von Gruppierungen gesteuert, die sich nach Parteilinien sortierten: den Fraktionen.

20 H. Triepel, Die Staatsverfassung und die politischen Parteien, 1927, S. 8. Diese vier Stadien werden auf den anschließenden Seiten von Triepel weiter dargestellt. Der notwendige Zusammenhang von parlamentarischer Demokratie und politischen Parteien wird erläutert und anschaulich gemacht, so heißt es etwa „Die Parteiorganisation greift den Parlamentarismus von außen und von innen an“, „sie kümmert sich um die Wähler und steuert das parlamentsinterne Geschehen“, ebd., S. 13. Zur Nachzeichnung der Entwicklungen in der Weimarer Republik Ch. Gusy, Die Lehre vom Parteienstaat in der Weimarer Republik, 1993.

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Der obrigkeitsstaatliche Antiparteienaffekt hat sich in Art. 130 Abs. 1 WRV noch niedergeschlagen: „Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei“, bekanntlich war dies die einzige ausdrückliche Bezugnahme der Weimarer Reichsverfassung auf die politischen Parteien. Das Recht nahm zunächst entsprechend ihrer funktionalen Bedeutung Notiz von den Parteien, genauer gesagt, es bezog sich auf die Rolle der politischen Parteien in wahlrechtlichen und parlamentsrechtlichen Bestimmungen. Auf Verfassungsebene wurden die Parteien und ihre Leistungen jedenfalls indirekt in den Blick genommen. Art. 17, 22 WRV statuierten den Grundsatz der „Verhältniswahl“, Verhältniswahlen setzen aber Wahlvorschlagslisten voraus, die eben von politischen Parteien aufgestellt wurden. Die Tätigkeit von Parteien stellt insofern eine „Verfassungsvoraussetzung“ dar. Konsequenterweise erlaubte das Wahlrecht auch, dass auf dem Stimmzettel die Partei aufgeführt wurde, im Hinblick auf die Listen wurden nunmehr die erstplatzierten Kandidaten namentlich genannt21. Was das innerparlamentarische Handeln anlangte, so setzt die Mehrheitsentscheidung Prozesse der Mehrheitsbildung voraus, was wiederum über die parteigetragenen Fraktionen erfolgt. Die Fraktionen sind ein Korrelatphänomen zu den politischen Parteien, der englische Ausdruck macht dies sinnfällig: „parties in parliament“22. Solche Bezugnahmen der Verfassungen auf die Parteien waren nur funktional, noch nicht nominal, man kann sie als „indirekte Parteienartikel“ bezeichnen. Bemerkenswerterweise hat die Verfassung von Österreich aus dem Jahre 1920 bereits einen Schritt darüber hinaus gemacht und die Parteien auch (Art. 35) ausdrücklich erwähnt23.

s. dazu H. Triepel, ebd., S. 20 f. s. auch die Klassifizierung entsprechender Verfassungsartikel bei I. van Biezen/G. Borz, Models of party democracy: patterns of party regulations in post-war European constitutions, in European Political Science Review 2012, S. 327 ff.: „parties in public office“. 23 Die österreichische Verfassung nimmt nach der letzten Änderung 2007 in 14 Artikeln auf die Parteien Bezug im Bereich des Parlamentsrechts, des Wahlrechts und im Bereich exekutiver Tätigkeit, hier insbesondere zur Sicherstellung des dem Parteiproporz entsprechenden Stärke21 22

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2. Initiale ausdrückliche Konstitutionalisierung Die erste Erwähnung der politischen Parteien in einer europäischen Verfassung in der jüngeren Epoche, deren Anfang grob auf das Ende des Zweiten Weltkrieges zu datieren ist, erfolgte in Art. 31 der Verfassung Islands von 1944. Island wurde damals von Dänemark unabhängig und erhielt eine eigene Verfassung. In Art. 31 wird in der Sache das Verhältniswahlrecht gewährleistet, dies geschieht in der Form, dass die möglichste Proportionalität der Sitzverteilung im Althing zum Stimmaufkommen jeder Partei gewährleistet wird. Der Vollständigkeit und Korrektheit halber ist diese explizite Nennung der Parteien in einer Verfassung hier erwähnt. Sie geht aber in der Sache nicht über die eben erwähnten indirekten Parteienartikel hinaus. Immerhin mag man spekulieren, der den Parteien freundlicher gewordene Zeitgeist habe hier die Feder geführt. Eine neue Qualität wird mit den Parteienartikeln in der italienischen Verfassung von 1947 und dem deutschen Grundgesetz von 1949 erreicht24. Art. 49 der italienischen Verfassung und Art. 21 des Grundgesetzes stellten eigentlich den Schritt zur Konstitutionalisierung der Parteien dar. Sie wurden jetzt verfassungskräftig in ihrer Bedeutung anerkannt und damit Bestandteil der Verfassungsordnung, die damit den Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft relativierte25. Die verfasste Demokratie öffnet sich auch anerkanntermaßen gesellschaftlichen Einflüs-

verhältnisses der Parteien im Parlament, s. etwa für die Schulbehörden Art. 81a Abs. 3a. 24 Vorangegangen war die Verfassung von Baden aus dem Jahre von 1947, die in den Art. 118–121 eine bereits recht differenzierte Regelung für die politischen Parteien enthielt, so die Freiheit der Parteien, die Freiheit des einzelnen Staatsbürgers, Mitglied in einer Partei zu werden, die Anerkennung der Rolle der Parteien für die Gestaltung des politischen Lebens und zugleich ihrer Inpflichtnahme für das Gemeinwohl, eine wahlrechtliche Sperrklausel und die Möglichkeit des Parteiverbotes. Diese Bestimmungen stellen den bemerkenswerten Fall dar, dass die erste konstitutionelle Regelung bereits eine verhältnismäßig stark entfaltete war, die erste Textstufe also bereits spätere enthielt. 25 Vgl. D. Tsatsos/M. Morlok, Parteienrecht, 1982. S. 9.

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sen. Mit den Parteienartikeln wurden die Parteien unmittelbar Gegenstand verfassungsrechtlicher Regelung. Diese besondere Organisation wird in ihrer Besonderheit anerkannt und berechtigt: mit besonderen Rechten und auch Pflichten ausgestattet. Die jedenfalls in den Grundzügen erfolgende verfassungsrechtliche Regelung des Parteiwesens stellte zugleich auch einen Anstoß dar zur Entwicklung parteirechtlicher Normierungen auf der Ebene des einfachen Rechts. Insofern bewirkten die Parteienartikel der Verfassung zugleich die Grundlegung des Parteienrechts überhaupt und gaben den Anstoß zu dessen einfachgesetzlicher Entfaltung. Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG spricht dies in Gestalt eines Gesetzgebungsauftrages auch aus. Die Aufnahme eines Artikels über die Parteien in die Verfassung hebt diese als spezialisierte Organisationen der politischen Einflussnahme und des politischen Betriebes hervor, sie sind Spezialzweckorganisationen zur Wahrnehmung der institutionalisierten politischen Inputstrukturen26. Es ist durchaus bemerkenswert, dass die Verfassung einem bestimmten Typus von Organisation eigene Regelungen widmet. Im Gegensatz dazu unterfallen Organisationen verschiedenster Typen der allgemeinen Vereinigungsfreiheit, also Art. 9 Abs. 1 GG: Sportvereine, Automobilunternehmen, die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Symphonieorchester oder Vereinigungen zur Pflege der Philatelie unterstehen auf der Ebene des Verfassungsrechts einer einheitlichen Regelung, die freilich Raum gibt für untergesetzliche Differenzierungen und auch privatautonome Ausgestaltung. Verfassungsrechtlich haben im deutschen Recht neben den Parteien nur die Tarifvertragsparteien nach Art. 9 Abs. 3 GG und die Religionsgesellschaften nach Art. 140 GG, Art. 137 WRV eine eigenständige Regelung erhalten. Darin liegt nicht nur die Anerkennung ihrer faktischen Bedeutung, ja ihrer Notwendigkeit; sondern auch ihre Wertschätzung, die verbunden ist mit bestimmten Funktionserwartungen, die an die Parteien gerichtet 26 s. dazu M. Morlok, Lob der Parteien, in: Jahrbuch der Juristischen Gesellschaft Bremen, 2001, S. 53 (S. 56 ff.); ders., Handlungsfelder politischer Parteien, in: D. Gehne/T. Spier (Hrsg.), Krise oder Wandel der Parteiendemokratie?, 2010, S. 53 ff.

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sind. Diese sind auch Anlass für die Statuierung spezifischer Pflichten der Parteien. Paradigmatisch hierfür sind Art. 21 Abs. 1 S. 3 und S. 4 GG oder Art. 4 Abs. 1 S. 3 der französischen Verfassung von 1958. Diese französische Verfassung mag zugleich verstanden werden als Abschluss einer ersten Welle der Konstitutionalisierung der Parteien27. Diese erste Phase der Nachkriegskonstitutionalisierung der Parteien in Europa findet eine bemerkenswerte Entsprechung in Mittelamerika. Beginnend mit der Verfassung von Guatemala aus dem Jahre 1945 haben alle Verfassungen dort die Parteien in ihrer Verfassung anerkannt28. 3. Weitere Wellen der Konstitutionalisierung der Parteien a) Dekolonialisierung Einen weiteren Schub für die Aufnahme von Parteienartikeln in die Verfassungen gab die neu gewonnene Selbständigkeit von Staaten durch Dekolonialisierung. Hier sind zu erwähnen die Art. 52, 56, 90, 110 der Verfassung von Malta aus dem Jahr 1964, die im Schwerpunkt von ihrer Rolle bei den Wahlen und im Parlament handeln, wo aber auch ein Zugangsrecht zu den Massenmedien eingeräumt wird. In diese Gruppe fällt auch die Verfassung von Zypern aus dem Jahr 1964; Art. 73 Abs. 3, 4 erwähnen die Parteien bei der Zusammensetzung von Parlamentsausschüssen, dabei finden ausdrücklich auch die griechischen und die türkischen Gruppierungen oder Parteien Erwähnung; möglicherweise war die gleichmäßige ethnische Berücksichtigung sogar der Anlass für diese Bestimmungen.

27 Zu der hier übernommen Periodisierung s. I. van Biezen, Constitutionalising Party Democracy: The Constitutive Codification of Political Parties in Post-war Europe, in British Journal of Political Science 42 (2012), S. 187 ff. 28 s. K. Janda, Political Parties and Democracy in Theoretical and Practical Perspectives, National Democratic Institute for International Affairs, 2005, S. 6, und ausführlich J. M. G. Laguardia, Constitutional Framework for Political Parties in Central America, 1992, S. 82. Dieses Werk hat den Untertitel „from exclusion to participation“ – der offensichtlich H. Triepel zitiert.

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b) Demokratisierung in Südeuropa Markanter war die Aufnahme von Verfassungsartikeln in die Verfassungen von Griechenland (1975), Portugal (1976) und Spanien (1978), die jeweils nach der Überwindung der dort vorher herrschenden Diktatur verabschiedet wurden. Sie haben sich mit besonderer Aufmerksamkeit den Parteien gewidmet. Die griechische Verfassung (nach ihrer Änderung 2001) enthält jetzt neun Artikel, die von den politischen Parteien handeln, die portugiesische Verfassung erwähnt sie gar in 21 Artikeln, wohingegen der spanische Verfassungsgeber mit drei Artikeln eher zurückhaltend war. Diese Bestimmungen gelten der Bedeutung der politischen Parteien für die Demokratie, sie erfassen das Parlamentsleben, wir würden hier von Regelungen der Fraktionen sprechen, es gibt Bestimmungen über den Zugang zu den Massenmedien in Zeiten des Wahlkampfs und Neutralitätsvorschriften für bestimmte Amtsträger. Hervorzuheben ist die dem deutschen Recht nachempfundene Verpflichtung der spanischen Parteien auf die interne Demokratie in Art. 6 S. 3. Der Sicherung der innerparteilichen Demokratie ist auch Art. 51 Abs. 5 der portugiesischen Verfassung gewidmet. Dort hat die Erfahrung einer autoritären Herrschaft das Sensorium für die Notwendigkeit eines freien und intern demokratischen Parteiwesens bestärkt. c) Demokratisierung der postkommunistischen Staaten Entsprechendes gilt auch für die Verfassungen, die nach der Überwindung des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa in Kraft traten. Sämtliche dieser Verfassungen enthalten Bestimmungen über die politischen Parteien. Überall wird die Freiheit der Gründung und Betätigung gewährleistet, darüber hinaus gibt es in unterschiedlicher Ausführlichkeit weitere Bestimmungen, Ungarn weist bereits in der Präambel auf die Parteien hin. Die Zahl der Verfassungsbestimmungen, die sich auf die Parteien beziehen, variiert stark, die Verfassung der Tschechischen Republik kennt zwei Bestimmungen über die Parteien, Kroatien drei, Polen zehn den Parteien gewidmete Artikel. Relativ breiten Raum nehmen dabei Inkompatibilitätsbestimmungen ein

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(dazu noch unten III. 6.). Typisch für diese Verfassungen sind auch Bestimmungen über ein Parteiverbot29. Ähnliche Gründe stehen auch hinter den Parteibestimmungen in den Verfassungen der deutschen Länder, die auf dem Gebiet der früheren DDR gegründet wurden. Hier gibt es Parteienartikel in Brandenburg (Art. 20), in Mecklenburg-Vorpommern (Art. 3 Abs. 4) und in Thüringen (Art. 9 S. 2), diese Bestimmung enthält ein bemerkenswertes „Recht auf Mitgestaltung des politischen Lebens“, das auch durch eine Mitwirkung in Parteien und Bürgerbewegungen wahrgenommen wird. Angesichts des demokratischen Pathos, das diese Verfassungen auszeichnet, ist das Schweigen der Landesverfassungen Sachsens und Sachsen-Anhalts über die Parteien bemerkenswert; hier dürfte die bekannte und dominierende Rolle von Art. 21 GG, verbunden mit einer Bundeskompetenz zur Gesetzgebung, für dieses Schweigen verantwortlich sein. d) Modernisierung älterer Verfassungen Ältere Verfassungen, die (aus ihrer Entstehungszeit her verständlich) keine Parteienartikel enthielten, wurden bei einer Überarbeitung um solche Bestimmungen ergänzt. Das ist der Fall für Schweden30, das gilt weiter für Finnland31 und auch für die Schweiz, wo Art. 137 die Mitwirkung der politischen Parteien an der Meinungs- und Willensbildung des Volkes gewährleistet. Nach Art. 147 werden neben den Kantonen und „interessierten Kreisen“ auch die politischen Parteien für die Vorbereitung wichtiger Entscheidungen um Stellungnahmen gebeten. Die Verfassung Norwegens von 1814 wurde 1984 um Bestimmungen über die Parteien erweitert, nach der letzten Änderung 29 s. etwa Art. 149 Abs. 1 Nr. 5 Verfassung Bulgarien, Art. 48 Verfassung Estland, Art. 87 Abs. 1 Verfassung Tschechische Republik, Art. 129 Abs. 4 Verfassung Slowakei, Art. 146k Verfassung Rumänien. 30 s. Kap. 3, §§ 1, 7, 8 u. 9 mit Bezug auf das Wahlrecht, Kap. 7, § 2 nimmt bei der Regierungsbildung die Fraktionen in den Blickpunkt. 31 In Sektion 25 und Sektion 54, Abs. 3 ist im Zusammenhang wahlrechtlicher Bestimmungen von den Parteien die Rede.

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1988 gibt es zwei Parteienartikel32. Zuletzt wurde die Verfassung Luxemburgs mit Art. 23b um einen Parteienartikel ergänzt, der der Rolle der Parteien bei der Bildung des Volkswillens und dem allgemeinen Wahlrecht gilt und die dort auch als Ausdrucksmittel des demokratischen Pluralismus verstanden werden. e) Europäische Ebene Im europäischen Verfassungsverbund33 hat auch die Ebene der Europäischen Union in ihren Verträgen als ihren Verfassungsdokumenten im funktionalen Sinne Regelungen über die politischen Parteien getroffen, siehe Art. 10 Abs. 4 EUV, Art. 224 AEUV und schließlich die grundrechtliche Gewährleistung in Art. 12 Abs. 2 EU-GrCh, zugleich auch eine Funktionsbestimmung der Parteien. Als Ergebnis dieser verschiedenen Konstitutionalisierungsschübe haben alle europäischen Staaten mit einer demokratischen Verfassung Parteienartikel mit der Ausnahme von Belgien, Dänemark, Irland und den Niederlanden, für das Vereinigte Königreich kann mangels einer schriftlichen Verfassung kein Parteienartikel identifiziert werden. In 28 von 32 europäischen Demokratien finden sich solche Verfassungsbestimmungen. III. Regelungsgegenstände der Parteienartikel Die Textstufenanalyse will unterschiedliche Gewährleistungsgehalte eines verfassungsrechtlichen Institutes identifizieren, die im Laufe der Zeit – meist aus gegebenem Anlass – entwickelt wurden und die sich in späteren Textgestalten ausformuliert finden. Bei den sich auf die politischen Parteien beziehenden Verfassungsbestimmungen können diese Teilaspekte auch einen Überblick über die verschiedenen Regelungsprobleme und da32 Art. 52 u. Art. 63, die beide von der Rolle der Parteien bei den Wahlen handeln. 33 I. Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 148 (163 ff.).

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mit auch den wahrgenommenen Regelungsbedarf hinsichtlich der politischen Parteien geben. Auch hier gibt es Neuentdeckungen, zumal in der Gestalt, dass aus Anlass bestimmter Vorkommnisse, nicht zuletzt auch politischer Skandale, bestimmte Verhaltensaspekte der Parteien als einer rechtlichen Regulierung bedürftig wahrgenommen werden. Wovon handeln also die Verfassungsbestimmungen über die Parteien? 1. Grundsätzliche Bedeutung der Parteien Diejenigen Verfassungsbestimmungen, die den Parteien als notwendige Spezialzweckorganisationen einer Demokratie gelten, stehen in Zusammenhang mit den Grundprinzipien der Demokratie34. Sie verstehen die Parteien als Instrumente der Volkssouveränität35. Als Prototyp mag hier Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG36 stehen. Parteien sind unverzichtbar, sie erst lassen die Mitwirkungsbefugnisse des Volkes praktisch werden. Solche Bestimmungen legen ein funktionales Verständnis der Rechtsstellung der Parteien nahe. Sie genießen Freiheit, aber eben für einen bestimmten Zweck. Daraus erklären sich dann auch Einschränkungen der Parteifreiheit wie etwa die Verpflichtung auf die innerparteiliche Demokratie oder gar die Möglichkeit eines Parteiverbotes (dazu noch unten 4. und 7.). Diese Aufgabe können die Parteien nur in einem Mehrparteiensystem erfüllen, in dem die Parteien miteinander um die Gunst des Wählers rivalisieren. Tatsächlich ist das Mehrparteiensystem auch wiederholt in Verfassungsbestimmungen über

34 Bemerkenswert Art. 3 der Verfassung Kroatiens, welche u. a. ein demokratisches Mehrparteiensystem zu den höchsten Werte der Verfassung zählt. 35 s. etwa Verfassung Frankreich, Art. 4 Abs. 1 Satz 3; Verfassung Spanien, Art. 6 Satz 1, 2. Halbsatz; explizit in dieser Hinsicht die Verfassung Estlands, die in § 48 Abs. 1 Satz 2 nur Staatsbürgern die Mitgliedschaft in Parteien eröffnet. 36 s. weiter etwa Art. 137 Verfassung Schweiz, Art. 11 Verfassung Polen, Art. 11 Abs. 3 Satz 1 Verfassung Bulgarien, Art. 8 Abs. 3 Satz 2 Verfassung Ungarn.

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die Parteien erwähnt37. Auch ohne eine solche ausdrückliche Gewährleistung ist mit der Freiheit der Parteigründung und ihrer Handlungsfreiheit eine Mehrparteienkonkurrenz gewährleistet. Eine Mehrzahl von Parteien ist organisatorischer Ausdruck eines gesellschaftlichen Pluralismus38. Angesichts dieser fundamentalen Bedeutung der Parteien für eine moderne Demokratie ist es nur konsequent, dass die rechtlichen Gewährleistungen der Parteien von einer Verfassungsänderung ausgeschlossen sind, so die Bestimmung in Art. 288g der portugiesischen Verfassung. 2. Gewährleistung der Parteienfreiheit Neben der grundsätzlichen Anerkennung der politischen Parteien als tragende Akteure des politischen Prozesses enthalten die Verfassungsbestimmungen über die Parteien typischerweise die Gewährleistung der freien Gründung und Betätigung der Parteien. Dies kommt deutlich zum Ausdruck in Art. 4 Abs. 1 S. 2 in der französischen Verfassung: „Ihre Bildung und die Ausübung ihrer Tätigkeit sind frei“. Ähnliche Bestimmungen finden sich in zahlreichen weiteren Verfassungen39. In diesen Bestimmungen kann – wie gesagt – die Gründungsfreiheit und die Betätigungsfreiheit separat genannt werden. Ein wesentlicher Unterschied in den Formulierungen der Parteienartikel findet sich hinsichtlich des dort genannten Trägers der Parteienfreiheit. Während das Grundgesetz von den Parteien als Organisationen handelt („die Parteien“), hat die italienische Verfassung die Bürger im Blick, die als Mitglieder in Be-

37 So in Art. 3 Kroatien, Art. 5 Tschechische Republik, Art. 1b Südafrika. 38 Interessant auch Art. 1 Abs. 3 Bulgarien, wonach kein Teil des Volkes, keine Partei oder andere Organisation die Volkssouveränität usurpieren darf. Dies ist offensichtlich die Antwort auf den Alleinvertretungsanspruch der ehemaligen kommunistischen Partei. 39 So etwa in Art. 29 Abs. 1 Griechenland, Art. 8 Abs. 3 Ungarn, Art. 6 Abs. 1 Kroatien, Art. 102 Lettland, Art. 35 Abs. 1 Litauen, Art. 11 Polen, Art. 10 Abs. 2 Portugal, Art. 8 Abs. 2 Rumänien, Titel II Kapitel 5 Art. 17 Brasilien, Art. 19 Südafrika, Art. 5 Satz 2 Benin.

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tracht kommen: „Tutti i cittadini“40. Diese beiden Formulierungsalternativen sind je für sich Ausdruck einer Seite der Parteifreiheit, tatsächlich bedarf es beider Garantien: derjenigen für die Partei und derjenigen für die Bürger. Um die deutsche Dogmatik zu Art. 9 Abs. 1 GG zu übernehmen: Die Parteienfreiheit stellt ein Doppelgrundrecht dar. Formulierungen, die sich auf die Bürger beziehen, schaffen also explizit ein Bürgerrecht auf parteipolitische Betätigung41. Dies wird in schöner Weise entfaltet in Art. 19 in der Verfassung Südafrikas, wo verschiedene Aspekte der Parteitätigkeit einzeln erwähnt werden, so die Parteigründung, Aktivitäten in der Partei, die Mitgliederwerbung oder auch Wahlkampftätigkeit. Diesen Bürgerbezug heben auch andere Verfassungen hervor, aus Deutschland sei auf Art. 9 der Verfassung Thüringens, sowie Art. 20 Abs. 1 S. 1 Brandenburg hingewiesen42. Neben der Gewährleistung freier parteipolitischer Betätigung gibt es eher selten weitere Regelungen, die ins Detail gehen43. Bemerkenswert ist auch die Regelung in Art. 51 Abs. 3 Portugal: „Niemand darf gleichzeitig in mehreren politischen Parteien eingeschrieben sein . . .“. Hier wird der Charakter der Parteien als Wettbewerbsorganisationen, die in Konkurrenz zueinander stehen, auf Verfassungsebene zum Ausdruck gebracht. Das aus dem Recht der Koalitionsfreiheit bekannte Postulat der Gegnerfreiheit wird hier auch für die Parteien aufgestellt. Die Funktionszuordnung des „Parteienrecht(s) als Wett-

40 Art. 49: „Alle Bürger haben das Recht, sich frei zu Parteien zusammenzuschließen, um in demokratischer Weise bei der Bestimmung der nationalen Politik mitzuwirken“. 41 Einen frühen Hinweis auf die Trägerschaft auch der Bürger hat P. Häberle gegeben, Rezension von H.-R. Lipphardt, Die Gleichheit der politischen Parteien vor der öffentlichen Gewalt, 1975, in: DVBl. 1976, S. 278 (S. 278 f.). 42 s. auch bereits Art. 119 der Verfassung von Baden aus dem Jahr 1947, s. weiter etwa Art. 51 Abs. 1 Portugal, Art. 40 Abs. 1 Rumänien o. Art. 29 Abs. 2 Slowakei, Art. 4 Jordanien. 43 So aber Art. 29 Abs. 1 Satz 2 Griechenland, wo für Jugendliche vor Erreichung des Wahlalters Jugendorganisationen der Parteien vorgesehen sind.

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bewerbsrecht“44 wird hier auf Verfassungsebene bekräftigt. Die Freiwilligkeit der Parteimitgliedschaft wurde insbesondere in Staaten, die früher eine kommunistische Staatspartei kannten, als regelungsbedürftig empfunden45. Die doppelte Radizierung der Rechte auf parteipolitische Betätigung in Parteien und der Bürger bringt die portugiesische Verfassung in Art. 10 Abs. 2 und Art. 51 Abs. 1 zum Ausdruck. 3. Gleichbehandlung Funktionsvoraussetzung einer Wettbewerbsordnung, auch im Politischen, ist die Gewährleistung der Chancengleichheit der Konkurrenten. Das gilt für die Parteien als Organisationen, aber auch für den Wettbewerb der Bürger untereinander, ihre Interessen und politischen Überzeugungen zum Erfolg zu bringen. Bemerkenswerterweise finden sich soweit ersichtlich keine ausdrücklichen Gewährleistungen der Gleichbehandlung der Parteien. Offenbar gehen die verschiedenen Verfassungsrechtsordnungen davon aus, dass mit der Freiheit der Parteien und der damit gewährleisteten Wettbewerbsdemokratie diese Chancengleichheit der Parteien gleichfalls garantiert sei. Jedenfalls kann im zentralen Akt der Wahl auch auf die jeweils garantierte Wahlrechtsgleichheit zurückgegriffen werden. Anderes gilt aber für die Gleichbehandlung aller Bürger unabhängig von der Mitgliedschaft in einer Partei. Hier gibt es Diskriminierungsverbote wegen der Mitgliedschaft in einer Partei. Während im Grundgesetz auf die allgemeinen Gleichbehandlungsgebote und Diskriminierungsverbote aus Art. 3 Abs. 3 S. 1 (keine Benachteiligung wegen politischer Anschauungen) und Art. 33 Abs. 2 GG zurückgegriffen werden muss, gibt es etwa in Art. 51 Abs. 2 Alt. 2 Verfassung Portugal ein Diskriminierungsverbot wegen der Mitgliedschaft oder der Nicht-Mitglied-

44 s. M. Morlok, Parteienrecht als Wettbewerbsrecht, in: P. Häberle/ M. Morlok/V. Skouris (Hrsg.), FS für Dimitris Th. Tsatsos, 2003, S. 408 ff. 45 s. etwa Art. 35 Abs. 2 Litauen o. Art. 11 Satz 2 Polen.

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schaft in einer Partei46. Der Diskriminierungsschutz von Parteimitgliedern ist in Parallele zu den religionsrechtlichen Vorschriften zu sehen. Tendenzorganisationen und ihre Mitglieder stehen, so lehrt die historische Erfahrung, in der Gefahr, wegen ihrer bestimmten Überzeugungen diskriminiert zu werden. Deswegen finden sich auf religionsrechtlichem Gebiet eine ganze Reihe ausdrücklicher Diskriminierungsverbote, für Deutschland siehe Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3, Art. 140 GG, Art. 136 Abs. 2 WRV47. Verfassungen lassen sich in solchen Regelungen verstehen als Sedimente historischer Diskriminierungserfahrungen, verallgemeinert lassen sich Rechte verstehen aus Unrechtserfahrungen: „Rights From Wrongs“48. Eine Besonderheit findet sich in Frankreich: In Art. 4, dem Parteienartikel, findet sich in Abs. 2 eine (spätere) Ergänzung des Inhalts, dass die Parteien zur Verwirklichung des Grundsatzes aus Art. 3 Abs. 4 – eine verfassungsrechtliche Bestimmung zu Förderung des gleichen Zugangs von Frauen und Männern zu Wahlämtern – beitragen, sie sind also gehalten, den „gleichen Zugang von Frauen und Männern zu Wahlmandaten und Wahlämtern“ zu befördern. Auf dieser Grundlage hat Frankreich das sogenannte Parité-Gesetz verabschiedet, wonach die Parteilisten ebenso viele Frauen wie Männer als Kandidaten aufführen müssen. 4. Innerparteiliche Demokratie Soll das Volk tatsächlich über die Parteien seinen politischen Einfluss ausüben können, so scheint es sich aufzudrängen, dass die Parteien in ihrem Inneren demokratisch verfasst sind. Nicht eine oligarchische Clique von Parteioberen soll den Inhalt und den Kurs der Partei bestimmen, sondern die Mitglieder, das Volk innerhalb der Parteien. Von daher liegt es nahe, wie das Grundgesetz in Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG, die innerparteiliche Demokratie rechtlich verpflichtend zu machen. Einige weitere Ver46 Art. 40 Abs. 2 Verfassung Irland untersagt den einfach-rechtlichen Vorschriften politische Diskriminierung. 47 Ausführlich in Art. 21 Abs. 1 EU-GrCh. 48 A. M. Dershowitz, Rights From Wrongs, 2004.

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fassungen haben entsprechende Bestimmungen aufgenommen49. Freilich, das wird nicht überall so gesehen. Ein Gegenkonzept sieht die politischen Einwirkungsmöglichkeiten des Volkes vor allen Dingen durch den Wettbewerb zwischen den Parteien gesichert und hält das innerparteiliche Geschehen demgegenüber für nicht so wesentlich. Demgemäß ist die Zahl der Parteienartikel, die Aussagen zur innerparteilichen Verfassung enthalten, begrenzt. Für diese Sicht wird häufig Giovanni Sartori zitiert: „. . . die Großdemokratie keine Vergrößerung oder bloße Zusammenfassung vieler kleiner ist“50. In der Tat lässt sich argumentieren, dass innerparteiliche Demokratie zu einer Angleichung der Positionen der verschiedenen Parteien führe und damit die Wahlmöglichkeiten der Bürger eingeengt würden. Dies gilt allerdings insbesondere im Zusammenhang mit einer ökonomischen Theorie der Demokratie, wie sie Anthony Downs entwickelt hat und die sich stark an Zwei-Parteien-Systemen orientiert51. Angesichts der politischen Resultate in Ländern mit gering entwickelter rechtlich abgesicherter Demokratie ist die Überzeugungskraft dieses Theoriestranges aber begrenzt, die Möglichkeit der Parteiführer, eigenständig die Kandidaten für die Parlamentswahlen bestimmen zu können – so etwa die Praxis in Italien und Griechenland –, spricht im Ergebnis deutlich mehr für die rechtliche Absicherung der innerparteilichen Demokratie52. 49 So Frankreich Art. 4 Abs. 1 Satz 3, Kroatien Art. 6 Abs. 2, Portugal Art. 52 Abs. 5, Spanien Art. 6 Satz 3. In Demokratien unter prekären Umständen gibt es bisweilen relativ detaillierte Vorgaben für das Binnenleben der Parteien auf Verfassungsebene, so etwa in Art. 233 Nigeria. Nach ihrem Grad an Detailgenauigkeit gehören diese Vorschriften eigentlich auf die Ebene des einfachen Gesetzes. Eine junge Demokratie, die solche Anforderungen auf dieser Regelungsebene stellt, s. etwa Art. 12, 13, 22 u. 26 Gesetz über politische Bürgervereinigungen Georgiens. 50 G. Sartori, Demokratietheorie, 1992, S. 161. Sartori arbeitet ausgehend vom ehernen Gesetz der Oligarchie (S. 156 ff.) seine Version einer „Konkurrenztheorie der Demokratie“ heraus (S. 160 ff.). 51 A. Downs, Ökonomische Theorie der Demokratie, 1968. 52 s. dazu etwa I. Kobakhidze, Die Funktionsfähigkeit der Parteien und ihre Freiheit, 2007, S. 139 ff.

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5. Parteienfinanzierung Die Parteienfinanzierung ist ein heikles Thema. Eine parteigetragene Demokratie ist einerseits auf eine hinreichende Finanzierung der Parteien angewiesen, andererseits ist auch Bedacht darauf zu geben, aus welchen Quellen die Finanzmittel der Parteien stammen: Die Parteienfinanzierung hat das Hauptproblem, dass über Geld nicht politische Macht erkauft werden können soll. Politische Macht soll aus der Wahlurne kommen, nicht aus der Brieftasche. Deswegen bedarf es eines rechtlichen Regiments der Parteienfinanzierung. Tatsächlich nehmen sich die Rechtsordnungen der Demokratien auch sehr häufig der Parteienfinanzierung an, sei es in der Verfassung, sei es im einfachen Recht. Verfassungstheoretisch kann man in diesen Regelungen die Übernahme einer Gewährleistungsverantwortung des Staates für ein funktionierendes Parteiwesen sehen. Um die parteigetragene Politik jedenfalls ein Stück weit unabhängig zu halten von potenten Geldgebern, hat sich im Laufe der Zeit in vielen Ländern eine Art der staatlichen Parteienfinanzierung durchgesetzt. Staatliche Mittel für die Parteien und/oder die Kandidaten dürften mittlerweile Standard in den entwickelten Demokratien sein. Dies bedeutet eine – mindestens partielle – Gewährleistung der Chancengleichheit der Parteien unabhängig davon, ob sie begüterte oder weniger begüterte Kreise ansprechen53. Die staatliche Parteienfinanzierung ist in einigen Fällen sogar in der Verfassung verankert, und zwar in verschiedener Form. Während in Griechenland (Art. 29 Abs. 2) die staatliche Parteienfinanzierung auf Verfassungsebene als „Kann“-Regelung dem Gesetz vorbehalten wird, sieht Art. 51 Abs. 6 der Verfassung Portugals eine finanzielle Unterstützung der Parteien durch Gesetz als Pflicht vor54. Überwiegend wird die Parteienfinanzierung einschließlich der staatlichen Unterstützung für die Parteien aber lediglich auf einfachgesetzlicher Ebene geregelt. Im Bedarf an Detailregelungen und der ggf. häufigeren Änderungsnotwendigkeit gibt es gute Gründe dafür. Die 53 54

Zur Entfaltung dieses Gesichtspunktes BVerfGE 8, 51 ff. Ebenso die brasilianische Verfassung Titel II Kap. V Art. 17 § 3.

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Verpflichtung zur Festschreibung der staatlichen Parteienfinanzierung auf Verfassungsebene ist bei lebensnaher Betrachtung auch deswegen kein zwingendes Gebot, weil die Eigeninteressen der Parteien dafür sorgen, dass diese über ihre Repräsentanten im Parlament eine solche staatliche Finanzierung einführen. Allerdings ist mangels einer verfassungsrechtlichen Regelung die Gefahr gegeben, dass die aktuell erfolgreichen Parteien eine Regelung einführen, die sie selbst begünstigt und neu auftauchende Konkurrenz kleinhalten soll. Die These, die Parteien veränderten ihren Charakter und entwickelten sich hin zu staatsnahen Kartellparteien55, hat in der staatlichen Parteienfinanzierung einen unterstützenden Faktor. Um dem Bürger Klarheit über mögliche Abhängigkeiten der Parteien zu schaffen, haben die Rechtsordnungen demokratisch verfasster Staaten Vorschriften über die Offenlegung der Parteifinanzen aufgestellt. Historisches Vorbild ist Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG. Auf Verfassungsebene findet sich dies in einigen weiteren Staaten56, häufig aber in eigenen Parteiengesetzen und Parteienfinanzierungsgesetzen. Weitere Detailregelungen der Parteifinanzen sind nötig und wurden auch häufig erlassen, fast immer aber im einfachen Gesetz, so über Obergrenzen für Spenden, den Ausschluss etwa juristischer Personen als Geldgeber für die Parteien oder auch Obergrenzen für Wahlkampfausgaben57. Nichtpekuniäre Staatsleistungen, insbesondere der freie Zugang zu den Massenmedien und die Zurverfügungstellung von Wahlwerbesendezeiten, sind häufiger in der Verfassung garantiert58.

s. insbes. R. S. Katz/P. Meir, Party Politics 1 (1995), S. 5 ff. So etwa Kroatien Art. 6 Abs. 3, Polen Art. 11 Satz 3, Portugal Art. 51 Abs. 6 mit einer Verweisung auf das Gesetz. 57 Die detailreiche Verfassung Brasiliens sieht ein Verbot der Parteienfinanzierung aus dem Ausland vor, Titel II Kap. V Art. 17 Abs. 2. 58 s. etwa Art. 15 Griechenland, Art. 40 Portugal (nicht beschränkt auf Parteien, sondern unter Einschluss von Gewerkschaften und anderen Verbänden!); beachtenswert Art. 44 Verfassung Litauen, wonach Staat, Parteien oder andere Organisationen oder Personen kein Monopol über die Massenmedien haben dürfen – eine Reaktion auf die vorherigen totalitären Zustände. 55 56

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6. Begrenzungen der Parteitätigkeit Die Konstitutionalisierung und überhaupt die rechtliche Anerkennung der Parteien beinhaltet im ersten Schritt die Anerkennung der Parteien als demokratienotwendige Einrichtungen. Sie wurden deswegen mit verschiedenen Rechten ausgestattet und wie eben gesehen auch mit staatlichen Finanzmitteln versehen. Im Laufe der Zeit stellte sich aber heraus, dass aus dieser komfortablen Situation heraus die Parteien eine Tendenz zum Ausgreifen auf Felder entwickelten, die nicht zu ihrem legitimen Betätigungsfeld gehören. Die Einflussnahme auf die Massenmedien, die Verwaltung, die Gerichtsbarkeit durch Maßnahmen der Personalprotektion stehen hierfür. Insofern hat sich die Notwendigkeit ergeben, ein Parteienrecht der zweiten Generation59 zu entwickeln. Diese Grenzziehung für Parteiaktivitäten hat auf Verfassungsebene nicht selten die Gestalt von Inkompatibilitätsregelungen für die Inhaber bestimmter staatlicher Ämter mit der Mitgliedschaft in einer politischen Partei. Solche Inkompatibilitätsvorschriften sind häufig60. Diese Inkompatibilitäten lassen sich wohl 59 Dazu M. Morlok, Für eine zweite Generation des Parteienrechts, in: D. Th. Tsatsos (Hrsg.), 30 Jahre Parteiengesetz in Deutschland, 2002, S. 53 ff. 60 Die italienische Verfassung, die 1947 mit ihrem Parteienartikel voranging, enthält in Art. 89 Satz 1 zugleich eine Bestimmung, die eine Parallelvorschrift zu Art. 130 Abs. 1 WRV darstellt: „Die Beamten stehen ausschließlich im Dienste der Nation.“ Weiter kann das Recht der Zugehörigkeit zu politischen Parteien für Angehörige des Richterstandes, für aktive Berufsmilitärs, für Polizeibeamte und -bedienstete sowie für diplomatische und konsularische Vertreter im Ausland gesetzlich eingeschränkt werden. Ähnliche Vorschriften, oft auch unter Einbeziehung des Amtes des Staatspräsidenten und der Richter des Verfassungsgerichts, etwa in Art. 95, 147 Bulgarien, Art. 95 Kroatien, § 30 u. § 125 Estland, Art. 29 Abs. 3 Griechenland, Art. XXIII Satz 2 Ungarn, Art. 84 Rumänien, Art. 137, 145a Slowakei, Art. 159 Abs. 3 Spanien, Art. 78, 205, 209, 214 (für die Mitglieder im Nationalen Rundfunkrat!); Art. 227 (Nationalbankpräsident); bemerkenswert die rein negative Sicht in Slowenien, wo in vier Artikeln Inkompatibilitäten begründet werden und in einem weiteren Artikel die Verbotsmöglichkeit für Parteien geregelt wird, es aber keine (positive) Gewährleistungen für die Parteien gibt.

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als Sicherungsinstrumente einer „zweiten Generation“ begreifen, sie stehen aber genetisch betrachtet auch in einer älteren parteifeindlichen Tradition, in welcher die Vorstellung einer neutralen Staatsmacht, die von Parteipolitik nicht verunreinigt werden dürfe, dominierte. Insofern sind diese Bestimmungen über die Zulässigkeit einer Parteimitgliedschaft durchaus ambivalent zu bewerten. Die Tatsache, dass eine Parteimitgliedschaft nicht zulässig ist für bestimmte Kategorien von Staatsbediensteten macht diese nicht zu politisch meinungslosen Bürgern. Der Nutzen solcher Vorschriften ist also sehr begrenzt. In ehemals sozialistischen Staaten wird durch Verfassungsartikel die Trennung von Staat und Parteien festgeschrieben und auch der Einfluss von dominierenden Staatsideologien abzuwehren versucht61. Verfassungstheoretisch bieten diese Vorschriften Anlass, über den Status der Parteien nachzudenken und zugleich über die Abgrenzung staatlicher Aktivitäten von solchen privater Art. An die frühere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Parteien als Quasi-Staatsorgane62 ist hier zu erinnern, sie liegt bekanntlich der Eröffnung des Organstreitverfahrens für die Parteien zugrunde. 7. Parteien und wehrhafte Demokratie Das Gegenstück zur Gewährleistung der Parteien in der Verfassung stellt die Etablierung des Parteiverbots dar. Auch dies ist eine Konsequenz der Einsicht in die große Bedeutung der Parteien für eine freiheitliche Demokratie. Gerade wegen dieser Bedeutung kümmern sich Verfassungen auch unter dem Aspekt der Sicherung der Freiheitlichkeit um die Parteien. Die Problematik des Parteiverbotes ist durch eine doppelte Paradoxie ausgezeichnet: Zum einen wäre es selbst widersprüchlich, wenn eine Verfassungsordnung, die die Freiheitlichkeit gewährleisten 61 So etwa Art. 11 Abs. 2 Bulgarien, Art. 29 Abs. 3 u. 4 Slowakei. Als Beispiel für die positive Hervorhebung einer Staatspartei, der arabischen Ba´th Partei, Art. 8 Syrien. 62 BVerfGE 1, 208 ff.; 4, 27 ff.; 5, 77 ff.; 6, 377 ff., ständige Rechtsprechung.

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will, auch die Freiheit gewährte, diese freiheitliche Ordnung abzuschaffen, auf der anderen Seite ist es auch ein Widerspruch, die Freiheit gerade durch Einschränkungen der Freiheit zu sichern. Hier ist nicht der Ort, die Frage der wehrhaften Demokratie zu erörtern63. Jedenfalls finden sich in einer ganzen Reihe von Verfassungen Bestimmungen über das Parteiverbot. Dies sind typischerweise Verfassungen, die nach der Erfahrung einer unfreien politischen Ordnung ergingen. Auch Art. 21 Abs. 2 GG gehört in diese Gruppe64. Angesichts dessen, dass auch Vereinigungen ohne rechtlichen Parteistatus zu Wahlen antreten können, kennen wir auch Verbotsmöglichkeiten für solche Organisationen65. Typischerweise ist angesichts der Gefahren, die mit der Möglichkeit eines Parteiverbotes verbunden sind, die Verfassungsgerichte als die zuständigen Verbotsinstanzen festgelegt66. Eine interessante Art von Vorschrift zielt darauf, dass sich die Parteien nicht entlang ethnischer oder religiöser Gräben oder auch nach regionalen Radizierungen bilden67. Dies gilt insbe63 Dazu zum Ganzen M. Thiel, Wehrhafte Demokratie, 2003; s. weiter aus der Diskussion K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 714 ff.; M. Morlok, Parteiverbot als Verfassungsschutz – Ein unauflösbarer Widersprich?, in: NJW 2001, 2931 ff.; H. Meyer, Parteiverbot und demokratische Republik, 1993. Zur gegenwärtigen Diskussion um ein NPD-Verbot M. Morlok, Das Parteiverbot, in: Jura 2013, S. 317 ff. 64 Zu dieser Tendenz insbes. angesichts der neuen osteuropäischen Verfassungen I. van Biezen/G. Borz, Models of Party Democracy (Fn. 22), S. 340; solche Verfassungsbestimmungen finden sich etwa in Art. 11 Abs. 2 Satz 2 Bulgarien, Art. 6 Abs. 4 Kroatien, § 48 Abs. 3 Estland, Art. 13 Polen, Art. 40 Abs. 2 Rumänien. Eine wiederum dezidiert aus der Geschichte zu verstehende Bestimmung ist das in Nr. 12 der Übergangsbestimmung der italienischen Verfassung enthaltene Verbot der Reorganisation der Faschistischen Partei. 65 s. etwa Art. 15, 62 Verfassung Bayern oder Art. 52 Verfassung Nordrhein-Westfalen. 66 So bspw. Art. 67 Tschechische Republik, Art. 188 Polen, Art. 223 Portugal, Art. 146 Rumänien. 67 Bsp. finden sich in Art. 51 Abs. 3, 4 Portugal, Art. 11 Abs. 4 Bulgarien, Art. 222e Nigeria. Die erstgenannte portugiesische Vorschrift ver-

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sondere in Staaten mit Separationsproblemen. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass gesellschaftliche Konflikte umso schärfer und weniger leicht befriedbar sind, je mehr Konfliktlinien kumulieren. Wenn politische Gegensätze mit religiösen oder ethnischen zusammenfallen, ist die Gefahr einer unfriedlichen Auseinandersetzung deutlich größer als wenn die Konfliktlinien sich überschneiden und es „overlapping memberships“ zwischen politischen und religiösen oder regionalen Zugehörigkeiten gibt. Allerdings, dieser Sicht, die den entsprechenden Verfassungsgebern die Feder geführt hat, steht eine andere Auffassung gegenüber, wonach es förderlich für eine Demokratie sei, wenn die Spaltungen nach Religion, ethnischer Zugehörigkeit oder Regionalität auch in Parteien repräsentiert werden. Dies sei förderlich für die Legitimation der politischen Ordnung68. Das Gelingen einer solchen Integration in das politische System setzt voraus, dass die politischen Institutionen auf die Integration dieser Verschiedenartigkeit ausgerichtet sind, nicht zuletzt auch in der informellen Dimension. Typischerweise haben solche Demokratien ein Modell der „Konkordanzdemokratie“ (oder um mit Arend Lijphart zu sprechen: „consociational“ democracy). Das Musterbeispiel bildet die Schweiz mit ihrer Einbindung aller Gruppierungen in eine permanente große Koalition. Der Nützlichkeit solcher politischen Muster kann kaum widersprochen werden. Die Erfahrung, dass unterschiedliche Demokratietypen, die Mehrheitsdemokratie nach dem Vorbild von Westminster oder die Proporzdemokratie, Erfolg haben können, verweist wiederum auf die Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext. Es gibt keine überall gut funktionierenden Muster. Deswegen ist ein Export von Verfassungsbestimmungen auch problematisch. Geboten ist vielmehr eine überlegte Importpraxis durch die jeweiligen Verfassungsgeber.

bietet auch eine entsprechende „Ausflaggung“, untersagt also Symbole, die mit einer bestimmten Religion oder Kirche assoziiert werden. 68 So insbes. A. Lijphart, Democracy in Plural Societies, 1997; ders., Patterns of Democracy, 1969; G. Lehmbruch, Verhandlungsdemokratie, 2003.

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8. Indirekte Parteienartikel Angesichts der tatsächlichen Leistungen der Parteien für den demokratischen Prozess, insbesondere bei Wahlen und der Organisation der innerparteilichen Arbeit, hat das Recht sich bereits in einer älteren Schicht der Sache nach auf die politischen Parteien bezogen. Wir haben oben (II. 1.) einschlägige Verfassungsbestimmungen deswegen als „indirekte Parteienartikel“ gekennzeichnet. Neuere Parteienartikel nehmen ohne Probleme ausdrücklich auf die Parteien als solche in diesen Funktionen Bezug, also als Träger staatlicher Teilfunktionen. Dies gilt zunächst für das Wahlrecht. Bestimmungen, wonach die Wahl zum Parlament nach den Grundsätzen der Verhältniswahl durchgeführt wird, verweisen fast zwangsläufig auf die politischen Parteien: Als Träger von Wahlvorschlägen auf Listen mit mehreren Kandidaten. Für diesen Typus war oben (II. 2.) am Anfang Art. 31 der Verfassung Islands genannt worden. Explizit werden die Parteien als Träger von Wahlvorschlägen mittlerweile in zahlreichen Verfassungen benannt69. Versteht man das Wahlrecht als Verfassungsrecht im materiellen Sinne und wegen der Bedeutung von wahlrechtlichen Sperrklauseln, so liegt es nahe, solche Sperrklauseln verfassungsrechtlich zu fixieren70. Ist dies nicht der Fall, kann das einfachrechtliche Wahlrecht die aktuelle Mehrheit in Versuchung führen, es zum eigenen Vorteil auszugestalten. Insbesondere im Hinblick auf die Tätigkeit der Parteien im Parlament finden sich zahlreiche solcher versteckter wie auch offener Bezugnahmen auf die politischen Parteien. Während im deutschen Recht hier von „Fraktionen“ die Rede ist, wird in anderen Verfassungen auf die sie tragenden politischen „Parteien“ im Text der Verfassung Bezug genommen71. Ein erhebliches

69 Etwa Art. 26, 26a, 35 Österreich, Art. 54 Mexiko, Kap. 3 Art. 1 u. Art. 8 Schweden, Sektion 25 u. 54 Finnland, Art. 114 Abs. 1 Portugal, für die Kandidatenaufstellung dort auch Art. 151. Zum Aspekt der Kandidatenaufstellung weiter etwa Art. 100 Polen. 70 So in Schweden Kap. 3 Art. 7.

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Problem stellen in manchen Ländern Abgeordnete dar, welche die Partei/Fraktion wechseln – aus welchen Motiven auch immer, offenbar nicht nur aus ehrenwerten. Deswegen gibt es verfassungsrechtliche Versuche, dem entgegenzuwirken72. Versuche, die freilich in einem Spannungsverhältnis zum freien Mandat stehen. Einen anderen Komplex bilden Bestimmungen, in denen es um die Regierungsbildung geht73. Im parlamentarischen Regierungssystem arbeiten die parlamentarische Mehrheit und die Regierung regelmäßig zusammen und ersetzen damit den klassischen Konflikt zwischen der Regierung auf der einen und dem Parlament auf der anderen Seite durch den Gegensatz von Regierung einschließlich der sie tragenden Mehrheit hier und den Oppositionskräften dort. Wenn die Verfassungen die Opposition eigens erwähnen und sie mit eigenen Rechten ausstatten, so liegt darin eine indirekte Bezugnahme auf die Oppositionsfraktionen und damit auch auf die sie tragenden Parteien. Solche Oppositionsklauseln finden sich in deutschen Länderverfassungen74, aber auch in ausländischen Verfassungen75. Auch die Instrumente der direkten Demokratie brauchen Organisationen, die initiativ werden und die Kräfte organisieren, die hinter einem Bürgerbegehren oder einer Volksinitiative stehen. Auch die direkte Demokratie muss organisiert werden – und bedarf der Organisationen. Auch für diese Art demokratischer Betätigung bieten sich die Parteien an. Bemerkenswerterweise kennen die Verfassungen aber, soweit ersichtlich, in den 71 So etwa in Österreich, s. die Bezugnahme auf die Parteien bei Regelungen über die Zusammensetzung des Bundesrates in Art. 35 Abs. 1; s. weiter etwa Art. 78, 103 Kroatien, Art. 113 Griechenland und zahlreiche weitere Verfassungen. 72 Art. 59 Abs. 2e Belize, Art. 48 Abs. 1b Namibia, Art. 68g Nigeria, Art. 46 Abs. 2b Singapur zu diesem Problem. 73 So etwa Art. 99 Bulgarien, Kap. 6 § 14 Schweden, Art. 37 Abs. 2– Abs. 4, Art. 38 Griechenland. 74 So etwa Art. 48 Verfassung Sachsen-Anhalt, Art. 12 Verfassung Schleswig-Holstein, Art. 16a Bayern, Art. 24 Hamburg, Art. 78 Bremen. 75 Art. 90 Malta, Art. 114 Abs. 2, 3 Portugal, Art. 57 Abs. 2d Südafrika.

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Bestimmungen über Volksbegehren keine Erwähnung der Parteien. Dieses Fehlen der Parteien in den Bestimmungen zu den Volksentscheiden, dürfte eine Folge der (überzogenen) Entgegensetzung von parteigetragener repräsentativer und von parlamentarischer und parteigetragener und direkter Demokratie andererseits sein. IV. Konstitutionelle und einfachgesetzliche Regelungen über die politischen Parteien Nicht alle Rechtsregelungen über die politischen Parteien finden sich in der Verfassung, vielmehr ist ein guter Teil des Parteienrechts auf der Ebene des einfachen Rechtes angesiedelt. Demgemäß sind zahlreiche Regelungen des Parteienrechts in einfachgesetzlichen Bestimmungen angesiedelt, je nach Staat gibt es ein Parteiengesetz oder ein Parteienfinanzierungsgesetz, nicht selten auch beides. Hier finden sich Bestimmungen über Voraussetzungen und Kriterien staatlicher Mittelfinanzierung, präzise Vorschriften über die den Parteien auferlegten Rechnungslegungspflichten, Bestimmungen über Eintritt oder Ausschluss von Mitgliedern, auch das Wahlrecht berührt mit seinen Bestimmungen die äußeren Handlungsmöglichkeiten und gegebenenfalls auch die interne Entscheidungsfindung der Parteien76. Angesichts dieses Regelungsbedarfes nimmt es nicht wunder, dass die Verfassungen selbst häufig auf das einfache Recht verweisen77. Allerdings gibt es auch in Staaten ohne Verfassungsbestimmungen über die Parteien regelmäßig einen Bestand des einfachen Parteienrechts, so seit einigen Jahren auch im Vereinigten Königreich78. 76 Beispielhaft im deutschen Bundeswahlgesetz die Regelung in § 21 zur Aufstellung von Parteibewerbern. 77 Vorangehend Art. 21 Abs. 3 GG, weiter, insgesamt oder für einzelne Regelungsaspekte, etwa Art. 29 Abs. 2 Griechenland, Art. 11 Abs. 3 Satz 2 Bulgarien, Art. 6 Abs. 4 Satz 3 Kroatien, Art. 35 Abs. 3 Litauen, Art. 164 h Portugal, Art. 73 Abs. 3 Rumänien. 78 s. den Political Parties, Elections and Referendums Act von 2000 und den Political Parties and Elections Act von 2009.

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Demgegenüber steht die Aussage von Konrad Hesse „Parteienrecht ist primär Verfassungsrecht“79. Angesichts des hier dargestellten umfangreichen Bestandes an Verfassungsrechtsvorschriften eigens für die politischen Parteien hat diese Aussage erhebliche Plausibilität: Die Spezialzweckorganisation Partei (s. o. II., 2.) unterscheidet sich erheblich von anderen Vereinigungen und hat gerade wegen dieser Besonderheiten eigene verfassungsrechtliche Regelungen erfahren, die das Parteienrecht insgesamt prägen. Angesichts von parteirechtlichen Regelungen auf der Ebene der Verfassung wie des einfachen Rechtes ist der Frage nachzugehen, ob diese Materie besser auf der einen oder der anderen Ebene zu regeln ist oder jedenfalls in welchem Verhältnis diese beiden Regelungsebenen zueinander stehen. Das einfache Recht als Regelungsort des Parteienrechts empfiehlt sich jedenfalls wegen der hier nötigen und auch regelungstypgerechten Detailgenauigkeit, auch wegen des Änderungsbedarfes der Detailregelungen, man denke etwa an Anpassung von Finanzierungssätzen oder Harmonisierungen mit anderen gesetzlichen Vorschriften, die geändert wurden. Jedenfalls soll die Verfassung eine deutlich stabilere Ordnung darstellen als das einfache Gesetz. Das einfache Recht kann sehr viel leichter und schneller geändert werden, weshalb es für Einzelheiten der Ausgestaltung des Parteienrechts eine unverzichtbare Ebene darstellt. Indes, die Regelungsbefugnis für das Parteienrecht nur in die Hand des einfachen Gesetzgebers zu legen, schafft auch erhebliche Probleme. Parteienrecht ist Wettbewerbsrecht80. Es soll den Parteien wie auch den einzelnen Bürgern gleiche Chancen auf politische Einwirkung geben. Wenn nun der einfache Gesetzgeber über diese Wettbewerbsregeln, zu denen auch das Wahlrecht zählt, verfügen kann, so hat die je aktuelle politische Mehrheit die Möglichkeit, diese Wettbewerbsbedingungen zugunsten der eigenen Position und zu Lasten der Mitbewerber 79 K. Hesse, Einführung – 30 Jahre Parteiengesetz, in: D. Th. Tsatsos (Hrsg.), 30 Jahre Parteiengesetz in Deutschland, 2002, S. 38 (42). 80 M. Morlok, Parteienrecht als Wettbewerbsrecht (Fn. 44), S. 408 ff.

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zu ändern. Man tut gut daran, die jeweilige parlamentarische Mehrheit vor der Versuchung zu bewahren, die Wettbewerbsbedingungen zum eigenen Vorteil gestalten zu können. Deswegen sollten die Grundlagen des Parteienwettbewerbs auf Verfassungsebene festgeschrieben werden. Es geht aber nicht nur um die aktuelle politische Mehrheit, sondern auch um den Schutz bisher nicht erfolgreicher kleiner Parteien und auch um die Möglichkeit neuer Parteien, in die Konkurrenz einzutreten. Auch die Gesamtheit der bislang im Parlament vertretenen Parteien sollte nicht die Möglichkeit erhalten, sich kartellartig gegen neu aufkommende, gegebenenfalls auch im Moment nur potentielle Konkurrenz abzusichern. Auch deswegen sind die Grundlagen des Parteienrechts in verfassungsrechtlichen Entscheidungen zu legen. Schließlich ist auf die sogenannten Entscheidungen in eigener Sache einzugehen81. Es geht dabei um Gesetze, welche die Abgeordneten – Parteirepräsentanten – in Angelegenheiten beschließen, die sie in besonderer Weise betreffen, so das Parteienregulierungsrecht, die Parteienfinanzierung, die Diäten und anderes mehr. Bereits der Terminus „Entscheidung in eigener Sache“ enthält einen Vorwurf, weil nach rechtsstaatlichen Grundsätzen verbindliche Entscheidungen von unbeteiligter Seite getroffen werden sollten. Jedenfalls gibt es Anlass, solche Entscheidungen verschärfter Kontrolle zu unterwerfen, hier kommt das Verfassungsgericht als Kontrollorgan gegenüber dem Gesetzgeber ins Spiel. Die Konstitutionalisierung der Grundlagen des Parteienrechts erlaubt es, den Gesetzgeber einer solchen Kontrolle zu unterwerfen, eine wichtige Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit liegt gerade darin, als „Hüter des Parteienwettbewerbs“ zu fungieren82. Beispiele, in welchen das Bundesverfassungsgericht diese Rolle notwendigerweise übernommen hat, bilden die Entscheidung über steuerliche Absetz81 Dazu insbes. Th. Streit, Entscheidung in eigener Sache, 2006; H. Lang, Gesetzgebung in eigener Sache, 2007; H. H. von Arnim, Der Staat als Beute, 1993, S. 342 ff. 82 s. M. Morlok, Das Bundesverfassungsgericht als Hüter des Parteienwettbewerbs, NvWZ 2003, S. 157 ff.

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barkeit von Parteispenden83, die Entscheidung über die sogenannte Drei-Länder-Klausel bei der Parteienfinanzierung84 oder auch Entscheidungen, in denen die Wahlrechtsgleichheit vom Gesetzgeber eingefordert wurde85. Der Verfassungsrang der Betätigungsfreiheit der Parteien wie ihrer Chancengleichheit hat – nicht zuletzt – zur Folge, dass sich hierauf beziehende Regelungen dem Vorbehalt des Gesetzes unterliegen, eine Praxis der Finanzierung außerhalb des Gesetzes, gegebenenfalls nach aktueller politischer Opportunität, ist damit ausgeschlossen, dies kann auch von den Fachgerichten eingefordert werden86. Offenbar braucht das Parteienrecht beide Ebenen, die der Verfassung wie die des Gesetzes, erst dadurch kann es eine angemessene rechtliche Rahmung des Parteigeschehens zustande bringen – unter notwendiger Einschaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit. Damit entsteht eine weitere Schicht des maßgeblichen normativen Materials zu den Parteien87, das seinerseits wieder Ausgangsmaterial für den Gesetzgeber wie für den Verfassungsgeber darstellt. V. Ertrag Die Betrachtung der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der politischen Parteien hat die Grundannahme der Textstufenanalyse bestätigt: Eine verfassungsrechtliche Garantie entwickelt sich im Laufe der Zeit weiter und führt zur Spezifizierung von BVerfGE 8, 51 ff. BVerfGE 111, 382 ff. 85 BVerfGE 129, 300 ff.; dazu M. Morlok, Chancengleichheit ernstgenommen – Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur FünfProzent-Klausel bei der Europawahl, in JZ 2012, 76 ff.; sehr kritisch zu dieser Entscheidung Ch. Schönberger, Das Bundesverfassungsgericht und die Fünf-Prozent-Klausel bei der Wahl zum Europäischen Parlament, in: JZ 2012, S. 80 ff.; zuletzt BVerfG Urt. v. 26.02.2014. 86 s. zur Finanzierung der politischen Jugendorganisationen eindringlich OVG Bln-BbG, NvWZ 2012, 1265 ff.; dazu H. Merten, Die Finanzierung politischer Jugendorganisationen gerät unter Gesetzgebungsdruck, in: NvWZ 2012, 1228 ff. 87 Instruktiv hierfür H. H. Klein, Bundesverfassungsgericht und Parteiengesetz, in: J. Ipsen (Hrsg.), 40 Jahre Parteiengesetz, 2009, S. 19 ff. 83 84

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Teilgehalten der Garantie, für welche angesichts bestehender oder neu erkannter Probleme Bedarf bestand. Die Ausformulierung von Teilgehalten einer verfassungsrechtlichen Gewährleistung bringt einen höheren Instruktionswert für die Rechtsanwendung mit sich. Zugleich können diese Teilgehalte auch gelesen werden als Spiegel dessen, was als Problem im jeweiligen Themenfeld wahrgenommen wurde. Der Inhalt einer Verfassung erweist sich auch am Gegenstand der Parteien als Erfahrungssediment, zumal eine Geschichte politischer Unfreiheit ein starkes Motiv zur Absicherung freier Parteitätigkeit in einem Staat darstellt. Fragt man nach dem mit der Textstufenanalyse gewonnenen Mehrwert, so ist zunächst festzuhalten, dass in der Tat eine normative Diffusion stattfindet als Element im Prozess der Durchsetzung des Typus Verfassungsstaat. Die komparativ und im historischen Längsschnitt vorgehende Untersuchung belegt eine zunehmende Übernahme einer staatlichen Gewährleistungsverantwortung für das Wirken der politischen Parteien. Diese stellen eine Spezialzweckorganisation dar, die im Interesse einer funktionierenden Demokratie mit eigenen Garantien, aber auch mit besonderen Pflichten ausgestattet wird. Die verfassungsrechtliche Einbindung und Überformung der Parteien mag zugleich auch als ein Mittel verstanden werden, um ihr immer noch problematisches Ansehen zu verbessern, um durch die Verordnung von Transparenz und Kontrollen die Legitimationszweifel an der Parteitätigkeit zu verringern88. In umgekehrter Blickrichtung kann man die Konstitutionalisierung der Parteien auch lesen als Anerkennung des Bedeutungszuwachses der Verfassung: Die unbestrittene Notwendigkeit politischer Parteien für eine funktionierende Demokratie bleibt nicht außerhalb oder neben der Verfassung, vielmehr scheint es so zu sein, dass mit der Durchsetzung des Verfassungsstaates alles Wichtige auch tatsächlich in der Verfassung thematisiert und normativ ge-

88 Vgl. dazu I. van Biezen, State Intervention in Party Politics: The Public Funding and Regulation of Political Parties, in: European Review 16 (2008), S. 337 (338).

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prägt wird. Insofern könnte man von einer empirisch gemeinten „Wesentlichkeitstheorie“ zugunsten der Verfassung sprechen. Die Verfassung rückt in den Mittelpunkt des Gemeinwesens. Weiter führt die Textstufenanalyse auf verschiedene Fragen für die weitere Forschung. So ist empirisch nach den „Rezeptionsmittlern“ zu fragen, also nach den Organisationen oder Mechanismen, die zur Übernahme von Verfassungsartikeln führen. Hier dürften der Europarat, die Venedig-Kommission, die OECD, Transparency International und auch das International Institute for Democracy and Electoral Assistance (IDEA) eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben89. Ob angesichts der weit verbreiteten (partiellen) Staatsfinanzierung die Parteien als öffentliche Güter, als „public utility“90, zu verstehen sind, also Einrichtungen, die wegen ihres Nutzens für die Gesamtheit auch aus Steuermitteln finanziert werden dürfen, sollte noch näher durchdrungen werden. Zwar gibt es eine erhebliche Ähnlichkeit der Verfassungsbestimmungen über die politischen Parteien, gleichwohl kann eine Variationsbreite und auch eine unterschiedliche Regelungsdichte der Verfassungen nicht verkannt werden. Dies rückt den jeweiligen historischen, kulturellen und politischen Kontext ins Blickfeld und lässt nach denjenigen Elementen fragen, die eine intensive verfassungsrechtliche Regelung befördern, behindern oder für wenig dringlich erachten. So ist festzustellen, dass die wohletablierten Demokratien in Belgien, Dänemark, Irland und den Niederlanden bemerkenswerterweise die einzigen demokratischen europäischen Staaten sind, die über keinen Parteienartikel in der Verfassung verfügen, das Vereinigte Königreich scheidet mangels schriftlicher Verfassung ohnehin aus. Umgekehrt ist festzuhalten, dass die Überwindung einer Diktatur regelmäßig

I. van Biezen, ebd., S. 337 f. Hierzu I. van Biezen, Political Parties as Public Utilities, in: Party Politics 10 (2004), S. 701 ff.; s. auch schon M. Morlok, Thesen zu Einzelaspekten der Politikfinanzierung, in: D. Th. Tsatsos (Hrsg.), Politikfinanzierung in Deutschland und in Europa, 1997, S. 77 (82 ff.) – im Anschluss an G. van der Beek, Parteifinanzen, 1994, S. 134 ff. 89 90

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zur Aufnahme von Regelungen über die Parteien in der Verfassung führt. All diese Befunde belegen, dass die Parteien und ihre verfassungsrechtlichen Gewährleistungen zu einer zeitgenössischen adäquaten Verfassungstheorie gehören. Dies heißt freilich nicht, dass ein Mehr an Verrechtlichung, gar an Konstitutionalisierung unbedingt besser sei. Vielmehr geht es darum, wie viel Parteienrecht und auf welcher Ebene gut für eine offene Demokratie ist.

Die Verfassung der Internetgesellschaft Zur Rolle von Staat und Verfassung im Zuge der digitalen Revolution Von Ingolf Pernice Einführung Für Konrad Hesse ist Verfassung die „rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens“;1 er meint mit Gemeinwesen Staat und Gesellschaft und wendet sich gegen den sonst prominent vertretenen Dualismus von Staat und Gesellschaft.2 Dies prägt maßgeblich auch die Verfassungstheorie von Peter Häberle, bis hin zu seinen „Vorstudien zu einer universalen Verfassungslehre“, die er in seinem kürzlich erschienenen Werk unter den Titel „Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur“ stellt.3 Verfassung ist nicht statisch gegeben, sondern aufgegeben als „öffentlicher Prozess“4 politischer Einheitsbildung,5 das 1 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. Neudruck 1999, S. 3 ff., insbes. Rn. 11 f., 17 f. 2 s. etwa E.-W. Böckenförde, Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, 1973; ders., Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, in: ders., Staat Gesellschaft Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, 1976, S. 185 ff.; s. auch E. Forsthoff, Verwaltungsrecht, 1. Band, Allg. Teil, 10. Aufl. 1973, zur Geschichte der Verwaltungsrechtswissenschaft, S. 32, 43: „Die Entdeckung der Gesellschaft als einer vom Staate prinzipiell zu scheidenden, eigengesetzlichen Sphäre ist für die Systematik des Verwaltungsrechts von großer Wichtigkeit“. 3 Zuletzt: P. Häberle, Der Kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur. Vorstudien zu einer universalen Verfassungslehre, 2013, S. 18 ff. 4 s. P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß. Materialien zu einer Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft, 1978.

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betrifft Staat und Gesellschaft. Hesse sieht dabei den Begriff „Staat“ in einer „engeren Bedeutung als Handeln und Wirken der im Wege politischer Einheitsbildung konstituierten Gewalten“.6 Könnte das Internet bei dieser politischen Einheitsbildung eine Rolle spielen? Wenn von einer Internet-Gesellschaft die Rede ist, was bedeutet das für den Staat und seine Verfassung? Staat und Gesellschaft haben sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch verändert und wandeln sich mit zunehmendem Tempo. Zum einen sind die europäische Integration und die Globalisierung Faktoren, die nicht nur die Gesellschaft über die nationalen Grenzen hinaus wachsen lassen, sondern auch die Konstitution und Funktion des Staates verändern (dazu I.). Zum anderen – ergänzend und verstärkend – wirkt die Verbreitung des Internets mit seinen neuen Möglichkeiten grenzenloser Kommunikation und entsprechenden Herausforderungen und Bedrohungen für Staat und Gesellschaft (dazu II.). In der „Internetgesellschaft“ wird das „Innen“-Verhältnis des Bürgers zu seinem Staat, zur Europäischen Union, zur öffentlichen Gewalt auf allen Ebenen neu bestimmt. Hier erhält auch die Globalisierung einen neuen Schub, wenn soziale Netzwerke, Information, Bildung, Partizipation – und Überwachung – grundsätzlich über alle Grenzen hinweg möglich werden (dazu III.). Wenn Verfassung emergent,7 aufgegeben und öffentlicher Prozess ist, und wenn die rechtliche Ordnung des Internets mangels einzelstaatlicher Zugriffsmöglichkeit im Wesentlichen nicht-staatlichen Regelungsmustern der governance folgt,8 kann das für Begriff und Funktion der Verfassung nicht ohne Folge bleiben (dazu Hesse (Fn. 1), Rn. 5, 17, 26 ff. Ebd., Rn. 11. 7 H. Vorländer, Die Verfassung vor, nach, über und unter dem Staat. Die Konstitutionalismusdebatte in der Suche nach einem anderen Verfassungsbegriff, in: H. Lindemann u. a. (Hrsg.), Erzählungen vom Konstitutionalismus, 2012, S. 23, 36 ff. 8 s. dazu jüngst L. Viellechner, Transnationalisierung des Rechts, 2014, S. 99–120 (Begrenztheit des staatlichen Rechtsparadigmas, erläutert am Beispiel des Internets), 127–143. 5 6

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IV.). Mit dem Wandel der Gesellschaft zur Internetgesellschaft drängt sich also eine Neuorientierung auf, bei der etablierte Begriffselemente der Verfassung und weltweit anerkannte Standards ihres materiellrechtlichen Kerngehalts nicht über Bord geworfen werden, wohl aber den neuen Bedingungen Rechnung getragen wird, unter denen Gesellschaft sich organisiert (dazu V.). I. Das Gemeinwesen unter dem Druck von Europäisierung und Globalisierung Die Basler Staatsrechtslehrertagung von 1978 befasste sich mit dem Thema „Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen“.9 Den hiermit angedeuteten Wandel verstand Peter Häberle weitsichtig im Begriff des „kooperativen Verfassungsstaats“ zu fassen.10 Staat wird in der ursprünglich durch den EWG-Vertrag verfassten, heute mit dem EU-Vertrag und dem AEUV zur politischen Union entwickelten EU zum Gliedoder Mitgliedstaat. Konsequent entwirft Peter Häberle eine „Europäische Verfassungslehre“, in der nationales und europäisches Verfassungsrecht als Teilverfassungen einander zugeordnet werden.11 Den Willen des deutschen Volkes, als gleichberechtigtes Glied in einem Vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, bringt die Präambel des Grundgesetzes klar zum Ausdruck; Art. 23 I GG konkretisiert diesen Auftrag durch die Pflicht zur Mitwirkung an der Entwicklung der Europäischen Union.12 Damit weist die Verfassung, wie Hesse sagt,

9 C. Tomuschat/R. Schmidt, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, VVDStRL 36 (1978), S. 7 ff./65 ff. 10 P. Häberle, Diskussionsbeitrag zu Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, VVDStRL 36 (1978), S. 129 f., und ders., Der kooperative Verfassungsstaat, in: F. Kaalbach/W. Krawietz (Hrsg.), Recht und Gesellschaft, FS für Helmut Schelsky, 1978, S. 141– 177. 11 P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, insbes. S. 37 ff., 221. 12 Vgl. näher I. Pernice, in: Horst Dreier, GG Kommentar, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 23 Rn. 18.

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„über sich selbst hinaus“.13 Die Eingliederung Deutschlands in eine überstaatliche Struktur ist im Grundgesetz ebenso angelegt, wie die föderale Gliederung nach innen.14 Obwohl als Gesamtverfassung konzipiert, versteht sich das Grundgesetz damit latent als Teilordnung eines umfassenderen Gemeinwesens, eines vereinten Europas.15 Dass sich der Charakter der Verfassung als rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens hierdurch ändert, sieht schon Hesse. Wenn er vom „Verzicht auf ihre allumfassende Geltung und ihren Primat in der rechtlichen Ordnung des Gemeinwesens“ spricht,16 oder von der Entwicklung „des Staates vom überkommenen, souveränen, in sich geschlossenen Nationalstaat zum heutigen international verflochtenen und supranational eingebundenen Staat“, die ihre Entsprechung finde „in dem Verlust der Suprematie und der bisherigen Reichweite der Verfassung“,17 so erkennt er zu recht, dass der „tiefgehende Wandel“ des Staates Auswirkungen auf die Wirklichkeit und Normativität der Verfassung hat. Sie verliert damit allerdings nicht ihre grundlegende demokratische freiheitssichernde Funktion. Denn demokratische und rechtsstaatlich verfasste funktionsfähige Mitgliedstaaten im europäischen Verfassungsverbund sind und bleiben die tragende Grundlage der Union.18 Wenn aber Staat und Verfassung sich wandeln können, was bedeutet das für den Verfassungsbegriff? Jedenfalls der oftmals als zentral genannte Bezug auf den souveränen Staat oder auch

Hesse (Fn. 1), Rn. 111. Dazu I. Pernice, Europäische Union: Gefahr oder Chance für den Föderalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz?, in: DVBl. 1993, 909 ff. 15 Pernice (Fn. 12), Rn. 19; s. auch P. Häberle, Das Grundgesetz als Teilverfassung im Kontext der EU/EG, FS Schiedermair, 2001, S. 81 ff. 16 Hesse (Fn. 1), Rn. 111. 17 Ebd., Rn. 113. 18 Vgl. I. Pernice, Does Europe need a Constitution? Achievements and Challenges After Lisbon, in: A. Arnull/C. Barnard/M. Dougan/E. Spaventa (Hrsg.), A Constitutional Order of States? Essays in EU Law in Honour of Alan Dashwood (Hart Publ. 2011), S. 75, 87, auch als WHIPaper 02/2010, S. 12. 13 14

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der Gedanke der allumfassenden rechtlichen Ordnung staatlichen – oder öffentlichen? – Lebens sind offenbar nicht unverzichtbar.19 Sonst könnten schon die Verfassungen der Länder der Bundesrepublik Deutschland nicht als Verfassungen bezeichnet werden. Im Blick auf die europäische und internationale Einbindung aller Staaten ist daher auch der Begriff der Verfassung neu zu denken. Wird schon nach Hesse der Staat zu „einem Stück (was nicht bedeutet: zur) Selbstorganisation der modernen Industriegesellschaft“,20 so kann ein tiefgreifender Wandel der Gesellschaft nicht ohne Auswirkung auf den Begriff des Organisationsstatuts, die rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens bleiben. Anders als zu Zeiten der Herausbildung souveräner Nationalstaaten mitsamt der modernen Begriffsbildung von Staat und Verfassung stehen wir heute vor gesellschaftlichen Entwicklungen und globalen Herausforderungen, für die auch weithin akzeptierte neuere konzeptionelle Entwicklungen wie die „offene Staatlichkeit“21 oder auch die Völker- und Europarechtsfreund-

19 So aber etwa P. Kirchhof, HdStR X, 3. Aufl. 2012, § 214 Rn. 105 ff. und 109, der von der Letztverantwortung des souveränen Staates im Rahmen zwischenstaatlicher Zusammenarbeit spricht. Souveränität sei zwar traditionell begrenzt auf die Ausübung von Gewalt zur Wahrung von Recht und Frieden. Dies sei aber zugleich auch die Grenze für die Zusammenarbeit mit anderen, ebenfalls souveränen Staaten. In diesem Zusammenhang bestehe die Letztverantwortung des Staates für die auf seinem Gebiet ausgeübte Hoheitsgewalt der EU und gegenüber seinem Staatsvolk. U. Hufeld, HdStR X, 3. Aufl. 2012, § 215 Rn. 29, benennt das vorbehaltene letzte Wort als Voraussetzung staatlicher Integrationsfähigkeit; krit. gegenüber der Ausweitung des Begriffs der Verfassung jenseits des Staates auch R. Wahl, In Defence of ,Constitution‘, in: P. Dobner/ Martin Loughlin (Hrsg.), The Twilight of Constitutionalism?, 2010, S. 220 ff. 20 Hesse (Fn. 1), Rn. 9. 21 K. Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart, Heft 292/293, 1964, S. 33, 42; s. auch S. Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998; Fortentwicklung des Konzepts aber bei M. Wendel, Permeabilität im europäischen Verfassungsrecht, 2011, mwN. etwa ebd., S. 28.

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lichkeit des Grundgesetzes22 keine ausreichenden Lösungen mehr bieten. In der etwa vom Klimawandel, von der Herrschaft der Finanzmärkte, vom internationalen Terrorismus bis hin zum quasi unbegrenzten Datenverkehr geprägten globalisierten Gesellschaft können einzelne Staaten notwendige Regelungen weder aufstellen noch garantieren; der Weg der völkerrechtlichen Kooperation ist nur noch bedingt eine Lösung. Nur globale Normsetzungsmechanismen sind eine hinreichende Antwort auf die Verdichtung der Beziehungen zwischen den Menschen weltweit. Dabei ist die seit dem 11. September 2001 eingeführte quasi-legislative Praxis des Weltsicherheitsrats unter Kapitel VII der Satzung der Vereinten Nationen zur Bekämpfung des Terrorismus schon hinsichtlich der Legitimation und des Rechtsschutzes fragwürdig.23 Als Modell globaler Normsetzung ist dieses für die Wahrung des Weltfriedens entwickelte Notinstrument auf andere Bereiche nicht übertragbar. Der Begriff Verfassung wird häufig im weiteren Sinne für das Organisationsstatut internationaler Organisationen verwendet. Die UNO, aber auch die ILO sind Beispiele. So greift auch Häberle in seinen „Vorstudien einer universalen Verfassungslehre“ vielfältige Beobachtungen einer „Konstitutionalisierung der Völkerrechtsgemeinschaft (via Teilverfassungen) auf;24 der kooperative Verfassungsstaat 22 BVerfGE 123, 267 – Lissabon, Leitsatz 4 sowie Rn. 225, 241, 340. Näher dazu etwa: T. Giegerich, Die Zähmung des Leviathan – Deutschlands unvollendeter Weg vom nationalen Machtstaat zum offenen und europäischen Verfassungsstaat, in: ders. (Hrsg.), Der „offene Verfassungsstaat“ des Grundgesetzes nach 60 Jahren. Anspruch und Wirklichkeit einer großen Errungenschaft, 2010, S. 13 ff.; weitere Beiträge ebd. zum Oberthema: „Die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes im Wandel der Anschauungen“, ebd., S. 73–193, sowie entsprechend zur Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes ebd., S. 197–281. 23 Dazu etwa K. Scheppele, Global Security Law and the Challenge to Constitutionalism after 9/11, in: Public Law 2011, 353 ff.; hinsichtlich des Grundrechtsschutzes s. auch die „Kadi“-Rechtsprechung des EuGH, zuletzt EuGH verb. Rs. C-584/10 P, C-593/10 P und C-595/10 P – Kadi II. Krit. auch J. L. Cohen, Globalization and Sovereignty. Rethinking Legality, Legitimacy, and Constitutionalism, 2012, S. 272 ff., 278 ff.: „The usurpation of global constituant power“. 24 Häberle (Fn. 3), etwa S. 101, 707 ff.

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gewinnt Konturen, es mag sogar eine „universale Verantwortungsgemeinschaft der kooperativen Verfassungsstaaten“25 geben – etwa in Form der UNO, die „Verfassung“ des globalen Handlungsraums bleibt aber fragmentarisch – rechtlich und auch begrifflich. Doch erst und nur wo verbindliche öffentliche Regelungszuständigkeit, welche Rechte und Pflichten für die Einzelnen begründen kann, durch die Einzelnen als potentiell Betroffene selbst direkt oder auch indirekt konstituiert, legitimiert und zugleich begrenzt wird, sollte der Verfassungsbegriff Verwendung finden. Durch die Verfassung definieren sich die Einzelnen als Bürgerinnen und Bürger des mit ihr begründeten und organisierten Gemeinwesens, als Staat, in der Europäischen Union und eines Tages vielleicht auch darüber hinaus.26 Viel spricht insofern dafür, mit dem Begriff der Verfassung in einem „postnationalen“ Sinne27 auch den Begriff des Gemeinwesens von der staatlichen Begrenztheit zu lösen und verfassende Elemente auf europäischer und globaler Ebene mit einzubeziehen. Es gibt auf dieser Basis schon ein europäisches Gemeinwesen in Form der EU, gegründet auf die europäisierte Gesellschaft und die – freilich begrenzte – im gegenseitigen Versprechen der Menschenwürde28 in der europäischen Rechtsge-

So Häberle (Fn. 3), etwa S. 113. So schon I. Pernice, The Global Dimension of Multilevel Constitutionalism: A Legal Response to the Challenges of Globalisation, in: P. M. Dupuy/B. Fassbender/M. N. Shaw/K.-P. Sommermann (Hrsg.), Völkerrecht als Wertordnung. Common Values in International Law, Festschrift für/Essays in Honour of Christian Tomuschat, 2006, S. 973 ff. 27 Dazu I. Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, Bericht, in: VVDStRL 60 (2001), S. 148, 155 ff., 160. Zur Lösung des Verfassungsbegriffs aus seiner Staatsbezogenheit ausführlich auch Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 95 ff. Für C. Möllers, Verfassunggebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung, in: Armin von Bogdandy/Jürgen Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht. Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2. Aufl. 2009, S. 241, ist allerdings die deutsche Verfassungsgeschichte durchaus „mit dem vermeintlich neuen Modell der postnationalen Verfassung pränational vertraut“. Vgl. auch Vorländer (Fn. 7), S. 23, 35: „Verfassungen sind mithin keineswegs Erfindungen moderner Staatlichkeit“. 25 26

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meinschaft (Hallstein)29 verwirklichte Solidarität auch unter den Unionsbürgerinnen und -bürgern,30 ein globales Gemeinwesen ist indes bislang noch nicht sichtbar. Das liegt nicht daran, dass es am Weltstaat fehlt. Auch die EU ist kein Staat. Aber die EU hat eine rechtlich verfasste Ordnung, die zwar in der Form völkerrechtlich begründet, aber eng mit den nationalen Verfassungen verschränkt,31 durch Integrationsklauseln der Verfassungen besonders legitimiert und von den Unionsbürgerinnen und -bürgern akzeptiert und letztlich von ihrem Willen getragen ist.32

28 Vgl. H. Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, AöR 118 (1993), 353, 367, für den das in der Verfassung gegebene Versprechen der Achtung der Menschenwürde als „wechselseitige Gleichachtung eines jeden einzelnen Rechtsgenossen“ mehr als nur die Anerkennung eines Prinzips oder die „Artikulation eines kollektiven Wertbewusstseins“ ist, sondern eine „Gemeinschaftsaktion“, er bezieht es auf den Staat: „es ist Staatsgründung“. Zur Übertragung auf die EU s. I. Pernice, Solidarität in Europa. Eine Ortsbestimmung im Verhältnis zwischen Bürger, Staat und Europäischer Union, in: C. Calliess (Hrsg.), Europäische Solidarität und nationale Identität. Überlegungen im Kontext der Krise im Euroraum, 2013, S. 25, 55 f. 29 W. Hallstein, Die EWG – Eine Rechtsgemeinschaft“ (1962), in: ders., Europäische Reden, hrgg. v. T. Oppermann, 1979, S. 343. Der EuGH verwendet seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon den Begriff „Rechtsunion“, vgl. EuGH Rs. C-550/09 – E und F, Rn. 44; Rs. C-583/11 P – Inuit, Rn. 91. Der besonderen Bedeutung des Begriffs der Rechtsgemeinschaft (vgl. I. Pernice, Begründung und Konsolidierung der Europäischen Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft, in: M. Zuleeg (Hrsg.), Der Beitrag Walter Hallsteins zur Zukunft Europas, Referate zu Ehren von Walter Hallstein, Baden-Baden (Nomos) 2003, S. 56–70, auch als WHI-paper 09/2001), wird das allerdings nicht gerecht. 30 s. dazu Pernice, Solidarität (Fn. 28), S. 54 ff. 31 So schon J. Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, JZ 1993, 591 ff., der vom Staatsrecht und Europarecht „als zwei im Ausgangspunkt zwar unterschiedlichen, aber nun aufgrund wechselseitiger Einwirkungen immer mehr aufeinander angewiesenen Rechtsordnungen“ spricht. Ihm folgend Hesse (Fn. 1), Rn. 113: „Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit und Einflussnahme, das geeignet ist, zu einer – fortschreitenden – Konkordanz von Staats- und Europarecht zu führen“. 32 Zur Bedeutung der Integrationsklauseln der mitgliedstaatlichen Verfassungen als Modus der Permeabilität im einzelnen Wendel (Fn. 21), S. 144–369.

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Von einer solchen Ordnung ist die Welt noch weit entfernt, selbst wenn die Gründe, in dieser Richtung zu arbeiten, ständig zunehmen.33 II. Digitale Revolution, Staat und Internetgesellschaft Einer dieser Gründe, aber zugleich auch ein denkbarer Erklärungsweg für das Entstehen einer globalen Verfassung als „emergente Ordnung“34 ist mit der digitalen Revolution die Verbreitung des Internets und die damit gebotene Möglichkeit der Kommunikation über alle Grenzen hinweg. Seine Nutzung darf aber die entsprechenden Herausforderungen und Bedrohungen für Staat und Gesellschaft nicht außer Acht lassen. 1. Das Internet und die Emergenz einer globalen Gesellschaft Die Verbreitung des Internets könnte dramatische gesellschaftliche und politische Veränderungen mit sich bringen, vielleicht vergleichbar mit der Erfindung der Buchdruckerei, mit der Industrialisierung oder der Entwicklung der Massenmedien.35 Die Enttäuschung, die angesichts des NSA-Skandals viele NetzAktivisten entmutigt,36 tut dem keinen Abbruch. Welcher Missbrauch auch immer getrieben wird, das Internet eröffnet in einer zuvor ungeahnten Dimension den Zugang für jedermann zum Recht: Gesetze, Gerichtsentscheidungen und Literatur können per Suchmaschine und Mausklick abgerufen werden, in jedem Mit Überlegungen hierzu s. Pernice (Fn. 26), S. 973. Dies im Sinne von Vorländer (Fn. 7), S. 36. 35 Vgl. schon I. Pernice, Die Politik und die Internet-Gesellschaft, in: Claudio Franzius u. a. (Hrsg.), Beharren, Bewegen. Festschrift für Michael Kloepfer zum 70. Geburtstag, 2013, S. 715, 718 f. 36 So insbesondere S. Lobo, „Das Internet ist nicht das, wofür ich es gehalten habe“, FAZ online v. 12.1.2014: „Lange hielt Sascha Lobo das Internet für den Wegbereiter von Demokratie und Befreiung. Jetzt sieht er, dass er sich geirrt hat. In Wahrheit zerstöre es die Grundlagen einer freiheitlichen Gesellschaft“. Dazu die Antwort: E. Morozov’s response to Sascha Lobo. More political interference!, FAZ.net v. 15.1.2014. 33 34

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Land und über die Grenzen hinweg. Das hilft nicht nur Juristen und Bürgern in Wissenschaft und Praxis; Rechtsordnungen treten miteinander in den Dialog, mit neuen Möglichkeiten der Rechtsvergleichung und der gegenseitig lernenden Entwicklung, ja einer Konvergenz hin zu universellen Grundsätzen und Strukturen, wie sie Handel und zunehmende Mobilität der Menschen fordern. Das Internet erlaubt den Zugang zu Wissen, Kultur und Bildung, nicht nur dank Plattformen für wissenschaftliche Publikationen wie dem Social Science Research Network (SSRN) oder online-Enzyklopädien wie Wikipedia, sondern auch über digitale Bibliotheken (Europeana oder Google-books),37 weltweit frei zugängliche universitäre online-Kurse wie die unentgeltlichen „Massive Open Online Courses“ (Mooc’s)38 oder auch die diversen online-Plattformen für Musik und Film. So wird Wissen verfügbar, für alle, die den Zugang zum Netz haben. Wenn Wissen Macht bedeutet, welches werden mittel- und längerfristig die Folgen sein für die Machtstrukturen in der Welt, für die künftige „Weltordnung“ und ihre Verfassung? Über e-mail, chat-Programme oder Skype und ähnliche Dienste wird die Kommunikation in Echtzeit weltweit möglich, mit live-Bildern und Video, gleichzeitig gemeinsamem Verfassen von Texten und Verträgen unabhängig vom Ort der Beteiligten, über soziale Netzwerke, in denen sich Beziehungen zwischen Menschen aus allen Teilen der Welt aufbauen und pflegen lassen, die manchmal enger sind als diejenigen zwischen direkten Nachbarn, so dass schon vom „digitalen Dorfplatz“ die Rede ist.39 So ermöglicht das Internet auf neue Weise den Zugang von Menschen zueinander, aber auch zum Markt, ja – als „colla-

37 Dazu N. Klass/H. Rupp, Die Digitalisierung des europäischen Kulturerbes. Europäische Strategien im Interesse der Bewahrung und öffentlichen Zugänglichmachung europäischer Kulturgüter, ZUM 2013, 760 ff. 38 Vgl. etwa die Angebote des Start-Ups https://iversity.org/. 39 Vgl. F. Küchemann, Wären wir doch alle anonym!, FAZ Nr. 104 v. 4.5.2012, S. 31, über eine von Sascha Lobo auf der „re:publica“ in Berlin diskutierte Frage.

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borative power“ (Anne-Marie Slaughter) – zur Politik mit noch kaum abschätzbaren Auswirkungen, bis hin zu einem neuen Strukturwandel nicht nur der Öffentlichkeit, sondern auch der Politik.40 Wenn von einer „Weltgesellschaft“ schon lange die Rede ist, das Internet beschleunigt den Trend ihrer Verdichtung41 zur global vernetzten Gesellschaft. Für diese wäre der Staat nur ein modus denkbarer politischer Organisation; dass ergänzende überstaatliche Strukturen erforderlich werden, ist schon heute erkennbar. Bei Internetkampagnen gegen bestimmte politische Entscheidungen oder gar Regime ist – anders bei den Wahlen – aber nicht sichergestellt, dass nur die direkt Betroffenen mitwirken. Das Netz ist offen, wer sich betroffen fühlt,42 also interessiert ist, kann sich beteiligen, weltweit. Es ist keine neue Erkenntnis, dass jede nationale Politik externe Effekte hat, Dritte betreffen kann, ohne dass diese direkt beteiligt wären.43 Welche Rolle spielten das Internet und Dienste wie Facebook oder Twitter im

Zu allem Pernice (Fn. 35), S. 718 ff., 726 ff. Fraglich ist, ob Tendenzen zur Balkanisierung des Netzes, also Bestrebungen des Aufbaus nationaler Grenzen im Internet mit entsprechenden Regulierungsmöglichkeiten diese Entwicklung aufhalten kann. s. zu aktuellen Entwicklungen insbesondere in China und der Türkei E. Schmidt/J. Cohen, The New Digital Age. Reshaping the Future of People, Nationas and Business, 2013, S. 83 ff. Dabei ist das Phänomen nicht auf autoritäre oder Umbruchstaaten beschränkt, wie das Beispiel Südkoreas zeigt. Dessen Regierung blockiert Netzinhalte, die eine Unterstützung für die nordkoreanische Regierung enthalten. Auch in Deutschland werden Netzinhalte blockiert, beispielsweise solche mit volksverhetzenden Inhalten, s. ebd., S. 88 f. 42 Dies können Menschen sein, die nicht wahlberechtigt sind bzw. außerhalb des betreffenden Staates leben, aber die „externen Effekte“ nationaler Politikentscheidungen durchaus spüren und ggf. ertragen müssen, s. dazu unten, IV. 43 So mit der Antwort eines demokratischen Kosmopolitanismus schon D. Held, Democracy and the Global Order. From the Modern State to Cosmopolitan Governance, 1995, S. 16 ff., 121–136, 221 ff., 226 ff., 267 ff.; neuerdings mit neuen Vorschlägen zum Thema Legitimation in der EU: J. Neyer, The Justification of Europe. A Political Theory of Supranational Integration, 2012; s. auch Pernice, Solidarität (Fn. 28), S. 44 ff. 40 41

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„Arabischen Frühling“44 oder bei der Ablehnung des ACTAAbkommens durch das Europäische Parlament,45 wer kann ermessen, wer hier letztlich welche Rolle spielt? Die digitale Revolution lässt Politik, Staat und damit auch die Verfassung nicht unberührt. 2. Die digitale Agenda der Politik im Koalitionsvertrag 2013 Die kürzlich abgeschlossene Enquête-Kommission Internet und digitale Gesellschaft des Deutschen Bundestages hat sich mit den Schlüsselthemen zur Auswirkung des Internets auf das gesellschaftliche und politische Leben in Deutschland intensiv beschäftigt.46 Hier wurde wichtige Vorarbeit auch für das erarbeitet, was nach den Wahlen 2013 als Grundlage der Großen Koalition vereinbart wurde. Der Koalitionsvertrag ist ein Zeugnis der neuen Herausforderungen durch das Internet und der Entschlossenheit, diese positiv anzugehen. „Das weltweite Netz ist ein globales Freiheitsversprechen“, so heißt es dort.47 Die Koalition kündigt eine „digitale Agenda 2014–2017“ an, Deutschland soll „digitales Wachstumsland Nr. 1 in Europa“ werden (S. 139). Das betrifft nicht nur Industrie und Wirtschaft, sondern auch „digitale Bildung und Forschung“ so wie „digitales Leben und Arbeiten“.48 Deutschland soll sich zu einem „digitalen Kulturland“ weiter44 Hierzu, freilich ohne diesen Aspekt näher zu beleuchten, Häberle (Fn. 3), S. 760 ff. 45 Vgl. zur Rolle des EP bei den Verhandlungen und zur Herstellung von Öffentlichkeit R. Uerpmann-Wittzack, Das Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA) als Prüfstein für die Demokratie in Europa, AVR 49 (2011), S. 103, 104 ff. 46 Deutscher Bundestag, Enquête-Kommission Internet und digitale Gesellschaft vom Mai 2010 bis April 2013, mit vierzehn Berichten, abrufbar unter: http://www.bundestag.de/internetenquete/. 47 Deutschlands Zukunft gestalten. Koalitionsvertag zwischen CDU, CSU und SPD. 18. Legislaturperiode, 2013, abrufbar unter: https://www. cdu.de/sites/default/files/media/dokumente/koalitionsvertrag.pdf, S. 139. 48 Ebd., S. 141, 142 f.; s. auch schon ebd. S. 30: Digitale Bildung: gemeinsame Strategie „Digitales Lernen“ und „digitale Lehrmittelfreiheit“.

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entwickeln. Das kulturelle Erbe soll digitalisiert werden: Die Deutsche Digitale Bibliothek wird als Beitrag zu Europeana verstanden (S. 136). Bis 2018 soll ein schnelles Internet flächendeckend in Deutschland zugänglich sein (S. 47 ff.) und die Netzneutralität soll gesichert werden (S. 49). Das bedeutet einen Abbau des „digital divide“. Dabei soll mehr Sicherheit, Selbstbestimmung und Transparenz in der digitalen Welt geschaffen werden. Das betrifft zunächst den Geschäftsverkehr und Verbraucherschutz (S. 127). Es geht aber um mehr, wenn von Datenschutz, Cyber-Kriminalität und „IT-Sicherheit“ die Rede ist. Sicherheit gehört zu einer der Prioritäten. Dafür will sich die Bundesregierung auch auf der europäischen Ebene im Rahmen der „europäischen Cybersicherheitsstrategie“ einsetzen, ja von der „Rückgewinnung der technologischen Souveränität“ ist die Rede (S. 147 f.). Ihrer Wahrung soll der Einsatz „national entwickelter IT-Sicherheitstechnologien bei den Bürgerinnen und Bürgern“ dienen (S. 148). Der Datenschutz soll durch die baldige Verabschiedung der EU-Datenschutzgrundverordnung gefördert werden (S. 149). Dies freilich liegt nicht allein in deutscher Hand. Wie effektiv kann Datenschutz in der EU sein, wenn Datenpakete ihren Weg im weltumspannenden Netz der Netze spontan und eigenwillig finden und nicht über bestimmbare Verbindungen, wenn die Speicher der cloud weltweit verstreut liegen?49 Ist die „cloud for Europe“ eine sichere Lösung?50 Der „NSA-Skandal“, der durchaus Berücksichtigung findet (S. 139), zeigt, dass die Rede von Souveränität der heutigen Welt kaum mehr entspricht.51 Wie souverän kann ein Land sein, wenn das Telefon der Landesmutter systematisch abgehört wird 49 Mit dem Vorschlag, für unterschiedliche Zwecke Parallelnetze einzuführen s. T. Fischermann/G. Hamann, Zeitbombe Internet. Warum unsere vernetzte Welt immer störanfälliger und gefährlicher wird, 2011, S. 243 ff. 50 So N. Kroes, Rede 13/922 Berlin v. 14.11.2013, zugänglich unter: http://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-13-922_en.htm. 51 Vgl. G. Mascolo/B. Scott, Gebt uns unser Grundrecht auf Privatsphäre zurück, FAZ.net v. 24.10.2013: „Kein Staat, egal wie mächtig, kann heute noch die Privatsphäre seiner Bürger schützen.“

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und dies nur zufällig, durch die Snowden-Enthüllungen bekannt wird? Der Koalitionsvertrag fordert ein „rechtlich verbindliches Abkommen zum Schutz vor Spionage“. Es soll „Bürger, Regierung und Wirtschaft vor schrankenloser Ausspähung“ schützen (S. 149). Dabei kam schon im Dezember 2013 die Meldung, dass die USA an einem solchen Abkommen kein Interesse haben.52 Nach dem 11. September ist Sicherheit höchste Priorität. Je mehr Daten verfügbar sind, desto größer die Chance, Bedrohungen rechtzeitig zu entdecken. Welchen Grenzen sind deutsche Nachrichtendienste unterworfen,53 wie profitieren sie (wir) von der Zusammenarbeit mit den „befreundeten“ Diensten? Der Koalitionsvertrag setzt auf die Verschlüsselung der Kommunikationsverbindungen mindestens innerhalb der EU durch die europäischen Telekommunikationsanbieter, und ein Verbot der Weiterleitung an ausländische Nachrichtendienste ohne Einwilligung der Kundinnen und Kunden soll Schutz bieten (S. 149). Informatiker wissen, dass jede Verschlüsselung nur so lange sicher ist, bis sie entschlüsselt wird.54 Auch die Anonymisierung bietet keine Sicherheit für die Privatheit der Daten, die Analyse der Korrelationen bei den Datenmassen („big data“) erlaubt die Re-identifizierung in praktisch allen Fällen. Das Internet vergisst nie, sagt Eric Schmidt von Google.55 Unsere Datenspuren sind

52 „Kein Anti-Spionage-Abkommen mit Deutschland“, FAZ-net v. 17.12.2013: „Die Vereinigten Staaten verweigern Deutschland nach einem Bericht der ,New York Times‘ den Abschluss eines sogenannten AntiSpionage-Abkommens.“ Zum Hintergrund: R. Miller/R. Poscher, Kampf der Kulturen, FAZ Nr. 278 v. 29.11.13, S. 7: „Der präventive deutsche Datenschutz liegt quer zur pragmatischen Rechtskultur in Amerika. Eine Harmonisierung muss scheitern.“ 53 Mascolo/Scott (Fn. 51): Zur Kooperation und Rolle der europäischen Dienste „Das goldene Zeitalter der Überwachung“. 54 s. auch die neuesten Meldungen über Forschungen des NSA zur Entschlüsselung: „Spionage: NSA arbeitet an Quantencomputer zur CodeEntschlüsselung“, Die Zeit online v. 3.1.2014. 55 C. Meier, American Academy, Eric Schmidt: Der Antworten-Optimierer, Tagesspiegel Medien v. 14.05.2011. Dagegen der Bericht von einer Wende: Denny Fischer, Eric Schmidt: Das Internet muss lernen zu vergessen, Google arbeitet daran, SmartDroid v. 27.5.2013.

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kaum zu verwischen.56 Durch das Internet der Dinge werden sich die hier oder dort gespeicherten Daten noch vervielfachen.57 Zur Wiederherstellung von Vertrauen sollen Standardisierungsgremien transparenter gemacht werden. Deutschland soll verstärkt darin mitwirken, ebenso wie in den internationalen Gremien etwa der Internetarchitektur und Internet-Governance“ (S. 148). Die Koalition will sich einsetzen für „ein Völkerrecht des Netzes, damit die Grundrechte auch in der digitalen Welt gelten . . . Das Recht auf Privatsphäre, das auch im Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte garantiert ist, ist an die Bedürfnisse des digitalen Zeitalters anzupassen“ (S. 149). Zu recht nimmt der Koalitionsvertrag so die Notwendigkeit der europäischen und der internationalen Zusammenarbeit in den Blick, um den offenbar gewordenen Bedrohungen für das globale Freiheitsversprechen, was im Internet gesehen wird, beizukommen. Der nationale Alleingang ist nicht nur ineffektiv, er könnte auch Sinn und Technik des Internets nicht gerecht werden; eine Abschottung bedeutete den Verzicht auf einen Mehrwert, der für viele zum täglichen Leben gehört. Das existentielle Interesse, das Internet für technischen Fortschritt, Wirtschaft und Märkte, Bildung und Wissenschaft, Kultur und nicht zuletzt für demokratische Politik zu nutzen, zwingt allerdings zur Änderung von Perspektive und Paradigmen. Zunächst muss klar sein, dass nicht das Internet die Politik regiert, sondern die Politik das Internet.58 Was zu regeln ist, muss auf der Ebene gere-

56 s. etwa C. Kurz/F. Rieger, Die Datenfresser. Wie Internetfirmen und Staat sich unsere persönlichen Daten einverleiben und wie wir die Kontrolle darüber zurückerlangen, 2011. Mit dem Vorschlag, jede Datei mit einem Verfallsdatum auszustatten s. V. Mayer-Schönberger, Delete. Die Tugend des Vergessens in digitalen Zeiten, 2010. 57 Zu den Datenmengen und der auf der Architektur des Internets beruhenden „ubiquity of transborder data flows“ vgl. C. Kuner, Transborder Data Flows and Data Privacy Law, 2013, S. 3, 4 ff. 58 E. Morozov, Smarte neue Welt, 2013, insbes. S. 49 ff. 115 ff. Er ruft dazu auf, aktiv Netzpolitik zu betreiben und das Netz, insbesondere aber seine konstituierenden Techniken zu regulieren. Dabei warnt er vor der

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gelt werden, auf der die Probleme angesiedelt sind. Solange der Staat sich auf die entsprechenden globalen Strukturen nicht einlässt, an diesen nicht konstruktiv mitarbeitet, bleibt er mit seinen Bürgerinnen und Bürgern nur Betroffener: Keine Spur von demokratischer Selbstbestimmung. Auch Europa ist hier nicht die Lösung. Aber die EU kann ein Instrument sein, um den Interessen ihrer Bürgerinnen und Bürger in der Entwicklung globaler Internet-Governance eine hörbare Stimme zu verleihen. So ist eine zentrale Passage des Koalitionsvertrags zu verstehen: Die Rolle, die Europa im 21. Jahrhundert spielen wird, hängt auch entscheidend davon ab, ob es uns gelingt, in der digitalen Welt Anschluss halten, europäische Standards zu setzen und damit unser europäisches Gesellschaftsmodell zu bewahren. Deshalb treten wir für eine umfassende europäische digitale Agenda ein, die Verbraucherschutz, Datenschutz, Innovation Netz- und Informationssicherheit zusammenbringen. Nötig ist zudem ein neuer internationaler Rechtsrahmen für den Umgang mit unseren Daten. Unser Ziel ist eine internationale Konvention für den weltweiten Schutz der Freiheit und der persönlichen Integrität im Internet. Die derzeit laufende Verbesserung der europäischen Datenschutzbestimmungen muss entschlossen vorangetrieben weren. Auf dieser Grundlage wollen wir auch das Datenschutzabkommen mit den USA zügig verhandeln.“ (S. 162).59 Gefahr des „Internetzentrismus“. Der Gedanke der Offenheit und Transparenz des Netzes habe sich zu einer Ideologie verdichtet und werde kaum mehr hinterfragt. Diese Ideologie greife nun auch über auf die das Netz konstituierenden Techniken. Im Ergebnis werde das Internet dann als einheitliches Phänomen beschrieben, dass nur noch in seinen Wirkungen, nicht aber hinsichtlich deren Ursachen regulierbar sei. Morozov hingegen meint, das Internet sei gestaltbar und gerade keine feststehende Konstante, die bestimmte Eigenschaften und Wirkungen wie Offenheit und Transparenz automatisch mit sich bringe, die die Politik hinnehmen müsse. Die Aufgabe der Politik bestehe nicht darin, Symptome zu bekämpfen, sondern an der Ursache ihrer Entstehung anzusetzen. Nicht das Internet mit dem ihm zugeschriebenen Eigenschaften dürfe die Politik steuern, vielmehr müsse die Politik die Entwicklung des Internets steuern. Es gelte das Primat der Politik zurückzuerobern. 59 Vgl. auch im Koalitionsvertrag (Fn. 47) weiter unten: „Die transatlantische Partnerschaft basiert auf einem Fundament gemeinsamer Werte und Interessen und ist deshalb auch heute der Schlüssel zu Freiheit, Sicherheit und Wohlstand für alle. Dort, wo in jüngster Zeit Vertrauen in Frage gestellt wurde, muss es wiederhergestellt werden . . . Wir wollen die

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Ob dies zum Erfolg führt, bleibt abzuwarten. Der Staat allein kann jedenfalls sein Freiheitsversprechen nicht mehr erfüllen, wenn ihm die Aufgaben in der geschilderten Weise über den Kopf wachsen. 3. Ein Ordnungsrahmen für das Internet in der neuen Weltordnung Will man das Internet mit seinem lieb gewonnenen Nutzen weiter entwickeln, wird man die Suche nach einem weltweiten Ordnungsrahmen dafür einschließlich des wirksamen Schutzes der Privatsphäre mit in das Programm einbeziehen müssen, das sich die Regierungsparteien im Koalitionsvertrag allgemein für die deutsche Außenpolitik vorgenommen haben: „Wir wollen die globale Ordnung aktiv mitgestalten . . . Deutschland setzt sich weltweit für Frieden, Freiheit und Sicherheit, für eine gerechte Weltordnung, die Durchsetzung der Menschenrechte und die Geltung des Völkerrechts sowie für nachhaltige Entwicklung und Armutsbekämpfung ein . . . Wir wollen ein guter Partner bei der Gestaltung einer gerechten Weltordnung sein“ (S. 168).

Was eine gerechte Weltordnung ist und welche Rückwirkungen damit für die nationalen Verfassungen sowie für den Verfassungsbegriff selbst verbunden sind, erschließt sich hier nicht unmittelbar. Der Begriff ist offen, ähnlich wie in Art. 21 II lit. h) EUV, der als Ziel der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Union auch von einer „verantwortungsvollen Weltordnungspolitik“ spricht; der Verweis in Art. 21 I EUV auf die Grundsätze, von denen sich die EU bei ihrem Handeln auf internationaler Ebene leiten lassen will und „die für ihre eigene Entstehung, Entwicklung und Erweiterung maßgebend waren“, gilt jedoch auch hier. Es sind die tragenden Verfassungsgrundsätze der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, die universelle Gültigkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die Achtung der Menschenwürde, der Grundsatz der Regeln, die für den Umgang zwischen Partnern gelten, klarer definieren und streben glaubhafte und überprüfbare Vereinbarungen an, um die Privatsphäre unserer Bürgerinnen und Bürger zu schützen. (S. 168).“

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Gleichheit und der Grundsatz der Solidarität, ebenso wie die Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts. Die totale Überwachung im Internet ist hiermit nicht vereinbar. Im Jahre 2013 wurde im Auswärtigen Amt die Stelle eines Sonderbeauftragten für „Cyber-Außenpolitik“ geschaffen. Er steht dem schon 2011 geschaffenen Koordinationsstab für Cyber-Außenpolitik vor.60 In den Augen des damaligen Außenministers führt „die Digitalisierung zu einem ,Zusammenrücken‘ der Welt in Zeit und Raum“. Der Sonderbeauftragte soll helfen, „diesen Politikbereich auf internationaler Ebene noch stärker mitzugestalten“.61 Er könnte dazu beitragen, schrittweise die Infrastruktur einer Weltordnung aufzubauen, in der das Internet nicht die Poltik vorbestimmt, sondern proaktiv als Instrument genutzt wird, um die genannten Grundsätze und Ziele effektiv um- und durchzusetzen. III. Staat und Bürger in der Internetgesellschaft Eine die Potentiale des Internets nutzende und zugleich den Menschenrechten und der Demokratie verpflichtete Weltordnungspolitik setzt voraus, dass auch im Staat Veränderungen wahrgenommen und bewußt gestaltet werden, die neben der Bedingtheit der Staatlichkeit in der vernetzten Welt aus den neuen Möglichkeiten der Öffentlichkeit, Transparenz, Kontrolle und Kommunikation resultieren, die das Internet für die Einzelnen eröffnet. Demgemäß werden auch hinsichtlich des „Innen“-Verhältnisses des Bürgers zu seinem Staat in der Politik neue Akzente gesetzt.

60 In dieses Amt berufen wurde Dirk Brengelmann, vgl. die Webseite des Auswärtigen Amtes, abrufbar unter: http://www.auswaertiges-amt. de/DE/AAmt/Koordinatoren/Cyber-AP/Uebersicht_node.html. 61 Vgl. die Erläuterungen des Auswärtigen Amtes abrufbar unter Cyber-Außenpolitik: http://www.auswaertiges-amt.de/sid_7391F11AD13AE AB51EBA3F6A7B222E11/DE/Aussenpolitik/GlobaleFragen/Cyber-Aus senpolitik/KS_Cyber-Aussenpolitik_node.html.

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1. Bürgerbeteiligung und „e-government“ Im Vordergrund steht zunächst die Bürgerbeteiligung: Zielgenauigkeit und Wirksamkeit politischer Vorhaben sollen, so der Koalitionsvertrag, dadurch erhöht werden, „dass wir politische Vorhaben stärker aus Sicht und mit Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger entwickeln“. Digitale Beteiligungsplattformen sollen den Sachverstand und die Meinung der Bevölkerung mobilisieren, „so dass konstruktive und frühzeitige Einflussnahme von Bürgerinnen und Bürgern besser gelingt“ (S. 151). Es geht um die Nutzung der Möglichkeiten der Digitalisierung und um den Ausbau der interaktiven Kommunikation. „Wir wollen die Potenziale der Digitalisierung zur Stärkung der Demokratie nutzen“. Deutschland will im Rahmen der „digitalen Agenda“ der EU einen „Digital Champion“ benennen (S. 151).62 Ziel ist ein „transparenter Staat“, in dem die in der EU schon übliche digitale Berichterstattung über den Bundestag und seine Ausschusssitzungen und Anhörungen „(z. B. in Streams)“ ausgebaut wird. Dazu gehört eine moderne Verwaltung, ein bürgerfreundliches „digitales Deutschland“. Der Ausbau des e-governments unter Anwendung der „Identifizierungsfunktion des neuen Personalausweises und die Nutzung von Ende-zu-Ende-Verschlüsselungen spielt dabei eine zentrale Rolle (S. 152). Hinzu kommt für jeden auf Wunsch ein Bürgerkonto mit einheitlichem Stammdaten-Account, bis hin zum digitalen Dokumentenpostfach (S. 153). In diesem Sinne koordinieren Bund und Länder ihre IT-Politik bereits auf der Grundlage des 2009 eingeführten Art. 91c GG sowie des IT-Staatsvertrags von 201063 durch den IT-Pla62 Vgl. die Webseite der Kommission, Digital Agenda: „Digital Champions are ambassadors for the Digital Agenda, appointed by their Members States to help every European become digital.“ Gegenwärtig haben 23 Mitgliedstaaten solche Beratungskräfte ernannt, s. unter: http://ec. europa.eu/digital-agenda/en/digital-champions. 63 Vertrag über die Errichtung des IT-Planungsrats und über die Grundlagen der Zusammenarbeit beim Einsatz der Informationstechnologie in den Verwaltungen von Bund und Ländern – Vertrag zur Ausführung von Art. 91c GG, abrufbar unter: http://www.bmi.bund.de/Shared

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nungsrat. Dabei geht es auch darum, dass der Bürger deutschlandweit und ebenenübergreifend mit Hilfe eines Portalverbunds mit den jeweils zuständigen Behörden in Kontakt treten kann.64 Am 1. August 2013 ist das E-Government-Gesetz in Kraft getreten, das die Kommunikation zwischen Bürgern und Behörden bundesweit elektronisch gewährleisten soll.65 Ab 2020 wird es danach nur noch eine elektronische Aktenführung geben. Im Gesetz wird auch die Bereitstellung von maschinenlesbaren Datenbeständen durch die Verwaltung (open data) geregelt, die für Bürger und Wirtschaft von großem Interesse ist. Die hiermit verbundenen Möglichkeiten der öffentlichen und privaten Datensammlung wie auch der Überwachung des Bürgerverhaltens dürfen bei allem nicht außer Acht gelassen werden. Hier ist ein neues Konzept des Datenschutzes gefordert, das die globale Dimension des Internets und seiner Nutzung mit einbezieht. Ohne sichere Schranken diesbezüglich wird das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zu ihrem Staat nicht gestärkt und könnte das Ziel der Offenheit und Beteiligung verfehlt werden. 2. Informationsfreiheit, „open-data“ und „open government“ Vertrauen kann durch „Informationsfreiheit“ entstehen. Sie ist nur am Rande erwähnt, im Zusammenhang mit der Rolle der Medien (S. 135). Open-Data-Projekten wird allerdings ein hohes Potential zugemessen, ein Open-Data-Portal für Bund, Länder und Kommunen soll eingerichtet werden. Auch den Beitritt Deutschlands zur internationalen Initiative Open Government

Docs/Downloads/DE/Themen/OED_Verwaltung/ Informationsgesell schaft/it_planungsrat_1.pdf;jsessionid=92075596634E208F5986D95B4BB A764B.2_cid295?__blob=publicationFile. 64 Zu den Grundlagen s. J. von Lucke, Hochleistungsportale für die öffentliche Verwaltung, 2007. Zur weiteren Entwicklung Pernice (Fn. 79), S. 18 ff. 65 Gesetz zur Förderung der elektronischen Verwaltung sowie zur Änderung weiterer Vorschriften vom 25. Juli 2013, BGBl. 2013 I S. 2749.

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Partnership mit inzwischen 63 Mitgliedstaaten66 sieht der Koalitionsvertrag vor (S. 153). Es entsteht damit eine neue Öffentlichkeitskultur, mit der die in Deutschland z.T. noch verbreitete Vorstellung von Staatlichkeit herausgefordert wird. Dem entspricht eine Entwicklung, die ihren Ursprung möglicherweise in der EU und vor allem im europäischen Umweltrecht hat. Der Europäische Gerichtshof hatte in der Leitentscheidung zur unmittelbaren Wirkung von Bestimmungen des EWG-Vertrags „Van Gend & Loos“ schon 1963 die wichtige Rolle des an der Durchsetzung seiner Rechte interessierten Einzelnen auch für die Sicherung der Rechtstreue der Mitgliedstaaten hervorgehoben.67 Mit der Umweltinformationsrichtlinie68 wurde angesichts des Vollzugsdefizits im Umweltrecht für Einzelne und auch für Verbände die Möglichkeit geschaffen, bei den zuständigen Behörden Zugang zu den Akten und Informationen zu erlangen, die etwa die Genehmigung von Anlagen betreffen, damit eine wirksame Kontrolle durch die Öffentlichkeit ausgeübt werden kann. So wurde eine Strategie der Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts entwickelt, die auf das nationale Recht übergreift. Johannes Masing entwickelt daraus eine Neukonzeption des subjektiv-öffentlichen Rechts:69 Der mitverantwortliche, wachsame und informierte Bürger hat einen „status procuratoris“, eine Mitverantwortung 66 Vgl. die Webseite http://www.opengovpartnership.org/. Für den Beitritt Deutschlands wirbt die Webseite der Open Government Partnership Initiative Deutschland: http://opengovpartnership.de/. 67 EuGH Rs. 26/62 – Van Gend & Loos, Slg. 1963, S. 1, 26: „Die Wachsamkeit der an der Wahrung ihrer Rechte interessierten Einzelnen stellt eine wirksame Kontrolle dar, welche die durch die Kommission und die Mitgliedstaaten gemäß den Artikeln 169 und 170 ausgeübte Kontrolle ergänzt.“ 68 Richtlinie 90/313/EWG über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt, ABl. 1990 L 158. Eine Neuregelung erging zur Umsetzung der inzwischen in Kraft getretenen Aarhus-Konvention mit der Richtlinie 2003/4 vom 28. Januar 2003 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen und zur Aufhebung der Richtlinie 90/313/ EWG des Rates, ABl. 2003 L 41/26. 69 Vgl. J. Masing, Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts. Europäische Impulse für eine Revision der Lehre vom subjektiv-

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für die objektive Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns.70 Überspitzt: Die staatliche Polizei achtete bisher auf die Rechtstreue der Bürger; jetzt wird der Bürger zur Polizei gegenüber dem Staat. Öffentlichkeit und Transparenz machen das möglich. Als allgemeiner Rechtsgrundsatz71 fand das Transparenzgebot für die EU Anerkennung zunächst in der Transparenzverordnung von 2001,72 später auch in Art. 15 AEUV und in Art. 42 der Grundrechtecharta. Christian Calliess versteht die allgemeine Freiheit des Informationszugangs im europäischen Recht als wichtiges „Element des Demokratieprinzips“.73 Informationsfreiheit wird seit 2005 in Deutschland auf Bundesebene durch das Informationsfreiheitsgesetz gewährleistet, aber unsere Behörden tun sich offenbar nach wie vor schwer mit dem Gedanken einer wirklich „öffentlichen“ Verwaltung.74 öffentlichen Recht, 1997, insbes. S. 30 ff., 50 ff.: „Die Mobilisierung des Bürgers als Prinzip“, sowie ebd. S. 218 ff. (Zitat S. 220). 70 Masing (Fn. 69), S. 225 ff.; s. auch ders., Transparente Verwaltung: Konturen eines Informationsverwaltungsrechts, VVDStRL 63 (2004), S. 395. 71 Dazu C. Sobotta, Transparenz in den Rechtsetzungsverfahren der Europäischen Union. Stand und Perspektiven des Gemeinschaftsrechts unter besonderer Berücksichtigung des Grundrechtes auf Zugang zu Informationen, 2001, insbes. S. 315 ff. 72 Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30.5.2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission, ABl. 2001 L 145. 73 Vgl. etwa C. Calliess, in: ders./Matthias Ruffert (Hrsg.) EUV-AEUV Kommentar, 4. Aufl. 2011, Art. 1 Rn. 75 ff. 74 Vgl. die Übersicht „Informationsfreiheitsgesetz: Transparenter Staat“, Zeit-online Digital, abrufbar unter: http://www.zeit.de/digital/ifg-anfra gen#; s. auch K. Biermann, Bockige Behörden – eine Geschichte auf drei Ebenen, Zeit-online v. 18. April 2013, diese und andere Datengraphiken abrufbar unter: http://blog.zeit.de/open-data/2013/04/18/ifg-protokolledatengrafik/. Zur schleppenden Umsetzung der Umweltinformationsrichtlinie von 1990 erst nach einem Urteil des EuGH s. I. Pernice, Verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Transparenz staatlichen Handelns, 2. IFG-Tagung Berlin am 6./7. September 2012, in: A. Dix u. a. (Hrsg.) Informationsfreiheit und Informationsrecht. Jahrbuch 2013, 2014 i. E. Krit. zum Nutzen der Transparenz für die Demokratie, auch wegen

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Informationsfreiheit ist indessen, wie der bisherige Beauftragte des Bundes für Informationsfreiheit und Datenschutz Peter Schaar sagte, „gewissermaßen der Treibstoff der Demokratie.75 Erst Information macht wirksame demokratische Kontrolle durch den Bürger, und damit auch substantielle Partizipation möglich. Auf der Ebene der EU spiegelt sich das in Art. 10 III und 11 EUV wider. In den USA hat die Obama-Regierung mit der „Open-Government-Initiative“ eine Wende angekündigt, mit der Transparenz und Beteiligung im Sinne einer „collaborative governance“ neue Maßstäbe setzen sollte.76 Auf der deutschen Ebene muss das Bewußtsein dafür erst noch wachsen, wenn die „informierte Öffentlichkeit“ wichtiger Akteur in der Politik werden soll – gemäß einem demokratischen Konzept,77 nach dem durch die Kombination von repräsentativen und verstärkten partizipativen Elementen Politik zur Sache der Bürgerinnen und Bürger wird.78 Über eine proaktive Transparenzpolitik soll die relevante Information die Bürger noch effektiver erreichen.79 mangelnden Interesses der Bürger: G. Wewer, Form und Inhalt, oder: Transparenz der Politik, in: Politische Bildung 2013, S. 72 ff. 75 P. Schaar/J. Roth, Quo Vadis Informationsfreiheit? Bilanz und Perspektiven des Informationsfreiheitsgesetzes, in: A. Dix/G. Franßen/ M. Kloepfer/P. Schaar/F. Schoch/Deutsche Gesellschaft für Informationsfreiheit (Hrsg.), Informationsfreiheit und Informationsrecht. Jahrbuch 2011, 2012 S. 1, 2. 76 White House: „Transparency and Open Government“, abrufbar unter: http://www.whitehouse.gov/open/about. Wie G. Wewer, Eine Blaupause für Deutschland? Barack Obama und die kollaborative Verwaltung, in: dms 2013, 182 ff., zeigt, belegen die ersten Berichte über die Initiative allerdings nur sehr geringe Veränderungen in der politischen Praxis auf, s. etwa ebd., S. 196: „Offenheit und Kollaboration . . . bleiben Themen für Insider. Für die große Masse der Wähler – und damit auch für Parteien, Parlamente und Regierungen – sind andere Themen meistens wichtiger.“ 77 Zu den Wurzeln des Konzepts vgl. R. Gröschner, Transparente Verwaltung: Konturen eines Informationsverwaltungsrechts, VVDStRL 63 (2004), S. 345, 362, 374: „in Rom“ (vgl. ebd., S. 353 f.). 78 In diesem Sinne die Kombination von wie Art. 10 und 11 EUV. Bezogen auf die EU: J. Martin, Das Steuerungskonzept der informierten Öffentlichkeit. Neue Impulse aus dem Umweltrecht des Mehrebenensystems, 2012, insbes. S. 232 ff.

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3. Offene Staatlichkeit „reloaded“ Wenn die Beobachtungen zur Veränderung des Innenverhältnisses von Staat und Bürger zutreffen, dann findet – ergänzend zu und vielleicht auch getrieben von gewissen Impulsen aus der Europäischen Union – die offene Staatlichkeit „nach außen“ nunmehr eine Entsprechung in einer „offenen Staatlichkeit“ nach innen. Dieser für das Konzept einer von der lebendigen Partizipation informierter Bürgerinnen und Bürger am öffentlichen Leben getragenen Demokratie grundlegende Wandel hin zu einer doppelt offenen Staatlichkeit hat Konsequenzen auch für das Verhältnis der Staaten – und ihren Bürgerinnen und Bürgern – im Verhältnis zueinander. Der transparente Staat im Sinne eines „open government“ ist transparent auch nach außen, durch global unbegrenzte soziale, wissenschaftliche, journalistische und andere berufliche Netzwerke sind die Menschen miteinander verbunden, die Gesellschaft ist global vernetzt. Die aktive Information der Bürgerinnen und Bürger im Internet erlaubt den Blick „in den Staat“ auch von außen. Jeder kann sich von praktisch jedem Land aus darüber informieren, welche Themen hier oder dort in der Öffentlichkeit mit welchen Meinungen und Tendenzen diskutiert werden. Die Verletzung von Menschenrechten, Katastrophen, ein Rechts- oder Linksruck in der Politik und andere politische Auseinandersetzungen jeder Art bleiben keine interne Angelegenheit. Über Blogs, Facebook und Twitter, über die Teilnahme durch Kommentare zu Meldungen in Zeitungen etc. ist sogar die aktive Beteiligung Dritter am „innerstaatlichen“ Diskurs in jedem Land weltweit möglich. Die Teile der Welt hängen enger miteinander zusammen. Was hier geschieht, betrifft die Menschen auch am andern Ende der Welt, kann dort ein wirtschaftliches, politisches, ja ein Sicherheitsrisiko darstellen. Das Interesse dafür, die Einmischung ist nicht sachfremd. Wie schon längst die Produkt- und Finanz-

79 Näher dazu I. Pernice, Informationsgesellschaft und Politik. Vom neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit zur Global Privacy Governance, abrufbar unter: http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_ id=2222046, S. 10 ff.

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märkte, so werden Medien- und Meinungsmärkte transnational. Die Globalisierung erhält einen neuen Schub, wenn Information, Bildung, Partizipation – und Überwachung – grundsätzlich über alle Grenzen hinweg möglich werden. IV. Internet-Governance und der Wandel des Verfassungsbegriffs Die hier beobachtete doppelte offene Staatlichkeit bedeutet eine Auflösung des auf den souveränen Nationalstaat als Ursprung und Träger aller öffentlichen Gewalt zentrierten Verfassungsbegriffs nach außen und nach innen. Was mit dem „postnationalen“ Verfassungsbegriff angedeutet werden sollte, die begriffliche Lösung vom Konzept des Nationalstaats,80 vollzieht sich in anderer Weise nach innen: Die Öffnung des Verfassungsbegriffs hin zur Gesellschaft, für die unmittelbare öffentliche Kontrolle auch interner Staatsgeschäfte, für die unmittelbare Beteiligung der Bürger an Entscheidungen, für die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durch Private, bis hin zur Anerkennung privater Normsetzung („private ordering“) als bindendes Recht im Staat und darüber hinaus. Was bei Konrad Hesse konzeptionell schon vorgedacht war, wird auch unter dem Gesichtspunkt der governance plausibel: Verfassung als die rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens, Staat und Gesellschaft umfassend.81 So wird Verfassung eine gestufte Ordnung, in ihren Elementen als rechtliche Grundordnung der gesellschaftlichen Steuerung bezogen jeweils auf die politische Handlungsebene Kommune, Land, Staat und Europäische Union, bis hin zur globalen Ebene, wo Prozesse der gesellschaftlichen Selbstregulierung neben völkerrechtliche Ordnungsbemühungen treten und schrittweise Konturen eines globalen Verfassungsrecht erkennbar machen. Elemente der Internet-Governance (dazu 1.) zeigen mit dem, was als „Verfassung“ des Internets bezeichnet wird, einen Paradigmenwechsel und Wege auf (dazu 2.), wie der postnationale Verfassungsbegriff in steuerungstheoretischer Perspek80 81

Vgl. Pernice (Fn. 27), S. 155 ff.; s. auch oben, Fn. 27. Vgl. oben bei Fn. 1.

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tive auch für global wirksame Regelungsprozesse fruchtbar gemacht werden kann (dazu 3.). 1. Aspekte der Internet-Governance Anders als es die Erfinder und Entwickler des Internets gedacht hatten, ist das Internet keine zweite Welt, die, wie es die „Declaration of Independence of Cyberspace“ von John Perry Barlow suggeriert,82 unabhängig von den Staaten jedem eine neue, virtuelle Freiheit gewährleistet, in die einzugreifen dem Staat verwehrt ist. Sehr wohl aber wurde es, nachdem es von US-amerikanischen Militär für den zivilen Kommunikationsverkehr geöffnet und seine Verwaltung und Entwicklung insoweit in zivile Hände gelegt war, im Rahmen der ICANN, die mit der Domain-Vergabe eine zentrale Funktion wahrnimmt, in einer neuartigen privatrechtlich organisierten Form der Selbstregulierung ohne wesentlichen Einfluss der Staaten schrittweise aufgebaut.83 Viellechner verwendet den Begriff „Regelungsarrangement“, weil es sich den klassischen Unterscheidungen von 82 J. P. Barlow, A Declaration of the Independence of Cyberspace, 1996, abrufbar unter: https://projects.eff.org/~barlow/Declaration-Final. html. Die Enthüllungen von Snowdon über die Überwachung durch den NSA dagegen führte zu dem Aufschrei von S. Lobo, „Die Digitale Kränkung des Menschen“, FAZ v. 11.01.2014: „Die fast vollständige Durchdringung der digitalen Sphäre durch Spähapparate aber hat den famosen Jahrtausendmarkt der Möglichkeiten in ein Spielfeld von Gnaden der NSA verwandelt. Denn die Überwachung ist nur Mittel zum Zweck der Kontrolle, der Machtausübung. Die vierte, digitale Kränkung der Menschheit: Was so viele für ein Instrument der Freiheit hielten, wird aufs Effektivste für das exakte Gegenteil benutzt.“ Dass dies so neu nicht ist, kann der Empfehlung eines Renaissance-Forschers von 2008 entnommen werden, der die Analysemethode des NSA für die Analyse gescannter Literatur empfiehlt, vgl. A. Grafton, Codex in Crisis, 2008, S. 37: „. . . we’ll also be able to interrogate this whole mass of material in new ways, using the same applied mathematical techniques that the NSA uses to mine data from our telefone calls and emails.“ 83 Vgl. die zusammenfassende Beschreibung bei Viellechner (Fn. 8). S. 147 ff. s. auch die Untersuchung von J. Hofmann, Internet Governance: Eine regulative Idee auf der Suche nach ihrem Gegenstand, in F. Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung – Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien, 2005, S. 277–301.

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Völker- und nationalem Recht, Norm und Vertrag, öffentlich und privatrechtlich entzieht und auch mit Begriffen wie Regime oder gar Staatenverbund nicht beschrieben werden kann.84 Damit das System funktionsfähig ist, bedarf es des Zusammenwirkens einer Vielfalt von privaten – so für die technische Standardisierung etwa der International Engeneering Task Force (IETF)85 – oder für die Standardisierung der Netz-Infrastruktur privater und staatlicher Akteure. Der Ansatz hat sich bewährt. Die russische Initiative von 2012, die Vergabe der Internetadressen einer internationalen Organisation, der International Telecommunications Union (ITU) zu übertragen und damit in staatliche Verantwortung zu nehmen, blieb ohne Erfolg.86 Der Staat, wegen der Diversität der Interessen aber auch das Völkerrecht, bekommen das Internet nicht in den Griff. Die bislang hoffnungslosen Bemühungen um einen effektiven Datenschutz sowohl gegenüber privaten, vor allem aber gegenüber öffentlichen Datensammlern sind ein Beispiel für das Versagen der überkommenen Strukturen und Regelungsansätze, schon auf der Ebene der EU.87 Die Entwicklung der ICANN, aber auch die Initiative der IETF zur Schaffung sicherer Internetprotokolle als Antwort auf die Überwachungspraktiken der NSA88 könnten 84 Ebd., S. 14–158. Schon für Hofmann (Fn. 83), S. 298, besteht der „Fluchtpunkt“ des „Suchprozesses“ der Internet-Governance „in einem stabilen, legitimen Regelungsarrangement, das den Problemen im transnationalen Datenverkehr Rechnung trägt“. 85 Standards werden hier auf der Grundlage von sog. Requests for comments (RfC) vorgeschlagen und von den Unternehmen angenommen (oder nicht), vgl. dazu die Webseite http://www.ietf.org/. 86 Vgl. O. Reißmann, ITU-Konferenz in Dubai: Darum geht es beim Internetstreit, Spiegel-online Netzwelt v. 6.12.12. 87 So ist der Versuch, auf europäischer Ebene bis zur Neuwahl des Europäischen Parlament eine Datenschutz-Grundverordnung (Vorschlag der Kommission für eine Verordnung zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr, KOM(2012) 11 endgültig), auf den Weg zu bringen, an der Vielzahl von Interessendivergenzen gescheitert, und ein Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens ist nicht in Sicht. 88 Vgl. die Mitteilung: Leading Engineers Agree to Upgrade Standards to Improve Internet Privacy and Security. IETF reaches broad consensus

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indessen einen Weg aufweisen, neue Aufgaben, die über die Handlungsmöglichkeiten einzelner Staaten oder auch der EU hinausgehen und auch durch internationale Abkommen nicht zu regulieren sind, über neue Formen einer global governance einem wirksamen Ordnungsrahmen zu unterwerfen. Dabei könnten die jährlichen multi-stakeholder Treffen des von den Vereinten Nationen getragenen „Internet Governance Forums“ (IGF),89 bei denen sich inzwischen jeweils mehr als 2000 Teilnehmer aus allen Ländern, von interessierten Einzelnen, über Industrie- und NGO-Vertretern bis hin zu Regierungsmitgliedern in einem offenen Dialog über die dringlichsten Themen der Entwicklung des Internets austauschen, Ausgangspunkt und Ideenschmiede für die Schaffung dieses Ordnungsrahmens sein. Ihre Debatten sind online weltweit zugänglich, nicht nur zum Anschauen sondern auch zum Mitwirken. Der zusammenfassende Bericht etwa vom Treffen 2013 in Bali lässt erkennen, dass sich hier – etwa zur „internet surveillance“ – durchaus konkrete Meinungsströmungen einer globalen Öffentlichkeit bilden, die ihrerseits nicht ohne Einfluss auf die Politik der Staaten und nichtstaatlichen Akteure bleiben dürften.90

to improve the security of Internet protocols to respond to pervasive surveillance, abrufbar unter http://www.ietf.org/media/2013-11-07-internetprivacy-and-security.html (Zugriff: 1.2.14). 89 The Internet Governance Forum, Webseite unter: http://www.int govforum.org/. Es wurde vom World Summit on the Information Society (http://www.itu.int/wsis/index.html) in Tunis (WSIS 2005) eingerichtet, das den UN-Generalsekretär ersuchte, das Forum einzuberufen, vgl. WSIS Tunis-Agenda, Ziff. 72, abrufbar unter: http://www.itu.int/wsis/ docs2/tunis/off/6rev1.html. Zur Entwicklung der Internet Governance, bis zu den IGF’s, s. auch die Übersicht bei J. Kurbalija, Internet Governance, 5. Aufl., 2012, S. 7 ff., abrufbar unter: http://archive1.diplomacy. edu/poolbin.asp?IDPool=1484. 90 Vgl. etwa zum Thema „Internet Surveillance“: 8th Meeting of the Internet Governance Forum (IGF) Bali, Indonesia, 22–25 October 2013. Chair’s Summary, S. 18 ff.

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2. „Verfassung“ des Internets als Paradigma Eine globale Ordnung – oder gar „Verfassung“ – des Internets91 könnte im Wege der „Eigenkonstitutionalisierung“ schrittweise entstehen und sich – pluralistisch und responsiv, nicht unbeeinflusst von Vorgaben staatlichen Verfassungsrechts – in das System von Teilrechtsordnungen92 einer fragmentierten globalen Verfassung einordnen. Ihre Emergenz ist aber nur ein Paradigma für das, was in anderen Sachbereichen die Herausbildung von „Regelungsarrangements“ ähnlicher oder auch anderer Art notwendig macht. Zu diesen Bereichen gehört, eng verbunden mit dem Internet, und heute in seiner Schnelligkeit angewiesen auf das Internet, der globale Finanzmarkt; er bedarf eines rechtlichen Ordnungsrahmens, ebenso wie das Internet. Aber auch etwa der Klimawandel, das Bevölkerungswachstum und -wanderung, und nach wie die Wahrung von Frieden und Sicherheit oder die Abwehr des Terrorismus sind globale Herausforderungen, denen einzelne Staaten oder auch Verbünde wie die EU allein nicht gewachsen sind. Globale Regelungsarrangements gibt es hierfür nicht. Die externen Effekte nationaler Politik aber können gerade in diesen Bereichen zum Demokratieproblem werden. Sie sind am stärksten spürbar, wo etwa hohe CO2-Emissionen in einigen Ländern das Versinken anderer Länder im Ozean verursachen oder die Gestattung oder gar Förderung der Ausbildung von Terroristen in einem Land zum Sicherheitsrisiko im anderen Land wird. Hier muss über den Staat hinaus gedacht werden, wenn der Friede gesichert werden soll und Lösungen erwünscht 91 Überlegungen dazu etwa bei: S. Rodotà, A Constitution for the Internet, in: The Federalist Debate, 2006, abrufbar unter: http://www.fede ralist-debate.org/index.php/component/k2/item/371-a-constitution-forthe-internet. s. auch H. H. Perritt Jr., The Internet at 20: Evolution of a Constitution for Cyberspace, in: William & Mary Bill of Rights Journal, 2006, S. 1115–1180, unter: http://scholarship.law.wm.edu/cgi/viewcon tent.cgi?article=1622&context=wmborj. 92 Viellechner (Fn. 8), S. 253 ff., 265 ff., wobei die Einbettung in Vorgaben staatlichen Verfassungsrechts unter dem Aspekt der „Fremdkonstitutionalisierung“ behandelt wird (ebd., S. 285–302).

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sind, die den Erwartungen und berechtigten Interessen der Menschen gerecht werden – Lösungen die nicht ein Staat den anderen oktroyieren kann, sondern die in einem gemeinsam verfassten System durch einen demokratisch organisierten Willensbildungsprozess zum gemeinen Wohl gefunden werden. Verfassung kann hier nicht auf den Staat begrenzt sein, sie muss jenseits des Staates weitergedacht werden. Die Vorstellung der traditionellen Staats- und Verfassungstheorie, dass das Gemeinwesen Staat für seine Bürgerinnen und Bürger sämtliche ihr Leben, ihre Freiheit, ihre Sicherheit betreffenden Dinge „souverän“ zu regeln imstande wäre, war schon immer eine Illusion, vielleicht eine auf die Versprechen von Monarchen gegründete Ideologie mit verheerenden Folgen. Wie die einzelne Person im Urzustand kooperativ oder nicht kooperativ, friedlich in der Gruppe oder agressiv sein kann und daher erst die staatliche Institution mit Gewaltmonopol Sicherheit und Freiheit garantiert, so bedarf auch der Staat der Einbindung in einen rechtlich zwingenden institutionellen Rahmen, eine Ordnung jenseits des Staates. Der Staat als Sicherheit gewährleistender Leviathan, als die Freiheit und das Eigentum der Einzelnen, das öffentliche Wohl sichernde demokratisch verfasste und gesteuerte Institution kann in einer nach dem Westfälischen Frieden auf Achtung der Souveränität und auf Kooperation gegründeten Staatenwelt seinen Auftrag allenfalls nach innen erfüllen – solange er nicht von außen angegriffen wird. Bei der Sicherung des äußeren Friedens aber versagt das System in vollem Umfang. Die Konsequenz wurde nach dem zweiten Weltkrieg mit der Europäischen Integration gezogen. Erst in einem rechtlich verfassten supranationalen System mit gemeinsamen Institutionen, die in gemeinsamen Angelegenheiten rechtlich verbindliche Entscheidungen für alle treffen, können den Bürgerinnen und Bürgern die öffentlichen Güter geliefert werden, die Staaten einzeln nicht zu liefern in der Lage sind. Der Wille zur Kooperation, ja sogar die Verpflichtung zur Kooperation bei gleichzeitiger Anerkennung der Souveränität oder Autonomie genügen nicht. Das hat sich erneut im Falle der Eurokrise gezeigt, die u. a. als Folge der Asymmetrie von zentralisierter Währung(-spolitik) und nur

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der Koordination unterworfenen Wirtschafts- und Finanzpolitiken der Mitgliedstaaten zu erklären ist.93 Was für Europa gilt, kann für die globalen Herausforderungen nicht wesentlich anders sein. An welche Art von Regelungsarrangement aber ist zu denken? Hier stellt sich die Frage, ob die „Verfassung“ des Internet und das System der internet-governance Elemente aufweisen, die für die Entwicklung eines globalen Ordnungsrahmens für andere Problembereiche nutzbar gemacht werden können. 3. Der Verfassungsbegriff in steuerungstheoretischer Perspektive Dass die Verfassung nicht nur öffentliche Gewalt regelt, sondern weitergehend als rechtliche Grundordnung der gesellschaftlichen Steuerung auch privates Handeln mit einbezieht, ist nicht neu. Die mit der Koalitionsfreiheit in Art. 9 III GG garantierte Tarifautonomie und ihre Ausgestaltung durch das Tarifvertragsgesetz sind ein Beispiel der Anerkennung der Maßgeblichkeit privaten Handelns. Die Möglichkeit der Vereinbarungen der Sozialpartner, nach Art. 155 AEUV Vereinbarungen zu schließen, deren Durchführung im Zuständigkeitsbereich der EU auf Antrag vom Rat verbindlich gemacht werden kann, folgt dem Beispiel. Ehemalige Staatsaufgaben im Bereich von Verkehr und Daseinsvorsorge sind heute privaten Unternehmen überlassen. In unterschiedlicher Intensität ist dabei der Staat nach den Art. 87e und 87f GG auf eine Gewährleistungsverantwortung beschränkt,94 eine begrenzte Regulierungsaufgabe wird von der Bundesnetzagentur wahrgenommen. Das ist auf europäischer Ebene durch die Rechtsetzung zur Liberalisierung der Post93 Dazu Pernice, Solidarität (Fn. 28), S. 46 ff., 50 ff.; s. auch H. Enderlein, Solidarität in der Europäischen Union – Die ökonomische Perspektive, in: C. Calliess (Hrsg.), Europäische Solidarität und nationale Identität. Überlegungen im Kontext der Krise im Euroraum, 2013, S. 83 ff. 94 Vgl. näher C. Franzius, Gewährleistung im Recht. Grundlagen eines europäischen Regelungsmodells öffentlicher Dienstleistungen, 2009.

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und Telekommunikationsmärkte, der Elektrizitäts- und Gasversorgung, aber auch des Eisenbahnverkehrs vorgezeichnet.95 Im Bereich des Warenverkehrs wird seit dem neuen Ansatz zur Harmonisierung im Binnenmarkt auf die technische Normung durch private Normungsgremien zurückgegriffen.96 Wie immer die Verteilung von privater und öffentlicher Verantwortung geregelt ist, es gehört zu den Funktionen der Verfassung, die wesentlichen Vorgaben dafür festzulegen. Dass diese Grundvereinbarung in der Verfassung auch über den nationalstaatlichen Rahmen hinausreichen kann, zeigen die Präambel und die Integrationsklausel des Art. 23 GG, z. T. auch Art. 24 GG. Über diese Bestimmungen wird die Öffnung des Staates für supranationales Recht im innerstaatlichen Bereich durch die Konstituierung und Fortentwicklung der Europäischen Union vollzogen. Begrifflich nicht ausgeschlossen ist aber, dass die Verfassung sich auch anderen Formen der gesellschaftlichen Steuerung öffnet, die von privaten Akteuren oder von der Interaktion zwischen privaten und öffentlichen, global wirkenden Gremien ausgeht, entsprechend dem Muster der internet-governance. Hier geht es nicht notwendig um die Übertragung von Hoheitsrechten, sondern die Um- und Durchsetzung von rechtlichen Standards, die möglicherweise in einem „multi-stakeholder-Verfahren“ auf globaler Ebene gesetzt sind, verbunden mit einer Gewährleistungsverantwortung für die Wirksamkeit derartiger Regelungen einerseits und die Achtung der auch hier notwendig geltenden verfassungsrechtlichen Mindestgarantien der demokratischen Mitwirkung, der Rechtsstaatlichkeit und vor allem der Grundrechte.

95 Vgl. dazu I. Pernice, Soll das Recht der Regulierungsverwaltung übergreifend geregelt werden? Europarechtliche Aspekte, in: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des sechsundsechzigsten Deutschen Juristentages, Bd. II/1, 2006, S. O 85– O 142. 96 So die Entschließung des Rates vom 7. Mai 1985 über eine neue Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und der Normung, ABl. 1985 C 136 S. 1–9.

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Geboten ist ein Verfassungsbegriff, der neben der europäischen Ebene auch nach anderen Maßstäben sich formendes globales Recht mit in den Blick nimmt, ja die für die Bildung dieser Normen notwendigen Bedingungen und Verfahren einer global governance als Teil der Verfassung nicht aussschließt, sondern selbst konzeptualisiert. Verfassung ist dann rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens, von Staat und Gesellschaft mit der Perspektive ihrer europäischen und globalen Dimension. Jede Verfassung versteht sich insofern als Teilsystem nicht nur im supranationalen Zusammenhang des „europäischen Verfassungsverbunds“,97 sondern auch einer emergenten globalen Verfassung, der Verfassung der Internetgesellschaft. Wie immer der Prozess der schrittweisen Herausbildung dieser Ordnung sich vollziehen und angesichts der drängenden Notwendigkeit globaler Regulierung in diversen Bereichen gestaltet werden mag, entscheidend ist, dass er nicht ohne Rückwirkung auf das nationale Verfassungsrecht bleibt. Deswegen wird es wichtig sein, die hier geltenden Prinzipien durch eine gedachte, aus der Verfassung zu entwickelnde oder positiv gesetze neue Struktursicherungsklausel zum Maßstab dieser Entwicklung zu machen. V. Schlussfolgerungen zur Verfassung der Internetgesellschaft Eine Verfassung der Internetgesellschaft kann sich nach allem nur vorläufig als System pluralistisch nebeneinander stehender, mit einander verflochtener Teilverfassungen verstehen, in dem die demokratischen Verfassungen der Staaten Grundlage und Ausgangspunkt sind, sich aber dem Einfluss und der normativen Kraft der sich entwickelnden Ordnungen nicht verschließen. Begriffe wie Permeabilität, wie von Mattias Wendel für das europäische Verfassungsrecht verwendet,98 oder der Responsivität, wie ihn Viellechner für das transnationale Recht vorschlägt,99 97 So zuletzt I. Pernice, Der Europäische Verfassungsverbund in der Bewährung. Antonio Lopez-Pina zu Ehren, WHI-paper 07/2013, mwN. 98 Wendel (Fn. 21). 99 Viellechner (Fn. 8), S. 265 ff.

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machen deutlich, dass es sich nicht um hierarchische Konstruktionen handeln kann, sondern um ein gegenseitiges Achten und Berücksichtigen formal autonomer Ordnungen. Gerade aber eine übergreifende Ordnung, die wegen der Fähigkeit, für Staaten und vor allem auch für Individuuen relevantes Recht zu erzeugen, die Qualifikation Verfassung erhalten soll, kann für ihre Normativität Anerkennung nur finden, wenn und solange das, was Verfassung funktional und materiell ausmacht, auch hier gewährleistet ist. 1. Schutz der Menschen- und Grundrechte An erster Stelle steht der Schutz der Menschen- und Grundrechte als leitende Orientierung und Grenze jeglicher Regelsetzung. Hier stehen die Meinungs- und Informationsfreiheit im Vordergrund, als Grundlage dafür aber auch der Schutz der Persönlichkeitsrechte, insbesondere der Privatsphäre durch einen effektiven Datenschutz und der Schutz des Eigentums unter Berücksichtigung des kulturellen Interesses am freien Zugang zu den Inhalten. Der Schutz der Freiheit des Internets und damit zugleich die Achtung der Privatsphäre des Einzelnen, deren Wahrung Grundlage des Vertrauens ist, lassen sich im Internet vom einzelnen Staat nicht gewährleisten. Niemand hat in der kurzen Geschichte des Netzes den Nutzern Privatheit versprochen. Und doch ist sie angesichts der Bedeutung des Internets für das Alltagsleben vieler Menschen zur legitimen Forderung geworden. Weil die Internetgesellschaft und die Überwachung global sind, es aber an Institutionen fehlt, die Datenschutz und Freiheit gewährleisten können, befinden wir uns praktisch wieder im Urzustand. Es muss kein Leviathan sein, aber ohne Konstituierung einer Stelle, die die Grundrechte wirksam schützt, soweit das Internet reicht, ist die Freiheit und Persönlichkeit jedes Einzelnen in Gefahr. Auf brasilianisch-deutsche Initiative hat die UN-Vollversammlung im Dezember 2013 eine Resolution verabschiedet, die die „ungesetzliche und willkürliche Überwachung“ verurteilt

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und den Schutz des Rechts auf Privatheit einfordert.100 Die brasilianische Präsidentin Rousseff forderte zuvor schon vor der UNO einen „Mechanismus, der die Integrität von Daten im weltweiten Netz künftig sichern soll“.101 In ihrer Rede vom 24.9.2013 vor der Generalversammlung protestierte sie vehement gegen die Verletzung von Menschenrechten und Völkerrecht durch die USA, erkannte aber an, dass es sich nicht um ein bilaterales Problem handelt: „it affects the international community itself and demands a response from it“. Dazu führte sie weiter aus: „We need to create multilateral mechanisms for the worldwide network that are capable of ensuring principles such as: 1. Freedom of expression, privacy of the individual and respect for human rights. 2. Open, multilateral and democratic governance, carried out with transparency by stimulating collective creativity and the participation of society, Governments and the private sector. 3. Universality that ensures the social and human development and the construction of inclusive and non-discriminatory societies. 4. Cultural diversity, without the imposition of beliefs, customs and values. 5. Neutrality of the network, guided only by technical and ethical criteria, rendering it inadmissible to restrict it for political, commercial, religious or any other purposes.“102

Dies ist ein Anstoß in die richtige Richtung. Die brasilianischdeutsche Initiative erreichte, dass UNO-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay dieses Jahr einen Bericht über geheimdienstliche Überwachungsprogramme und den Schutz der Privatsphäre vorlegen soll; damit ist der Grundstein gelegt für das, was eines Tages auf der globalen Ebene in das gegenseitige Ver100 Vgl. „NSA-Affaire: Uno-Vollversammlung verabschiedet Resolution gegen Spähaktionen“, Spiegel-online vom 19.12.13. 101 Vgl. M. Ermert, NSA-Affaire: Brasilien liest den USA die Leviten, heise online v. 24.9.13. 102 Statement by H. E. Dilma Rousseff at the Opening of the General Debate of the 68th Session of the UNGA, 24.9.13, abrufbar unter: http:// gadebate.un.org/sites/default/files/gastatements/68/BR_en.pdf.

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sprechen der Achtung der Menschenwürde münden könnte, gegen staatliche und auch private Willkür. 2. Demokratische Legitimation Eine solche zu schaffende Struktur bedarf demokratischer Legitimation, und gerade diese ist auf Weltebene für viele eine Utopie. Das Internet könnte allerdings selbst das Instrument werden, mit dem der öffentliche Diskurs, die Kontrolle durch die Öffentlichkeit, ja vielleicht sogar ein Stimmungsbild der globalen (Internet-)Gesellschaft erzeugt werden kann, wo jeder einzelne Mensch aktiv teilnehmen kann, ein Mitspracherecht hat.103 Ein Forum wie das IGF könnte derartige Meinungsströmungen katalysieren, so dass dann ein – pluralistisch zusammengesetztes, möglicherweise von der UNO eingesetzes – Gremium für seine Beschlüsse eine Grundlage vorfindet, die ihrerseits in der geeigneten Weise Staaten und privaten Akteuren zur Um- und Durchsetzung empfohlen werden. Dass die für den Staat geltenden demokratischen Grundsätze auf der globalen Ebene nicht ohne weiteres umgesetzt werden können, sollte nicht davon ablenken, dass die Technik durchaus Instrumente entwickeln und bereitstellen könnte, in der eine gewisse Partizipation der betroffenen Menschen an der Festlegung der für die Sicherung der Menschenrechte wie auch der Funktionsfähigkeit des Internets notwendigen Entscheidungen möglich ist. 3. Infrastrukturverantwortung und Cybersicherheit An diesem Projekt mitzuwirken sollte zu den Aufgaben jedes Staates, aber auch der beteiligten Unternehmen und zivilgesellschaftlichen Gruppen gehören. Den Staaten ist dabei eine Infrastrukturverantwortung zugewachsen, die die Sicherheit des Internets insgesamt, aber auch den effektiven Schutz gegen CyberAttacken auf Einzelne mitumfasst. Seit 1990 gibt es dazu das

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In diesem Sinne schon Pernice (Fn. 35), S. 732 f.

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Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI).104 Auf EU-Ebene wurde 2004 die Europäische Agentur für Netzund Informationssicherheit (ENISA) geschaffen.105 2011 wurde die Cyber-Sicherheitsstrategie für Deutschland beschlossen.106 Im Februar 2013 hat die EU ihre Cyber-Sicherheitsstrategie veröffentlicht.107 Zu den Zielen gehört u. a. Entwicklung einer einheitlichen Cyberraumstrategie der EU auf internationaler Ebene und Förderung der Grundwerte der EU.108 Eine sichere Infrastruktur ist die Voraussetzung dafür, dass das Internet auch als Instrument demokratischer Entscheidungsstrukturen auf der globalen Ebene funktionsfähig wird. Der Staat allein kann dies aber nicht sicherstellen; auch die EU ist auf die staatenübergreifende Kooperation angewiesen, sie könnte allerdings das Gewicht der europäischen Stimme auf globaler Ebene stärken, um zu einer Ordnung zu kommen, die sich nicht auf Vertragstreue allein verlässt, sondern Entscheidungs- und Kontrollmechanismen, einschließlich des Rechtsschutzes umfasst, mit denen die Schaffung und Beachtung des Rechts Aufgabe von gemeinsamen Institutionen ist.109 So schließt sich der Kreis: Die tatsächliche Entwicklung der Gesellschaft zur globalen Internetgesellschaft fordert die Emergenz einer globalen, ihrerseits vom Internet gestützten Verfassung, die auf den in ihrer Funktion und Reichweite veränderten

Vgl. das BSI-Errichtungsgesetz v. 17.12.1990, BGBl. I S. 2834 ff. Verordnung (EG) Nr. 460/2004. 106 Siehe dazu die Webseite des Bundesinnenministeriums: http:// www.bmi.bund.de/DE/Themen/IT-Netzpolitik/IT-Cybersicherheit/Cy bersicherheitsstrategie/cybersicherheitsstrategie.html. 107 Mitteilung v. 7.2.13, Cybersicherheitsstrategie der Europäischen Union – ein offener, sicherer und geschützter Cyberraum, JOIN(2013) 1 final. 108 Ebd., S. 5, 17 ff. 109 Gegen eine „constitutional solution“ aber Kuner (Fn. 57), S. 162 ff., der mit guten Gründen nicht an die Möglichkeit eines entsprechend umfassenden völkerrechtlichen Vertrags glaubt. Sein „pluralistic approach“ (ebd., S. 164 ff.) könnte allerdings im Sinne einer governance-Lösung fortentwickelt werden. 104 105

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Verfassungen der Staaten aufbauend und diese ergänzend das funktionsfähig erhält und grundrechtsgerecht demokratisch einfängt und entwickelt, was sie selbst erst hervorgebracht hat. Ausblick Der kooperative Verfassungsstaat steht angesichts des Wandels der Gesellschaft zur Internetgesellschaft vor neuen Aufgaben und ist mit seiner Verfassung seinerseits im Wandel. Neben staatlichem Recht und Völkerrecht ist, gerade auf das Internet bezogen, in Formen privat-öffentlicher Kooperation die Entstehung von durchaus wirksamem und als verbindlich anerkanntem Recht zu beobachten, das zusammen mit anderen Erscheinungen der „internet-governance“ und mit dem Wandel auch des Verhältnisses von Staat und Bürger im Sinne einer doppelt offenen Staatlichkeit einen Wandel des Verfassungsbegriffs nahe legt. Die Enthüllungen von Snowdon zwingen dazu, um der Freiheit und des Schutzes der Persönlichkeit willen den Prozess der Verfassung der Internetgesellschaft global zu beschleunigen. Die neu gebildeten Strukturen könnten dann aber auch dazu dienen, andere globale Herausforderungen auf derjenigen Ebene in Angriff zu nehmen, auf der ihre Bewältigung allein erfolgversprechend ist.

Staatsrechtslehrervereinigung als „Heimat“ Von Helmuth Schulze-Fielitz I. Ausgangspunkt: Selbstreflexion der Staatsrechtslehre als Aufgabe Peter Häberle gehört zu jenen Staatsrechtslehrern, die ihre wissenschaftlichen Aktivitäten immer auch selbstreflexiv aus der distanzierten Sicht des sozialen Beobachters mit bedenken und (nicht nur durch Randbemerkungen in Rezensionen) mit bedacht haben1, ob die verschiedenen Gattungen der Veröffentlichungen2, einzelne Erscheinungsformen wissenschaftlichen Publizierens3, die wirkmächtige Ausstrahlung einzelner Staatsrechtslehrer als Persönlichkeiten4 oder ihrer besonderen Publi1 Zuletzt etwa P. Häberle, Pädagogische Briefe an einen jungen Verfassungsjuristen, 2010. 2 Etwa zu Urteilsrezensionen P. Häberle, Recht aus Rezensionen, in: ders., Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 1 ff.; zu Festschriften ders., Festschriften im Kraftfeld ihrer Adressaten, AöR 105 (1980), S. 652 ff.; zu Buchbesprechungen ders., Einleitung: Rezensierte Verfassungsrechtswissenschaft, in: ders., Rezensierte Verfassungsrechtswissenschaft, 1982, S. 15 ff.; zu Zeitschriften ders., Wissenschaftliche Zeitschriften als Aufgabenfeld juristischen Rezensionswesens, GedS für W. K. Geck, 1989, S. 277 ff.; ders., Juristische Ausbildungszeitschriften in Europa, ZEuP 2000, S. 263 ff. 3 P. Häberle/A. Blankenagel, Fußnoten als Instrumente der RechtsWissenschaft, Rechtstheorie 19 (1988), S. 116 ff.; P. Häberle, Verantwortung und Wahrheitsliebe im verfassungsjuristischen Zitierwesen, in: FS für W. Schmitt Glaeser, 2003, S. 395 ff. 4 Vgl. neben vielen Geburtstagsadressen, Laudationes und Nachrufen nur die Würdigungen der von ihm besonders verehrten akademischen Mentoren: P. Häberle, Staatsrechtslehre im Verfassungsleben – am Beispiel Günter Dürigs (1980), in: G. Dürig, Gesammelte Schriften, 1984, S. 9 ff.; ders., Vorwort, in: H. Ehmke, Beiträge zur Verfassungstheorie und Verfassungspolitik, 1981, S. 7 ff.; ders., Laudatio, in: H.-P. Schneider/

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kationen5, aber auch die Usancen in der deutschen Staatsrechtslehre als sozialer Wissenschaftsgemeinschaft6. Sein wissenschaftliches Werk enthält so immer auch Elemente einer Selbstreflexion der Staatsrechtslehre, einem Ausschnitt der neuerdings verstärkten Selbstreflexion der Rechtswissenschaft7. In diesem Zusammenhang hat er gelegentlich davon geschrieben, dass die Staatsrechtslehrervereinigung ihm eine „Heimat“ (geworden) sei8. Ein solches Wort mag, zumal wenn man die Anführungszeichen überliest, in manchen Ohren altbacken, historisch belastet oder eher wissenschaftsfern klingen, gleichsam ein „Bild von Gestrigkeit“9 sein, oder es scheint eine spezifische, nicht verallgemeinerungsfähige Einstellung vor allem von Peter Häberle in seiner Höchstpersönlichkeit zu spiegeln. Demgegenüber lässt sich zeigen, dass dieser Begriff, wenn man ihn genauer betrachtet und expliziert, auf zentrale Strukturprobleme der Wissenschaft des Öffentlichen Rechts der Gegenwart in Deutschland und ihrer akademischen Lehrer verweist: Er kann diese ins Bewusstsein heben, und er ist zugleich in der Lage, das persönlichwissenschaftliche Profil von Peter Häberle zu verdeutlichen.

R. Steinberg (Hrsg.), Verfassungsrecht zwischen Wissenschaft und Richterkunst, 1990, S. 107 ff. (über Konrad Hesse). 5 Vgl. P. Häberle, Die „Grundzüge“ und ihre Rezeption im Ausland, JöR 57 (2009), S. 545 ff. 6 P. Häberle, Die Staatsrechtslehre im Prozeß der deutschen Einigung, BayVBl. 1991, S. 385 ff.; ders., Ein „Zwischenruf“ zum Diskussionsstand der deutschen Staatsrechtslehre, in: FS für Hans Maier, 1996, S. 327 ff.; ders., Die geschlossene (?) Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer – ihr offenes Diskussionsforum, in: FS für D. Th. Tsatsos, 2003, S. 164 ff.; ders., Vermachtungsprozesse in nationalen Wissenschaftlergemeinschaften, insbesondere in der deutschen Staatsrechtslehre, in: H. Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, 2007, S. 159 ff. 7 Vgl. zuletzt E. Hilgendorf/H. Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, 2014; dazu auch der Tagungsbericht von S. Egidy, Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, JZ 2014, S. 32 ff. 8 Z. B. Häberle, Vermachtungsprozesse (Fn. 6), S. 168. 9 So über eine verbreitete Bedeutungsebene (für viele) U. Di Fabio, Heimat und Herkunft in entgrenzter Welt, in: J. Klose/R. Lindner (Hrsg.), Zukunft Heimat, 2012, S. 43 (44).

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II. Heimat als heuristischer Begriff 1. Annäherungen Heimat als alltäglicher oder wissenschaftlicher Begriff ist wenn nicht in Mode, so doch deutlich im Aufwind der öffentlichen Debatten, mag der Begriff auch alltagssprachlich eher selten in Gebrauch sein. Das gilt nicht nur für das Feuilleton der Sonntagspresse10, sondern wird auch in seit den 1990er Jahren jährlich bibliografisch erkennbar wachsenden und zunehmend unüberschaubaren Buchveröffentlichungen zum Thema Heimat sichtbar. Es scheinen Antwortversuche und Spiegel sei es der Wiedervereinigung Deutschlands, sei es jener Prozesse der Globalisierung und der wachsenden internationalen und nationalen Mobilität und Flexibilität oder auch sozialen Beschleunigung zu sein, die verunsichern und in einer neuartigen Vergegenwärtigung von Heimat aufgefangen werden11. Damit ist zugleich eine deutliche Abkehr auch von der Instrumentalisierung des Heimat-Begriffs durch regionale Folklore oder durch politische Ideologien verbunden12 – doch zugunsten welcher neuen Deutungsakzente? Heimat ist ein hochkomplexer diffuser Begriff, der sich einer präzisen Definier- oder auch nur Bestimmbarkeit entzieht, besser als „Assoziationsgenerator“13 zu begreifen und wohl nur individuell zu bestimmen ist. Er zielt traditionell vor allem auf eine räumliche, zeitliche und identitäre Verbundenheit mit jener Sphäre, in der der Einzelne groß geworden ist, in Formen von 10 Zuletzt „Heimat Spezial“, Feuilleton der FAS vom 29.12.2013, S. 41 ff. 11 Vgl. nur H. Rosa, Heimat im Zeitalter der Globalisierung, in: H.-G. Pöttering/J. Klose (Hrsg.), Wir sind Heimat, 2012, S. 155 ff.; G. Gebhard/O. Geisler/S. Schröter, Heimatdenken: Konjunkturen und Konturen. Statt einer Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Heimat, 2007, S. 9 (46 ff.); B. Hüppauf, Heimat – die Wiederkehr eines verpönten Wortes. Ein Populärmythos im Zeitalter der Globalisierung, ebd., S. 109 (131 ff.); J. Korfkamp, Die Erfindung der Heimat, 2006, S. 75 ff.; B. Schlink, Heimat als Utopie, 2000, S. 22. 12 Hüppauf, Heimat (Fn. 11), S. 120. 13 So Gebhard/Geisler/Schröter, Heimatdenken (Fn. 11), S. 9.

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Heimaterfahrung eine gewachsene emotionale Sicherheit gewonnen hat, ohne dass man nur in dieser Heimat leben könnte oder müsste. Bei einer Neubestimmung hilft, dass der Begriff der Heimat sehr unterschiedlichen Dimensionen gelten kann: Für den Heimat-Begriff sind räumliche, soziale, situative, zeitliche und emotionale Elemente bedeutsam, die in den verschiedenen Funktionsbereichen der alltagssprachlichen und der (rechts-, politik-, natur-, religions- oder literatur-)wissenschaftlichen Kommunikation eigenständige Akzentuierungen und Schwerpunkte erfahren14. Mit Heimat verbinden sich zugleich politisch und historisch variable unterschiedliche Deutungstraditionen15: „Heimat“ gibt oft weniger Erlebnissen einen Namen, sondern erscheint als eine diskursive Konstruktion in Wissenschaft, Politik und Kultur16. Die verbreitete primär räumliche Konnotation als Näheverhältnis zu einem bestimmten geographischen Raum17 ist deshalb keineswegs zwingend, wie man nicht nur an Begriffen wie „geistige Heimat“ oder „Sprache“ als „wahre Heimat“ (Wilhelm von Humboldt) und „Literatur als Heimat“ beobachten kann. Gleich bedeutsam für die Entwicklung und Festlegung von Heimatgefühl sind soziale Strukturen und Prozesse, etwa gemeinschaftsstiftende Faktoren18. Psychologisch ist Heimat Ausdruck eines subjektiv bestimmten Verhältnisses zu einer Umgebung, die als heimatlich erfahren wird, auch weil sie den subjektiven Bedürfnissen entspricht19. Allgemeiner lässt sich Heimat verstehen

14 A. Wollbold, Kirche als Wahlheimat, 1998, S. 21 ff.; ausf. A. Bastian, Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache, 1995, S. 33 ff., 96 ff., 117 ff., 147 ff., 159 ff., 174 ff. 15 Gebhard/Geisler/Schröter, Heimatdenken (Fn. 11), S. 12; Bastian, Heimat-Begriff (Fn. 14), S. 121 ff. 16 Hüppauf, Heimat (Fn. 11), S. 110; Gebhard/Geisler/Schröter, Heimatdenken (Fn. 11), S. 12 f.; Wollbold, Kirche (Fn. 14), S. 21 ff. 17 Bastian, Heimat-Begriff (Fn. 14), S. 37 ff. 18 Bastian, Heimat-Begriff (Fn. 14), S. 40 ff. 19 B. Mitzscherlich, „Heimat ist etwas, was ich mache“, 2. Aufl. 2000, S. 44, 98.

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als „Rückbezug von Menschen auf ihre Verwobenheit in Sinnund Beziehungsgefüge, die ihrem Deuten und Handeln solche Gestaltungsräume eröffnen, daß diese Menschen sich darin wiederfinden und es wählend bejahen können“20. Peter Häberles Anführungszeichen dürften in diesem Sinne eine Distanz zur räumlichen Dimension signalisieren, die für die Wissenschaft allgemein und die Staatsrechtslehre besonders nicht (mehr?) existiert. Vor allem scheinen sie auch zu jener Emphase, die mit diesem Begriffsgebrauch oft verbunden ist, Distanz zu suchen, oder zu historisch belasteten Bedeutungsgehalten, denn er gebraucht den Begriff „Heimat“ regelmäßig auch in anderen Zusammenhängen in dieser distanzschaffenden Form21. Doch welche Dimensionen lassen sich so qualifizieren, dass die Staatsrechtslehrervereinigung und/oder die von ihr mit geprägte Wissenschaft des Öffentlichen Rechts eine Heimaterfahrung vermitteln können? Dieser Fragestellung gelten die nachfolgenden Überlegungen – nicht nur, aber auch im Blick auf Peter Häberle. 2. Motive für die Wahl des Begriffs „Heimat“ Die skizzierten heterogenen Dimensionen des Heimat-Begriffs beantworten nicht die – bewussten oder unbewussten – Gründe der Wort-Wahl bei der Qualifizierung der Bedeutung der Staatsrechtslehrervereinigung für Peter Häberle. Wären nicht Wörter wie Basis, Ausgangspunkt, Ankerpunkt, besonders wichtiger Ort wissenschaftlichen Austauschs oder ähnliche funktional-blasse Begriffe angemessener, weil unbelasteter? Auch wenn hier nur Spekulationen möglich sind – die Wahl des Begriffs „Heimat“ bringt sicher ein Mehr zum Ausdruck, indem sie auch Höchstpersönliches von Peter Häberle und für ihn ganz Selbstverständliches sprachlich sichtbar macht und ihm besonders adäquat erscheinen dürfte. Bis in das hohe Alter verleugnet er durch die Färbung seiner Mundart seine schwäbische Herkunft Wollbold, Kirche (Fn. 14), S. 30. Vgl. P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 103, 177, 526. 20 21

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nicht – die Liebe zur Heimat hatte ihn einst auch (mit) gehindert, einen Ruf an die Hochschule St. Gallen auf Lebenszeit anzunehmen, weil es ihm unvorstellbar war, unter Umständen einmal nicht in Deutschland als seinem Heimatland begraben zu sein; dem entspricht, dass er die deutsche Wiedervereinigung häufiger als sein „größtes Glück“ bezeichnet hat22. Mit dem Begriff der „Heimat“ verbinden sich kaum je wirtschaftliche, sondern vor allem sozio-kulturelle Konnotationen, die sich mit seiner spezifisch kulturwissenschaftlichen Sicht des Öffentlichen Rechts23 umstandslos verbinden und seiner Kritik an der Dominanz des Ökonomischen, einem basso continuo in seinem wissenschaftlichen Werk, korrespondieren. Auch seine besondere Fähigkeit, durch nur auf den ersten Blick eindeutige, juristisch oft un-eindeutige neue Fragestellungen, Begriffe oder Begriffskontexte Assoziationen bei anderen herzustellen, die die Sicht auch auf einen positivrechtlichen status quo einfärben und verändern können, kommt in dieser Verknüpfung von Staatsrechtslehrervereinigung und „Heimat“ zum Ausdruck. Das Fehlen äquivalenter Begriffe für „Heimat“ (mit den ideellen und emotionalen Konnotationen des deutschen Gebrauchs) in vielen anderen Sprachen24 verweist auf die Einzigartigkeit des deutschen Begriffsgebrauchs in seinem spezifischen historischen Umfeld; ihr mag äußerlich die Einzigartigkeit der Staatsrechtslehrervereinigung auch im europäischen Vergleich25 korrespondieren. Die nachstehenden Ausführungen gelten den von Peter Häberle durch seinen Begriffsgebrauch ausgelösten Assoziationen, auch wenn er sie so nicht intendiert haben mag.

22 Z. B. P. Häberle, (Rechts-)Wissenschaften als Lebensform, JöR 52 (2004), S. 155 (156). 23 P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 578 ff. 24 Vgl. Hüppauf, Heimat (Fn. 11), S. 111; Wollbold, Kirche (Fn. 14), S. 32 ff. 25 A. v. Bogdandy, Wissenschaft vom Verfassungsrecht: Vergleich, in: ders./P. C. Cruz Villalon/P. M. Huber (Hrsg.), Handbuch Jus Publicum Europaeum, Band II: Offene Staatlichkeit. Wissenschaft vom Verfassungsrecht, 2008, § 39 Rn. 64 f.

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III. Rahmenbedingungen der Wissenschaftsentwicklung 1. Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Wissenschaft Es gehört zu den charakteristischen Merkmalen der aktuellen Entwicklungen aller Wissenschaften und ihrer Teilbereiche, dass sie sich als Fächer immer weiter ausdifferenzieren und die einzelnen Wissenschaftler sich immer stärker spezialisieren (müssen). Schon vor einem halben Jahrhundert konnte Derek J. de Solla Price als empirisch orientierter Wissenschaftsforscher in zulässiger quantifizierender Vereinfachung, im Blick vor allem auf die Naturwissenschaften, ein nicht nur lange Zeit exponentielles Wachstum von wissenschaftlichen Veröffentlichungen, Zeitschriften oder Autoren/promovierten Wissenschaftlern usw. belegen, demzufolge diese sich alle 15 Jahre ständig verdoppeln26, auch wenn sich dieser Prozess zwangsläufig abschwächen muss. Vor allem hat er gezeigt, dass man als individueller Wissenschaftler auch bei herausragender Begabung wohl nicht mehr als 100 andere Kollegen in ihren Veröffentlichungen verfolgen kann; überschreitet die Zahl der produzierenden Mitglieder eines Forschungsgebiets diese Grenze, kann der Forscher sein Gebiet nicht mehr überschauen mit der Folge erneuter Ausdifferenzierungsprozesse, wie sie sich auch formell in der Neubegründung wissenschaftlicher Zeitschriften spiegeln mag27, aber auch in der unvermeidlichen Bildung von informellen „Hundertgruppen“ als unsichtbaren Kollegien auch innerhalb weit größerer Fachgesellschaften, die dann interne Kontakte aufrechterhalten28 – etwa durch Sonderdrucke (mit einer entsprechenden Anzahl von Adressaten), durch bevorzugten Besuch bestimmter Fachtagung oder Treffen im Rahmen bestimmter Institute, Forschungszentren, Sommerschulen, Wissenschaftskollegs oder gemeinsamen Projekten jeweils mit einem Wissenschaftleraustausch auf hohem Niveau.

26 Vgl. D. J. de Solla Price, Little Science, Big Science (1963), dtsch. 1974, S. 16 ff.; ferner P. Weingart, Wissenschaftssoziologie, 2003, S. 35 ff. 27 s. näher Price, Little Science (Fn. 26), S. 82 ff. 28 Price, Little Science (Fn. 26), S. 94 ff.

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Diese ubiquitären Spezialisierungsprozesse haben eine organisationssoziale und eine fachlich-individuelle Dimension. Organisationssoziologisch lässt sich eine wissenschaftliche Organisationsdifferenzierung feststellen, bei der sich die auf einem speziellen Gebiet besonders kundigen Experten regelmäßig fachlich als Spezialisten treffen. So gibt es etwa im Öffentlichen Recht immer zahlreichere wissenschaftliche Organisationen, Tagungen und Fachzeitschriften für Wissenschaftler, die sich z. B. speziell dem Kommunalrecht, dem Polizei- und Sicherheitsrecht, dem Baurecht, dem Umweltrecht (selbst seinen Spezialgebieten), dem Vergaberecht oder dem Energierecht usw. widmen. Selbst die österreichischen Assistentinnen und Assistenten des öffentlichen Rechts haben seit wenigen Jahren – 50 Jahre nach der Gründung der öffentlich-rechtlichen Assistententagung aller drei deutschsprachigen Länder29 – eine eigene österreichische Assistententagung begründet, weil offenbar die Größe der herkömmlichen Assistententagung und ihre geringe Nähe zum positiven Staats- und Verwaltungsrecht Österreichs den Bedarf nach bestimmten Diskursen nicht zu befriedigen vermag. Dieser organisatorischen Ausdifferenzierung korrespondiert eine individuelle fachliche Spezialisierung. Es wird für den einzelnen Wissenschaftler immer anstrengender, wenn nicht unmöglich, angesichts der immer feinnervigeren Rechtsentwicklung gerade im Öffentlichen Recht das große Ganze zu überblicken, zumal vor dem Hintergrund eines tiefgreifenden Europäisierungs- und Internationalisierungsprozesses der deutschen Rechtsordnung. Der Rückzug auf Spezialistentum auf begrenzten und überschaubaren Feldern z. B. als Kommunalrechtler oder Polizeirechtler senkt die Erwartungen Dritter an die eigenen Kenntnisse und entlastet ein wenig von dem unbefriedigenden Gefühl einer ständigen Anspannung, man müsse immer noch mehr lesen und sich erarbeiten, ohne doch je an ein definiertes oder auch nur definierbares Ende gelangen zu können.

29 Vgl. nur ihre Befestschriftung: M. Dalibor u. a. (Hrsg.), Perspektiven des Öffentlichen Rechts. Festgabe 50 Jahre Assistententagung Öffentliches Recht, 2011.

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2. Folgen für die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer a) Die formale Homogenität der Vereinigung der Staatsrechtslehrer Im Zuge solcher organisatorischen und individuellen Spezialisierungsprozesse nimmt die plurale Vielfalt denkbarer Wahlheimaten zu. Sie lässt auch die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer nicht unberührt. Für die scientific community der Wissenschaft des Öffentlichen Rechts als Argumentationswie als sozialer Handlungszusammenhang stellt sie den maßgeblichen organisatorischen Rahmen dar30. Formal schafft die Höhe der Zugangsbedingungen eine gewisse Homogenität der Wissenschaftsinteressen ihrer Mitglieder; bei der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer ist grundsätzlich die Habilitation Aufnahmevoraussetzung und eine materiell beachtliche Hürde. Der Umstand, dass 97 % aller im Öffentlichen Recht Habilitierten als Staatsrechtslehrer Mitglied der Vereinigung sind, ist Indiz für eine Identität als „Staatsrechtslehrer“. Auf dieser gemeinsamen Basis des – auch die einfache Rechtsordnung allenthalben mit prägenden, wenn nicht durchdringenden – Verfassungsrechts konstituieren nahezu alle akademischen Lehrer des Öffentlichen Rechts an staatlichen Universitäten als den institutionellen Grundeinheiten verfassungs- und verwaltungsrechtswissenschaftlicher Forschung31 eine Fachgemeinschaft. Die durch den staatsrechtlichen Bezug und die Habilitation konstituierte formale Homogenität umfasst gegenwärtig über 700 Personen, von denen etwa 280 als Professoren hauptamtlich an deutschen Universitäten aktiv sind. Wie kann eine solche nahezu unüberschaubare Vielzahl noch das Gefühl von wissenschaftlicher „Heimat“ erzeugen?

30 s. näher H. Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Mikrokosmos, 2013, S. 7 ff. 31 v. Bogdandy, Wissenschaft (Fn. 25), Rn. 59.

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b) Die materielle Heterogenität durch formelle und informelle Ausdifferenzierungsprozesse Die schiere Größe der Vereinigung mit ihrer „babylonischen Sprachverwirrung“32, das heißt der pluralen Vielfalt von Problemzugängen und Wissenschaftsverständnissen und der Unübersichtlichkeit des personellen Substrats, führt freilich seit längerem zu vielfältigen Ausdifferenzierungsprozessen – mit dem Ergebnis, dass in- und außerhalb der Vereinigung neuartige Gruppenbildungen in kleineren Kreisen jene Diskussionsdichte erzeugen (sollen), die die wissenschaftliche Identitätsfindung durch diskursive Selbstvergegenwärtigung überhaupt erst zu ermöglichen scheint. Das gilt auf formeller Ebene schon für die Jahrestagungen der Vereinigung selbst, denen sich formelle Gesprächskreise vorgelagert haben: für Verwaltung(slehre) schon in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, für Europäisches Verfassungsrecht (seit 1998) und für Grundlagen (seit 2011). Das gilt aber auch für Gruppenbildungsprozesse in organisatorischer Distanz zur Vereinigung, (schon immer) etwa für (Ferien-)Seminare im Umkreis prägender Staatsrechtslehrergestalten, die ausgewählte Diskussionspartner um sich scharen – von dem berühmten Ebracher Gesprächen in Umkreis von Ernst Forsthoff 33 bis hin zu den Deidesheimer Gesprächen im Umfeld von Detlef Merten34. Neben solche oft privat veranlassten seminarähnlichen Veranstaltungen (im Kontext der Lehrer-SchülerBeziehung oft unter Einbezug von Nachwuchswissenschaftlern und Studenten) treten durch Stiftungen oder sonstige Drittmittel geförderte Projekte, bei denen aufgrund eines mehr oder weniger gemeinsamen wissenschaftlichen Stand- oder Ausgangspunktes auf Initiative einzelner Wissenschaftler kleinere Gruppen von Wissenschaftlern intensiviert diskutieren (können) –

J. Isensee, Staatsrechtslehre als Wissenschaft, JZ 2009, S. 949 (951). Vgl. F. Meinel, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft, 2011, S. 2 ff. 34 Vgl. zuletzt C. Koch, Rechtstaatlichkeit, Freiheit und soziale Rechte in der Europäischen Union, DÖV 2013, S. 979 ff. 32 33

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man denke an die Schönburger Gespräche35 (und das aus ihrem erweiterten Teilnehmerfeld entstandene Handbuch zur Verfassungstheorie36) oder an die von Wolfgang Hoffmann-Riem und Eberhard Schmidt-Aßmann begründeten Gesprächsrunden zur „Reform des Verwaltungsrechts“ 37, die später mit und von Andreas Voßkuhle zu einem Handbuchprojekt forciert wurden38. Die Gemeinsamkeit solche Aktivitäten liegt darin, dass sie letztlich immer (noch) an einer Wissenschaft des Öffentlichen Rechts als Ganzes orientiert sind und insoweit materiell nicht vom Problemzuschnitt von Staatsrechtslehrertagungen abweichen, sondern deren Projekte je in kleiner Runde vertiefen. Der Raum der Staatsrechtslehre i. S. der Wissenschaft des gesamten Öffentlichen Rechts wird hier nicht grundsätzlich verlassen. Das gilt auch für eine Vielzahl von Habilitandenzirkeln, deren Mitglieder sich meist im Umfeld der Assistententagungen näher kennen gelernt haben. Solche Gruppen pflegen in oft jährlichen Treffen über den Anlass der Selbstbestärkung in der Phase der Habilitation hinaus auch noch als etablierte Staatsrechtslehrer einen regelmäßigen privaten wissenschaftlichen Austausch, dessen Dichte und sachorientierte Offenheit in den formellen Tagungsanlässen der Vereinigung nur noch ausnahmsweise, jedenfalls nicht leicht erreicht werden kann. Mitunter können sie in 35 Vgl. zuerst J. Isensee, Tabu im freiheitlichen Staat, 2003 (Band 1); zuletzt S. Müller-Franken, Meinungsfreiheit im freiheitlichen Staat, 2013 (Band 21). 36 O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010. 37 Niedergelegt in einer zehnbändigen Schriftenreihe „Schriften zur Reform des Verwaltungsrechts“, zuerst Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts: Grundfragen, 1993 (Band 1); zuletzt Band 10: Eberhard Schmidt-Aßmann/Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004; vgl. auch die Zwischenbilanz aus der Perspektive des (damals noch) beobachtenden Dritten Andreas Voßkuhle, Reform des Verwaltungsrechts als Projekt der Wissenschaft, Die Verwaltung 32 (1999), S. 545 ff. 38 Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, 2. Aufl. 2012; dies. (Hrsg.), GVwR, Band 2, 2. Aufl. 2013; dies. (Hrsg.), GVwR, Band 3, 2. Aufl. 2013.

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gemeinsam mitgestalteten originellen Publikationen münden39. So wie auch hier wegen der heterogenen Zusammensetzung solcher Kreise die Wissenschaft des Öffentlichen Rechts in ihrer Gesamtheit das Spektrum bildet, so sehr scheint dieser kleinere Kreis für den Einzelnen wichtiger werden zu können als die Vereinigung als Ganzes, und doch unterstützen solche diskursiven Kreise stets auch das gemeinsame Projekt der Wissenschaft des Öffentlichen Rechts, auch im Rahmen der Staatsrechtslehrervereinigung. IV. Die professionelle Organisation der Staatsrechtslehre als „Heimat“ Inwiefern kann unter solchen Rahmenbedingungen der große Kreis der Staatsrechtslehrervereinigung „Heimat“ sein? Wenn eine wissenschaftliche Heimat nicht nur durch ein subjektives Heimatgefühl konstituiert wird, sondern durch kollektive soziale Strukturen und Prozesse gestützt wird, dann liegt es nahe, nach solchen Konstitutionsbedingungen für eine kollektive wissenschaftliche Identitätsfindung zu suchen. (Wie) kann eine solche Gruppenidentität über die Mitgliedschaft in einer wissenschaftlichen Fachvereinigung (mit) konstituiert werden, formal oder materiell? Ist „Heimat“ als emotionale Zugehörigkeit zu einer immer stärker heterogenisierten und kaum überschaubaren Großgruppe von Wissenschaftlern überhaupt möglich? 1. Heimat als wechselseitige Anerkennung Man könnte auch der Staatsrechtslehrervereinigung vielleicht jene Funktionen als „Heimat“ zuschreiben, wie sie für die Universitäten formuliert worden sind: dauerhafte Orte unverstellten Aufenthalts zu sein, in denen Wissenschaft sich frei von praktischen Zwängen und Kompromissen ihrer Herkunft und ihrer Veränderung vergewissern kann und ihre Erkenntnisgehalte durch eine Haltung der Kritik im Sinne von Tradierung und Er-

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Vgl. M. Fehling/M. Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2010.

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neuerung argumentativ prüft40. Indessen dürfte ein solcher Heimat-Begriff für die Staatsrechtslehrervereinigung und Peter Häberles Heimatverständnis offenkundig zu unspezifisch sein. Trotz des Anspruchs der Pflege der Wissenschaft des Öffentlichen Rechts als Ganzes auf den Jahrestagungen der Vereinigung ebenso wie in den formell oder informell ausgegliederten Professorenzirkeln können diese sich zwar nicht den kollektiven und individuellen Spezialisierungstendenzen der allgemeinen Wissenschaftsentwicklung auch im Öffentlichen Recht entziehen; kein Staatsrechtslehrer kann mehr „alles“, selbst auf dem Gebiet des Verfassungsrechts im engeren Sinne. Dennoch bleibt es in allen ihren wissenschaftlichen Erörterungen in den Plenarveranstaltungen als Regelform bei dem Anspruch, sich auf der Basis der gesamten Breite des Faches auszutauschen. Dem liegt (objektiv) das Vertrauen zu Grunde, dass jeder Fachvertreter mit seiner spezifischen Teilkompetenz auch als Spezialist exemplarisch dazu beitragen kann und so zugleich die anderen Kollegen darin bereichern und anregen an, die sich auf ganz andere Weise spezialisiert haben (und so Innovationsimpulse durch Transferprozesse erhalten können). Umso wichtiger ist es, dass möglichst alle Richtungen, Problemzugänge, Fragestellungen und Personen – ob in oder außerhalb des gerade vorherrschenden Mainstreams – in der Vereinigung und ihren Diskussionen vertreten sind. Nicht zufällig war Peter Häberle „hinter den Kulissen“ 1995 besonders engagiert bei der Unterstützung des Bemühens von Otto Bachof und seinen Mitstreitern, den jahrelang außerhalb der Vereinigung stehenden Professoren der Universität Bremen die Mitgliedschaft zu ermöglichen, schon weil wissenschaftliche diversity das innovative Potential auch von Wissenschaftlervereinigungen erhöhen kann. Entscheidend für eine Wahrnehmung der Staatsrechtslehrervereinigung und ihre Tagungen als Heimat scheint nun folgender Umstand zu sein: Die wechselseitige Anerkennung der unterschiedlichen Problemzugänge und Sichtweisen (in Referaten 40 So T. Loer, Ortloser Logos. Kann Wissenschaft eine Heimat haben?, Forschung und Lehre 2011, S. 106 (107).

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und Diskussionsvoten) in der Vereinigung konstituiert das sich permanent wandelnde und neu konstituierende Verständnis von dem, was Staatsrechtslehre als Wissenschaft im Kern und an den Rändern ausmacht. Unerlässlich ist dabei, dass die vielen unterschiedlichen Teilansichten sich auf einem gemeinsamen theoretischen Nenner begegnen, der eine solche Verständigung über die vielfältigen Detailprobleme erlaubt: Die Wissenschaft des Öffentlichen Rechts ist dabei auf eine gewisse Theorie-Höhe angewiesen, wie sie primär nur in der Staatsrechtslehrervereinigung in dieser Form als normal angesehen wird. Es ist genau jene Theorie-Ebene, auf der auch Peter Häberle schon immer schreibt und diskutiert – die Staatsrechtslehrervereinigung ist ihm „Heimat“, insofern sie gerade dieses Abstraktions- und Argumentationsniveau anerkennt und zur Normalität erhebt – darin besteht auch ihr wesentliches Alleinstellungsmerkmal. Die wechselseitige Anerkennung erfolgt aber nicht nur auf einer kognitiven oder fachlich-argumentativen Ebene. Wenn wissenschaftliche Reputation eine aufmerksamkeitssteuernde Wirkung hat und die Wahrnehmung von Statusunterschieden sich auf der Ebene der Kommunikationsprozesse und etwa der Zitierhäufigkeit abbildet41, dann erfolgt vor allem auf Staatsrechtslehrertagungen auch in Zwiegesprächen über die Relevanz von Veröffentlichungen oder Personen die Ausbildung der Reputationszuschreibung für An- und Abwesende42. Sie ermöglicht eine Vertrautheit und Sicherheit in der Wahrnehmung von Kollegen und durch Kollegen und mag das Heimatgefühl im Bewusstsein einer eigenen hohen Reputation besonders befördern. 2. Heimat als Raum der Distanz Speziell die Politiknähe der Staatsrechtslehre, aber auch ihre mögliche Praxisnähe macht wissenschaftliche Distanz zu den Unmittelbarkeitsherausforderungen der Inhaber politischer Gestaltungsmacht oder der Entscheidungsträger zu einem oft pre41 42

Weingart, Wissenschaftssoziologie (Fn. 26), S. 37. Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre (Fn. 30), S. 12 f.

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kären Balanceakt für den einzelnen Wissenschaftler43. Peter Häberle persönlich hat sich solchen Herausforderungen etwa durch finale Gutachten für die Politik zeit seines Lebens als Wissenschaftler bewusst entzogen44, auch in der oft geäußerten subjektiven Gewissheit, man könne ein politisches Zentrum nur in der Distanz vom Rande aus kritisch reflektieren. Er sieht solches aber nicht nur als eine individuelle moralische Maxime an, sondern als Herausforderung der Gemeinschaft der Staatsrechtslehrer, sich ihre Autonomie gegenüber den „Mächtigen“ aller Art zu bewahren45. Gerade „Heimat“ ist nun begrifflich auch „ein Raum der Distanz von Politik, von dem aus Politik sich beobachten lässt“ mit dem „Potential, als Raum von Selbstbestimmung und Eigensinn“ gegenüber den Notwendigkeiten und scheinbar alternativlosen Zwängen der Politik zu wirken46, ohne den Gefahren des Eskapismus erliegen zu müssen, wie er sich im Heimatdenken verbergen kann. Die nicht öffentlichen Jahrestagungen der Vereinigung, deren Diskussionen als Buchpublikationen unvermeidlich auch nur in zeitlichem Abstand veröffentlicht werden können, schaffen einen solchen Raum der Distanz zur Eröffnung und Entfaltung wissenschaftlicher Kontroversen47, nicht zur entscheidungsorientierten Schließung von Debatten. Im Mittelpunkt stehen regelmäßig die einzelnen Rechtskonflikten vorgelagerten Grundsatzfragen des Öffentlichen Rechts, dem das wissenschaftliche Werk von Peter Häberle in besonderer Weise zugetan ist. In diesen Zusammenhang der Distanz zur Unmittelbarkeit von Drittinteressen gehören auch die eingangs erwähnten Selbstreflexionen Peter Häberles zur Wissenschaft des Öffentlichen Rechts und seiner moralischen und wissenschaftsethischen Probleme: Wo anders als in der Staatsrechtslehrervereinigung Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre (Fn. 30), S. 14 f. Vgl. nur Häberle, (Rechts-)Wissenschaften (Fn. 22), S. 158, 161. 45 P. Häberle, Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit nationaler Wissenschaftlergemeinschaften in Sachen Verfassungsstaat, JöR 53 (2005), S. 345 (352); ausf. ders., Einleitung (Rn. 2), S. 30 ff. 46 Hüppauf, Heimat (Fn. 11), S. 114. 47 Vgl. Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre (Fn. 30), S. 10 ff., 149 ff. 43 44

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könnten seine oft geäußerten moralischen Standards für den Wissenschaftsbetrieb mehr Resonanz finden? Auch das trägt dazu bei, sich in der Vereinigung besonders heimisch zu fühlen. 3. Heimat als Utopie Mit Diskursen über „Heimat“ verbindet sich freilich, vom Anfang ihrer Entstehung zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der romantischen Kritik am Universalitätsanspruch der Aufklärung und als Quelle der demokratischen Nationalbewegung an48, auch eine Rückbesinnung auf einen verloren gegangenen mythologischen Wunschort absoluter Geborgenheit im vertrauten Raum zwischen der Erinnerung und Fantasie49, für die etwas Unerfülltes oder Unerfüllbares charakteristisch ist: Hoffnungen, Sehnsüchte und Träume, die den Zauber von Heimat ausmachen sollen – Heimat als Utopie50. Heimat wird zu einer selbstbestimmt verfolgbaren Aufgabe, wie sie sich zunehmend in pluralen Wahlheimaten als selbst geschaffenen Formen der Heimat etwa aufgrund der anwachsenden geographischen, sozioökonomischen, interpersonalen und politisch-weltanschaulichen Mobilität niederschlägt51: als Bildungs- und Willensbildungsprozess einer gemeinsam prozedural zu entwerfenden Identität der Ak-

48 Vgl. nur die Hinweise bei Korfkamp, Erfindung (Fn. 11), S. 38 ff.; Gebhard/Geisler/Schröter, Heimatdenken (Fn. 11), S. 13 ff.; Wollbold, Kirche (Fn. 14), S. 24 f., 124 ff.; Bastian, Heimat-Begriff (Fn. 14), S. 180 ff. 49 Vgl. Hüppauf, Heimat (Fn. 11), S. 116 f., 132; Di Fabio, Heimat (Fn. 9), S. 46. 50 Vgl. in diesem Sinne Schlink, Heimat (Fn. 11), S. 26 f., 32 ff.; Mitzscherlich, Heimat (Fn. 19), S. 120 ff.; s. auch die oft zitierten Schlusssätze von E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 1959, S. 1628: „Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ 51 Wollbold, Kirche (Fn. 14), S. 105 ff., 118 ff.; Mitzscherlich, Heimat (Fn. 19), S. 47.

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tivbürger52. In diesem Sinne braucht jeder Verfassungsstaat ein „Utopiequantum“ 53, lässt sich selbst Europa kulturell als intellektuelle und emotionale „Heimat“ konzipieren54: „Den Verfassungsstaat nachdenken“ heißt immer auch, seine Grundsatzfragen im Sinne „wissenschaftlicher Vorratspolitik“ 55 ein Stück weit alternativ vorauszudenken. Versucht man Staatsrechtslehre und Staatsrechtslehrervereinigung als wissenschaftssoziale Verkörperung für einen solchen Wunschort anzusehen, so mag der Heimat-Begriff utopisch darauf zielen, den potentiell immer unabgeschlossenen Prozess wissenschaftlicher Diskurse im Öffentlichen Recht der Gegenwart mit konsensual gesicherten Erkenntnissen abzuschließen (um sich dann einmal erfüllt „zurücklehnen“ zu können). Solches ist indessen nicht möglich, weil in allen Wissenschaften mit jeder (relativ) gesicherten Erkenntnis immer mehr neue Fragen, Probleme und (Teil-)Antworten oder Konsense auftauchen und die wissenschaftlichen Antworten immer nur vorläufige Teilwahrheiten sein können. Die Themen der 73 Plenartagungen der Vereinigung aus bald hundert Jahren belegen: Wissenschaftliche Fragestellungen gehen auch im Öffentlichen Recht nicht aus. Sie symbolisieren eine Kontinuität nicht beendbarer wissenschaftlicher Forschung und Innovation nicht nur aufgrund von Rechtsänderungen, sondern auch dann, wenn nicht das Recht, sondern nur sein soziales Umfeld sich verändert (hat). Die Wissenschaft des Öffentlichen Rechts ist eben darin eine Wissenschaft, dass sie nicht nur sagt, wie ein einzelner Rechtskonflikt unter bestimmten Bedingungen zu lösen ist: Jede systematische Verallgemeinerung auf einer „mittleren Abstraktionsebene“ zwischen einzelnen Rechtsnormen und dem Einzelfall impliziert einen Schritt zu theoretischer Abstraktion als dem Wesensmerkmal von Wissenschaft, auch soweit sie sich als rechtsdogmatische Korfkamp, Erfindung (Fn. 11), S. 204 ff. So etwa Häberle, Kulturwissenschaft (Fn. 23), S. 405, 455, 519 u. ö. 54 Vgl. Häberle, Verfassungslehre (Fn. 21), S. 103. 55 So – ein Leitmotiv seit 1977 – P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, 3. Aufl. 1998, S. 566 f., 757 u. ö.; ders., Kulturwissenschaft (Fn. 23), S. 178, 548 u. ö. 52 53

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Wissenschaft versteht56. Dieser Schritt hofft wissenschaftliche Erkenntnisse auf eine sichere Basis zu stellen, die doch vollkommen nie erreichbar ist. V. Individuelle Dimensionen wissenschaftlicher Heimat Neben die kollektiven Organisationsformen, die die Entfaltung einer Wissenschaft ermöglichen oder fördern und einen für ihre Mitglieder vertrauten geistigen Raum bestimmter gemeinsam geteilter Problemerörterungen konstituieren, treten individuelle, höchstpersönliche Erfahrungen wissenschaftlicher Heimatzugehörigkeit. Sie werden in sehr unterschiedlichen Formen erkennbar. 1. „Heimat“ als Standbein einer europäischen und universalen Verfassungslehre Ein wesentlicher Grund für eine Renaissance von Heimat ist unstreitig der Prozess der Globalisierung und Internationalisierung. Auf der Ebene der Wissenschaft des Öffentlichen Rechts spiegelt sich dieser Prozess in der Europäisierung und Internationalisierung der deutschen Rechtsordnung, wie er im Grundsatz seit langem erkannt und diskutiert wird. Dieser Prozess ist aber nur Teil von Prozessen der Wechselwirkung, in denen das deutsche Staats- und Rechtsdenken – wie wenig international „anschlussfähig“ es in Teilen auch sein mag – unmittelbar auf die Rechtsordnungen anderer Staaten (durch Rechtsvergleichung oder „Rechtsexport“57) oder mittelbar über das Recht der Europäischen Union und dessen Institutionen auf außerdeutsche Rechtsregime einzuwirken sucht. Peter Häberle hat früh dazu beigetragen, in wissenschaftlichen Texten zunächst über

Vgl. zuletzt M. Jestaedt, Wissenschaft im Recht, JZ 2014, S. 1 (4 ff.). Krit. zum Begriff: P. Häberle, Das GG als „Exportgut“ im Wettbewerb der Rechtsordnungen, in: C. Hillgruber/C. Waldhoff (Hrsg.), 60 Jahre Bonner Grundgesetz – eine geglückte Verfassung?, 2010, S. 173 (177). 56 57

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die Entfaltung der (Verfassungs-)Rechtsvergleichung im kooperativen Verfassungsstaat, dabei Rechtsvergleichung als fünfte verfassungsrechtliche Auslegungsmethode betrachtend58, später in einzigartiger und pionierhafter Weise über die vielfältigen exemplarischen Bausteine seiner „Europäischen Verfassungslehre“, neuestens ausgeweitet in den „Vorstudien zu einer universalen Verfassungslehre“59, aber auch in persönlichen Vorträgen und Veranstaltungen als Gastprofessor etwa in Italien, Spanien und verschiedenen südamerikanischen Ländern, einst beginnend in der Schweiz für dann zwei Jahrzehnte als ständiger Gastprofessor in St. Gallen. Schon die frühe Hauriou-Rezeption in seiner Dissertation ist von solchen Prozessen der Rezeption und rekonstruktiven Produktion gekennzeichnet. Solche Vergleichungsprozesse können nicht voraussetzungslos erfolgen, sondern nur auf einer Basis, die den Vergleich erst ermöglicht. Die Basis bildet das Standbein für das Vergleichen. Peter Häberle hat sich in einem ersten Schritt vor allem den Verfassungstexten und den verschiedenen Textstufen ihrer Entwicklung im internationalen Vergleich gewidmet. Maßstab einer vergleichenden Prüfung auch ihrer außertextlichen Kontexte60 kann aber immer nur das eigene, den positiven Gesetzestext überschreitende Vorverständnis sein, wie es in seinem Problembewusstsein namentlich für Details außerhalb von punktuellen Problemen nur in der eigenen Rechts- und Verfassungsordnung und seiner Kultur erfahren worden sein kann61. Die deutsche Verfassungsrechtslehre bildet so den unhintergehbaren Ausgangspunkt für Peter Häberles Versuche zu einer europäischen und universalen Verfassungslehre. „Heimat“ erweist sich in die58 Zuerst: P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat (1989), in: ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaats, 1992, S. 360 ff. 59 So der Untertitel von P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur, 2013. 60 Ausf. zur „Kontextthese“: Häberle, Verfassungslehre (Fn. 21), S. 10 ff.; zum Verfassungsvergleich etwa ders., Verfassungsstaat (Fn. 59), S. 215 ff., 303 ff. 61 Vgl. zuletzt Jestaedt, Wissenschaft (Fn. 56), S. 9 f.

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sem Zusammenhang als Chiffre für die unhintergehbare Prägung durch die eigene (Verfassungs-)Rechtsordnung, ihres kulturellen Kontextes und ihrer Wissenschaft als Ausgangspunkt beim reflektierten Ausgriff in eine weltweite Diskussion des Verfassungsstaats westlichen Typs. Die eigene Identität wird in einer globalisierten (Verfassungs-) Welt überdies noch wichtiger: Die Universalität und ihre Maßstäbe bedürfen kleiner Räume für ihre Weitergabe und diskursive Entfaltung, zugleich abstrahiert von konkreten Räumen, aber eingebunden in die „große Erzählung der Neuzeit“ von der Würde des einsichtsfähigen, zur Freiheit berufenen Menschen (im Verfassungsstaat) als einem Stück geistiger Heimat62. Die Wiederkehr von Heimat „bedeutet eine Öffnung des Horizonts der Gegenwart um eine von einem eindimensionalen Denken in den Kategorien des Universalismus verdrängte Dimension“63. Jedenfalls erscheint auf der Ebene der Organisation staatlicher Gebilde der wachsende Selbstbestimmungswille in den kleinen Räumen dem Prozess der Internationalisierung und Supranationalisierung komplementär zu sein64. Dem entspricht ein wissenschaftlicher Impetus, der sich der besonderen Rolle von Kleinstaaten, von Regionen und von Kommunen engagiert verpflichtet weiß65. „Je größer die Menge dessen wird, das wir in der Tat modernitätsabhängig in der expandierenden Zivilisationsökumene alle miteinander teilen, um so stärker prägt sich zugleich das

Vgl. Di Fabio, Heimat (Fn. 9), S. 56 f. Hüppauf, Heimat (Fn. 11), S. 132. 64 s. etwa Häberle, Verfassungslehre (Fn. 21), S. 460; H. Lübbe, Große und kleine Räume. Die politische Ordnung der modernen Zivilisation, in: Klose/Lindner (Fn. 9), S. 59 (78 f.). 65 P. Häberle, Föderalismus, Regionalismus, Kleinstaaten – in Europa, Die Verwaltung 25 (1992), S. 1 ff.; ders., Der Regionalismus als werdendes Strukturprinzip des Verfassungsstaates und als europarechtspolitische Maxime, AöR 118 (1993), S. 1 ff.; ders., Der Kleinstaat als Variante des Verfassungsstaates, in: ders., Rechtsvergleichung (Fn. 58), S. 739 ff.; ders., Kleinstaaten als Gegenstand einer kulturwissenschaftlichen Verfassungslehre, in: R. Kirt/A. Waschkuhn (Hrsg.), Kleinstaaten-Kontinent Europa, 2001, S. 125 ff. 62 63

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Interesse aus, sich in demjenigen zu behaupten, was uns bis in kleine Kommunitäten hinein herkunftsabhängig gerade voneinander unterschieden sein lässt“66. Darin liegt wissenschaftstheoretisch zugleich eine Anerkennung der solchen Versuchen zum universalen Ausgriff inhärenten Grenzen. Wissenschaftssozial erweist sich die Staatsrechtslehrervereinigung als ein Diskussionsforum, in dem solche Versuche zur Entgrenzung nationalstaatlichen Denkens nicht nur diskursiv getestet werden können, sondern auf dem jenes Problembewusstsein breitenwirksam auf Begriffe gebracht werden kann, die als Medium für die erwähnten Wirkungsprozesse fungieren. In einem gegenläufigen Prozess sensibilisiert der Ausflug in fremde Rechtsordnungen und Rechtskulturen für die eigenen Ausgangspunkte, weil das Selbstverständliche und damit auch Heimat als unhinterfragtes Nahverhältnis meist erst aus der Distanz oder gar durch seinen Verlust (krisenhaft) erfahrbar wird67. Das gilt auch für unterschiedliche Rechtstexte und ihrer Kontexte im gemeineuropäischen Prozess der Rechtsgewinnung, sofern die Rechtswissenschaft „vergleichend arbeitet, sensibel für das je Eigene, Besondere, die Partikularität der nationalen Rechtskulturen bleibt und gleichwohl den Kraftlinien von Gemeineuropäischem Verfassungsrecht nachspürt“68, aber ebenso für die individuelle persönliche Erfahrung als akademischer Lehrer im Ausland. 2. Jahrestagungen als diskursive Heimat Die Sicherheit, die aus dem Sich-heimisch-fühlen erwächst, schlägt sich auch in der Bereitschaft nieder, sich auf der Basis des Vertrauten zu Neuem anregen zu lassen, ohne ein Risiko darin zu sehen, von der vermeintlichen Mehrheit aus der GeLübbe, Räume (Fn. 64), S. 82. Vgl. Schlink, Heimat (Fn. 11), S. 24 f.; Mitzscherlich, Heimat (Fn. 19), S. 44; Gebhard/Geisler/Schröter, Heimatdenken (Fn. 11), S. 11; s. auch zu solchen Verarbeitungen von Verlusten in der Literatur Wollbold, Kirche (Fn. 14), S. 134 ff.; Bastian, Heimat-Begriff (Fn. 14), S. 197 ff. 68 Häberle, Verfassungsstaat (Fn. 59), S. 417. 66 67

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meinschaft der Zugehörigen ausgegrenzt zu werden. Auch wenn es insoweit Zumutbarkeitsgrenzen gibt – Peter Häberle hat sich auf den Jahrestagungen immer wieder ermutigt gesehen, neuartige Impulse auf den Begriff zu bringen. Sie zeigen auch eine unbefangene Vertrautheit mit dem Auftritt im Kollegenkreis auf Jahrestagungen, die nur selten so gelebt wird – vielleicht Ausdruck auch einer wertungssicheren wissenschaftlichen Sozialisation Freiburger Prägung. Das beginnt damit, dass er schon bei der ersten Teilnahme auf einer Staatsrechtslehrertagung in der Aussprache nicht nur sogleich kritische Fragen stellt und in einem unmittelbaren Wechselgespräch mit dem Referenten ErnstWolfgang Böckenförde die kollektive Dimension der Gewissensfreiheit zum Thema macht69, was nicht nur in der weiteren Diskussion aufgenommen wird70, sondern – erst- und einmalig in der Geschichte des Tagungsdokumentation – zu einem nur schriftlichen, nachträglich eingefügten Diskussionsbeitrag als verspätete Antwort auf eine Frage von Helmut Quaritsch (als dem sehr aktiven Diskussionsleiter) geführt hat71. Auch zum zweiten (sozialrechtlichen) Tagungsthema stellte er – wie auch regelmäßig auf den darauf folgenden Jahrestagungen – kritische Fragen, auch hier ebenfalls formal originell in der Druckfassung des Diskussionsbeitrages mit zahlreichen kursivierten Hervorhebungen und sogar mit einer Fußnote garniert72. Das war der Beginn einer Geschichte von Diskussionsbeiträgen auf Staatsrechtslehrertagungen, die nicht nur (wie auf seiner ersten Tagung) die Referenten in ihren Schlussworten, sondern teilweise unmittelP. Häberle, Aussprache, VVDStRL 28 (1970), S. 110. Vgl. R. Marcic, J. A. Frowein, A. Hollerbach und H. Quaritsch, VVDStRL 28 (1970), S. 113, 115, 116; s. auch A. Podlech und R. Bäumlin, ebd. S. 124 f. bzw. 147. 71 P. Häberle, VVDStRL 28 (1970), S. 117 f. 72 P. Häberle, VVDStRL 28 (1970), S. 259 ff.; in einem speziellen Zwischenwort aufgenommen von Henke ebd. S. 264 f. – Die Fußnote verweist auf die (offenkundig polarisierende oder provozierende) Dissertation von Ulrich K. Preuß. Ein Jahr später wird Hans Hugo Klein in der Diskussion vor dessen Staatsvorstellung warnen, weil dessen Realisierung ein „rechtliches Chaos“ zur Folge haben müsse, vgl. H. H. Klein, VVDStRL 29 (1971), S. 122. 69 70

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bar zu einer Replik herausforderten73 und während der laufenden Diskussion von anderen Diskussionsteilnehmern des Plenums sehr unterschiedlicher Provenienz oft in Bezug genommen wurden74; selbst ein Josef Isensee versagt ihm mitunter (mündlich) seine Zustimmung nicht75. Solche Voten haben aus der Tagungssituation heraus mehrfach wesentliche Teile der jeweiligen Diskussion mitbestimmt, etwa die starke Hervorhebung des Gedankens des soft law76, der so zum „Tagungs-Maskottchen“ geriet77, und, damit verbunden, die neue These des „kooperativen Verfassungsstaats“78, aber auch die betonten Fragen nach dem Volk im Prozess der 73 Vgl. G. Roellecke, VVDStRL 34 (1976), S. 110 und 136; H. H. Klein und E. Denninger, VVDStRL 37 (1979), S. 128 und 129. 74 Vgl. etwa (nur aus den ersten beiden Jahrzehnten) F. Knöpfle, VVDStRL 33 (1975), S. 143; O. Bachof, VVDStRL 33 (1975), S. 315; K. M. Meessen, H. Soell, R. Herzog, U. Scheuner und K. H. Friauf, VVDStRL 35 (1977), S. 125, 142, 308, 312 bzw. 316; R. Scholz, VVDStRL 36 (1978), S. 358; H. F. Zacher und H. H. von Arnim, VVDStRL 37 (1979), S. 291 f. bzw. 319; W. K. Geck, T. Oppermann, J. A. Frowein, D. Rauschning, G. Püttner und K. Vogel, VVDStRL 38 (1980), S. 117, 127, 133, 138, 341 bzw. 368; H.-P. Schneider und K. Stern, VVDStRL 39 (1981), S. 191 f. bzw. 205; T. Oppermann, C. Starck, E. Klein, G. Kisker und G. Püttner, VVDStRL 41 (1983), S. 95, 97, 112, 138, 277 bzw. 282; M. Heckel, H. P. Ipsen, J. H. Kaiser, H. F. Zacher und H. Soell, VVDStRL 42 (1984), S. 131, 135, 138, 300 bzw. 303; H. P. Ipsen, U. Battis und R. Breuer, VVDStRL 45 (1987), S. 254, 264 bzw. 273; C. Starck und R. Wahl, VVDStRL 46 (1988), S. 156 bzw. 162; M. Riedel und R. J. Schweizer, VVDStRL 47 (1989), S. 76 f. bzw. 261. Solche Bezugnahmen als Indiz für die anregende Kraft der Häberleschen Diskussionsbeiträge haben in den späteren Jahrzehnten eher zu- als abgenommen. – Zu sonstigen Bezugnahmen etwa K. Schlaich, VVDStRL 39 (1981), S. 188; C. Tomuschat, VVDStRL 40 (1982), S. 129. 75 Vgl. J. Isensee, VVDStRL 48 (1990), S. 168. 76 P. Häberle, Aussprache, VVDStRL 36 (1978), S. 129, aufgenommen von J. A. Frowein, R. Bernhardt, G. Zieger, K. Vogel und D. C. Dicke, ebd. S. 130 f., 131, 140 f., 145 bzw. 150. 77 So J. Delbrück, VVDStRL 36 (1978), S. 156. – s. über drei Jahrzehnte später jetzt ausf. M. Knauff, Der Regelungsverbund: Recht und Soft law im Mehrebenensystem, 2010. 78 P. Häberle, VVDStRL 36 (1978), S. 129 f. und 163; aufgenommen von E. Grabitz, C. Tomuschat, F. O. Kopp oder H.-P. Schneider, ebd.

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Wiedervereinigung79 oder des spezifischen Rechtsstaatsverständnisses bei der Aufarbeitung der Vergangenheit der DDR80. Zugleich werden die Diskussionsbeiträge zum Test von eigenen parallel oder kurz zuvor neu entfalteten Gedanken oder Theorien, die nun erstmals mündlich im breiteren Kollegenkreis vorgestellt werden, etwa der kulturwissenschaftliche Ansatz81, die „pragmatische Integration von Theorieelementen“ bei der verfassungsgerichtlichen Konkretisierung82 u. a. m. Niemand hat in den Tagungsaussprachen der Vereinigung seitdem (mit 99 registrierten Wortmeldungen) häufiger das Wort ergriffen83; wenn ein Diskussionsbeitrag von Teilnehmern gelegentlich als Pflicht empfunden werden sollte84, so lässt sich bei Peter Häberle eine freudige Neigung registrieren, die sich offensichtlich aus dem

S. 132, 145 f., 158 bzw. 378; s. auch die schnelle Fortführung: P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat, FS H. Schelsky, 1978, S. 141 ff. 79 Vgl. P. Häberle, VVDStRL 49 (1990), S. 154 ff. mit Bezugnahmen von R. Scholz, D. Murswiek, W. Rudolf, H. Maurer und E. Küchenhoff, ebd. S. 156, 158, 165 f., 167 bzw. 170. 80 Vgl. P. Häberle, VVDStRL 51 (1992), S. 117 ff., je unterschiedlich akzentuiert aufgenommen von V. Götz, W. Hoffmann-Riem, R. Alexy, H. Dreier und K. Vogel, ebd. S. 120, 124 f., 133, 137 bzw. 146. 81 P. Häberle, VVDStRL 36 (1978), S.115 ff., bezogen auf das GesamtDeutschland; vgl. den Vortrag zwei Monate zuvor: P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt – ein Verfassungsauftrag, 1979. 82 P. Häberle, VVDStRL 39 (1981), S. 202; vgl. zuvor ders., Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 44, 317, 436; ders., Öffentlichkeitsarbeit der Regierung zwischen Parteien- und Bürgerdemokratie, JZ 1977, S. 361 (370 f.). 83 In diesem Zeitraum von 45 Jahren die weiteren „top ten“ der Diskussionsfreudigen: H. Meyer (88), K. Vogel (66), H. F. Zacher (63), O. Bachof (61), J. Isensee (57), T. Oppermann (56), P. Badura (48), H. P. Ipsen (45), G. Püttner (44) und J. A. Frowein (43). – Bereits in der Summe den ersten 20 Jahre (1969–1988) sind nur O. Bachof und H. F. Zacher als Diskussionsredner geringfügig häufiger verzeichnet. Das ist nicht mit der Länge der einzelnen Diskussionsbeiträge zu verwechseln, so aber (unangemessen) E. Denninger, VVDStRL 47 (1989), S. 80: 8 Minuten als „das Häberle-Zachersche-Gardemaß“. 84 Vgl. die Akzentuierung bei K. Doehring, VVDStRL 41 (1983), S. 100.

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Gefühl speist, in diesem Umfeld heimisch zu sein85. Das zeigt sich auch inhaltlich in den oft humorvoll getönten höchstpersönlichen bildungsbürgerlichen „Ausflügen“ in Musik, Literatur, Philosophie oder Kultur86, an eingestreuten Bemerkungen zur personalen Geschichte der Vereinigung87 oder persönlichen Bekenntnissen88, aber auch in seinem ausgeprägten Engagement als Diskussionsleiter von Aussprachen: Es wird in besonders ausführlich strukturierenden Diskussionseinleitungen89, integrativ angelegten Eröffnungen der Aussprache90 oder auch in der überaus hohen Sensibilität für den Diskussionsverlauf und seine behutsame Steuerung91 sichtbar, aber auch bei den in späteren Jahren häufigeren Spontanbeiträgen92 oder dem Verzicht auf 85 Das schließt nicht aus, sich während des Diskussionsbeitrages einem kritischen Habitus seiner fachlichen Gegner durch die Vermeidung von Blickkontakten zu entziehen. 86 Vgl. etwa P. Häberle, VVDStRL 42 (1984), S. 110 ff.; ders., VVDStRL 45 (1987), S. 114 ff.; ders., VVDStRL 49 (1990), S. 154 ff.; ders., VVDStRL 53 (1994), S. 114 ff.; ders., VVDStRL 67 (2008), S. 202 f.; ders., VVDStRL 69 (2010), S. 107. 87 Vgl. z. B. P. Häberle, VVDStRL 56 (1997), S. 309 f.; ders., VVDStRL 60 (2001), S. 121 ff., 595 f.; ders., VVDStRL 62 (2003), S. 110 ff.; ders., VVDStRL 64 (2005), S. 86, 186; ders., VVDStRL 65 (2006), S. 88; ders., VVDStRL 66 (2007), S. 190 f., 340, 424; ders., VVDStRL 67 (2008), S. 95 f. und 464. 88 Vgl. zuletzt etwa P. Häberle, VVDStRL 70 (2011), S. 461: „Ich komme gerne in diesen Kreis, solange ich dies noch kann. Als Vertreter der älteren Generation – nur der verehrte Herr Zacher ist geringfügig älter – freue ich mich, dass unsere wissenschaftliche Disziplin, die Staatsrechtslehre, bei der mittleren und jüngeren Generation in so guten Händen ist, wie heute in Berlin alle Referate gezeigt haben.“ – Hans Meyer wird es gefreut haben, für wie jung er gehalten wird. 89 Vgl. P. Häberle, VVDStRL 43 (1985), S. 76 ff.; ders., VVDStRL 44 (1986), S. 114 ff. 90 Vgl. etwa P. Häberle, VVDStRL 45 (1987), S. 251 ff.; ders., VVDStRL 51 (1992), S. 117 ff.; ders., VVDStRL 54 (1995), S. 105 ff.; ders., VVDStRL 66 (2007), S. 423 f. 91 Vgl. etwa P. Häberle, VVDStRL 43 (1985), S. 80, 82, 84, 87, 91, 96 f., 105 ff., 110 u. ö.; ders., VVDStRL 44 (1986), S. 119, 124, 126, 130, 134 f., 136, 140 f., 142, 147, 151, pass. 92 Vgl. etwa P. Häberle, VVDStRL 48 (1990), S. 167 f.; ders., VVDStRL 63 (2004), S. 199; ders., VVDStRL 66 (2007), S. 190 f.; ders., VVD-

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Diskussionsbeiträge aus Gründen der selbstauferlegten moralischen Inkompatibilität als Vorstandsmitglied, als Mitveranstalter „vor Ort“ oder als akademischer Lehrer93. Wenn für das Heimatgefühl des Einzelnen ein Stück Verhaltenssicherheit in einer vertrauten Umwelt charakteristisch ist, dann lässt sich aus diesen Beobachtungen des Diskussionsverhaltens unschwer folgern: Die Jahrestagungen der Vereinigung sind für Peter Häberle eine diskursive Heimat, mag er auch sonst anderweitig gern und häufig in Diskussionen das Wort ergreifen. 3. Das Ambiente leidenschaftlicher Theoriearbeit als Heimat Ein Grund für diese Hochschätzung gerade dieses Diskussionsforums der Staatsrechtslehrertagungen dürfte in der auf dialogischen Widerspruch angelegten Tagungsform (stets mit zwei Referenten zum selben Thema) als Medium für wissenschaftliche Kontroversen zur kritischen Prüfung wissenschaftlicher Erkenntnisansprüche liegen94. Die Jahrestagungen der Vereinigung unterscheiden sich von anderen Tagungsformen zudem wesentlich dadurch, dass in ihrem Mittelpunkt von vornherein nicht so sehr die Lösung von Einzel- oder Spezialfragen steht, sondern einzelfall- und sachbereichsübergreifende Theoriearbeit als Kern von Wissenschaft95. Sie sind deshalb auch und gerade für solche Wissenschaftler attraktiv, für deren Selbstverständnis innovative Theoriebildung, weniger die praktische Problem- und Falllösung im Rechtsalltag den Mittelpunkt ihrer individuellen wissenschaftlichen Interessen darstellen, und für die der Blick auf

StRL 67 (2008), S. 218; ders., VVDStRL 68 (2009), S. 468; ders., VVDStRL 69 (2010), S. 241; ders., VVDStRL 70 (2011), S. 217; ders., VVDStRL 71 (2012), S. 238. 93 Vgl. die Fehlanzeigen in VVDStRL 43 und 44 (jenseits der Diskussionsleitung) sowie in VVDStRL 52, ferner P. Häberle, VVDStRL 55 (1996), S. 345; ders., VVDStRL 60 (2001), S. 403. 94 Vgl. Häberle, Briefe (Fn. 1), S. 110 ff.; dazu auch Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre (Fn. 30), S. 10 ff. 95 s. näher Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre (Fn. 30), S. 149 ff.

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das übergreifende Ganze durch theoretische Abstraktion selbstverständliche Begleiterscheinung ist. Die für den Wissenschaftler infolge innerer Berufung unbedingte, rein der Sache der Erkenntnis dienende Leidenschaft96 an Theoriearbeit steht bei eher praxisorientierten Rechtswissenschaftlern nicht immer im Zentrum ihres Interesses, wohl aber bei den führenden Staatsrechtslehrern und jenen, die sich mit insoweit gleich Gesinnten gerade auf den Jahrestagungen austauschen können. Insoweit repräsentieren die Diskussionen auf den Jahrestagungen einen hohen theoretischen Anspruch, der von den unmittelbarer praxisorientierten Themen und Ansprüchen der meisten anderen Tagungen abweicht. Die Staatsrechtslehrertagung impliziert schon wegen der Begrenzung der Teilnehmer auf Vereinigungsmitglieder eine Vorauswahl solcher spezifischen Erkenntnisinteressen von Universitätswissenschaftlern und ist insoweit alternativlos. Gerade Peter Häberle versteht sich als innovativer Anreger, der „weniger lehrbuchartig als essayistisch und monographisch“ schreibt97 und auf die praxisorientierte rechtsdogmatische Verfeinerung seiner „Eingebungen“ durch seine Schüler oder Kollegen vertraut98 – nicht zufällig sieht er grundsätzlich nicht in Gesetzeskommentaren99 oder Handbüchern100 die seinem eigenen wissenschaftlichen Impetus adäquaten Formen von Veröffentlichungen, sondern in Monographien oder sonstigen Abhandlungen. Für diese Form anregender theoretischer Entwürfe sind keine Foren

96 s. näher Max Weber, Wissenschaft als Beruf (1919), MWG I/17, S. 71 (80 ff.). 97 W. Graf Vitzthum, „Auf den Schultern von Riesen . . .“ , in: P. Häberle, Kleine Schriften, hrsgg. von W. Graf Vitzthum, 2002, S. 397 (398). 98 Vgl. bekenntnishaft Häberle, (Rechts-)Wissenschaften (Fn. 22), S. 159. 99 Ausnahme: P. Häberle, Kommentierung von Art. 6 BV, in: B. Ehrenzeller u. a. (Hrsg.), Die schweizerische Bundesverfassung, 2. Aufl. 2008, S. 137 ff. 100 Ausnahmen: P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band II, 3. Aufl. 2004, § 22; ders., Wechselwirkungen zwischen deutschen und ausländischen Verfassungen, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), HGR, Band I, 2003, § 7.

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der Weiterentwicklung geeigneter als die Publikationen und Diskussionen der Staatsrechtslehrertagung. 4. Folgerungen für die Work-Life-Balance Den an wissenschaftlicher Klärung und theoretischer Erkenntnis als solchen orientierten Wissenschaftlern ist oft gemeinsam, dass sie ihrer Leidenschaft „rein an der Sache“ ohne Unterlass frönen, „Wissenschaft als Lebensform“101 betrachten und ein permanentes wissenschaftliches Weiterdenken als alltägliche Selbstverständlichkeit betreiben. Einem solchen Verständnis von Wissenschaft als Berufung korrespondiert daher eine intrinsisch motivierte, auf Dauer angelegte, nie zufrieden zu stellende Neugier im Sinne einer individuellen Suche nach wissenschaftlicher Erkenntniswahrheit: mit „Egozentrik“, Leidenschaft und Besessenheit, Kompromisslosigkeit, Unbestechlichkeit102. Wer Staatsrechtslehre als wissenschaftliche Heimat ansieht, für den ist es kaum zulässig oder auch nur lebbar, Wissenschaft als einen bloßen „Job“ werktags zwischen 9:00 und 17:00 Uhr zu betrachten. Er wird ständig im Dienst an der Sache Wissenschaft stehen und mit dem Stand der wissenschaftlichen Diskussion nie zufrieden sein (können) und sich dennoch nach ihrem Ende sehnen, wie vorläufig es auch immer nur sein kann. Und er wird, was immer er tut und lässt, Kontexte zu seiner Theoriearbeit entwickeln und herstellen. Die häufigen Zitate von Zeitungsartikeln vor allem aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bei Peter Häberle zu höchst unterschiedlichen Gegenständen, oft Resultat einer langen Sammlung zu bestimmten Themenfeldern, sind nicht nur Belege für die verarbeitete Realität qua Zeitungslektüre, sondern auch für eine dauerhafte Wahrnehmung dieser Realitäten des Alltags durch eine ständig theoretisch geleitete Sicht einer kulturwissenschaftlichen Wahrnehmung mit individuellen innovativen Eingebungen und Einfällen.

101 102

Häberle, (Rechts-)Wissenschaften (Fn. 22), S. 155 ff. So Häberle, Vermachtungsprozesse (Fn. 6), S. 164.

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Neben diese Lust an Wissenschaft tritt freilich ein äußerer Zwang als Last hinzu. Er folgt aus der Knappheit und zunehmenden Verknappung der Ressource Zeit bei der Verfolgung der individuellen wissenschaftlichen Interessen. Die Verschärfung des Problems hat mehrere Gründe. Für noch nicht entpflichtete Universitätsprofessoren folgt sie bereits aus dem über die Jahrzehnte immer weiter gewachsenen Verpflichtungen in Lehre103, akademischer Selbstverwaltung und Prüfungsaufgaben, die die Zeit zur eigenen Forschung als dem Kernmotiv für die Wahl des Professorenberufs tendenziell zur „Freizeit“-Aufgabe macht104. Für den Verfassungstheoretiker und Rechtsdogmatiker, der die übergreifenden Zusammenhänge hinter den immer spezialisierteren Fachgebieten nicht aus den Augen verlieren will, wird das fachliche Untersuchungsfeld immer umfangreicher, unübersichtlicher und unbeherrschbarer. Speziell für einen interdisziplinär offenen und rechtsvergleichend arbeitenden kulturwissenschaftlichen Ansatz muss sich das Untersuchungsfeld ins Unermessliche steigern: „Die schiere Stoffülle überwältigt jeden Autor“105. Diese Entwicklungen verbieten es erst recht – nicht nur Peter Häberle – , dem neuen gesellschaftlichen Trend einer säuberlichen Trennung von beruflicher und privater Sphäre und ihrer „Ausgewogenheit“ (work-life-balance) handlungsleitende Impulse abzugewinnen. Erst die Zukunft wird zeigen, ob sich die Notwendigkeit zur Individualforschung in den Geistes- und Rechtswissenschaften unter solchen Umständen auf Dauer durchhalten lässt. Vielleicht ist die Zunahme der Kooperation in informellen Arbeitsgruppen nicht nur Ausdruck gleichgerichteter Interessen, sondern der zu Grunde liegenden Notwendigkeit zu arbeitsteiligen wechselseitigen Ergänzungen unter Verzicht auf „große“ Theorie aus der Sicht des einzelnen

103 U. Schimank, Hochschulforschung im Schatten der Lehre, 1995, S. 40 ff., 58 ff. 104 Vgl. T. Würtenberger, Zeit und Wissenschaftsfreiheit, FS für Manfred Löwisch, 2007, S. 449 ff.; ders., Forschung nur noch in der „Freizeit“?, Forschung und Lehre 2003, S. 478 ff. 105 Häberle, Verfassungslehre (Fn. 21), S. 9.

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Forschers, indem dieser immer stärker exemplarisch statt mit systematischem Vollständigkeitsanspruch arbeiten muss. VI. Ausblick: Staatsrechtslehre als Lebensform Für Peter Häberle bleiben solche Überlegungen auch mit seinem Eintritt in das neunte Lebensjahrzehnt sicher folgenlos – die Arbeit am kooperativen Verfassungsstaat aus Kultur und als Kultur bleibt ihm ein lebensprägendes Anliegen, das „Laboremus“ mit der Freude am lebenslangen Lernen sein Lebensgesetz106. Er bleibt dieser Wissenschaft als Lebensform – seiner eigenen Forderung gemäß – mit seiner ganzen Persönlichkeit bis an die Grenze der Gesundheit als fleißiger und sensibler Professor verschrieben107. Auch wenn er die Jahrestagungen der Vereinigung einmal nicht besuchen sollte, wird er ihre Vorträge und Diskussionen als Individualforscher stets weiter verfolgen. Sie bleiben ein wesentlicher und vertrauter Resonanzboden auch bei der Entfaltung des Ideals eines „europäischen Juristen“ in der europäischen Öffentlichkeit108 im Blick auf das Ausland, als organisatorische Verkörperung jener sich verändernden geistigen Welt, in der Peter Häberle tief verwurzelt ist: als „Heimat“.

So Graf Vitzthum, Auf den Schultern (Fn. 97), S. 407. Vgl. Häberle, (Rechts-)Wissenschaften (Fn. 22), S. 157, 158, 161. 108 Vgl. P. Häberle, Der europäische Jurist, JöR 50 (2002), S. 123 (139 f., 153 f.). 106 107

Autorenverzeichnis Blankenagel, Alexander, geboren 1946, Promotion 1975; Habilitation 1984; nach Lehrstuhlvertretung in Frankfurt 1986 Professur für Öffentliches Recht und Ostrecht an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg; ab 1992 Professur für Öffentliches Recht, Russisches Recht und Rechtsvergleichung an der Humboldt-Universität zu Berlin; ständiger Gastprofessor an der Central European University in Budapest. Ausgewählte Veröffentlichungen: Zur Funktion der Grundrechte in der UdSSR. Eine Darstellung am Beispiel des Rechts auf Arbeit und des Rechts auf freie Meinungsäußerung, 1975; Tradition und Verfassung, 1986; Detstvo, otrocˇestvo i junost’ Rossijskogo Konstitucionnogo Suda, 1996. Kotzur, Markus, geboren 1968; Promotion 2000; Habilitation 2002; nach Lehrstuhlvertretungen und einem Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht, Völkerrecht an der Universität Leipzig (2005 bis 2012) seit 2012 Professur für Völker- und Europarecht an der Universität Hamburg, Studiengangsleiter am Europakolleg Hamburg und geschäftsführender Direktor des dortigen „Institute for European Integration“. Ausgewählte Veröffentlichungen: Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutzes, 2001; Grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit in Europa, 2004; zusammen mit R. Geiger und D.-E. Khan „EUV/AEUV. Kommentar“, 5. Aufl. 2010; eine englischsprachige Ausgabe ist für 2014 geplant. Luther, Jörg, geboren 1959; deutsche Promotion 1990; italienische Promotion 1992; nach Tätigkeit für den italienischen Verfassungsgerichtshof und „Concours“ von 1996–2001 „Professore associato“ für Institutionen des öffentlichen Rechts in Pisa, seit 2001 Professur an der Università del Piemonte Orientale „A. Avogadro“, Mitglied seit 2008 der Garantiekommission der Region Piemont, seit 2012 des Richterrats Piemont/Valle d’Aosta. Ausgewählte Veröffentlichungen: Die italienische Verfassungsgerichtsbarkeit, 1990; A World of Second Chambers, 2006 (Hg.); Europa constituenda, 2007; Documenti costituzionali di Italia e Malta 1787–1850, 2010.

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Autorenverzeichnis

Michael, Lothar, geboren 1968; Promotion 1996; Habilitation 2002; nach Lehrstuhlvertretungen seit 2003 Professur für Öffentliches Recht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; seit 2006 Direktor am dortigen Institut für Versicherungsrecht. Ausgewählte Veröffentlichungen: Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme, 1997; Rechtsetzende Gewalt im kooperierenden Verfassungsstaat, 2002; zusammen mit Martin Morlok Grundrechte, 4. Aufl. 2014 sowie Staatsorganisationsrecht, 1. Auflage 2012; Kommentierung des Art. 146 GG im Bonner Kommentar, 2014. Morlok, Martin; geboren 1949; Promotion 1986; Habilitation 1991; Professuren an den Universitäten Augsburg, Jena, FernUniversität Hagen. Seit 2002 Professur für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seit 1997 Direktor des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht. Ausgewählte Veröffentlichungen: Die Folgen von Verfahrensfehlern am Beispiel von kommunalen Satzungen, 1988; Was heißt und zu welchem Ende studiert man Verfassungstheorie?, 1988; Selbstverständnis als Rechtskriterium – Vorkommen, Funktionen und dogmatische Bedeutung, 1993; zusammen mit Dimitris Tsatsos Parteienrecht, 1982; zusammen mit Lothar Michael Grundrechte, 4. Aufl. 2014 sowie Staatsorganisationsrecht, 1. Auflage 2012. Pernice, Ingolf, geboren 1950; Promotion 1978; Habilitation 1987; Tätigkeit bei der EU-Kommission in Brüssel 1980–1993; 1993–1996 Professur für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt; ab 1996 Professur für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Humboldt-Universität zu Berlin; seit 1998 Direktor des Walter Hallstein Instituts für Europäisches Verfassungsrecht; seit 2012 Mit-Direktor des Alexander von Humboldt-Instituts für Internet und Gesellschaft. Ausgewählte Veröffentlichungen: Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1979; Billigkeit und Härteklauseln im öffentlichen Recht, 1991; Fondements du droit constitutionnel européen, 2004; Das Verhältnis europäischer zu nationalen Gerichten im europäischen Verfassungsverbund, 2006. Schulze-Fielitz, Helmuth, geboren 1947; Promotion 1977; Habilitation 1986; nach einer Professur an der Universität der Bundeswehr München 1994–2012 Professur für Öffentliches Recht, Umweltrecht und Verwaltungswissenschaften an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.

Autorenverzeichnis

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Ausgewählte Veröffentlichungen: Sozialplanung im Städtebaurecht – Am Beispiel der Stadterneuerung –, 1979; Der informale Verfassungsstaat. Aktuelle Beobachtungen des Verfassungslebens der Bundesrepublik Deutschland im Lichte der Verfassungstheorie, 1984; Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung – besonders des 9. Deutschen Bundestages (1980–1983), 1988; Staatsrechtslehre als Mikrokosmos, 2013.